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German Pages 278 Year 2020
Frank Becker, Darius Harwardt, Michael Wala (Hg.) Die Verortung der Bundesrepublik
Histoire | Band 166
Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Zuvor forschte und lehrte er an mehreren deutschen Universitäten sowie in Schweden und Österreich und war Gastwissenschaftler am Deutschen Historischen Institut London. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kulturtransferforschung, die Sozialgeschichte des Krieges, der europäische Kolonialismus sowie die Körper- und Sportgeschichte. Er gehört dem Leitungsgremium des Graduiertenkollegs »Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln« an und ist Mitglied der DFG-Forschungsgruppe »Ambiguität und Unterscheidung. Historisch-kulturelle Dynamiken« an der Universität Duisburg-Essen. Darius Harwardt studierte Geschichte, Biologie und Geographie. Er forschte und lehrte an der Universität Duisburg-Essen und war zuvor an der Ruhr-Universität sowie der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in Bochum beschäftigt. Seine Forschung befasst sich mit der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, der Geschichte der »Neuen Rechten« sowie der Ideen-, Medien- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Michael Wala ist Professor für Geschichte Nordamerikas an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor lehrte er in Großbritannien, in den USA sowie an mehreren deutschen Universitäten und verbrachte ein Jahr als Gastwissenschaftler an der Stanford University in Kalifornien. Seine Forschung, Lehre und Veröffentlichungen konzentrieren sich, neben verschiedenen Aspekten der amerikanischen Geschichte, auf internationale und transatlantische Beziehungen und auf die Geschichte der Nachrichtendienste.
Frank Becker, Darius Harwardt, Michael Wala (Hg.)
Die Verortung der Bundesrepublik Ideen und Symbole politischer Geographie nach 1945
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Inhalt
Einleitung Frank Becker, Darius Harwardt, Michael Wala .............................................. 7
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum Kartographische Europa- und Welt-Bilder im Nationalsozialismus, in der frühen Bundesrepublik und der DDR Jasper M. Trautsch....................................................................... 13
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte Darius Harwardt.......................................................................... 53
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik Die Konflikte der »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« um die Rechtsnachfolge der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« (1945 bis 1955) Oliver Werner ............................................................................ 73
Raumfiktionen in flüssigen Verortungen Staatliche Öffentlichkeitsarbeit und publizistische Reklame für die Bundesrepublik Deutschland in Afrika und Asien (1953-1960) Heiner Stahl.............................................................................. 89
Die Lage der Nation Weltgeschichtliche Zeitdiagnostik als geopolitische Kartographie in der alten Bundesrepublik Jörg Probst .............................................................................. 111
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945 Eva Muster .............................................................................. 133
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt« Die Hamburger Sehnsucht nach einer geopolitischen Sonderstellung im Kalten Krieg Christoph Strupp ......................................................................... 177
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland? Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 und die politische Geographie der deutschen Demokratie in Europa Tobias Hirschmüller ..................................................................... 195
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland Migration und politische Geographien von 1945 bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts Stephanie Zloch ......................................................................... 247
Autorinnen und Autoren........................................................... 273
Einleitung Frank Becker, Darius Harwardt, Michael Wala
Das Ende des Kalten Krieges bedeutete nicht nur das Ende eines politisch-ideologischen Konfliktes. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde zugleich ein territoriales Ordnungssystem verworfen, das über Jahrzehnte die mentalen Landkarten politischer Diskurse geprägt hatte. Den »Ost-West-Konflikt« zu denken bedeutete eine Verortung vorzunehmen, die mit einer Komplexitätsreduktion einherging und ambivalente, heterogene und vielschichtige Entwicklungen einem bipolaren Narrativ unterordnete. So endete mit dem Fall des eisernen Vorhangs zwar nicht die Geschichte, aber doch eine Geschichte mit erheblicher politischer Wirkmächtigkeit. Von dieser Zäsur hingegen völlig unbeeindruckt war die Praxis der Verortung politischer Ideen selbst, deren Konjunktur auch nach Ende des Kalten Krieges ungebrochen war, zum Teil sogar einen Aufschwung erlebte. Insbesondere konservative Intellektuelle konnten dem Reiz nicht widerstehen, die sich öffnende multipolare und zunehmend vernetzte Welt weiterhin in klassische Raumordnungen einzuspannen. Dies galt insbesondere für die Geopolitik. Diese Disziplin, die scheinbar naturgegebene Zusammenhänge zwischen geographischen Rahmenbedingungen und politischem Handeln postulierte, hatte in entscheidender Weise die nationalsozialistische Eroberungspolitik geprägt. Vor allem der Rechtsphilosoph Carl Schmitt stand für ein »Primat der Außenpolitik«, das auf die Konstruktion homogener »Großräume« gerichtet war. Mehr noch war die räumliche Externalisierung eines »Feindes« für Schmitt geradezu die Basis des Politischen. Seine Ideen gehören damit zu den anschaulichsten Beispielen für die Verknüpfung von politischem Denken mit räumlichen Zuschreibungen und ließen sich nahtlos in den Nationalsozialismus integrieren. Zwar war die Geopolitik aus diesem Grund in der Nachkriegszeit in weiten Kreisen diskreditiert und galt als wissenschaftlich unredlich. Dennoch wurde sie bald wieder offensiv beworben. So argumentierte Felix Buck, ehemaliger Major der Wehrmacht und langjähriger stellvertretender Vorsitzender der NPD, dass die Geopolitik gerade nach Ende des Kalten Krieges neues Gewicht habe: Für ein »wirklichkeitsgetreues Weltbild […] ohne ideologische Brille« sei die Anwendung des »Analyseverfahrens der
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Geopolitik« die einzige Möglichkeit.1 Aus Bucks Sicht war diese pragmatische und präzise Denkschule lediglich von den Nationalsozialisten ideologisch instrumentalisiert worden – demensprechend müsse die anhaltende »Totaltabuisierung« nun gestoppt werden, um wieder einen Blick für die »realen und natürlichen Grundbedingungen der Völker und Staaten« zu erlangen und die notwendige »Berücksichtigung der Raumgebundenheit« vorzunehmen.2 Bucks Argumentation verdeutlicht einen wesentlichen Grund für die Attraktivität politischer Verortungen: Sie suggerieren eine Materialität, die auf einem statischen Verständnis von Raum als Container basiert. Dieser verspricht Halt und weckt Hoffnungen, die unübersichtlichen und dynamischen Diskurse, Prozesse und Verflechtungen zu binden und ihnen damit einen Teil ihrer Kontingenz zu nehmen. Politische Ideen gelangen so aus dem intellektuellen Geisterreich gewissermaßen zurück auf den Boden der Tatsachen – sie werden dingfest gemacht. In Bucks Worten bedeutet das: »Ein Blick auf den Globus macht die Dinge klar«.3 In der Geschichtswissenschaft ist die holistische Deutung des Raumes spätestens seit dem spatial turn überholt. Nicht der Raum gilt mehr als Container – die räumlichen Begriffe sind es, die als Container für eine Vielzahl politischer Deutungen und Ideen fungieren. Die vermeintliche Selbstevidenz räumlicher Begriffe ist somit eine Illusion: Vielmehr müssen diese im Sinne einer mental map als komplexe und ambivalente Sprachkonstrukte verstanden werden, die politische Deutungen transportieren und in den Diskursen einer Gesellschaft kontinuierlich neu verhandelt werden. Bei der Erforschung dieser Phänomene profitieren Historiker vom Austausch mit anderen Disziplinen wie der Kultur-, Politik und Sozialwissenschaft, deren Perspektive für die Analyse dieser gesellschaftlich wirksamen Konstrukte wertvolle Erkenntnisse liefern kann. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern Himmelsrichtungen, Räume oder sonstige geographische Zuschreibungen mit bestimmten stereotypen Vorstellungen und politischen Ideen verknüpft sind und welche gesellschaftlichen Wandlungsprozesse ihnen zugrunde liegen. So schöpfte die junge Bundesrepublik seit ihrer Gründung aus der Zugehörigkeit zum »Westen« einen wesentlichen Bestandteil ihrer Identität, während gerade diese Identität aus Sicht der sozialistischen Führung in der DDR zum zentralen Feindbild avancierte. Die bundesrepublikanische Einbindung in den »Westen« fungierte als ideologische Integrationsstrategie der Nachkriegsgesellschaft, die vor allem über den Antikommunismus gespeist wurde, auf den sich ehemalige Nationalsozialisten und Konservative ebenso einigen konnten wie Sozialdemokraten und Liberale.
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Buck, Felix: »Neue Aufgaben für die Geopolitik«, in: Nation Europa 2 (1995), S. 5-6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 10.
Einleitung
Zweifel an der Beschaffenheit einer »westlichen Wertegemeinschaft« wurden dabei immer wieder emotional diskutiert – von den Protesten der »68er« gegen den Vietnamkrieg, über die Friedensdemonstrationen gegen Ronald Reagan bis hin zu der scharfen Kritik an militärischen Interventionen im Irak durch die Regierung von George W. Bush. Dessen neokonservativ geprägte Politik koppelte ihre Entscheidungen dabei selbst an räumliche Zuschreibungen: Während Bush eine »Achse des Bösen« konstruierte, ordnete sein Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Deutschland aufgrund der fehlenden Bereitschaft, sich an dem Kriegseinsatz zu beteiligen, dem »alten Europa« zu. Ein Blick in die gegenwärtige Medienlandschaft genügt, um dem Konzept eine brisante Aktualität zu bescheinigen. Denn spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten wird wieder verstärkt über das Verhältnis zum »Westen« diskutiert. Aus Sicht vieler Journalisten und Publizisten wirkte Trump wie ein Fremdkörper in einem Land, mit dem sie spezifische Werte und Ideen verbinden, die nun bedroht schienen und damit das »Ende des Westens« einläuteten. »Europa« ist eine weitere Idee, die bis in die Gegenwart in politischen Diskursen allgegenwärtig ist, jedoch verschiedenste Konzepte und mental maps beinhaltet, die den Begriff häufig zur Worthülse werden lassen. Bereits die Frage, bis wohin »Europa« reicht und wer die Zugehörigkeit verhandelt, ist von emotionalen und polarisierenden Debatten bestimmt, von den EU-Osterweiterungen bis zur Zugehörigkeit der Türkei. Auch vermeintliche Distinktionsmerkmale nach innen tauchen in den politischen Diskursen immer wieder auf. So wurde angesichts der Folgen der Finanzkrise 2008 diskutiert, inwiefern »Südeuropa« eine andere Arbeits- und Zahlungsmoral aufweise als »Nordeuropa«. Zugleich proklamierte Bundeskanzlerin Angela Merkel als Ausweg aus der Krise »mehr Europa« – auch als Reaktion auf rechtspopulistische Bewegungen, deren Nationalismus sich häufig gegen Vorschriften, Regulierungen und die vermeintliche »Fremdbestimmung« aus Brüssel richtete. Diese Bewegungen wiederum entwarfen eigene Konzepte zur räumlichen Verortung ihrer politischen Ideen, indem sie etwa ein »Europa der Vaterländer« postulierten oder die europäische Identität mit ethnischen, religiösen oder völkischen Zuschreibungen verknüpften. Der bereits in den 1970er Jahren entwickelte »Ethnopluralismus«, der Nationen und »Völker« kulturalistisch definierte und einem bestimmten Raum zuordnete, erlangte in diesem Zusammenhang neue Konjunktur. Ob mit »Europa« somit ein völkisch verstandener Kulturraum gemeint ist, die administrativen Organe der Europäischen Union, politische Kooperationen, wirtschaftliche Zusammenarbeit, kultureller Austausch oder mehrere dieser Aspekte, wird nur selten hinterfragt. Problemlos lassen sich weitere Beispiele für politisch umstrittene Raumbegriffe finden: So war die deutsche »Mittellage« aus Sicht einiger Rechtskonservativer
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unabdingbar mit einer »Einkreisung« durch fremde Mächte verbunden, weshalb Deutschland militärisch stark und national geschlossen bleiben müsse. Aus der Sicht anderer Publizisten freilich schien diese »Mittellage« Deutschland geradezu für eine Vermittlerrolle im Kalten Krieg zu prädestinieren. Das christliche »Abendland« wiederum diente in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst als Chiffre, um reaktionär konservativen Kreisen die Westbindung schmackhaft zu machen. In der jüngsten Vergangenheit hingegen taucht der Begriff in rechtspopulistischen Kreisen wieder auf, um identitätsstiftende Abwehrmechanismen gegen Zuwanderung aus muslimisch geprägten Ländern zu befeuern. Und schließlich gehört auch Samuel P. Huntingtons Kampf der Kulturen zu den populären raumpolitischen Deutungen der Gegenwart. Seine Einteilung der Welt in »Kulturkreise« erfolgte zwar ohne plausible wissenschaftliche Fundierung, bot aber scheinbar eindeutige Erklärungsmuster für globale Konflikte und wusste diese sogar anschaulich zu visualisieren. Trotz zahlreicher kritischer Stimmen aus der Forschung büßte sein Narrativ daher kaum an Popularität ein. Diese knappen Skizzen genügen, um die Bandbreite der Thematik anzudeuten. Räumliche Zuordnungen und Konstruktionen von mental maps waren und sind damit weit mehr als bloße Gedankenspiele intellektueller Eliten. Durch ihre Verknüpfung mit Fragen von Identität und Zugehörigkeit dienten sie immer wieder zur argumentativen Untermauerung bestimmter politischer Zielsetzungen. Es scheint bemerkenswert, dass sich die Wirkmächtigkeit dieser Konstrukte bis in eine Gegenwart erstreckt, die durch zunehmende Verflechtungsprozesse der Globalisierung wie Migration, Waren- und Ideenaustausch sowie digitale Kommunikation geprägt ist und eine räumliche Verortung politischer Identitäten nahezu überholt erscheinen lässt. Handelt es sich hierbei um die letzten Reste veralteter Denkstrukturen oder ist politisches Bewusstsein selbst an räumliche Wahrnehmung gebunden? Ist es möglicherweise gerade die Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen und Unsicherheiten, die den Raum als scheinbar festen Rückzugsort einer fluiden Umwelt erscheinen lässt? Und wie können diese Konzepte sinnvoll analysiert werden, wenn auch die Wissenschaft selbst von ihnen geprägt ist? Zeithistoriker sind mit den Herausforderungen der Dekonstruktion zeitgenössischer Begriffe vertraut. Allzu häufig ist die eigene Perspektive auf die zu untersuchenden Themen von Vorstellungen geprägt, deren Selbstverständlichkeit es gerade zu hinterfragen gilt. Will man die kritischen Forderungen des spatial turn ernst nehmen, gilt dies jedoch in besonderem Maße, da das Denken selbst zu wesentlichen Teilen räumlich strukturiert ist. In jüngerer Zeit wurden einige Arbeiten aus der Geschichtswissenschaft vorgelegt, die sich bereits auf spezifische Beispiele für raumpolitische Konstruktionen konzentrieren: So spüren einige Untersuchungen der Begriffsgeschichte des »Wes-
Einleitung
tens« nach4 , beleuchten Ideen von »Europa«5 oder thematisieren die politische Instrumentalisierung von Konzepten wie dem »Abendland«.6 Dagegen mangelt es an Arbeiten, die nach gemeinsamen Mechanismen, kulturellen und sozialen Wirkungsweisen und somit wiederkehrenden Prinzipien einer Sprache fragen, die sich der Konstruktion von mental maps bedient. Dies gilt umso mehr, da sie neben einer inklusiven jeweils auch eine exklusive Dimension beinhalten, sich also insbesondere im Hinblick auf die Konstruktion von Identitäten aufeinander beziehen. Die Verortung bestimmter Ideen und Kulturen in einem Raum schließt somit andere Ideen zugleich aus oder identifiziert sie als »fremdes« und damit angreifbares Gedankengut. Gerade vor diesem Hintergrund bieten sich komparative Zugriffe an, die eine Systematisierung der Wirkungsweisen von mental maps anstreben. Dies impliziert die Forderung nach einer Auffächerung der zu analysierenden Beispiele, um zu verdeutlichen, dass es sich keineswegs um spezifische Einzelfälle handelt. Vielmehr scheinen räumliche Begriffe als gängiges Vehikel zur Vermittlung politischer Ideen zu fungieren, unterliegen dabei jedoch historischen Wandlungsprozessen. Es gilt somit zu fragen, warum bestimmte räumliche Verortungen zu einer bestimmten Zeit angestrebt werden und inwiefern diese die Sprache und das Denken einer Gesellschaft prägen. Der vorliegende Band befasst sich anhand ausgewählter Fallbeispiele aus der Bundesrepublik mit dem Prozess politischer Verortungen und beleuchtet die dahinterliegenden Akteure, Konflikte und Entwicklungen. So können bereits im Rahmen der bundesrepublikanischen Ideengeschichte zahlreiche Fragestellungen bearbeitet werden, die von der regionalen über die nationale bis hin zur transnationalen und globalen Ebene reichen. Zugleich werden unterschiedliche Herangehensweisen aufgezeigt, die sowohl Ideen, Institutionen als auch Praktiken räumlicher Verortung behandeln. Weder wird dabei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, noch können die Beiträge eine abgeschlossene theoretisch-methodische Zugriffsweise liefern, die für die räumliche Zuschreibung politischer Ideen allgemeine Gültigkeit erlangt. Stattdessen geht es darum, eine Einladung zur Diskussion und interdisziplinären Zusammenarbeit auszusprechen; es gilt die Bandbreite der Thematik sichtbar zu machen und die vermeintliche Selbstevidenz raumbezogener Metaphern aus verschiedenen Perspektiven zu hinterfragen. Dass die Verortung der Bundesrepublik dabei weit über die skizzierten Begriffe hinausgeht, verdeutlicht die Notwendigkeit weiterführender Forschung.
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Steber, Martina/Bavaj, Riccardo (Hg.): Germany and »The West«. The history of a modern concept, New York/Oxford 2015. Geier, Wolfgang: Europabilder: Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren, Wien 2009. Weiß, Volker: Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.
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Grundlage des Bandes ist eine interdisziplinäre Konferenz, die unter Leitung der drei Herausgeber vom 14.-16. November 2018 an der Universität DuisburgEssen stattfand. Beteiligt waren Vertreterinnen und Vertreter der Fächer Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie. Aus den präsentierten Referaten sind die Beiträge des vorliegenden Bandes hervorgegangen. Der Dank der Herausgeber gilt der Fritz Thyssen Stiftung, die die Kosten der Tagung vollständig übernommen hat. Prof. Dr. Alexander Gallus (Chemnitz), Dr. Eva Hausteiner (Bonn), Prof. Dr. Frank Becker (Duisburg-Essen), Prof. Dr. Guido Thiemeyer (Düsseldorf), Prof. Dr. Michael Wala und Prof. Dr. Constantin Goschler (beide Ruhr-Universität Bochum) haben die Sektionen der Konferenz moderiert und kommentiert. Sebastian Haupt, Redakteur der Zeitschrift »KATAPULT. Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft«, hat in einem Gastvortrag aus der Perspektive der journalistischen Praxis über die mediale Konstruktion von (politischen) Räumen berichtet. Bei der Organisation und Durchführung der Konferenz haben Luise Mohr (Ruhr-Universität Bochum), Stephanie Hück und Max Keilhau (beide Duisburg-Essen) geholfen. Die Korrektur- und Formatierungsarbeiten auf dem Weg zur Entstehung des fertigen Buches waren bei Nina Szidat (Duisburg-Essen) stets in den besten Händen. Von der Seite des Verlags [transcript] wurde der Band von Katharina Wierichs umsichtig und kompetent betreut.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum Kartographische Europa- und Welt-Bilder im Nationalsozialismus, in der frühen Bundesrepublik und der DDR Jasper M. Trautsch
1.
Einleitung: Die frühe Bundesrepublik zwischen Kontinuität und Neuanfang
Ein wirkmächtiges Narrativ der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte basiert auf der Vorstellung, dass es in der deutschen Geschichte im Jahr 1945 einen radikalen Bruch gegeben habe. Hiernach habe Deutschland mit der Schuld und den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges, der bedingungslosen Kapitulation sowie der alliierten Besatzung nicht nur einen kompletten Zusammenbruch seiner staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen erlebt; auch die Werte der Deutschen sowie ihre nationale Identität seien nach der Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft grundsätzlich in Frage gestellt bzw. ihres Fundaments beraubt worden. Auf dieser Tabula rasa habe dann, zumindest im Westteil, ein neues Deutschland entstehen können, das seine verhängnisvolle Vergangenheit zurückgelassen und einen gänzlich neuen Weg eingeschlagen habe. Die Metapher der »Stunde Null« drückt diese Annahme eines grundlegenden Neuanfangs nach 1945 aus. Sie entstand bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit, um sowohl die Katastrophenstimmung nach dem Zusammenbruch als auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft auszudrücken, und hat bis heute kaum an Popularität eingebüßt, legitimiert sie doch den neuen Staat, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen entstand, durch seine scharfe Kontrastierung zu seinen Vorgängern: Demokratie statt Diktatur, liberale
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Jasper M. Trautsch
statt autoritäre Werte, Westbindung statt Schaukelpolitik, soziale Marktwirtschaft statt Staatskapitalismus.1 So plausibel dieses Narrativ auf den ersten Blick angesichts von Bildern der zerstörten deutschen Städte und der politischen Ohnmacht nach dem 8. Mai 1945 auf der einen und der Tatsache, dass sich die Bundesrepublik nach 1949 dann tatsächlich zu einer stabilen, prosperierenden und in Frieden mit seinen Nachbarn lebenden parlamentarischen Demokratie entwickelt hat, auf der anderen Seite auch erscheinen mag, so ist es von Beginn an auch Gegenstand heftiger Kritik gewesen. Zweifler an der These der »Stunde Null« wiesen auf die zahlreichen Kontinuitäten über die Zäsur von 1945 hinaus hin, die die Bundesrepublik mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus auf vielfältige Weise miteinander verbanden.2 In jüngster Zeit sind diesbezüglich vor allem personelle Kontinuitäten in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, da zahlreiche Bundesbehörden haben erforschen lassen, in welchem Maße im NS-Staat verantwortliche und schuldig gewordene Beamte nach 1949 wieder in einflussreiche Positionen kamen.3 Aber auch ideengeschichtliche Studien haben zuletzt verstärkt auf die direkten Verbindungen zwischen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik hingewiesen und gezeigt, dass bei der Fundierung der bundesdeutschen Demokratie mehr auf deutsche politische Traditionen als auf neue »westliche« Vorbilder aus dem Ausland zurückgegriffen wurde.4
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Für dieses Narrativ der »Stunde Null« vgl. etwa Braun, Hans/Gerhardt, Uta/Holtmann, Everhard (Hg.): Die lange Stunde Null: Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007. Vgl. auch Konrad H. Jarausch, der von einer »Umkehr« sprach, um den grundlegenden Neubeginn nach 1945 auszudrücken: Jarausch, Konrad H.: Die Umkehr: Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004. Als erster Höhepunkt dieser Kritik kann der bereits in den 1950ern gemachte Vorwurf von Walter Dirks und Eugen Kogon, die Adenauer-Ära sei eine Epoche der »Restauration«, angesehen werden. Dirks, Walter: »Der restaurative Charakter der Epoche«, in: Frankfurter Hefte: Zeitschrift für Kultur und Politik 5 (1950), S. 942-954; Kogon, Eugen: »Die Aussichten der Restauration«, in: Frankfurter Hefte: Zeitschrift für Kultur und Politik 7 (1952), S. 165-177. Zusammenfassend für diese Forschungen vgl. Creuzberger, Stefan/Geppert, Dominik (Hg.): Die Ämter und ihre Vergangenheit: Ministerien und ihre Behörden im geteilten Deutschland, 1949-1972, Paderborn 2018. Zuletzt erschien in diesem Zusammenhang Winkler, Willi: Das braune Netz: Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde, Berlin 2019. Sehr viel moralisierender sind die Aufsätze in Glienke, Stephan Alexander/Paulmann, Volker/Perels, Joachim (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008. Forner, Sean A.: »›Das Sprachrohr keiner Besatzungsmacht oder Partei‹: Deutsche Publizisten, die Vereinigten Staaten und die demokratische Erneuerung in Westdeutschland, 1945-1949«, in: Arnd Bauerkämper, Konrad H. Jarausch und Marcus M. Payk (Hg.): Demokratiewunder: Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2005, S. 159-189; ders.: German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal: Cul-
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Innerhalb dieses Spannungsfelds von Kontinuität und Neubeginn untersucht dieser Beitrag, wie Deutschland in der Nachkriegszeit verortet worden ist, und geht dabei der Frage nach, ob es nach 1945 zu grundlegenden Veränderungen in der geographischen Selbstpositionierung Deutschlands kam – ob also der Standort Deutschlands im europäischen bzw. im »Welt-Raum« verlagert wurde – oder ob die mental maps der Deutschen auch über den Epochenbruch von 1945 hinweg stabil geblieben sind.5 Dieser Fokus auf symbolische Geographien ergibt sich aus der Tatsache, dass Raumkategorien wie »Europa«, »Abendland« und »Westen« für das deutsche Selbst- und Weltverständnis im 20. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung gewesen sind, waren sie doch unmittelbar mit politischen Ideologien, Werten und Identitätsfragen verknüpft. Um zu rekonstruieren, wie Deutschland in Beziehung zu diesen Räumen gesetzt wurde, erscheint eine Analyse von Landkarten und Globusdarstellungen am geeignetsten, da diese den Anschein von Objektivität haben, die Aufteilung der Welt in Räume und Deutschlands Platzierung darin natürlich erscheinen lassen und deshalb großen Einfluss auf die geographischen Imaginationen der Bevölkerung haben. Darüber hinaus sind Karten als visuelles Medium besonders einprägsam: Sie erzeugen »RaumBilder«, die sich ins Gedächtnis einbrennen und dadurch ausgesprochen wirksam sind.6 Durch eine Untersuchung von Europa- und Weltkarten kann so in Erfahrung gebracht werden, ob nach dem Zweiten Weltkrieg ein (im Wortsinn) neues »Europa-Bild« bzw. »Welt-Bild« entstanden ist und, wenn ja, ob hierbei bestehende Traditionen weiterentwickelt oder neue kartographische Darstellungsweisen eingeführt wurden. Da es bei diesen Fragen nicht um Fachdiskurse, sondern um gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatten geht, stehen nicht wissenschaftliche Geographiebücher und Spezialkarten (wie etwa nautische oder aeronautische Karten), sondern massenmediale Quellen im Vordergrund.7 Konkret wird anhand von Europaund Weltkarten auf Briefmarken, Wahlplakaten und in populärwissenschaftlichen Sach- sowie Schulbüchern, die aufgrund ihrer weiten Verbreitung das Raumbewusstsein der Bevölkerung in besonderem Maße prägten, gezeigt, wie Deutschland
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ture and Politics after 1945, Cambridge 2014; Strote, Noah Benezra: Lions and Lambs: Conflict in Weimar and the Creation of Post-Nazi Germany, New Haven 2017. Zum Begriff der Welt-Räume vgl. Schröder, Iris/Höhler, Sabine (Hg.): Welt-Räume: Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt a.M. 2005. Zum Konzept der geographischen Imaginationen vgl. Gregory, Derek: Geographical Imaginations, Cambridge 1994. Für den Begriff der RaumBilder vgl. Schlottmann, Antje/Miggelbrink, Judith (Hg.): Visuelle Geographien: Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern, Bielefeld 2015. Zu Veränderungen von großräumlichen Aufteilungen der Welt in der wissenschaftlichen Geographie vgl. Böge, Wiebeke: Die Einteilung der Erde in Großräume: Zum Weltbild der deutschsprachigen Geographie seit 1871, Hamburg 1997.
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in den 1940ern und 1950ern, also der Spätphase des Nationalsozialismus und der Frühphase der Bundesrepublik, räumlich eingeordnet wurde und ob bzw. wie sich die Europa- und Welt-Bilder in diesem Zeitraum veränderten. Um diese Entwicklungen besser einschätzen zu können, werden außerdem kartographische Darstellungen Europas und der Welt in der frühen DDR vergleichend untersucht.8
2.
Nationalsozialistische Europa- und Welt-Bilder
Die nationalsozialistische Außenpolitik war stark auf Europa zentriert und folgte dem primären Ziel der Gewinnung von »Lebensraum« für das deutsche Volk im Osten des Kontinents.9 Adolf Hitlers Fokus auf Europa wurde unter anderem schon dadurch deutlich, dass er an einem britischen Angebot vom 3. März 1938, Deutschland an der Verwaltung des Kongobeckens zu beteiligen bzw. ihm sogar dessen Besitz zu übertragen, wenig Interesse zeigte, da sein Hauptanliegen vielmehr der Revision der Ergebnisse des Versailler Vertrages in Osteuropa und überhaupt einer Neugestaltung des eigenen Kontinents galt und er hierfür freie Hand haben und sich eben nicht in eine Abhängigkeit Großbritanniens begeben wollte.10 »Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft«, wie er bereits in den 1920ern in Mein Kampf betont hatte.11 Vielmehr hoffte er (vergeblich), im Gegenzug für einen deutschen Verzicht auf überseeische Ambitionen Großbritanniens Einverständnis für seine europäischen Expansionspläne zu erhalten.12 8
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Zu politischen Plakaten in der Nachkriegszeit vgl. Wasmund, Klaus: Politische Plakate aus dem Nachkriegsdeutschland: Zwischen Kapitulation und Staatsgründung 1945-1949, Frankfurt a.M. 1986; Grube, Norbert: »Stereotype in der politischen Plakatpropaganda der Regierung Adenauer«, in: Thomas Petersen/Clemens Schwender (Hg.): Visuelle Stereotype, Köln 2009, S. 14-30. Für Briefmarken als politisches Propagandainstrument vgl. Köppel, HansJürgen: Politik auf Briefmarken: 130 Jahre Propaganda auf Postwertzeichen, Düsseldorf 1971. Für die Forschungskontroverse um die Frage, ob es Hitler »nur« um die Eroberung von Siedlungsraum im europäischen Osten oder letztlich doch um die Weltherrschaft gegangen sei, vgl. Recker, Marie-Luise: Die Außenpolitik des Dritten Reiches, 2. Aufl. München 2010, S. 5758. Kluke, Paul: »Nationalsozialistische Europaideologie,« in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), S. 240-275, hier: S. 247. Hitler, Adolf: Mein Kampf, 2 Bde. in einem Band, 270.-274. Aufl. München 1937, S. 742. Zur Nachrangigkeit des Ziels, Kolonien wiederzugewinnen bzw. zu erwerben, im Rahmen der nationalsozialistischen Außenpolitik s. Linne, Karsten: Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin 2008, S. 165-166. Der hier betonte Fokus auf Europa soll nicht in Abrede stellen, dass es unter den mit Nationalsozialisten sympathisierenden Geopolitikern auch langfristige Pläne gab, Afrika als eu-
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Die Nationalsozialisten verstanden Europa dabei nicht als eine auf dem antiken Erbe aufbauende und christlich fundierte Kulturgemeinschaft. Stattdessen definierte Hitler Europa rassisch: Europa sei »ein blutsmäßig bedingter Begriff«, wie er bei seinen Tischgesprächen, ungezwungenen Konversationen mit seinen Vertrauten im Führerhauptquartier, im November 1941 erklärte.13 Das »Neue Europa«, das er mit dem Zweiten Weltkrieg zu schaffen hoffte, sollte denn auch »nach rassischen Prinzipien« neugeordnet werden.14 Das von den Nationalsozialisten konzipierte und sich in ethnisch homogene Nationalstaaten gliedernde Europa war aber auch keine Gemeinschaft gleichberechtigter Völker. Es sollte von einem Großdeutschen Reich dominiert werden.15 West- und nordeuropäische Staaten sollten zwar eine formale Unabhängigkeit behalten, gleichzeitig aber in tatsächliche Abhängigkeitsverhältnisse von Deutschland gezwungen werden. Die von Slawen bewohnten Gebiete in Osteuropa hingegen sollten entweder von den »rassisch unerwünschten« Bewohnern durch Ermordung oder Vertreibung entvölkert, annektiert und von Deutschen besiedelt oder als Ausbeutungsgebiete und Rohstofflieferanten missbraucht werden.16 Die Sowjetunion sollte »zerschlagen« und Russland, das Hitler als nicht zu Europa zugehörig betrachtete, hinter den Ural zurückgedrängt werden. Immer
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ropäischen Ergänzungsraum wirtschaftlich auszubeuten. S. hierzu Schultz, Hans-Dietrich: »Versuch einer Historisierung der Geographie des Dritten Reiches am Beispiel des geographischen Großraumdenkens«, in: Michael Fahlbusch/Mechthild Rössler/Dominik Siegrist (Hg.): Geographie und Nationalsozialismus, Kassel 1989, S. 1-75, hier: S. 56-68. Derartige Ambitionen waren aber gegenüber dem Ziel der Gewinnung von »Lebensraum« in Osteuropa nachrangig. Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, neu hg. von Percy Ernst Schramm, 2. Aufl. Stuttgart 1965, S. 144. Zur Kritik an dieser Quelle vgl. Nilsson, Mikael: »Hitler redivivus: ›Hitlers Tischgespräche‹ und ›Monologe im Führerhauptquartier‹«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), S. 105-146. Jacobsen, Hans-Adolf: Nationalsozialistische Außenpolitik 1933-1938, Frankfurt a.M. 1968, S. 619. Im Westen wurde während des Krieges Eupen-Malmedy annektiert und Elsass-Lothringen und Luxemburg de facto in das Deutsche Reich integriert, im Süden wurden nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 de facto auch Südkärnten und Krain sowie die Untersteiermark aus dem zerschlagenen Königreich Jugoslawien eingegliedert, im Osten wurden die Tschechei, das Memelgebiet sowie Großteile Polens wie Westpreußen, das Wartheland und Ostoberschlesien annektiert, lediglich im Norden an der deutsch-dänischen Grenze kam es zu keinen Gebietswechseln. Aufgrund zahlreicher Äußerungen Hitlers ist davon auszugehen, dass bei einem vollständigen deutschen Sieg weitere Gebiete wie etwa das Baltikum, Galizien, die Krim und das Wolgagebiet sowie Südtirol annektiert worden wären. »Erschießen, Aussiedeln etc.«, wie Hitler in einem Gespräch mit Alfred Rosenberg, Hans Heinrich Lammers, Wilhelm Keitel, Hermann Göring und Martin Bormann im Führerhauptquartier am 16. Juli 1941 zu Beginn der Invasion der Sowjetunion seine Besatzungspolitik im Osten zusammenfasste. Bormann, Aktenvermerk, 16. Juli 1941, in: Götz Aly u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, 16 Bde., München 2008-2018, Bd. 7, S. 183-189, hier: S. 184.
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wieder betonte Hitler nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion im Sommer 1941, dass Deutschland damit Europa vor dem angeblich asiatischen Bolschewismus schützen würde, um so bei den Westeuropäern um Unterstützung für die Neuordnungspläne der Nationalsozialisten zu werben. Die Porträtierung Deutschlands als Bollwerk gegen den Bolschewismus verstärkte sich dann nach der Niederlage in Stalingrad 1943 umso mehr, als die Rote Armee in die Offensive ging und Richtung Mitteleuropa vorrückte. Jetzt wurde Europa von der nationalsozialistischen Propaganda sogar als Kulturgemeinschaft beschrieben, die durch die »barbarische« Sowjetunion bedroht würde.17 Nationalsozialistische Europakonzeptionen hatten dabei aber nicht nur eine dezidiert anti-sowjetische, sondern auch eine anti-amerikanische (und zum Teil auch anti-britische) Stoßrichtung: Die USA und die Sowjetunion wurden beide als »raumfremde Mächte«, gegen die sich ein unter deutscher Führung vereintes Europa durchzusetzen hatte, betrachtet.18 Nach Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, war Europa eine »Zusammenfügung aller jener auf den Schlachtfeldern und im geistigen Ringen, die gegen die zerstörenden Mächte von Yankee-Gangstern und bolschewistischer GPU [sowjetischer Geheimpolizei] ankämpfen«, wie er auf einer Rede auf der zweiten Tagung der Union Nationaler Journalistenverbände in Wien am 22. Juni 1943 verkündete.19 Deshalb fußten die Pläne der Nationalsozialisten zur Errichtung einer »Neuen Ordnung« auch auf dem Ziel, Kontinentaleuropa wirtschaftlich autark zu machen.20 So erklärte Hit17
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Für die Europakonzeptionen der Nationalsozialisten, ihre Europapolitik während des Krieges und ihre Vorstellungen einer »Neuen Ordnung« s. Neulen, Hans Werner: Europa und das 3. Reich: Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939-45, München 1987; Salewski, Michael: »Europa: Idee und Wirklichkeit in der nationalsozialistischen Weltanschauung und politischen Praxis«, in: Otmar Franz (Hg.): Europas Mitte, Göttingen 1987, S. 85-106; Hoensch, Jörg K.: »Nationalsozialistische Europapläne im Zweiten Weltkrieg: Versuch einer Synthese«, in: Richard Georg Plaschka u.a. (Hg.): Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1995, S. 307-325; Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999, S. 219-386; Kletzin, Birgit: Europa aus Rasse und Raum: Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung, Münster 2000. Für Europakonzeptionen anderer westeuropäischer Faschisten, die häufig in einem Spannungsverhältnis mit den nationalsozialistischen Expansions- und Annexionsplänen lagen, während des Krieges s. Fioravanzo, Monica: »Die Europakonzeptionen von Faschismus und Nationalsozialismus (1939-1943)«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 509-541; Grunert, Robert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940-1945, Paderborn 2012. Für den Begriff »raumfremde Mächte« s. Schmitt, Carl: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte: Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1939. Rosenberg, Alfred: Der Weltkampf und die Weltrevolution unserer Zeit, München 1943, S. 14. Kluke: »Nationalsozialistische Europaideologie,« S. 251; Kletzin, Europa aus Rasse und Raum, Kapitel 4.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
ler dem finnischen Außenminister Rudolf Witting in einem Gespräch am 27. November 1941, dass er durch die Eroberung Russlands und der Ukraine deren große fruchtbare Flächen für die landwirtschaftliche Versorgung des Kontinents nutzbar und Europa dadurch unter anderem unabhängig von »dem oberflächlichen, ungefestigten Amerika«, das »auf eine fürchterliche soziale Krisis zutreibe«, machen wolle.21 »Nicht Weltmarkt, sondern Großmarkt Kontinentaleuropa«, wie Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 1942 die wirtschaftspolitische Zielsetzung der Nationalsozialisten, die durch ihre Autarkiepolitik auch Großbritannien seiner Fähigkeit, durch eine Seeblockade permanent Druck auf Deutschland auszuüben, berauben wollten, auf den Punkt brachte.22 Zwei Briefmarken, die im Jahr 1942 anlässlich des Europäischen Postkongresses in Wien, der zur Gründung der Europäischen Post- und Fernmeldeunion führte, herausgegeben wurden, illustrieren das Europa- und Welt-Bild, das die Nationalsozialisten während des Krieges propagierten, kartographisch. Auf der ersten von dem Graphiker Erich Meerwald gestalteten blauen Briefmarke (Abbildung 1), die einen Frankaturwert von 3 Pfennig sowie einen kriegsbedingten Zuschlagswert von 7 Pfennig aufwies, ist rechts ein uniformierter, die Post symbolisierender und ein Posthorn blasender Postillon zu sehen. Links von dieser Figur ist eine Europakarte abgedruckt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie keine Grenzen aufweist. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass die Nationalsozialisten bestehende Grenzen ohnehin nicht als verbindlich anerkannten, sondern diese mit dem Krieg, der 1942 im vollen Gange war, ja gerade flächendeckend neu ziehen wollten. Insbesondere wo die Grenzen des Großdeutschen Reiches letztlich verlaufen sollten, war dabei stets unklar, da die Antwort darauf vom Verlauf des Krieges und den militärischen Erfolgen abhing. Wichtiger für die Entscheidung gegen die Darstellung staatlicher Grenzen dürfte darüber hinaus der propagandistische Zweck der Briefmarke gewesen sein. Mit dem Europäischen Postkongress sowie ähnlichen Veranstaltungen wie etwa der Europäischen Forsttagung, den Europäischen Dichtertreffen in Weimar und dem im September 1942 gegründeten Europäischen Jugendverband sollte der Eindruck erweckt werden, dass im »Neuen Europa« Beschlüsse konsensual gefasst und nicht vom Deutschen Reich oktroyiert würden und dass der Faschismus eine europaweite Bewegung sei, der von Deutschland zum Wohle aller Länder zum Durchbruch verholfen würde.23 Angesichts des Ziels, Unterstützung der Europäer 21
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Hillgruber, Andreas (Hg.): Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler: Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939-1944, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1967/1970, Bd. 1, S. 640-641. Backe, Herbert: Um die Nahrungsfreiheit Europas: Weltwirtschaft oder Großraum, Leipzig 1942, Kapitel 20. Vgl. Buddrus, Michael: Totale Erziehung für den totalen Krieg: Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003, Bd. 1, S. 799; Kühberger, Christoph: »Europa
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für den Krieg zu generieren, wäre die Einzeichnung von großdeutschen Grenzen kontraproduktiv gewesen, hätte sie doch eher Sorgen vor einer deutscher Hegemonie bestätigt und auch Befürchtungen genährt, Deutschland wolle seine Grenzen auf Kosten aller seiner Nachbarn vergrößern. Schließlich mag noch ein weiteres Motiv die Auslassung von Grenzziehungen erklären: Ende 1942 hatte das deutsche Herrschaftsgebiet seine maximale Ausdehnung erreicht. Nur noch Großbritannien und die Sowjetunion verblieben innerhalb Europas als Kriegsgegner. Die Rote Armee war dabei sehr weit ins Landesinnere zurückgedrängt worden. Bezeichnenderweise verdeckt der Postillon auf der Briefmarke den Großteil der europäischen Sowjetunion, der noch nicht von der Wehrmacht okkupiert war. In diesem Sinne steht die grenzenlose Europakarte für das von den Nationalsozialisten verfolgte Ziel eines durch Genozid an den Juden sowie die Vertreibung bzw. Versklavung der slawischen Bevölkerung rassisch geeinten Europas mit dem Deutschen Reich im Zentrum.24 Bei der zweiten zum Europäischen Postkongress 1942 herausgegebenen und ebenfalls von Meerwald gestalteten Briefmarke (Abbildung 2) handelt es sich auch um eine Zuschlagsmarke: Zusätzlich zum Frankaturwert von 6 Pfennig kostete die Briefmarke noch 14 Pfennig extra zur Finanzierung der Kriegskosten. Auf ihr ist auch ein Postillon, der ein Posthorn bläst, zu sehen, dieses Mal nicht zu Fuß, sondern zu Pferde. Davor ist ein Globus platziert, der so gedreht ist, dass Europa, die nördliche Polarregion und der Nordatlantik zu erkennen sind. Die Darstellung ist dabei in zweierlei Weise geradezu grotesk verzerrt: Erstens ist Europa auf dem Globus viel zu groß (und Island zu nah am Kontinent platziert, möglicherweise als Reaktion auf die 1941 erfolgte Stationierung von US-Truppen auf der Insel und auf amerikanische Diskussionen, ob Island als Teil der westlichen Hemisphäre betrachtet werden und damit unter das Schutzversprechen der Monroe-
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als ›Strahlenbündel nationaler Kräfte‹: Zur Konzeption und Legitimation einer europäischen Zusammenarbeit auf der Gründungsfeierlichkeit des ›Europäischen Jugendverbandes‹,« in: Journal of European Integration History 15 (2009) 2, S. 11-28. Auf der einen Seite orientierte sich die Europäische Post- und Fernmeldeunion stark an den Organisationsprinzipien des Weltpostvereins, finanzierte sich proportional aus Beiträgen der Mitgliedsländer und gewährte jedem teilnehmenden Staat eine Stimme. Auf der anderen Seite wurden nur Länder, die von Deutschland besetzt oder mit ihm verbündet waren, zugelassen, die Amtssprachen waren Deutsch und Italienisch und die verwendete Währung war die Reichsmark. Laborie, Léonard: »Enveloping Europe: Plans and Practices in Postal Governance, 1929-1959«, in: Contemporary European History 27 (2018), S. 301-325, hier: S. 309-312. Vgl. auch die Sonderpostkarte zur Gründung des europäischen Jugendverbandes in Wien 1942, auf der eine grenzenlose Europakarte dargestellt ist, aus deren Mitte (Deutschland) ein Stamm mit einer keimenden Frucht an der Spitze hervorsprießt, dessen Wurzeln über den ganzen Kontinent (mit Ausnahme Großbritanniens und des noch nicht besetzten Teils der Sowjetunion) reichen.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 1: Das »Neue Europa« im Zweiten Weltkrieg
Michelkatalognr. Deutsches Reich 820, Sammlung Klaus-Günter Tiede, Hamm.
Doktrin fallen sollte).25 Zweitens ist Nordamerika (inklusive Grönland), das eigentlich zu sehen sein müsste, ausgelassen, sodass der Nordatlantik ins Nichts zu führen scheint. Beide kartographischen »Fehler« zeigen den Eurozentrismus der nationalsozialistischen Weltanschauung deutlich auf. Europa wirkt durch die vergrößerte Darstellung global bedeutsamer bzw. zur Herrschaft der Welt prädestiniert. Die Weglassung Amerikas wiederum lässt Europa als geographische Bezugsgröße alternativlos erscheinen. Durch die Abbildung Amerikas hätte die Briefmarke dagegen die atlantische Gemeinschaft gezeigt und damit »den Westen« als konkurrierendes Raumkonzept vorgestellt. Dies aber wäre politisch nicht opportun gewesen, da es Hitler ja gerade darum ging, Europa unabhängig von Amerika zu machen und den Aufstieg des letzteren auf Kosten des ersteren rückgängig zu machen bzw. zumindest aufzuhalten. Zu dieser Interpretation passt auch die Tatsache, dass Sibirien, von dem der nördliche Teil auf der Globusdarstellung ebenfalls hätte erkennbar sein müssen, auch weggelassen wurde. In der Wahrnehmung der Nationalsozialisten war Europa nämlich in Gefahr, zwischen »westlicher Demokratie« und »russischem Bolschewismus« zerrieben zu werden. Nur durch seine Einigung unter deutscher Führung und die Expulsion von Russland aus Europa bzw. 25
Für die amerikanische Diskussion zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, ob Island zur westlichen Hemisphäre gehört, s. etwa Jessup, Philip C.: »The Monroe Doctrine,« in: American Journal of International Law 34 (1940), S. 704-711, hier: S. 710.
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die Reduzierung Russlands auf seinen asiatischen Teil hinter dem Ural würde sich Europa dieser doppelten Herausforderung wirksam widersetzen können.26 Dieser Eurozentrismus der Nationalsozialisten war das globale Pendant zu ihrem Germanozentrismus innerhalb Europas, der auf der Briefmarke wiederum dadurch erkennbar wird, dass Eichenblätter und Eicheln, Nationalsymbole Deutschlands, den linken Rand der Briefmarke säumen – ein Hinweis darauf, dass das »Neue Europa« eben doch von Deutschland dominiert und kein Unternehmen gleichberechtigter Mitgliedsstaaten sein würde.27 Abbildung 2: Eurozentrisches Welt-Bild der Nationalsozialisten
Michelkatalognr. Deutsches Reich 821, Sammlung Klaus-Günter Tiede, Hamm. 26
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Vgl. Kletzin: Europa aus Rasse und Raum, S. 56, 63-64. Vgl. auch Salewski, Michael: »Ideas of the National Socialist Government and Party«, in: Walter Lipgens (Hg.): Documents on the History of European Integration, 4 Bde., Berlin 1985-1991, Bd. 1, S. 37-54, hier: S. 48. Nach Klaus Hildebrand war ein möglicher Griff nach der Weltherrschaft erst als letzter Schritt im nationalsozialistischen Expansionsprogramm vorgesehen, nachdem Kontinentaleuropa inklusive der Sowjetunion vollständig erobert worden wäre. Hildebrand, Klaus: Deutsche Außenpolitik 1933-1945: Kalkül oder Dogma?, 5. Aufl., Stuttgart 1990, S. 27.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
3.
Das »Abendland« als zentrales Raumkonzept der Christdemokraten nach 1945
Nach dem Scheitern der weitreichenden Eroberungspläne der Nationalsozialisten veränderten sich die mental maps der Deutschen in der neuen sich ab Mai 1945 einstellenden politischen Situation grundlegend. Hatten die Nationalsozialisten Deutschland in der Mitte Europas verortet und Europa als Zentrum der Welt wahrgenommen, um ihre Pläne zur Eroberung des Kontinents und anschließend zur Beherrschung der Welt zu rechtfertigen, musste Deutschlands Lage nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend neu gedacht werden: Es lag nicht mehr in der Mitte Europas, sondern am östlichen Rande Westeuropas (westliche Besatzungszonen bzw. Bundesrepublik) bzw. am westlichen Rande Osteuropas (sowjetische Besatzungszone bzw. DDR). Die Kategorie Mitteleuropa hatte sich angesichts der Teilung Europas entlang des »Eisernen Vorhangs« im Kalten Krieg überlebt und spielte (zumindest bis zu den 1980er Jahren) keine nennenswerte Rolle in politischen Überlegungen zur Lokalisierung Deutschlands mehr.28 Um Deutschlands neue Lage zu beschreiben, musste dabei allerdings keine neue Raumkategorie erfunden werden, sondern es konnte, zumindest im Westteil, auf ein traditionelles Konzept zurückgegriffen werden: auf das »Abendland«. Besonders die Christdemokraten, die die Bundesrepublik nach 1949 für die ersten zwei Jahrzehnte regierten und politisch prägten, bedienten sich dieses Begriffs und stellten ihn ins Zentrum ihrer politischen Überzeugungen.29 Nicht nur war er geeignet, Deutschland – nach der nationalsozialistischen Katastrophe – als Teil einer supranationalen Gemeinschaft statt als international isolierten Paria zu imaginieren, sondern er ließ sich auch kartographisch bestens darstellen, verliefen dessen historische Grenzen doch nicht unweit des »Eisernen Vorhangs«. Denn das »Abendland« war nicht gleichbedeutend mit »Europa«, sondern verwies nur auf »die Westhälfte der Alten Welt, d.h. Mittel- und Westeuropa« bzw. auf »die west-
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Schultz, Hans-Dietrich: »Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie des 19./20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit: Ein Überblick«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 343-377, hier: S. 373. Mitchell, Maria D.: The Origins of Christian Democracy: Politics and Confession in Modern Germany, Ann Arbor 2012, S. 93; Forlenza, Rosario: »The Politics of the Abendland: Christian Democracy and the Idea of Europe after the Second World War«, in: Contemporary European History 26 (2017), S. 261-286.
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europ., im M[ittel]A[lter] entstandene Kulturgemeinschaft«, wie Der Große Herder in seiner 4. und 5. Auflage 1931 bzw. 1952 feststellte.30 Wo genau die Grenzen des »Abendlandes« verliefen, war dabei zwar nicht ganz klar. Verwies der Begriff nur auf diejenigen Teile Europas, die Teil des weströmischen Reiches, aus dem es hervorgegangen war, gewesen waren, also Italien, die Iberische Halbinsel, die alpinen Ländern, Frankreich, Belgien, Luxemburg, England und Süd- und Westdeutschland, wie es etwa der Herausgeber der katholischen Wochenzeitung Allgemeine Rundschau Georg Moenius befand, der 1929 die »abendländische Kultur« mit »der ihr innewohnenden römischen Substanz« vom »preußisch-asiatischen Bolschewismus« im Osten abgrenzte und kundtat, sich in Gegenwart von Ostdeutschen in der Rolle eines »einsamen Vorposten einer römischen Legion am Saume der herzynischen Wälder [antiker lateinischer Begriff für das dichte Waldgebiet östlich des Rheins und nördlich der Donau]« wiederzufinden?31 Oder stellte das »Abendland«, wie zuerst von Leopold Ranke behauptet, eine Synthese der romanischen und germanischen Kulturen dar, umfasste es also neben den eben genannten Ländern auch Nord- und Ostdeutschland, die Niederlande sowie Dänemark, Norwegen und Schweden?32 Oder gehörten all jene Staaten dazu, die im Gegensatz zum orthodoxen, byzantinisch beeinflussten östlich-südöstlichen Europa vom katholischen und protestantischen Glauben geprägt waren, also auch Finnland, das Baltikum, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn sowie Slowenien und Kroatien, wie Paul Egon Hübinger 1954 in einem Artikel zur Semantik von Abendland, Christenheit und Europa in Aus Politik und Zeitgeschichte annahm,
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31 32
Der Große Herder, 4. Aufl., 12 Bde., Freiburg i.Br. 1931-1935, Bd. 1, Spalte 22. Der Große Herder, 5. Aufl., 9 Bde. + 4 Ergänzungsbde. Freiburg i.Br. 1952-1963, Bd. 1, Spalte 19. Zur »Abendlandideologie« in der Nachkriegszeit s. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika: Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999; Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen: Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005. Moenius, Georg: »Zur Psychologie des abendländischen Geistes«, in: Allgemeine Rundschau: Wochenschrift für Politik und Kultur vom 5.10.1929, S. 786-787, hier: S. 787. Die Betonung der romanisch-germanischen Kultursynthese spiegelte sich auch in der Annahme des Großen Brockhaus von 1952, dass das »Abendland« seinen Anfang im Frankenreich Karls des Großen und seinen institutionellen Kern im Heiligen Römischen Reich gefunden habe, wider. Der Große Brockhaus, 16. Aufl., 12 Bde. + zwei Ergänzungsbde. Wiesbaden 19521957, 1963, Bd. 1, S. 12. Für diese Definition s. auch Münster, Clemens: »Grenzen des Abendlandes«, in: Frankfurter Hefte: Zeitschrift für Kultur und Politik 2 (1947), S. 776-787, hier: S. 777; Gollwitzer, Heinz: Europabild und Europagedanke: Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951, S. 10; Wolf, Ernst: »Abendland«, in: Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 3. Aufl., 6 Bde. und ein Indexbd., Tübingen 1957-1965, Bd. 1, Spalten 9-10, hier: Spalte 9.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
als er schrieb, dass die »Grenze des Abendlandes […] durch die Scheidelinie zwischen la[t]einischer und orthodoxer Christenheit gebildet« werde und dass »dieses Abendland seinen räumlichen Rahmen auf dem Boden Europas« im 13. Jahrhundert durch »die lateinische Mission der Finnen, Esten, Letten usw.« gefunden habe?33 Wie diese Fragen beantwortet wurden, hing vom Kontext sowie von den Interessen der jeweils Sprechenden ab. Um die Unrechtmäßigkeit der Hegemonie der Sowjetunion über ihre westlichen Nachbarn zu unterstreichen, wurde behauptet, die UdSSR würde Länder wie die Tschechoslowakei oder Ungarn von der »abendländischen Kulturgemeinschaft«, zu der sie eigentlich gehörten, abtrennen. Mitunter konnte diesbezüglich das »Abendland« sogar mit dem gesamten nicht-russischen Europa gleichgesetzt werden.34 Um die sich im Zuge der wachsenden Spannungen zwischen den Besatzungsmächten vertiefende Teilung Deutschlands zu rechtfertigen, konnte wiederum betont werden, dass Ostdeutschland nicht im selben Maße vom weströmischen Erbe wie Westdeutschland geprägt sei (bekanntlich behauptete Konrad Adenauer, dass Asien jenseits der Elbe beginne).35 In jedem Fall war der Verweis auf das »christliche Abendland« ein entscheidendes Argument für den westeuropäischen Integrationsprozess, da hiermit darauf verwiesen werden konnte, dass die Bundesrepublik und ihre westlichen Nachbarn zur selben organisch gewachsenen Gemeinschaft gehörten und dass ihr Zusammenschluss angesichts der Bedrohung aus »dem Osten« deshalb historisch folgerichtig, ein deutscher Alleingang hingegen widernatürlich sei.36 Auf Wahlplakaten konnte diese Verortung Deutschlands im »Abendland« kartographisch und damit visuell einprägsam dargestellt und politisch genutzt wer33 34 35
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Hübinger, Paul Egon: »Abendland, Christenheit, Europa: Eine Klärung der Begriffe in geschichtlicher Sicht«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (1954) 4, S. 37-43, hier: S. 39-42. S. hierzu etwa die kulturräumliche Aufteilung der Welt durch Heinrich Schmitthenner, die weiter unten besprochen wird. Adenauer an William F. Sollmann, 16. März 1946, in: Konrad Adenauer, Briefe, 1945-1947, bearb. von Hans Peter Mensin, Berlin 1983, S. 189-191, hier: S. 191. Vgl. auch Baring, Arnulf: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie: Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München 1969, S. 53-54. Für die Europapolitik der CDU/CSU in der Nachkriegszeit s. Weidenfeld, Werner: Konrad Adenauer und Europa: Die geistigen Grundlagen der Integrationspolitik des ersten Bonner Bundeskanzlers, Bonn 1976; Schwarz, Hans-Peter: »Adenauer und Europa«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 27 (1979), S. 471-523; Bosch, Michael: »Ideelle Aspekte der Westintegration der Bundesrepublik bei Konrad Adenauer«, in: Jürgen Heideking/Gerhard Hufnagel/Franz Knipping (Hg.): Wege in die Zeitgeschichte, Berlin 1989, S. 182-195; Lappenküper, Ulrich: »Adenauer, die CDU/CSU und Europa (1949-1963): Kalkulierte Interessen und ideelle Visionen«, in: Jean-Paul Cahn/Henri Ménudier/Gérard Schneilin (Hg.): La République fédérale d’Allemagne et la construction de l’Europe (1949-1963), Paris 1999, S. 123-137; Loth, Wilfried: »Konrad Adenauer und die europäische Einigung«, in: Mareike König/Matthias Schulz (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung, 1949-2000, Wiesbaden 2004, S. 39-58.
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den. Im Wahlkampf für die am 1. Dezember 1946 stattfindenden Wahlen zum ersten Hessischen Landtag ließ die CDU ein Plakat mit einer Europakarte drucken, auf der Deutschland (in den Grenzen von 1937), Österreich und Italien sowie alle westlich davon gelegenen Länder (einschließlich der Britischen Inseln sowie der Iberischen Halbinsel) graphisch von den Staaten im Osten des Kontinents abgegrenzt werden (Abbildung 3). Auf dem homogen erscheinenden westlichen Raum (Ländergrenzen sind nicht eingezeichnet) steht die Bezeichnung »Gemeinschaft des christlichen Abendlandes«. Südlich der Landmasse steht zudem der Hinweis: »Die christlichen Parteien sind die stärksten in: Belgien, Frankreich, Holland, Luxemburg, Italien, Österreich, Deutschland« – verbunden mit dem darunter stehenden Wahlaufruf: »Darum wählt Liste 2 Union«. Auf dieser Karte wird Deutschland nicht als unabhängiger Nationalstaat, sondern als Teil einer supranationalen Gemeinschaft dargestellt. Der Raum, in dem Deutschland verortet wird, ist dabei aber nicht mehr Europa, sondern das »Abendland«, ein Begriff, mit dem eben nicht ganz Europa gemeint ist, sondern nur dessen westlicher Teil. Hinsichtlich der Grenzen des »Abendlandes« ist festzuhalten, dass nach Aussage des Plakates Deutschland als Ganzes, nicht nur die westlichen Besatzungszonen, zum »Abendland« gehört.37 Auch wenn die deutschen Ostgebiete jenseits der OderNeiße-Grenze bereits von der Sowjetunion und Polen in ihre Staatsgebiete einverleibt worden waren und die politische Teilung des restlichen Deutschlands in einen westlichen und einen östlichen Teil in schnellen Schritten voranschritt (die von den USA und Großbritannien besetzten Zonen wurden zum 1. Januar 1947 zur Bizone vereint, im März 1948 wurde sie durch Anschluss der französischen Zone zur Trizone erweitert; die Sowjetunion schottete ihre Besatzungszone hingegen zunehmend ab), fand sich die Union weder mit den Gebietsverlusten im Osten noch mit der zunehmend unausweichlichen politischen Abtrennung der sowjetischen Besatzungszone von Westdeutschland ab. Mit dem Verweis auf das »Abendland« wurde in diesem Fall also auf Deutschlands Verbundenheit mit seinen westlichen, nördlichen und südlichen Nachbarn hingewiesen, ohne damit gleichzeitig die Spaltung Deutschlands zu legitimieren. Während die Bezeichnung »Abendland« auf dem Plakat von 1946 noch explizit gedruckt wurde, war das kartographische Motiv der Umrisse dieses Raumes bald so gängig in der politischen Publizistik, dass auf die ausdrückliche Erwähnung des Namens verzichtet werden konnte. Insbesondere im ersten Bundestagswahlkampf 1949 verwendeten die CDU und CSU verschiedentlich Plakate mit Europa-
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In Bezug auf die unklaren Grenzen des »Abendlandes« in Nordeuropa vermied die Karte eine eindeutige Aussage, da der nördliche Teil des Kontinents im gewählten Kartenausschnitt nicht sichtbar ist. Angesichts der Tatsache, dass das teilweise abgebildete Dänemark auf der Karte dem »Abendland« zugehörig dargestellt wird, ist aber anzunehmen, dass die Hersteller der Karte auch den Rest Skandinaviens dazu zählten.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 3: Das christliche Abendland
Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main, S7Z Nr. 1946-32, Kurt Weiner.
karten, auf denen die Teilung des Kontinents entlang der oben beschriebenen Linie dargestellt wird. Auf dem in Abbildung 4 gezeigten Wahlplakat der CDU – das in identischer Form auch von der CSU verwendet wurde – sehen wir im oberen Bildausschnitt einen in rot gefärbten mongolisch aussehenden Rotarmisten, dessen Hand rechts im Bild nach Europa, das kartographisch im linken Bildteil abgebildet ist, greift. Das Plakat wurde von Bruno Dörpinghaus, dem Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU, in Auftrag gegeben und von Edmund Drasdo gestaltet und in DIN A1 und DIN A2 gedruckt. Osteuropa ist auf diesem Plakat nicht zu erkennen, da es hinter dem Schatten der roten Hand verborgen ist. Lediglich das »Abendland« – in ähnlichen Umrissen
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wie auf dem Landtagswahlplakat von 1946 – ist zu sehen. Die Plakatbeschriftung – »Nein« vor dem bedrohlichen Soldaten und »Darum CDU« am unteren Bildrand – lässt keinen Zweifel an der primären Aussage des Bildes: Nur die Union ist in der Lage, die Gefahr des Bolschewismus in der Form der Roten Armee abzuwehren.38 Unterschwellig werden aber auch noch zwei weitere Botschaften vermittelt: Erstens zeigt die Karte wieder keine Ländergrenzen, sondern lediglich ein quadratisches Raster: Die Bedrohung des Kommunismus gilt also nicht einzelnen Ländern, sondern dem gesamten »Abendland«, das als politisch entscheidender Bezugsrahmen erscheint. Zweitens findet in dem Plakat eine Verschmelzung der Begriffe »Abendland« und »Europa« statt. Dadurch, dass die Rote Armee durch einen mongolisch aussehenden Mann repräsentiert wird, erscheint der Kommunismus als asiatische Ideologie und nicht als politisches Weltbild eines Teils von Europa. Spiegelbildlich heißt dies, dass der westliche nicht-kommunistische Teil Europas für Europa an sich steht. Folgerichtig wird auf diesem Plakat denn auch darauf verzichtet, das »Abendland« namentlich zu erwähnen. So wurde das abendländische Raumkonzept auch anschlussfähig an den Europabegriff.39 Die Verortung Deutschlands im »Abendland« durch die CDU und CSU fällt dabei umso mehr ins Auge, als die SPD ausschließlich nationale Karten auf ihren Plakaten im Bundestagswahlkampf 1949 und 1953 verwendete und Deutschland damit in keinen größeren räumlichen Kontext stellte und nicht als Teil einer supranationalen Gemeinschaft präsentierte. Das Wahlplakat der SPD aus dem Bundestagswahlkampf von 1949 in Abbildung 5 zeigt auf grünem Grund eine stilisierte schwarz-weiße Umrisskarte Deutschlands, das in Besatzungszonen aufgeteilt ist. Jede Besatzungsmacht wird durch eine Karikatur eines Soldaten mit seiner jeweiligen Nationalflagge repräsentiert. Ein von zwei Händen gehaltener großer Magnet, der, wie der roten Aufschrift zu entnehmen ist, die SPD symbolisiert, hält Westund Ostdeutschland zusammen. »Das ganze Deutschland soll es sein«, steht am unteren Rand der Karte. Während bei den Unionsplakaten die kommunistische 38
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Auch ein vom Graphiker Bernd Cardinal ganz ähnlich gestaltetes CDU-Wahlplakat von 1949 vermittelte diese Botschaft. Darauf ist derselbe Europa bedrohende und mongolisch aussehende Rotarmist zu sehen. Allerdings ist hier über Berlin zusätzlich auch noch ein zerbrechendes wappenförmiges Schild mit der Aufschrift »SPD« zu sehen: ein Verweis auf die Spaltung der SPD in Folge der erzwungenen Vereinigung mit der KPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone. »Die Rettung« des »Abendlandes« sei damit nur von der CDU zu leisten, wie die Bildunterschrift mitteilte. Plakatsammlung des Archivs christlich-demokratischer Politik, Objektsignatur 10-001: 11. Das gleiche Plakat wurde anschließend auch noch in einer Version für CDU und FDP gemeinsam, die so als bürgerlicher Block in Erscheinung traten, gedruckt. Vgl. Dietrich, Reiner/Grübling, Richard: Stark für die Freiheit: Die Bundesrepublik im Plakat, Frankfurt a.M. 1989, S. 27. Vgl. hierzu detaillierter Trautsch, Jasper M.: »Von der ›Mitte‹ in den ›Westen‹ Europas: Die räumliche Neuverortung Deutschlands auf den kognitiven Landkarten nach 1945«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), S. 647-666, hier S. 658-662.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 4: Europa versus Asien
Plakatsammlung des Archivs christlich-demokratischer Politik, Objektsignatur 10-001: 12.
Bedrohung und die Zugehörigkeit Deutschlands zum »Abendland« betont werden, ist die Frage der nationalen Einheit zentrales Thema des SPD-Plakats. Nur die SPD kann die Einheit Deutschlands, das Spielball ausländischer Mächte geworden ist, garantieren, so die Botschaft des Bildes. Die Ostgebiete in Polen gehören nach Aussage des Plakats ebenfalls zu Deutschland, auch wenn ihre Bedeutung im Vergleich zur sowjetischen Besatzungszone dadurch heruntergespielt wird, dass sie erstens nicht vollständig gezeigt, sondern teilweise vom Bildrand »verschluckt« werden und dass die Enden des Magneten auf der Bundesrepublik sowie der sowjetischen Besatzungszone (und nicht auf den von Polen annektierten Gebieten) liegen.
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Abbildung 5: Deutschland aufgeteilt in Besatzungszonen
Plakatsammlung des Archives der sozialen Demokratie, ObjektSignatur: 6/PLKA004534.
Das Fehlen des räumlichen Kontexts erscheint auf einem SPD-Plakat aus dem Bundestagswahlkampf von 1953 noch markanter (Abbildung 6). Es zeigt die stilisierten Umrisse Deutschlands in den Grenzen von 1937. Neben dem Schriftzug »Einigkeit« sind zwei sich öffnende und dabei kreuzende Schlagbäume zu sehen. Bemerkenswert ist an der Darstellung nicht nur, dass von Deutschlands Nachbarn – wie im vorangegangenen Plakat – nichts zu sehen ist, sondern dass die drei Teile Deutschlands (Bundesrepublik, DDR und Ostgebiete) hier als von Wasser umgebene Inseln präsentiert werden. Die unter dem Bild platzierte Aussage »In einem freien Deutschland« lässt sich damit nicht nur als Forderung nach gesamtdeut-
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 6: Deutschland als Inseln
Plakatsammlung des Archives der sozialen Demokratie, ObjektSignatur: 6/PLKA005106.
schen freien Wahlen, sondern auch nach außen- und bündnispolitischer Unabhängigkeit interpretieren. Schließlich opponierte die SPD in der Nachkriegszeit vehement gegen die von der Regierung Adenauer durchgesetzte Westintegration, da sie befürchtete, diese würde die Teilung vertiefen und eine Wiedervereinigung, die für die SPD außenpolitische Priorität hatte, auf Dauer unmöglich machen. So kritisierte die SPD etwa das Petersberger Abkommen von 1949, in dem die Bundesregierung mit den drei Alliierten Hohen Kommissaren grundlegende und wegweisende Vereinbarungen der Westintegration wie den Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat traf, scharf und stimmte 1955 auch gegen die Pariser Verträge,
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durch die die Bundesrepublik der NATO und der Westeuropäischen Union beitrat.40
4.
Die Entstehung eines atlantischen Welt-Bildes in den 1950er Jahren
Die durch die Blockkonfrontation des Kalten Krieges bedingte Neuverortung Deutschlands in West- statt in Mitteleuropa, die über das Abendlandkonzept erfolgte und die im bundesdeutschen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 und zur Europäischen Atomgemeinschaft sowie zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 ihren institutionellen Ausdruck fand, wurde flankiert durch die gedankliche Eingliederung (West-)Deutschlands in eine Westeuropa und Nordamerika verbindende atlantische Gemeinschaft, die mit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO 1955 bündnispolitisch wirksam wurde.41 Das eurozentrische Weltbild der Nationalsozialisten, nach dem ein von Deutschland dominiertes Europa in Konkurrenz zu den USA um die Weltherrschaft treten sollte, wurde folglich durch ein atlantisches Weltbild, nach dem Westeuropa und Nordamerika vereint dem Ostblock entgegentreten würden, abgelöst. Auch dieser Wandel in der globalen Verortung Deutschlands erfolgte mithilfe von Karten auf Plakaten und Briefmarken. Das in Abbildung 7 zu sehende Plakat des Bundes aktiver Demokraten – dem 1953 gegründeten Nachfolgeverband des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, in dem sich Sozialdemokraten, Freidemokraten und Christdemokraten zur Unterstützung der Bundesrepublik versammelten – von 1955 im DIN A1-Format zeigt eine Weltkarte, auf der die Landmassen farblich in zwei Teile getrennt sind: Der Ostblock, die Sowjetunion, China und Nordkorea sind rot markiert und durch Hammer und Sichel, die auf dem asiatischen Teil der UdSSR und China platziert sind, als kommunistisch charakterisiert; der Rest der Welt ist in grün dargestellt. Im Kontext 40
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Für die außenpolitischen Ansichten und die Europakonzeption der SPD in der Nachkriegszeit vgl. Rogosch, Detlef: »Sozialdemokratie zwischen nationaler Orientierung und Westintegration 1945-1957«, in: Mareike König/Matthias Schulz (Hg.): Die Bundesrepublik Deutschland und die europäische Einigung 1949-2000: Politische Akteure, gesellschaftliche Kräfte und internationale Erfahrungen, Stuttgart 2004, S. 287-310; Benz, Wolfgang: »Kurt Schumachers Europakonzeption«, in: Ludolf Herbst/Werner Bührer/Hanno Sowade (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG: Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 47-61. Für die institutionelle Westintegration der Bundesrepublik s. Herbst, Ludolf: Option für den Westen: Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989; ders./Bührer, Werner/Sowade, Hanno (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG: Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990; Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 271-328.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
der Debatte um die Deutschlandverträge und den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO in diesem Jahr fragt das Plakat nun innerhalb eines auf ein in der Mitte der Welt gelegenes Deutschland zeigenden übergroßen Pfeils »wohin?« Deutschland ist weiß dargestellt und von einem schwarzen Kreis umrandet und wird so als weltpolitischer Schicksalsraum charakterisiert. Die Antwort auf die Frage liefert das Plakat in einem Textfeld im unteren Teil der Karte gleich mit: »Nur gemeinsam mit der freien Welt kann Deutschland Frieden, Einheit und Freiheit finden.« Nach dieser kartographischen Darstellung kann die Bundesrepublik als unabhängiger Staat nicht mehr existieren, sondern muss sich entscheiden, »wohin« sie gehört. Deutschland ist auf der Karte das einzige Land auf der ganzen Welt, das noch ein weißer Fleck ist; alle anderen Staaten sind farblich eindeutig einer Seite zugeordnet. Dadurch wird behauptet, dass im globalen Ost-West-Konflikt Neutralität nicht möglich sei. Die Karte lässt dabei – ganz unabhängig von dem Text – keinen Zweifel daran, dass die Wahl für »den Westen« auszufallen habe. Erstens scheint Deutschland geographisch dorthin zu gehören: Denn mit der Schweiz, Österreich, Italien und Jugoslawien sowie ganz Skandinavien in Grün sind alle Länder im Süden und Norden Deutschlands Teil dieser Gemeinschaft. Zweitens ist die »freie Welt« nach dieser Karte viel größer und erscheint dadurch mächtiger als »der Osten«, da die Karte alle Staaten, die nicht kommunistisch sind, der »freien Welt« zuschlägt. Drittens macht die grüne Farbe »den Westen« anziehender als den roten »Osten«, steht letztere Farbe doch für Gefahr, erstere hingegen für das Leben. Dem Argument der Kritiker eines NATO-Beitritts, dass die Entscheidung für das atlantische Bündnis gleichbedeutend mit der Zementierung der deutschen Teilung sei, wird schließlich durch die Darstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 vorgebeugt, auch wenn nur Westdeutschland der NATO beitrat und dieser Schritt im selben Jahr dann wiederum zur Gründung des Warschauer Paktes, dem sich die DDR anschloss, führte. In der Weltkarte spiegelt sich damit das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes sowie der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik wider. Während die propagandistische Absicht des Plakates des Bundes aktiver Demokraten im Kontext der Debatte um den NATO-Beitritt der Bundesrepublik offensichtlich ist, wurde ein atlantisches Weltbild auch auf subtilere und vordergründig unpolitischere Art und Weise auf Briefmarken befördert. Die Briefmarke in Abbildung 8 wurde von den Graphikern Hans Michel und Günther Kieser entworfen und 1956 anlässlich der 2. Internationalen Polizeiausstellung in Essen in einer Auflage von 10.000.000 Stück herausgegeben. Sie zeigt eine Weltkarte ohne die Antarktis, aber mit Breiten- und Längengraden nach der Mercator-Projektion auf rotem Grund. Mit der Farbwahl war keine politische Botschaft verbunden, sie folgte schlicht einer internationalen Konvention: 1897 hatte der 5. Weltpostkongress in Washington empfohlen, für Briefmarken im Werte des Portos für den Versand einer Postkarte ins Ausland rot als Grundfarbe zu verwenden, um den interna-
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Abbildung 7: West versus Ost
Plakatsammlung des Archivs christlich-demokratischer Politik, ObjektSignatur: 10-027: 399/6.
tionalen Postverkehr zu erleichtern (1953 war diese Empfehlung zwar aufgehoben worden, aber die Produzenten der Briefmarke mit dem Frankaturwert von 20 Pfennig folgten offenbar weiter dieser alten Gepflogenheit). Das Motiv der Weltkarte wiederum war bewusst gewählt und sollte die grenzüberschreitende Kooperation der Polizeibediensteten symbolisieren und den internationalen Wirkungskreis der International Police Association (IPA) herausstreichen. Die Landmassen sind grün dargestellt, weil zum damaligen Zeitpunkt grün die Farbe der Polizeiuniformen und Streifenwagen in der Bundesrepublik war. Außerdem setzt grün als Komplementärfarbe von rot die Erdteile optisch deutlich von den sie umgebenden Ozeanen ab.42 Für die Frage nach der geographischen Verortung Deutschlands ist aber die Platzierung der weißen Hand, die im Vordergrund der Karte erscheint und die als »Halt«-Geste die Polizei repräsentiert, entscheidend. Denn sie verdeckt den hinter ihr gelegenen Teil der Karte nicht, sondern hebt ihn im Gegenteil optisch hervor:
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Kleim, Uwe G. F.: »Untersuchung kartographischer Darstellungen auf Briefmarken der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel von Weltkartenmotiven«, in: Dieter Beineke et al. (Hg.): Festschrift für Univ.-Prof. Dr.-Ing. Kurt Brunner anlässlich des Ausscheidens aus dem aktiven Dienst, Neubiberg 2012, S. 131-148, hier: S. 137-140. Zum vom Weltpostverein empfohlenen Farbschema vgl. Häger, Ullrich: Großes Lexikon der Philatelie, 2 Bde., Gütersloh 1978, Bd. 1, S. 104-105.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Die Teile des Ozeans hinter ihr sind weiß, die Teile der Landmassen hingegen hellgrün und damit farblich vom Dunkelgrün der anderen Erdteile abgehoben. Der Teil der Welt, der auf diese Weise visuell betont wird, umfasst den Atlantik und seine Anrainer auf beiden Seiten, also Europa und Afrika auf der einen und Südamerika und den östlichen Teil Nordamerikas auf der anderen Seite. Dadurch, dass der Blick des Betrachters auf diesen Teil der Karte gelenkt wird, werden aus Sicht Deutschlands die transatlantischen Beziehungen priorisiert: Von Deutschland aus schaut man nach Westen über den Ozean und nicht, wie es ohne die Hand vielleicht näherliegender wäre, auf den östlichen Teil der eurasischen Landmasse, zu der Europa geographisch ja letztlich gehört, so die unterschwellige Botschaft der Briefmarke.43
Abbildung 8: Atlantisches Welt-Bild
Michelkatalognr. Bundesrepublik 240, Sammlung Klaus-Günter Tiede, Hamm.
43
Weitere Postwertzeichen, die ein solches atlantisches Weltbild beförderten, indem sie den Blick von Europa Richtung Amerika statt Asien lenkten, sind die fünf Briefmarken, die 1949 in Westberlin zum 75. Jubiläum des Weltpostvereins herausgegeben wurden (Deutsche Post Berlin Michel-Katalognr. 35-39), sowie die Briefmarke, die 1952 von der Bundespost anlässlich des 100. Jahrestags der Ankunft von Carl Schurz in Amerika herausgegeben wurde (Bundesrepublik Michel-Katalognr. 155).
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5.
Europäisches »Abendland« versus transatlantischer »Westen«?
Aus der Feststellung, dass zum einen Deutschland nicht mehr in der Mitte Europas, sondern am Rande des »Abendlandes« verortet wurde und zum anderen ein atlantisches ein eurozentrisches Weltbild verdrängte, ergibt sich hinsichtlich des Bemühens, Kontinuität und Wandel in den räumlichen Selbstpositionierungen der Bundesrepublik nach 1945 einzuschätzen, die Frage, ob ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem europäischem »Abendland« und dem transatlantischen »Westen« bestand und ob sich die Nachkriegszeit letztlich dadurch auszeichnete, dass das neue Raumkonzept des Westens die traditionelle Raumkategorie des Abendlandes allmählich ablöste. Die Annahme, dass europäisches »Abendland« und transatlantischer »Westen« im Wettbewerb miteinander standen oder sich gar gegenseitig ausschlossen, muss für kartographische Repräsentationen Deutschlands in größeren räumlichen Kontexten bezweifelt werden. Die Bundesrepublik befand sich sowohl innerhalb des »Abendlandes« als auch »des Westens« in einer östlichen Randlage, sodass Darstellungen des Landes innerhalb Europas und der Welt miteinander kompatibel waren und sich die periphere Verortung Deutschlands auf Europa- und Weltkarten deshalb nicht grundsätzlich unterschied. Ein an junge Wähler gerichtetes Wahlplakat im Format DIN A3, das das Bundessekretariat der Jungen Union im Rahmen der Bundestagswahl 1953 von dem Graphiker Adolf Westerdorf anfertigen ließ, illustriert diese Kongruenz von »Abendland« und »Westen« anschaulich (Abbildung 9). Es zeigt einen Globus, der so gedreht ist, dass man einen großen Teil der Nordhalbkugel sehen kann. Der Blick wird dabei auf die atlantische Hälfte gelenkt, da eine aus dem unteren Bildrand hervorragende Hand dabei ist, einen roten Vorhang von rechts nach links vor den Erdball zu ziehen. Asien ist bereits in seinem Schatten versunken, sodass nur noch Europa, Nordafrika sowie die Westküsten von Nord- und Südamerika zu sehen sind. Die Gestaltung erinnert stark an die Europadarstellung auf dem Wahlplakat der CDU von 1949 in Abbildung 4, das Motiv ist nun aber auf die ganze Welt übertragen worden. Der aus dem »Osten« kommende Kommunismus – symbolisiert durch den roten Vorhang – bedroht nicht mehr nur das europäische »Abendland«, sondern den ganzen »Westen,« also auch Amerika. Auch eine antithetische Gegenüberstellung von einem althergebrachten Abendland- und einem neuem Westkonzept ist irreführend. In der Forschung wird diesbezüglich zumeist behauptet, ein äußerst konservatives, demokratiefeindliches sowie antiamerikanisches Abendlandkonzept habe in den unmittelbaren Nachkriegsjahren als Integrationsbegriff, mit dem der westeuropäische Einigungsprozess habe legitimiert werden können, fungiert, sei dann aber im Laufe der 1950er Jahre angesichts der Liberalisierung der Bundesrepublik sowie ihrer festen Verankerung im nordatlantischen Bündnis vom demokratischen und Nordamerika mitumfassenden Westkonzept ersetzt worden. »Zwischen Abend-
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 9: Abendland und Westen
Plakatsammlung des Archivs christlich-demokratischer Politik, Objekt-Signatur: 10-001: 435.
land und Amerika […] verlief der ideelle und mentalitätsgeschichtliche Weg der Bundesrepublik in eine westlich geprägte Gesellschaft […]. Bis zum Ende des 50er Jahre wurde auf diesem Weg die abendländische Komponente immer schwächer, die Dimensionen der Amerikanisierung hingegen immer stärker.« So etwa nutzte Edgar Wolfrum »Abendland« und »Westen« als gegensätzliche Pole, innerhalb derer er den Verlauf der Nachkriegsgeschichte interpretierte. Demnach habe der
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Abendlandbegriff als »eine Unabhängigkeitsbekundung gegenüber dem bloß als materialistisch wahrgenommenen Amerika« gedient.44 Begriffsgeschichtlich ist dem jedoch entgegenzuhalten, dass beide Begriffe in der Nachkriegszeit zu Synonymen wurden. Denn das europäische »Abendland« wurde Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre zunehmend amerikanisiert und so zu einem transatlantischen »Abendland« umgedeutet. In dem Begriff drückte sich also zunehmend weniger eine Abgrenzung von Westeuropa zu Nordamerika aus, sondern vielmehr eine Opposition der gesamten atlantischen Gemeinschaft zum »Osten«. Auch kartographische Darstellungen beförderten die Ansicht, dass »Westen« und »Abendland« in ihrer geographischen Ausdehnung kongruent waren, wie die folgenden Abbildungen deutlich machen.45 Abbildung 10 zeigt eine Weltkarte aus dem 1950 erschienenen Das Abenteuer des Abendlandes des unter dem Pseudonym Ferdinand Fried schreibenden Journalisten Ferdinand Friedrich Zimmermann, der in der Spätphase der Weimarer Republik Mitglied des jungkonservativen Tat-Kreises gewesen war.46 In diesem die Weltgeschichte und -politik essayistisch reflektierenden populären Sachbuch behauptete Zimmermann, der zu dieser Zeit für das evangelische Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt arbeitete, dass der gegenwärtige Konflikt »zwischen dem Westen und Osten« nichts anderes als »der uralte Gegensatz zwischen Okzident und Orient« sei und dass das »Abendland« sich durch die geographische Verlagerung seines Zentrums in den Atlantik »zu einem neuen, größeren Atlantis« ausgeweitet habe. Wie Rom 44
45
46
Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 183. Fast wortgleich hatte dies Axel Schildt bereits 1999 so ausgedrückt. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika, S. 20. Vgl. auch ders.: »Westlich, demokratisch: Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert«, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hg.): Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 225-239, hier: S. 235. Auch Vanessa Conze bezeichnete das »Abendland« als »antiamerikanisches Konzept«. Conze, Vanessa: »Abendland gegen Amerika! ›Europa‹ als antiamerikanisches Konzept im westeuropäischen Konservatismus (1950-1970) – Das CEDI und die Idee des ›Abendlandes‹,« in: Jan C. Behrends/Árpád von Klimó/Patrice G. Poutrus (Hg.): Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert: Studien zu Ostund Westeuropa, Bonn 2005, S. 204-224. In eine ähnliche Richtung wies auch die Tübinger Forschung zum Wertewandel in der frühen Bundesrepublik (auch wenn sie den Begriff des Abendlandes nicht verwendete), da sie Westernisierung mit Liberalisierung gleichsetzte und dadurch den Eindruck erweckte, die Bundesrepublik habe erst dann zum »Westen« gehört, nachdem sich ihre politische Kultur der seiner westlichen Nachbarn angepasst hätte. Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Vgl. hierzu ausführlich Trautsch, Jasper M.: »Vom ›Abendland‹ in ›den Westen‹? Die Liberalisierung der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit in begriffsgeschichtlicher Sicht«, in: Historische Zeitschrift (im Erscheinen). Zum Tat-Kreis und Zimmermanns Rolle darin vgl. Sontheimer, Kurt: »Der Tatkreis«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 229-260.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
in der Antike die Schutzmacht der gemeinsamen griechisch-lateinischen mediterranen Kultur geworden sei, hätten die USA die »Hegemonie des Abendlandes« übernommen, nachdem die Europäer sich in den Weltkriegen »wie einstmals die Griechen« untereinander bekriegt und damit geschwächt hätten und nun nicht mehr in der Lage seien, der Bedrohung aus dem Osten alleine widerstehen zu können. Die hier gezeigte Weltkarte sollte seine Ausführungen zum Ost-West-Konflikt illustrieren, indem sie »Occident« und »Orient« durch Kreisziehungen markierte und voneinander abgrenzte. Die Zugehörigkeit Nordamerikas zum »Abendland« wurde so einprägsam visualisiert.47
Abbildung 10: Occident versus Orient
Ferdinand Fried [Ferdinand Friedrich Zimmermann], Das Abenteuer des Abendlandes (Düsseldorf: Eugen Diederichs, 1950), S. 174.
Die Karte ist aber nicht nur relevant, da sie den Einschluss Amerikas in das »Abendland« veranschaulicht (und das durch einen langjährigen Kapitalismus- und Liberalismuskritiker wie Zimmermann, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten der SS und der NSDAP beigetreten war), sondern auch hinsichtlich der Frage nach Kontinuität und Wandel geographischer Imaginationen.48 Denn 47
48
Fried, Ferdinand [Ferdinand Friedrich Zimmermann]: Das Abenteuer des Abendlandes, Düsseldorf 1950, S. 177, 175, 180, 164, 156. Zur positiven Rezeption des Buches s. Schildt, Axel: »Deutschlands Platz in einem ›christlichen Abendland‹: Konservative Publizisten aus dem Tat-Kreis in der Kriegs- und Nachkriegszeit«, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hg.): Deutschland nach Hitler: Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 344-369, hier: S. 367. Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2007, S. 685.
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die Karte wurde nicht extra für Zimmermanns Das Abenteuer des Abendlandes produziert, sondern dem bereits 1923 veröffentlichten Buch Vom Kulturreich des Festlandes des deutschen Ethnologen Leo Frobenius entnommen. Kartographisch wurde hier also an die Weimarer Republik angeknüpft. Gleichzeitig wurde aber auch eine nicht unerhebliche Änderung an Frobenius’ Karte vorgenommen. Laut dem Ethnologen war der Atlantik nämlich eine »Kluft«, die für Menschen schwer überbrückbar sei; der Pazifik hingegen habe den Charakter »eines Binnenmeeres«, da Asien und Amerika über die Beringstraße miteinander verbunden seien und es im Pazifik im Gegensatz zum Atlantik eine Vielzahl an Inselketten gebe. Um die unterschiedlichen Funktionen der beiden Ozeane (der Atlantik als Barriere, der Pazifik als Brücke) zu verdeutlichen, war auf der Weltkarte in Vom Kulturreich des Festlandes Amerika zweimal abgebildet: einmal ganz links westlich von Europa, einmal ganz rechts östlich von Asien (Abbildung 11). Zimmermann hingegen trennte den rechten Teil der Karte ab, um die größere geographische Nähe Nordamerikas zu Sibirien als zu Europa zu verschweigen (die Welt scheint somit an der Ostgrenze der Sowjetunion zu enden) und um stattdessen das Augenmerk auf die eingetragene Kreisziehung des »Occidents«, die Westeuropa und Nordamerika optisch miteinander verband, zu lenken. Darüber hinaus fällt bei einem Vergleich der beiden Karten auf, dass Frobenius die Proximität von Nordamerika und Sibirien maßlos übertrieb, indem er die Inselkette der Aleuten im Beringmeer als zusammenhängende, langgezogene Halbinsel Alaskas darstellte, während Zimmermann sie gänzlich unterschlug. Zudem zeigte Frobenius die verschiedenen Inselgruppen im Südpazifik als jeweils zusammenhängende (und zu große) Flächen, während bei Zimmermann bis auf Neuseeland gar keine Inseln Ozeaniens zu sehen sind.49 Nicht nur wurde Frobenius ’ Karte auf diese Weise entscheidend verändert; gleichzeitig wurde sie von Zimmermann auch einer gänzlich anderen Interpretation unterzogen, die den sich nach 1945 rapide vollziehenden Wandel der Weltanschauung von Konservativen verdeutlicht: Denn während die Karte für Zimmermann die Nähe zwischen Deutschland und Amerika verdeutlichen sollte, hatte sie bei Frobenius die gegenteilige Aufgabe, deren Distanz zueinander ausdrücken. In Vom Kulturreich des Festlandes entwickelte Frobenius nämlich seine Pendeltheorie, nach der sich die kulturelle Entwicklung der Menschheit in sich abwechselnden West-Ost- bzw. Ost-West-Bewegungen vollzogen habe. Erste Kulturformen (Schlag- und Schneidewerkzeuge, Glyptik und Graphik) seien nach Frobenius in der Prähistorie angeblich erstmals in Westeuropa entstanden und hätten sich von dort in östlicher Richtung in den Nahen Osten und von da aus weiter nach Südostasien verbreitet. Daraufhin sei in der Bronzezeit, was Frobenius einen »Hiatus« nannte, erfolgt: eine Umkehr der Pendelbewegung. Die in Ostasien
49
Leo Frobenius: Vom Kulturreich des Festlandes, Berlin 1923, Zitat auf S. 28.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
Abbildung 11: Der Atlantik als Barriere, der Pazifik als Brücke
Leo Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes (Berlin: Wegweiser, 1923), S. 155.
vertieften Kulturerscheinungen (Entwicklung von Mythologien) hätten nun westwärts zurückgewirkt, wo sie im Nahen Osten und Europa zur Bildung von »hohen Religionen« geführt hätten. Mehr noch: Die kulturelle Diffusion habe jetzt auch den Atlantik, deren Anrainer zu Vorreitern der Produktion von Maschinen geworden seien, überbrückt. Dies aber habe zur Folge gehabt (und dies ist nun der Kern der Aussage der Karte), dass sich die Grenzen des »Occidents« verschoben hätten. Das »Abendland«, das zu seiner Blüte als »hochphilosophische Kultur« nur Europa umfasst habe, habe sich zu einer »materialistischen Kultur« umgewandelt, die »im hemmungslos gewordenen Materialismus die Kausalitätstendenz der abendländischen Kultur« abgeschlossen habe. Als solche umfasse der »Occident« neben Großbritannien, Frankreich und den Beneluxstaaten nun eben auch die USA, aber nicht mehr Deutschland. Ganz explizit behauptete Frobenius, »daß die wahre Grenze des Occidents, der abendländischen Kultur, auf der uralten Scheide zwischen Frankreich und Deutschland liegt« und letzteres damit im Zentrum der Pendelbewegung zwischen dem für Mythos und Religion stehenden »Osten«, zu dem er neben den »Völkern des Islam und den[jenigen des] Buddhismus in Asien wie in Afrika« auch Russland zählte, und dem Zivilisation und Materialismus verkörpernden »Westen« zu verorten sei.50 Bei Zimmermann wiederum hat die Karte eine gegenteilige Botschaft. Er deutete den »Pendelschlag der Kulturen« dahingehend, dass zunächst der europäische »abendländische Geist […] im Sinken ein anderes Gefäß« gesucht habe und es in der
50
Ebd., Kapitel 2, 10 und 11, Zitate auf S. 152, 154.
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»Weltmacht im Westen […], der zur Erfüllung ihrer großen geschichtlichen Aufgabe nur die Erfüllung mit abendländischem Geist fehlte,« gefunden habe (»Amerika europäisiert sich«, wie er den Wirkungsmechanismus beschrieb); und dass dann anschließend ein neuer »Hiatus« stattgefunden habe, der »für uns in den amerikanischen Divisionen in Westeuropa greifbare Gestalt angenommen hat« (»Amerika frißt sich in das alte Abendland hinein«, wie er diesen Rückschlag des Pendels charakterisierte). Während Frobenius den kulturellen Austausch zwischen »Occident« und »Orient« betont hatte, fand dieser nach Zimmermann also nur »innerhalb der westlichen Welt« statt. So wie sich in der Antike »das Schwergewicht des Abendlandes über das [mediterrane] Meer nach Westen« von Griechenland nach Rom verlagert habe, so habe sich der Mittelpunkt des »Abendlandes« im 20. Jahrhundert zunehmend über den Atlantik Richtung Amerika verschoben; und so wie Griechenland »das römische Weltreich eigentlich erst beseelt hat, es fähig gemacht hat, für Jahrhunderte weiterzuleben und die Welt zu ordnen«, so übe Europa nun seinen geistigen Einfluss auf seine früheren Kolonien in der »Neuen Welt« aus. Der »geschichtliche Sinn der Verbindung von Rom mit Hellas, der Verbindung der Gewalt mit dem Geist zu einer neuen echten Macht, die die Welt zu ordnen und zu beherrschen berufen war«, spiegele sich heutzutage in dem Bündnis zwischen Nordamerika und Westeuropa wider. Deutschland stand nach Zimmermann demnach nicht zwischen »Westen« und »Osten« wie bei Frobenius, sondern war fest verwurzelt in einem transatlantischen »Occident«. Eine Karte, die ursprünglich Deutschland eine Sonderposition in der Mitte zugewiesen hatte, wurde so uminterpretiert, dass sie nun die kulturelle Verbundenheit Deutschlands mit Westeuropa und Nordamerika verkündete.51 Diese sich gegenseitig eigentlich ausschließenden Interpretationen, die sich aus der jeweils unterschiedlichen Lage Deutschlands in den 1920ern und 1950ern ergeben, wurden dadurch ermöglicht, dass sich der dicke Strich, der die Grenzen des »Occidents« markiert, grob an den Grenzen des Römischen Reiches von Rhein und Donau orientiert und er damit quer durch Deutschland verläuft. Innerhalb Europas geht er von den Niederlanden in südöstlicher Richtung zur Ostgrenze Österreichs und teilt Deutschland damit entzwei: Teile West- und Süddeutschlands gehören demnach zum »Occident«, aber nicht Nord- und Ostdeutschland. Für den Preußen Frobenius stand damit in den 1920er Jahren, als Berlin noch Hauptstadt des Deutschen Reiches war, wohl der relevante Teil Deutschland außerhalb des »Occidents«, während zu Zeiten der Teilung Deutschlands im Kalten Krieg für Zimmermann anscheinend ausschlaggebend war, dass ein Großteil der Bundesrepublik innerhalb des »Occidents« lag. Auch Abbildung 12 zeigt eine Weltkarte, anhand derer sich die geographische Konvergenz von »Abendland« und »Westen« nachvollziehen lässt. Sie erschien 1951 51
Fried: Das Abenteuer des Abendlandes, S. 247, 232-233, 246, 233, 235, 218-219, 227.
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
in der 2. Auflage des Klassikers der Kulturgeographie Lebensräume im Kampf der Kulturen. Darin betonte Heinrich Schmitthenner, Professor für Geographie an der Universität Marburg, auf der einen Seite die »Kulturfront zwischen der russischen Welt und Europa«, die eben zwei gegensätzliche »Kulturgebiete« repräsentierten (Russland habe sich zwar im 18. Jahrhundert »europäisiert«, wie Japan und China das später auch getan hätten, aber mit der Oktoberrevolution von 1917 habe »die osteuropäische Kulturwelt die abendländische Tünche« wieder abgestreift). Auf der anderen Seite hob er die engen Gemeinsamkeiten zwischen Westeuropa, dem in seinen Worten »alten Abendland«, und Nordamerika, das er als »neues Abendland« bzw. als »Zwillingsschwester« Westeuropas bezeichnete, hervor. Zusammen formten sie das »transatlantische Abendland«. Obwohl »charakteristische Unterschiede« zwischen Westeuropa und Nordamerika, das schließlich auch »ein selbständiges Kulturreich geworden« sei bzw. »ein eigenständiges, aktives Kulturgebiet« darstelle, festzustellen seien, seien »Das Alte und das Neue Abendland […] eben doch wesensverwandt« und bildeten »im höheren Sinne eine Einheit, die Einheit der abendländischen Kulturmenschheit schlechthin«.52 Die in dem Buch abgedruckte Weltkarte sollte nun Schmitthenners kulturräumliche Aufteilung der Erde in »Abendland« (das gesamte nicht-russische Europa), »Neues Abendland« (Nordamerika ohne die Polargebiete), »osteuropäische Kultur« (der nach Asien hineinwirkende europäische Teil Russlands), »orientalische Kultur« (Nordafrika, Sahelzone, Naher Osten, Zentralasien), »indische Kultur« (der indische Subkontinent und Indochina) und »ostasiatische Kultur« (China, Korea und Japan) veranschaulichen. Lateinamerika, der südliche Teil Afrikas, der Malaiische Archipel sowie Australasien waren Schmitthenner zufolge als »passive Räume« keine eigenständigen Kulturregionen, sondern nur »abendländische und neuabendländische Hilfs- und Kolonialgebiete«. Auch die Relevanz dieser Weltkarte ergibt sich nicht nur aus der auf ihr vollzogenen Atlantisierung des »Abendlandes«, das nun in neuer Gestalt auch in Nordamerika erkannt wird, sondern auch aus der Tatsache, dass sie erstmals bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen war: nämlich in der 1. Auflage von Lebensräume im Kampf der Kulturen aus dem Jahr 1938. Während die Karten in beiden Auflagen identisch sind, unterscheiden sich die im Text vorgenommenen Deutungen des »transatlantischen Abendlands« zwischen der ersten und der verbesserten und
52
Schmitthenner, Heinrich: Lebensräume im Kampf der Kulturen, Leipzig 1938, S. 21-22, 109, 167, 14, 16, 172-173 [2. verbesserte und erweiterte Aufl. Heidelberg 1951, S. 22-23, 135, 204, 13, 16, 215]. Zu Schmitthenners kulturräumlicher Erdeinteilung s. auch Kolb, Albert: »Schmitthenners Lebensräume und die Kulturerdteile«, in: Helmut Blume/Herbert Wilhelmy (Hg.): Heinrich Schmitthenner Gedächtnisschrift: Zu seinem 100. Geburtstag, Stuttgart 1987, S. 97109.
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Abbildung 12: Altes Abendland und Neues Abendland
Heinrich Schmitthenner, Lebensräume im Kampf der Kulturen, 2. verbesserte und erweiterte Aufl. (Heidelberg: Quelle & Meyer, 1951), S. 14.
erweiterten Neuauflage jedoch. Hatte Schmitthenner 1938 vornehmlich die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen Nordamerika und Westeuropa hervorgehoben, so definierte er 1951 das »transatlantische Abendland« stärker geographisch als »ozeanische Welt« und grenzte diese von der durch die Sowjetunion verkörperten »kontinentalen Welt« ab. Mehr noch: Im neuen weltpolitischen Kontext erklärte Schmitthenner den Gegensatz nicht mehr nur verstärkt geographisch statt kulturell, sondern vor allem auch politisch, charakterisierte er erstere doch »mit demokratisch-föderativem Denken« und letztere »mit ihrem starren System reiner Diktatur«. So schlussfolgerte Schmitthenner, dass inzwischen »der Antagonismus der kontinentalen gegen die ozeanische Welt den Kampf der Kulturen um den Raum der Erde« überlagere. Kurzum: Schmitthenner definierte die Raumkategorie des europäischen »Abendlands« nicht nur geographisch um, indem er sie um Nordamerika erweiterte, sondern er verknüpfte sie politisch nun auch mit Demo-
Standortverlagerungen Deutschlands im Welt-Raum
kratie und Föderalismus und machte sie so gleichbedeutend mit dem Begriff des Westens.53 Schmitthenners Lebensräume im Kampf der Kulturen war dabei nicht nur innerhalb der geographischen Wissenschaft, in der das Werk weitere Studien zur kulturräumlichen Einteilung der Erde inspirierte, einflussreich.54 Durch den Eingang seines Gliederungskonzepts in Schulbücher wurde es auch der breiteren Bevölkerung vermittelt. Zwei Jahre nach Erscheinen der 2. Auflage veröffentlichte der Oldenbourg-Verlag das erdkundliche Unterrichtswerk für höhere Lehranstalten Erde und Mensch. Darin differenzierte der promovierte Geograph und gymnasiale Erdkundelehrer Ludwig Bauer, der wie Schmitthenner »die Erde als Kampffeld der Kulturen« beschrieb, einerseits zwischen der »europäischen Zivilisation« und dem »nordamerikanischen Kulturkreis«, machte dabei aber andererseits auch deutlich (und hier folgte er Schmitthenner weitgehend verbatim), dass, während Russland »sich im ersten Weltkrieg vom Abendland getrennt« habe und mit seinem Bolschewismus nun seit rund 30 Jahren einen eigenständigen »osteuropäischen Kulturkreis« verkörpere, Nordamerika als »Neues Abendland« hingegen die neue »Zwillingsschwester« des »europäischen Abendlandes« geworden sei. Mehr noch: Wie Schmitthenner betonte Bauer, dass der »abendländische« und der »neuabendländische Kulturkreis« nicht nur durch ein geteiltes kulturelles Erbe, sondern auch durch gemeinsame politische Werte verbunden seien. In einem tabellarischen Vergleich stellte Bauer den »abendl. und neuabendl. Kulturkreis« und den »osteuropäischen Kulturkreis« einander gegenüber und charakterisierte ersteren als »allweltlich (auf Weltwirtschaft eingestellt), zentrifugal« und behauptete, dabei Schmitthenner wieder fast wörtlich zitierend, dass »freier wirtschaftlicher Wettbewerb« sowie »demokratisch-föderatives Denken« ihn auszeichne. »Diktatur, kommunistisch-irdischer Erlösungsglaube« und »zentralistische Planwirtschaft« hingegen definierten letzteren, der angeblich »binnenländisch, nach Autarkie strebend, zentripetal« orientiert sei. In diesem Schulbuch erscheint das »Abendland« damit eben nicht mehr als auf Westeuropa begrenztes und mit konservativen Werten verbundenes Raumkonzept, sondern in seiner atlantischen Ausdehnung
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Schmitthenner: Lebensräume im Kampf der Kulturen, 2. Auflage, S. 211, 218, 226. In der ersten Auflage von 1938 waren die hier zitierten Textstellen noch nicht enthalten. Vgl. etwa Kolb, Albert: »Die Geographie und die Kulturerdteile,« in: Adolf Leidlmair (Hg.): Hermann von Wissmann – Festschrift, Tübingen 1962, S. 42-49; Newig, Jürgen: »Drei Welten oder eine Welt: Die Kulturerdteile«, in: Geographische Rundschau 38 (1986), S. 262-267. Für Schmitthenners langanhaltenden Einfluss vgl. etwa auch die kulturräumlichen Einteilungen, die Samuel P. Huntingtons These vom Kampf der Kulturen zugrunde liegen. Huntington, Samuel P.: Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.
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und mit seinem Bezug zu demokratischen Prinzipien wie in Lebensräume im Kampf der Kulturen als Synonym für »den Westen.«55 Schließlich druckte Bauer zur Visualisierung der Aufteilung der Erde in Kulturräume eine Weltkarte ab, die derjenigen Schmitthenners in weiten Teilen nachempfunden ist und die Welt ebenfalls in sechs Kulturräume sowie »abendländische und neuabendländische Hilfs- und Kolonialgebiete« gliedert (Abbildung 13). Allerdings unterscheiden sich die Karten auch in einigen Details. So fügte Bauer der Karte etwa Pfeile, die die Richtungen chinesischer Auswanderung aufzeigen, hinzu und verortet China im sowjetischen Einflussbereich. Was die Darstellung des »Abendlands« angeht, fällt auf, dass es – anders als auf Schmitthenners 1938 produzierten Karte – mit vertikalen Linien gefüllt ist und auf diese Weise scharf von dem östlich davon gelegenen, dicht gepunkteten und dadurch dunkel erscheinenden, als »Osteuropäische Kultur« bezeichneten Raum abgegrenzt wird (es verläuft eine gerade Demarkationslinie von Finnland hinunter nach Bulgarien). Bei Schmitthenner hingegen waren beide Räume durch horizontale Linien gekennzeichnet und nur durch die ungleiche Dicke der Striche voneinander unterscheidbar. Könnte man von Schmitthenners Karte darauf schließen, dass es eine kulturAbbildung 13: Transatlantisches Abendland
Ludwig Bauer, Erde und Mensch (München: Oldenbourg, 1953), S. 143.
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Bauer, Ludwig: Erde und Mensch, München 1953, S. 142-144. Bei diesem Schulbuch handelt es sich um den siebten von neun Bänden der im Laufe der 1950er erschienenen Reihe »Erdkundliches Unterrichtswerk für höhere Lehranstalten«.
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räumliche Verwandtschaft zwischen »Abendland« und »Osteuropäischer Kultur« gibt, so lässt die scharfe Konturierung bei Bauer die Grenze zwischen diesen Räumen in der Bildmitte viel markanter erscheinen. Umgekehrt wirkt der Kontrast zwischen dem durch Linien gekennzeichneten »Abendland« und dem quadratisch gerasterten »Neuen Abendland« auf der anderen Seite des Atlantiks weniger stark. Während Schmitthenner seine Karte von 1938 für die Neuauflage also einfach übernahm, veränderte Bauer sie noch leicht, um die Botschaft des aktualisierten Textes, in dem das gesamte »transatlantische Abendland« dem »Osten« entgegengesetzt wird, visuell stärker zu untermauern.
6.
Das eurasische Welt-Bild der DDR
Um die Bedeutung der Entstehung eines atlantischen Welt-Bildes in der Bundesrepublik zu verdeutlichen, soll abschließend noch kontrastierend gezeigt werden, wie Weltkarten und Globusdarstellungen in der DDR, wo dieser Perspektivenwechsel eben nicht zustande kam, aussahen. Besonders auf Briefmarken, deren Herausgabe vom Ministerium für Post- und Fernmeldewesen kontrolliert wurde, legte die SED-Führung ihre Sicht auf die Welt kartographisch dar. Dabei fällt auf, wie sehr sich ihre Gestaltungen von denen Westdeutschlands unterschieden. Auf Abbildung 14 ist eine Briefmarke aus dem Jahr 1949 zu sehen, die in ihrer Darstellungsweise typisch für die DDR und bereits in der Sowjetischen Besatzungszone verwendet worden war.56 Sie wurde vom Graphiker Fred Gravenhorst gestaltet, anlässlich der Gründungskonferenz der internationalen Gewerkschaftsvereinigung für die Post im Weltgewerkschaftsbund nur 20 Tage nach Gründung des ostdeutschen Staates in einer Auflage von 750.000 Stück herausgegeben und zeigt unterhalb des Brandenburger Tors, dessen Säulen zu den Buchstaben »Berlin« umgeformt wurden, und zwischen einer Postbotin links und einem Postboten rechts einen Erdball. Dieser ist so gedreht, dass Europa im Mittelpunkt erscheint. Die Briefmarke erschien bildgleich auch in violett-ultramarin in einem Wert von 12 Pfennig und in einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren (DDR Michel-Katalognr. 243).
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Andere Briefmarken, die diesem Muster folgten, waren: diejenige von 1948 zum Tag der Briefmarke (Sowjetische Besatzungszone Michel-Katalognr. 228) und diejenigen von 1952 zum Völkerkongress für den Frieden (DDR Michel-Katalognr. 320 und 321), auf denen ausschließlich die östliche Hemisphäre zu sehen ist, sowie diejenigen von 1950 zur Briefmarkenausstellung in Sachsen (DDR Michel-Katalognr. 260 und 272), auf denen neben Afrika und Eurasien nur Nordostkanada sowie Südamerika, aber nicht die USA sehen sind.
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Diese Globusdarstellung ähnelt derjenigen auf der nationalsozialistischen Briefmarke zum Europäischen Postkongress von 1942 (Abbildung 2), da erstens auf ihr Europa im Vergleich zu Afrika viel zu groß und zweitens von Nordamerika nichts zu sehen ist. Die Verzerrung ist in letzterer Hinsicht zwar nicht ganz so stark wie auf der Briefmarke aus der NS-Zeit, da ein Großteil Nordamerikas aus diesem Blickwinkel tatsächlich auf der anderen Seite der Welt liegt. Allerdings hätten auch aus dieser Perspektive zumindest Neufundland, Grönland und Island zu sehen sein müssen. Diese Darstellungsweise, nach der der Nordatlantik ins Nichts zu führen scheint (von Südamerika ist zumindest der nordöstliche Teil erkennbar), evoziert damit eben kein atlantisches Welt-Bild, wie es die zuvor analysierten Karten aus der Bundesrepublik getan haben, sondern betont die Zugehörigkeit Europas zur eurasischen Landmasse bzw. zur »Alten Welt«. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt (und dies unterscheidet das Kartendesign dieser Briefmarke von derjenigen von 1942), dass nicht nur Europa und ein Ausschnitt Nordafrikas und des Nahen Ostens, sondern neben ganz Afrika auch ein Großteil Asiens und der Sowjetunion zu sehen sind. Auf dieser Globusdarstellung wird also der Blick von Europa aus Richtung Osten gelenkt. Selbst diejenigen DDR-Briefmarken mit Karten bzw. Globusdarstellungen, auf denen Amerika zu sehen ist, betonten in der Nachkriegszeit die Distanz zwischen der »Neuen Welt« und der »Alten Welt« und hoben die Einheit der letzteren hervor. Die von Paul Hohler und Franz Schreiber gestaltete blaue Briefmarke in Abbildung 15, die 1955 in einer Auflage von 3 Millionen Stück anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Volkssolidarität, einer 1945 in Dresden gegründeten Hilfsorganisation vor allem für ältere Menschen, herausgegeben wurde, zeigt einen Mann, der mit beiden Armen eine Opferschale, auf der das Signet des Verbands leuchtet, in die Höhe hält. Dahinter sind zwei Erdhalbkugeln, die dem Betrachter einmal die westliche und einmal die östliche Hemisphäre präsentieren, abgebildet. Diese Gegenüberstellung von Nord- und Südamerika auf der einen und Europa, Afrika und Vorderasien auf der anderen Seite vermittelt den Eindruck eines geographischen Gegensatzes zwischen beiden »Welten«, der durch kartographische Verzerrungen bzw. Auslassungen noch verstärkt wird. Denn zum einen sind die beiden Erdbälle so gedreht, dass die Landmassen nur an den Rändern erscheinen (von der östlichen Hemisphäre sind Indien und die ost- und südostasiatischen Teile gar nicht zu sehen) und der Atlantik im Vergleich zu den Landmassen dementsprechend viel größer erscheint, als er ist. Tatsächlich ist der Atlantik in seinem kompletten Umfang zweimal abgebildet, auf jeder Erdhalbkugel einmal. Zum anderen zeichnen sich die Globusdarstellungen auch durch Auslassungen aus: Auf dem linken Erdball müsste zwischen dem rechten Arm und dem Kopf des Mannes eigentlich Westeuropa und Westafrika zu sehen sein und auf dem rechten Erdball hätte eigentlich oberhalb des Kopfes der nordöstliche Teil Nordamerikas und zwischen Kopf und
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Abbildung 14: Die Welt ohne Nordamerika
Michel-Katalognr. DDR 244, Sammlung Klaus-Günter Tiede, Hamm.
linkem Arm der Nordosten Südamerikas dargestellt werden müssen. Die Distanz zwischen Europa und Amerika wird so noch mehr übertrieben. Zwar lassen sich für diese Präsentationsweise auch ästhetische Gründe finden: Wären die Landmassen auf den beiden Erdbällen stärker zentriert gewesen, hätten die Arme des Mannes große Teile Europas, Afrikas sowie Nord- und Südamerikas verdeckt. Aber dennoch lässt sich kaum bezweifeln, dass diese Darstellung, nach der Amerika und Europa zwei unterschiedliche und weit voneinander entfernte Welten verkörpern, auch ideologisch motiviert war – zumal weitere Briefmarken diese Kontrastierung von »Alter Welt« und »Neuer Welt« im Rahmen anderer Bildprogramme ebenfalls vornahmen.57 57
Auch die Briefmarke zur internationalen Konferenz der Werktätigen des Öffentlichen Dienstes von 1955 (DDR Michel-Katalognr. 452) stellte die westliche der östlichen Hemisphäre auf ähnliche Weise einander gegenüber. Selbst die polarzentrierte Globusdarstellung der Briefmarken zur Leipziger Messe von 1952 (DDR Michel-Katalognr. 315 und 316), die sowohl Eura-
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Abbildung 15: Westliche versus östliche Hemisphäre
Michel-Katalognr. DDR 484, Sammlung Klaus-Günter Tiede, Hamm.
7.
Zusammenfassung und Diskussion: Kontinuität im Wandel der deutschen Europa- und Welt-Bilder nach 1945
Im geographischen Selbstverständnis der Westdeutschen vollzog sich nach 1945 ein grundlegender Wandel. Das geteilte Deutschland wurde während des Kalten Krieges gedanklich nicht mehr wie noch zu Zeiten des Nationalsozialismus vornehmlich in der Mitte Europas und Europa nicht mehr im Zentrum der Welt lokalisiert, sondern Deutschland wurde am östlichen Rande Westeuropas bzw. der »westlichen Welt« verortet. Es kam also zu gedanklichen Verlagerungen des Standorts
sien als auch Nordamerika zeigen, habe keine atlantische Botschaft, da hier die komplette eurasische Landmasse gezeigt wird und deren Distanz zu Kanada und Alaska dadurch betont wird, dass die Eismassen der Arktis, die als optische Verbindung beider Kontinente dienen könnten, nicht eingezeichnet sind.
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Deutschlands, die sich in neuen Darstellungsweisen von Europa- und Weltkarten in bundesdeutschen Massenmedien wie Briefmarken, Wahlplakaten und populären Sach- wie Schulbüchern niederschlugen. Allerdings konnte zum Verständnis und zur Identifikation mit der neuen Randlage auf eine traditionelle Raumkategorie zurückgegriffen werden, mit der bereits im 19. sowie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Kontinent mental in einen westlichen (aus dem Weströmischen Reich hervorgegangenen, katholisch-protestantischen, lateinisch-germanischen) und einen östlichen (byzantinisch geprägten, orthodoxen, slawischen) Teil aufgeteilt worden war: das »Abendland« (auch wenn dessen genaue Grenzen, gerade hinsichtlich der Frage, ob Ostdeutschland, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn dazu gehörten, immer strittig blieben). Parallel zur gedanklichen Aufteilung des Kontinents in West- und Osteuropa entwickelte sich ein den vormals vorherrschenden Eurozentrismus ablösendes atlantisches Welt-Bild, das nicht nur Europa, sondern den ganzen Erdball in einen West- und einen Ostteil gliederte und dabei die Bundesrepublik visuell fest in der atlantischen Gemeinschaft verankerte. Beide Raumbilder – das vom europäischen »Abendland« und das vom transatlantischen »Westen« – waren, was die kartographische Darstellung angeht, dabei nicht nur kompatibel, da Deutschland in beiden Fällen dieselbe östliche Randlage einnahm; sie wurden auch begrifflich synonym beschrieben. Denn dadurch, dass die Raumkategorie des Abendlandes Richtung Westen hin atlantisch erweitert wurde, also zunehmend auch Nordamerika mit einschloss, wurde sie geographisch deckungsgleich mit der auf Deutschland bezogen eher neuen Vokabel des Westens. Mehr noch: In dem Maße, in dem die Assoziation des »Abendlandes« mit modernisierungskritischen und demokratieskeptischen Positionen nachließ und dieser Raum stattdessen mit von der Aufklärung hervorgebrachten demokratischen Prinzipien in Verbindung gebracht wurde, bestand auch keine politisch-ideologische Diskrepanz zwischen vormals konservativem »Abendland« und liberalem »Westen« mehr. Statt einfach nur den Begriff des Westens, der als positive Bezugsgröße zuvor nur bei Deutschlands westlichen Nachbarn und in den USA zur Selbstbeschreibung verwendet worden war, zu übernehmen, wurde in der Nachkriegszeit mit dem »Abendland« ein traditionelles deutsches Raumkonzept aufgegriffen und fortentwickelt, um es anschlussfähig an das atlantische Bündnis zu machen. In diesem Sinne ist es, was die geographischen Selbstverständigungsdebatten angeht, nach 1945 zu Veränderungen innerhalb von Traditionsbeständen gekommen bzw. wurde im Wandel Kontinuität gewahrt. Das Europa-Bild der DDR veränderte sich demgegenüber weniger. Das Abendlandkonzept war angesichts der Integration Ostdeutschlands in den sowjetisch dominierten Ostblock ungeeignet und eine entsprechend positiv konnotierte Raumkategorie für Osteuropa gab es nicht. Deutschland blieb dementsprechend wie zuvor in der Mitte des Kontinents verortet. Auch fand in der DDR wenig überraschend keine Atlantisierung des Welt-Bilds statt. Im Gegenteil: In der Regel wurde
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die Erde bei Globusdarstellungen so gedreht, dass Amerika außerhalb des Sichtfeldes lag. Der Mittelpunkt der Welt verschob sich auf diesen kartographischen Darstellungen dann im Vergleich zu denjenigen der nationalsozialistischen Zeit eher Richtung Osten, sodass mehr von der Sowjetunion zu sehen war. Alternativ wurden auf kartographischen Darstellungen oftmals westliche und östliche Hemisphäre, also »Neue Welt« und »Alte Welt«, einander gegenübergestellt, um zu betonen, dass Europa und Amerika unterschiedliche Erdteile ausmachten und der europäisch-asiatische Ostblock hingegen eine geographisch zusammenhängende Einheit bildete. Das eurozentrische deutsche Welt-Bild der Vorkriegs- bzw. Kriegszeit entwickelte sich in der DDR also zunehmend zu einem eurasischen Welt-Bild weiter. Die Bundesrepublik und die DDR gingen damit nicht nur politisch-ideologisch getrennte Wege, sondern verorteten Deutschland auch in unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen.
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte Darius Harwardt
Für Alfred E. Günther war die Sache klar: Hinter den »Zerfallserscheinungen der abendländischen Kultur« verbarg sich letztlich ein »amerikanisches Problem«, das nun jedoch auch die Weimarer Republik betraf.1 Denn in einer sich immer rascher wandelnden Gesellschaft drohe der Mensch zum bloßen »Zahnrad des kapitalistischen Getriebes« zu werden, oberflächlichen Modewellen hinterherzulaufen und sich von seiner wahren Kultur zu entfremden – eine Entwicklung, die in den USA ihren Ursprung nahm und nun die ganze Welt erfasse.2 Daher müssten sich die Deutschen – so Günther – intensiv mit dem Einfluss von Amerika auseinandersetzen: »Der Deutsche soll fühlen, welches Ranges der Herr ist, dessen Stiefel er begierig ableckt. Er soll seines Verrates nicht nur an seinem Deutschtum, sondern an den Fundamenten der menschlichen Kultur inne werden und die Erniedrigung seines Daseins wie Rutenstreiche empfinden. […] Indem er sie willig hinnimmt und einige Angstlaute von ›wirtschaftlicher Vernunft‹ vorder- oder hinterrücks von sich gibt, bevollmächtigt er sich zur parlamentarischen Laufbahn.«3 Mit dieser Meinung stand Günther nicht alleine da: Stattdessen bildete die »Amerikanisierungs«-Debatte einen wichtigen Fokus für alle Fragen, die die rasanten Veränderungen der Gesellschaft in der Weimarer Republik betrafen.4 Das Kaiserreich war mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg untergegangen, die Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeitswelt schritt mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit 1 2 3 4
Günther, Alfred E.: »Der Amerikanismus und die Amerikanisierten«, in: Deutsches Volkstum I, 1929, S. 419-426, hier S. 421 u. 420. Ebd., S. 423. Ebd., S. 426. Vgl. vertiefend hierzu Wala, Michael: Weimar und Amerika: Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron und die deutsch-amerikanischen Beziehungen von 1927 bis 1933, Stuttgart 2001; Klautke, Egbert: Unbegrenzte Möglichkeiten: »Amerikanisierung« in Deutschland und Frankreich (1900-1933), Wiesbaden 2003; Becker, Frank/Reinhardt-Becker, Elke: Mythos USA: »Amerikanisierung« in Deutschland seit 1900, Frankfurt/New York 2006.
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voran und in den stetig wachsenden Großstädten strömten Massen von Menschen in die Kinos und Theater. Gehörte man zu den Gewinnern dieser Entwicklungen konnte man positiv in den Aufbruch der »Goldenen Zwanziger« blicken, die von funktionalen Machbarkeitsvisionen und einem technologischen Gestaltungswillen geprägt waren, der nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche betraf.5 Auf der anderen Seite standen Kriegsfolgen, Armut, enorme Klassengegensätze und diejenigen, die in dem »modernen« Zeitgeist vor allem das Heraufziehen einer seelenlosen, degenerierenden und »atomisierten« Gesellschaft erblickten. Zu den schärfsten Kritikern der Weimarer Republik gehörten dementsprechend Konservative, denen Tradition, Autorität und nationale Identität wesentlich wichtiger waren als technologische Entwicklungen, Massenkonsum – oder Demokratie. Dass gerade Amerika im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stand, hatte mehrere Gründe: Einerseits galten die USA bereits seit dem 19. Jahrhundert als die Chiffre für Moderne schlechthin. Jenseits des Atlantiks schienen sich die Entwicklungen zu vollziehen, die »durch Ansteckung das alte Europa« mit sich reißen würden, wie Friedrich Nietzsche es ausdrückte.6 Das bewerteten bereits seine Zeitgenossen sehr unterschiedlich: Manche Europäer blickten sehnsüchtig auf die Freiheit der »neuen Welt«, in der scheinbar weder die Herkunft, die Religion noch der gesellschaftliche Stand eine Rolle spielten und jeder sein Glück finden konnte – zumindest sofern er weißhäutig war. Andere hingegen verachteten die scheinbar oberflächliche, materialistische und heuchlerische Arroganz der ausgewanderten Europäer auf der anderen Seite des Atlantiks, die sich offenbar für etwas Besseres hielten. In Wahrheit jedoch – so lautete die oft vernommene Kritik – sei Amerika keine wirkliche Gesellschaft, sondern eine Ansammlung egoistischer Individuen, die nur auf das eigene Wohl bedacht seien. Die Bilder zu Amerika fielen damit schon seit dem Kaiserreich ambivalent aus, erlaubten es aber, komplizierte Diskussionen um gesellschaftliche Modernisierungsprozesse auf ein handliches Schlagwort zu bringen, mit dem fast jeder etwas anfangen konnte.7
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Vgl. Becker, Frank: »Rationalisierung – Körperkult – Neuer Mensch: Arbeitspsychologie und Sport in der Weimarer Republik«, in: Theo Plesser/Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Arbeit, Leistung und Ernährung: vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin zum MaxPlanck-Institut für Molekulare Physiologie und Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund, Stuttgart 2012. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887), in: Ders: Kritische Studienausgabe, München 1980, Bd. 3, S. 556. Vgl. Tanner, Jakob/Linke, Angelika: »Amerika als ›gigantischer Bildschirm Europas‹«, in: Dies. (Hg.): Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa. Köln 2006, S. 1-36, hier S. 1-5; Schmidt, Alexander: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 243266.
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
Dies verstärkte sich noch, als aus den fernen aufstrebenden USA auf der anderen Seite der Welt eine globale Supermacht geworden war, die sich sogar in den Ersten Weltkrieg einmischte und das deutsche Kaiserreich in große Bedrängnis brachte. Die Vorstellungen von einem erfolglos »degenerierenden« Amerika als niedere »Schwundform« einer Nation hatten sich offenbar als falsch erwiesen.8 Konservative Kritiker waren alarmiert: Maßten sich die Amerikaner nun sogar an, die Normen und Werte anderer Nationen zu kritisieren oder gar beeinflussen zu wollen? Würde die Identität der Deutschen nach der drohenden Kriegsniederlage durch eine »Amerikanisierung« aufgelöst? Noch während des Krieges erklärte der deutsche Politiker Otto von Gierke, dass man den Amerikanern mit ihrer »flachen geistigen Kultur« ja den naiven Glauben an ihre Verfassung durchaus gönnen würde: »Aber wir verbitten uns freilich ernsthaft die Anmaßung, mit der sie in naturrechtlichem Irrwahn die Mustergültigkeit ihrer Institutionen für alle Welt verkünden und im Namen der Völker beglückenden Demokratie auch uns Deutsche von unserer vermeintlichen Unfreiheit erlösen wollen. […] Amerikanisieren lassen wir uns nicht!«9 Genau diese Befürchtungen schienen sich für viele Konservative nach dem verlorenen Krieg zu bestätigen. Für die als Demütigung empfundenen Bedingungen des Versailler Vertrags machte man vor allem Woodrow Wilson verantwortlich, der den Deutschen »die große Geste der Völkerversöhnung, des ewigen Friedens, des gerechten Ausgleichs« signalisiert und sie schließlich »elend verraten« habe.10 Noch dazu investierten die Amerikaner nun in die Wirtschaft, importierten Konsumgüter und beeinflussten über Kinofilme, Jazzmusik oder Frauenbilder das Verständnis von Kultur. Dass sie mit dem Kellogg-Pakt einen internationalen Vertrag initiierten, der auch von Deutschland unterschrieben wurde und den Krieg als Mittel der Politik ächten sollte, schien nur ein weiterer Beleg dafür, dass Amerika seine wirtschaftliche und politische Vorherrschaft über Europa sicherte: »Die Amerikaner brachen fast ungehindert in den europäischen Raum ein. Sie unterwarfen ihn sich kampflos und sie schufen sich im Kellogpakt die moralisch-politische Basis, auf der sie arbeiten konnten.«11 Die Kritik an der Amerikanisierung gehörte dementsprechend zu den diskursiven Dauerbrennern des Weimarer Konservatismus. Es liegt auf der Hand, dass es in diesen Debatten weniger um die USA selbst ging. Vielmehr fungierten Amerikabilder auch in der Weimarer Republik als Aus8 9 10 11
Schwark, Sebastian: Zur Genealogie des modernen Antiamerikanismus in Deutschland, Baden-Baden 2008, S. 36-39. Gierke, Otto von: Unsere Friedensziele, Berlin 1917, S. 17-18. Zitiert nach: Gassert, Philipp: Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933-1945, Stuttgart 1997, S. 42. Zehrer, Hans: »Die Ideen der Außenpolitik«, in: Die Tat 2 (1929), S. 102-110, hier S. 107.
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handlungsort für Modernisierungsprozesse und waren noch dazu unmittelbar mit dem Verständnis nationaler Identität gekoppelt. Unliebsame Entwicklungen der Gesellschaft ließen sich so bequem externalisieren: Die Deutschen seien im Prinzip noch kaisertreu, hochkultiviert und nationalistisch, nur die Einflüsse der »Amerikanisierung« hätten sie verführt und verdorben. Wenn man sich des leidigen Zugriffs der verhassten Siegermacht entledigen könne, so würden die Deutschen alsbald zu ihren wahren Tugenden zurückfinden und die Demokratie, den Kapitalismus, den Liberalismus als »undeutschen« Irrweg erkennen, lautete das Argument: »Es ist wohlfeil, sich über den kulturellen Unfall Amerikas zu entrüsten. Aber es ist nötig, Witterung zu nehmen, um unsere Amerikanisierten zu erkennen.«12 Für den Philosophen Oswald Spengler, einen der wichtigsten konservativen Intellektuellen der Zeit, schien die Zukunft der deutschen Nation unweigerlich mit der mentalen Abwehr Amerikas verbunden: »Die neue ›Gesellschaft‹ Westeuropas nach 1918, aus Snob und Mob gemischt, schwärmt vom jungen, starken, uns weit überlegenen und schlechtweg vorbildlichen Amerikanertum, aber sie verwechseln Rekorde und Dollars mit der seelischen Kraft und Tiefe des Volkstums, die dazugehören, wenn man eine Macht von Dauer sein will, den Sport mit Gesundheit der Rasse und geschäftliche Intelligenz mit Geist. Was ist der ›hundertprozentige‹ Amerikanismus? Ein nach dem unteren Durchschnitt genormtes Massedasein, eine primitive Pose oder ein Versprechen der Zukunft?«13 Diese Frage war natürlich rhetorisch gemeint. Das »Versprechen der Zukunft« konnte aus Spenglers Sicht nur eine Nation geben, die sich vom lächerlichen »Lärm um Parteiideale« und dem »Gezänk um die Vorteile von Berufsgruppen und Länderwinkeln« verabschiede, um mit »Führer und Waffen« wieder »Weltpolitik« zu betreiben.14 Ganz ähnlich positionierte sich auch der Rechtsphilosoph Carl Schmitt, der sich später im Nationalsozialismus einen Ruf als »Kronjurist des Dritten Reiches« erarbeiten sollte und von den Ideen der liberalen Demokratie alles andere als angetan war. Politik, so Schmitt, sei eine Angelegenheit zwischen souveränen Staaten, die sich als geschlossene politische Ordnungsmächte mit homogenen Interessen gegenüberträten. Innenpolitische Auseinandersetzungen würden dabei nur stören und im schlimmsten Fall einen »Bürgerkrieg« hervorrufen, weshalb sie unbedingt zu verhindern seien: »Zur Demokratie gehört also
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Günther: Der Amerikanismus und die Amerikanisierten, S. 426. Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Erster Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 48. Spengler: Jahre der Entscheidung, S. 56-57.
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.«15 Um ihre eigene politische Zukunft gestalten zu können, müssten die Deutschen sich also von den verheerenden Einflüssen der Amerikanisierung lösen, die die Gesellschaft mit dem Gift des Liberalismus infiziere und damit schrittweise zu ihrer »Atomisierung« führe16 , bemerkte der Publizist Arthur Moeller van den Bruck in seiner Schrift Das dritte Reich und stellte fest: »Die Revolutionäre von 1918 haben den Krieg von 1914 verloren, weil ihre Revolution keine deutsche Revolution war. Sie glaubten genug zu tun, wenn sie nur nachmachten, was der Westen ihnen vorgemacht hatte. […] Der Westen lebte sich in dieser Zeit in den Liberalismus ein. Er lernte in dieser liberalen Zeit, seine Maximen und Taktiken zu benutzen, um das Volk zu betrügen.«17 Mit dieser Formel brachte van den Bruck das Credo der »konservativen Revolution« auf den Punkt, einer heterogenen Bewegung von Intellektuellen, die sich vor allem in ihrem Antiliberalismus einig waren.18 In der Weimarer Republik erlangten sie große Popularität, weshalb man ihnen bisweilen eine Rolle als Wegbereiter für den Nationalsozialismus zuschrieb. Vor allem aber verbanden sie ihre Kritik an dem Liberalismus mit einer Himmelsrichtung und verorteten ihn damit im Westen, zogen also auf der mentalen Landkarte eine scharfe Grenze, die eine politische Idee als etwas »Fremdes« kennzeichnete: Jenseits des Atlantiks habe sich aus einer egozentrischen und individualistischen Ansammlung von Siedlern eine Supermacht entwickelt, die mit ihrer universellen Proklamation liberaler Werte vorgeblich die Welt beglücken wolle, in Wahrheit jedoch lediglich einen »Dollarimperialismus« betreibe. Mit aller Macht müsse man sich gegen diesen verheerenden Einfluss zu Wehr setzen, um die deutsche Nation wieder auf ihren eigenen politischen Weg zu führen. Der nationale Konservatismus der Weimarer Republik verstand sich damit als ideologisches Bollwerk gegen den Westen und die »Amerikanisierung in den Köpfen« und beeinflusste mit diesem Selbstverständnis nicht nur die Zeitgenossen, sondern maßgeblich auch die Ideenlandschaft der Bundesrepublik. So war es Armin Mohler, einer der wichtigsten Rechtsintellektuellen der Nachkriegszeit, der
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Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München [u.a.] 1923, S. XX Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Hamburg 1932, S. 102. Ebd., S. 26. Vgl. vertiefend hierzu: Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 2005; Gossler, Ascan: Publizistik und konservative Revolution: das »deutsche Volkstum« als Organ des Rechtsintellektualismus 1918-1933, Münster [u.a.] 2001; Woods, Roger: Nation ohne Selbstbewußtsein. Von der Konservativen Revolution zur Neuen Rechten, Baden-Baden 2001.
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den Terminus der »konservativen Revolution« überhaupt erst etablierte.19 Und sein publizistischer Weggefährte Caspar von Schrenck-Notzing beschuldigte die USA in seinem Bestseller Charakterwäsche, die Deutschen mit dem Instrumentarium des Liberalismus dauerhaft unterdrücken zu wollen und die »moralische Führung der Welt« anzustreben.20 Zugleich zeigte Schrenck-Notzing, dass man das Narrativ der »Amerikanisierung« auch in der Bundesrepublik hervorragend nutzen konnte, um missliebige Elemente der Gesellschaft aus dem eigenen Verständnis nationaler Identität auszuklammern: Als die Studentenproteste der »68er« auf ihren Höhepunkt zusteuerten, sah der konservative Publizist darin vor allem den verderblichen Einfluss des westlichen Liberalismus widergespiegelt: »Wenn Amerika niest, bekommt Europa den Schnupfen. Schwer erkältet stürmt die europäische Jugend durch die Straßen, ballt die Fäuste, verspritzt Farbe, bastelt Molotow-Cocktails und baut Barrikaden […].«21 Amerika als Infektionsherd des verhassten Liberalismus – für Konservative der Nachkriegszeit hatte diese Vorstellung kaum an Attraktivität eingebüßt. Auf ihrer Suche nach einer nationalen Identität, die auf konservativen Werten basierte, suchten sie nach Möglichkeiten, konkurrierende politische Ideen aus den Köpfen und im Idealfall in ein fremdes Territorium zu verbannen: Der Sozialismus gehörte zum Osten, der Liberalismus gehörte zum Westen. Deutschland aber befinde sich einer ideologischen »Zange« der beiden Weltmächte und müsse sich aus dieser verderblichen Umklammerung befreien, um seinen eigenen politischen Weg zu gehen: den des nationalen Konservatismus.22 Nur auf diese Weise könne man den Patriotismus, die Opferbereitschaft und den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Nation wieder stärken, um sich gegen mentale wie reale Expansionsbemühungen der Sowjetunion zu wappnen. Das Gift der Amerikanisierung schädige hingegen das ideologische Immunsystem der Gesellschaft und mache die Deutschen zur hilflosen Beute fremder Einflüsse – die Suche nach einem autonomen »dritten Weg« zwischen den Blockmächten prägte viele Rechtsintellektuelle in der Bundesrepublik in entscheidender Weise.23 Gleichwohl brachte eine solche Denkfigur in der Nachkriegszeit tiefgreifende Probleme mit sich. Denn natürlich war der »deutsche Sonderweg«, auf den man
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Vgl. Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Grundriß ihrer Weltanschauung, Stuttgart 1950. Schrenck-Notzing, Caspar von: Charakterwäsche: die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965, S. 49-50. Schrenck-Notzing, Caspar von: Zukunftsmacher. Die neue Linke in Deutschland und ihre Herkunft, Stuttgart 1968, S. 9. Vgl. Schwark: Genealogie des Antiamerikanismus, S. 157. Vgl. hierzu auch: Gallus, Alexander: Die Neutralisten. Verfechter eines vereinigten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf 2001.
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
sich wieder besinnen wollte, nun mit den monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus belastet. Diese versuchte man dementsprechend mit größter Mühe zu verschweigen, zu relativieren oder umzudeuten und griff auch hierbei gerne auf stereotype Amerikabilder zurück. So beruhe der »Bewältigungsrummel« und die »totale Verketzerung deutscher Tradition«24 im Prinzip auch nur auf der amerikanischen »Rachejustiz«, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft demütige und unterdrücke.25 Solche Abgrenzungsstrategien funktionierten jedoch nur begrenzt und führten oftmals zu öffentlichen Skandalen – zumindest seit den »68ern« war die Nachkriegsgesellschaft für die nationalsozialistischen Verbrechen sensibilisiert und reagierte entsprechend auf derartige Relativierungsversuche, was den nationalen Konservatismus in die Defensive drängte.26 Als zweites Problem erwies sich die Westbindung der Bundesrepublik. Die Politik von Konrad Adenauer hatte einen liberalen Konservatismus begründet, der die Identität der Deutschen durch den Konsens stiftenden Antikommunismus sowie die Betonung gemeinsamer westlicher Werte und freundschaftlicher transatlantische Beziehungen definierte. Eben dies war vielen Rechtsintellektuellen ein Dorn im Auge: Durch das enge transatlantische Bündnis sickere der Liberalismus immer tiefer in die deutsche Identität und amerikanisiere schließlich den Konservatismus selbst. Ein solch gezähmter »Gärtnerkonservatismus« – so Armin Mohler – helfe niemanden und sei kaum mehr als die leere Hülle einer politischen Idee.27 Doch die Westbindung war nicht einfach abzuschütteln. Im Gegenteil hatte sie sich de facto als sehr erfolgreiche politische Strategie der Nachkriegszeit erwiesen. Die USA boten Schutz gegen die Sowjetunion, unterstützten die Bundesrepublik beim wirtschaftlichen Wiederaufbau, in der Abwehr von Reparationszahlungen und in der Integration ehemaliger NS-Kriegsverbrecher.28 Im Gegenzug erhielten die Amerikaner einen wichtigen Verbündeten im Kalten Krieg, der bereits in den 1950er Jahren wiederbewaffnet wurde und in die NATO eintrat und des-
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Mohler, Armin: Was die Deutschen fürchten. Angst vor der Politik, Angst vor der Geschichte, Angst vor der Macht, Stuttgart 1965, S. 147-155. Benz, Wolfgang: Die 101 wichtigsten Fragen – das Dritte Reich, München 2008, S. 137-139. Vgl. Hochgeschwender, Michael: »Der Verlust des konservativen Denkens. Eine Facette der bundesdeutschen Westernisierung, 1950-1980«, in: Axel Schildt (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 149-190, hier S. 177. Vgl. Steber, Martina: Die Hüter der Begriffe: politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017, S. 154; Pfahl-Traughber, Armin: Konservative Revolution und neue Rechte: rechtsextremistische Intellektuelle gegen den demokratischen Verfassungsstaat, Opladen 1998, S. 167. Vgl. Reese, Mary Ellen: Organisation Gehlen. Der kalte Krieg und der Aufbau des Deutschen Geheimdienstes, Berlin 1992.
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sen Bevölkerung sich für den Konsum amerikanischer Produkte begeistern ließ.29 War die Bundesrepublik damit endgültig »amerikanisiert« und der Albtraum vieler Rechtsintellektueller zur Wirklichkeit geworden? Ja und nein. Ja, in dem Sinne, dass es auch Rechtsintellektuellen trotz einiger Bemühungen nicht gelang, einen Keil in das transatlantische Bündnis zu treiben – solange man in dem Kommunismus einen gemeinsamen Feind erblickte, erwies sich die deutsch-amerikanische Beziehung als krisenfest. Nein, in dem Sinne, dass das die rechtsintellektuellen Bemühungen um eine konservative nationale Identität keineswegs schmälerte: Wer behauptete, dass sich Werte und Tugenden des Konservatismus nicht auch innerhalb des westlichen Bündnissystems etablieren ließen? Wenn es nicht möglich war, die »Amerikanisierung« abzuwehren oder zu leugnen, war es vielleicht möglich, sie umzudeuten und in die gewünschten Bahnen zu lenken. Diese Strategie ließ sich bereits im Zuge der »68er«-Proteste beobachten, die nicht von allen Konservativen der Bundesrepublik als Folge einer durch Amerikanisierung verdorbenen Jugend gedeutet wurden. So versuchte das DeutschlandMagazin eher den Eindruck zu erwecken, die Konservativen auf beiden Seiten des Atlantiks stünden gleichermaßen unter Druck, eine enthemmte, entfesselte und potentiell kommunistische Jugendbewegung abzuwehren. Das Magazin wurde von der Deutschland-Stiftung Kurt Ziesels herausgegeben, der seine journalistische Karriere mit antisemitischen Schriften im Nationalsozialismus begonnen hatte30 und nun vor allem den rechten Flügel der Christdemokraten bespielte, um eine konservative »Tendenzwende« in der Bundesrepublik herbeizuführen.31 Die Westbindung der Bundesrepublik im Geiste Adenauers stellte er deshalb ebenso wenig in Frage, wie den sinnstiftenden Antikommunismus. Stattdessen versuchte sein Magazin, die damit verknüpften Begriffe und Assoziationen konservativ umzudeuten und das antikommunistische Feindbild so weit auszudehnen, dass es auch sozialdemokratische oder liberale Positionen mit einbezog. Der Schulterschluss mit den radikalsten Ausprägungen des amerikanischen Konservatismus war ein wichtiger Baustein dieser Strategie. So druckte das Magazin im Herbst 1970 die deutsche Übersetzung des Artikels eines amerikanischen Professors, der proklamierte, dass er genau wie ein Großteil der Menschen in den USA »Hippies, militante Anarchisten und all den Un-
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Vgl. Thoß, Bruno: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960, München 2006. Vgl. Schildt, Axel: »Im Visier: Die NS-Vergangenheit westdeutscher Intellektueller«, in: VfZ, Nr. 1, 2016, S. 37-68, hier S. 39-40. Hoeres, Peter: »Von der ›Tendenzwende‹ zur ›geistig-moralischen Wende‹: Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren«, in: VfZ, Nr. 1, 2013, S. 93-119.
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sinn gründlich satt« habe.32 Es gehe nun darum, die andauernden »Selbstverdammungsorgien« angesichts des Vietnamkriegs zu beenden und eine klare Grenze zu ziehen: »Wir müssen eine Waffe wieder schätzen lernen, die wir durch harte Arbeit, Fleiß und Mühe erworben haben: Feste Autorität […]. Es ist auch unser Land. Wir haben für dieses Land gekämpft, geblutet, geträumt und wir lieben es. Es ist Zeit, es zurückzufordern.«33 Die Redaktion des Deutschland-Magazins, mutmaßlich Ziesel selbst, unterstrich in einem begleitenden Kommentar zu dem Artikel, dass die »mit befreiender Offenheit und drastischer Eindeutigkeit formulierten Aussagen« keineswegs »nur für Amerika«, sondern »für die gesamte freie Welt, ganz besonders aber für die Bundesrepublik« zuträfen: »Manche Kulturminister und Professoren, aber auch die Politiker in der Bundesrepublik, die sich so oft an Anpassung, Nachgiebigkeit und Feigheit überbieten, sollten sich dieses Bekenntnis eines amerikanischen Professors zu Herzen nehmen und danach handeln.«34 Dass das Deutschland-Magazin noch einmal ausdrücklich auf die amerikanische Herkunft des Professors verwies, verdeutlicht, dass man einer Amerikanisierung hier alles andere als abgeneigt war, im Gegenteil. Dies war einerseits eine Konsequenz aus dem rigiden Antikommunismus Ziesels, der dem amerikanischen Schutzversprechen höchste Priorität einräumte und jede Kritik an der US-Politik unmittelbar als »systematische antiamerikanische Propaganda« attackierte, die »in Übereinstimmung mit Moskau […] gegen die Interessen der freien Welt« gerichtet sei.35 So wurde etwa der über die Proteste gegen den Vietnamkrieg berichtende USKorrespondent der ARD, Klaus Bölling, von Ziesel als »linksradikaler Agitator« angegriffen, der sich in »Einseitigkeit und Niedertracht« in seiner Berichterstattung »fast ausschließlich der Verherrlichung […] linksextremistischer Minderheiten« gewidmet habe und in seiner »Hetze gegen die USA« in Bezug auf den Vietnamkrieg »vollkommen mit der kommunistischen Propaganda Hanois« übereinstimme.36 Doch der Bau einer transatlantischen Brücke des Konservatismus beinhaltete noch eine andere Pointe: Über eine solche Brücke ließen sich zollfrei konservative Werte in die Bundesrepublik importieren, die damit Gelegenheit erhielt, zu einer »normalen« Nation zu werden. Denn ebenso wie die Jugendlichen der »68er«Bewegung in den USA gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und »Selbstverdammungsorgien« betreiben würden, waren es in der Bundesrepublik ja Studentenproteste, die sich auch gegen die mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozia-
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Toole, Professor K. Ross: »›Ich habe die Rebellen satt‹. Ein Bekenntnis gegen ›die Tyrannei verzogener Lümmel‹«, in: Deutschland-Magazin, 10/11 1970, S. 2 u. 39, hier: S. 2. Ebd., S. 39. Ebd., S. 2. o.A.: »DGB diffamiert USA-Schutzmacht«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 5/6, 1970, S. 24. o.A.: »Brandt provoziert die USA. Klaus Bölling Nachfolger von Conrad Ahlers?«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 5, 1972, S. 20.
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lismus richteten und damit einen andauernden »Bewältigungsrummel«37 beförderten. Wenn sich nun der engste amerikanische Verbündete selbstbewusst dafür aussprach, das eigene Land zu lieben und politische Kritik den unreifen jugendlichen Stimmen einer marginalisierten Minderheit zuzuschreiben, konnte das für die Bundesrepublik ja nicht falsch sein: So hatte man eine attraktive Blaupause für die Debatten im eigenen Land. Eine besondere Gelegenheit für diese Umdeutung der Amerikanisierung schien sich zu ergeben, als mit Ronald Reagan 1980 ein Präsident ins Weiße Haus gewählt wurde, der den Konservatismus mit großem Selbstbewusstsein in der Öffentlichkeit repräsentierte und sich mit scharfen Äußerungen gegenüber der Sowjetunion profilierte: Gegen das kommunistische »evil empire« müssten die USA und ihre Verbündeten in einem Konflikt »between right and wrong and good and evil« endlich neue Stärke demonstrieren – nur ein neuer Konservatismus könne dafür die Grundlagen schaffen.38 In den Reihen des Deutschland-Magazins rannte man damit offene Türen ein. Als Ziesel Anfang der 1980er Jahre den Bundespräsident Karl Karstens auf dessen Amerikareise begleitete, vermittelte er den Lesern seiner Zeitschrift einen durchweg positiven Eindruck, der besonders den Vorbildcharakter der USA hervorhob: »Von welchen Gegensätzen dieser vielrassige Vielvölkerstaat geprägt ist […], der sich […] zu jener Einheit entwickelt hat, die ihren überzeugendsten Ausdruck in einem manchmal fast naiv erscheinenden und doch tief beglückenden Patriotismus findet, der vielen anderen Völkern, vor allem den Deutschen, verlorengegangen ist […]. Im Gegensatz zu dem in Deutschland heute üblichen Pessimismus und der Atmosphäre von Angst und Resignation, verursacht durch die sogenannte ,Friedensbewegung‹, Demonstrationswut und das Treiben der Medien, empfindet man in den USA eine Atmosphäre des Vertrauens, des Optimismus, der Lebensfreude und einen tiefen Glauben an die Sendung der eigenen Nation als Wahrer und Schützer des Friedens und der Verteidigung der freien Welt gegenüber den brutalen Mächten des Kommunismus.«39 In den Reihen deutscher Konservativer war man hellhörig geworden: War die »Amerikanisierung« möglicherweise keine Bedrohung, sondern eine Chance? Wenn das transatlantische Bündnis ohnehin sakrosankt war, so der Gedanke, müsse man sich eben jetzt darauf besinnen, die »richtigen« Werte von der anderen Seite des Atlantiks in die deutsche Gesellschaft zu übertragen, wie der 37 38 39
Mohler, Armin: Was die Deutschen fürchten. Angst vor der Politik, Angst vor der Geschichte, Angst vor der Macht, Stuttgart 1965, S. 136 Zitiert nach Keller, Patrick: Neokonservatismus und amerikanische Außenpolitik: Ideen, Krieg und Strategie von Ronald Reagan bis George W. Bush, Paderborn 2008, S. 109. Ziesel, Kurt: »Fundamente der Freundschaft«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 11, 1983, S. 6-15, hier S. 9 u. S. 12.
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CSU-Politiker Hans Klein betonte: »Bislang sind alle Moden Amerikas, vom Kaugummi bis zur Kinderrevolution, vom Coca Cola bis zum Kojak, mit einer gewissen Zeitverzögerung nach Europa gelangt. […] Warum sollte es bei den neuen konservativen Tugenden anders sein?«40 Der Enthusiasmus für den neuen Konservatismus des amerikanischen Präsidenten steckte selbst Caspar von Schrenck-Notzing an, der plötzlich nichts mehr gegen eine »Infektion« mit den amerikanischen Werten zu haben schien, im Gegenteil: »Wenn Amerika niest, bekommt Europa den Schnupfen, so lautet ein geflügeltes Wort, das lange Zeit auch gültig war. Wird sich die konservative Welle in den Vereinigten Staaten über den Ozean fortpflanzen?«41 Mehrere Artikel ließen erkennen, dass man sich im Umfeld von Schrenck-Notzings Zeitschrift Criticón offenbar Hoffnungen machte, die unvermeidliche »Amerikanisierung« endlich auch einmal zum eigenen Vorteil nutzen zu können. Dass jedoch gerade jetzt eine Friedensbewegung in der Bundesrepublik enorme öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog und eine Debatte über die Westbindung initiierte, drohte, diese Entwicklung zu gefährden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Schrenck-Notzing nun den vorherrschenden »Antiamerikanismus« beklagte, der sich erst »gegen die weltweite Machtentfaltung der USA, dann gegen die Multis, und jetzt gegen die amerikanische Kultur insgesamt« positioniere.42 Plötzlich fanden sich in Criticón Artikel, die für eine »sachgerechtere Amerika-Kunde« plädierten, um Stereotype abzubauen. Und Ziesels Deutschland-Magazin setzte sich zum Ziel, dem »durch schreiende linke Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland verzerrten Amerika-Bild« entgegenzutreten, da »Unkenntnis, Irrtum, Böswilligkeit und perfide Polit-Dramaturgie […] existenzbedrohliche Ausmaße im Anti-Amerikanismus angenommen« hätten.43 Kurzum: Die öffentliche Debatte war gespalten und knüpfte in dieser Hinsicht an die Diskursstrategie von Ronald Reagan und seinen neokonservativen Beratern an, die ebenjene Spaltung fördern wollten, um eigene politische Positionen als einzig möglichen Ausweg durchzusetzen. Differenzierungen, Abwägungen und langwierige verkopfte Diskussionen wurden als »fetish of complexity« abgelehnt, Relativierungen und Zweifel standen bereits im Verdacht, den Interessen von Moskau zu dienen.44 Und so betonte auch der CSU-Politiker Hans Graf Huyn 40 41 42 43 44
Klein, Hans: »Erfaßt uns jetzt Amerikas konservativer Trend?«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 8, 1981, S. 34-38, hier S. 34-38. Schrenck-Notzing, Caspar von: »Mehr als nur ein neuer Rodeo-König«, in: Criticón, Nr. 62, 1980, S. 292. Schrenck-Notzing, Caspar von: »Eingestürzte oder mißbrauchte Atlantikbrücke«, in: Criticón, Nr. 75, 1983, S. 3. Werbeanzeige »Ein Herz für die USA«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 2, 1982, S.2. Keller: Neokonservatismus, S. 102-113.
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im Deutschland-Magazin, dass die Öffentlichkeit bereits durch Begriffe wie »Entspannung«, »Friede« oder »friedliche Koexistenz« erheblich manipuliert werde, da diese »in den mit sowjetischer Strategie und kommunistischer Ideologie unvertrauten westlichen Ohren positive Assoziationen« wecken und damit eine »Einschläferung des Westens« bewirken würden.45 Eine weitere Parallele bestand darin, dass sowohl in der amerikanischen als auch der deutschen Öffentlichkeit nun vermehrt der Begriff des »Antiamerikanismus« auftauchte, der oft nicht mehr war als ein weiteres Resultat polemischer Zuspitzung. Wer den eingeschlagenen Kurs der USA kritisierte oder auch nur hinterfragte, konnte als »Antiamerikaner« diffamiert werden, wodurch das neokonservative Amerika Reagans für sich beanspruchte, das einzig zulässige, mithin alternativlose »Amerika« zu repräsentieren.46 Bereits die von dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt in einem Interview geäußerte Sorge, die amerikanische Außenpolitik könne zu »grobschlächtig« wirken, brachte das Deutschland-Magazin einmal mehr dazu, der gesamten politischen Linken Antiamerikanismus und eine »Politik der unauffälligen kleinen Schritte in den Sozialismus« vorzuwerfen.47 Im Prinzip – so betonte das Magazin – sei es bereits ein enorm großzügiges Zugeständnis, dass die USA überhaupt noch mit den Sowjets verhandeln würden, denn es müsse »jedem normal denkenden Menschen als Selbstverständlichkeit« erscheinen, dass man unter den gegebenen Umständen die diplomatischen Beziehungen eigentlich abbrechen sollte.48 Anhand der Vehemenz und Emotionalität, mit der deutsche Konservative die Politik Reagans verteidigten, wird deutlich, dass es hierbei um mehr ging, als um bloße sicherheitspolitische Fragen. Vielmehr hoffte man auf einen Transfer konservativer Werte, der über das gleiche Kapillarsystem der »Amerikanisierung« erfolgen sollte, durch das so lange Zeit das Gift des Liberalismus getröpfelt war. Da nun endlich das »Amerika der Kennedys und der Bürgerrechtsbewegung, das Amerika der ,liberalen‹ Medien, Universitäten, Stiftungen, das Amerika der Ostküste […] sanft entschlafen« sei, könne man sich an den ideengeschichtlichen Wiederaufbau wagen.49 Gemeint damit war in erster Linie die Wiederherstellung des Militarismus und des Patriotismus, den man in Deutschland so schmerzlich vermisste und der natürlich im spannungsgeladenen Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit stand. Angesichts der drohenden Gefahr im Osten und der neokonservativen Entschlossenheit Reagans wollte man nicht nur die pazifistische Naivität 45 46 47 48 49
Huyn, Hans Graf: »Sie werden mit Vergnügen an ihrer eigenen Zerstörung arbeiten«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 7, 1982, S. 6-11, hier S. 7-8. Vgl. Friedman, Max Paul: Rethinking Anti-Americanism: The History of an Exceptional Concept in American Foreign Relations, Cambridge 2012, S. 5-18. o.A.: »Gegenwind aus Washington«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 3, 1981, S. 36-38, hier S. 36. Ebd., S. 36-37. Schrenck-Notzing, Caspar von: »Das neue Washington und das alte Bonn«, in: Criticón, Nr. 62, 1980, S. 243.
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der Deutschen überwinden, sondern zugleich auch den immerwährenden nationalen »Selbstmord.«50 Dass Helmut Kohl nach seiner Wahl zum Bundeskanzler gemeinsam mit Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch SS-Veteranen lagen, wurde entsprechend wohlwollend registriert. Die neue »Amerikanisierung« schien einen Weg zu öffnen, die so lang ersehnte konservative Wende nicht in Ablehnung, sondern im Einklang des transatlantischen Bündnisses vollziehen zu können. Dies war umso einfacher, je schärfer die Bedrohungswahrnehmung durch den Kalten Krieg dabei wurde. Zwischen »Menschlichkeit oder Barbarei«51 fiel die Entscheidung nicht schwer und die eigene Vergangenheit unter den Tisch. Dass der konservative Plan nicht aufging, lag auch an dem überraschenden Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges. Die globale Auseinandersetzung der beiden Machtblöcke, die eine bipolare und zugespitzte Diskursstrategie ermöglicht hatte, wich nun einer komplexen und multipolaren Welt mit unscharfen Konturen: »Es ist gleichsam, wie wenn man ein Magnetfeld ausschaltet, dann wird auch die Ordnung der es umgebenden Eisenfeilspäne ausgehoben«, bemerkte der CSU-Politiker Hans Graf Huyn und vermutete genau darin noch Mitte der 1990er eine langfristige Strategie Moskaus.52 Zugleich hatte der öffentliche Widerstand gegenüber Helmut Kohls Geschichtspolitik, vor allem aber der Historikerstreit, gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft sehr empfindlich auf Versuche reagierte, die nationale Identität der Deutschen durch ein neues Verhältnis zum Nationalsozialismus zu bestimmen. Ganz so einfach ließ sich die deutsche Vergangenheit offenbar nicht umdeuten, was manche Konservative zu dem resignierten Urteil führte, dass »die Absage an die Idee einer deutschen Nation längst vollzogen, die Unterordnung und Anpassung an das vorrangige Interesse fremder Mächte längst perfekt ist«.53 Gleichwohl ergab sich genau zwanzig Jahre nach der Debatte um Ronald Reagan und die Friedensdemonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss eine weitere Gelegenheit, die »Amerikanisierung« im konservativen Sinne umzudeuten, mit erstaunlichen Parallelen: Ebenso wie Reagan zu Beginn der 1980er Jahre, orientierte sich auch George W. Bush zu Beginn des 21. Jahrhunderts an den Ideen eines neokonservativen Beraterstabes, der einen moralisch begründeten und militärisch unterfütterten Patriotismus forderte. Ebenso wie gegen den NATODoppelbeschluss formierte sich auch gegen den amerikanischen Militäreinsatz im Irak eine enorme Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Und ebenso wie zu
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Schrenck-Notzing: Charakterwäsche, S. 207. Titelbild, Deutschland-Magazin, Nr. 1, 1980. Huyn, Hans Graf: »Moskaus großes Spiel«, in: Criticón, Nr. 149, 1996, S. 33-38, hier S. 36. Aigner, Dietrich: »Fetisch und Tabu. Betrachtungen zum sogenannten ›Historikerstreit‹«, in: Criticón, Nr. 104, 1987, S. 257-262, hier S. 257.
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Beginn der 1980er Jahre befand sich auch zur Jahrtausendwende die CDU/CSUFraktion in der Opposition und bemühte sich in Abgrenzung von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung darum, sich als Partei der bedingungslosen deutsch-amerikanischen Freundschaft zu inszenieren. Dass die Diskurse einrahmende Narrativ war jedoch ein anderes: Bereits der zweite Golfkrieg zu Beginn der 1990er Jahre gegen das Regime von Saddam Hussein war von manchen Medien als Teil einer globalen Auseinandersetzung zwischen »Westen« und »Islam« gedeutet worden – mit dem kurz nach Ende des Krieges publizierten Aufsatz »Kampf der Kulturen« des amerikanischen Politologen Samuel Huntington erhielt dieses Narrativ ein griffiges und populäres Schlagwort.54 Der 11. September schien schließlich die düsteren Vorhersagen Huntingtons zu bestätigen und erlaubte es endgültig, den politischen Islamismus als weltweiten Antagonisten der westlichen Zivilisation zu etablieren.55 Neokonservative Intellektuelle in den USA erblickten darin ihre Chance, wieder verstärkten Einfluss auf die Politik nehmen zu können – zunächst durchaus mit Erfolg: Infolge der Terroranschläge zeigte sich Amerika in seinem Patriotismus geeint und selbst umstrittene Entscheidungen wie stärkere Überwachung, Aufrüstung und präventive Militäreinsätze, die der »war on terror« erforderlich mache, wurden von einem Großteil der Amerikaner mitgetragen.56 Dieser einhellige Patriotismus löste in Deutschland vor allem angesichts des Irakkrieges viel Kritik aus, die letztlich dazu führte, dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder einer Beteiligung an dem Militäreinsatz ausdrücklich verweigerte und eine Eintrübung der transatlantischen Beziehungen in Kauf nahm. Zugleich war ebenjener Patriotismus jedoch der Grund dafür, dass viele Konservative in der Bundesrepublik neidvoll über den Atlantik blickten und erneut auf eine ideengeschichtliche Amerikanisierung hofften. So forderte der Publizist Thomas Scheben in Ziesels Deutschland-Magazin dazu auf, den »deutschen Patriotismus nicht ungeprüft über Bord« zu werfen und verwies ausdrücklich auf die Reaktion der amerikanischen Gesellschaft, die sich als »trotzige Antwort an die Herausforderer« um ihre Fahne gesammelt habe: »Um die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, brauchen Staat wie Staatsvolk Zusammengehörigkeits-Gefühl und Solidarität: Schlicht Patriotismus.« Dies sei jedoch in der Bundesrepublik undenkbar, da »deutsche Selbsthasser« jede »noch so zarte Äußerung von nationaler Identität« im Keime ersticken würden – stattdessen arbeite man auf eine »Diskursgesellschaft 54 55
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Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72, Nr. 3, 1993; Ders: Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 2002. Vgl. Karis, Tim: »Breaking News – Der 11. September 2001 als Zäsur für den Journalismus und das mediale Islambild in Deutschland?«, in: Tim Karmann et al. (Hg.): Zeitenwende 9/11? Eine transatlantische Bilanz, Opladen/Berlin/Toronto 2016. Schroeder, Robin: »›Our war on terror begins with al-Qaeda, but it does not end there‹ – Der 11. September als Zeitenwende in der amerikanischen Sicherheitspolitik?«, in: Ebd.
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
aus unzähligen, autonomen Individuen« hin, deren Patriotismus sich in »einer künstlichen europäischen Identität« auflösen würde.57 In die gleiche Kerbe schlug auch der konservative Publizist Karlheinz Weißmann und bemerkte: »Patriotismus und Rache, der Wille, die Demütigung der Nation zu vergelten, das sind Emotionen, die im alten Europa längst verboten wurden, – auch darin hat es Amerika besser.«58 Damit argumentierten Scheben und Weißmann beinahe spiegelbildlich zu den Konservativen der Weimarer Republik: Die »atomisierte« Gesellschaft war nun auf Europa zurückzuführen, während Amerika eine authentische nationale Identität symbolisiere. Amerikanisierung bedeutete damit im Prinzip die Rückkehr zu verlorenen Tugenden der Nation und schien unter diesen Vorzeichen geradezu überlebensnotwendig. Auch der Criticón schloss sich dieser Deutung an und erweiterte sie zugleich: »Von Amerika lernen heißt siegen lernen«, proklamierte der Publizist Alexander Schmidt und meinte damit auch den Erfolg neokonservativer Think-Tanks auf die politischen Diskurse in den USA.59 Durch die Etablierung eines konservativen Nationalismus sei Amerika »um Längen weniger sozialistisch« als Europa, sei gelebtes Vorbild für den »Zusammenhang zwischen politischer und militärischer Macht« und damit alles in allem die »erfolgreichere Nation«, an der sich deutsche Konservative tunlichst orientieren sollten.60 Damit war die klassische Amerikanisierungsdebatte um die Moderne mitten im deutschen Konservatismus angekommen, wie die Leser des Criticón erfahren konnten: »Moderne Konservative sollten sich […] endlich von Affekten gegenüber der Globalisierung, weltweiten Modernisierungstendenzen, den Vereinigten Staaten und der freien, pardon, sozialen Marktwirtschaft lösen. […] Im Sinne des modernen und technokratischen Konservatismus sollte die Globalisierung nicht beklagt werden. […] Konservative sollten sich allerdings bemühen, sie in ihrem Sinne zu steuern.«61 Die Adaption neokonservativer Strategien aus den USA erwies sich hierfür als geeignetes Instrument. »Amerikanisierung« stand nicht länger für eine gefährliche Kontamination traditioneller Werte mit westlich-liberalen Ideen – stattdessen war
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Scheben, Thomas: »›We will rally round the Flag, and we will rally once again…‹«, in: Deutschland-Magazin, Nr. 2 2002, S. 16-17, hier S. 16. Weißmann, Karlheinz: Remember the 11th September, in: Deutschland-Magazin, Nr. 10, 2001, S. 14. Schmidt, Alexander: »Deutschland und Amerika – eine Haßliebe aus Unzulänglichkeit«, in: Criticón, Nr. 172, 2001, S. 4. Ebd. Lange, Ansgar: »Konservativ 2003: Ein Plädoyer für das Ende bürgerlicher Freiheit«, in: Criticón, Nr. 178/179, 2003, S. 53-55, hier S. 54.
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es Amerika, das Deutschland von seinem Trauma heilen und zu seinen konservativen Tugenden zurückführen könne. Ein vitaler Patriotismus und eine von Zweifeln bereinigte nationale Identität sollten ebenso wie in Hochphasen des Kalten Krieges als unabdingbare Notwendigkeit dargestellt werden, um die turbulenten Konflikte der Moderne zu überstehen: Der weltweite »Kampf der Kulturen« erfüllte die Rolle als vereinendes Narrativ einer konservativen westlichen Wertegemeinschaft dabei ebenso effizient, wie es der Antikommunismus über Jahrzehnte getan hatte. Dementsprechend reagierten Konservative auch ähnlich empfindlich auf alternative Deutungen und waren bemüht, die diskursive Eskalationsspirale aufrecht zu erhalten. Nur eine scharfe Polarisierung der gesellschaftlichen Diskurse ohne Zwischentöne ermöglichte es, die angestrebten neokonservativen Ideen als alternativlose und einzig vernünftige Optionen erscheinen zu lassen. Ähnlich wie in Hochzeiten des Kalten Krieges wurden sowohl die Bundesregierung, die Demonstranten der Friedensbewegung oder auch öffentlich-rechtliche Medien mit dem Vorwurf des »Antiamerikanismus« konfrontiert. Vor allem die Welt hielt sich in dieser Hinsicht nicht zurück: Hier warf man Gerhard Schröder einen »tief eingerissenen Antiamerikanismus« vor, »der zehn Jahre Staatseinheit überlebt hat wie der Krebs im Eis.«62 Die Proteste gegen den Irakkrieg seien dagegen vor allem der »Lehrergeneration der 68er« zuzuschreiben, die ihre Schüler mit »Idealen und einem Frieden um jeden Preis« sowie »einem antiamerikanischen Weltbild« ausrüsten würden.63 Dass diese Narrative durchaus verfingen, zeigen zahlreiche Leserbriefe, die zu dem Thema an die Welt-Redaktion gesandt wurden und die Kritik noch einmal zuspitzten. So beschwerten sich manche Leser darüber, dass die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über den Irakkrieg zur »antiamerikanischen Propaganda mutiert« sei, die ständig »Wiederholungen von Kindern, die verletzt im Krankenhaus liegen«, zeige: »Dieser unselige Pazifismus und dieser Antiamerikanismus weiter Teile unserer Bevölkerung sind auf Desinformation und Gefühlsduselei zurückzuführen. Unglaublich, was da in den vergangenen Tagen an Populismus über den Bildschirm gegangen ist.«64 Und ein anderer Leser empörte sich darüber, dass »Schulkinder dazu missbraucht werden, als Schutzschilde ideologischer und/oder antiamerikanischer Gesinnung herzuhalten«, was ihre Menschenrechte verletze: »Dies sollten auch Gutmenschen respektieren, mag das Gegenteil auch für einige eine der Errungenschaften der DDR gewesen sein.«65 Schließlich behauptete die italienische Publizistin Oriana Fallaci in einem Gastbeitrag für die 62 63 64
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Kremp, Herbert: »Verträumte Ressentiments«, in: Die Welt vom 11.04.2003, S. 8. Dettling, Daniel: »Generation Golfkrieg«, in: Die Welt vom 14.04.2003, S. 9. Hutschenreuther, P.: »Ausnahme im medialen Antiamerikanismus«, Leserbrief in: Die Welt, Nr. 89, 15.04.2003, S. 9; Wiesner, Sandro: »ARD und ZDF berichten nicht neutral«, Leserbrief in: Die Welt vom 29.03.2003, S. 9. Ehmke, Stephan: »Wo bleibt die Einheit der Europäer?«, Leserbrief in: Die Welt vom 30.01.2003, S. 9; Hassenpflug, Wolfgang: »Im Grunde hat doch Rumsfeld Recht«, Leserbrief
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
Zeitung sogar, der »europäische Pazifismus« sei ein »Synonym für Antiamerikanismus«, der nicht erkennen wolle, dass Europa inzwischen »eine Provinz des Islam« sei.66 Mit diesen Stimmen beanspruchten Konservative einmal mehr die Deutungshoheit über kursierende Amerikabilder: Amerika wurde ausschließlich durch die Politik George W. Bushs und seines neokonservativen Beraterstabs repräsentiert, die zugleich die einzig sinnvolle Strategie gegen den politischen Islamismus und den weltweiten »Kampf der Kulturen« verfolgten. Während Kritik oder Differenzierungsversuche als »antiamerikanisch« diskreditiert wurden, schien die Amerikanisierung in diesem Sinne als überlebensnotwendig für die eigene Nation. Die Emotionalisierung der Diskurse erwies sich als erfolgreiche Strategie – im Gegensatz zur Sowjetunion war der politische Islamismus nicht an eine staatliche Organisationsform gebunden, löste sich nicht einfach auf und erhielt damit sein Bedrohungspotential aufrecht. So nahm die Zahl terroristischer Angriffe seit dem »Krieg gegen den Terror« sogar noch zu. Es waren gerade radikale Islamisten, die von der diskursiven Eskalationsspirale profitierten – in paradoxer Weise zogen sie damit mit den Konservativen an einem Strang. Die ständige Zuspitzung und Polarisierung barg jedoch noch weitere Gefahren: Sie ermöglichte es zwar, im Fahrwasser der Westbindung dem Konservatismus auch in der Bundesrepublik neue Geltung zu verschaffen, zugleich drohten die Diskurse jedoch, sich zu verselbstständigen und weiter zu radikalisieren. So gründete Stefan Herre, ein regelmäßiger Leserbriefschreiber der Welt, im Jahr 2003 pünktlich zur Debatte um den Irakkrieg mit Politically Incorrect eine Internetplattform, die sich zu einer der wichtigsten Schaltstellen rechtspopulistischer und antimuslimischer Agitation entwickeln sollte, ihren Rassismus aber durch ein demonstratives Bekenntnis zu Amerika, Israel und der westlichen Wertegemeinschaft kaschierte. Hinzu kam ein gerüttelt Maß an Misstrauen gegenüber den etablierten und vorgeblich manipulativen Medien, das bereits in Herres Leserbriefen mehr als deutlich wurde – er verstand es sogar als seine Kernaufgabe, eine Gegenstimme in der Öffentlichkeit zu bilden, wenn es um die Beurteilung amerikanischer Politik gehe: »Über die Politik einer Großmacht lässt sich immer kontrovers diskutieren, doch das Bild von den USA, wie es europäische Medien mittlerweile entworfen haben, ist – zumindest solange ein ›Republican‹ wie Reagan oder Bush US-Präsident ist – geprägt von einer Anti-Haltung, die seit ’68 aus einer subkulturellen Minder-
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in: Die Welt vom 07.02.2003, S. 9; Heuer, Walther: »Kinder taugen nicht als ideologische Schutzschilde«, Leserbrief in: Die Welt vom 24.03.2003, S. 9. Fallaci, Oriana: »Die Wut, der Stolz und der Zweifel; Gedanken am Vorabend eines Krieges im Irak«, in: Die Welt vom 22.03.2003, S. 3.
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Darius Harwardt
heitenmeinung heute offenbar zum gesamtgesellschaftlichen Konsens geworden ist.«67 Auch die ein Jahr später von dem Publizisten Henryk M. Broder gegründete Webseite mit dem sinnbildlichen Titel Achse des Guten verschrieb sich ganz der Anknüpfung an einen auf simple Schlagworte und einer binären Sinnstiftung orientierten Neokonservatismus, der nun auch die Bundesrepublik ideengeschichtlich prägen sollte. Auch hier zog man sein Selbstverständnis vor allem aus dem Kampf gegen die Welle von »Anti-Amerikanismus und westlichem Selbsthass«, die sich seit dem 11. September in der Bundesrepublik Bahn gebrochen habe und zu einer »politischkorrekten Meinungs-Monokultur« sowie »geistigen und politischen Einförmigkeit« geführt habe.68 Abseits von etablierten Medien und Parteistrukturen hatten sich damit Bewegungen gebildet, die unmittelbar und affirmativ an den republikanischen Neokonservatismus anknüpften, um das gesellschaftliche Klima in dessen Sinne zu beeinflussen. Der »Kampf der Kulturen« erwies sich hierfür als hervorragendes Narrativ: Er erlaubte es nicht nur, einem positiv verstandenen Patriotismus und Militarismus auch in der Bundesrepublik das Wort zu reden, sondern zudem, Fragen von Migration und Multikulturalismus zu behandeln und in diesem Zusammenhang die nationale Identität anhand einer möglichst ethnisch homogenen, zumindest jedoch weißen und christlichen Bevölkerung zu definieren. Deutsche Konservative konnten ihre amerikanischen Vorbilder in dieser Hinsicht sogar noch übertreffen. Denn während sich die Kritik an der Einwanderungsgesellschaft in den USA vor allem gegen den Katholizismus lateinamerikanischer Migranten richtete oder über andere Diskurse wie Kriminalität verhandelt wurde, stammten in der Bundesrepublik die meisten Einwanderer aus der Türkei. Der »Kampf der Kulturen« fand aus dieser Sicht somit direkt vor der eigenen Haustür statt. Die Anschlussfähigkeit dieser Diskursstrategie spiegelte sich auch in den Erfolgen der Alternative für Deutschland oder etwa der PEGIDA-Bewegung, mit denen deutsche Neokonservative wenig Berührungsängste hatten, sondern bewusst kooperierten. Von dem konservativen Antiliberalismus aus der Amerikanisierungsdebatte schien man nun Welten entfernt. Und dennoch: Bei genauer Betrachtung hatten sich weniger die politischen Inhalte geändert, als vielmehr ihre Verortung. Noch immer war man dem Liberalismus abgeneigt, da er die Gesellschaft schwäche, entpolitisiere und anfällig mache für Gefahren, die außerhalb der Nation verortet wurden – nun war es nicht mehr der Kommunismus, sondern die von außen »importierte« terroristische Bedrohung des Islams. Denn auch wenn sich Neokonservative häufig als »freiheitliche Patrioten« im Geiste der Aufklärung und 67 68
www.pi-news.net/leitlinien/(letzter Zugriff am 04.05.2020). o.A.: Eine kleine Geschichte der Achse des Guten, https://www.achgut.com/seite/achgut_eine_kleine_geschichte_der_achse_des_guten (letzter Zugriff am 04.05.2020).
Von der liberalen zur konservativen »Amerikanisierung« – eine Ideengeschichte
westlichen Werte bezeichneten, beruhte dieses Selbstverständnis auf einer Umdeutung dessen, was als »liberal« und damit »westlich« verstanden wurde. Wenig Probleme hatte man beispielsweise mit einer Deregulierung und Liberalisierung der Märkte, aus der sich der Staat möglichst zurückhalten sollte. Wenn jedoch liberale Werte wie Persönlichkeitsrechte und Datenschutz im Zentrum standen, überwog das gesellschaftliche Sicherheitsbedürfnis die Angst vor einer zu rigiden Staatskontrolle ebenso wie in Fragen der Grenzsicherung und -kontrolle, die keinesfalls zu »liberal« ausfallen durfte. Auch liberale Werte wie universelle Menschenrechte, Religionsfreiheit, Minderheitenschutz oder Diskriminierungsverbote wurden im Rahmen des proklamierten »Kulturkampfes« schlichtweg aus dem Kanon des Liberalismus ausgeschlossen und als naives »Gutmenschentum« abgekanzelt. Diese Strategie war nur im Rahmen einer »westlichen Wertegemeinschaft« erfolgversprechend, die sich gegenüber einer permanenten globalen Bedrohungslage behaupten müsse. Die über Jahrzehnte etablierte transatlantische Partnerschaft diente hierbei als Transmissionsriemen einer konservativen Erneuerung, die die Deutungshoheit über die Werte des »Westens« beanspruchte und dabei erst gar nicht im Verdacht stand, antiliberal zu sein. Indem man sich ausdrücklich auf die Vorbildfunktion von Politikern und Intellektuellen auf der anderen Seite des Atlantiks bezog, hatten sich Teile des deutschen Konservatismus gewissermaßen selbst »amerikanisiert« – der enge Bezug zu Amerika entband von dem Vorwurf, einen deutschen Nationalismus zu betreiben, da man ja lediglich im Konsens des »Westens« agierte.69 Die Ideengeschichte der »Amerikanisierung« ist damit alles andere als einheitlich und erweist sich vor allem bei näherer Betrachtung der Inhalte als vielschichtig und ambivalent. Dies verwundert kaum, standen doch hinter den verwendeten Narrativen letztlich Amerikabilder, die jeweils für bestimmte politische Ideen instrumentalisiert wurden, dabei jedoch immer unvollständig blieben: Entgegen der immer wieder vorgebrachten Aussage, das »eigentliche« Amerika zu repräsentieren, bedienten sich all diese Erzählungen aus dem Repertoire der tradierten Bilder über Amerika im Sinne eines Werkzeugkastens: Man griff zu dem, was man gerade gebrauchen konnte und klappte den Deckel danach wieder zu. Komplexe gesellschaftliche Prozesse auf den gemeinsamen Nenner der »Amerikanisierung« zu bringen, oder bestimmte Entwicklungen als »antiamerikanisch« zu bezeichnen waren damit nur zwei Seiten der gleichen Medaille: Sie sagten kaum etwas über Amerika aus, aber umso mehr über die kursierenden Bilder in den Köpfen. Somit erscheint allenfalls die Himmelsrichtung im Laufe der hier skizzierten Zeiträume als eine der wenigen Konstanten in der Ideengeschichte der »Amerikanisierung« – zu Ende erzählt ist sie noch lange nicht. 69
Vgl. Hochgeschwender: Der Verlust des konservativen Denkens, S. 189-190.
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Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik Die Konflikte der »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« um die Rechtsnachfolge der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« (1945 bis 1955) Oliver Werner
1.
Lassen sich Raumwissenschaftler verorten?
Die erstaunliche Entwicklung der deutschen Raumwissenschaften von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist durch ein hohes Maß an personeller und – zumindest auf den ersten Blick – auch inhaltlicher Kontinuität geprägt gewesen.1 Das ist kein überraschender Befund, wirft indes auch für die nach 1945 politisch rasch wieder bedeutsamen Raumwissenschaftler die wesentliche Frage auf, unter welchen Bedingungen, mit welchen Haltungen und mit welchen Konsequenzen sich die Wissenschaftler in der frühen Bundesrepublik wieder etablierten. Der Aufsatz konzentriert sich auf die Auseinandersetzungen um die Gestaltung der westdeutschen Raumwissenschaften und fragt, in welcher Weise die wissenschaftlichen und administrativen Konflikte der in Hannover gebildeten »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« um die Rechtsnachfolge der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« ab 1945 das Verständnis von Regionalität und Föderalismus in den Westzonen bzw. in der frühen Bundesrepublik Deutschland bestimmten. Auch wenn die meisten Beiträge dieses Bandes die Verortung der Bundesrepublik untersuchen und sich demgegenüber Fragen der Raumordnung auf Verortungsprozesse in der Bundesrepublik beziehen, so besteht doch zwischen beiden
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Vgl. Leendertz, Ariane: Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008.
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Oliver Werner
Perspektiven ein innerer Zusammenhang: Die Etablierung der Akademie als bundesweit agierende Forschungs- und Beratungsinstitution bedeutete für die Protagonisten eine – zum Teil erzwungene – demokratische Lernerfahrung. Die Einübung des bundesdeutschen Föderalismus wird aus diesem Blickwinkel als wesentlicher Teil der Verortung der Bundesrepublik im »Westen« verstanden. Es erweist sich als fruchtbar, diese Entwicklung als »Um- oder Neugestaltung von Ressourcenensembles« zu begreifen, die immer »politisch multivalent« und »gegenseitig mobilisierbar« blieben.2 So wird die künstliche Gegenüberstellung von »Wissenschaft« und »Politik« methodisch überwunden und zugleich erkennbar, dass der Zugriff auf wissenschaftliche Ressourcen – unabhängig vom politischen System – immer mit politischen Konsequenzen verbunden ist, die ihrerseits die wissenschaftliche Arbeit bedingen und begrenzen. In den Auseinandersetzungen der Akademie mit ihren Kontrahenten ging es sowohl um den Zugang zu Ressourcen – Geld, politische Aufmerksamkeit und Zugang zu kommunikativen Räumen – als auch um langfristige Deutungshoheiten. Raumwissenschaftler erhoben den Anspruch, Stellenwert und Relevanz der eigenen Forschung für die sozialen Herausforderungen der deutschen »Zusammenbruchgesellschaft« maßgeblich mitzubestimmen. Gerade die Verbindung beider Aspekte – der materiellen Absicherung und der ideellen Fundierung der eigenen Forschungsprogramme – prägte die Raumkonstruktionen und die Wissenschaftslandschaft der frühen Bundesrepublik. Der weitere Kontext dieser Zusammenhänge steht im Zentrum aktueller Forschungsprojekte zu verschiedenen Bundesbehörden und ihren Vorgängerinstitutionen.3 Zwar bergen Zuschnitt und Perspektive dieser umfangreichen Auftragsforschung die Gefahr, die Kontinuitätsfrage auf personelle Faktoren zu verengen. Indes belegen neueste Studien, dass gerade die Zusammenhänge zwischen einzelnen Karrieren vor 1945 und den in den 1950er und 1960er Jahren entwickelten politischen und ideellen Konzepten differenziert erfasst werden können. So wurden zuletzt für das Bundesinnenministerium nicht nur die Anpassungsprozesse des übernommenen Beamtenapparates, sondern auch die »Verwaltungskontinuität« mit einem hartnäckigen »Denken vom Staat her« herausgearbeitet.4 Eine bruchlose Fortsetzung sachlich begründeter und zugleich politisch geprägter Denk- und Sichtweisen ist auch für die Raumwissenschaften bzw. für 2
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Ash, Mitchell: »Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander«, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32-51, hier S. 32-33. Vgl. Mentel, Christian/Weise, Niels: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus – Stand und Perspektiven der Forschung, München/Potsdam 2016. Bösch, Frank/Wirsching, Andreas (Hg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, S. 745.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
einzelne Disziplinen wie die Geographie oder die Ökonomie nachgewiesen worden.5 In der 1935 begründeten »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« gingen neue Ansätze interdisziplinärer Sozialwissenschaft in einer politisch markierten »Gemeinschaftsarbeit« auf, die es ermöglichte, die nationalsozialistische Expansions- und »Bevölkerungspolitik« mit modernen Methoden der Sozialforschung zu verwirklichen.6 Innerhalb weniger Jahre wurden die Raumwissenschaften in Deutschland umfassend aufgewertet und großzügig ausgestattet. Die Berliner Geschäftsstelle der Reichsarbeitsgemeinschaft, die die zumeist regional zugeschnittenen Forschungen auf der Basis von Anträgen finanzierte und je nach politischen Gegebenheiten koordinierte, war relativ klein – wahrscheinlich nicht mehr als zehn hauptamtliche Mitarbeiter. Dieser kleine Stab verwaltete umfangreiche Finanzmittel und nahm über persönliche Beziehungen und akademische Netzwerke Einfluss auf die Forschung. Auf jährlichen Tagungen und durch koordinierte Arbeitskreise wurden die Raumwissenschaftler »mobilisiert«, zugleich erhielt ihre Wissenschaft mit der neu begründeten Zeitschrift »Raumforschung und Raumordnung« ein sichtbares publizistisches Forum.7 Auf diese Weise ließ sich eine »Freiwilligkeit« der Teilnahme postulieren, und die politischen Vorgaben konnten je nach politischer und militärischer Entwicklung informell oder über die Gewährung von Ressourcen forciert werden. Solange die Raumwissenschaftler die Autarkievorstellungen und Bevölkerungsplanungen des Regimes bedienten, beteiligten sie sich – unabhängig von politischen Überzeugungen – an einer akademischen Verantwortungsdiffusion, die es ihnen je nach politischer Opportunität und militärischer Lage erleichterte, mit Verweis auf die regionale Begrenzung ihrer Forschung die eigene Beteiligung an der mörderischen »Neuordnung Europas« hervorzuheben oder herunterzuspielen.8 Der letzte Obmann der Reichsarbeitsgemeinschaft und Begründer der »Akademie für Raumforschung und Landesplanung«, Kurt Brüning, steht im Mittel5
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Vgl. Rössler, Mechthild: »Wissenschaft und Lebensraum«. Geographische Ostforschung im Nationalsozialismus, Ein Beitrag zur Disziplingeschichte der Geographie, Berlin 1990; Rieter, Heinz: »Ökonomen im Dienste der nationalsozialistischen Raumplanung und ›Raumforschung‹«, in: Hans-Michael Trautwein (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXIX: Die Entwicklung der Raumwirtschaftslehre von ihren Anfängen bis in die Gegenwart, Berlin 2014, S. 239-332. Pinwinkler, Alexander: Historische Bevölkerungsforschungen. Deutschland und Österreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 2014. Becker, Klaus: »Die Zeitschrift ›Raumforschung und Raumordnung‹ 1936-2006. Ein Überblick«, in: Raumforschung und Raumordnung 64 (2006), S. 512-523; https://doi.org/10.1007/ BF03183116. Kübler, Andreas: Chronik Bau und Raum. Geschichte und Vorgeschichte des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Tübingen/Berlin 2007, S. 299-315.
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Oliver Werner
punkt der folgenden Darstellung. Er kann für die räumliche Gestaltung Nordwestdeutschlands im 20. Jahrhundert durchaus als »Schlüsselfigur sozialräumlicher Wandlungsprozesse« gelten.9 Brüning, 1897 in Magdeburg geboren, arbeitete nach dem Studium der Mathematik und Naturwissenschaften in Halle an der Saale und Marburg ab Anfang der zwanziger Jahre als Geologe in der preußischen Provinz Hannover. 1930 nahm er eine Professur für Geografie an der Technischen Hochschule Braunschweig an, von der er 1933 als Mitglied der SPD vertrieben wurde.10 In der Folge blieb Kurt Brüning dennoch in der Provinz Hannover beruflich und institutionell gut verankert, vor allem in der Landeskunde an der Universität Göttingen sowie über das von ihm geleitete »Amt für Landesplanung und Statistik«, das ab 1935 mit dem Aufbau der Landesplanungsgemeinschaft HannoverBraunschweig betraut wurde.11 Bis Ende der dreißiger Jahre konnte Brüning seine akademische Reputation wiederherstellen, und die Gauleitung SüdhannoverBraunschweig bescheinigte ihm im September 1938, trotz früherer Konflikte inzwischen »durchaus positiv zum nationalsozialistischen Staate« zu stehen.12 Diese Einschätzung beruhte nicht zuletzt auf Brünings politischer Anpassungsfähigkeit und auf seinem Vermögen, wissenschaftliche und administrative Netzwerke zu seinen Gunsten und in seinem Interesse aufzubauen und zu pflegen. Zugleich hatte sich Brüning in seiner Arbeit inhaltlich mit einem ununterbrochenen Plädoyer für »Kreisbeschreibungen« die grundlegende Bestandsaufnahme auf die Fahnen geschrieben, die sich in der Folge als außerordentlich adaptionsfähig erwies.13 Grundsätzliche Erhebungen als Voraussetzung für Planung brauchte man immer, und seine Mitarbeit in der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« konzentrierte sich dann auch folgerichtig auf den Arbeitskreis »Bestandsaufnahme« im Rahmen des »Reichsatlaswerks«.14 In der Reichsarbeitsgemeinschaft wurde Brüning trotz aller überregionalen Arbeit als ein Wissenschaftler angesehen, der seine Forschungen mit einer dezidiert
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Gailing, Lutger/Ibert, Oliver: »Schlüsselfiguren. Raum als Gegenstand und Ressource des Wandels«, in: Raumforschung und Raumordnung 74 (2016), S. 391-403, Zitat S. 399; http://dx. doi.org/10.1007/s13147-016-0426-3. Vgl. Wettern, Michael/Weßelhöft, Daniel: Opfer nationalsozialistischer Verfolgung an der Technischen Hochschule Braunschweig 1930 bis 1945, Hildesheim 2004, S. 98-101. Vgl. Waldhoff, Hans-Peter/Fürst, Dietrich/Böcker, Ralf: Anspruch und Wirkung der frühen Raumplanung. Zur Entwicklung der Niedersächsischen Landesplanung 1945-1960, Hannover 1994, S. 39-42. Gauleiterstellvertreter Kurt Schmalz an den Stab des Stellvertreters des Führers, 2.9.1938, in: Bundesarchiv, R 4901 (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung), Nr. 24332, Bl. 43. Brüning, Kurt: »Raumordnung und Raumordnungsplan«, in: Archiv für Landes- und Volkskunde in Niedersachsen, Bd. 1943, Heft 17, S. 179-230. Vgl. Meynen, Emil: »Kurt Brüning«, in: Neues Archiv für Niedersachsen 12 (1963), S. 9-24.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
regionalen Interessenvertretung verband. Bereits Ende der zwanziger Jahre hatte er sich mit umfangreichen Denkschriften für ein ausgreifendes »Reichsland Niedersachsen« exponiert, die bei den Nachbarn seines gedachten »Wirtschaftsraums« indes überwiegend auf Ablehnung stießen und auch innerhalb der Provinz Hannover umstritten blieben.15 Tatsächlich schloss Brünings »Niedersachsen« große Teile von Westfalen und Lippe mit ein. Seine Arbeiten polarisierten – auch wenn für Brüning der Hinweis auf »die nachteiligen Auswirkungen der territorialen Zersplitterung auf Wirtschaft, Verkehr und Verwaltung«16 im Vordergrund stand – und stieß bei den angrenzenden Provinzial- und Landesverwaltungen sowie bei westfälischen Exponenten der »Westforschung« auf deutliche Vorbehalte.17 Seine Ernennung zum Obmann der Reichsarbeitsgemeinschaft im Sommer 1944 beruhte daher auf keinem Konsens der Wissenschaftsgemeinschaft, sondern war vielmehr Ausdruck regionaler und universitärer Verbundenheit.18 So hatte Brünings Gönner im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Rudolf Mentzel, ebenfalls in Göttingen studiert. Anders als seine Vorgänger Konrad Meyer und Paul Ritterbusch wurde Brüning offenbar nicht als Ideologe, sondern als wissenschaftlicher Pragmatiker angesehen.19 Brüning ergriff die sich ihm bietende Gelegenheit und lenkte mit Unterstützung des Hannoverschen Gauleiters Hartmann Lautenbacher die Ressourcen der Reichsarbeitsgemeinschaft gezielt nach Göttingen und Hannover.20 Dort war er weiterhin bestens vernetzt, sodass er ohne zusätzliche Unterstützung aus Berlin die Ausweichplanungen der Reichsarbeitsgemeinschaft umsetzen konnte. Zugleich blieb Brüning mit den Leitern einzelner Hochschularbeitsgemeinschaften in engem Kontakt und bewilligte bis ins Frühjahr 1945 hinein großzügig Forschungsgelder.21
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Hanke, Andrea-Katharina: Die niedersächsische Heimatbewegung im ideologisch-politischen Kräftespiel zwischen 1920 und 1945, Hannover 2004, S. 84. Seedorf, Hans Heinrich: Das Land Niedersachsen. Eine Landeskunde in ihrer Geschichte und Präsentation, Hannover 1998, S. 44. Baas, Kathrin: »Erdkunde als politische Angelegenheit«. Geographische Forschung und Lehre an der Universität Münster 1909-1958, Münster 2015, S. 160. Vgl. Vermerk von Rudolf Mentzel, 10.8.1944, in: Bundesarchiv, R 4901 (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung), Nr. 14084, Bl. 162. Vgl. Hammerstein, Notker: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920-1945, München 1999, S. 528-529. Vgl. Hartmann Lautenbacher an Reichserziehungsminister Bernhard Rust, 27.7.1944, in: Bundesarchiv, R 4901 (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung), Nr. 14084, Bl. 157. Vgl. Kurt Brüning an Hugo Hassinger (Wien), 16.2.1945, in: Archiv der Universität Wien, Nachlass Hugo Hassinger, Schachtel 18.
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Nach Kriegsende wurde die Reichsarbeitsgemeinschaft von Brüning und einem kleinen Kreis zuverlässiger Mitarbeiter formal weitergeführt. Insbesondere die von Brüning weiter propagierten Kreisbeschreibungen fungierten nun als unverzichtbare Bestandsaufnahme für die räumliche Bewältigung sozialer und ökonomischer Probleme der »Zusammenbruchgesellschaft« und wurden von vielen Kommunalbeamten als unterstützungswürdige Tätigkeit eingeschätzt.22 Ein wichtiger Partner Brünings wurde in der zweiten Jahreshälfte 1945 der Jenaer Geograph Joachim Heinrich Schultze, der als Leiter der dortigen Hochschularbeitsgemeinschaft mit der thüringischen Landesregierung und der Weimarer »Hochschule für Baukunst und bildende Künste« in Kontakt stand und am Aufbau einer »Planungsgemeinschaft für den Wiederaufbau Thüringens« mitwirkte.23 Brüning empfahl Schultze, »an dem Gedanken der Kreisbeschreibungen vorläufig festzuhalten«, da die Behörden dem Plan günstig gegenüberstünden und auf diese Weise Gelder bereitgestellt würden.24 Tatsächlich wurde mit Beginn des Jahres 1946 im Kreis Nordhausen eine »Kreisbeschreibung« beispielhaft durchgeführt.25 Brüning und Schultze hofften beide auf eine rasche Wiederaufnahme ihrer wissenschaftlichen Arbeit und sahen die Bewältigung der katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Kriegsfolgen als eine Herausforderung, der sich niemand ernstlich entziehen könnte und der auch die Demarkationslinien nicht im Wege stehen dürften.
2.
Raumpolitische Schwerpunktsetzungen der britischen Besatzungsmacht
Die Beurteilung der Kriegsfolgen und der Möglichkeiten ihrer Bewältigung oblag allerdings den alliierten Besatzungsmächten. Deren Perspektiven und Schwerpunktsetzungen bildeten deshalb die wichtigste Rahmenbedingung der sich nach Kriegsende wieder entfaltenden Raumwissenschaften. Raumpolitisch waren der Anspruch einer umfassenden »Re-Education« und die angestrebte »Federation of
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Vgl. Brüning, Kurt/Wilhelm, Otto/Isenberg, Gerhard: »Die deutschen Landkreise. Handbuch für Verwaltung, Wirtschaft und Kultur (Bericht des ›Forschungsausschusses für Kreisbeschreibungen‹ vom 31.1.1948)«, in: Raumforschung und Raumordnung 9 (1948), S. 109-115. Wieler, Ulrich: Bauen aus der Not. Architektur und Städtebau in Thüringen 1945-1949, Köln u.a. 2011, S. 147-154. Kurt Brüning an Joachim Heinrich Schultze, 7.11.1945, in: Universitätsarchiv Jena, S XV (Hochschularbeitsgemeinschaft), Nr. 21, Bl. 31. Protokoll der Sitzung des Planungsverbandes, 6.12.1945, in: Universitätsarchiv Weimar, I/01 (Planungsgemeinschaft für den technischen Wiederaufbau Thüringens), Nr. 979.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
Germany« gleichermaßen relevant, und jeder »Wiederaufbau« in Deutschland wurde an diesen Vorgaben und Maßstäben gemessen.26 Bereits Ende 1943 benannten britische Beamte als »real foundation of the Nazi system […] the teaching of generations of prophets who have gradually diverted German thought right away from the Western and Christian traditions«.27 Als wichtige Komponente dieser Abkehr von westlichen Traditionen wurde ein »spatial totalitarianism«28 ausgemacht, der die Raumwissenschaften mit der nationalsozialistischen »Lebensraum«-Politik identifiziert hatte. Die Überwindung NS-spezifischer Raum- und Überlegenheitsvorstellungen geriet so ins Zentrum alliierter Umerziehungsanstrengungen, damit die Deutschen zu den »Western and Christian traditions« zurückkehrten: »To truly denazify Germans, the Allies had first to denazify the way Germans thought about space.«29 Die britischen Vorstellungen von Regionalität und Landesplanung prägten die faktischen Planungsräume der Deutschen. Grundsätzlich verstanden britische Offiziere unter »Town and Country Planning« eine langfristige Bereitstellung der »means by which development and use of land can be controlled for the convenience and pleasure of the people«.30 Angesichts der sozialen Verwerfungen beschränkten sich die Planungen in der britischen Besatzungszone aber auf den unmittelbaren Wiederaufbau und konzentrierten sich auf das besatzungspolitisch wichtige Ruhrgebiet und die urbanen Regionen Nordwestdeutschlands.31 Damit rückte eine kurz- und mittelfristige Wiederbelebung städtischer Strukturen in das Zentrum britischer Aufmerksamkeit, während langfristige Planungen insbesondere für die »Hanover Region« in den Hintergrund traten. Die Zuordnung der Planungsadministration zur »manpower division« der britischen Militärbehörden – und nicht, wie die Deutschen intuitiv erwartet hatten, zur »economic division« – unterstrich diese Prioritätensetzung und betonte das Ziel, die Lebens- und Arbeitsbedingungen großer Teile der deutschen Bevölkerung rasch wiederherzu-
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Vgl. Jürgensen, Kurt: »Elemente britischer Deutschlandpolitik. Political Re-Education, Responsible Government, Federation of Germany«, in: Claus Scharf/Hans Jürgen Schröder (Hg.): Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die Britische Zone. 1945-1949, Stuttgart 1979, S. 103-127. Zit. nach Phillips, David: Educating the Germans. People and Policy in the British Zone of Germany, 1945-1949, London 2018, S. 21. Mingus, Matthew D.: Remapping modern Germany after National Socialism, 1945-1961, Syracuse 2017, S. 39. Ebd., S. 67. »Town and Country Planning – 1. What really is this function«, Ausarbeitung des Deputy Controller General/Housing Branch, 4.9.1946, in: National Archives London, FO 1051 (Manpower Division/Town and Country Planning), Nr. 770. Vgl. Schnakenberg, Ulrich: Democracy-building. Britische Einwirkungen auf die Entstehung der Verfassungen Nordwestdeutschlands 1945-1952, Hannover 2007, S. 55-56.
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stellen, um das Arbeitskräftepotential zur wirtschaftlichen Stabilisierung der britischen Besatzungszone nutzen zu können.32 Die britische Prioritätensetzung begünstigte die bereits ab Herbst 1945 faktisch fortgeführte »Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung« (DASL).33 Die 1922 gegründete DASL legte nicht nur ihr Hauptaugenmerk auf den Städtebau, sondern wurde ab 1946 mit Stefan Prager und Philipp Rappaport von zwei Führungsfiguren geprägt, die als Verfolgte des NS-Regimes das Vertrauen der britischen Besatzungsoffiziere genossen und aufgrund ihrer kommunalen und planerischen Arbeit seit den zwanziger Jahren durchaus für die Wiederaufnahme demokratischer Gepflogenheiten und Traditionen standen.34 Insbesondere Rappaport nutzte in der Folge die Sonderstellung der DASL, um Brünings Akademie als potentielle Konkurrentin zumindest in NordrheinWestfalen aus konkreten Planungsprozessen herauszuhalten.35 Anderseits konnte die Akademie in Hannover relativ ungehindert ihre Kompetenzen etwa zur Emslanderschließung neu formieren und sich auf längerfristige Perspektiven konzentrieren.36 Dies schuf für Brünings Arbeit zwar erst einmal Legitimationsprobleme, ermöglichte es der Akademie aber auf längere Sicht, ihre Planungen insbesondere für die »Hanover Region« im Windschatten der britischen Schwerpunktsetzung fortzuführen. Das sollte sich etwa beim »Lagerstättenatlas« auszahlen, der ab Anfang der fünfziger Jahre die Grundlage für die niedersächsische Erdölförderung bildete.37
3.
Konflikte zwischen westdeutschen Raumwissenschaftlern ab 1945
Wie an der Korrespondenz mit Joachim Schultze deutlich wird, spielten die alliierten Vorgaben und Rahmenbedingungen für Brünings Pläne zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Ihm ging es vorrangig darum, die Wissenschaftler der Reichsarbeitsgemeinschaft wieder zusammenzubringen und deren Arbeit weiterzuführen. 32 33
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Vgl. Petzina, Dietmar/Euchner, Walter (Hg.): Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet 1945-1949, Düsseldorf 1984. Vgl. Düwel, Jörn/Gutschow, Niels: Ordnung und Gestalt. Geschichte und Theorie des Städtebaus im 20. Jahrhundert, Die Deutscher Akademie für Städtebau und Landesplanung 1922 bis 1975, Berlin 2019, S. 317-335. Vgl. ebd., S. 337-344. Rappaport, Philipp: »Report concerning town and country planning«, 24.4.1947, in: National Archives London, FO 1051 (Manpower Division/Town and Country Planning), Nr. 770. Gutkind, Erwin Anton: »Report on the northern part of Lower Saxony as a reception area«, 25.7.1947, in: ebd., Nr. 769. Brüning, Kurt u.a. (Bearb.): Karte der nutzbaren Lagerstätten und Gesteine Niedersachsens, Bremen-Horn 1952.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
Mit diesem Ansinnen war Brüning indes selbst innerhalb der Arbeitsgemeinschaft keineswegs allein. So hatte der frühere Schriftleiter der Zeitschrift »Raumforschung und Raumordnung«, Frank Glatzel, im Sommer 1944 die Konzeption für eine »neue Reichsarbeitsgemeinschaft« erarbeitet, für dessen »Kuratorium« er instinktsicher Vertreter des »Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums« und des »Reichsministeriums Speer« vorsah.38 Im Herbst 1945 übergab Glatzel diese Konzeption – in zeitgemäß überarbeiteter Form – eigenmächtig an den Leiter der Hannoverschen Provinzialabteilung für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung, Adolf Grimme, der wiederum über einen Mitarbeiter bei Brüning nachfragen ließ, was dieser von der »Denkschrift« halte.39 Brüning sah sich nun gezwungen, in einem längeren Schreiben an die Provinzialabteilung seine Vorstellungen von einer neuen Form der Reichsarbeitsgemeinschaft darzulegen. Sie solle »die bisherige wesentlich propagandistische Epoche ihrer Betätigung abschließen und in die Phase positiver Arbeit an bestimmten Forschungsthemen eintreten«. Besonders hemmend sei der »Einfluss des S.D.«, des Sicherheitsdienstes der SS, gewesen. Brüning dachte »in der Arbeitsform noch stärker an eine Art ›Kaiser Wilhelm Institut für Raumforschung‹ (oder Landesplanung, Landesforschung usw.)« und hielt eine »Zusammenfassung« mit der »Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung« für unausweichlich.40 Diese Überlegungen sind durch eine gewisse Beliebigkeit in organisatorischen Fragen und eine mit Dominanzvorstellungen verbundene Adaptionsbereitschaft geprägt. Zugleich lässt der Hinweis auf Geheimdienste Rechtfertigungsmuster erkennen, die in der Folgezeit das eigene wissenschaftliche Versagen und die politische Beteiligung im »Dritten Reich« kaschieren sollten.41 Brüning wandte sich in der Folge von Glatzel ab, auch wegen eines Denunziationsschreibens vom Sommer 1945, das Glatzel gemeinsam mit früheren Mitarbeitern der Reichsarbeitsgemeinschaft verfasst hatte und in dem das »besonders enge Verhältnis Brünings« zur Gauleitung der NSDAP hervorgehoben worden war.42 Wichtigster überregionaler Mitarbeiter wurde damit Erwin Muermann, bis 1945 Referent für Rechtsfragen in der Reichsstelle für Raumordnung. Muermann war in
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Glatzel, Frank: »Bemerkungen zu einem Arbeitsprogramm der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung«, Juli 1944, in: Stadtarchiv Braunschweig, G IX 42 (Nachlass Frank Glatzel), Karton 1 (unverzeichnete Unterlagen 1944/45). Vgl. die entsprechende Korrespondenz von Ende 1945 in: Archiv der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), Nachlass Kurt Brüning. Kurt Brüning an Frank Werneke, 4.12.1945, in: ebd., Sammlung Karl Haubner, Hefter 8. Loth, Wilfried/Rusinek, Bernd-A. (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt/New York 1998. Gläß, Theo/Glatzel, Frank/Walstab, Walter: »Protokoll«, o. D. [Sommer 1945], in: Stadtarchiv Braunschweig, G IX 42 (Nachlass Frank Glatzel), Karton 1 (unverzeichnete Unterlagen 1944/45).
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Münster ansässig, unterhielt gute Kontakte ins Ruhrgebiet und vertrat Brünings nun als »Akademie« firmierende Institution bei Verhandlungen mit alliierten und deutschen Stellen.43 Auch wenn die enge Zusammenarbeit lange den Eindruck erweckte, Brüning und Muermann ergänzten sich in Aufbau und Vertretung der Akademie vorteilhaft, so erwiesen sich spätestens ab Sommer 1948 Muermanns mehrgleisige Gespräche auch mit ausgewiesenen Gegnern der Akademie als nicht kompatibel mit Brünings Bestreben, die Entwicklung selbst in kleinsten Fragen zu kontrollieren. Brünings eigenmächtiges Vorgehen und seine beliebig anmutende Konzeption einer neuen Wissenschaftsorganisation verschaffte ihm zwar die gewünschte Unabhängigkeit, führte in seinem engeren Stab aber zu Irritationen. Ein Mitarbeiter resümierte in einem bitteren Abschiedsschreiben Mitte 1949 seine dreieinhalbjährige Tätigkeit für Brüning: »L’Académie c’est moi: das war Ihr Leitspruch und sowohl Herr Dr. Muermann als auch ich fragten uns, warum wir eigentlich da waren.«44 Zu diesem Zeitpunkt stand Muermann bereits in engem Kontakt zu verschiedenen Stellen in Nordrhein-Westfalen, wo ihm die Geschäftsführung des neu eingerichteten Bad Godesberger »Instituts für Raumforschung« in Aussicht gestellt wurde. Von dort aus versuchte er in den folgenden Jahren, die Etablierung der Akademie als überregionale Forschungsinstitution zu unterminieren.45 Die Konfrontation wurde indes nicht nur durch persönliche Enttäuschungen gesteigert, sondern ihr lagen fundamentale konzeptionelle Divergenzen zu Grunde. Muermann verstand das von ihm ab August 1949 geleitete Godesberger Institut als eine politische Leitstelle für raumwissenschaftliche Forschungsaufträge und fand dafür Gehör bei Politikern auf der zonalen und späteren Bundesebene, allen voran bei Vizekanzler Franz Blücher.46 Demgegenüber trat Brüning – jenseits aller persönlichen Ambitionen47 – für eine größere Autonomie der Forschungseinrichtungen gegenüber politischen Planungsvorgaben ein. Mochten dies Lernerfahrungen aus der NS-Zeit oder auch nur die Reaktion auf neue Opportunitäten sein – auf jeden Fall fand Brüning damit in der sich sukzessive wieder etablierenden universitären Raumforschung Gehör. Muermann wandte sich auch an die DASL, von der indes keine weitergehenden Initiativen ausgingen, Brünings Ambitionen zu durchkreuzen. Prager und Rappaport störten sich allerdings an der Namensgebung einer Hannoverschen »Akade43 44 45
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Vermerk von Erwin Muermann zur Lage der Akademie, 7.6.1948, in: Archiv der ARL, Sammlung Karl Haubner, Hefter 8. Martin Schwind an Kurt Brüning, 3.5.1949, in: Archiv der ARL, Nachlass Kurt Brüning. Gutberger, Hansjörg: »Gründungsphase und Neustart des Instituts für Raumforschung (19491951)«, in: Wendelin Strubelt/Detlev Briesen (Hg.): Raumplanung nach 1945. Kontinuitäten und Neunanfänge in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 2015, S. 93-126. Vgl. Leendertz: Ordnung, S. 233-240. Vgl. Waldhoff/Fürst/Böcker: Anspruch, S. 47.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
mie«, die beide als »unfair« empfanden.48 Das Zentralamt für Arbeit, der deutsche Verwaltungsarm der »Manpower Division«, war anfangs durchaus auf Seiten der DASL, zog sich allerdings bald aus dem Konflikt zurück. Im Oktober 1947 hieß es von dort, etwas sozialdarwinistisch anmutend: »Wenn die landesplanerischen Kräfte und auch die Hochschulen Zeit und Geld haben, um sich zwei Organe zu leisten, die sich entweder bekämpfen oder befruchten, wird man dies ihnen überlassen müssen.« Man vertrete im Zentralamt »die Auffassung, dass sich auch im Forschungswettbewerb solcher Einrichtungen stets das beste gegenüber dem schlechteren durchsetzen« würde.49 Die DASL wandte sich in der Folge an einen kleineren Kreis von Stadtplanern und Architekten und konzentrierte ihre Arbeit auf die urbane Planung, ein Feld, auf dem es mit der Akademie kaum Berührungspunkte gab.50 Das Godesberger Institut stritt hingegen weiterhin der Hannoverschen Akademie mit Vehemenz und politischer Rückendeckung aus Bonn den Anspruch ab, als wissenschaftspolitische Nachfolgerin der Reichsarbeitsgemeinschaft aufzutreten. Die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Akademie und Institut um die »Rechtsnachfolge« der Reichsarbeitsgemeinschaft belegt dabei nicht nur den unbekümmerten Bezug aller Beteiligten auf die NS-Institution als Legitimationsinstanz, sondern stellte mittelfristig auch die verbliebene Durchsetzungskraft der raumwissenschaftlichen Netzwerke unter Beweis. Der zugespitzte Konflikt mit konkurrierenden Zeitschriften51 und intensiver Lobbyarbeit in den sich entfaltenden föderalen Institutionen konnte schließlich dadurch zugunsten der Akademie abgemildert werden, dass sich namhafte Raumwissenschaftler im Mai 1950 für eine Einigung beider Einrichtungen – bei klarer Kompetenzverteilung – einsetzten. Das entsprechende »Gutachten« stellte fest, dass der »wirklich geistige Gehalt der bisherigen wissenschaftlichen Raumforschungsarbeit […] nur den wissenschaftlich führenden Köpfen der Akademie für Raumforschung geläufig« sei, »eigentlich sogar nur dem augenblicklichen Leiter Professor Brüning«.52 Diese Einschätzung wurde u.a. von Hans Mortensen, Erich Egner, Carl Pirath, Hermann Lautensach, Eduard Willeke und Paul Hesse unterzeichnet – allesamt Wissenschaftler, die in den Hochschularbeitsgemeinschaften der dreißiger und vierziger Jahre aktiv waren und nun wieder Lehrstühle innehatten. De-
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Philipp Rappaport an Julius Brecht (Zentralamt für Arbeit), 27.9.1947, in: Bundesarchiv, Z 40 (Zentralamt für Arbeit in der Britischen Zone), Nr. 380. Julius Brecht an Philipp Rappaport, 8.10.1947, in: ebd. Vgl. Prager, Stefan: Die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung. Rückblick und Ausblick 1922-1955, Tübingen 1955. Das Godesberger Institut gab 1950 die »Zeitschrift für Raumforschung« heraus und veröffentlichte zudem in unregelmäßiger Folge die »Informationen« sowie »Mitteilungen aus dem Institut für Raumforschung«. »Gutachten. Im Mai 1950«, o. D., in: Archiv der ARL, Nachlass Hans-Joachim Seglitz.
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ren Fürsprache stellte ein eindrucksvolles Ergebnis von Brünings Netzwerkarbeit dar und verdeutlicht zugleich die Bruchlinien in der Gemeinschaft der Raumwissenschaftler. Denn gerade Lehrstuhlinhabern erschien Brünings Konzept, über die Akademie politischen Planungsanforderungen unabhängig zu begegnen, reizvoller als die Aussicht auf eine lukrative, aber politisch angeleitete wissenschaftliche Forschung.
4.
Föderale Lösungsansätze
Mit der Konsolidierung der Länder hatte die Wissenschaftsförderung in den Westzonen zwischenzeitlich Kontur gewonnen. Das im März 1949 von den westdeutschen Kultusministern beschlossene »Königsteiner Staatsabkommen« stellte einen Kompromiss dar, der die von den Ländern beanspruchte Wissenschaftshoheit in einer »föderativen Wissenschaftskompetenz« auffangen wollte.53 Das Abkommen betonte zwar, »dass die Förderung der wissenschaftlichen Forschung grundsätzlich Aufgabe der einzelnen Länder« sei, ermöglichte aber für »Forschungseinrichtung[en] von überregionaler Bedeutung […] eine gemeinschaftliche Finanzierung durch die am Abkommen beteiligten Länder«.54 Die Bundesebene wurde in den folgenden Jahren sukzessive an der Finanzierung beteiligt. Auf dieser Linie lag auch der Ausgleich, der die Existenz sowohl des Godesberger Instituts als auch der Hannoverschen Akademie ermöglichte. Das Institut sollte über den Bundeshaushalt etatisiert werden, während die Akademie über das »Königsteiner Staatsabkommen« abgesichert wurde. Die Zeitschrift »Raumforschung und Raumordnung« – seit 1948 unregelmäßig von der Akademie fortgesetzt – wurde zukünftig gemeinsam herausgegeben. Dieser Kompromiss wurde im August 1950 in einer »Vereinbarung« niedergelegt, die allerdings eine klare Hierarchie zwischen der für die Grundlagenforschung zuständigen Akademie und dem für »ministerielle Planungswünsche« zuständigen Institut festlegte.55 Die Voraussetzungen für diese Lösung, die letztlich der Akademie Existenz und Entwicklungsfähigkeit gewährleistete (während das Institut rasch an Eigenständigkeit gegenüber den Bundesministerien verlor),56 lagen mindestens ebenso in
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Osietzki, Maria: Wissenschaftsorganisation und Restauration. Der Aufbau außeruniversitärer Forschungseinrichtungen und die Gründung des westdeutschen Staates 1945-1952, Köln/Wien 1984, S, 238-271, hier S. 238. Meiser, Inga: Die Deutsche Forschungshochschule (1947-1953), Berlin 2013, S. 76. »Vereinbarung zwischen Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover und Institut für Raumforschung Bonn in Bad Godesberg«, 8.8.1950, in: Archiv der ARL, Sammlung Karl Haubner, Hefter 8. Vgl. Gutberger: Gründungsphase, S. 116.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
politischen Vereinbarungen, die von Kurt Brüning bereits früh angestrebt wurden. Seine besonderen Beziehungen zum preußischen Oberpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf bzw. zur späteren niedersächsischen Landesregierung unter Kopfs Führung beruhten auf Brünings unverzichtbarem Beitrag zur äußeren Gestalt des Landes Niedersachsen, aber auch auf Angeboten der Akademie, bei der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in Niedersachsen über eine Landeserschließung wissenschaftlichen Beistand zu leisten.57 Tatsächlich intervenierte Kopf bei Bundesbehörden zugunsten der Akademie und erreichte – gegen Widerstände der Bundesregierung und der nordrhein-westfälischen Landesregierung – ihre Aufnahme in die Förderliste des Staatsabkommens.58 Die Suche nach überregionalen Aufgabenfeldern, mit denen die Akademie öffentlich überzeugend auftreten konnte, stand damit nun im Mittelpunkt des Ausbaus eines wissenschaftlichen Forschungsprogramms. Während die Streitigkeiten mit dem Godesberger Institut sukzessive beigelegt werden konnten – und dies beschleunigte sich, nachdem Erwin Muermann im Herbst 1951 unter Korruptionsvorwürfen als Institutsdirektor abgelöst wurde –,59 erwiesen sich die drängenden Probleme wie Flüchtlingsintegration und Wiederaufbau, die unmittelbare Folgen des Krieges waren, als verlässliche Themen, um die politische Bedeutung der Akademie herauszustellen. Hier kamen nun auch die langfristig angelegten Arbeiten der Akademie etwa zur Erschließung des Emslands zum Tragen.60 Weiter bewährte sich die Akademie beim Aufbau der bayerischen Landesplanung. Hier spielten zum einen jahrzehntelange persönliche Bekanntschaften eine Rolle, zum anderen aber ergänzte sich das Bedürfnis der Akademie, »überregional« tätig zu sein, mit dem Wunsch der bayerischen Landesplanung, ihre »recht eingeschränkte tatsächliche Aktionsfähigkeit« durch den »Anschluss an die in Deutschland überregional verknüpfte Fachgemeinschaft« wesentlich zu erweitern.61 Damit – so könnte man meinen – wurde erst jetzt, zu Beginn der fünfziger Jahre, die von der NS-Führung ab Mitte der dreißiger Jahre angestrebte einheitliche Zusammenfassung von Raumforschung und Landesplanung erreicht.62
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Vgl. Nentwig, Teresa: Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, S. 308-311. Vgl. Ministerpräsident Kopf an den Bundesminister des Innern, 5.4.1950, in: Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 50 (Staatskanzlei), Acc. 96/88, Nr. 45/1, Bl. 289-291. Vgl. Bundesministerium des Innern an das Institut für Raumforschung, 1.12.1954, in: Bundesarchiv, PERS 101, Nr. 44845 (Personalakte Erwin Muermann, Bd. 1). Vgl. Haverkamp, Christof: Die Erschließung des Emslandes im 20. Jahrhundert als Beispiel staatlicher regionaler Wirtschaftsförderung, Sögel 1991. Grüner, Stefan: Geplantes »Wirtschaftswunder«? Industrie- und Strukturpolitik in Bayern 1945 bis 1973, München 2009, S. 238. Vgl. Brüning, Kurt: »Landesplanung, Raumforschung und praktische Geographie, besonders in Niedersachsen«, in: Gabriele Schwarz (Hg.): Hannover und Niedersachsen. Beiträge zur
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5.
Gab es eine raumwissenschaftliche Ankunft im »Westen«?
Kurt Brüning war es gemeinsam mit seinen Mitarbeitern und Kollegen gelungen, in einer Gemengelage aus divergierenden und korrespondierenden Interessen und Machtpotentialen ein regional gut verankertes und überregional anschlussfähiges Netz von Raumwissenschaftlern und politischen Akteuren zur Entwicklung der Akademie zu reaktivieren und zu gestalten, das sich sowohl abtrünnigen Mitarbeitern und politischen Gegnern als auch konkurrierenden staatlichen und akademischen Initiativen gegenüber als überlegen erwies. In diesem Prozess wurde nicht nur die Vorrangigkeit einzelner Aufgabenfelder wie die Flüchtlingsintegration oder die Entwicklung rückständiger Gebiete determiniert, sondern auch die regionale Schwerpunktbildung und die »gesamtdeutsche« Perspektive festgelegt, etwa die personell abgesicherte Unterstützung der bayerischen Landesplanung durch die Akademie, aber auch die Sonderstellung Nordrhein-Westfalens und Niedersachsens im Gefüge westdeutscher Raumforschungsinstitutionen. Gerade die Auseinandersetzungen um die Einbeziehung der Akademie in das »Königsteiner Staatsabkommen« boten Gelegenheit, den neu aktivierten Föderalismus der entstehenden Bundesrepublik einzuüben. Mit der Entfaltung der Arbeit der Akademie, der Verabschiedung einer verbindlichen Satzung und der Einrichtung arbeitsfähiger Gremien – insbesondere eines Kuratoriums – nahmen die Herausforderungen eher noch zu, sodass die Erfahrungen aus der Reichsarbeitsgemeinschaft sukzessive in den Hintergrund traten, während die aus ihr erwachsenen Netzwerke und professionellen Beziehungen weiter relevant blieben. Bei aller Schärfe zeichneten sich die in diesem Aufsatz skizzierten Auseinandersetzungen durch drei Aspekte aus, die durchaus als Einübung demokratischer Spielregeln gewertet werden können. Erstens bleibt festzuhalten, dass bei allen intern artikulierten persönlichen Verwerfungen nach außen ganz überwiegend sachliche Argumente kommuniziert wurden. Das brachte eine gewisse Zivilität in den Konflikt, die sich deutlich von den scharfen persönlichen »Kämpfen« um wissenschaftliche Ressourcen im nationalsozialistischen »Führerstaat« abhob.63 Damit ging zweitens einher, dass der Rückgriff auf lange vertraute Personen und auf Netzwerke, die sich in der NS-Zeit bewährt hatten, mit der Akzeptanz neuer Regeln verknüpft wurde. Zu diesen Regeln zählte insbesondere, dass unterlegene Kontrahenten nicht das Recht verloren, ihre jeweiligen Interessen zu vertreten, und sich
63
Landes- und Wirtschaftskunde (Jahrbuch der Geographischen Gesellschaft zu Hannover), Hannover 1953, S. 311-349. Vgl. Stöhr, Irene: »Von Max Sering zu Konrad Meyer – ein ›machtergreifender‹ Generationswechsel in der Agrar- und Siedlungswissenschaft«, in: Susanne Heim (Hg.): Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus, Göttingen 2002, S. 57-90.
Raumwissenschaftliche Deutungshoheiten in der frühen Bundesrepublik
weiter wissenschaftlich betätigen konnten. Drittens schließlich suchten alle an der Auseinandersetzung beteiligten Wissenschaftler Unterstützung bei westdeutschen Politikern auf Landes- und Bundesebene, die ihrerseits an geregelte Verfahren des Interessenausgleichs gebunden waren und deren Verhalten öffentlich eingeschätzt wurde. Diese Zusammenhänge banden die Wissenschaftler – und dies unabhängig von ihren Absichten und ihren politischen Überzeugungen – an die von den Alliierten eingeführten föderalen und demokratischen Regeln der »Western and Christian traditions«.
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Raumfiktionen in flüssigen Verortungen Staatliche Öffentlichkeitsarbeit und publizistische Reklame für die Bundesrepublik Deutschland in Afrika und Asien (1953-1960) Heiner Stahl
1.
Raum, Wissen und Ver-Ortungen
Raum herzustellen ist ein Verfahren der Bezeichnung. Sprechen, Schreiben und Erinnern bringen dabei ein bestimmtes Wissen von und über Raum zum Ausdruck. Die »Analyse räumlicher Dimensionen von Gesellschaft«1 muss über die kartografische Bezeichnung von Fläche und die datenbasierte Verräumlichung des Sozialen hinausreichen, schlägt Susanne Rau vor. Dann gelinge es »Differenzen, Überlagerungen, Gleichzeitigkeiten und Brüche«2 herauszustellen, die den sozialen Beziehungen, kulturellen Gedächtnissen und mentalen Wissensbeständen von Gesellschaften entspringen. Das lässt sich beispielsweise in Vermerken, in Reiseberichten oder in Gutachten über die Wirkungen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ausland nachzeichnen. Es sind die Textsorten, die das Quellenmaterial für diesen Beitrag liefern. Auslandsvertretungen schicken Berichte über (medien-)öffentliche Aktivitäten – in verschiedenen Ländern Afrikas – an die Länderreferate der Politischen sowie Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes sowie an die Abteilung Ausland des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Ein Publizist und Schriftsteller (Bruno Italiaander) bemüht sich um finanzielle Unterstützungen für seine Recherchen und tritt als Vortragsreisender auf. Eine in Bonn akkreditierte Auslandskorrespondentin (Inge Deutschkron) bewertet im Auftrag des Presseund Informationsamt der Bundesregierung die Öffentlichkeitsarbeit in Indien und Indonesien und macht Vorschläge für kulturelle Anpassungen bei der Ver-Ortung der Bundesrepublik Deutschland in diesen Ländern. Dabei denkt sie gleichsam über ihre Ver-Ortung im Verhältnis zur Bundesrepublik selbst nach. Es ist eine 1 2
Rau, Susanne: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzung, Frankfurt/New York 2013, S. 8. Ebd., S. 15.
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Heiner Stahl
antikommunistische, bei Italiaander ist es eine europäische, die unter kolonialen Vorzeichen steht. Diese Dialoge des Reisens sind hybride Texte. Deren Aussagen und Deutungen sind auf Adressaten ausgerichtet, die Vor-Wissen besitzen, spezifische LeseErwartungen haben und tagespolitische Einordnungen wählen. Raum sowie die damit verbundenen Wissensbestände erhalten kommunikative und mediale Richtungen. Sie werden erschlossen, besetzt, aufgeführt und mit Zuschreibungen abgesichert. In der postfaschistischen deutschen Zusammenbruchsgesellschaft waren Vorstellungen von Raum und Wissen, semantische Kommunikationsanordnungen sowie die damit verbundenen Begrifflichkeiten3 und Verständnisse der Zwischenkriegszeit unter Rechtfertigungsdruck geraten. Das löste Bemühungen um Verteidigungen aus, förderte gleichsam begriffliche Beweglichkeit. Die Reaktualisierung von vermeintlichen Gewissheiten und kulturell tradierten Kenntnissen über Raum und Wissen wieder zu bestimmen, das war in der frühen Bundesrepublik Deutschland eine vielfältige und vielschichtige Suchbewegung. Sie kennzeichnete wesentlich, so die erste These, die eigentliche Ortlosigkeit des westdeutschen Teilstaates. Das erstreckte sich auf die mentalen, geografischen, semantischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und medialen Erfahrungsbestände.4 Die Bundesrepublik Deutschland selbst musste als place und als space auf den mentalen Landkarten – und in den publizistischen und medialen Narrationen – erst entstehen.5 Die staatliche Öffentlichkeitsarbeit im Ausland, so die zweite These, führte in der frühen Bundesrepublik Deutschland Praktiken der Inszenierung und Darstellung fort, die sich in der autoritären Demokratie der Weimarer Republik herausgebildet und während des totalitären nationalsozialistischen Regimes geformt hatten. Eigenständige, bundesrepublikanische Wendungen hatten diese noch nicht genommen. Es blieb dabei ein Raumwissen gültig, das weiterhin tief in kolonialen Vorstellungen wurzelte.6 Diese Erinnerung ließ sich positiv besetzen und als Ankerpunkt für Ver-Ortungen der Bundesrepublik Deutschland in der
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Vgl. Klemperer, Victor: LTI. Ein Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947; Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006. Vgl. Gallus, Alexander/Schildt, Axel/Siegfried, Detlef (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015; Levsen, Sonja/Torp, Cornelius (Hg.): Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen 2016. Vgl. Busse, Beatrix/Warnke, Ingo H. (Hg.): Place-Making in urbanen Diskursen, Berlin/München/Boston 2014. Vgl. Deutsches Historisches Museum (Hg.): Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2016; Gottschalk, Sebastian: Kolonialismus und Islam. Deutsche und britische Herrschaft in Westafrika (1900-1914), Frankfurt 2017: Gründer, Horst/Hiery, Hermann Joseph: Die Deutschen und ihre Kolonien ein Überblick, Berlin 2017.
Raumfiktionen in flüssigen Verortungen
Gegenwart benutzen. Genau darum bemühte sich Dr. Richard Bottler7 , bundesrepublikanischer Konsul in Windhoek, Hauptstadt des heutigen Namibia, als er im Herbst 1953 die deutschen Leistungen bei der Besiedelung und Kolonisierung des Landes lobte: »Schon im äusseren Bilde wirkt die Zeit der deutschen Herrschaft nach und gibt dem Land in vieler Hinsicht einen ausgeprägt deutschen Charakter (›continental‹, wie die Engländer sagen.)«8 Mit diesen Worten illustrierte er Nachwirkungen deutscher Siedlungs- und Kulturarbeit in diesem Land. Diese baulichen und landschaftsgestalterischen Einflussnahmen verwiesen auf vorangegangene Erschließungen von Raum und auf eine fortbestehende (nach-)koloniale Präsenz. Was seine Tätigkeit in Windhoek »so ungewöhnlich interessant« mache, sei »das Verhältnis der hiesigen Deutschen zu ihrer alten Heimat«: »Keiner will sich an Anteilnahme und Eifer für das alte Vaterland überbieten lassen. Auch diejenigen, die afrikanische Staatsangehörige« seien, fühlten »sich beleidigt, wenn ich ihre deutsche Gesinnung in Zweifel zöge oder sie weniger aufmerksam behandeln würde.« Für ihn war es »wohl einmalig, dass die Deutschen innerhalb eines ausserdeutschen Landes in dieser Form zusammenhalten und den Charakter eines ganzen Landes mitbestimmten.«9 Der Konsul bezog sich auf einen geografischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und sprachlichen Raum, brachte Wissensbestände zum Ausdruck. Diese mentalen Landkarten10 bildeten die Grundlage seiner Anstrengungen. Raum und Wissen waren für ihn Voraussetzungen, sie mussten benennbar und erzählbar gemacht werden, da sie Wahrnehmungen und Bewertungen formten. Das Verfassen von Berichten nutzte Bottler als Textform der Raumerschließung. Damit kommunizierte er Vorstellungen des Vergangenen, adressierte 7
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), P 14, 46624, Personalbogen, Dr. Richard Bottler, Duisburg, 15.3.1950, Bl. 1 (VS-RS), Bl. 1 (VS). Bottler war ausgebildeter Handelskaufmann und Eisenexporteur. Der promovierte Jurist Bottler trat am 01.03.1933 in die NSDAP ein, war zudem von 1933 bis 1937 in der SA sowie Mitglied des NS-Juristenbundes. Er arbeitete zunächst in der Devisenabteilung des Reichswirtschaftsministeriums (1933-1934), trat 1935 in den Auswärtigen Dienst ein und bekleidete dort bis 1945 verschiedene Positionen. Vgl. Auswärtiges Amt, Historischer Dienst (Hg.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 1 (A-F), Paderborn 2000, S. 240-241. PA AA, B 90-EA, 566, Konsulat der Bundesrepublik Deutschland, Windhuk, Dr. Richard Bottler, (420-00 Ber. Nr. 216/53), über die Gesandtschaft der BRD in Pretoria an Auswärtiges Amt, (Kulturpolitische Abteilung) Bonn, Betr.: Deutschtum in Südwestafrika, Windhuk, 22.9.1953, S. 1-10, hier S. 1. Der Aktentitel ›Deutsche Kolonien nach Ländern geordnet‹ bezeichnet die mentale Ver-Ortung der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts. Ebd., S. 8. Vgl. Damir-Geilsdorf, Sabine: Mental Maps – Raum – Erinnerung: kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005; Schenk, Frithjof Benjamin: Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents als Forschungsgegenstand der europäischen Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 5.6.2013, URL: www.ieg-ego.eu/schenkf-2013-de [letzter Zugriff 12.11.2019].
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gleichsam Erwartungen an Visualisierungen und fand sich in den administrativen Sprech- und Kommunikationsräumen des Auswärtigen Amtes und der Auslandsabteilung des Presse- und Informationsamtes ein. Das Räumliche entsteht in Erzählungen und Benennungen von Orten und Plätzen, in den Interaktionen von Nachrichten, Informationen und Menschen, die diese Bedeutungen entziffern. Karten sind Medien des Anschauens. Erzählungen kartieren Erfahrung und Erinnerung, indem sie Wissensbestände und Raumdeutungen mischen. »Erfahrung machen« heißt für Reinhart Koselleck, dass Menschen »von hier nach dort« gehen, »um etwas zu erfahren.« Sie starten »eine Entdeckungsreise«, welche »aber erst durch den Bericht über diese Reise und erst durch die Reflexion des Berichts«11 erfassbar wird. Solche Rückübertragungen festigen Kommunikationsbeziehungen – zu sich selbst, zu den Adressierten und den Gegenständen des Erlebten. »Wer etwas ausdrücken will, um sich verständlich zu machen, beruft sich auf die vorweg gewußte Sprache, deren Kenntnis beim Zuhörer vorausgesetzt wird; nur so ist Kommunikation überhaupt möglich«12 , betont Koselleck. Die Übermittlung von Aussagen gelingt in gängigen, bekannten und erlernten Narrativen. Medienformate bedienen Lese-, Hör- und Seherwartungen13 , bekräftigen auf diese Weise Raum- und Zeitwahrnehmungen von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. In den erzählerischen und visuellen Repräsentationen des Fremden und Anderen lassen sich mentalitätsgeschichtliche Nachhallwirkungen aufzeigen14 , in denen sich Menschen bewegen, Ereignisse und Erfahrungen damit in Bezug bringen, Sinn herstellen. Das erfordert Aufzeichnung, Eintragung und Ver-Ortung. Das Entziffern solcher kulturell überlieferten, in Massenmedien inszenierten Bilder nennt Karl Schlögel »Augenarbeit«. Das Sehen müsse sich »gleichsam rüsten […], sich in Stellung bringen, um noch unterscheiden und lesen zu können.«15 Entschlüsselung, Auslegung und Aneignung sind Techniken der Bearbeitung. Es sind Techniken des Selbst, die an soziale und kulturelle Praktiken der Selbst-Verortung gebunden sind.16 Ver-Ortungen besitzen Richtungen, Schreibende und Adressierte verhandeln daran ihre (Neu-)Positionierungen zu Gegenwart und Vergangenheit. Vor diesen Herausforderungen standen das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, das Auswärtige Amt sowie die Auslandsver-
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Vgl. Hodenberg, Christina von: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945 bis 1973, Göttingen 2006. Koselleck, Reinhart: Zeitschichten, in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 19-26, hier S. 19. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003, S. 13. Vgl. Foucault, Michel: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt 2009, S. 368-369.
Raumfiktionen in flüssigen Verortungen
tretungen in den 1950er Jahren. Die erlernte Dauerhaftigkeit und Gültigkeit der bekannten außen- undgeopolitischen Verhältnisse zerbrach. Sie mussten den sich ändernden Kommunikationsbeziehungen mit Medienöffentlichkeiten im Inland sowie im Ausland Rechnung tragen und gleichzeitig die institutionellen Selbsterzählungen gegenüber diesen Verschiebungen abschirmen. Asien und Afrika waren dort bereits als geografische und kolonialimaginierte Räume bezeichnet. Raum ist somit »Bezugspunkt sprachlicher Ausdrücke« und folglich »als Denotat«17 zu begreifen. Sprache macht Raum, betonen Beatrix Busse und Ingo H. Warnke, und es sind »vor allem auch Orte im Raum, die erst durch sprachliche Praktiken und sprachliche Interaktionen von Akteuren identifizierbar und erinnerbar bzw. als solche kreiert werden.«18 Die sprachlichen, körperlichen und sinnlichen Herstellungen von place19 formen Schichtungen, die sich aus Handlungen, Repräsentationen und Vorstellungen zusammensetzen. Darin drücken sich »stets fluide Identitäten von Sprachgemeinschaften«20 aus. Das publizistische Sprechen und Erzählen besaß in der Bundesrepublik Deutschland zumindest auf der medialen Oberfläche einen antikommunistischen Erzählrahmen. Darin ließen sich koloniale Denkmuster einfügen, übersetzen und neu ausrichten. Sie konnten auf diese Weise für unbedenklich erklärt werden. Der Reiseschriftsteller und Publizist Rolf Bruno Maximilian Italiaander21 und die Deutschland-Korrespondentin der israelischen Tageszeitung Maariv sowie des indischen Hindusthan Standard Inge Deutschkron22 bewegten sich in diesen Kommunikationsräumen außenpolitischer (Neu-)Positionierung der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Einschätzungen lassen sich durchaus als seismographische Erfahrungsbefunde begreifen. Sie trafen auf – und bedienten – das begriffliche Raumwissen der Informationsexperten im Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung sowie im Auswärtigen Amt. Diese suchten sprachliche Bilder von »Deutschland« im Ausland zu platzieren. Sie nutzen den Haushaltstitel 315 17
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Busse, Beatrix/Warnke, Ingo H.: Ortsherstellung als sprachliche Praxis – sprachliche Praxis als Ortsherstellung, in: Dies. (Hg.): Place-Making in urbanen Diskursen, Berlin/München/Boston 2014, S. 1-7, hier S. 1. Ebd., S. 2. Friedmann, John: Place and Place-Making in Cities. A Global Perspective, in: Planning Theory & Practice 11 (2010) 2, S. 149-165, URL: https://doi.org/10.1080/14649351003759573[letzter Zugriff 12.11.2019]. Busse/Warnke: Ortsherstellung, S. 2. Vgl. Eintrag »Italiaander, Rolf« in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: www.munzinger.de/document/00000004407 [letzter Zugriff 12.11.2019]. Siehe u.a. den Schriftwechsel Italiaanders mit der Reichsschrifttumskammer BArch, R 9361V/23097. Die komplette Akte sei am 17.12.1947 nach Hamburg abgegeben worden, ist dort vermerkt. Vgl. Eintrag »Deutschkron, Inge« in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: www.munzinger.de/document/00000026290 [letzter Zugriff 12.11.2019].
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– Öffentlichkeitsarbeit im Ausland – für publizistische Interventionen, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung plante und koordinierte. Im Zuge der décolonisation – der britischen, französischen, belgischen, portugiesischen und niederländischen Territorien – waren die Imaginationen geografischer Provinzen23 in Bewegung geraten. Das bot Chancen zu rhetorischen, semantischen und narrativen (Neu-)Besetzungen von geografischen Räumen, die die Herrschaft europäischer Kolonialmächte geformt hatte.24 Hier konkurrierte ein »doppeltes Deutschland« um Vertretung, Geltung und Repräsentation. Es kreuzten sich unterschiedliche Erzählungen des Nationalen. Diese mussten in den jeweiligen Gastländern verständlich gemacht und von verschiedenen Zielgruppen anerkannt, bekundet, bezeugt und bekräftigt werden.
2.
Afrikablicke. Kartierungen des Kolonialen und Nationalen
Italiaander bemühte sich 1953 um eine Mitfinanzierung seiner »Expedition« durch verschiedene Länder des westlichen und subsaharischen Afrikas. Er schrieb diesbezüglich Ende Mai an das Auswärtige Amt. Gegenüber Dr. Gerhard Kramer, der zu diesem Zeitpunkt in der Kulturpolitischen Abteilung das Afrikareferat leitete und zudem für die Abstimmung von Vortragsreisen ins Ausland zuständig war25 , kündigte der Schriftsteller seine Reiseroute an. Sie verlaufe über Liberia, die Elfenbeinküste, Gambia (Goldküste), Togo, Nigeria und Kamerun. Italiaander machte also auch in früheren Kolonien des Deutschen Reiches Station. Auf dem Rückweg plane er, vom Tschadsee quer durch die Sahara nach dem französischen Algier sowie von dort mit dem Schiff über das Mittelmeer nach »Europa« zu reisen. Der Publizist betonte in seinem Anschreiben, dass er »die Probleme des heutigen Afrika […] in zwei neuen Büchern behandeln«26 wolle und bekräftigte, dass »gerade auch im deutschen Kulturwesen und in der deutschen Industrie das Interesse an einer
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24 25 26
Das ist durchaus im Sinne von (Neu-)Anordnungen zu verstehen, wie sie deutsche Ethnografen – Adolf Bastian, Leo Frobenius oder Friedrich Ratzel – vornahmen und zu Theoriegebäuden formten. Schubert, Michael: Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart 2003, S. 250-261. Vgl. Labica, Thierry/Kaiwar, Vasant/Mazumdar, Sucheta: From Orientalism to Postcolonialism. Asia-Europe and the Lineages of Difference, Abingdon, Oxon 2009. PA AA, B 90, 526, AA, Kulturpolitische Abteilung, Direktorenbesprechung, 28.5.1953. Vortragswesen, Bonn, 28.5.1953, Bl. 4. Bundesarchiv (BArch) Koblenz, B 145/7636, Auswärtiges Amt, Afrika (463-02 E VI 12855/53), Dr. Kramer, an Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Betr.: Finanzielle Beihilfe für die Afrikareise des Schriftstellers Rolf B. M. Italiaander, Hamburg 20, Heilwigstr. 39, Bonn, 13.7.1953, S. 1.
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solchen Berichterstattung in meiner lebendigen und zeitnahen Art sehr groß«27 sei. Mit diesem Verweis auf den bundesrepublikanischen Buchmarkt, die dadurch mögliche Reichweite in verschiedene Leserschaften, die bereits abgeschlossenen Vorverträge mit dem Verlagshaus Broschek (Hamburg), welches das Hamburger Fremdenblatt herausgab, sowie mit der Nennung verschiedener Personen, die nah an Konrad Adenauer arbeiteten, warb Italiaander um einen Kostenzuschuss. Dessen persönlicher Referent, Dr. Constantin Cramer von Laue, könne die »Seriosität aller meiner Unternehmungen«28 bekräftigen. Damit rückte er seine Kontakte in den Vordergrund und spielte die damit verbundene vermeintliche Wichtigkeit seiner publizistischen Tätigkeit aus. Sein Kontakt in der Afrika-Abteilung des Auswärtigen Amt wandte sich im Juli 1953 an die Auslandsabteilung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung und bat »um gefällige Prüfung […], ob dortseits die Möglichkeit«29 bestehe, die Afrikareise des deutschen Buchautors mit Finanzmitteln zu unterstützen. Vom Auswärtigen Amt erhalte der Schriftsteller bereits einen Geldbetrag für dessen Afrikarundreise. Dr. Hans Schirmer30 , der zu diesem Zeitpunkt die Auslandsabteilung des Presse- und Informationsamtes leitete, versagte die Gewährung eines solchen Zuschusses. Dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung stünden »Mittel für die Unterstützung der Herausgabe von Reisebüchern über das Ausland in Deutschland nicht zur Verfügung«31 . Damit wehrte er die Anfrage ab. Reiseliteratur, die das Exotische, das Abenteuerliche und die Bilder des »Fremden« für einen heimischen Massenmarkt aufbereitete, wollte Schirmer nicht finanziell unterstützen.32 27 28 29 30
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Ebd. Ebd. Ebd. Zur Person Hans Schirmer vgl. Auswärtiges Amt, Historischer Dienst (Hg.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871-1945, Bd. 4 (S), Paderborn 2012, S. 7677. Schirmer, NSDAP-Mitglied seit 1.5.1933, war Dozent des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in London, ging 1935 als wissenschaftlicher Angestellter ins Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Ab 1939 begann er im im Auswärtigen Amt die Rundfunkpolitische Abteilung aufzubauen und leitete diese, unterbrochen von verschiedenen Kriegseinsätzen, bis 1945. 1950 wechselte er in die Abteilung Ausland des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, zunächst als Großbritannien-Referent und leitete diese schließlich bis 1955. Danach ging Schirmer an die bundesrepublikanische Botschaft Kairo (Ägypten). BArch Koblenz, B 145/7636, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Leiter Abteilung Ausland, Dr. (Hans) Schirmer, an Auswärtiges Amt, Betr.: Finanzielle Beihilfe für die Afrikareise des Schriftstellers R.B.M. Italiaander, Hamburg 20, Heilwigstr. 39. Dortiges Schreiben 463-o2 E VI/12855/53 Afrika vom 13.7.1953, Bonn, 21.7.1953, S. 1. Schirmer war zwischen April 1935 und Dezember 1937 als »Lektor und Referent für das Übersetzungswesen ausländischer schöner Literatur« in der Reichsschrifttumsstelle sowie zwischen Mai 1937 und März 1939 in der »Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums«
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Italiaanders Sachbücher, die früheren33 und die gegenwärtigen, passten anscheinend nicht zu Schirmers Vorstellungen von guter Literatur und von staatlicher Öffentlichkeitsarbeit im Ausland. Um das Bild und das Verständnis von »Deutschland« im Ausland mit den Erzählungen der Bundesregierung zu versehen, förderte Schirmer die finanzielle und konsularische Betreuung von Korrespondenten, unterstützte deutschsprachige Zeitungen sowie für »Deutschland« werbende Zeitschriften und Informationsbroschüren. Ende Juli hakte Kramer erneut beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung nach und betonte, dass er »für bevorzugte Erledigung«34 der Reisebeihilfe dankbar wäre. Italiaander hatte Kramer kurz zuvor nochmals in einem Brief darauf hingewiesen, dass »die Berichterstattung über Westafrika […] in Deutschland sehr kläglich«35 sei, und dass ihm gegenüber »maßgebliche Herren in Bremen und Hamburg« – gemeint war wohl der weiterhin tief in den Denkfiguren und den Praktiken der kolonialen Wirtschaft verhaftete hanseatische Afrika-Verein – großes Interesse an diesen Ländern bekundet hätten. Mit dieser Referenz versuchte Kramer für den Reiseschriftsteller Türen zu öffnen. Allerdings blieben diese geschlossen. Der Schriftsteller veröffentlichte 1954 die Reisebeschreibungen Wann reist du ab, weisser Mann? und Im Lande Albert Schweitzers. Ein Besuch in Lambarene.36 Die Sachbücher bedienten Erwartungshaltungen von mindestens zwei Leserschaften: zum einen diejenige, die fortwährende positive Erinnerungen an die kolonialen Betätigungen des Deutschen Reiches verband und zum anderen jene, für die eine konfessionell gerahmte zivilisatorische Mission in Afrika in einem Selbstverständnis von Hilfe, Unterstützung, erzieherischer Besserung der »Wilden« und eine »europäisch« gedachten Siedlungs- und Erschließungsfähigkeit dieses Kontinents fest
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tätig. PA AA, P 14, 56667, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Regierungsrat Dr. Danzmann, Dienstzeugnis, Berlin, 20.6.1939, Bl. 32 (VS-RS), hier Bl. 32 (VS). Ferner Hans Heinrich Schirmer (9.1.11), Lebenslauf, Bad Godesberg, 23.11.1952, Bll. 5-6, hier Bl. 5. Während des Nationalsozialismus veröffentlichte Italiaander zahlreiche biografische Annäherungen an Fliegerhelden und –heldinnen. Manfred Freiherr von Richthofen, der beste Jagdflieger des großen Krieges, Berlin 1938, Banzai! Japanische Heldengeschichten aus alter u. neuer Zeit, Berlin 1939, Drei deutsche Fliegerinnen. Elly Beinhorn, Thea Rasche, Hanna Reitsch, Berlin 1940 oder Italo Balbo, der Mensch, der Politiker, der Flieger, der Kolonisator, München 1942. BArch Koblenz, B 145/7636, Auswärtiges Amt, Afrika, Dr. Kramer, an Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, (Schnellbrief), Betr.: Reisezuschuss für Herrn R.B.M. Italiaander, Hamburg, Bonn, 24.7.1953, S. 1. BArch Koblenz, B 145/7636, Rolf B.M. Italiaander, an Auswärtiges Amt, (Abteilung Afrika), Dr. Kramer, Betr.: Ihr Zeichen 463-02 E VU/12855/53 Afrika, (Abschrift), Waalwijk, 18.7.1953, S. 1. Italiaander, Rolf: Wann reist du ab, weisser Mann? Erlebtes Westafrika, Hamburg: Broschek, 1954, Ders.: Im Lande Albert Schweitzers. Ein Besuch in Lambarene, Hamburg 1954.
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verankert war. In der Zwischenkriegszeit hatte der Kolonialdiskurs »ohne Kolonien« diese Bahnen des Betrachtens und Bezeichnens gespurt.37 Italiaander spiegelte darin seine Raumvorstellungen von »Europa«, in denen sich die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs abbildeten, wertete die deutschen kolonialen Leistungen in einem europäisierten Rahmen auf, kritisierte die ideologische Differenz zwischen den Staaten Europas und behauptete dennoch Verbindendes angesichts der dekolonialen Emanzipation in den afrikanischen Ländern. »Die Alterität des Edlen Wilden« sei, so Monika Fludernik, »schon immer Teil der verlorenen Unschuld der europäischen Zivilisation« und gleichsam »Symbol unserer Selbstentfremdung«38 gewesen. Beide Sachbücher bedienten kollektive Bild- und Erzählprogramme über Afrika, in denen rassistische Befindlichkeiten, die Vorstellungen des Exotischen, des Erotischen und der Erneuerung Europas durch Erfahrungen beim Entdecken Afrikas enthalten waren.39 Liberia stelle, so Italiaander in Wann reist du ab, weisser Mann?, »eine rein amerikanische Gründung« dar. Schließlich bemühe sich die »1816 in Washington gegründete amerikanische Kolonisations-Gesellschaft« darum, »ehemalige Sklaven nach ihrem heimatlichen Kontinent zurückzuführen.«40 Die Gespräche, die Italiaander mit dem liberianischen Staatspräsidenten William Shadrach Tubman führte, formte er in die Frage um, »worum […] es den Liberianern« gehe: »Sie wollen eines Tages alle Afrikaner zusammenfassen: die immer hier gewesenen, die Gründer dieses Staates und diejenigen, die erst jetzt kommen. Die schwarze Einheit ist ihr Ziel und dementsprechend die Austreibung des weißen Mannes aus Afrika. Und sie nehmen dabei kein Blatt vor den Mund.«41 Der Hamburger Publizist imaginierte das nicht-koloniale Liberia als »das verratene Negerparadies«. Er habe Präsident Tubman »ironisch« gefragt, »ob er sich als amerikanischer Gouverneur oder Gauleiter wohl fühle – wenigstens nenne man
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Vgl. Schubert, Michael: Der schwarze Fremde. Das Bild des Schwarzafrikaners in der parlamentarischen und publizistischen Kolonialdiskussion in Deutschland von den 1870er bis in die 1930er Jahre, Stuttgart 2003, S. 358-366. Fludernik, Monika: Der »Edle Wilde« als Kehrseite des Kulturprogressivismus, in: Dies./Haslinger, Peter/Kaufmann, Stefan (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002, S. 157-175, hier S. 175. Vgl. Essner, Cornelia: Deutsche Afrikareisende im neunzehnten Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte des Reisens, Stuttgart, 1985; Fiedler, Matthias: Zwischen Abenteuer, Wissenschaft und Kolonialismus. Der deutsche Afrikadiskurs im 18. und 19. Jahrhundert, Köln 2005; Steinmetz, George: The Colonial State as a Social Field. Ethnographic Capital and Native Policy in the German Overseas Empire before 1914, in: American Sociological Review 73 (2008) 4, S. 589-612, URL:https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/000312240807300404 [letzter Zugriff 12.11.2019]; Verst, Eva Maria: Karl Mauch (1837 – 1875) als Forschungsreisender. Wissenschaft und Karriere zwischen Deutschland und Südafrika, St. Ingbert 2012. Italiaander: Wann reist du ab, weisser Mann?, S. 52. Ebd., S. 56.
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ihn manchmal so. Würde eine Gegenkraft gegen das amerikanische Übergewicht nicht dem Lande dienlich sein? Ich beobachtete ihn scharf. Seine Reaktion war eindeutig. Er mußte sich darüber schon selbst Gedanken gemacht haben.«42 Italiaander komponierte Interviewaussagen mit kolonialen Wissensbeständen, setzte die Selbst-Verortung als weißer Europäer mit einer von Vorbehalten genährten Fremdschau auf nicht-weiße politische Systeme in Verbindung. In die Begriffe »Gouverneur« oder »Gauleiter« zeichnete er Sprachbilder und Verständnisse ein, die eine Gleichrangigkeit dieser Funktionen und eine Vergleichbarkeit der Wortbedeutungen behaupteten – und die vergangenen Bedeutungen relativierten. Auf diese Weise verband der Publizist Sagbarkeiten, die den mentalen Landkarten und den Repräsentationen des Sprechbaren – des Wieder-Ausdrückbaren – seiner Leserschaften entsprachen. Die Authentifizierungen, die er anhand seiner Beschreibungen von Landschaft und Menschen bekräftigte, überblendete der Publizist mit Bezügen zu vergangenem und gegenwärtigem geografischen Raumwissen über Afrika und über Europa. Italiaander betätigte sich als Landvermesser eines Selbstverständnisses des Deutschen und des Kolonialen, das sich nach der Festigkeit von Denkfiguren im sprachlichen und semantischen Gedächtnis sehnte. Auf diese Weise emotionalisierte und personalisierte Italiaander seine literarischen (Roh-)Stoffe. Zwei Jahre später unternahm der Schriftsteller eine weitere Reise. Dieses Mal ging es in das subsaharische Afrika. Der Leiter der Afrika-Abteilung des Auswärtigen Amtes, inzwischen war dies Hans Georg Steltzer43 , kündigte Mitte Juli 1955 dem Konsulat in Windhuk den Besuch Rolf Italiaanders »in Südwestafrika«44 an. Steltzer betonte, dass Italiaanders »Reise durch Liberia« dem Afrikareferat im Nachgang »einige Unannehmlichkeiten« bereitet habe. Und zwar deshalb, weil der Schriftsteller »durch tendenziös gefärbte Veröffentlichungen in der Frankfurter Illustrierten« sowie in dessen bereits erwähntem Reisebuch »die liberianischen Regierungsstellen ernstlich verstimmt« und es »einiger Anstrengungen des zuständigen Länderreferates« bedurft habe, den liberianischen Botschafter in Bonn »wieder zu beschwichtigen.«45 Steltzer riet deshalb zur Zurückhaltung. »Da sich Herr Italiaander seinen Leserkreis offenbar in erster Linie durch sensationelle 42 43
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Ebd., S. 87. Steltzer leitete von 1955 bis 1957 die Referate »Afrika« und »Information« beim Auswärtigen Amt sowie von 1960 bis 1963 erneut die Afrika-Abteilung. Zur Person Hans Georg Steltzer siehe Eintrag Munzinger Archiv Online URL: https://www.munzinger.de/search/document? index=mol-00&id=00000010952&type=text/html&query.key=e0cvkwXQ&template=/ publikationen/personen/document.jsp&preview [letzter Zugriff 12.11.2019]. BArch Koblenz, B 145/7636, Auswärtiges Amt, (Referat Afrika) Hans Georg Steltzer, an Presseund Informationsamt der Bundesregierung, Betr.: Reiseschriftsteller Rolf Italiander[sic!], Bonn, 16.7.1955, S. 1. BArch Koblenz, B 145/7636, Auswärtiges Amt, (Referat Afrika), Hans Georg Steltzer an Konsulat Windhuk, (Dr. Richard Bottler), Betr.: Reiseschriftsteller Rolf Italiaander. Bezug: Dortiger Bericht v. 8.8.1955 (sic! 8.7.1955) – 463-00, Ber. Nr. 219/55, Bonn, 16.7.1955, S. 1. Das Afrika-
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Herausstellung gewisser negativer Begleitumstände der Lebensverhältnisse in seinem Besuchsland verschafft hat, besteht begründeter Anlass zu der Besorgnis, dass der Besuch Süd-Westafrikas ebenfalls seinen literarischen Niederschlag in negativen Berichten finden könnte.«46 Der Leiter der Afrikaabteilung warf dem Reiseschriftsteller vor, seine Geschichten als skandalisierte Kompositionen zu erzählen, die auf etwaige Abwägungen der (außen-)politischen Angemessenheit keine Rücksicht nahmen. Italiaander inszenierte sich als Neugieriger, als Forschender, als Anthropologe, als ethnografischer und politischer Beobachter. Er stellte dabei seine Betrachtungen des Erlebten in den Mittelpunkt von Bewertungen, bemaß mit seinem kolonialen Blick die sozialen und kulturellen Umgebungen. Der Publizist sammelte und ordnete, wechselte zwischen Medienrollen, war Schreibender, Berichtender, Entdeckender und ein über Deutschland, Europa und Afrika Nachdenkender. In den Vermerken an das Auswärtige Amt und die Abteilung Ausland des Presse- und Informationsamtes kommt zum Ausdruck, welche Wirkungen der Auftritte des Publizisten die Presseattachés, Konsule und Botschafter für mitteilenswert ansahen. – und wie sie dadurch das Weiterfließen von Finanzmitteln für künftige Vorhaben zu sichern suchten. Die Aufzeichnungen sind travelogues47 , weil sie Resonanzen behaupten, (Re-)Kontextualisierungen erlauben und die Erschließung von (medien-)öffentlichen Kommunikationsräumen ermöglichen. In Reiseberichten, betont Ansgar Nünning, sei die Wirklichkeitsdarstellung »weder voraussetzungslos, sondern in mehrfacher Hinsicht präfiguriert und damit äußerst voraussetzungsreich.«48 Das lässt sich ebenso für behördliches Schriftgut sagen, welches über hierarchische Stufen der Administration weitergeleitet und -reicht wird. Die Aufzeichnungen von Botschaftsmitarbeitenden (Peripherie) an die Ministerialverwaltung in Bonn (Zentrum) – und als Kopien an das Presse-
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Referat der Abteilung Ausland des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung erhielt eine Kopie des Schreibens. Ebd., S. 1. Vgl. Tautz, Birgit: Cutting, Pasting, Fabricating: Late 18th-Century Travelogues and Their German Translators between Legitimacy and Imaginary Nations, in: The German Quarterly 79 (2006) 2, S. 155-174. URL: https://www.jstor.org/stable/27675916[letzter Zugriff 12.11.2019]; Driever, Steven L.: Geographic Narratives in the South American Travelogues of Harry A. Franck. 1917 – 1943, in: Journal of Latin American Geography 10 (2011) 1, S. 53-69. URL: https:// muse.jhu.edu/article/424442/pdf [letzter Zugriff 12.11.2019]. Bezüglich kinematografischer und dokumentarischer Inszenierungen siehe Fuhrmann, Wolfgang: The Colonial Travelogue, in: Ders.: Imperial Projections. Screening the German Colonies, New York/Oxford 2015, S. 192223. Nünning, Ansgar: Zur mehrfachen Präfiguration/Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht, in: Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar/Nünning, Vera/Wåghäll Nivre, Elisabeth (Hg.): Points of arrival. Travels in time, space and self. Zielpunkte. Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst, Tübingen 2007, S. 11-32, hier S. 19.
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und Informationsamt – verhandeln Vorstellungen von Raum und Wissen. Darin wird das Gefälle zwischen den Planungserwartungen an eine staatliche Informationspolitik sowie dem örtlichem Umsetzungswillen deutlich. Zur Adressierung dieser Eindrücke gesellten sich die Rahmungen des Sag- und Denkbaren: Das Berichtete kann erst »dann gesellschaftlich kommuniziert werden […], wenn es in verständliche Erzählmuster und gattungskonforme Geschichte überführt wird.«49 Das verweist auf die diskursiven Begründungen der Bundesrepublik Deutschland, die einem Geflecht semantischer Besetzungen entstammten. Ein weiterer Aspekt ist die Wieder-Aufführung (Refiguration) des Erlebten, des Gesehenen, des Erfahrenen sowie des Beteiligt-Seins im Medienformat der Reisereportage. Das bedeutet, Vorauswahlen zu treffen, die Bestandteile der Erzählung in Verhältnisse zu setzen, die das dort Gewesene in eine für den heimischen Buch- und Medienmarkt verständliche Erzählung überführen und die Reiseerfahrungen in narrative Strategien einzufassen und auf die Atmosphären der Schauplätze zu beziehen.50 Dr. Richard Bottler, Konsul in Windhuk, hatte Anfang Juli 1955 in die Bonner Zentrale gemeldet, dass Italiaander »mit dem Motorrad quer durch Afrika unterwegs« sei und »demnächst in Südwestafrika« eintreffe. »Die Kulturvereinigung« in Windhuk hatte Schriftsteller eingeladen. Der Konsul gab in dem Schreiben die Ansicht der Kulturvereinigung wieder, wonach der Reiseschriftsteller »durch die Stellungnahme in seinen Büchern nicht durch eine einseitige Behandlung des Rassenproblems für Südafrika vorbelastet«51 sei. Italiaander war alles andere als ein Kritiker von Apartheidsregimen und lobte die zivilisatorischen Bemühungen der weißen europäischen Siedler, Land-, Plantagen- und Minenbesitzer in Afrika. Einige Wochen später, Ende Oktober 1955, war der Publizist in Salisbury/Harare eingetroffen, der Hauptstadt der britischen Kolonie Rhodesien. Der dortige Generalkonsul, Dr. Karl Raster, zeigte sich gegenüber der Bonner Afrika-Abteilung erstaunt, dass der Publizist »offenbar bereits über gute Verbindungen zu hiesigen Regierungsstellen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens«52 verfügte. In einem Interview mit der englischsprachigen Tageszeitung The Rhodesian Herald sei Italiaander »überhaupt voll des Lobes über die in Salisbury/Harare anzutreffende prak-
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. BArch Koblenz, B 145/7636, Konsulat der Bundesrepublik Deutschland, Windhuk, Dr. (Richard) Bottler, an Auswärtiges Amt, (Abteilung Afrika, Steltzer), Betr.: Reiseschriftsteller Rolf Italiaander, Windhuk, 8.7.1955, S. 1. BArch Koblenz, B 145/7636, Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland, Salisbury,Dr. Karl Raster, an Auswärtiges Amt, (Abteilung Afrika, Steltzer), Betr.: Bericht Nr. 433/55, Afrikareise des Schriftstellers Rolf B. M. Italiaander. Bezug: Erlasse vom 26.9.1955 – 307.36007/1024/55 – und 27.10.1955 – 307.360-07.1201/55. Berichte des Konsulats Luanda v. 12.9., Nr. 561/51, des Konsulats Léopoldville v. 20.10.55, Nr. 52 626/55, Salisbury, 9.11.1955, S. 1-2, hier S. 1.
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tische Handhabung der Rassenprobleme«53 gewesen. Der pragmatische koloniale »Rassestaat«54 war ein wichtiger mentaler Ort auf Italiaanders geistiger AfrikaLandkarte. Dort hisste er seine Flagge. Das koloniale Gestern und die geordnete Segregation in der Gegenwart erschienen, zumindest im Widerhall dieses Schriftwechsels, als ein Raum deutscher Ver-Ortung, welcher sich auf der westdeutschen mental map bekräftigen ließ. Im Herbst 1963 war Italiaander erneut an der afrikanischen Westküste unterwegs. Die Afrikaabteilung des Auswärtigen Amtes wandte sich wieder an das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Dr. Heinrich Harting, Mitarbeiter im dortigen Afrikareferat, betonte, dass der Schriftsteller »vor 1945 die Afrika-Politik des NS-Regimes publizistisch vertreten« habe. Jedoch seien »seine jüngeren Veröffentlichungen [...], soweit hier bekannt, insoweit unbedenklich.« 55 Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung konnte Italiaander ziemlich genau einordnen. Schließlich war er ein beweglicher, anpassungsfähiger Medienschaffender. Solange er seinen kolonialen Standpunkt in den Bahnen einer antikommunistischen Rhetorik fortführte, blieb das für die »›Ingenieure der Verlautbarung»› im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung zulässig und vertretbar. Das gelang ihm mit Der ruhelose Kontinent (1958), Schwarze Weisheiten (1958), Die neuen Männer Afrikas (1960) oder Schwarze Haut im roten Griff (1962) spielend.
3.
Rückblicke auf die Bundesrepublik. Inge Deutschkron in Asien (1959)
Südostasien ließ sich in den 1950er Jahren durchaus als Raum des Kolonisierens begreifen56 , gerade weil sich nationalstaatliche Ablösungen von britischen, französischen, niederländischen und portugiesischen Kolonialreichen vollzogen.57 Inge Deutschkron, akkreditierte Deutschland-Korrespondentin zweier internationaler Tageszeitungen, erhielt 1959 eine finanzielle Unterstützung für eine Informa53 54
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Ebd., S. 1. Vgl. Gosewinkel, Dieter: Rückwirkungen des kolonialen Rasserechts? Deutsche Staatsangehörigkeit zwischen Rassestaat und Rechtsstaat, in: Conrad, Sebastian/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 236-256. BArch Koblenz, B 145/7636, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Dr. (Heinrich) Harting an Auswärtiges Amt, Referat L 3 (Afrika-Abteilung), Betr.: Professor Rolf Italiaander, Hamburg, Heilwigstr. 39, Bezug: Bericht der Botschaft Libreville (Gabun) vom 21.10.1963, L3Nr. 481/63 sowie dortige Schreiben vom 6.11.63 L 3-81.41-60/63, Bonn, 16.11.1963, S. 1. Vgl. Schär, Bernhard C.: Tropenliebe: Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900, Frankfurt 2015. Franke, Martina: Hoffnungsträger und Sorgenkind Südasien. Westdeutsche Betrachtungen und Bewegungen zwischen 1947 und 1973, Heidelberg 2017. URL: http://crossasia-books.ub. uni-heidelberg.de/xasia/catalog/book/177 [letzter Zugriff 12.11.2019].
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tionsreise nach Indien, Burma und Indonesien.58 Das Asien-Referat des Presseund Informationsamtes hatte sie beauftragt, ein Gutachten über die staatliche Öffentlichkeitsarbeit anzufertigen. Sie legte Ende Januar 1960 dem Leiter der AsienAbteilung, Dr. Gerhard Krause-Brewer, ein solches vor. Dieser reichte die Ausarbeitung an die Kollegen der Asien-Abteilung im Auswärtigen Amt weiter59 und stellte die Korrespondentin mit folgenden Worten vor: Deutschkron sei in Berlin aufgewachsen, »wanderte ihren Angaben nach 1946 nach England aus, studierte dort 4 Jahre an der Londoner Universität (Sprachen) und arbeitet danach 4 Jahre im Büro der Sozialistischen Internationale.«60 Dort baute sie zahlreiche Kontakte zu Persönlichkeiten auf, die in den sich vom britischen Empire lösenden Staaten politische Ämter übernahmen. Die Holocaust-Überlebende bereiste 1954 erstmals Südostasien. Fünf Jahre später, zwischen August und Dezember 1959, war Deutschkron erneut in dieser Region – diesmal im Auftrag ihrer Zeitungen. »Dem ständigen Kontakt mit meinen asiatischen Freunden […] verdanke ich«, so Deutschkron in ihrem Report, »daß ich über die Entwicklung in diesen Ländern auf dem laufenden blieb.«61 In Indien wohnte sie bei befreundeten Familien und erfuhr dadurch »mehr über das Leben in Indien […] als im allgemeinen für einen Europäer üblich«62 war. Damit grenzte sie ihre Ausführungen als besonderes Wissen von Informationen ab, die Konsulats- und Botschaftsbeamte der Zeitungslektüre entnahmen und auf Empfängen austauschten. Deutschkron komponierte einen auf den Adressaten, die Asien-Abteilung des Presse- und Informationsamtes, ausgerichteten Bericht. Darin fügte die Journalistin Eindrücke, Wahrnehmungen und Selbst-Verortungen mit ihrem (Vor-)Wissen über die jeweiligen Länder, über die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse sowie ihre eigenen Ansichten über die Darstellung Westdeutschlands zu einem hybriden literarischen Text zusammen, in welchem faktisch Erlebtes und ihr Raumwissen ineinander flossen. Der »so glücklich beendete Freiheitskampf«, schrieb Deutschkron, der 1954 noch Aufbruch, Verbesserung der Lebensverhältnisse und gesellschaftliche Demokratisierung versprochen
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BArch Koblenz, B 145/5016, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, (Abteilung Asien), Dr. (Gerhard) Krause-Brewer an Auswärtiges Amt, Abt. VII (Asien), Betr.: Reise der Journalistin Frau Inge Deutschkron nach Südostasien, Bezug: Hiesiges Schreiben vom 30.9.1959 – 265/10 IV, Bonn, 12.2.1960, S. 1. BArch Koblenz, B 145/5610, Inge Deutschkron, Bericht einer Reise durch Indien, Burma, Indonesien und Israel vom 20.8.1959 bis 22.12.1959, Bonn, 27.1.1960, S. 1-35, hier S. 1. BArch Koblenz, B 145/5016, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, (Abteilung Asien), Dr. (Gerhard) Krause-Brewer an Auswärtiges Amt, Abt. VII (Asien), Reise der Journalistin Frau Inge Deutschkron nach Südostasien, 12.2.1960, S. 1. Dass Inge Deutschkron den Holocaust als Illegale in Berlin (über-)lebte, erwähnte Krause-Brewer gegenüber dem Auswärtigen Amt nicht. BArch Koblenz, B 145/5610, Inge Deutschkron, Reisebericht, Bonn, 27.1.1960, S. 1. Ebd., S. 2.
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habe, sei »einer gefährlichen Apathie und Desillusion gewichen.«63 Die wirtschaftliche Modernisierung zerrinne, so die Bonn-Korrespondentin, »jedoch im Nichts, da das indische Volk sich jedes Jahr um jetzt 7 Millionen Menschen« vermehre, »und die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter über 40 %«64 ausmache. Die Journalistin betonte die Entsolidarisierung und kritisierte die drastische Zunahme der Korruption, sodass »selbst der kleinste Polizist nicht mehr frei davon ist.«65 Diesen Abschnitt unterstrich der für Indien und Pakistan zuständige Referent Dr. Dieter Müller-Wodarg.66 In der indonesischen Hauptstadt Djakarta traf Deutschkron den Botschafter Dietrich Freiherr von Mirbach67 und dessen Presseattaché Dr. Walter Froewis.68 Sie war in Begleitung von Aboe Bakar Loebis69 , den sie aus ihrer Zeit bei der Sozialistischen Internationalen in London kannte. Loebis hatte zu Beginn der 1950er Jahre drei Jahre lang in der indonesischen Botschaft in Bonn gearbeitet und war inzwischen Abteilungsleiter für die Ostblockstaaten des indonesischen Außenministeriums.70 In dessen Anwesenheit sei Froewis auf Deutsch über die »primitive Lebensweise der Indonesier« hergezogen und habe seiner Verachtung über »die undisziplinierten Menschen« Ausdruck gegeben. Er bezeichnete etwa das gekachelte Badezimmer als »eines Botschafters unwürdig.«71 Froewis fehle kulturelles Feingefühl. Darüber ärgerte sich Deutschkron und betonte, dass ein solcher, ziemlich unvorbereiteter Ortswechsel – von San Francisco nach Djakarta – »wie bewiesen,
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Ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Ebd., S. 4. BArch Koblenz, B 145/5610, Presse- und Informationsamt, IV/7, Dr. Dieter Müller-Wodarg an (Leiter der Abteilung Asien), Dr. (Gerhard) Krause-Brewer, Betr.: Verteiler für Reisebericht Inge Deutschkron, Bonn, 12.2.1960, S. 1. Vgl. Eintrag »Mirbach, Dietrich Freiherr von« in Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: www.munzinger.de/document/00000008754 [letzter Zugriff 12.11.2019]. Damit ist Dr. Walter Fröwis gemeint, der spätestens 1964 als Indonesien-Referent im Auswärtigen Amt in Bonn tätig war. Vgl. Tömmel, Till Florian: Bonn, Jakarta und der Kalte Krieg. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Indonesien von 1952 bis 1973 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 116), Berlin/München 2018, S. 179. Zur Person Aboe Bakar Loebis vgl. Mrazek, Rudolf: Sjahrir. Politics and Exile in Indonesia, Ithaca 1994, S. 228; Legge, John David: Intellectuals and Nationalism in Indonesia. A Study of the Following Recruited by Sutan Sjahrir in Occupation Jakarta. Monograph Series. Ithaca 1988, S. 88; Kahin, George McTurnan: Nationalism and Revolution in Indonesia, Ithaca 1952. Zur Dekolonisation in Indonesien allgemein vgl. Nordholt, Henk Schulte: Indonesia in the 1950s. Nation, modernity, and the post-colonial state, in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 167 (2011) 4, S. 386-404, URL: https://www.jstor.org/stable/41329000 [letzter Zugriff 12.11.2019]. BArch Koblenz, B 145/5610, Inge Deutschkron, Reisebericht, Bonn, 27.1.1960, S. 15.
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nicht immer unserer Sache dient.«72 Welche Gemeinsamkeit behauptete Deutschkron in der Bezeichnung »unsere Sache«? Darin brachte sie ihr eigenes, praktisches und kulturelles Raumwissen in Südostasien mit der Neu-Verortung bundesrepublikanischer Außenpolitik und politischer Öffentlichkeitsarbeit zusammen. Südostasien hatte sich im Verlaufe der 1940er Jahre durch Revolutionen, Aufstände, militärische Auseinandersetzungen und Kriege um Ablösung von den Kolonialmächten stark verändert. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich in diesem vormals kolonialen Raum neu zu erfinden und zu ver-orten. »Unsere Sache« war für Deutschkron zunächst die Abwehr einer kommunistischen Über- und Inbesitznahme dieser jungen Nationalstaaten. Sie rückte die Förderung einer parlamentarischen Demokratie und die Verminderung der sozialen Ungleichheit in den sich de-kolonisierenden Gesellschaften in den Mittelpunkt. Sie sprach von der Bundesrepublik Deutschland, die den Status eines neuen Gastes in dieser Region reklamieren möge. Der junge westdeutsche Teilstaat musste dieses Ansinnen in diesen Ländern erst noch bekräftigen. Sie verwies auf die Vertiefung von Kontakten zu denjenigen, die (außen-)politische Entscheidungen vorbereiteten und innerhalb des Außenministeriums sowie der Regierung durchzusetzen halfen. Loebis’ »bewußter politischer Einstellung« sei es »zu danken«, erklärte Deutschkron in ihrem Report, dass »er kraft seines Amtes in den Verhandlungen mit den Vertretern der DDR eine Festigkeit an den Tag« legte, »wie es die Bundesrepublik sie normalerweise in Indonesien kaum erhoffen dürfte.«73 Der indonesische Politiker war pro-westlich ausgerichtet, befürwortete eine liberale parlamentarische Demokratie. Dieses Verständnis von Antikommunismus teilten er und Deutschkron. Darin ließen sich Vorstellungen von ökonomischer Modernisierung, der Beteiligung ethnischer Minderheiten und sozial benachteiligter Schichten durchaus einfügen. Müller-Wodarg ignorierte die schlechten Umgangsformen des Pressestellenleiters in Djakarta und hob stattdessen die Ausführungen der Publizistin zum sprunghaften Wachstum der Bevölkerung und über die Allgegenwart von Korruption im öffentlichen Leben hervor.74 Der Asienreferent empfahl eine auszugsweise Unterrichtung anderer Abteilungen des Presse- und Informationsamtes.75 In den Mittelpunkt rückten dabei Deutschkrons Einschätzungen über die Tauglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf Deutschland und die BerlinFrage im Ausland. Das betraf deren Wirksamkeit, die eingesetzten Werbemittel, 72 73 74 75
Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 4. BArch Koblenz, B 145/5610, Presse- und Informationsamt, IV/7, Dr. Dieter Müller-Wodarg an (Leiter der Abteilung Asien), Dr. (Gerhard) Krause-Brewer, Betr.: Verteiler für Reisebericht Inge Deutschkron, Bonn, 12.2.1960, S. 1. Auszugsweise Unterrichtung, Dr. Ritter, Neu Delhi, S. 14-15, Seiten 16-21 für Referat IV/1, Seiten 19-21 für Referat III/2, zusätzlich zur Kenntnis von Herr Thiel, Frl. Dr. Grütter.
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die Reichweitensteigerung bei bestimmten Zielgruppen sowie die Belegung von Informationskanälen. Die Ver-Ortung der Bundesrepublik, wie sie sich die Länderabteilungen des Auswärtigen Amtes sowie des Presse- und Informationsamtes vorstellten, befand sich weit entfernt von der tatsächlichen Nachfrage in den jeweiligen Regionen. Deutschkron folgerte: »Das von den westdeutschen Vertretungen verteilte Propagandamaterial sollte mehr als bisher auf die Mentalität der Völker eingehen, die es ansprechen will.«76 Die Bonner Zentrale ließ Informationsschriften verfassen und gestalten, die denselben Inhalt besaßen, jedoch für viele unterschiedliche Länder bestimmt waren. Für Deutschkron war das »offensichtlich Massenproduktion.« Insbesondere kritisierte die Bonn-Korrespondentin eine Berlin-Broschüre. Kein einziges Bild unterbreche »die monotone Darstellung der Probleme. […] Derartige Litaneien wird kaum jemand in diesen Ländern in die Hand nehmen«77 und sich wohl auch nicht ernsthaft damit auseinandersetzen. Die Journalistin war der Ansicht, dass eines »der wirksamsten Propagandamittel […] m. E, ein Deutschlandkalender [Herv. im Original unterstrichen, HS]«78 sei, schließlich schmückten Kalender zumindest eine Wand in jedem Haushalt in Indien und Indonesien – gerade dann, wenn es in den Wohnräumen kaum Möbel gebe. Die Auslandsvertretungen könnten »Tisch- oder Taschenkalender mit Bildern und Erklärungen über Deutschland für Journalisten, Professoren usw.«79 herausgeben und an diese Multiplikatorinnen und Multiplikatoren verteilen. Damit zeigte sie andere Verbreitungswege für Informationsmaterialien auf, als sie die vermeintlichen Experten für Öffentlichkeitsarbeit im Ausland bisher ins Auge gefasst und in Werbemaßnahmen umgesetzt hatten. Anscheinend war im Auswärtigen Amt, in den Botschaften und im Presse- und Informationsamt niemand auf diese Idee gekommen. »Am sinnlosesten erschien« Deutschkron eine Dia-Folge, die sie sich im Konsulat Madras angesehen hatte. »Diese Art der Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschland wird kaum den gewünschten Erfolg haben, denn die aufmarschierende FDJ wird in diesen Ländern kaum Abscheu hervorrufen, eher Bewunderung für die schmucken Uniformen und die vielgepriesene deutsche Disziplin.«80 Die Ästhetik von Formationen, von Ordnung und Geschlossenheit hatte die nationalsozialistische Propaganda bildlich in Szene gesetzt und diese Inszenierungen über die Bild- und Nachrichtenagenturen global verbreitet. Auf eine Gleichsetzung zwischen Nationalsozialismus und dem sozialistischen Teilstaat spielte diese Darstellung an. Sie war jedoch in anderen Ländern vielfältiger lesbar und durchaus ab-
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BArch Koblenz, B 145/5610, Inge Deutschkron, Reisebericht, Bonn, 27.1.1960, S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17.
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weichend von dem Narrativ zu entziffern, welches die Anstrengungen der bundesrepublikanischen Öffentlichkeitsarbeit im Ausland bemühten. »Man sollte bei der Abfassung von Propagandamaterial davon ausgehen«, riet die Korrespondentin, dass insbesondere in Indien, Birma und Indonesien »die Deutschland-Kenntnisse überaus verworren und gering« seien. Bei einem Interview, das Deutschkron einer englisch-sprachigen Tageszeitung in Bombay gab, fragte sie ihr Gesprächspartner, »ob Bonn in Ost- oder Westdeutschland läge.«81 Deutschkron bemerkte zum Abschluss ihres Reiseberichtes, was sie bereits 1954 »unter dem Eindruck der Millionenmassen untätiger, hungernder Menschen und der überaus günstigen Position des Kommunismus«82 in Südostasien ausgemacht hatte. Das habe sich in den zurückliegenden fünf Jahren keineswegs verändert. Diese Bindungen reichten ihrer Ansicht nach bis in die 1920er Jahre zurück, als die Kommunistische Internationale »den Freiheitskampf der Kolonialvölker« unterstützte, »und es machte sich schon damals ein ideologischer Einfluß der Kommunisten bemerkbar.«83 Dieser Freiheitskampf richtete sich zunächst gegen die niederländische Kolonialverwaltung, dann gegen die japanischen Besatzer sowie nach 1945 gegen die Wiedererrichtung einer kolonialen Ordnung durch die Niederländer: »Ginge Südostasien an den Kommunismus verloren, dann dürften ihm die jungen Völker Afrikas auf diesem Wege folgen. Der Westen hätte damit nicht nur die [eine] Schlacht verloren, sondern die entscheidende Runde im Vormarsch des Weltkommunismus.«84 Mit diesem antikommunistischen Grundton schloss Deutschkron ihre Ausführungen. Damit machte sie ein Angebot zu einer möglichen Übereinstimmung in der Bewertung. Auf jenen »Westen« setzte Deutschkron, gerade mit Blick auf die ideologische Neu-Aufteilung dieses post-kolonialen Raumes in Südostasien. Die Informationsarbeit in Südostasien zeigte sich in Deutschkrons Analyse mit zahlreichen Schwächen und Kommunikationsdefiziten behaftet. Eine Ver-ortung als Bundesrepublik Deutschland hatte dort noch nicht begonnen.
4.
Bundesrepublik – Afrika – Asien. Raumerschließungen
Für den Gesandten in Windhuk und die Öffentlichkeitsarbeiter im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sowie des Auswärtigen Amtes war »SüdWestafrika« in den 1950er Jahren noch auf einer mentalen Karte des Deutschen Reiches eingezeichnet. Dieser Vorstellung hing auch ein nicht zu unterschätzender Teil der westdeutschen Öffentlichkeit nach, welche Rolf Italiaander in seinen mit 81 82 83 84
Ebd., S. 17. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28.
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Zitaten und Auszügen aus Interviews versehenen fiktionalen Reise-Sachbüchern bediente. Afrika war bei ihm ein Raum, in welchem sich koloniale Imaginationen und Praktiken weiter pflegen ließen. Der Reiseschriftsteller bekräftigte die weiße Vorherrschaft, indem er die de-kolonialen Ablösungen in den westafrikanischen und subsaharischen Ländern als kommunistische Gefährdung erfasste. Afrika war für ihn ein mentaler Raum, der auf neue Erschließungen wartete – und von dem aus er über (west-)europäische Annäherungen zwischen souveränen Nationalstaaten spekulierte. Er sah in der Bundesrepublik Deutschland einen gleichrangigen Mitspieler. Die Bonn-Korrespondentin Deutschkron benannte die Herausforderungen, auf welche die kommunistischen Bewegungen – im Gegensatz zum »Westen« – in Indien, Birma und Indonesien andere Antworten fanden. Gegenüber der AsienAbteilung des Presse- und Informationsamtes stellte sie die von der außenpolitischen Grundlinie Walter Hallsteins geprägten Bemühungen um die Nichtanerkennung der DDR und die Ausklammerung des sozialistischen deutschen Teilstaates heraus. Die Holocaust-Überlebende hielt viel von Kontaktpflege und nachdrücklicher Überzeugungsarbeit in den post-kolonialen Gesellschaften Südostasiens und sehr wenig von (außen-)politischen Selbstinszenierungen, aggressiven Interventionen oder bundesrepublikanischen Nabelschauen. Darin unterschieden sich die beiden Publizisten deutlich voneinander. Den Propagandamaterialien für diese Länder maß sie mangelnde kulturelle Übersetzungsleistungen bei, schließlich war der mentale Ort des bundesrepublikanischen Antikommunismus außerhalb Bonns durchaus verschieden zu entziffern und zu verstehen. Deutschkrons Außenblick auf die Kommunikationswege und -mittel der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit benannte Fehlstellen, die tief in den Betrachtungs- und Bewertungsweisen der jeweiligen Regionen- und Länderreferate sowie der Botschaftsmitarbeitenden verankert waren. Deren kolonialer Blick blieb geschärft, jedoch griffen die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen nicht mehr. Neu gebildete Nationalstaaten verschoben die (geo-)politischen Raumverhältnisse. Das bislang daran gekoppelte Wissen über diese sozialen, kulturellen und ökonomischen Räume erwies sich deshalb nur noch als bedingt gültig. Angewendet wurde es dennoch. Die konsularischen Einschätzungen von Italiaanders Reisen zeigten dagegen die Beharrungskräfte von kolonialen Ver-Ortungen, die weit in die Zwischenkriegszeit zurückreichten. Die semantischen Raumdeutungen, die sich aus diesen Praktiken und Wissensbeständen ergaben, wiesen deutliche Spuren von fortgeschriebenen, übernommenen und für gültig erachteten kolonialen Erinnerungen auf. Gleichzeitig boten sie Ansatzpunkte für ein Engagement bei der neuerlichen Aufteilung dieser geografischen Räume, weil diese nicht eindeutig »dem »Westen« oder »dem »Osten« zuzuordnen waren. Die sprachlichen Zeichen des Antikommunismus dienten dabei einer diskursiven Übersetzung solcher kognitiven Landkarten. Die Abwehrbemühungen der europäischen Kolonialmächte
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ließen sich mit einer vermeintlichen kommunistischen Besitznahme der sich de-kolonisierenden Nationalstaaten begründen. Die nach Afrika und nach Asien kommunizierten »Bildern von Deutschland« waren widersprüchlich, uneinheitlich und brüchig. Die von dort zurückgespiegelten Wahrnehmungen eines vieldeutigen, geteilten Deutschlands sowie eines konturlosen Westdeutschlands gaben diese Unklarheit wieder. Wo lag also »Bonn«? Nirgends. Es hatte noch keinen Ort erhalten, keine Ver-Ortung erfahren. In die antikommunistischen Rahmungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre ließen sich jedenfalls alte, in die Zwischenkriegszeit – und bis ins Deutsche Kaiserreich – zurückreichende geopolitische Interessen und koloniale Erinnerungen genauso einfügen wie konservative, freiheitliche, liberale und sozialdemokratische Verständigungen über die weltpolitischen Verschiebungen in Asien und in Afrika. Auf den mentalen Landkarten bundesrepublikanischer Akteure, zumindest in den Fachabteilungen des Presse- und Informationsamtes und des Auswärtigen Amtes, hatte Afrika einen Platz, und zwar weil sich daran ein eigenes, ›deutsches‹ koloniales Gestern abbilden, erinnern und in der Gegenwart immer wieder vor Augen führen ließ. Das bot Raum für die Selbstverortungen dieser Institutionen. Rolf Italiaander betrachtete die dortigen Veränderungen mit einem, rassische und kulturelle Unterschiede hervorhebenden kolonialen Blick. Das war ein Weg der Hinwendung, der in der Nachkriegszeit weiterhin populär blieb und im Schriftwechsel zwischen Auswärtigem Amt und dem Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung keine kritische Beleuchtung erfuhr. Italiaanders Afrikabilder passten zu deren Kommunikations-, Sprech- und Denkweisen. In Asien, genauer gesagt in Indien, Pakistan, Burma, Indonesien oder Thailand, fehlten ›deutsche‹ koloniale Erfahrungen und Bindungen. Es gab die Vergangenheiten der konfessionellen Mission in Südostasien und die geopolitischen Raumkonzeptionen der deutschen Außenpolitik in der Ära der nationalsozialistischen Außenminister Konstantin von Neurath und Joachim von Ribbentrop. Diese boten sich als Anknüpfungspunkte an. Die abwesenden kolonialen Spuren Deutschlands erlaubten keinen narrativen Zugriff, um die Bemühungen um diplomatische Annäherungen in einer Erzählung der freien Welt des demokratrischen Westens fortzuschreiben. Die staatliche Öffentlichkeitsarbeit der Bundesrepublik Deutschland im Ausland bemühte sich, die antikommunistische Abgrenzung gegenüber dem anderen sozialistischen deutschen Staat herauszuheben, die Gleichsetzung der nationalsozialistischen mit der sozialistischen Diktatur zu kommunizieren sowie ihre Erzählung der geteilten Stadt Berlin zu verbreiten. Mit dieser deutschen Nabelschau ließ sich in der ›Welt‹ kaum Widerhall erzeugen. Inge Deutschkrons Reisebericht verdeutlichte dies sehr drastisch. Die ursprünglich beabsichtigten Kommunikationsinhalte – also die westdeutsche Blickrichtung – brachen sich an den jeweiligen kulturellen, sozialen, medialen und politischen Kontexten. Die Bilder von so-
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zialistischen Massendemonstrationen und -umzügen erzählten von Ordnung und ließen sich positiv in die Stereotypisierungen von Deutschland einfügen. Damit war wenig gewonnen und keine visuelle und semantische Abgrenzung gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik erreicht. Publizistische Raumerschließungen der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit in Asien und Afrika folgten kolonialen Blicken und bezogen sich auf unsichere (Selbst-)Verortungen. Die Außendarstellung der Bundesrepublik in diesen Weltregionen, maßgeblich finanziert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und durch das Auswärtige Amt, löste sich bis Anfang der 1960er Jahre gerade nicht von den kolonialen Bilderwelten und Sprechweisen der Zwischenkriegszeit. Die Institutionen hatten sich noch nicht einmal auf einen solchen Weg begeben, weil eine eigenständige Ver-Ortung als Bundesrepublik Deutschland fehlte. Die außenpolitische Öffentlichkeitsarbeit steckte noch tief im Propagandawissen und in den kolonialen Raumfiktionen der Vergangenheit fest.
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1.
»Stauferitis«
»Die Zeit der Staufer« lautete der Titel einer Großausstellung, die anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Bundeslandes Baden-Württemberg am 25. März 1977 in Stuttgart eröffnet wurde. Die Schau würdigte den 1952 vollzogenen Zusammenschluss der Länder Württemberg-Hohenzollern, Baden und Württemberg-Baden und es konnte dazu kein größer dimensionierter Rahmen gewählt werden als der Rückblick auf das Hochmittelalter im 12. und 13. Jahrhundert. Das Herrschergeschlecht der Staufer erschien als bundesdeutsche Vorgeschichte, die auf der Burg Hohenstaufen am Nordrand der Schwäbischen Alp bei Göppingen in der Nähe von Stuttgart vor 700 Jahren vermeintlich ihren Anfang nahm. Das Gründungsjubiläum war keine Bilanz der zurückliegenden Aufbaujahre in der Nachkriegszeit, in der sich Baden-Württemberg »rasch zu einem gesunden und blühenden Bundesland von ausgewogener, kräftiger und krisenfester Struktur entwickelt hatte«, wie der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung betonte.1 Die Staufer-Ausstellung zielte nicht auf die jüngere politische Geschichte des Bundeslandes, sondern auf eine Verortung Baden-Württembergs und der Bundesrepublik Deutschlands in der »Weltgeschichte« Europas und der Deutschen.2 Was auf den ersten Blick als Rhetorik einer überschwänglichen Festrede erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als Element einer bisher nicht vergleichend betrachteten, politisch brisanten Bild- und Ideengeschichte konservativer weltgeschichtlicher Zeitdiagnostik in der Bundesrepublik. Nicht nur der historische Kontext, auch der kuratorische Aufwand war beispiellos. »So ausgiebig«, urteilte der Spiegel im März 1977 über das Stuttgarter Pres1 2
Filbinger, Hans: »Vom Sinn der Ausstellung«, in: Reiner Hausherr (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, Bd. 1, Stuttgart 1977, S. V-X, hier S.V. Ebd., S. VIII.
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tigeprojekt, »war dieser Geschichtsabschnitt, ein Glanz- und Wendepunkt deutscher wie europäischer Historie, noch nie veranschaulicht«.3 Doch nicht als wissenschaftliche Leistung wurde die Staufer-Ausstellung zu einem zeit- und kulturhistorischen Symbol.4 Wegen ihres ungewöhnlichen, selbst auch vielfach zu Zeitdiagnosen Anlass gebenden grandiosen Erfolges beim Publikum ging die Schau als »Stauferitis« in die Geschichte der Bundesrepublik ein.5 Bis zum 5. Juni 1977 waren in 72 Öffnungstagen 675.000 Besucher nach Stuttgart gekommen, eine Zahl, die nicht nur wegen der ursprünglich geplanten und erhofften 300.000 erstaunt. Verglichen mit ähnlich großen Formaten wie der Ausstellung »Preußen – Versuch einer Bilanz« in Berlin 1981 mit 450.000 verkauften Tickets oder der Kasseler »documenta«, die 1977 noch bei einer Besucherzahl von nur 343.410 lag, war »Die Zeit der Staufer« in demselben Jahr mit knapp 700.000 Gästen in zweieinhalb Monaten die meistbesuchte Ausstellung der alten Bundesrepublik. Der gewichtige, drei Text- und Bildbände sowie eine Kartenmappe umfassende Katalog wurde zu einem Bestseller, dessen Auflage sich von anfänglichen 20.000 schließlich auf sagenhafte 153.000 Exemplare nach oben schraubte.6 »Viele der heutigen staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen haben ihre ersten Wurzeln in der Zeit der Staufer. Unsere heimatliche Kulturlandschaft hat in dieser Zeit entscheidende Prägungen empfangen«, gab Filbinger zur Ausstellungseröffnung den Besuchern mit auf den Weg. Doch schon der Charakter des umfangreichen Kartenmaterials des Katalogs deutet an, dass die Staufer-Ausstellung als weltgeschichtlicher Blick zurück nach vorn nicht als kulturgeschichtliche oder gar institutionsgeschichtliche Archäologie der Bundesrepublik gelten konnte. Die Karten über die wechselnden Aufenthaltsorte der staufischen Kaiser oder die über ganz Mitteleuropa verstreuten Münzprägestätten der Stauferzeit unterscheiden sich so stark von der gängigen politischen Kartographie etwa in Putzgers Historischem Weltatlas, dass sich mit der Schau von 1977 auch eine andere Vorstellung historischer Räume zu verbinden schien. In diesen kartographischen Räumen sollte offenkundig eine alternative Zeit zu lesen sein.7 So sekundierte Fil3
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O.A.: »Hoch hinauf. In Stuttgart wird zum 25jährigen Staatsjubiläum die ›Zeit der Staufer‹ als glanzvolles Geschichts- und Kunstpanorama ausgestellt«, in: Der Spiegel vom 21.03.1977, S. 202. Vgl. Georgen, Helga: »Geschichte als Kontinuität der Sieger. – Zur Ausstellung ›Die Zeit der Staufer«, in: Kritische Berichte 4-5 (1977), S. 73-83 und Grape, Wolfgang: »Staufische Blüten«, in: Kritische Berichte 1-2 (1978), S. 68-89. Schneider, Helmut: »Schwabenträume gestern und heute. In Stuttgart wurde die große Ausstellung ›Zeit der Staufer‹ eröffnet«, in: Die Zeit vom 8.04.1977. Vgl. Elke Gerhold-Knittel: »Bericht über eine Ausstellung«, Reiner Hausherr (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, Bd. 5 Supplement: Vorträge und Forschungen, Stuttgart 1977, S. 621-626. Vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.
Die Lage der Nation
bingers Worten über »unsere Vorfahren im 12. und 13. Jahrhundert«8 der bedeutende Mediävist und Kurator der Staufer-Ausstellung Arno Borst mit der Einschätzung des Ausstellungserfolges als einem Zeit-Zeichen der »Suche nach verschütteten Bereichen der Menschlichkeit«. Die Bemerkung bezog sich zweifellos auf den eskalierenden Terror der RAF. Die erschütternden Attentate auf Siegfried Buback am 7. April, auf Jürgen Ponto am 30. Juli und die Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer im so genannten »Deutschen Herbst« 1977 fanden praktisch parallel zu der immer lebhafter werdenden Staufer-Begeisterung der Bundesbürger statt.9 Die seltsame Nachbarschaft des Publikumsmagneten im Stuttgarter Landesmuseum und der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim wird in keiner Ausstellungsbesprechung unmittelbar erwähnt. Doch atmosphärisch wurden auch die FAZ und die Zeit zu Betrachtungen über den Ausstellungserfolg als Zeitgeist einer durch die terroristische Bedrohung zutiefst aufgewühlten bürgerlichen Mitte und ihrer Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« als Weltflucht in der »Bleiernen Zeit« veranlasst.10 Wegen ihres Erfolges wurde die im »Deutschen Herbst« stattfindende Schau über das deutsche Mittelalter zum Gegenstand von Zeitdiagnostiken. Bislang unkommentiert blieb, dass dieser Ausstellung von 1977 als einer Art weltgeschichtlicher, damit die demokratische Entwicklung der Nachkriegszeit auch nivellierender Perspektive auf die Bundesrepublik unmittelbar selbst ein – politisch problematisches – Konzept der Zeitdiagnostik eingeschrieben war. Der analytische Rückblick darauf lohnt deshalb, weil nach diesem Muster, d.h. mit Bezug auf die größeren und daher scheinbar historisch gerechteren Räume der Weltgeschichte, in jüngerer Zeit erneut die NS-Vergangenheit relativiert wurde.11 In Gestalt der aufwendigen und stark publikumswirksamen Ausstellung und der Kataloge über »Die Zeit der Staufer« von 1977 entwickelte diese weltgeschichtliche Verortung der Bundesrepublik ein noch unbeachtetes Nachleben. In der Bildgeschichte der geopolitischen Kartographie ist dieser ebenso pathetische wie distanzierte, konservative Blick der Weltgeschichte auf die Bundesrepublik seit deren Anfängen als Vorleben zu beobachten.
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Filbinger: Ausstellung, S. VI. Borst, Arno: »Die Staufer und kein Ende?« (1977), in: ders.: Reden über die Staufer, Frankfurt 1978, S. 179-188., hier S. 183. Heimrich, Bernhard: »Die Sehnsucht nach gestern,« in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.05.1977, S. 1. Mudra, Kai: »Für Gauland ist Hitler nur ein ›Vogelschiss‹ der Geschichte«, in: Berliner Morgenpost vom 02.06.2018.
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2.
Deutsche Apokalypsen
Den 1977 besonders öffentlichkeitswirksamen welthistorischen Blick auf die Bundesrepublik setzte der 1984 erschienene Band Im Schatten der Apokalypse. Zur deutschen Lage von Mohammed Rassem fort. Die Staufer-Ausstellung erscheint hier als Topos. Zugleich ist der national-konservative Essay sprachlich und bildlich eine Art »Blackbox« von Etappen und Impulsen jener Grundhaltung, die schließlich auch der Erfolgsausstellung von 1977 intendiert war. In seiner essayistischen Deutung greift Rassem umfänglich auf frühere, seit der Nachkriegszeit immer wieder unternommene weltgeschichtliche Verortungen der Bundesrepublik in Wort und Bild zurück. Vor allem die dem Essay beigegebenen Bilder in Form von geopolitischen Karten lassen eine Archäologie dieser Betrachtungen der zeitlichen und räumlichen Lage der Bundesrepublik aus welthistorischer Perspektive zu. Fast scheint es, als wollte sich der Band durch diese Genealogie in eine bestimmte Ideengeschichte des Konservatismus in der Bundesrepublik stellen, um so als vertrauenswürdige ideelle Orientierung zu gelten. Auch damit hätte Rassem, als Sohn eines ägyptischen Staatsbeamten 1922 in München geboren und ab 1968 Professor für Soziologie in Salzburg, durchaus dem Konzept der Reihe Herkunft und Zukunft, in der die »Gelegenheitsschrift« erschienen ist, entsprochen.12 »Die Reihe«, stellten die Herausgeber Friedrich H. Tenbruck, Nikolaus Lobkowicz, Hermann Lübbe, Thomas Nipperdey und Matthias Schramm den Bänden von Herkunft und Zukunft voran, »will einen Beitrag zur Bewältigung jener geistigen Orientierungskrise leisten, die durch den Fortschritt der Daseinsrationalisierung ausgelöst wird«.13 Dass sich diese modernekritischen Ambitionen nicht auf die politischen und soziokulturellen Verhältnisse der Bundesrepublik allein beschränkten, wies die Reihe zunächst auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild aus. Der anfängliche modernistische Auftritt der ab 1983 in dichter Folge erscheinenden Hefte als sportliches Paperback in einem grün-grauen Cover mit dynamischen Pfeilen und dem Globus als Piktogramm wich jedoch bald einem bilderlosen klassizistischen Layout mit Einfassungslinie und Antiqua-Schrift. Mit diesem Design-Wechsel kam die konservative Schriftenreihe auch formal zu sich selbst. Weitere hier erschienene Titel wie Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen von Friedrich H. Tenbruck (Bd. 2, 1984), Die Kirche im Zeitalter der Kulturrevolution von Helmut Kuhn (Bd. 6, 1986) oder Tod der Erotik. Versuch einer Bilanz der sexuellen Revolution von Werner Ross (Bd. 8, 1986) belegen eine durchgehende enge Entsprechung von Kulturkritik und Zeitdiagnostik. Rassems zeitdiagnostische Überlegungen zur »deutschen Lage« stechen hier lediglich ihrer weltgeschichtlichen Diktion wegen 12 13
Rassem, Mohammed: Im Schatten der Apokalypse. Zur deutschen Lage (Herkunft und Zukunft, Bd. 5), Graz 1984, S. 7 Ebd., Klappentext.
Die Lage der Nation
hervor. Explizit gegen die vermeintlich »[…] zu bloßen äußeren Umständen entleerten [Lebensverhältnisse]« und »weit verbreitete Entfremdungs- und Sinnlosigkeitserlebnisse« gerichtet,14 korrespondieren die Bände insgesamt mit jenem Habitus des Unbehagens an der Gegenwart, das 1977 die Ausstellung über die StauferZeit beim Publikum zu einem Rekord-Erfolg hatte werden lassen. Die damals wirksame Modernekritik potenzierte der Postmodernismus ab Anfang der 1980er Jahre durch das starke Aufleben des Genres der Zeitdiagnostik.15 In diesem Ensemble repräsentiert die Reihe Herkunft und Zukunft und besonders der 1984 erschienene Apokalypse-Band von Mohammed Rassem die Kontinuität jenes von Jürgen Habermas so genannten »Altkonservatismus«, der die Moderne ebenso ablehnt wie die »jungkonservative« Postmoderne.16 Rassems Apokalypse-Essay, die Ausarbeitung eines 1980 in der national-konservativen Zeitschrift Criticon erschienenen Artikels,17 nimmt das neue postmoderne Pathos der Kulturkritik durchaus auf, verbindet sie durch die weltgeschichtliche Gegenwartsanalyse jedoch mit Erinnerungen an ein gerade auch in der Moderne anhaltendes metaphysisches Bedürfnis. Daher ist der Verweis auf die »zahlreichen ausländischen Gäste und mindestens eine halbe Million Bürger der Bundesrepublik Deutschland« als Besucher der Staufer-Schau von 1977 bei Rassem fast obligatorisch.18 Der damalige Ausstellungserfolg scheint Mutmaßungen über ein neues breites Interesse an Geschichte und Geschichtlichkeit in der Bundesrepublik zu einer Gewissheit gemacht zu haben. Zugleich heischt diese Deutung des massenhaften Erfolgs einer Mittelalter-Ausstellung die Bestätigung völkischer Prämissen. »Den Völkern genügt es nicht, nur fünf Generationen zu überblicken«, heißt es ähnlich wie bei Filbinger 1977 auch bei Rassem 1984 über die Bundesbürger als deutsches Volk. »Sie sind auf der Suche nach Ahnen und sie bringen die Urzeit zur Sprache.«19 Vergleichbar sind die von Filbinger angeregte Staufer-Schau von 1977 und das 1984 verfasste Panorama Rassems auch dadurch, dass in beiden Fällen weltgeschichtliche Rückbezüge über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg nicht nur auf eine scheinbare national-völkische Kontinuität abzielten. Vielmehr sollte die zweifelhafte Erinnerung an eine historische deutsch-nationale »longue durée« mentale 14 15
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Ebd. Vgl. Probst, Jörg: »Stil(l)stand. Postmoderne als Zeitdiagnostik«, Vortrag am 07.02.2016 in der Reihe »Was ist Politik? Bilder und Ideen der interdisziplinären Forschung«, PhilippsUniversität Marburg [im Druck]. Vgl. Habermas, Jürgen: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Die Zeit vom 19.09.1980 und Mohler, Armin: »Was ist ›postmodern‹? Versuch der Topographie einer strahlenden Wolke«, in: Criticon 7-8 (1986), S. 157-161. Rassem, Mohammed: »Zerklüftung und Vermittlung. Ein Fragment zur deutschen Anamnese, ohne Prognose«, in: Criticon 60-61 (1980), S. 205-211. Rassem: Apokalypse, S. 26. Ebd., S. 24.
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Unterstützung bei der Regulierung und Bewältigung krisenhafter politischer Extremerfahrungen der Gegenwart bieten. Dabei war der Kontext des »Deutschen Herbstes« für die ab 1973 vorbereitete Ausstellung in Stuttgart erst im Augenblick ihrer Eröffnung und als Erklärung ihres großen Erfolges herzustellen. Als eine sehr kontemplative Parallele zur etwa zeitgleich sich organisierenden Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss hingegen nehmen die Ausführungen von Mohammed Rassem die aktuelle politische Situation nicht nur zeitdiagnostisch auf. Rassem wähnt die weltgeschichtliche Perspektive als eigentlichen Maßstab zur Einschätzung der Sachlage. So führten das nukleare Wettrüsten der Supermächte und die Aussicht auf ein Mitteleuropa als potentielles Schlachtfeld eines Atomkrieges Rassem zu Betrachtungen über den möglichen »Untergang der deutschen Welt«.20 Die Nähe zu dem typischen Denkstil einer seit Oswald Spengler und dessen Schrift Der Untergang des Abendlandes von 1918 im deutschen Konservatismus fortlebenden weltgeschichtlichen Zeitdiagnostik als einer Kopplung von völkischem Denken, politischer Konflikterfahrung und kulturhistorischer Spekulation war dabei alles andere als fatalistisch. Vielmehr folgte auch für Rassem aus der Perspektive einer welthistorischen Kulturkritik universelles geistespolitisches Orientierungswissen, wie auch immer die realpolitischen Aussichten beschaffen sein mochten. »So enthüllte sich denn auch«, so Rassem über die früheren Etappen der von ihm fortgesetzten national-völkischen weltgeschichtlichen Analytik, »ob der Geist und die Denktraditionen stark genug waren, das Volk richtig zu leiten.«21
3.
Ordnung als Ortung
Nur so ist zu erklären, dass Rassem eine weltgeschichtliche Zeitdiagnose als »richtige« ideelle Anleitung des deutschen Volkes im Kalten Krieg anstrebte und dabei immer noch oder erneut geopolitische Karten verwendete (Abb. 1+2). Im weiter gefassten kritischen bild- und ideengeschichtlichen Rückblick ist die Publikation von 1984 vor allem durch die Verwendung dieser Art von Bildern bemerkenswert. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Rassems Schrift war die in den 1920er Jahren entwickelte Kartographie der Geopolitik längst einer sehr wirksamen wissenschaftsgeschichtlichen und ideologiekritischen Revision unterzogen worden. Trotz oder gerade wegen ihrer wiederholten Problematisierung scheint Rassem dieser überholten Ikonographie die Treue zu halten. Im Kontext der Entwicklung der Kartographie in der Bundesrepublik ist allein schon die Verwendung von Kartenmaterial in einem eher abstrakt geschichtsphi20 21
Ebd., S. 9. Rassem: Apokalypse, S. 10.
Die Lage der Nation
Abbildungen 1 +2: Ordnung als Ortung
Reinhold Huemer, Europäische Hauptlandschaften und Brückenzonen (nach Jordis)/Gründungsphasen der westlichen Reiche (nach Mirgeler), aus: Rassem, Mohammed: Im Schatten der Apokalypse. Zur deutschen Lage, Graz: Stryria Verlag 1984, S. 13+39.
losophischen, visuelle geographische Konkretisierungen leicht erübrigenden Essay ein bildgeschichtlich weiterführendes Indiz. Die kartographische Bebilderung der Apokalypse-Schrift von 1984 überrascht wegen der Ungleichzeitigkeit obsoleter geopolitischer Visualisierungen, aber auch als Parallele zu der seinerzeit allgemein steigenden Präsenz von Kartenmaterial in der politischen Kommunikation. Rassem partizipierte mit seiner Affinität zu Karten an einem Trend, dessen politische Ausrichtung er ablehnte. Seit dem NATO-Doppelbeschluss im Dezember 1979 wurde die globalpolitische atomare Aufrüstung in der Bundesrepublik auch lebensweltlich greifbar. Die daraus entstehende Friedensbewegung ebenso wie die internationalen Beziehungen sind von einer Vielzahl von Publikationen begleitet, die mittels Diagrammkarten und globalpolitischen Mappen die neue Weltlage buchstäblich »vor Augen führen«. Die nukleare Zuspitzung der weltpolitischen Situation im Widerstreit der Supermächte, aber auch der Umweltschutz und der Kampf gegen die Atomenergie bewirkten eine Entgrenzung politischer Verantwortlichkeit, die auf engere nationale Räume nicht zu beschränken war. Durchgängig verwiesen diesbezüglich in Ost und West erscheinende Broschüren auf die weltumspannenden Strategien und die damit verbundenen globalen, d.h. auf Regionen oder Nationen nicht zu beschränkenden, Folgen z.B. eines Atomkrieges. Der neuen gedanklichen Herausforderung dieses Perspektivenwechsels, Loka-
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les global zu reflektieren, entsprach die Neuartigkeit und unkonventionelle Vielgestaltigkeit der kartographischen Mittel zum Zweck der leichter fasslichen Vergegenwärtigung komplexer globalpolitischer Zusammenhänge. Wie Krakenarme umgreifen die Flugbahnen moderner amerikanischer Marschflugkörper den Globus in einer sowjetischen Publikation von 1982 mit dem Titel Von wo die Gefahr für den Frieden ausgeht (Abb. 3). Wie seismische Wellen eines interkontinentalen Erdbebens visualisierte ein US-amerikanischer Reader über Das nukleare Kräfteverhältnis in Europa von 1983 die Reichweiten von sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen. Der einschlägige Bildatlas Die Aufrüstung der Welt von Michael Kidron und Dan Smith (engl. 1983/dt. 1983) machte sogar auf die globalen Folgen von KernwaffenTests aufmerksam. Demgegenüber wirken die etwa zeitgleich von Rassem in seine Schrift über die drohende atomare Apokalypse eingerückten geopolitischen Karten beinahe ignorant. Die Schrift heischt eine Zeitdiagnose der Welt im Atomzeitalter, verzichtet aber auf bildliche Darstellungen der atomaren Bedrohung. Die Karten in Rassems Apokalypse-Essay von 1984 sind nicht einmal neueren Datums, sondern optisch leicht aufgefrischte oder kompilierte Übernahmen aus Publikationen der 1960er und frühen 1970er Jahre. Fast scheint es, als sollte sich die unhintergehbare Gültigkeit der von Rassem angestrebten welthistorischen Verortung der Bundesrepublik auch in der Zeitlosigkeit der von ihm verwendeten Karten beweisen. Rassems Reproduktion älterer geopolitischer Karten in dem Essay von 1984 verwundert somit vor allem dadurch, dass diese speziellen, nach 1945 in der Bundesrepublik entworfenen Darstellungen Mitte der 1980 Jahre überhaupt noch vorkamen. »Ebenso vollständig wie der Bankrott des Dritten Reiches war der Konkurs seiner Geopolitik«, stellte der Geograph Peter Schöller in seiner einschlägigen Abrechnung mit der deutschen Geopolitik in der Zeitschrift Erdkunde 1957 fest. So sehr basierte das »Zeitalter des Nationalsozialismus« auf der Volk-ohne-Raum-Ideologie, so stark nahm die Geopolitik »mit ihrem Arsenal an Schlagworten, Suggestivkarten, unklaren Begriffen und Metaphern« in Propaganda und Schulungsarbeit des deutschen Faschismus eine »beherrschende Stellung« ein,22 dass dieses Raumdenken nach 1945 »obsolet, ein Tabu, fast anrüchig« wurde.23 Reich bebilderte, stets auf militärstrategische Lageanalysen abzielende Publikationen wie Deutschland und das Weltbild der Gegenwart von Adolf Grabowsky (1928),24 Das politische Erdbild der Gegenwart von Otto Maull (1931) und Weltpolitik von heute von Karl Haushofer (1934) belegen, dass die wirksame Kritik an der Geopolitik immer auch die Bildkritik einschließen musste. Umgekehrt konnte jede Fortführung dieser geopolitischen Bild-
22 23 24
Schöller, Peter: »Wege und Irrwege der politischen Geographie und Geopolitik«, in: Erdkunde 1 (1957), S. 1-20, hier S. 3 + 6. Schlögel: Im Raume, S. 52. Vgl. Probst, Jörg: Sehen und siegen. Die Bildgeschichte der Geopolitik und die Zukunft der »Marburger Schule« (Neue ideengeschichtliche Politikforschung, Bd. 2), Marburg 2012.
Die Lage der Nation
Abbildung 3: Ordnung als Ortung
Zeichner ungenannt, Einsatzplan für strategische Offensivkräfte der USA anhand der größten Kriegsübungen (1970 bis 1980), aus: Ministerium für Verteidigung der UdSSR (Hg.), Von wo die Gefahr für den Frieden ausgeht, Neuss: Plambeck & Co. Druck und Verlag, 1982, o.Z.
lichkeit z.B. von Richtungspfeilen als »raumgreifende Graphik« in so genannten »Bewegungskarten«, als politisches Statement gedeutet werden.25 Die von Rassem anerkennend wiedergegebenen, nach 1945 entstandenen deutschen geopolitischen Karten widersprachen schon in den 1950er Jahren sogar dem Reflexionsniveau damaliger Befürworter der Geopolitik. Intensiv setzten sich Blätter wie die 1951 wieder gegründete Zeitschrift für Geopolitik oder die 1953 gegründete Zeitschrift Gemeinschaft und Politik mit der möglichen Zukunft des national25
Warnke, Martin: »Raumgreifende Graphik«, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 1,1 – Bilder in Prozessen, Berlin 2003, S. 79-88, hier S. 85.
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völkischen Raumdenkens durch eine Erneuerung der Geopolitik auseinander. Die innere Verbindung von Geopolitik und Zeitdiagnostik zeigt sich auch darin, dass hier die Kritik Peter Schöllers als Indiz eines »naturwissenschaftlich interessierten Zeitgeistes« verworfen wurde. Doch auch Beobachter wie Rolf Hinder sahen deutlich, dass die »atomar-planetarische Revolution« durch Satelliten und Raketen der Geopolitik als »völkisch-staatlichen Überlegungen nur mehr unter Mitbedenken des Menschheitsganzen« eine Zukunft lässt.26 Selbst Carl Schmitt hatte angesichts der globalpolitischen Konfrontation von Supermächten in der 1950 veröffentlichten Schrift Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum über den gewandelten Zusammenhang von »Ordnung und Ortung« nachgedacht.27 Der Punkt wurde in der Zeitschrift Gemeinschaft und Politik 1956 in einem Artikel von Ernst von Loen über die »absolute Entortung des Kriegsschauplatzes« durch den »Einbruch der Atomrevolution« ausgiebig erwogen.28 Dieser Entortung zum Trotz hält Rassem in seinem Text über die nukleare Bedrohung Mitteleuropas an veralteten geopolitischen Karten fest. So, als würde die moderne Kriegstechnik erst recht kein Grund dafür sein, auf die scheinbar letztgültige völkische Ortung als politischer Ordnung zu verzichten. Die Skizzen von Gerhard Hubatschek zu einem Beitrag über »Deutschland und die militärstrategische Lage« in dem Sammelband Zur Lage der Nation von 1982 schließlich sprechen in Bezug auf die tendenziöse, in jeder Hinsicht konservative Kartographie Rassems eine besonders deutliche Bild-Sprache (Abb. 4). Als würde die neue »Lage« sogar ein neues Sehen erfordern, wird in dieser technischen Zeichnung auf die vertraute Bildlichkeit physischer Landkarten komplett verzichtet. Stattdessen wird der Konflikt als Diagramm gezeigt. Die Gewissheit der »Entortung« durch die atomare Bedrohung erweist sich in diesem Szenario schon darin, dass die beteiligten Staaten hier nicht in Form ihrer konkreten geographischen Grenzkonturen, sondern durch abstrakt-geometrische Grundfiguren verbildlicht werden. Wegen der globalen Zerstörungskraft der atomaren Kriegstechnik waren die Tage der alten, auf nationale Räume orientierten Geopolitik gezählt. Diese Tatsache stand auch Hubatschek als geistesverwandtem Autoren einer national-völkischen zeitdiagnostischen Publikation, die zeitgleich mit Rassems Apokalypse-Band von 1984 erschien, klar vor Augen.
26 27 28
Hinder, Rolf: Vom Sinn der modernen Geopolitik«, in: Zeitschrift für Geopolitik 1 (1958), S. 3538, hier S. 35 + 38. Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, S. 13. Loen, Ernst von: »Der Raumwandel des Krieges. Die Entortung des Kriegsschauplatzes«, in: Gemeinschaft und Politik 9 (1956), S. 23-27.
Die Lage der Nation
Abbildung 4: Ordnung als Ortung
Gerhard Hubatschek, Strategische Lage zur Zeit der »massiven Vergeltung«, aus: Jordis von Lohausen, Heinrich/Hubatschek, Gerhard/Groepper, Horst: Zur Lage der Nation, Krefeld: Sinus-Verlag 1982, S. 77.
4.
Europäisierungen
Kontraste unterschiedlicher visueller Argumentationen innerhalb einer geistespolitischen Konfliktpartei können wertvolle Anhaltspunkte für die Widersprüchlichkeit dieser Konfliktpartei sein.29 In diesem Sinne ist das plötzliche und scheinbar zeitverirrte Auftauchen eines bereits überwunden geglaubten Denkstils in Text oder Bild nicht nur der Willkür eines Autoren geschuldet. Rassems erratisch wirkender Text ist auch mehr oder anderes als ein zeitgeschichtliches Dokument der viel zitierten postmodernen »Beliebigkeit«. Vielmehr wird durch den Band Im Schatten der Apokalypse von 1984 eine Grundhaltung erneut beobachtbar, die wegen ihres bis dahin nur noch verstreuten Auftretens lediglich vergessen anstatt überwunden, allzu selbstsicher übersehen anstatt nachhaltig negiert worden war. Rassems Essay ist als Bündelung solcher Wege oder Schleichwege ein Archiv 29
Vgl. Maier, Martin G.: Deutscher Konservatismus nach 1968. Positionskämpfe, Begriffe und Rollenverständnis konservativer Intellektueller in ihrer Auseinandersetzung mit der Neuen Linken [im Druck].
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in eigener Sache. Vor allem die hier verwerteten Bildquellen sind Spuren der nur scheinbar verschwundenen, in verschiedenartiger Gestalt nach 1945 in der Bundesrepublik fortgeführten alten national-völkischen Geopolitik in kompakter Form. Als unfreiwillige wissens- und ideengeschichtliche Quelle klärt der Band auch darüber auf, dass sich die weltgeschichtliche Zeitdiagnostik der geopolitischen Kartographie auf eine eher geistespolitische Weise bedient. Die Bilder transportieren in diesem Fall keine »aktive« strategische Zeitdiagnostik im Sinne der militärischen Lageplanung oder gar Mobilisierung durch eine Querschnittsanalyse. Die Karten sind bei Rassem vielmehr Teil einer problematischen Selbstbesinnung durch eine »passive« welthistorische Zeitdiagnostik als Längsschnittanalyse der zu bewahrenden »natürlichen und geistigen Bindung« der Bundesrepublik an die völkische »Ordnung als Ortung«.30 Rassem, als Schüler des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (1896-1984) dessen extrem erfolgreiche modernekritische Schrift Verlust der Mitte (1948) variierend, entspricht mit seinem Erkenntnisinteresse an der »deutschen Struktur«31 den Längsschnittanalysen der in den 1950er Jahren populären weltgeschichtlichen Zeitdiagnostik.32 Sie kehrt als völkische Geopolitik aller Transformationen der Demokratie zum Trotz in der Bundesrepublik in wechselndem Gewand wieder. Die häufigste Camouflage dieses völkischen Denkens nach 1945 ist gewiss die Europäische Geschichte. Ein Beispiel dafür ist die von Rassem aufgenommene so genannte »Europäisierungs«-Karte über die »Gründungsphasen der westlichen Reiche« (Abb. 5) aus dem 1971 erschienenen Band Revision der europäischen Geschichte des Europa-Historikers Albert Mirgeler (1901-1979). Die Darstellung soll die »Bildung von Königreichen mit romverbundenen Erzbistümern« zeigen.33 Formal nehmen die winzigen schlangenartigen Pfeile in dieser Zeichnung sogar die für Bewegungsbilder der alten Geopolitik seit den 1920er Jahren so typischen Richtungspfeile wieder auf. Mit Mirgeler zitierte Rassem außerdem eine weitere Stimme der weltgeschichtlichen Zeitdiagnostik als Verortung der Gegenwart. »Die Bemühung um die europäische Geschichte«, lautet gleich der erste Satz in Mirgelers historisch weit gespannter Revision von 1971, »ist ein unerlässlicher Teil der uns auferlegten Standortnahme in der durch die Revolution der letzten Jahrhunderte erzeugten geistigen und sozialen Anarchie.«34 Wie für die Kuratoren der Staufer-Ausstellung 1977 entschieden auch für Mirgeler 1971 und Rassem 1984 Reichsgründungen vom 30 31 32 33 34
Loen, Ernst von: »Geopolitik oder Imperialismus? Vom planetarischen Machtdenken zum raumgesetzlichen Ordnungsdenken, in: Gemeinschaft und Politik 2 (1956), S. 19-24, hier S. 24. Rassem: Apokalypse, S. 30. Siedler, Wolf Jobst: Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen, München 2006, S. 359. Rassem: Apokalypse, S. 39. Mirgeler, Albert: Revision der europäischen Geschichte, Freiburg 1971, S. 9.
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Abbildung 5: Europäisierungen
Zeichner ungenannt, Gründungsphasen der westlichen Reiche, aus: Mirgeler, Albert: Revision der europäischen Geschichte, Freiburg: Herder Verlag 1971, S. 57.
6. bis zum 14. Jahrhundert in Europa über das »richtige« politische und soziokulturelle Selbst- und Weltverhältnis in der Bundesrepublik. Bis in die frühen 1950er Jahre führen Karten zurück, die Rassem dem 1979 erschienenen Band Mut zur Macht des österreichischen Generals Heinrich Jordis von Lohausen (1907-2002) entnahm. Die bei Rassem gedruckte Grafik mit dem Titel »Europäische Hauptlandschaften und Brückenzonen« ist aus zwei Karten Jordis von Lohausens amalgamiert. Aus dem einen Blatt übernahm Rassem für seine Europa-Karte die fett schwarzen Konturen. Sie sollen eine großräumige terrestrische Bestimmung deutscher Politik und Kultur veranschaulichen und bezeichnen auseinanderstrebende europäische Landschaften wie dem »Kernraum« zwischen Rhein und Pyrenäen, dem Donaukessel oder »Ostelbien« (Abb. 6). Aus dem anderen Blatt stammen die bei Rassem dunkel schraffierten Scheiben als Ortungen so
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genannter »Brückenzonen« (Abb. 7). Diese Markierungen z.B. über Gibraltar oder über dem Ärmelkanal sind bei Jordis von Lohausen noch wie leichte Zirkelschläge als einfache gestrichelte Kreise gegeben.
Abbildungen 6 +7: Europäisierungen
Heinrich Jordis von Lohausen, Die sechs Hauptlandschaften der europäischen Halbinsel/Subkontinent der Brückenschläge, aus: Jordis von Lohausen, Heinrich, Mut zur Macht. Denken in Kontinenten, Berg am See: Vowinckel Verlag 1981, S. 127+130.
Die Zeichnungen sind ein weiteres Indiz für das Nachleben national-völkischen Raumdenkens im Gewand der Europäischen Geschichte. Die Bilder verzichten ebenso wie die Karten im Katalog der Staufer-Schau auf politische Grenzen. Nicht im Sinne einer historisch-politischen Situation oder Konstellation, sondern als Position eines immer schon vorhandenen und daher immer schon Politik und Kultur prägenden terrestrischen Raumes soll die »Lage« hier aufgezeigt werden. Dass nicht der Raum den Staat, sondern der Staat in Gestalt der »geistigen und vor allem sozialen und wirtschaftlichen Gruppen und Klassen in ihren räumlichen Bezügen und Auswirkungen« den Raum prägt, hatte Peter Schöller 1957 bereits gegen die völkische Geopolitik als Kritik formuliert.35 Dass diese Kritik 1984 nicht einfach nur vergessen, sondern bereits 1979 in den Wind geschlagen worden war, beweisen die von Rassem kolportierten Karten Jordis von Lohausens. Die in dem Band Mut zur Macht von 1979 zusammengefassten, aber nicht näher datierten Texte und Karten waren zuvor schon einmal in den von der Österreichischen Landsmannschaft in Wien herausgegebenen Eckartschriften erschienen. Der früheste hier dokumentierte Vortrag stammt von 1962. Jordis von Lohausen kann damit auf den markanten Schlagabtausch zwischen Peter Schöller und Adolf Grabowsky wegen dessen 35
Schöller: Wege, S. 6.
Die Lage der Nation
1960 erschienener Monographie Raum, Staat und Gesellschaft. Grundlegung der Geopolitik im September 1962 in der Zeitschrift Erdkunde reagiert haben. Die von Schöller angeprangerten »Mystifikationen« der Geopolitik setzte Jordis von Lohausen 1962 unbekümmert fort.36
Abbildung 8: Europäisierungen
Eberhard Jagemann, Kreise geschichtlicher Kräfte, in: Jagemann, Eberhard: Die raumpolitischen Grundlagen Europas. Gesehen von einem Geopolitiker aus der Schule Albrecht Haushofers, Wolfshagen-Scharbeutz: Franz Westphal Verlag 1955, S. 75.
Bei genauerer Betrachtung dieser Karten kann sogar von einer Solidarisierung Jordis von Lohausens mit den von Schöller seinerzeit namentlich kritisierten Geopolitikern gesprochen werden. Durch Eberhard Jagemanns Kartensammlung Die raumpolitischen Grundlagen Europas. Gesehen von einem Geopolitiker aus der Schule Albrecht Haushofers von 1955 hatte sich Schöller mit einem Nachwuchs jener Geopolitik konfrontiert gesehen, deren »vollständigen Bankrott« er 1957 dann zu begründen versuchte.37 Jagemanns Karten dürften auch Jordis von Lohausen bekannt gewesen sein. Das zumindest legt die Ähnlichkeit der kreisförmigen Darstellungen »ge36 37
Schöller, Peter: »Über die ›Raumgebundenheit politischen Geschehens‹. Antwort auf Adolf Grabowsky«, in: Erdkunde 3 (1962), S. 219-220, hier S. 219. Schöller: Wege, S. 3, 5.
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schichtlicher Kräfte« im europäischen Raum bei Jagemann und der bei Jordis von Lohausen zu findenden Markierungen von europäischen Brückenzonen ebenfalls durch Einkreisungen nahe (Abb. 8). In einer – bei Rassem nicht aufgenommenen – Grafik Jordis von Lohausens über »Die russische Dampfwalze 1667-1945« (Abb. 9) und den welthistorisch betrachteten vermeintlichen Drang des Ostens nach Westen deutet sich eine weitere Parallele der oft reproduzierten Graphiken Jordis von Lohausens zu einer Zeichnung Jagemanns von 1955 an (Abb. 10). In Form einander überschneidender Korridore suggeriert auch hier eine geopolitische Karte weltgeschichtliche geistige »Strömungen«. Sie sollen nach Jagemann vom antiken Rom sowie von Moskau aus (und zwar seit 1452 wegen des Untergangs von Konstantinopel) auf die »Mittellage« an Rhein, Elbe und Donau einwirken. In Niederdeutschland, also etwa in der Höhe von Kiel, kreuzen sie sich schicksalshaft.
Abbildungen 9 +10: Europäisierungen
Heinrich Jordis von Lohausen, Drang nach Westen – Die Russische Dampfwalze 1667-1945, aus: Jordis von Lohausen, Heinrich, Mut zur Macht. Denken in Kontinenten, Berg am See: Vowinckel Verlag 1981, S. 299; Eberhard Jagemann, Geistesgeschichtliche Periodizität, in: Jagemann, Eberhard: Die raumpolitischen Grundlagen Europas. Gesehen von einem Geopolitiker aus der Schule Albrecht Haushofers, Wolfshagen-Scharbeutz: Franz Westphal Verlag 1955, S. 74.
Den genau umgekehrten Weg postulierte eine Grafik aus dem Band Warum ist Europa so? Eine Deutung aus Raum und Zeit des Historikers und Diplomaten Eugen Oskar Kossmann (1904-1998) von 1950 (Abb. 11). Das Blatt rückt durch seine geschwungene, entfernt an die in den 1950er Jahren modern werdenden Nierentische erinnernde Form in eine gewisse Nähe zur informellen Kunst der Nachkriegszeit. Doch auch diese modernistische, dynamisch wirkende Darstellung dokumentiert
Die Lage der Nation
das ungebrochene Fortdauern des weltgeschichtlichen Denkens in raumgreifenden Strömungen und Tendenzen in der Nachkriegszeit, trotz der nur wenige Jahre zurückliegenden verheerenden politischen Folgen des völkischen Großraumdenkens im Nationalsozialismus. Die beklemmende, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder die Kultivierung des slawischen Ostens fordernde Darstellung der »Hauptzugstraße der europäischen Geschichte« von Athen, Rom, Paris und Berlin nach Moskau belegt zugleich auch die seltsamen Wandlungen des Europadiskurses. Als Chiffre weltgeschichtlicher Zeitdiagnostik, das zeigen die Schriften Rassems, Mirgelers, Jordis von Lohausens, Jagemanns oder Kossmanns, werden europäische Werte und Ideen seit den 1950er Jahren mitunter dazu missbraucht, Gedankengut des völkischen Nationalismus in die Konzeption eines homogenen europäischen Kulturraums zu transformieren.38 Mit dem weit ausschwingenden
Abbildung 11: Europäisierungen
Zeichner ungenannt, Die Hauptzugstraße der europäischen Geschichte, in: Kossmann, Eugen Oskar: Warum ist Europa so? Eine Deutung aus Raum und Zeit, Stuttgart: Hirzel Verlag 1950, S. 281.
38
Vgl. Brinckmann, Albert Erich: Geist der Nationen. Italiener-Franzosen-Deutsche [1938], Hamburg 1949.
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Pfeil im Logo der Partei »Alternative für Deutschland« ist die Ikonologie der national-völkischen Geopolitik im Europadiskurs seit einigen Jahren erneut spukhaft wirksam.
5.
Weltgeschichte als Existenz
Das wohl bekannteste, in diesem Zusammenhang aber bisher unkommentiert gebliebene Beispiel einer Bild- und Ideengeschichte der Geopolitik nach 1945 in der Bundesrepublik ist das CDU-Wahlkampfplakat »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau« (Abb. 12) aus dem Bundestagswahlkampf von 1953. Die rotfarbigen Strahlen auf diesem Affiche erscheinen zunächst als Blicke, die der hypnotische Rotarmist im Hintergrund auf den Betrachter abschießt. Doch schon die Bildunterschrift über »alle Wege«, die – anders als in der sprichwörtlichen Redewendung – nicht nach Rom, sondern nach Moskau führen, trägt Spuren weltgeschichtlichen geopolitischen Denkens. Visuell sind die gefährlich roten Wege nach Moskau auf diesem Anschlag Entsprechungen jener von Schöller kritisierten Achsen, Pfeile und Vektoren geopolitischer Bewegungsbilder. Die auf dem Wahlkampfplakat als Routen oder Straßen zu deutenden roten Streifen sind bildgeschichtlich auch Stümpfe von Pfeilen, deren Spitzen außerhalb des Bildes liegen, also im Lebensraum des Beschauers längst angekommen sind. Eine dazu passende geopolitische Karte über die globale Strahlkraft der Sowjetunion erschien ebenfalls im Wahljahr 1953. Die Zeichnung mit dem Titel »Die Unruhe der Welt« (Abb. 13) zeigt den Erdball plastisch und in der Ansicht von schräg oben. Es entsteht der Eindruck eines Globus, den der Betrachter vor sich hin und her gedreht und beim Anblick der UdSSR zum Stehen gebracht hat. Im Gegensatz zu solchen Globen als geographisches Modell der Erde steht der polarisierende, politisch zuspitzende Stil der Kartenzeichnung. Signifikant dunkel gefärbt, erscheint das Territorium der Sowjetunion hier selbst im Jahr des Todes Stalins noch wie das Reich des Bösen. Die politische Macht des Landes symbolisieren die in Richtung Asien und den Pazifik sowie nach Europa zielenden, an scharfe Speere erinnernden Pfeile als Zeichen des aggressiven Versuchs des Einflusses auf diese Regionen. Das Bild begnügt sich dabei nicht mit einzelnen Pfeilen im Stil der geopolitischen Bewegungsbilder der 1920er Jahre. Vielmehr gehen in dieser Karte von den Grenzen im Südosten und im Westen der Sowjetunion dichte Bündel oder Spaliere von Pfeilen aus. Als Strahlen gedeutet, erinnern diese Pfeile auch an die typische Ästhetik der Deutschen Wochenschau – beides kann ikonologisch mit den als Wegen nur unzureichend analysierten strahlenartigen roten Streifen auf dem CDU-Wahlkampfplakat von 1953 in Verbindung gebracht werden. Im Rückblick auf
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Abbildungen 12 +13: Weltgeschichte als Existenz
Künstler ungenannt, Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau, Wahlkampfplakat, 1953; Zeichner ungenannt, Die Unruhe der Welt, aus: o.A., Europa. Von der Idee zur Wirklichkeit. Das Zahlenbildbuch für Europäer, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1953, S. 14.
die Verbreitung von weltgeschichtlichen Zeitdiagnostiken in Publikationen zur Europäischen Geschichte in der Bundesrepublik nach 1945 erstaunt es kaum, dass sich die Grafik »Die Unruhe der Welt« über die geopolitische Position der Sowjetunion von 1953 in einem Heft mit dem Titel Europa – Von der Idee zur Wirklichkeit. Das Zahlenbildbuch für Europäer aus dem Erich-Schmidt-Verlag findet. In die Broschüre flossen Bildmaterialien und die Ästhetik des seit den 1920er Jahren tätigen Deutschen Lichtbild-Dienstes ein, den der Erich-Schmidt-Verlag nach 1945 übernommen hatte. Das Wahlkampfplakat »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau« von 1953 ist jedoch auch ein Icon der frühen Kritik an der geopolitischen Kartographie der Haushofer-Schule schon vor Schöllers Aufsatz von 1957. Der Vorgang zeigt zugleich, dass die Ablehnung der Bildlichkeit der Geopolitik nicht zwangsläufig eine Ablehnung dieses Denkstils einschließt. Vielmehr bewirkt das Festhalten an einer die Gegenwart in universalhistorische Zusammenhänge einspannende weltgeschichtliche Zeitdiagnostik, dass die Geopolitik sich visuell erneuert. In diesem Sinne ging der in den 1960er Jahren als Berater von Bundeskanzler Ludwig Erhard bekannt gewordene Politikwissenschaftler Rüdiger Altmann (1922-2000) in einem 1954 in der Studentenzeitschrift CIVIS veröffentlichten Aufsatz über »Die Erdkarte als Weltbild« mit der selbstreferentiellen leeren, »technischen Nomenklatur« der alten Geopolitik hart ins Gericht.39 Umso interessanter ist es, dass der Text so gut 39
Altmann, Rüdiger: »Die Erdkarte als Weltbild«, in: CIVIS. Zeitschrift für christlich-demokratische Politik 1 (1954), S. 8-9., S. 9.
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wie unbekannt geblieben ist. Der Autor hat ihn in seinen Aufsatzsammlungen – die erste erschien bereits 1958 – nicht mehr berücksichtigt. Altmann propagiert in seinem ersten und einzigen bildgeschichtlichen Essay die von ihm so genannten »amerikanischen Karten« des Zeichners Richard E. Harrison (Abb. 14). Entfernt ähnelt diese Optik der als Globus gezeichneten Karte an die Grafik »Die Unruhe der Welt« von 1953. Altmann erkennt in dieser Art der geographischen Bildsprache eine zukunftsweisende Alternative zu dem alten grafischen Stil der Geopolitik. Deren Zukunft als Zeitdiagnostik hängt für Altmann von graphischen Formen der vollplastischen Darstellung ab. »Auf einer Flächenkarte«, so Altmann, »kann man die Erdoberfläche nicht darstellen, ohne sie zu verzerren. Wir aber müssen heute die Lage so sehen, wie sie wirklich ist.«40 Die Zeichnungen von Harrison gleichen dem Anblick, den man von einem Flugzeug oder einem Raumschiff aus auf die Erde hat. Vor allem der Blick auf »Europe from the East« weckt das bildgeschichtliche Interesse. Als Anflug vom Territorium der Sowjetunion aus auf Europa und die Bundesrepublik erlebbar, ist diese Zeichnung eine Verlebendigung der abstrakt-zeichenhaften Speer-Pfeile als Symbolisierung der außenpolitischen Aggression der Sowjetunion auf der Grafik »Die Unruhe der Welt« von 1953. Die von Altmann propagierte Harrison-Zeichnung ist auch ein Pendant zu dem Wahlkampfplakat der CDU »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau«. Den hier begehrlich auf den Westen gerichteten Blick des Rotarmisten kann der Betrachter der von Osten in Richtung Europa gerichteten Harrison-Perspektive selbst nachvollziehen.
Abbildung 14: Weltgeschichte als Existenz
Richard E. Harrison, Europe from the East, aus: CIVIS. Zeitschrift für christlich-demokratische Politik 1 (1954), S. 8.
40
Altmann: Erdkarte, S. 9.
Die Lage der Nation
Ähnlichkeiten und Entsprechungen dieser Art zeigen vor allem, dass es nicht die bildlich-formalen Erneuerungen der Geopolitik sind, die deren Ideologie überwinden. Geopolitische Karten vermögen geographische Räume als immer schon bestehende terrestrische Bedingungen politischer Handlungen mit der Geschichtlichkeit dieser Räume und der aktuellen politischen Konstellation in diesen Räumen bildlich zu verschmelzen. Als visuell suggestive Fusion von Weltpolitik und Weltgeschichte heischen geopolitische Karten eine zweifelhafte politische Aufklärung, die als eine paradoxe Mischung aus Metahistorie und ahistorischen geographischen Faktoren nicht den direkten und ergebnisoffenen Diskurs zwischen politischen Akteuren fördert, sondern buchstäblich einen »Überblick« in Wort und Bild ermöglichen soll. Der Wille zu dieser Art von politischem Wissen ließ auch Altmann mit der ideen- und geistespolitischen Ausrichtung der Geopolitik und der Kontinuität weltgeschichtlicher Zeitdiagnostik nach 1950 nicht brechen. »Weltgeschichte«, so Altmann 1954, »ist unsere Existenz.«41
6.
Erinnerungsortung
Als Bilanz einer seit Gründung der Bundesrepublik in wechselnder Gestalt fortdauernden Geopolitik berührt Rassems Schrift Im Schatten der Apokalypse von 1984 auch die Frage nach der Kontinuität dieses Denkstils über das mythische Jahr 1984 hinaus. Die Wirksamkeit unverhüllt national-völkischer Thesen wie denen Rassems, der extremistische Reizworte wie »Um-Volkung« vollkommen ernsthaft verwendete,42 war 1984 offenbar noch begrenzt. Der im Siedler-Verlag ebenfalls 1984 erschienene und bis 1999 mehrfach wieder aufgelegte Band Mitten in Europa. Deutsche Geschichte gibt jedoch einen Eindruck davon, wie der mit der Staufer-Ausstellung 1977 zu verbindende Anstoß zu einem Massenerfolg weltgeschichtlicher Zeitdiagnostik auch das Jahr 1989 überdauerte. Im Gegensatz zu den Diagramm-Karten der Staufer-Schau kehrte der Siedler-Band zu der bewährten Optik des bewährten Putzger-Schulatlanten zurück. Doch in den zahlreichen suggestiven Fotografien über das »Fühlen und Denken der Deutschen« und von Städten wie Eisenach und Landschaften wie dem Riesengebirge als Zeugnissen des »Weiterlebens ihrer Kultur und ihrer Geschichte« in diesem Band deutet sich die problematische Idee der »Erinnerungsorte« an.43 Das Konzept setzte als Ästhetisierung von Geschichte jene Logik der Kräfte, Tendenzen, Energien, Strömungen und Bewegungen fort,
41 42 43
Ebd. Rassem: Apokalypse, S. 14. Boockmann, Hartmut/Schilling, Heinz/Schulze, Hagen/Stürmer, Michael: Mitten in Europa. Deutsche Geschichte, Berlin 1984, S. 47, 425.
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mit denen die geopolitische Zeitdiagnostik als weltgeschichtliche Verortung der Bundesrepublik proteushaft erschien und erscheint.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945 Eva Muster
1.
Einleitung
»Es zeugt vielmehr von einer gewachsenen Sehnsucht nach historischer Verortung. Immer mehr Menschen spüren: Geschichte, Tradition und Erfahrungen sind ein wichtiger Teil unserer nationalen und kulturellen Identität.«1 So schrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrem Grußwort des Ausstellungskatalogs anlässlich der Erinnerung an die Varusschlacht. Sie brachte zum Ausdruck, dass trotz Jahrhunderte voller kriegerischer Auseinandersetzungen Vergangenheit immer identitätsstiftenden Charakter besaß und besitzt. Historische Ausstellungen sind ein Ausdruck eines historischen Selbstverständnisses und damit der politischgeographischen Verortung, die sich eine Epoche gibt. Das Rheinland war und ist hierbei ein exponiertes Beispiel westdeutscher Identitätssuche. Die historischen Territorien am Rhein waren vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ein Konfliktfeld deutsch-französischer Beziehungen.2 Seit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert standen das Elsass, Lothringen und das Rheinland noch einmal verstärkt im Fokus gesellschaftlicher, politischer und wissenschaftlicher Diskurse, Krisen und Konflikte.3 Die wechselnden Eroberungen, 1 2
3
Merkel, Angela: »Grußwort«, in: Herwig Kenzler (Hg.): 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium, Stuttgart 2009, S. 12. Zum Elsass und seiner Geschichte vgl. Erbe, Michael (Hg.): Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten, Stuttgart 2002; Baumann, Ansbert: »Die Erfindung des Grenzlandes Elsass-Lothringen«, in: Burkhard Olschowsky (Hg.): Geteilte Regionen – geteilte Geschichtskulturen? Muster der Identitätsbildung im europäischen Vergleich (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 47; Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Bd. 6), Oldenburg 2013, S. 163-183; Schlesier, Stephanie: »Vereinendes und Trennendes. Grenzen und ihre Wahrnehmung in Lothringen und preußischer Rheinprovinz 1815-1914«, in: Étienne François/Jörg Seifarth/Bernhard Stuck (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 2007, S. 135-161. Vgl. Nowak, Claudia: Was ist des Elsässers Vaterland? Die Konstruktion regionaler und nationaler Identitäten in einer Grenzregion zwischen Frankreich und Deutschland in der ers-
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Besetzungen sowie Gebietsabtretungen sollten dabei stets mit historischen Vergleichen untermauert werden.4 Doch während die beiden zuerst genannten Territorien meist einen fest definierten geographischen Raum umschrieben, waren und sind die Beschreibungen des Rheinlandes als Ort wesentlich divergenter.5 »Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze«6 schrieb noch Ernst Moriz Arndt 1813 zu Beginn der sogenannten »Befreiungskriege« und schuf damit zunächst in deutschnationalen und später in völkischen Kreisen ein Schlagwort für territoriale Ambitionen nach Westen. Heute gilt der Rhein als Fluss und damit Ausdruck von Mobilität in Europa und nicht mehr als Grenze sowie sich auch das Rheinland als europäische Kulturregion und nicht mehr als Abgrenzung gegen Frankreich verstehen möchte.7 Der Einschnitt, den das Ende des Zweiten Weltkrieges mit sich brachte, die beginnende deutsche Teilung und damit verbunden
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5
6 7
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1813-1848), Münster 2010; Ißler, Roland Alexander: »Vater Rhein und Mutter Europa – Zum Austausch von Schlachtrufen, Schlagern und Chansons zwischen Frankreich und Deutschland«, in: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture 57 (2012), S 111-141. Vgl. Schrader, Björn: Die Geographisierung der Nation. Der Beitrag der Geographie zum nationalen Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1789-1914 (= Beiträge zur regionalen Geographie, Bd. 67), Leipzig 2015. Zum Rhein aus deutscher und französischer Perspektive vgl. Miard-Delacroix, Hélène/Thiemeyer, Guido (Hg.): Der Rhein. Eine politische Landschaft zwischen Deutschland und Frankreich 1815 bis heute/Le Rhin. Un espace partagé entre la France et l’Allemagne de 1815 nos jours (= Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees, Bd. 14), Stuttgart 2018; Jung, Willi/Lichtlé, Michel (Hg.): Der Rhein. Im deutsch-französischen Perspektivenwechsel/Le Rhin. Regards croisés franco-allemands (= Deutschland und Frankreich im wissenschaftlichen Dialog, Bd. 8), Göttingen 2018. Arndt, Ernst Moritz: Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze, Leipzig 1813. Zur deutsch-französischen Grenze vgl. Hiepel, Claudia: »Euroregionen am Rhein. Zur ›Relativierung‹ der Grenze durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit«, in: MiardDelacroix/Thiemeyer: Der Rhein/Le Rhin, S. 219-231; Ißler, Roland Alexander: »Europas Strom, aber nicht Europas Grenze. Zur Genese einer europäischen Sicht auf den Rhein zwischen Rheinromantik und deutsch-französischer Rheinkrise«, in: Jung/Lichtlé: Perspektivenwechsel/Regards croisés, S. 161-204; Böschenstein, Renate: »Der Rhein als Mythos in Deutschland und Frankreich«, in: Leopold Decloedt/Peter Delvaux (Hg.): Wessen Strom? Ansichten vom Rhein (= Duitse Kroniek, Bd. 51), Amsterdam/New York 2001, S. 23-48; Lappenküper, Ulrich: »Vom ›Grenzfluss‹ zum ›Verbindungsstrom‹: Der Rhein in der Außenpolitik Konrad Adenauers und Charles de Gaulles«, in: Jung/Lichtlé: Perspektivenwechsel/Regards croisés, S. 121-135; Cepl-Kaufmann, Gertrude/Johanning, Antje: Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes, Darmstadt 2003. Zur Rhein-Mass-Region vgl. Cortjaens, Wolfgang/De Maeyer, Jan/Verschaffel, Tom et al. (Hg.): Historismus und kulturelle Identität im Raum Rhein-Maas. Das 19. Jahrhundert im Spannungsfeld von Regionalismus und Nationalismus (= KADOC artes, Bd. 10), Leuven 2008.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
die Annäherung der westlichen Besatzungszonen beziehungsweise dann der Bundesrepublik an den transatlantischen Raum barg für Franzosen und Westdeutsche die Herausforderung, ihr lange als »Erbfeindschaft« charakterisiertes Verhältnis neu zu positionieren.8 Auf deutscher Seite bedeutete dies nicht nur den endgültigen Verzicht auf Gebietsansprüche wie etwa Elsass-Lothringen, was lange Zeit mit dem Verweis der sogenannten Reichsgrenzen im Mittelalter erfolgt war, sondern auch, dass die Gebiete, die die Deutschen noch hatten, geschichtspolitisch neu aufgestellt, also in ihrer politisch-geographischen Verortung neu positioniert werden mussten. Die Verlegung des politischen Zentrums der jungen Bundesrepublik nach Bonn verlieh dem Rheinland eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Interpretation der historisch-politischen Geographie der vormaligen preußischen Rheinprovinzen. Dieses musste jetzt geschichtspolitisch nicht mehr gegen Frankreich verteidigt, sondern wie ganz Westdeutschland an dessen Seite geführt werden. Im Prozess der Westbindung waren also auch historische ideengeschichtliche Verbindungen des Rheinlandes mit den einstigen Gegnern gesucht. Denn nationalstaatliche Semantiken sowie raumbezogene Identitätskonstruktionen spielen bei der Bewertung jener Regionen eine wichtige Rolle.9 Hans Gebhardt, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer erklärten hierzu: »Der Konstruktionscharakter regionaler Geographien bedeutet alles andere als Beliebigkeit. Was erzählt wird und wie es erzählt wird, ist vielfach vorgegeben durch die sozialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurse der Gesellschaft. Sie geben die herrschenden Theorien und Denkfiguren vor und damit auch Formen der wissenschaftlichen Regionalisierung […].«10 Daher lautet eine der Funktionen von regionaler Geographie: »So gesehen ›erzählt‹ die regionale Geographie in ihren vielfältigen Formen – etwas despektierlich formuliert, aber im besten Sinne gemeint – ›ihre‹ Geschichten über die Geographien des Regionalen, und über deren Akzeptanz entscheidet
8 9
10
Vgl. Herbst, Ludolf: Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag (= Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 27), München 1989. Vgl. Miggelbrink, Judith/Redepenning, Marc: »Die Nation als Ganzes? Zur Funktion nationalstaatlicher Semantiken«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 78 (2004) 3, S. 313-337; Reuber, Paul: Politische Geographie, Paderborn 2012, S. 44-52. Gebhardt, Hans/Reuber, Paul/Wolkersdorfer, Günter: »Konzepte und Konstruktionsweisen regionaler Geographien im Wandel der Zeit«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 78 (2004) 3, S. 293-312, hier S. 297-298. Zur politischen Funktion des Rheins vgl. Boldt, Hans: »Deutschlands hochschlagende Pulsader – Zur politischen Funktion des Rheins im Laufe der Geschichte«, in: Ders./Peter Hüttenberger/Hansgeorg Moliter et al. (Hg.): Der Rhein. Mythos und Realität eines europäischen Stromes, Köln 1988, S. 27-34.
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dann letztlich ihre kommunikative Anschlussfähigkeit in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und in der interessierten Öffentlichkeit.«11 Spezifischer noch ist der Ansatz von Jasper M. Trautsch, der den Begriff »kognitive Landkarten« in sein Raumkonzept integriert: »Schließlich werden Räume nicht nur durch mentale Grenzziehungsprozesse geschaffen, sondern sie werden auch mit Sinn gefüllt bzw. auf sie werden nationale, ethnische, religiöse oder sonstige Werte projiziert. Auf diese Weise sind Raumkonstruktionen und Identitätsbildungsprozesse untrennbar miteinander verbunden. Kognitive Landkarten (›mental maps‹) – also geistige (in der Regel verzerrte) Abbildungen eines Teils der tatsächlichen räumlichen Umwelt, die sich angesichts der in ihrer Gesamtheit nicht zu verarbeitenden geografischen Informationen auf diejenigen Faktoren konzentrieren, die so dem Menschen ermöglichen, sich zu orientieren – sind somit nicht nur nützliche Wegweiser, um sich zurechtzufinden, sondern auch Stifter von Zusammengehörigkeitsgefühl und kollektiver Identität.«12 Den Rhein analysierte unter dem Ansatz einer »imaginary landscape der Moderne«13 auch Thomas Etzemüller. Hierbei zeigt sich, um mit dem Rheinland als Forschungsbegriff und -objekt operieren zu können, dass die Annahme von solchen kognitiven Landkarten produktiv ist. Denn zwar hat sich keine feste räumliche Gebietsdefinition links und rechts des Stromes als Rheinland etablieren können, doch wurde seit dem 19. Jahrhundert verbreitet eine rheinische Identität konstruiert. Dieser Prozess wurde durch die Herausbildung der preußischen Rheinprovinz verstärkt, als die Verwendung des Flussnamens für ein fixes Verwaltungsgebiet Anwendung fand.14 Der Begriff Rheinland kann jedoch nicht hierauf beschränkt 11
12
13 14
Gebhardt/Reuber/Wolkersdorfer: Konzepte, S. 297. Allgemein zu ›Kulturraumkonzepten‹ vgl. Lechner, Gotthard: »Kulturraumkonzept – wissenschaftsgeschichtliche Tradition und forschungsleitendes Deutungsmuster, in: Heinz-Werner Wollersheim/Sabine Tzschaschel/Matthias Middell (Hg.): Region und Identifikation (= Leipziger Studien zur Erforschung von regionenbezogenen Identifikationsprozessen, Bd. 1), Leipzig 1998, S. 83-91. Trautsch, Jasper M.: »Von der ›Mitte‹ in den ›Westen‹ Europas. Die räumliche Neuverortung Deutschland auf den kognitiven Landkarten nach 1945«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015) 7/8, S. 647-666, hier S. 648. Etzemüller, Thomas: »Romantischer Rhein – Eiserner Rhein. Ein Fluß als imaginary landscape der Moderne«, in: Historische Zeitschrift 295 (2012) 2, S. 390-424. Aktuell vgl. Bauer, Katrin/Graf, Andrea (Hg.): Erfinden, Empfinden, Auffinden. Das Rheinland oder die (Re-)Konstruktion des Regionalen im globalisierten Alltag. 10. Jahrestagung der Bonner Gesellschaft für Volkskunde und Kulturwissenschaften e.V. (= Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung, Bd. 12), Münster 2018. Darin besonders Mölich, Georg: »Zur Konstruktion einer Region im 19. Jahrhundert. Von den ›Rheinlanden‹ zur preußischen ›Rheinprovinz‹ ein Überblick«, S. 17-32 sowie weitere Beiträge des Bandes. Zur geographischen Konstruktion des Rheinlandes bis 1945 vgl. Blotevogel, Hans Heinrich: »›Rheinische Landschaft‹. Zur
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
werden und er steht zudem in enger wirtschaftlicher und politischer Geographie mit dem Raumkonstrukt Ruhrgebiet, von dessen Vielzahl vergangener und gegenwärtiger Deutungsangebote er teilweise kaum zu trennen ist.15 Aus Gründen der Stoffbewältigung erfolgt hier zum größten Teil eine Schwerpunktsetzung auf das Mittelrheintal.
1.1
Ausstellungen als Quellen
Die Quellen für die vorliegende retrospektive Untersuchung von Ausstellungen bilden in erster Linie die Kataloge und Begleitbände zu Ausstellungen, die nach 1945 in Nordrhein-Westfalen sowie Rheinland-Pfalz präsentiert wurden. Die Themen bewegen sich von der Ur- und Frühgeschichte über die Antike, das Mittelalter und die Neuzeit bis in die Zeitgeschichte und befassen sich mit Dynastien und Herrscherpersönlichkeiten, mit kunstgeschichtlichen Epochen oder mit historischen Ereignissen und Prozessen. Diese große Spanne an historischen Ausstellungsthemen ermöglicht es, Tendenzen und Mechanismen – und zwar unabhängig vom Thema − in der musealen Präsentation der Konstruktion rheinischer und damit deutscher Vergangenheit von 1945 bis zur Gegenwart herauszuarbeiten. Bei den einzelnen Ausstellungen sind unter anderem die Sektionen sowie die Exponate relevant, mit welchen eine Epoche repräsentiert wurde beziehungsweise wie diese Ausstellungsobjekte in ihrer Entstehungszeit interpretiert wurden. In den parallel erschienenen Publikationen bilden insbesondere die Forschungsbilanzen und -einblicke von den Kuratorinnen/Kuratoren sowie den namhaften Autorinnen/Autoren aus den jeweiligen Disziplinen die Basis für die Herausarbeitung der Indikatoren der Geschichtsbilder. Aufschlussreich an den Ausstellungskatalogen ist zudem ein Aspekt, den wohl die meisten Leserinnen/Leser – sowohl aus Fachkreisen wie auch interessierte Laien – gerne überblättern: das Gruß- oder Vorwort. Zumeist handelt es sich dabei um Äußerungen von Persönlichkeiten aus der Lokal-, Landes- und Bundespolitik, die beinahe ausnahmslos den Fokus auf Parallelen zwischen dem Ausstellungsgegenstand und aktuellen politischen Arbeits- und Problemfeldern legen sowie damit Lehren aus der Vergangenheit ziehen wollen.
15
geographischen Konstruktion des Rheinlands 1871-1945«, in: Gunter E. Grimm/Bernd Kortländer (Hg.): ›Rheinisch‹. Zum Selbstverständnis einer Region (= Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf. Archiv – Bibliothek – Museum, Bd. 9a), Düsseldorf 2017, S. 51-77; Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Die Erfindung einer kulturellen Landschaft: Das Rheinland in Europa«, in: Dies./Jasmin Grande/Georg Mölich (Hg.): Rheinisch! Europäisch! Modern! Netzwerke und Selbstbilder im Rheinland vor dem Ersten Weltkrieg, Essen 2013, S. 23-41. Vgl. Danielzyk, Rainer/Wood, Gerald: »Deutschland – geographische Diskurse. Die Region im raumbezogenen Diskurs: Das Beispiel ›Ruhrgebiet‹«, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 78 (2004) 3, S. 339-370.
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1.2
Forschungsstand
Die Beschäftigung mit der politisch-geographischen Verortung des Rheinlandes in historischen Ausstellungen erfordert als Forschungsüberblick neben der Darstellung von Untersuchungen zur musealen Präsentation auch eine Aufarbeitung der Arbeiten zur Erinnerungskultur der Region. Beide Komplexe sind oft nicht voneinander zu trennen. Untersuchungen zum Rheinland in Ausstellungen fanden mit einem Schwerpunkt zu Jubiläen insbesondere zu den Jubiläumsfeiern im Kaiserreich und der Weimarer Republik statt. In den Jahren 1914/1915 standen die Jahrestage zum 1100. Todestag von Karl dem Großen sowie der 100. Jahrestag der Zugehörigkeit der Rheinprovinz zum Königreich Preußen an. Für die Karlsausstellung war schon ein Katalog unter der Schirmherrschaft von Kaiser Wilhelm II. erstellt worden, das Ausstellungsprojekt wurde aber wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges abgesagt.16 Für die Jubiläumsfeiern der Rheinprovinz fanden immerhin noch Festveranstaltungen trotz des Krieges statt. Auf diese Veranstaltungen als Ausdruck von rheinischen Identitätskonstruktionen gingen unter anderem Ute Schneider in ihrer Arbeit über die politische Festkultur in der Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges17 und Werner Tschacher in seinem Werk zum »Königtum als lokale Praxis«18 über Aachen als »Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft«19 ein. Ein wichtiger Beitrag hierzu stammt von Rüdiger Haude, der den Schwerpunkt auf die sogenannte Jahrtausendausstellung von 1925 in Aachen legte.20 In jenem Jahr fanden die Rheinischen Jahrtausendfeiern mit zahlreichen Festveranstaltungen und eben auch Ausstellungen und Veranstaltungen von Aachen über Koblenz bis Saarbrücken statt. Den geschichtlichen Hintergrund bildete die Unterwerfung des lothringischen Herzogs Giselbert im Jahr 925 und
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18
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Vgl. Weigelt, Curt H.: Die Krönungsausstellung zu Aachen 1915. Unter dem Protektorat Sr. Maj. Des deutschen Kaisers und Königs von Preußen, o. O., o.J., [Aachen 1914]. Vgl. Schneider, Ute: Politische Festkultur im 19. Jahrhundert. Die Rheinprovinz von der französischen Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1806-1918) (= Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 41), Essen 1995, S. 337-338. Tschacher, Werner: Königtum als lokale Praxis. Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 800-1918) (= Historische Mitteilungen, Beiheft 80) (= Geschichte), Stuttgart 2010. Ebd., S. 366-367. Vgl. Haude, Rüdiger: ›Kaiseridee‹ oder ›Schicksalsgemeinschaft‹. Geschichtspolitik beim Projekt ›Aachener Krönungsausstellung 1915‹ und bei der ›Jahrtausendausstellung Aachen 1925‹ (= Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Beihefte 6), Aachen 2000; Ders.: »Das Rheinland als ›Krongeschmeide auf dem mütterlichen Haupte Germaniens‹. Die ›Aachener Krönungsausstellung 1915‹ und die Jahrtausend-Ausstellung Aachen 1925«, in: Mario Kramp (Hg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, Bd. 2, Mainz 2000, S. 809-827.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
die damit einhergehende Eingliederung Lothringens, das damit fünftes Stammesherzogtum des Ostfränkischen Reiches wurde.21 Das Jubiläum besaß eine zeitgeschichtliche Brisanz, da vor dem Hintergrund der Besetzung durch Truppen der Westalliierten die historische Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland belegt werden sollte und somit der Fokus auf einer geschichtspolitischen Verortung der Region lag. Intensiv mit den Jahrtausendausstellungen des Jahres 1925 befasst sich auch der von Gertrude Cepl-Kaufmann herausgegebene Band Jahrtausendfeiern und Befreiungsfeiern im Rheinland. Zur politischen Festkultur 1925 und 193022 . Bezüglich der veranstalteten Ausstellungen soll hier der Beitrag von Anne GanteführerTrier Erwähnung finden, die herausarbeitete, warum die moderne Kunst bei diesen Konzeptionen nicht erwünscht war. Und in Bezug auf regionale Zuschreibungen ist Hans M. Schmidts Aufsatz über Zielsetzung, Konzeption sowie Resonanz der Jahrtausendausstellungen in Aachen, Düsseldorf, Köln sowie Koblenz und Mainz zu erwähnen.23 Die Analyse von historischen Ausstellungen im Rheinland nach 1945 ist in der Forschung kaum anzutreffen. Als Beispiel ist der Beitrag von Philippe Cordez im sogenannten Karlsjahr 2014 zu nennen, der hier zumindest überblicksartig die Geschichte der großen Ausstellung im Jahr 1965 Karl der Große. Werk und
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Zur Tausendjahrfeier vgl. Müller, Guido: »Geschichtspolitik im Westen und Rheinische Jahrtausendfeiern 1925«, in: Gertrude Cepl-Kaufmann (Hg.): Jahrtausendfeiern und Befreiungsfeiern im Rheinland. Zur politischen Festkultur 1925 und 1930 (= Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 71), Essen 2009, S. 35-57; Johanning, Antje: »›Ein Reich, ein Volk, ein Geist!‹ Zur Inszenierungspraxis der Jahrtausendfeiern«, ebd., S. 85-110; Spies, Carola: »Topographie und Typologie der Jahrtausendfeier – ein Überblick«, ebd., S. 59-84; Rosseaux, Ulrich: »Millenium – Volk – Grenze. 1000-Jahrfeiern im Rheinland und in Sachsen im Vergleich«, in: Michael Maurer (Hg.): Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln/Wien/Weimar 2010, S. 243-257. Zu den sogenannten Befreiungsfeiern der 1920er Jahre vgl. Herbers, Matthias: »Die ›inszenierte Befreiung‹. Die Kölner Befreiungsfeiern von 1926«, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadtund Regionalgeschichte 54 (2007), S. 167-195. Cepl-Kaufmann: Jahrtausendfeiern. Zum kulturwissenschaftlichen Hintergrund des Bandes vgl. darin Dies.: »Die Jahrtausendfeiern. Ein Fall für die Kulturwissenschaft. Statt einer Einleitung«, S. 11-33. Vgl. Ganteführer-Trier, Anne: »Eine Beteiligung war nicht erwünscht – Die JahrtausendAusstellung der Rheinlande in Köln 1925 und die moderne Kunst«, in: Cepl-Kaufmann: Jahrtausendfeiern, S. 263-274; Schmidt, Hans M.: »Die Jahrtausend-Ausstellungen in Aachen, Düsseldorf, Köln sowie Koblenz und Mainz. Zielsetzung, Konzeption und Resonanz«, ebd., S. 229-262; Theis, Kerstin: »Die Jahrtausendausstellung der Rheinlande 1925 in Köln«, Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 78 (2007), S. 187-216.
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Wirkung24 rekonstruierte.25 Auch zu nennen ist die Dissertation von Barbara Ellermeier mit dem Titel Neue Römer braucht das Land. Aktuelle Museumskonzeptionen zur Römerzeit in Rheinland-Pfalz26 . Der Arbeit ist zunächst anzurechnen, dass trotz des Gegenwartsbezugs die Geschichte der musealen Präsentation der Römer vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart aufbereitet wird.27 Ihr Fokus liegt aber hierbei auf der gestalterischen Konzeption, wie etwa der Größe der Ausstellungsräume, der Anzahl der Exponate sowie dem Umfang der Begleittexte. Es fehlt die genügende Berücksichtigung des jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontextes wie die Implementationen der Objekt- und Katalogtexte. Politisch-geographische Zuschreibungen finden somit keine Berücksichtigung und ein übereiltes Fazit von Ellermeier über die Entwicklung der musealen Präsentationen nach 1945 lautet daher: »Grundlegend neu sind die Ausstellungen nach dem Krieg nicht, wie die Untersuchung der damaligen Präsentationen in Bonn, Trier, Mainz und Speyer ergab.«28 Aktuell steht die Bonner Republik im Fokus des Instituts Moderne im Rheinland an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bereits 2018 gaben Gertrude CeplKaufmann, Jasmin Grande, Ulrich Rosar und Jürgen Wiener den Sammelband über ihre Gründungsphase und die Adenauer-Ära von 1945 bis 1963 heraus.29 Insbesondere die Bonner Republik im »Kontext von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert«30 , »Nachkriege im Zeichen der Demokratie«31 und das »Christliches Abendland am Rhein als ein politisches Denkmodell der frühen Bonner Republik«32 werden darin analysiert. Im Jahr 2019 stehen Bonn und die Entstehung
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Braunfels, Wolfgang (Hg.): Karl der Große. Werk und Wirkung. Zehnte Ausstellung unter den Auspizien des Europarates, Düsseldorf 1965. Vgl. Cordez, Philippe: »1965: Karl der Große in Aachen. Geschichten einer Ausstellung«, in: Peter Van den Brink/Sarvenaz Ayooghi (Hg.): Karl der Große – Charlemagne, Bd. 3: Karls Kunst, Dresden 2014, S. 17-29. Ellermeier, Barbara: Neue Römer braucht das Land. Aktuelle Museumskonzeptionen zur Römerzeit in Rheinland-Pfalz (= Beiträge zur Geschichtswissenschaft), München 2010. Vgl. ebd., S. 56-138. Ebd., S. 91. Vgl. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Rosar, Ulrich et al. (Hg.): Die Bonner Republik 1945-1963 – Die Gründungsphase und die Adenauer-Ära. Geschichte – Forschung – Diskurs, Bielefeld 2018. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Grande, Jasmin/Rosar, Ulrich et al.: »Zur Konzeption des Forschungsschwerpunkts. Bonner Republik im Kontext von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert«, in: Dies.: Bonner Republik, S. 11-27. Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Nachkriege im Zeichen der Demokratie«, in: CeplKaufmann/Grande/Rosar et al.: Bonner Republik, S. 29-56. Mölich, Georg: »Christliches Abendland am Rhein – ein politisches Denkmodell der frühen Bonner Republik«, in: Cepl-Kaufmann/Grande/Rosar et al.: Bonner Republik, S. 85-95.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
einer Hauptstadtregion zwischen Köln, Düsseldorf und Brüssel im Zentrum von Vorträgen und Veranstaltungen.33 Zusammengefasst zeigt dieser Überblick, dass in der Forschung bereits öfter einzelne Ausstellungen oder die Geschichte der musealen Präsentation einzelner Komplexe behandelt wurden. Die Erkenntnis der bloßen geschichtlichen Zuschreibung der Region in eine westliche Hemisphäre ist dabei als Ergebnis der Erkenntnisproduktion allerdings zu wenig. Die Einwicklung des historischen Selbstverständnisses und damit die politisch-geographische Verortung des Rheinlandes unabhängig vom ausgestellten Thema sind bisher noch nicht erfolgt. Dieses Desiderat soll mit diesem Beitrag zumindest ein Stück weit geschlossen werden.
1.3
Methodische Überlegungen
In der museologischen Forschung findet sich keine allgemein gültige Methode zur Analyse von Museen oder Ausstellungen. Unterschiedliche Disziplinen versuchten bisher, eine adäquate Herangehensweise an dieses Forschungsfeld herauszuarbeiten, und kreierten ein Konglomerat an methodischen Zugängen, die jeweils einen oder mehrere Aspekte musealer Präsentation zu analysieren vermochten.34 Als ein hervorzuhebendes Beispiel sei an dieser Stelle der methodische Ansatz von Katrin Pieper erwähnt, die Museen im Forschungsfeld der Erinnerungskultur untersuchte und diskursanalytisch Texte von und über Museen und Ausstellungen in historischer Perspektive zu dekonstruieren versuchte. So sollte sie feststellen, »wie die Erinnerungskultur Museen prägt und umgekehrt wie öffentliche Erinnerungen durch Museen beeinflusst werden«.35 Thomas Thiemeyer plädiert dafür, bei der Museumsanalyse die klassische hermeneutische Quellenkritik der Geschichtswissenschaft anzuwenden, wobei das gesamte Museum als Quelle zu sehen ist.36 Diese Herangehensweise schließt jedoch die Kommunikationsebene der Ausstel-
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Hierbei wird ein Aspekt die Rolle der großen Ausstellung ›Karl der Große. Werk und Wirkung‹ im Jahr 1965 und die Geschichte ihrer Entstehung sein. Als Beispiel sei hier auf den Band von Joachim Baur hingewiesen, der einen breiten Überblick über mögliche Herangehensweisen an eine Museums- und/oder Ausstellungsanalyse gibt. Festzuhalten ist hierfür aber, dass die einzelnen Methoden nur angerissen wurden und keine wirklichen ›Werkzeuge zur Analyse‹ dargelegt werden. Dennoch können die darin vorzufindenden Fallbeispiele als Grundstein für weiterführende Überlegungen herangezogen werden. Vgl. Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2 2013. Pieper, Katrin: »Resonanzräume, Das Museum im Forschungsfeld Erinnerungskultur«, in: Baur: Museumsanalyse, S. 187-212, hier S. 204. Vgl. Thiemeyer, Thomas: »Geschichtswissenschaft. Das Museum als Quelle«, in: Baur: Museumsanalyse, S. 73-94.
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lungen, die die Geschichtsbilder und Mythen transportieren, weitestgehend aus.37 Der Großteil der Arbeiten, die sich mit der Untersuchung von Museen und Ausstellungen befassen, gehen deskriptiv vor und stellen die Präsentation weder in einen größeren geschichtspolitischen Zusammenhang noch verorten sie die ausgestellten Themen und Exponate in einem epochenübergreifenden Kontext.38 Um einen repräsentativen Überblick über die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945 geben zu können, soll im Folgenden mit einer an der Mythostheorie angelehnten Methode gearbeitet werden. Somit können das Katalogmaterial aus den unterschiedlichen Nachkriegsjahrzehnten zu noch dazu heterogenen Ausstellungsthemen strukturiert aufbereitet sowie feste und variable Narrationen im Sinne Hans Blumenbergs herausgearbeitet werden.39 Museale Präsentationen sind ein Konglomerat von wissenschaftlicher Aufbereitung, politischer Willensbildung wie auch gesellschaftlicher Entwicklungen und somit ein Indikator für die Geschichtskultur einer Epoche.40 Daher sei grundlegend auf die drei Dimensionen der Erinnerung verwiesen, die
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Aktuell befassen sich einige Forschungsbereiche sowie speziell geförderte Forschungskollegs mit der umfassenden Analyse von Ausstellungen. Als Beispiel seien hier die von der VolkswagenStiftung finanzierten Kollegs Modellierung von Kulturgeschichte am Beispiel des Germanischen Nationalmuseums: Vermittlungskonzepte für das 21. Jahrhundert am Institut für Kunstgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter der Leitung von Prof. Dr. Christina Strunck sowie Wissen/Ausstellen. Eine Wissensgeschichte von Ausstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Institut für Kunstgeschichte der Georg-AugustUniversität Göttingen unter der Leitung von Prof. Dr. Margarethe Vöhringer erwähnt. Ersteres, dessen Kollegiatin die Autorin ist, versucht am Beispiel einer Institution – nämlich dem Germanischen Nationalmuseum – die Konstruktion von Kulturgeschichte seit der Gründung herauszuarbeiten und greift dabei unter anderem auch auf die klassische Quellenkritik zurück, wie sie Thomas Thiemeyer bereits als Methode herausstellte. Das Schwesterkolleg in Göttingen wählt – den unterschiedlichen Forschungsthemen geschuldet – mehrheitlich einen anderen Zugang. Vgl. hierfür die grundlegenden Überlegungen in Muster, Eva: Museale Geschichtsbilder als »Arbeit am Mythos«. Der Wandel der Präsentation von ›Karl dem Großen‹ in kulturhistorischen Ausstellungen in Aachen im 20. und 21. Jahrhundert, [in Vorbereitung – erscheint 2020]. Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt 6 2006. Zur Definition Blumenbergs vgl. ebd. S. 40. Vgl. allgemein Winkler, Heinrich August (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004; Bock, Petra/Wolfrum Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999; Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999; ders.: »Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989. Phasen und Kontroversen«, in: Bock/Wolfrum: Umkämpfte Vergangenheit, S. 55-81.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
von Jörn Rüsen als Ausdruck von Geschichtskultur herausgearbeitet wurden.41 Die ästhetische, die politisch-moralische sowie die kognitive Dimension treffen in historischen Ausstellungen sowie (Kulturhistorischen-)Museen im Allgemeinen und ihren schriftlichen und bildlichen Zeugnissen als Schnittmenge von Politik, Geschichtswissenschaft sowie Gesellschaft zusammen.42 Somit kann herausgearbeitet werden, welche Geschichtskonstruktionen und ideengeschichtlichen Anknüpfungspunkte bei der Westorientierung vorlagen und ob hierbei von einem festen narrativen Kern bei der Generierung »rheinischer Identität« gesprochen werden kann. Im weiteren Verlauf werden hierfür vier Themenschwerpunkte herausgestellt. Neben dem Christentum als Ausdruck der Verbundenheit des Rheinlandes mit dem Westen sind dies die Bedeutung als Wirtschaftraum, die rechtspolitische Entwicklung sowie die zunehmende Betonung einer Tradition von kultureller Heterogenität und Zuflucht.
2.
Das Rheinland in der musealen Präsentation
2.1
Raum des christlichen Abendlandes
Ein wesentlicher Aspekt bei der Kommunikation des Rheinlandes als Teil des westlichen Kulturraumes war in der unmittelbaren Nachkriegszeit das Christentum als verbindendes Element. In enger Verbindung hierzu standen die Thematisierung der römischen Herrschaft am Rhein sowie die Epoche von Karl dem Großen. Erstere habe die Ausbreitung des neuen Glaubens ermöglicht und Letztere diesen gefestigt, wodurch dem Rheinland bei der Anbindung an das sogenannte christliche »Abendland« eine Art Vorreiterrolle zugeschrieben wurde. Bei den Jahrtausendfeiern und den dazugehörigen Ausstellungen in rheinischen Städten während der Weimarer Republik 1925 waren die Römer am Rhein oft noch weitgehend ausgespart wie beispielsweise in Köln. Das 1932 nachträglich erschienene mehrbändige Werk über »Die Denkmäler der Plastik und des Kunstgewerbes auf der Jahrtausend-Ausstellung in Köln«43 trug zudem den Titel »Tausend Jahre
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43
Vgl. Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach 2 2008, S. 137. Vgl. Schönemann, Bernd: »Museum als Institution der Geschichtskultur«, in: Olaf Hartung (Hg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik– Wissenschaft (= Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 52), Bielefeld 2006, S. 21-31. Ewald, Wilhelm/Kuske, Bruno (Hg.): Katalog der Jahrtausend-Ausstellung der Rheinlande in Köln 1925, Köln 1925.
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deutscher Kunst am Rhein«44 . Ähnlich wurde mit »Tausend Jahre deutscher Geschichte und deutscher Kultur am Rhein«45 der im Auftrage des Provinzialausschusses der Rheinprovinz zum gleichen Anlass herausgegebene Band überschrieben. Die in den Werken auch thematisierte christliche Sakralkunst wurde in erster Linie als Ausdruck von »deutscher« Kultur kommuniziert, um gemäß der Intention der Jahrtausendfeiern die Reichszugehörigkeit des Rheinlandes zu belegen. Ein Intentionswandel ist nach dem Zweiten Weltkrieg bereits beim Titel einer der ersten historischen Ausstellungen im Rheinland festzustellen, als die westdeutsche Demokratie nach dem Krieg erst im Aufbau war. Paul Wallraf benannte im Jahr 1947 den von ihm herausgegebenen Ausstellungskatalog über Hinterlassenschaften der Römer am Rhein Römisches Rheinland46 und erklärte als Intention, »die Bedeutung rheinischer Kunst in Erinnerung zu rufen«47 sowie zu versuchen, die »antike Grundlage unseres Landes aufzuzeigen«48 . Somit wurden der kulturelle Input aus dem Westen und die dadurch generierte regionale Identität hervorgehoben. Neben Götterfiguren der Römer und Alltagsgegenständen wie Bestecken, Gefäßen und Schmuck lag bei der Auswahl der Objekte ein zentraler Fokus auf christlicher Sakralkunst wie unter anderem Evangeliarien, Kruzifixe und Madonnen. Waffen waren nur vereinzelt anzutreffen, wodurch der Schwerpunkt auf dem Gewinn an Lebensqualität durch die Römer in der Alltagskultur und der Ausbreitung des Christentums in der Spätantike lag. Eine ähnliche Intention war auch drei Jahre später in einer Ausstellung über Madonnen und Kruzifixe in Düsseldorf zu erkennen, wo neben wenigen Exponaten aus Niedersachsen oder Bayern in erster Linie das Rheinland als eine vom Christentum geprägte Region dargestellt wurde.49 In beiden Ausstellungen fehlten die nationalen Aspekte, wie sie noch in der Weimarer Republik zu finden waren, wo die sakralen Objekte in erster Linie als deutsche Kunst verstanden werden sollten. Jene christlich-internationale Anbindung an den Westen war auch in der musealen Selbstpräsentation zahlreicher Städte im Rheinland festzustellen. Bei der ersten größeren Ausstellung in Köln anlässlich des 1900. Geburtstages der Stadt schrieb Oberbürgermeister Ernst Schwering (CDU) in seiner Vorrede im dazugehörigen Katalog im Jahr 1950 von »der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung 44
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Ebd., S. 3. Vgl. ebenso Schulte, Aloys/Braubach, Max (Hg.): Tausend Jahre deutscher Geschichte und deutscher Kultur am Rhein. Im Auftrage des Provinzialausschusses der Rheinprovinz, Düsseldorf 1925. Witte, Fritz (Hg.): Tausend Jahre deutscher Kunst am Rhein. Die Denkmäler d. Plastik u. d. Kunstgewerbes auf d. Jahrtausend-Ausstellung in Köln, Bände 1−4, Leipzig 1932. [Wallraf, Paul]: Römisches Rheinland, Mönchen-Gladbach 1947. [Wallraf]: Rheinland, S. 1. Ebd. Vgl. Kunstmuseum Düsseldorf (Hg.): Madonnen und Kruzifixe. Ausstellung im Kunstmuseum der Stadt Düsseldorf. Oktober – November 1950, Düsseldorf 1950; sowie Villa Hügel (Hg.): Kunstwerke aus Kirchen-, Museums- und Privatbesitz. 10. Mai bis 31. Oktober 1953, Essen 1953.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
der rheinischen Metropole«50 und Oberstadtdirektor Wilhelm Suth, der mit einer Schwester von Konrad Adenauer verheiratet war, betonte die Bedeutung der Rheinstadt als »Brennpunkt des geistigen und wirtschaftlichen Abendlandes«51 . Auch die Historiker Wilhelm Ewald, der schon für die Jahrtausendausstellung 1925 zuständig war, und Bruno Kuske hoben die Impulse hervor, die »Köln mit Deutschland, Europa und der Welt verknüpften«52 . Dies verdeutlicht die politisch-geographische Verortung der Region auf internationaler Ebene, wofür zunächst das Christentum als das verbindende Element für das Rheinland nach Westen galt. Auch die einstigen nationalen Denkmäler wurden in diesem Sinne neu codiert, wie die Ausstellung Der Kölner Dom. Bau- und Geistesgeschichte53 von 1956 verdeutlicht. Die Fertigstellung des Baues im 19. Jahrhundert war noch zur nationalen Angelegenheit überhöht worden. Derartige Bezüge fehlten nun nicht nur in der Gegenwart, sondern auch bei der Darstellung der Vergangenheit, wenn von der Fertigstellung des Doms lediglich als »Wiedergeburt der Kunst«54 geschrieben und die einstige Bedeutung als Nationalsymbol nicht erwähnt wurde. Ebenso fehlten bei der Schilderung der Restauration des Bauwerkes nach 1945 die Gründe für dessen Zerstörung.55 Dieselbe Intention war auch 1956 in der in erster Linie für ihre Industrie bekannten Stadt Essen anhand der Ausstellung Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr 56 in der Villa Hügel festzustellen. Bundespolitische Unterstützung erhielt die Stadt von Theodor Heuss (FDP), der im Vorwort schrieb, dass »das Stift Essen einmal geistig-kirchliche Mitte bedeutet hatte, und nicht bloß nach Kohle, Eisen, Stahl bewertet werden dürfe«57 . Im geschichtlichen Überblick von Franz Steinbach wurde danach »die Verlagerung des politischen Schwerpunktes im Frankenreich aus dem Pariser Becken über Mosel- und Maaslande ins Rheingebiet«58 durch Pippin den Mittleren hervorgehoben und Karl der Große »als Schutzherr der westlichen Christenheit«59 beschrieben, als dessen Verdienst unter anderem die Grenzverteidigung gegen die Araber anzusehen sei. Wenn auch der Gewaltaspekt der Expansion bei Karl nicht ausgespart und sein Gegenspieler Widukind als
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Stadt Köln (Hg.): Köln 1900 Jahre Stadt. Stadtgeschichtliche Ausstellung, 22. Mai – 22. August 1950, Staatenhaus der Messe, Köln-Deutz, Köln 1950, o. S. Ebd., o. S. Ebd., o. S. [Jüttner, Werner]: Der Kölner Dom. Bau- und Geistesgeschichte, Köln 1956. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 141-142. Elbern, Victor H. (Hg.): Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr. Ausstellung in Villa Hügel, Essen, 18. Mai bis 15. September 1956, Essen 3 1956. Heuss, Theodor: »Werdendes Abendland«, in: Elbern: Abendland, S. 1. Steinbach, Franz: »Geschichtliches«, in: Elbern: Abendland, S. 133-144, hier S. 133. Ebd., S. 138.
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»ein westfälischer Adeliger«60 im »heidnischen Freiheitskampf«61 charakterisiert wurde, galten doch die Sicherung der Grenzen und der Ausbau der Mission als entscheidende Leistungen: »Der Rhein wurde zur Mittellinie des Reiches, Aachen zum bevorzugten Königssitz […].«62 Weiter schrieb Steinbach: »Seit den Tagen Karls des Großen lagen Rhein und Ruhr nahe am Herzen des Abendlandes.«63 Die Reichsteilung von 843 habe die »natürliche Einheit«64 zerschnitten, der Wunsch der Erneuerung »der abendländischen Gemeinschaft des Imperium Christianum«65 sei eine Sehnsucht geblieben, mit den größten Hoffnungen an Mosel, Maas und Rhein, den »Stammlanden der Karolinger und den Kernlanden ihres Reiches«66 . Dies bedeutete den Bruch mit der Geschichtskonstruktion des 19. Jahrhunderts, in dem der Vertrag von Verdun von 843 auch am Rhein noch als Geburtsjahr Deutschlands gefeiert wurde.67 Im Gegensatz hierzu betonten Hans Feldbusch und Hans Haug in ihren Beiträgen im Ausstellungsband Unsere Liebe Frau68 1958 über mittelalterliche Kunst die kulturellen Anstöße bei der Gestaltung von Marienfiguren im Rheinland und in Frankreich.69 Die Bundesrepublik, allen voran das Rheinland, sollte somit geschichtspolitisch auf christlicher Basis an die Seite der westlichen Nachbarländer geführt werden. Dieses in den 1950er Jahren ausgeprägte Verständnis vom christlichen Rheinland als eine Art historisch-geographisches Tor nach Europa war jedoch zunächst noch räumlich stark begrenzt. Michael Borgolte schrieb in seinem Beitrag zur Ausstellung Krönungen70 im Jahr 2000 richtig über die Karlsausstellung von 1965: »Das Europa, das man meinte, war allerdings das lateinische Europa, das Europa der mittelalterlichen römischen Kirche im Unterschied zum griechisch-orthodoxen (bzw. kommunistischen) Europa.«71
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Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143. Ebd. Ebd. Ebd., S. 144. Vgl. Schneider: Festkultur, S. 94-99. Feldbusch, Hans: »Aachen und die Diözese Lüttich«, in: Ernst Günther Grimme (Hg.): Unsere Liebe Frau. Eine Ausstellung im Krönungssaal des Rathauses zu Aachen, 7. Juni – 14. September 1958, Düsseldorf 1958, S. 28-31. Vgl. Feldbusch: Aachen, S. 30; Haug, Hans: »Der Oberrhein«, in: Grimme: Liebe Frau, S. 33-35, hier S. 33. Kramp, Mario (Hg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos. Katalog der Ausstellung in 2 Bänden, 2 Bände, Mainz 2000. Borgolte, Michael: »Historie und Mythos«, in: Kramp: Krönungen, Bd. 1, S. 839-846, hier S. 842.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
Max Kerner verwies zwar auch 2014 wieder auf die Bedeutung des Glaubens als »Einheitsband des karolingischen Großreiches«72 , die fortschreitende Säkularisierung und Pluralisierung der westdeutschen Gesellschaft seit den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten hat jedoch mittlerweile die Bedeutung des Christentums relativiert, wenn auch nicht vollständig beseitigt. Zudem gilt der Begriff »Abendland« als antiquiert sowie zu begrenzt und findet zunehmend im Rechtspopulismus Verwendung.73 Georg Mölich erklärte daher in seinem Beitrag über das Christentum am Rhein 2016: »Für das gesamte christlich geprägte Mittelalter spielte der Rhein als Längsachse und eben nicht als Grenze der kirchlichen Infrastrukturen eine Rolle […].«74 Mölich schreibt weiter, der Rhein sei hierbei zu einer »kulturellen Mittelachse«75 geworden. Dieses Schlagwort hat er aus dem Aufsatz zum »Rhein in der europäischen Geschichte und den europäischen Raumbeziehungen«76 von Franz Petrie aus dem Begleitband zur Ausstellung Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr 77 entnommen und somit die funktionale Raumzuschreibung beibehalten, nicht jedoch die tradierte christliche Konnotation.78 Die Präsentation von Exponaten erfolgt heute kritischer als noch in dem Band von 1947. Etwa wird in dem Ausstellungsband Von den Göttern zu Gott. Frühes Christentum im Rheinland79 im Jahr 2006 einleitend angeführt, dass »die Präsentation von Objekten und Denkmälern mit erkennbar christlichem Charakter«80 in der Vergangenheit aus gegenwärtiger Sicht eher problematisch ist, denn »ob die Benutzer und Besitzer diese Objekte tatsächlich dem christlichen Glauben angehörten«81 , sei nicht immer eindeutig zu bestimmen. Auch gilt es nun, das Machtkalkül bei der Etablierung des christlichen Glaubens am Rhein durch Karl den Großen deutlicher herauszustellen: 72
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Kerner, Max: »Karl der Große und Europa. Einheit der Vielfalt – damals und heute«, in: Frank Pohle (Hg.): Karl der Große – Charlemagne. Orte der Macht, Bd. 2: Essays, Dresden 2014, S. 1415, hier S. 14. Vgl. Benz, Wolfgang: Ansturm auf das Abendland? Zur Wahrnehmung des Islam in der westlichen Gesellschaft (= Wiener Vorlesungen, Bd. 170), Wien 2013. Mölich, Georg: »Strom der Kirche«, in: Marie-Louise von Plessen (Hg.): Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie, München/London/New York 2016, S. 92-101, hier S. 92. Mölich: Kirche, S. 92. Petrie, Franz: »Der Rhein in der europäischen Geschichte und den europäischen Raumbeziehungen von der Vorzeit bis zum Hochmittelalter«, in: Kurt Böhner/Victor H. Elbern (Hg.): Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr. Textbd. 2, Düsseldorf 1964, S. 567-615. Elbern: Abendland. Vgl. Petrie: Rhein, S. 567-615. Altringer, Lothar/Otten, Thomas/Ristow, Sebastian et al. (Hg.): Von den Göttern zu Gott. Frühes Christentum im Rheinland, Tübingen 2006. Altringer, Lothar/Otten, Thomas/Ristow, Sebastian et al.: »Einleitung«, in: Dies.: Christentum, S. 10-15, hier S. 10. Ebd.
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»Genau wie bei Constantin und vielleicht ganz bewusst auf dieses Vorbild bezogen, dürfte für den aufstrebenden Frankenherrscher in seinem expandierenden Reich die integrative Kraft der christlichen Religion als politisches Instrument im Vordergrund seiner Interessen gestanden haben.«82 Michael Schmaude bemerkte 2018 zudem in dem Ausstellungswerk Spätantike und frühes Christentum83 im Rheinland: »Doch ist das aufstrebende Christentum nur eine Facette jener Epoche, die heute als Spätantike bezeichnet wird.«84 In der Einleitung zu dem Band von Sabine Schrenk und Konrad Vössing wurde noch dazu die Ambivalenz der Christianisierung angeführt, durch welche auch manche »ältere Traditionen«85 verdrängt, »andere umgeformt, wieder andere weitergeführt«86 wurden. Somit wird die Ausbreitung und Ausprägung des christlichen Glaubens am Rhein immer noch in Ausstellungen aufgegriffen, doch geschieht dies mittlerweile in einem weniger politisch konnotierten Kontext, da das Christentum keinen zentralen Bezugspunkt der europäischen Integration mehr darstellt.87 Daher ist auch die Bezeichnung »christliches Abendland« als verbindendes Element der europäischen Nationen sukzessive weniger anzutreffen.
2.2
Der westliche Rechtsraum
Wie im Abschnitt über das Christentum im Rheinland bereits dargestellt, genügte die Glaubensprägung sukzessive weniger, um historische Anknüpfungspunkte für eine Zugehörigkeit des Rheinlandes zum westeuropäischen Kulturraum herauszustellen. Daher wurde die religiöse Codierung in zunehmendem Maße durch eine rechtliche ergänzt beziehungsweise ersetzt. Von Relevanz für das geschichtspolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik von den Anfängen bis zur Gegenwart ist hierbei die Auswahl der historischen Themenkomplexe, mit denen eine Raumzuschreibung des Rheinlandes als Brücke nach Westen kommuniziert wurde. In den 1950er Jahren waren die Geschichtswissenschaft wie auch die Politik noch in relativ nationalstaatlichen Denkmustern verankert, wodurch meistens ein Rückgriff auf Ereignisse erfolgte, die vor der Frühen Neuzeit stattgefunden haben. So galt es wiederum als eine Leistung von Karl 82 83 84 85 86 87
Ristow, Sebastian: »Die Religion zu Beginn des frühen Mittelalters«, in: Altringer/Otten/Ristow et al. (Hg.): Christentum, S. 40-45, hier S. 40. Schrenk, Sabine/Vössing, Konrad (Hg.): Spätantike und frühes Christentum (LVRLandesMuseum Bonn – Blick in die Sammlung), Mainz 2018. Schmauder, Michael: »Zur Sache«, in: Schrenk/Vössing: Spätantike, S. 11. Schrenk, Sabine/Vössing, Konrad, »Einleitung«, in: Dies.: Spätantike, S. 12-13, hier S. 12. Ebd. Vgl. Suckale, Robert (Hg.): Schöne Madonnen am Rhein. Eine Veröffentlichung des LVRLandesmuseums Bonn, Leipzig 2009.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
dem Großen, dass er nach dem Ende der Herrschaft der Römer durch Gesetze und Reformen eine neue Organisation des Rechtswesens im Rheinland ermöglichte,88 sowie darüber hinaus, »rechts des Rheins auch das Gerichtswesen eingeführt«89 zu haben. Noch nicht unter einem Rechtsaspekt wurden in der Nachkriegszeit Ereignisse aus dem 19. und 20. Jahrhundert verstanden. Die Herrschaft Napoleons galt als Fremdherrschaft über deutschsprachige Gebiete wie insbesondere dem Rheinland. Noch 1956 wurde daher in dem von Werner Jüttner herausgegebenen Band über den Kölner Dom vom »Befreiungsjahr 1814«90 geschrieben, als die preußischen Truppen unter Blücher den Rhein erreichten. Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass die Besetzung durch den westlichen Nachbarn in der Weimarer Republik als Demütigung der Nachkriegsgeneration noch in Erinnerung war und der Verlust der nationalen Einheit nach 1945 als Katastrophe gewertet wurde. Eine Betonung von Vorteilen der Präsenz anderer Mächte am Rhein hätte diesem nationalstaatlichen Geschichtsdenken wohl widersprochen. Edith Ennen schrieb daher noch 1970, die Stadt Köln habe aus sich heraus eine »rechtsschöpferische Kraft«91 entwickelt. Seit spätestens den 1980er Jahren setzte sich in der musealen Präsentation jedoch ein Perspektivenwechsel durch. Wenn auch die militärischen Ereignisse der Koalitionskriege und damit die für die Bevölkerung verbundenen Folgen nicht ausgeblendet wurden,92 so rückten doch die mit den französischen Truppen ins Rheinland getragenen Rechtsstrukturen ins Zentrum der Präsentation.93 So schrieb im Handbuch der dreiteiligen Ausstellungen über die deutschen Jakobiner in der Mainzer Republik Heinrich Scheel 1981 generalisierend: »Der Enthusiasmus war links wie rechts des Rheins der gleiche, und er galt den Theorien der Revolution. Doch seit dem Oktober 1792 war die Situation für diese Männer zwischen Landau und Bingen eine ganz andere geworden: Im Unterschied zu ihren Gesinnungsfreunden im Rechtsrheinischen, die sich mit der Fran-
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Vgl. Braunfels: Karl der Große, S. 4. Ebd., S. 2. [Jüttner]: Kölner Dom, S. 105. Ennen, Edith (Hg.): Die Stadt Köln – Gestalt und Wirkung. Zusammengestellt vom Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn (= Kunst und Altertum am Rhein, Bd. 27), Düsseldorf 1970, S. 18. Vgl. Dreher, Bernd/Engelbrecht, Jörg (Hg.): Das Herzogtum Berg. 1794-1815. Herzogtum Berg, 1794-1806, Großherzogtum Berg, 1806-1813, Generalgouvernement Berg, 1813-1815, 20.3.–26.5.1985, Stadtmuseum Düsseldorf, Düsseldorf 1985, S. 11; Zuber, Uwe: »Das Ende der geistlichen Staaten und die Anfänge moderner Staatlichkeit in Westfalen«, in: Ulrike Gärtner/Judith Koppetsch (Hg.): Klostersturm und Fürstenrevolution. Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser. 1794/1803, Bönen 2003, S. 140-153, hier S. 140. Vgl. Cordez: Ausstellung, S. 17-29; Plessen, Marie-Louise von: »Marianne und Germania«, in: Dies.: Flussbiografie, S. 210-239, hier S. 220.
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zösischen Revolution nur theoretisch auseinandersetzen mußten und auch konnten, standen sie nun vor der unabdingbaren Notwendigkeit, sich praktisch, konkret, handgreiflich mit diesem Problem zu beschäftigen, denn die Revolution war mit Vorstoß Custines zu ihnen gekommen.«94 Der hierbei erwähnte Adam-Philippe de Custine, der zuerst Speyer, dann Worms und schließlich Mainz im Ersten Koalitionskrieg eroberte, galt als »bewaffneter Missionar der Revolution«95 . Zentral war somit für den Autor nicht der militärische Aspekt, sondern die ideengeschichtliche Anbindung an den Westen sowie die damit verbundenen Reformen im Rechtswesen. Ausgehend von diesem Modernisierungsschub zog er eine unmittelbare Linie von der Mainzer Republik zu den Freiheitsbewegungen im darauffolgenden 19. Jahrhundert: »Darüber hinaus aber besitzt sie [die Mainzer Republik] trotz alles Episodischen auch eine hervorragende praktisch-politische Bedeutung als Ausgangspunkt einer progressiven Kontinuitätslinie, die über verschiedene Zwischenstufen bis in die bürgerlich-demokratische Revolution von 1848/49 hineinreicht.«96 In dem kurzen Beitrag wurde von Scheel eine Reihe von Sichtweisen angesprochen, die seither konstant in der musealen Präsentation der französischen Herrschaft im Rheinland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert anzutreffen waren. Zum einen galt die Einführung des französischen Rechtes als Fortschritt, der dem Osten Deutschlands in dieser Form versagt geblieben sei, wie etwa auch FriedrichWilhelm Henning 1984 in einer Ausstellung über Unternehmer in der Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen bilanzierte.97 Auch der Modell- und Reformstaat Westphalen unter König Jérôme galt hierfür 2006 in einer Ausstellung als Beispiel.98 Peer Steinbrück (SPD) wertete in seiner Funktion als Ministerpräsi94
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Scheel, Heinrich: »Der historische Ort der Mainzer Republik«, in: Friedrich Schütz/Hellmuth G. Haasis/Klaus Benz (Hg.): Deutsche Jakobiner. Mainzer Republik und Cisrhenanen, 17921798, Bd. 1: Handbuch. Beiträge zur demokratischen Tradition in Deutschland, Mainz 2 1982, S. 17-24, hier S. 17. Ebd. Scheel: Ort, S. 22. Vgl. Henning, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835-1871). Ausstellung des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchivs zu Köln e.V. in enger Zusammenarbeit mit dem Historischen Archiv der Stadt Köln in den Räumen des Historischen Archivs, Severinstraße 222-228, 17. September 1984 bis 30. November 1984, Köln 1984, S. 13. Vgl. Knöppel, Volker: »Verfassung und Rechtswesen im Königreich Westfalen«, in: Helmut Burmeister/Veronika Jäger (Hg.): König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung (= Hessische Forschungen, Bd. 47; Die Geschichte unserer Heimat, Bd. 45), Hofgeismar 2006, S. 21-42. Welche Bedeutungszuschreibungen in Ausstellungen auch für andere Regionen der Bundesrepublik gesehen werden, soll hier am Beispiel der Ausstellung zum sogenannten Reformstaat
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
dent von Nordrhein-Westfalen 2003 in seinem Vorwort zu einem Ausstellungskatalog über Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser in den Jahren 1794 bis 1803, dass die durch Frankreich verursachte Säkularisation den »Weg frei für den modernen deutschen Föderalismus«99 gemacht habe. Für Jens Beutel, Oberbürgermeister der Stadt Mainz (SPD), war zwar zunächst der Charakter der »Fremdherrschaft«100 der Franzosen nicht zu bestreiten, doch verwies er mit Stolz 1998 anlässlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848 darauf, dass seine Stadt ein zweites Jubiläum feiern könne, da sie mit dem Beginn der französischen Herrschaft vor 200 Jahren für 16 Jahre eine französische Departement-Hauptstadt wurde. Anlass der Feier waren ihm dabei die »Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz, ein bürgerliches Gesetzbuch, das Maßstäbe setzte und von vielen Ländern übernommen wurde, die Zivilehe, die Gewerbefreiheit sowie die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren mit Geschworenengerichten.«101 Ein zweiter Punkt, den schon Scheel kommunizierte, ist seither auch immer wieder in musealen Darstellungen anzutreffen. Hierbei handelt es sich um die Unterstellung, dass die Angliederung der linksrheinischen Gebiete an Frankreich bei der Bevölkerung auf breite Befürwortung stieß. Etwa kommt dies bei Mario Kramp zur Geltung, der 2004 zu einer Ausstellung über Napoleons Aufenthalte in Koblenz schrieb: »So mancher republikanisch gesinnte Koblenzer hatte die Ankunft der Franzosen begrüßt.«102 Ein dritter und letzter Punkt ist die Ausstrahlungskraft der französischen Reichsverhältnisse auf das Selbstbewusstsein der Menschen im Rheinland und damit auf den Verlauf der deutschen Geschichte. Peter Krawietz
Westphalen verdeutlicht werden. In der Einführung zur Ausstellung von 2006 konstatierten die Herausgeber Veronika Jäger und Helmut Burmeister, dass, erst als »sich die Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg von den traditionellen Beurteilungsmustern und Werkkategorien gelöst hat«, die Beschäftigung der Geschichtswissenschaft mit dem Reformstaat »umso interessanter wird«, da er »in seinen Wirkungen auf besonders die deutsche und darin die hessische Geschichte des 19. Jahrhunderts kaum zu überschätzenden« Einfluss hatte. Jäger, Veronika/Burmeister, Helmut: »Das Königreich Westfalen. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): König Jérôme, S. 7-20, hier S. 7. 99 Steinbrück, Peer: »Grußwort«, in: Gärtner/Koppetsch: Klostersturm, S. 9. 100 Beutel, Jen: »Grußwort«, in: Friedrich Schütz (Hg.): Von Blau-Weiß-Rot zu Schwarz-Rot-Gold. Mainz vom Beginn der Napoleonischen Herrschaft 1798 bis zur Revolution von 1848 (= Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, Bd. 32), Mainz 1998, S. 7. 101 Ebd., S. 7. Über die Mainzer Republik als »erste demokratische Versuch in Deutschland« vgl. auch Schütz, Friedrich: »Von Blau-Weiß-Rot zu Schwarz-Rot-Gold. Aspekte der Mainzer Geschichte von 1798 bis 1848, in: Ders.: Mainz, S. 11-18, hier S. 12. 102 Kramp, Mario: »Der Kaiser kommt! Napoleon in Koblenz«, in: Mario Kramp (Hg.): Napoleon. Der Kaiser kommt! Verehrung und Mythos in Koblenz (= Mittelrhein-Museum Koblenz, Kleine Reihe, Bd. 4), Koblenz 2004, S. 19-29, hier S. 19.
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vom Kulturdezernat der Stadt Mainz schrieb 1998 in seinem Grußwort zu einer Ausstellung über Mainz vom Beginn der Napoleonischen Herrschaft 1798 bis zur Revolution von 1848: »Der Titel unserer Ausstellung bestätigt diese Feststellung, ja mehr noch: er bringt zum Ausdruck, daß zumindest im Mainzer Raum eine enge Beziehung besteht zwischen der sogenannten Franzosenzeit am Ende des 18. Jahrhunderts und den Ereignissen des Jahres 1848/49.«103 Einen Schritt weiter ging Marie-Louise von Plessen 2016 und zog eine Linie, nach der die »bis zur Wiedervereinigung 1990 ›rheinisch‹ orientierte Bundesrepublik Deutschland«104 ihren »Weg zur Demokratie entlang der Rheinachse über die historischen Etappen«105 vollendete habe. Auch die Intention von Konrad Adenauer beim Beginn des europäischen Zusammenschlusses wurde hier auf den entstandenen rheinischen Pragmatismus zurückgeführt.106 Daneben existierten in geringerem Umfang Ausstellungen, die auf den Unterdrückungscharakter der französischen Herrschaft insbesondere nach der Kaiserkrönung Napoleons hinwiesen. Ein Bespiel ist die Ausstellung über Denkmäler zum Schillaufstand 1809107 im Jahr 1984 in Wesel, wo die elf mit Ferdinand von Schill gegen die Franzosen verschworenen Offiziere mit einem Gedenkmonument gewürdigt wurden. Im Katalog wurde der Kampf gegen Napoleon mit gegenwärtigen Auflehnungen in der Welt gegen Unfreiheit verglichen.108 Diese Sicht, den Aufstand von Schill gegen den französischen Kaiser als Engagement für »Freiheit« zu kommunizieren, verdeutlichte auch die Ausstellung Wir sind Preußen109 , die von 2009 bis 2010 unter anderem in Bielefeld, Lüdenscheid und Minden zu sehen war.110 103 Krawietz, Peter, »Grußwort«, in: Schütz: Mainz, S. 9-10. 104 Plessen, Marie-Louise von: »Europa am Rhein«, in: Dies.: Flussbiografie, S. 292-307, hier S. 297. 105 Ebd. 106 Vgl. Winter, Martin: »Eine Achse der europäischen Idee«, in: Plessen: Flussbiografie, S. 300305, hier S. 301. 107 Arand, Werner/Prieur, Jutta (Hg.): In Bronze, Stein und Eisen. Denkmäler zum Schillaufstand 1809 (= Weseler Museumsschriften, Bd. 8), Köln 1984. 108 Vgl. ebd., S. 7. 109 Sensen, Stephan (Hg.): Wir sind Preußen. Die preußischen Kerngebiete in NordrheinWestfalen 1609-2009. Begleitbuch zur Ausstellungsreihe Wir sind Preußen. Die Preußischen Kerngebiete in Nordrhein-Westfalen 1609−2009, Preußen − Aufbruch in den Westen, Museen der Stadt Lüdenscheid, 1. Februar bis 21. Juni 2009. Preußens Spuren in MindenRavensberg, Historisches Museum Bielefeld, 25. Oktober 2009 bis 14. Februar 2010, Essen 2009. 110 Vgl. Roelen, Martin Wilhelm: »Wesen und die elf Schill’schen Offiziere«, in: Sensen (Hg.): Kerngebiete, S. 253-260; Veltzke, Veit: »Für die Freiheit – Gegen Napoleon. Ferdinand von Schill im Netzwerk der preußischen Konspiration«, in: ebd., S. 217-252.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
Die Thematisierung und Neubewertung der Franzosenzeit in der musealen Präsentation ist ein Indikator für den Bedeutungsverlust des nationalstaatlichen Geschichtsbildes. Noch in den 1950er Jahren, als der geeinte deutsche Nationalstaat als Bezugsgröße sowie die Besatzungen jeweils nach den Weltkriegen noch in Erinnerung beziehungsweise auch noch präsent waren, bot der christliche Glaube eine Zuschreibung Westdeutschlands – allen voran des Rheinlandes – an die westlichen Nachbarn. Die veränderte Bedeutung von Religiosität und die Aufwertung von europäischen Betrachtungen in der Geschichtswissenschaft wie auch in Politik und Gesellschaft relativierten Konflikte auch aus der Zeit ab 1800 und ließen die Intention erkennen, auf weiteren Gebieten möglichst Gemeinsamkeiten herauszustellen. Statt des Glaubens wurde nun stärker eine gemeinsame Rechtsauffassung zum Bindeglied des im Zusammenschluss begriffenen Kontinents. Der Westen Deutschlands wurde nun nicht mehr in seinem Recht durch feindliche Einfälle als bedroht gesehen, sondern galt insbesondere durch französische Einflüsse früher als der Rest von Deutschland durch den Vorteil ausgezeichnet, Teil des westlichen Rechtsraumes zu werden. Das Rheinland wurde nun – verkürzt gesagt – nicht mehr in erster Linie unter dem Kreuz, sondern dem Paragraphen als Deutschlands Vorreiter in den Westen kommuniziert.
2.3
Der Wirtschaftsraum
In musealen Präsentationen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kann der Bereich Wirtschaft als weiteres wichtiges Charakteristikum für das Rheinland nachgewiesen werden, worin zunächst eine Kontinuität über die Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht. Durch die Industrialisierung an Rhein und Ruhr wurde ein Wirtschaftsraum geschaffen, der alsbald auch einen Einfluss auf die Generierung eines Erinnerungsraumes gewann, welcher wirtschaftliche Aspekte seiner Vergangenheit suchte, interpretierte und museal kommunizierte.111 Die Ausstellung zum 1900. Jubiläum der Stadt Köln weist explizit darauf hin, dass der Erfolg »vor allem auf wirtschaftlichen, politischen und sozialen Impulsen beruht«112 . Die Sektion zur Wirtschaftsgeschichte der Stadt wurde von »zahlreichen Kölner Handels-, Industrie- und Verkehrsfirmen«113 gefördert, die 111
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Für das Ruhrgebiet als Teil des Rheinlandes, dem ebenso verstärkt eine europäische Bedeutung zugeschrieben wird vgl. Höber, Andrea/Ganser, Karl (Hg.): IndustrieKultur. Mythos und Moderne im Ruhrgebiet. Im Rahmen der IBA Emscher Park, Essen 1999, S. 5; Gibas, Monika: »Repräsentationen und Industrielandschaften in raumbezogenen Identitätsdiskursen des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Detlef Altenburg/Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hg.): Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 251275. Ewald/Kuske: Vorwort, in: Stadt Köln: Köln, o. S. Ebd.
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»in der Geschichte des Kölner Wirtschaftslebens typische Leistungen«114 erbrachten und darüber hinaus auch für die »deutschen und internationalen großen Zusammenhänge und Zivilisation«115 Bedeutung erlangten. Insbesondere erhielt das Münzwesen Aufmerksamkeit, das exemplarisch als Beispiel für den Wandel von Raumzuschreibungen gesehen werden kann. Karolingische Münzen galten etwa vor 1918 als Symbol für die Monarchie als eine Staatsform, die wirtschaftliche Prosperität garantiere. Bei der Jahrtausendausstellung in Aachen 1925 wurden die karolingischen Münzen als Belege der Reichszugehörigkeit des Rheinlandes gewertet116 , vor dem Hintergrund der alliierten RheinlandBesetzung117 und schließlich in der Karlsausstellung von 1965 als Indikator für die Vorteile supranationaler Wirtschaftsräume gesehen.118 Diese Sicht war auch wieder im Jahr 2014 anzutreffen, als bei den Darstellungen der Reformen von Karl dem Großen vertreten wurde, der Kaiser habe »eine europäische Einheitswährung geschaffen, die von Köln über Paris bis Mailand nach zentral gelenkten Vorgaben produziert wurde«119 , wie es auch im Kunsthistorischen Museum Wien hieß. Im Zusammenhang mit der Karlsausstellung des Jahres 2014 wurden in der deutschsprachigen Presse Parallelen mit der Währungsgemeinschaft der Europäischen Union angestellt und somit der karolingische Denar mit dem Euro verglichen.120
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Ebd. Ebd. Dies ist ebenso 1970 anzutreffen vgl. Ennen: Köln, S. 11-19. Zur Ausstellung von 1950 vgl. ebenso Mölich, Georg: »›Köln ist wieder da‹ Facetten des Stadtjubiläums ›1900 Jahre Stadt‹ im Jahr 1950. Kommunale Identität als Inszenierung«, in: Geschichte im Westen 29 (2014), S. 207-222. 116 Vgl. Huyskens, Albert (Hg.): Amtlicher Führer durch die historische Jahrtausendausstellung in Aachen Mai bis August 1925, Aachen 3 1925, S. 17. 117 Vgl. Cepl-Kaufmann, Gertrude/Spies, Carola (Hg.): Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke? Die Rheinlandbesetzung im Spiegel der Literatur. Eine Ausstellung des Instituts ›Moderne im Rheinland‹ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf in der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Düsseldorf 2001; Limburger, Iris: »Die Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg. Leben unter alliierter Besatzungsherrschaft in Köln und in der Eifel, 1918-1926«, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 57 (2010), S. 93-118. 118 Vgl. Berghaus, Peter: »Das Münzwesen«, in: Braunfels: Karl der Große, S. 149-156; Muster: Geschichtsbilder. 119 Alram, Michael/Kluge, Bernd: »Rex Francorum und Imperator Augustus: Münzen Karls des Großen«, in: Sabine Haag (Hg.): Väter Europas. Augustus und Karl der Große. Eine Kabinettausstellung des Kunsthistorischen Museums 27. Mai bis 21. September 2014, Wien 2014, S. 3941, hier S. 41. Vgl. ebenso Muster: Geschichtsbilder. 120 Vgl. Muster, Eva: »›Jedem sein eigener Kaiser Karl.‹ Der Karlsmythos in deutschsprachigen Periodika im Kontext des 1200. Todestages«, in: Christina Bröker/Sarah Gatzlik/Eva Muster et al. (Hg.): Wissen im Mythos? Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen sowie deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, München 2018, S. 28-64, hier S. 52.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
Bezeichnend ist hierbei für das Rheinland, in dem sich nie ein alleiniges politisches und wirtschaftliches Zentrum ausbildete, dass nicht eine, sondern viele Metropolen der Region als bedeutsam galten. So wurde Köln 1970 in einer Ausstellung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn als wirtschaftliches Zentrum im Mittelalter mit Münzen, Münzwaagen und Urkunden zum Recht, Münzen schlagen zu dürfen, präsentiert.121 Hierbei wird ebenso auf die überregionale und internationale Bedeutung der Münzfunde und des damit einhergehenden prosperierenden Handels verwiesen sowie Köln als bedeutende Prägestätte bis ins 18. Jahrhundert präsentiert.122 Die Exponate, mit denen die Wirtschaftskraft des Rheinlandes in der Geschichte belegt werden sollte, waren thematisch breit gefächert, Anfang der 1970er Jahre beispielsweise Keramik-Funde aus der Zeit vor 2000 Jahren. Insbesondere wurden der Handel und das Exportwesen unterstrichen und die Verbreitung der Erzeugnisse rheinabwärts und in nord-westliche Länder hervorgehoben.123 Die Formulierung, es sei »europäischer Handel«124 gewesen, sollte durch zahlreiche Karten, überwiegend über den Norden, aber auch den Osten des Kontinents verdeutlicht werden. Beachtenswerterweise war dabei etwa in der Ausstellung Bagger und Bandkeramik125 von 1974 schon früh auch Kritik an der wirtschaftlichen Entwicklung im Rheinland anzutreffen. Die These von den »Grenzen des Wachstums«126 , die auf die vom Club of Rome in Auftrag gegebene Studie von 1972 anspielte,127 wurde auf die »energiewirtschaftlichen Planungen der Braunkohleindustrie«128 des Neolithikums übertragen. Schon damals hätten die Menschen durch die Herstellung von Bandkeramik die Böden ausgebrannt und sich als Konsequenz immer wieder neue Lebensräume suchen müssen. Somit wurde durch den Hinweis auf Fehler in der Vergangenheit das aktuelle Handeln kritisiert. Die mit der wirtschaftlichen Nutzung des Rheinlandes verbundene Problematik projizierte man in die Vergangenheit, und auch die Folgen der Produktion wurden erörtert129 sowie die Zersie-
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Vgl. Albrecht, Günther/Hagen Wilhelmine: »II. Zum Kölner Münzwesen«, in: Ennen: Köln, S. 20-28. 122 Vgl. ebd., S. 23-26. Auch Xanten hat 1978 eine Ausstellung unter dem Titel ›Geld‹ veranstaltet. Vgl. Zedelius, Volker (Hg.): Geld in Xanten (= Führer des Regionalmuseums, Bd. 10), Köln 1978. 123 Vgl. Janssen, Walter/Follmann, Anna-Barbara (Hg.): 2000 Jahre Keramik im Rheinland. Katalog der Ausstellung zur Eröffnung des Museums des Kreises Grevenbroich in Zons vom 24. Mai bis 2. Juli 1972, Neuss 1972, S. 7. 124 Ebd., S. 38. 125 Kuper, Rudolph/Lüning, Jens/Stehli, Petar (Hg.): Bagger und Bandkeramik. Steinzeitforschungen im rheinischen Braunkohlegebiet, Bonn 1974. 126 Ebd., S. 4. 127 Vgl. Meadows, Dennis L.: Club of Rome. Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 128 Kuper/Lüning/Stehli: Bagger, S. 4. 129 Vgl. ebd., S. 29.
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delung und Ausbeutung von Landstrichen durch den Braunkohleabbau mit den dezentralen Feuerstellen der Jungsteinzeit verknüpft.130 Diese Ausstellung diente 1977 Dirk Soechting als Vorbild für eine Schau über die Entwicklung der »von Menschenhand geformter Geräte«131 . In seiner Ausstellung im Regionalmuseum Xanten versuchte er, diverse Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs in allen Ebenen der Entwicklung näher zu bringen. Dabei standen Themen der Alltagskultur wie Wohnen, Besteck, landwirtschaftliche Geräte von den Germanen bis in die damalige Gegenwart, aber auch Fahrräder, Autos oder Traktoren im Fokus. Technische Entwicklungsstufen und hier in erster Linie die Betonung von Massenproduktion und Mobilität sollten als Errungenschaften im Rheinland präsentiert werden.132 Die Relevanz der Beweglichkeit für das rheinische Selbstverständnis wurde 1972 zum Thema Strassen. Gestern, heute, morgen133 vom Kölnischen Stadtmuseum präsentiert. Museumsdirektor Günther Albrecht und Landesrat Hans-Josef Kayser verwiesen dabei im Vorwort auf das Auto als »Symbol unserer Zeit«134 und betonen die Zukunft des Straßenbaus sowie der damit verbundenen Automobilindustrie. Behandelt werden hierbei ebenso Themen wie Handel und Vernetzung vom Paläolithikum über die Schnellstraßen der Perser, den Römerstraßen bis zum Ausbau des Straßennetzes unter Napoleon und den ersten Adaptionen für den motorisierten Massenverkehr zu Beginn des 20. Jahrhunderts.135 Anzumerken ist jedoch, dass die Zeit ab dem Beginn des Ausbaus des Autobahnnetzes im September 1933 unbehandelt blieb.136 Es lässt sich festhalten, dass eine Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus zu Beginn der 1970er Jahre noch kein fester Bestandteil musealer Präsentation war. Wie sehr die Römer den Wirtschaftsraum Rheinland geprägt haben, wird ebenfalls durch eine Vielzahl an Ausstellungen aufgegriffen, bei denen die Infrastruk-
130 Vgl. ebd., S. 37-40. Zu den Folgen für die Umwelt durch die Chemieindustrie vgl. Plessen: Flussbiografie, S. 251. Zum Kampf gegen die Atomkraft in den 1970er Jahren am Rhein von deutscher und französischer Perspektive aus vgl. Corbin, Anne-Marie: »›Die andere Wacht am Rhein‹ Der Kampf gegen die Atomkraft in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts diesseits und jenseits des Rheins«, in: Miard-Delacroix/Thiemeyer: Der Rhein/Le Rhin, S. 205-217. Auch in den 1980er Jahren war beim Thema »Mythos Rhein« der Umweltaspekt präsent. Vgl. Kretteck, Beate: »Der Rhein – Kloake, Giftkanal oder Ökosystem. Dokumentation zur ökologischen Entwicklung«, in: Boldt/Hüttenberger/Moliter et al.: Der Rhein, S. 131-138. 131 Soechting, Dirk (Hg.): Typologie. Entwicklungsstufen von Menschenhand geformter Geräte (= Führer des Regionalmuseums, Bd. 4), Köln 1977, o. S. 132 Vgl. ebd. 133 Weber, Günther (Hg.): Strassen. Gestern, heute, morgen. In Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Rheinland, Köln 1972. 134 Ebd., o. S. 135 Vgl. ebd., S. 42. 136 Vgl. ebd., S. 50-51.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
tur des Imperiums immer wieder im Fokus steht.137 Der Straßenbau habe eine besondere Lebensqualität geschaffen,138 von denen insbesondere die Thermen, die Märkte und ebenso die Tempel zeugen, und die dem nicht besetzten Germanien versagt geblieben sei. Es habe eine blühende »Stadtkultur im römischen Deutschland«139 geherrscht, und in den Ausstellungen standen die im Boden gefundenen Überreste des Handwerks sowie das Gold unterschiedlicher Schatzfunde, das auch für den Sold der römischen Legionäre steht, für eine prosperierende Wirtschaftslage im Rheinland.140 Jürgen Rüttgers (CDU), damaliger Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, hob in seinem Vorwort zur Ausstellung 2000 Jahre Varusschlacht 141 2009 insbesondere die Technik am Limes hervor.142 Er betonte, dass mit den Römern »im linksrheinischen Raum für über 200 Jahre ein äußerst effektiver Transfer von Technik und Wissen, mediterranem Luxus und Import begann, der sich niederschlug im Bauen und Wohnen, im Verkehr wie auch im übrigen Leben und Arbeiten«143 . Die Präsentation des Limes als befestigte Handelsroute unter-
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Vgl. bspw. Jaschke, Kathrin: »Immer eine gute Grundlage – Versorgung und Infrastruktur in den germanischen Provinzen«, in: Rudolf Aßkamp/Kai Jansen (Hg.): Triumph ohne Sieg? Roms Ende in Germanien, Darmstadt 2017, S. 136-144; ebenso Mirschenz, Manuela: »Strom der Römer«, in: Plessen: Flussbiografie, S. 74-87; Klein, Michael J. (Hg.): Die Römer und ihr Erbe. Fortschritt durch Innovation und Integration. Ausstellung im Landesmuseum Mainz, 2. Februar – 25. Mai 2003, Mainz 2003. 138 Vgl. Aßkamp, Rudolf: Westfälisches Museum für Archäologie. 2000 Jahre Römer in Westfalen, Mainz am Rhein 1989, S. 136-152. 139 Jung, Patrick, »Thermen, Märkte und Tempel – Stadtkultur im römischen Deutschland«, in: Aßkamp/Jansen (Hg.): Triumph, S. 105-118. Vgl. ebenso Bernhard, Helmut: »Städtisches Leben und ländliche Strukturen in der spätantiken Pfalz«, in: Alexander Schubert/Axel von Berg/Ulrich Himmelmann (Hg.): Valentinian I. und die Pfalz in der Spätantike, Heidelberg 2018, S. 68-73. 140 Vgl. Aßkamp: Archäologie, S. 153-164. Vgl. ebenso Albrecht, Christoph: Dortmunder Schatzfund römischer Goldmünzen. Ausstellung im Gebäude der Stadtsparkasse, 9. Oktober bis 6. November 1957, Dortmund 1957. Für die wirtschaftlichen Strukturen und den Handel in der spätantiken Pfalz vgl. Bernhard, Helmut: »Wirtschaftliche Strukturen und Handel in der spätantiken Pfalz«, in: Schubert/Berg/Himmelmann: Valentinian, S. 110-115, hier S. 110. Zur Eisenverarbeitung vgl. Braun, Arno: »Der vicus von Eisenberg Ein Zentrum spätantiker Eisenverhüttung?«, ebd., S. 116-118; zu den römischen Töpfereizentren vgl. Hissnauer, David: »Rheinzabern. Ein Töpfereizentrum im Wandel der Zeit«, ebd., S. 118-120. 141 Kenzler, Herwig (Hg.): 2000 Jahre Varusschlacht. 3 Bände, Stuttgart 2009. 142 Vgl. Müller, Stephanie (Hg.): Gebrochener Glanz. Römische Großbronzen am UNESCOWelterbe Limes, Mainz 2014. Für einen Überblick zur Forschungsgeschichte am Limes vgl. Hermann, Fritz-Rudolf (Hg.): Der Römische Limes in Deutschland. 100 Jahre ReichsLimeskommission. Schwerpunkte der Limesforschung in Hessen. Burg Breuberg im Odenwald (Breuberg Museum) 11.07.-04.10.1992. Eine Ausstellung des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen in Zusammenarbeit mit der Römisch-Germanischen Kommission Frankfurt a.M., Wiesbaden 1994. 143 Rüttgers, Jürgen: »Grußwort«, in: Kenzler: Imperium, S. 14.
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scheidet sich von den Forschungsansätzen seit dem Deutschen Kaiserreich, als die Anlage in erster Linie als militärischer Schutzwall verstanden wurde.144 In den Ausstellungen zum Mittelalter galt der Rhein ebenfalls als »Strom der Händler«145 und »als Straße des Weines, der Schriften, der Handelswaren und Luxusgüter für den europaweiten Warenumschlag«146 mit Köln als Hansestadt mit Stapelrecht als unumstrittenes Zentrum.147 Durch das Wirken Johannes Gutenbergs in Mainz galt das Rheinland als »ein Zentrum des frühen Buchdrucks«148 und verhalf der Region somit zur wirtschaftlichen Konjunktur. Johannes Arndt stellte 2010 in seinem Beitrag zur Ausstellung Renaissance am Rhein149 die wirtschaftlichen Vorzüge der Stadt Köln heraus und fasste für das gesamte Rheinland zusammen, dass es »als wichtiger Fernhandelsraum sowohl für Güter als auch für Nachrichten aller Art genutzt«150 wurde, und hob die bedeutende Rolle bei der Entstehung der periodischen Presse deutlich hervor. Die »Professionalisierungsprozesse im Bereich der Informationsübermittlung fanden daher hier vielfach früher statt als anderenorts. Zu den wichtigsten Innovationen gehörte die Etablierung des Buchdrucks im späten 15. Jahrhundert, die frühe altkirchliche Propaganda in Auseinandersetzung mit der ausgedehnten protestantischen Traktatherstellung, die Erfindung der periodischen Messrelation sowie die Einbeziehung in die frühesten Prozesse der Zeitungsherstellung.«151 Neben der Darstellung der Gesamtregion Rheinland als internationales Wirtschaftszentrum in Geschichte und Gegenwart war es auch einzelnen rheinischen Metropolen immer wieder ein Anliegen, eigene Innovationen besonders zu betonen. Die Ausstellung Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland
144 Vgl. Garbsch, Jochen/Braun, Rainer (Hg.): Der römische Limes in Bayern. 100 Jahre Limesforschung. Ausstellung der Prähistorischen Staatsammlung München (Ausstellungskataloge der Prähistorischen Staatssammlung München, Bd. 22), München 1992; Neumaier, Helmut: Christian Ernst Hansselmann. Zu den Anfängen der Limesforschung in Südwestdeutschland (Materialhefte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg, Bd. 18), Stuttgart 1993. 145 Plessen, Marie-Louise von: »Strom der Händler«, in: dies.: Flussbiografie, S. 118-145, hier S. 119. 146 Ebd., S. 123. 147 Vgl. Feld, Christine (Hg.): Einflussreich − Köln und seine Häfen. Begleitband zur Ausstellung im Historischen Archiv der Stadt Köln vom 11. April bis 16. November 2018, Köln 2018, S. 9; Arndt, Johannes: »Innovationskulturen: das Rheinland als Kommunikationsraum und zentrum«, in: Guido von Büren (Hg.): Renaissance am Rhein, Ostfildern 2010, S. 56-67, hier S. 58. 148 Büren, Guido von/Hoppe, Stephan/Mölich, Georg: »Orte der Renaissance im Rheinland. Einführung«, in: Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz (Hg.): Orte der Renaissance im Rheinland, Köln 2010, S. 3-8, hier S. 8. 149 Büren: Renaissance. 150 Arndt: Innovationskulturen, S. 67. 151 Ebd.
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und in Westfalen von 1835 bis 1871152 , die 1984 im Historischen Archiv der Stadt Köln gezeigt wurde, ist ein Beispiel hierfür. Köln wurde als »Motor der deutschen Wirtschaft«153 hervorgehoben. Auch in der großen Ausstellung über die Salier 2011 in Speyer wird das Rheinland am Beispiel von Köln als ein wichtiges »europäisches Handelszentrum«154 beschrieben, wovon »Glasöfen und -abfälle, Rückstände von Eisenverarbeitung und Schreibwerkzeug«155 zeugen. Diese »belegen spezialisierte Handwerker und Händler«156 sowie eine gut ausgebaute Infrastruktur.157 Veranschaulicht wird dieser Aspekt mit Kammmacherwerkzeug, Keramikgegenständen, Bergkristallschleifern, Steigbügeln oder hölzernen Messergriffen.158 Eine charakteristische Intention von musealen Präsentationen nach 1945 ist auch die »Pazifizierung« kriegerischer Elemente und damit von Ausstellungsobjekten, in denen nicht militärische Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt werden. Während die große Karlsausstellung 1965 Waffen und militärische Objekte überwiegend im Rahmen von Gräberfunden ausgestellt hat und eine kritische Auseinandersetzung mit Karl dem Großen als Feldherr weitgehend ausblieb,159 wurde im Karlsjahr 2014 immerhin in den wissenschaftlichen Abhandlungen des Kataloges »Lernen durch Kriege«160 oder die »Diplomatie als Teil [von] Karls Politik«161 besprochen. In der musealen Präsentation hingegen fand der »Krieg« durch die Präsentation von Ausrüstungsgegenständen statt, ohne das eigentliche Schlachtgeschehen zu vertiefen. Rüstungen und Waffen finden als Symbole von Handwerkskunst und der wirtschaftlichen Entwicklung des Karolingerreiches Beachtung. Als ein Beispiel hierfür ist auch das sogenannte Ulfberht-Schwert zu nennen, das laut der Forschung aus der Werkstatt des Schmiedes Ulfberht stammt162 und eng mit dem frühmittelalterlichen Krieg und besonders mit der Zeit Karls des Großen in
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Henning: Unternehmer, S. 9. Ebd. Trier, Marcus: »Köln im Mittelalter: Erzbischöfliche Kapitale und europäisches Handelszentrum«, in: Laura Heeg (Hg.): Die Salier. Macht im Wandel, Bd. 2: Katalog, München 2011, S. 184-186, hier S. 184. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Vgl. ebd., S. 184. 158 Vgl. Heeg: Salier 2, S. 187-193. 159 Vgl. Braunfels: Karl der Große, S. 55, 61-62, 66-69, 75, 78, 96, 104, 118; vgl. ebenso Muster: Geschichtsbilder. 160 Prietzel, Malte: »Lernen durch Kriege: Die Feldzüge Karls des Großen und die Welt der politischen Eliten«, in: Pohle: Karl der Große 2, S. 58-65. 161 Hack, Achim Thomas: »Welterfahrung durch Diplomatie zur Zeit Karls des Großen«, in: Pohle: Karl der Große 2, S. 66-77. 162 Weiterführend zur komplexen Forschung über diese Schwerter vgl. Pohle, Frank: Karl der Große – Charlemagne. Orte der Macht, Bd. 1: Katalog, Dresden 2014, S. 203.
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Verbindung steht.163 So war in der Ausstellung Blankwaffen164 des Jahres 1982 die Hervorhebung des Wirtschaftsaspekts anzutreffen,165 indem ein Exemplar aus der Werkstatt des Ulfberht in erster Linie als eine »Handelsmarke«166 präsentiert wurde. Auch im Centre Charlemagne, dem Aachener Stadtmuseum, wird ein UlfberhtSchwert in der Abteilung Krieg im sogenannten Karlsuniversum ausgestellt. Dabei handelt es sich um eine Wandpräsentation, die die Aspekte von Karls Herrschaft aufgreifen soll und noch aus den weiteren Rubriken Religion, Handel, Kunst und Wissenschaft besteht. Während die Hauptüberschrift noch »Krieg« und der Zusatz »Karls Heere erobern weite Teile Europas«167 lautet, wird dann im dazugehörigen Wand- und Objekttext das Schwert als Ausdruck von weit verzweigter Schmiedekunst und somit als Indikator für die wirtschaftlich-kulturelle Entwicklung der Rhein-Maas-Region im Mittelalter gewertet.168 Während Epochen wie die Römerzeit oder die Herrschaft der Karolinger seit der Nachkriegszeit unter wirtschaftlichen Aspekten somit kontinuierlich Zuspruch erfuhren, werden Vorteile von Prosperität bei anderen Ereignissen erst sehr viel später präsentiert. Als Beispiel ist zunächst die Ausstellung Wikinger am Rhein169 von 2004 zu nennen, die neben Bonn beispielsweise auch im niederländischen Utrecht gezeigt wurde. Hier werden zwar die Raubzüge der Nordmänner auch aufgegriffen, doch ausgestellt wurden zentral jene Gegenstände, die die Wikinger erbeutet haben, vordergründig unter handwerklichen Gesichtspunkten. Die Ausstellung hebt überdies die infrastrukturelle Vernetzung des fränkischen Reiches hervor.170 Als Intention der Ausstellung nennt Rudolf Simek, Professor für Ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen an der Universität Bonn, in der Einleitung: »Es war daher ausdrückliches Ziel der Ausstellung, die Kontinuitäten in den Handelsbeziehungen und die viel spektakuläreren aber untypischeren Ausbrüche der Gewalt im 9. und 10. Jahrhundert als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Die Überfälle auf der einen Seite und friedlichen Marktplätze auf der anderen sollen
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Vgl. Scharff, Thomas: Die Kämpfe der Herrscher und die Heiligen. Krieg und historische Erinnerung in der Karolingerzeit (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt 2008. Haedeke, Hanns-Ulrich (Hg.): Blankwaffen. Führer durch die Ausstellung (= Schriften des Deutschen Klingenmuseums Solingen, Bd. 1), Köln 1982. Vgl. ebd., S. 30. Ebd. Wandtexte Centre Charlemagne Aachen. (Stand: 31. Dezember 2016.) Die Autorin hat diese Wand- und Objekttexte im Zuge ihrer Arbeit über die museale Präsentation von Karl dem Großen in Aachen im Jahr 2017 dokumentiert. Willemsen, Annemarieke, (Hg.): Wikinger am Rhein. 800−1000, Utrecht 2004. Vgl. Simek, Rudolf: »Einleitung. Die Wikinger in den Rheinlanden«, in: Willemsen: Wikinger, S. 8-22, hier S. 16. Über das Ulfberht-Schwert speziell S. 18-22.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
also nicht absolute chronologische Gleichzeitigkeit suggerieren, aber ein Nebeneinander und Hintereinander der beiden Kommunikationsformen zwischen Skandinaviern und Franken am Rhein. Hier können die Handelsgüter beider gezeigt werden; denn im Austausch gegen Glas, Keramik, Mühlsteine, Wein, Schmuck und Waffen, die aus den Rheinlanden nach Norden verhandelt wurden, konnten die Skandinavier Häute, Pelze, Walrosselfenbein, Wetzsteine, Honig und Bernstein, daneben wohl auch Sklaven, zum Kauf anbieten, sodass die Handelswege trotz des Kulturgefälles von Süd nach Nord keineswegs Einbahnstraßen waren.«171 Die Völkerwanderung ist wie die Wikinger ein weiteres Thema, das erst in der jüngeren musealen Präsentation nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt des römischen Zusammenbruchs, sondern gleichfalls mit dem Verweis auf wirtschaftliche Vorteile kommentiert wurde. Auch die 2007 in Speyer präsentierte Ausstellung über Atilla und die Hunnen ist hierfür ein Beispiel. Einleitend heißt es: »Unstrittig ist heute, dass es den in das Römische Reich einbrechenden Völkern keineswegs um dessen Vernichtung ging. Vielmehr suchten sie fast ausnahmslos – dies gilt auch für die Langobarden – einen vor feindlichen Angriffen und kriegerischen Auseinandersetzungen geschützten Lebensraum, der gleichzeitig ein wirtschaftliches Auskommen sicherte.«172 Auch das Auftreten und die militärischen Aktionen der Hunnen werden nicht mehr als »Hunnensturm« charakterisiert, sondern mit Formulierungen wie »das Erscheinen der hunnischen Völkerkonföderation«173 kommuniziert. Ein weiterer neuer Aspekt in musealen Präsentationen des Rheinlandes sind die wirtschaftlichen Chancen, die mittlerweile der Franzosen- sowie auch der Preußenzeit zugeschrieben werden. Nahezu mit Begeisterung wurde 2004 von Mario Kramp in der Koblenzer Ausstellung Der Kaiser kommt!174 herausgestellt: »Heute besteht kein Zweifel mehr, dass Napoleon bei seinen Besuchen im Rheinland 1804 und 1811 mit echter Begeisterung empfangen wurde – weil man in ihm den Überwinder revolutionärer Verhältnisse, den Freund der Kirche und den Garanten geordneter Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse sah.«175 Napoleon wird hier nicht als Feldherr, sondern in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch lehnend ausgestellt, und auch der Einzug des französischen Militärs
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Simek: Einleitung, S. 18-20. Wilhelm, Jürgen/Voigtsberger, Harry K.: »Grußwort«, in: Morten Hegewisch (Hg.): Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung, Darmstadt 2008, S. 5. Ebd. Kramp: Kaiser. Ebd., S. 28.
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wird nahezu als friedliche Einnahme dargestellt.176 Dafür wird auf einem Gemälde von Wilhelm Camphausen der lange als »Befreiung« erklärte Rheinübergang von General Gebhardt von Blücher mit der Ersten Schlesischen Armee bei Kaub von 1814 als militärischer Akt gezeigt.177 Suggeriert wird, die Franzosenzeit habe die »Türe vom Mittelalter in die Neuzeit aufgestoßen«178 und mit einer ganzen Reihe von Reformen dem Rheinland zum Aufschwung verholfen.179 Auch hätten »Rechtsrheinische Kaufleute und Fabrikanten […] den Anschluss nach Frankreich wohl begrüßt, da die neu eingeführten Zölle ihren Absatz erschwerten.«180 Die Säkularisation durch Napoleon sowie die Veränderung des geistigen Lebens habe »einen weitreichenden Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft invitiert«181 . Dies »ist im Zusammenhang zu sehen mit einer durchgreifenden wirtschaftlichen Liberalisierung, die im Wesentlichen aufgrund der neuen Gewerbefreiheit, der Aufhebung des Zunftzwanges und durch die Abschaffung sämtlicher Feudalprivilegien zustande kam. Diese entscheidenden strukturellen Umgestaltungen kamen insbesondere den Interessen des Wirtschaftsbürgertums entgegen, einer Gesellschaftsschicht, die vom französischen System profitierte, und entsprechend war hier dessen Akzeptanz besonders ausgeprägt.«182 Zudem wird nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Preußen infolge der Entscheidungen des Wiener Kongresses unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wieder als vorteilhaft erachtet. Die Verwendung des Wortes »wieder« ist hier angebracht, da dies auch schon in der Erinnerungskultur des Deutschen Kaiserreiches anzutreffen war.183 Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte der geschichtspolitische Wandel eine Distanzierung von der preußischen Vergangenheit des Rheinlandes mit sich, von dem verstärkt nach der Jahrtausendwende wieder Abstand genommen wurde. Stattdessen kann eine Annäherung an
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Vgl. Kramp, Mario/Wirtler, Ulrike: »Coblence-Koblenz. Ausgewählte Exponate«, in: Kramp: Napoleon, S. 30-49, hier S. 36. 177 Vgl. Ebd., S. 45. 178 Knopp, Detlef: »Zur Ausstellung ›Napoleon‹. Grußwort«, in: Kramp: Napoleon, S. 7. 179 Vgl. Kramp: Kaiser, S. 19. Auch die wirtschaftlichen Vorteile des von Napoleons jüngerem Bruder Jerôme geleiteten Reformstaates Westphalen wurden in musealen Präsentationen wie bspw. 2006 hervorgehoben. Vgl. Hoffmann, Albrecht, »Wege der Wirtschaft – Instrumente der Politik/Wasserstraßen«, in: Burmeister/Jäger: König Jérôme, S. 339-352. 180 Plessen: Rhein, S. 244. 181 Schildt-Specker, Barbara: »Die Säkularisation in den ehemaligen linksrheinischen Reichsgebieten (1802)«, in: Ulrike, Gärtner/Judith Koppetsch (Hg.): Klostersturm und Fürstenrevolution. Staat und Kirche zwischen Rhein und Weser. 1794/1803, Bönen 2003, S. 132-139, hier S. 138. 182 Schildt-Specker: Säkularisation, S. 138-139. Ähnlich auch Reininghaus, Wilfried: »Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803. Voraussetzungen und Folgen für das Land zwischen Rhein und Weser«, in: Gärtner/Koppetsch: Klostersturm, S. 114-131. 183 Vgl. Schneider: Festkultur, S. 337-338.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
Preußen angetroffen werden, wie es schon im Titel einer Ausstellung über die Grafschaft Mark Preußen – Aufbruch in den Westen184 hieß und im Vorwort erklärt wurde, dass »der Nationalsozialismus […] die militärischen und disziplinierenden Traditionen Preußens derart für sich vereinnahmt und zugleich pervertiert [hat], dass nicht einmal an eine kritisch-distanzierte Rückschau gedacht werden konnte.«185 Im Jahr 2001, anlässlich des sogenannten »Preußenjahres«, wurde ebenfalls darauf verwiesen, dass die von Berlin 1815 neu gewonnenen Provinzen durch die französischen Reformen wirtschaftlich wesentlich weiter waren als »nahezu alle gewerblichen Produktionsbereiche«186 der »preußischen Stammlande«.187 Gleichzeitig erfuhr die wirtschaftliche Gesetzgebung der neuen Landesherren am Rhein ebenfalls Anerkennung, wie etwa die Aufhebung aller Binnenzölle.188 Preußen war der Staat, unter dem die territoriale Zersplitterung der rheinischen Territorien dauerhaft als überwunden galt und unter dem die Rheinprovinz ihre wirtschaftliche Kraft habe entfalten können.189 Daher galt die Borussifizierung des Rheins als wirtschaftliche und teilweise auch militärische Errungenschaft. Somit können zwei Aspekte über die Rolle der Wirtschaft in der historischen Erinnerung des Rheinlandes festgestellt werden. Zum einen hat der Wirtschaftsstandort Rhein die Generierung eines Erinnerungsraumes Rheinland in großem Umfang mit beeinflusst. Zum anderen zeigt der Wandel an historischen Themen, die als Auslöser für Prosperität gesehen wurden und werden, eine Transformation im historischen Selbstverständnis Westdeutschlands. Galt wirtschaftliche Kraft zunächst allein durch die Zugehörigkeit zu mächtigen und geordneten Staatsgebilden wie dem Römer- oder Karolingerreich als garantiert, deren Existenz noch dazu lange zurück lag, können mittlerweile auch dem Einfluss von Migrationsströmen wie der Völkerwanderungszeit sowie jüngeren Ereignissen wie der französischen Herrschaft und wieder der Preußenzeit Vorteile für Wohlstandsentwicklung abgerungen werden. Dies führt zum letzten Punkt, der hier herausgegriffen werden soll, der musealen Präsentation von kulturellem Transfer im Rheinland seit 1945.
184 Trox, Eckhard/Meindl, Ralf (Hg.): Preußen – Aufbruch in den Westen. Geschichte und Erinnerung – die Grafschaft Mark zwischen 1609 und 2009, Lüdenscheid 2009. 185 Trox, Eckhard/Meindl, Ralf: »Vorwort der Herausgeber«, in: Dies.: Preußen, S. 11-12, hier S. 11. 186 Meißner, Jan/Olschewski, Dagmar: »Die Preußen am Rhein«, in: Wolfgang Brönner/Jan Meißner/Dagmar Olschewski (Hg.): Preußische Facetten: Rheinromantik und Antike. Zeugnisse des Wirkens Friedrich Wilhelms IV. an Mittelrhein und Mosel, Regensburg 2001, S. 23-26, hier S. 23. 187 Ebd. 188 Vgl. Ebd., S. 23-24. 189 Vgl. Trox, Eckhard: »›[…]nicht nur östlich der Elbe, sondern jenseits bis an den Rhein […]‹. Das Jubiläum von 1909 – Geschichtskonstruktionen und die Mystifizierung der Bedeutung Preußens im Westen«, in: Ders./Meindl: Preußen, S. 153-175.
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2.4
Der Raum von kulturellem Transfer
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die religiösen, rechtlichen und wirtschaftlichen Raumzuschreibungen behandelt wurden, soll in diesem letzten Punkt noch eine Analyse der Kommunikation der kulturellen Prägung des Rheinlandes erfolgen. Dabei ist die Schilderung eines wechselseitigen Verhältnisses von Einflüssen auf die Region sowie deren Ausstrahlung in den transatlantischen Kulturraum festzustellen. Schon in der Kölner Jahrtausendausstellung von 1925 war – mitunter auf Betreiben von Bürgermeister Konrad Adenauer (CDU) – das jüdische Leben in der Stadt am Rhein berücksichtigt worden. Die Juden sollten hier als Teil des kulturellen Selbstverständnisses der Metropole und nicht als »fremd« kommuniziert werden.190 Die jüdische Identität des Rheinlandes zu vermitteln wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg alsbald wieder eine zentrale Absicht von Ausstellungsmachern, wofür unter anderem 1959 Schmierereien auf der gerade erst wieder eröffneten Kölner Synagoge ein Anlass waren.191 Kurt Hackenberg (SPD), damaliger Beigeordneter der Stadt Köln für Kultur sowie an der Gründung der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums beteiligt,192 erklärte im Fazitband der Ausstellung Monumenta Judaica: 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein193 als zentralen Gedanken des Vorhabens, »den Mitbürgern klar zu machen, in welchem Verhältnis sie und ihre Vorfahren mit den rheinischen Juden lebten«194 . Auch der damalige Kölner Oberbürgermeister Theo Burauen (SPD), der das »unfassliche Grauen der jüngsten Vergangenheit«195 zumindest anriss, hob in seiner Eröffnungsrede hervor, dass seine Stadt bei ihrer Gründung von der jüdischen Kultur und Religion mit geprägt worden sei. Mit Blick auf die Zielsetzung der Ausstellung
190 Vgl. Arand, Tobias: »Die jüdische Abteilung der Kölner ›Jahrtausend-Ausstellung der Rheinlande‹ 1925. Planung, Struktur und öffentlich-zeitgenössische Wahrnehmung«, in: Monika Grübel/Georg Mölich (Hg.): Jüdisches Leben im Rheinland. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2005, S. 194-213; vgl. Wiesemann, Falk: »Die Abteilung ›Juden und Judentum im Rheinland‹ auf der Kölner Jahrtausend-Ausstellung von 1925«, in: Cepl-Kaufmann: Jahrtausendfeiern, S. 275-297. 191 Vgl. Hackenberg, Kurt: »Rückblick«, in: Ders. (Hg.): Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Eine Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum 15. Oktober 1963 – 15. März 1964, Fazit, Köln 1964, S. 11-13, hier S. 11. 192 Vgl. Kilp, Birgit: Alle für Kultur. Die Ära Kurt Hackenberg in Köln 1955-1979, Köln 2009. 193 Schilling, Konrad (Hg.): Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Handbuch. Im Auftrage der Stadt Köln 1963, Köln 2 1964. Vgl. ebenso Schilling, Konrad: Monumenta Judaica. 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein. Katalog. Eine Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum, 15. Oktober 1963 – 15. März 1964, Köln 2 1964. 194 Hackenberg: Rückblick, S. 11. 195 Burauen, Theo: »Ansprache zur Eröffnung«, in: Hackenberg: Monumenta Judaica, S. 17-20, hier S. 17.
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meinte er: »Der Vergangenheit gerecht zu werden, der Zukunft das rechte Maß zu geben, das ist letzten Endes auch die Aufgabe dieser Ausstellung.«196 Der Historiker Theodor Schieder hob in seine Rede die Bedeutung der Juden im deutschen Geistesleben hervor;197 Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier die Vorbildfunktion von Köln mit der Monumenta Judaica für ganz Deutschland.198 Projekte über jüdisches Leben im Rheinland wurden seither immer wieder umgesetzt, wie auch die Ausstellung Juden an Rhein und Sieg199 von 1983 zeigt. Mittlerweile wird die jüdische Geschichte in Ausstellungen nahezu selbstverständlich berücksichtigt und ist fester Bestandteil der ausgestellten Epochen oder Ereignisse, wie etwa 2013 Die Wittelsbacher am Rhein200 zeigt oder auch die bereits erwähnte Ausstellung über den Rhein im Jahr 2016, in der Städte wie Speyer, Worms und Mainz als die »bedeutendsten Zentren jüdischen Lebens«201 vorgestellt wurden. Zentrale Intentionen sind oft, wie schon in der Monumenta Judaica, die wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen zu betonen202 sowie aufzuzeigen, dass es im Verhältnis von Juden und Christen »lange Epochen eines friedlichen Mit- und oder Nebeneinanders«203 gegeben habe. Als Belege werden die Präsenz von jüdischen Händlern und Ärzten oder gemeinsame Festlichkeiten genannt. Werner Transier verwies zudem in der Speyrer Ausstellung über die Salier auf den Schutz von Heinrich IV. für die Juden in Speyer und Worms. Auch führte er die historische Figur des Speyerer Bischofs Johannes I. an, der der jüdischen Bevölkerung während der Kreuzzugspropaganda in seiner Burg Sicherheit geboten habe.204 Zudem konnte auch als Folge des Einmarsches der Franzosen in den Koalitionskriegen der Vorteil
196 Ebd., S. 20. 197 Vgl. Schieder, Theodor: »Ansprache zur Eröffnung«, in: Hackenberg: Monumenta Judaica, S. 21-22. 198 Vgl. Gerstenmaier, Eugen: »Ansprache zur Eröffnung«, in: Hackenberg: Monumenta Judaica, S. 31-34, hier S. 31. 199 Linn, Heinrich (Hg.): Juden an Rhein und Sieg, Siegburg 1983. 200 Vgl. Ziwes, Franz-Josef: »Die Juden in der mittelalterlichen Pfalzgrafschaft bei Rhein«, in: Alfried Wieczorek/Bernd Schneidmüller/Alexander Schubert et al. (Hg.): Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Begleitband zur 2. Ausstellung der Länder BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen, Bd. 1: Mittelalter, Regensburg 2013, S. 102-103, hier S. 102. 201 Plessen: Rhein, S. 114. Für das Jahr 2020 ist in Mainz eine Landesausstellung unter dem Titel ›Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa‹ geplant, bei der auch die drei sogenannten ›SchUM‹-Städten Schpira (Speyer), Uormatia (Worms) und Magenza (Mainz) Berücksichtigung finden sollen. 202 Vgl. Transier, Werner: »Die jüdischen Gemeinden im ›deutschen Reich‹ der Salierzeit«, in: Laura Heeg (Hg.): Die Salier. Macht im Wandel, Bd. 1: Essays, München 2011, S. 150-161, hier S. 155. 203 Ebd., S. 156. 204 Vgl. ebd., S. 152-154 sowie 158.
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hervorgehoben werden, dass als Folge auch die Gleichberechtigung von Juden im Rheinland erstmals per Gesetz erfolgt sei.205 Das Zusammenleben von unterschiedlichen Glaubensprägungen als Bereicherung und damit Erfolg am Rhein wurde ab den 1960er Jahren nicht nur auf Christen und Juden beschränkt. Dies zeigt 1965 die ebenfalls in Köln stattgefundene Ausstellung Reformatio. 400 Jahre evangelisches Leben im Rheinland206 , die die Koexistenz der christlichen Konfessionen betonte.207 Das Rheinland entwickelte sich somit zur Symbolregion eines ertragreichen Verhältnisses von unterschiedlichen kulturellen Prägungen.208 So galt etwa die Renaissance als Beispiel, »wie innovativ und vielfältig hier im Rheinland auf die geschichtlichen Herausforderungen reagiert wurde«209 und mit welcher »spezifischen heterogenen regionalen Prägung und einer Vielzahl von kulturellen Innovationsschritten«210 eine Koexistenz gelungen sei. Auch Marie-Louise von Plessen kommunizierte in ihrer Flussbiographie den Rhein als Kulminationsband von intellektuellem Input, indem sie ihn als »Strom der Troubadoure«211 mit einer heterogenen Sprachen- und Literaturprägung,212 ein »Förderband der Humanisten«213 präsentierte. Der Rhein galt Plessen als Anziehungspunkt der Geistesgeschichte214 und als Ort für »Transfer und Austausch von Bildern und Schriften«215 , an dem »die neuesten Ideen für Wissbegierige und Neugierige in Europa vertrieben«216 worden seien. Als »transkontinentaler Strom«217 habe er somit eine »eigene Kunst- und Kulturlandschaft, deren Physiognomie so vielfältig ist wie ihre Topographie unterschiedlich«218 sei, entfaltet. Ähnlich argumentierte Heinz Finger, der dies mit Hinweis auf die Lebensläufe von Gelehrten wie Johannes Caesarius, Johanes von Vlatten, Konrad Heresbach oder
205 Vgl. Kramp: Kaiser, S. 19; Hartmann, Stefan: »Neue Quellen zur Geschichte der Juden im Königreich Westphalen«, in: Burmeister/Jäger: König Jérôme, S. 241-254. 206 Thierfelder, Hildegard/Venderbosch, Friedrich Gerhard/May, Helmut (Hg.): Reformatio. 400 Jahre evangelisches Leben im Rheinland. Ausstellung veranstaltet v. d. Stadt Köln anläßlich d. 12. Dt. Evang. Kirchentages im Overstolzenhaus, 11. Juli bis 12. Sept. 1965, Köln-Ehrenfeld 1965. 207 Vgl. ebd., S. 6. 208 Vgl. Legner, Anton (Hg.): »Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800−1400. Kleiner Führer durch die Rhein-Maas-Ausstellung in der Kölner Kunsthalle, Köln 1972, S. 1. 209 Wilhelm, Jürgen/Hötte, Renate: »Grußwort«, in: Büren: Renaissance, S. 7. 210 Altringer, Lothar/Büren, Guido von/Mölich, Georg: »Einleitung«, in: Büren: Renaissance am, S. 10-14, hier S. 10. 211 Plessen: Händler, S. 127. 212 Vgl. ebd., S. 127-128. 213 Ebd., S. 128. 214 Vgl. ebd., S. 128-133. 215 Ebd., S. 128. 216 Ebd., S. 129. 217 Ebd., S. 135. 218 Ebd.
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auch Johannes Gogreve und Heinrich Olisleger und somit Persönlichkeiten, die im Rheinland geboren wurden und in Köln, aber auch in Frankreich und Italien studierten, bestätigt sehen will.219 Der kulturelle Import aus Italien wird immer wieder als Indikator einer gemeinsamen europäischen Geschichte gesehen.220 Als Belege jener Kultursymbiose werden auch die Baudenkmäler der Renaissance-Architektur im Rheinland angeführt.221 Einen Schritt weiter ging Mario Kramp 2004 mit seinem kontrafaktischen Gedankenspiel in der bereits erwähnten Ausstellung Der Kaiser Kommt!222 über den deutsch-französische Kulturtransfer während der napoleonischen Herrschaft. Kramp verweist zunächst auf die in diesen Jahren erschienenen Zeitungen und aufgeführten Theaterstücke in deutscher und französischer Sprache sowie auf den Umstand, dass »Ehen zwischen französischen Offizieren und Töchtern der Koblenzer Gesellschaft keine Seltenheit mehr«223 gewesen seien. Dies verleitet ihn zu dem Rückschluss, es sei »eine reizvolle Spekulation, zu fragen, wann eine komplette Assimilation wohl vollzogen worden wäre, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen«224 . Diese Äußerungen verdeutlichen, dass bei der Analyse von historischen Ausstellungen nicht übersehen werden darf, dass von der Seite der Politik wie auch der der Geschichtswissenschaft eine Neigung zur retrospektiven Pazifizierung der Region des Rheinlandes vorhanden ist. Ein anderes Beispiel zeigt die ebenfalls schon erwähnte Ausstellung Wikinger am Rhein225 im Jahr 2004, in der neutral über »die Aktivitäten der Nordeuropäer im Gebiet von Rhein und Maas zwischen 800 und 1000«226 geschrieben wurde. Die Überfälle werden zwar noch angesprochen, doch wird verstärkt auf »Handel und Diplomatie«227 mit Skandinavien verwiesen und ein erklärter Schwerpunkt auf die Präsentation von Schmuckgegenständen gelegt.228 Somit zog Rudolf Simek auch in der Einleitung zum Ausstellungsband 2004 die Bilanz: »Jedenfalls ist sicher, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen der Wikingerzeit nur eine temporäre, und auch da nicht vollstän-
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Vgl. Finger, Heinz: »Das Rheinland in der Renaissance – ein historischer Überblick 1450 bis 1600«, in: Büren: Renaissance, S. 18-39, hier S. 37. Vgl. Müller, Harald: »Von Italien an den Rhein. Der Humanismus verändert die Bildungslandschaft«, in: Büren: Renaissance, S. 40-55. Vgl. Ferraro, Pierluigi Giuseppe: »Geleitwort. Von Perspektiven und Wiedergeburt«, in: Karlheinz Wiegmann (Hg.): Große Pläne. Schloss Rheydt – Renaissance am Niederrhein, Mönchengladbach 2017, S. 5. Kramp: Kaiser. Ebd., S. 21. Ebd. Willemsen: Wikinger. Simek: Einleitung, S. 8-1. Vgl. ebenso Zehnder, Frank-Günter/van Zijl, Ida/DamgårdSørensen, Tinna: »Vorwort«, in: Willemsen: Wikinger, S. 7-8, hier S. 7. Simek: Einleitung, S. 10. Vgl. Ebd., S. 15.
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dige Unterbrechung intensiver fränkisch-skandinavischer Kultur- und Handelsbeziehungen dargestellt haben.«229 Ähnlich verhält es sich im Katalog zur Speyrer Ausstellung über Attila von 2007, in dem in der Einleitung als Ziel erklärt wird, ein differenteres Bild über die Hunnen entwerfen zu wollen,230 und von Uwe Gross und Ludwig Hildebrandt in ihrem Aufsatz über Östliche Elemente im Fundgut des 5. Jahrhunderts aus dem rechtsrheinischen Vorland von Speyer 231 auf Gebrauchskeramik verwiesen wird. Ein weiteres Ereignis der rheinischen Geschichte erfuhr unter kulturellen Aspekten – im Vergleich noch zu den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg – eine geschichtspolitische Neubewertung, die sich auch in Ausstellungen niederschlug. Hierbei handelte es sich um die zeitweise Besetzung des Rheinlandes in der Zeit der Weimarer Republik durch belgische, britische und französische Truppen sowie anfänglich auch Kontingente der Vereinigten Staaten. Während sich die Kommunikation des Vorrückens der westlichen Alliierten 1944/45 schon seit den 1950er Jahren sukzessive als »Befreiung« durchsetzte, galten die Einmärsche von 1919 und den Folgejahren sowie insbesondere 1923 lange weiterhin als feindliche Akte, war doch die Weimarer Republik eine Demokratie, deren territoriale Integrität durch die westlichen Nachbarn überschritten wurde. Das Schlagwort »Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?« war in den 1920er Jahren ein propagandistischer Aufruf gegen diesen Einmarsch von Truppen aus als »fremd« empfundenen Nachbarstaaten.232 Jenes Zitat war 2001 der Titel einer Ausstellung des Instituts Moderne im Rheinland über die Rheinlandbesetzung im Spiegel der Literatur während der Weimarer Republik. Im Grußwort erklärt Dieter Breuer diesen Spruch für »uns heutigen so fern gerückt«233 , denn warum sollten Rösser, »fremd oder nicht«234 , im Rhein nicht getränkt werden? Zudem behauptete er, dass »die Generation kritischer Urenkel Schwierigkeiten«235 hätte, »weshalb die fremden Truppen auch damals keine Befreier gewesen sein sollten«236 . Breuer glaubt des Weiteren mit seiner
229 Ebd. 230 Vgl. Koch, Alexander: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.): Attila und die Hunnen, Stuttgart 2007, S. 1215. 231 Gross, Uwe/Hildebrandt, Ludwig: »Östliche Elemente im Fundgut des 5. Jahrhunderts aus dem rechtsrheinischen Vorland von Speyer«, in: Koch: Attila, S. 126-133. 232 Vgl. Cepl-Kaufmann/Spies: Tränke; Breuer, Dieter/Cepl-Kaufmann, Gertrude (Hg.): ›Deutscher Rhein – fremder Rosse Tränke?‹ Symbolische Kämpfe um das Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg (= Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 70), Essen 2005. 233 Breuer, Dieter: Grusswort des Arbeitskreises zur Erforschung der Moderne im Rheinland e.V., in: Cepl-Kaufmann/Spies: Tränke, S. 7. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd.
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Perspektive für »seine« Gegenwart zu sprechen, wenn er »das Entsetzen, die Entrüstung, die ohnmächtige Wut der Zeitgenossen über die Nachkriegsereignisse«237 als »[k]aum nachvollziehbar«238 beschreibt und in den Besatzungstruppen den Vorteil zu erkennen glaubt, »die preußisch-deutsche Kriegslust [zu] dämpfen«239 . Als Belege für eine Wahrnehmung jenseits der bisherigen Tradierung führt er Aussagen des – in Wiesbaden geborenen – Journalisten und Schriftstellers Alfons Paquet an, der zur »Weltoffenheit und zum Zusammenschluß der Nationalstaaten Europas«240 aufgerufen, den Zustand des Rheinlandes in der wilhelminischen Zeit als »eine Art Vergnügungspark und Industriehandwerk«241 gesehen und stattdessen die »Bindung heterogener Elemente«242 gefordert habe. Breuer legitimiert die Ausstellung letztlich damit, an die Rheinlandbesetzung als »fast vergessenes Kapitel rheinischer und deutscher Geschichte«243 erinnern zu wollen, da dies am Anfang einer Entwicklung zur europäischen Integration stehe, »deren Nutznießer wir heute sind«244 . In einem ähnlichen Verständnis äußerte sich Rita Wagner 2017 in ihrem Beitrag zu Ausstellung über die »Adenauerzeit« anlässlich des 100. Jahrestages der Wahl von Konrad Adenauer zum Oberbürgermeister von Köln. Sie vertrat die These, dass zahlreiche Projekte für die Gestaltung der Zukunft der Stadt gerade wegen der Präsenz britischer Besatzungstruppen durch die Stadtväter in Angriff genommen werden konnten.245 Im selben Band hob zudem Julian Valant neben dem kolonialistischen Auftreten, das der Autor einräumt, die kulturelle Bereicherung, die mit den britischen Truppen eingezogen sei, sowie die Begegnungen zwischen Besatzungstruppen und deutscher Bevölkerung hervor.246 Auch im Vorwort des Ausstellungskataloges ›Ganges Europas, heiliger Strom!‹ Der literarische Rhein (1900-1933)247 von 2001 schreiben die Herausgeberinnen und Herausgeber über die Kultur in der Zwischenkriegszeit im Rheinland:
237 238 239 240 241 242 243 244
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. D. Breuer: Grusswort, S. 7. Vgl. auch Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Alfons Paquets ›rheinische‹ Utopie«, in: Brenner/Cepl-Kaufmann/Kortländer: Ganges, S. 99-116. 245 Vgl. Wagner, Rita: »Die goldenen Zwanziger. Die Adenauerzeit in Köln 1917-1933«, in: Rita Wagner (Hg.): Konrad der Große. Die Adenauerzeit in Köln 1917-1933, Mainz 2017, S. 15-22, hier S. 17. 246 Vgl. Valant, Julian: »›An Island with its capital in Cologne‹ The British Empire’s occupation of Cologne, 1918-1986«, in: Wagner: Konrad, S. 37-42. 247 Brenner/Cepl-Kaufmann/Kortländer (Hg.): Ganges.
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»Die alten Kräfte waren bekanntlich keineswegs vergangen. Und doch finden wir gerade um den Rhein nach dem Ersten Weltkrieg auch neue Töne, die, lange übersehen, heute in einer Zeit zunehmender Europäisierung, durchaus Beachtung finden sollten, bieten sie doch dem zarten Pflänzchen unseres europäischen Bewußtseins eine bemerkenswerte historische Kontinuität.«248 Als Beleg wird die 1930 in der Zeitschrift Die Weltbühne erschienene Glosse Denkmal am deutschen Eck von Kurt Tucholsky angeführt.249 Gertrude Cepl-Kaufmann erinnerte in ihrem Aufsatz im selben Katalog daran, dass es in den politischen Spannungen um den Rhein in der Zwischenkriegszeit Künstler/-innen gegeben habe, die eine »traditionell gute Beziehung zur kulturellen Szene in Paris«250 besaßen, und »man vom Rhein aus eher eine Verständigung mit Frankreich«251 anstrebte. Ein erst in der letzten Dekade verstärkt feststellbarer Aspekt der Kommunikation des Rheinlandes in historischen Ausstellungen ist die Berücksichtigung von Fluchtbewegungen sowie die Präsenz von Menschen mit muslimischem Glauben. Jürgen Rüttgers erinnerte 2009 in seiner Funktion als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen in seinem Vorwort im Katalog zur Varusschlacht: »Wir können unser methodisches Auge schulen, indem wir vieles über das Verhältnis und die wechselnden Beziehungen zweier ganz unterschiedlicher kultureller Identitäten zueinander erfahren.«252 Einen Schritt weiter ging sein Parteikollege HansGert Pöttering, damals Präsident des Europäischen Parlamentes, der die Völkerwanderungszeit an der Wende von der Antike zum Mittelalter zum Anlass nahm, an gegenwärtige Migrationen zu erinnern: »Menschen in ihrer Armut und Verzweiflung machen sich auf den Weg nach Europa, das vermeintlich gelobte Land.«253 Noch deutlicher waren die Vorworte zur Ausstellung anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 im Ruhr Museum in Essen. Norbert Lammert (CDU), damaliger Präsident des Deutschen Bundetages, als Schirmherr bemerkte: »Die Menschen an Rhein, Lippe, Emscher und Ruhr sind in besonderer Weise an ein Nebeneinander von Glaubensrichtungen und Religionen gewöhnt, es ist Teil der regionalen Identität.«254 Dass »Religionsflüchtlinge«255 in der Region angesiedelt worden sind
248 Dies.: »Der literarische Rhein (1900-1933). Zur Einführung«, in: Dies.: Ganges, S. 11-16, hier S. 12. 249 Vgl. ebd. 250 Cepl-Kaufmann, Gertrude: »Die Künstler, der Rhein und Europa. Zum Paradigmenwechsel im frühen 20. Jahrhundert«, in: Brenner/Cepl-Kaufmann/Kortländer: Ganges, S. 33-46, hier S. 34. 251 Ebd., S. 34-35. 252 Rüttgers: Grußwort, S. 14. 253 Pöttering, Hans-Gert: »Grußwort«, in: Kenzler: Imperium, S. 13. 254 Lammert, Norbert: »Vorwort des Schirmherrn«, in: Heinrich Theodor Grütter/Magdalena Drexl/Axel Heimsoth et al. (Hg.): Der geteilte Himmel. Reformation und religiöse Vielfalt an Rhein und Ruhr, Essen 2017, o. S. 255 Ebd.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
und »ein Miteinander von Menschen, die ein Bekenntnis ablegten und jenen, die gleichgültig konfessionslos oder bewusst atheistisch leben«256 , besaß für ihn somit eine historische Tradition. Von der »vielgestaltigen Einwanderungsgeschichte der Region«257 sei eine erfolgreiche Entwicklung, »wovon auch diese Ausstellung eindrücklich zeugt«258 , geprägt, so Lammert weiter. Monika Grütters, damalige Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, meinte im selben Band: »Diese religiöse Vielfalt ist eine ungeheure Bereicherung, zugleich aber auch eine große kulturelle Herausforderung, bringt sie doch die jeweils eigenen religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen mit anderen, manchmal auch konkurrierenden Deutungen in Kontakt und in Berührung. Und es ist die Aufgabe und der Verdienst unserer pluralistischen Gesellschaft, diese unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Weltdeutungen nebeneinander bestehen zu lassen und sie gleichzeitig miteinander ins Gespräch zu bringen.«259 Im gleichen Sinn äußerten sich Christina Kampmann (SPD), damalige Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen,260 sowie der Historiker und Museumsdirektor Heinrich Theodor Grütter im Katalog.261 Dezidiert erwähnt hat die Muslime der Stadt dann Thomas Kufen (CDU), seit Oktober 2015 Oberbürgermeister von Essen, der eine historische Kontinuität »von großer religiöser Toleranz«262 von der Reformation bis in die Gegenwart zog: »Daneben gibt es aber noch zahlreiche andere Religionen und Glaubensgemeinschaften, nicht nur muslimische. Katholische, protestantische, orthodoxe Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel und andere Gebetstätten und Gotteshäuser prägen das Bild und machen Essen zu einer modernen und pluralistischen Großstadt, die durch Offenheit für alle und religiöse Toleranz geprägt ist.«263 Von einer Abwehr von »Barbaren« ist in der gegenwärtigen musealen Präsentation nicht mehr die Rede, auch wenn Berthold Seewald, Redakteur der Welt, 2019 reißerisch über eine Ausstellung des Historischen Museums Speyer titelte: »Die-
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Ebd. Ebd. Ebd. Grütters, Monika: »Grußwort«, in: Grütter/Drexl/Heimsoth et al.: Himmel, o. S. Vgl. Kampmann, Christina: »Grußwort«, in: Grütter/Drexl/Heimsoth et al.: Himmel, o. S. Vgl. Grütter, Heinrich Theodor: »Der geteilte Himmel. Reformation und religiöse Vielfalt an Rhein und Ruhr«, in: Grütter/Drexl/Heimsoth et al.: Himmel, S. 15-21, hier S. 19. 262 Kufen, Thomas: »Grußwort«, in: Grütter/Drexl/Heimsoth et al.: Himmel, o. S. 263 Ebd.
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ser Kaiser stoppte die Barbaren am Rhein.«264 Diese Formulierung verdeckt aber eine der zentralen Intentionen des Historischen Museums Speyer, das in seiner Ausstellung Valentinian I. und die Pfalz in der Spätantike265 dezidiert ein Kapitel seines Kataloges mit »Zwischen Konfrontation und Kooperation. Die Rheingrenze«266 überschrieb. Wie schon erwähnt, galt und gilt es immer wieder, den Fluss als Symbol der Einigung Europas zu stilisieren. So schrieb Plessen vom Rhein als »Achse der europäischen Friedenspolitik«267 , und für Rein Wolfs waren an keinem Fluss »die Schritte der europäischen Einigung deutlicher«268 abzulesen, da »sämtliche Anrainer«269 hier »zur Kerngemeinschaft des europäischen Einigungsprozesses zusammengewachsen«270 seien. Bei all diesen Einheitsbekundungen sowie der Herausstellung von kulturellen Einflüssen, die auf die Rheinlande wirkten und wirken, bleibt noch die Frage, welche Ausstrahlungskraft der Region in einer globalen Sicht zugeschrieben wurde. Hierfür sind die Ausstellung über Rheinland-Pfalz und Texas mit dem Untertitel Von der Auswanderungsgeschichte des 19. bis zu den Wissenschaftsbeziehungen des 20. Jahrhunderts271 der Stadtbibliothek Mainz im Jahr 1988 oder auch Schöne Neue Welt. Rheinländer erobern Amerika272 des Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern von 2001 Beispiele. Das zuerst genannte Projekt Rheinland-Pfalz und Texas. Zwei Regionen im Kontakt. Von der Auswanderungsgeschichte des 19. bis zu den Wissenschaftsbeziehungen des 20. Jahrhunderts beinhaltete im Titel einen Anachronismus, da das Bundesland Rheinland-Pfalz erst 1946 entstanden war, der Band aber thematisch mit Migration aus dem südlichen Rheinland und der linksrheinischen Pfalz in den US-Bundesstaat im 19. Jahrhundert einsetzte. Einwanderer vom Rhein werden als kultureller Gewinn, als bedeutend für die Wissenschaft und als Wirtschaftsfaktor für die Zielregion kommuniziert. Die museale Präsentation der Auswanderung in die USA in den beiden genannten Ausstel264 Seewald, Berthold: Dieser Kaiser stoppte die Barbaren am Rhein, in: Die Welt vom 24.09.2018, URL: https://www.welt.de/geschichte/article181611562/VoelkerwanderungKaiser-Valentinian-I-stoppte-die-Barbaren-am-Rhein.html [letzter Zugriff 11.06.2019]. 265 Schubert/Berg/Himmelmann: Valentinian. 266 Ebd., S. 42-66. 267 Plessen: Rhein, S. 23. 268 Wolfs, Rein: »Vorwort«, in: Plessen: Flussbiografie, S. 12-16, hier S. 14. 269 Ebd. 270 Ebd., S. 14-15. 271 Vgl. Stadtbibliothek Stadt Mainz (Hg.): Rheinland-Pfalz und Texas. Zwei Regionen im Kontakt. Von der Auswanderungsgeschichte des 19. bis zu den Wissenschaftsbeziehungen des 20. Jahrhunderts. Eine Ausstellung der Stadtbibliothek Mainz und der Abt. Amerikanistik des Seminars für Englische Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 7.6. bis 7.9. 1988 in der Stadtbibliothek Mainz, Mainz 1988. 272 Vgl. Panek, Kornelia (Hg.): Schöne Neue Welt. Rheinländer erobern Amerika, Bd. 2: Aufsatzteil (= Führer und Schriften des Rheinischen Freilichtmuseums und Landesmuseums für Volkskunde in Kommern, Bd. 60), Nümbrecht 2001.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
lungen wie auch in anderen fokussierte sich aber teilweise auf die Biographie von Eliten, die als Offiziere, Politiker und Schriftsteller erfolgreich in der Emigration Fuß fassen konnten, wie Caspar Butz, Friedrich Anneke und Carl Schurz.273 Seltener wird ein differenzierteres Bild wiedergegeben, wie etwa von Marlene Jochem über die Herausforderungen in 3000 Jahren Massenauswanderung – wenn auch wieder unter der Verwendung des Anachronismus »Rheinland-Pfalz«.274 Die Intention ist ersichtlich: Das Rheinland sowie dessen prägender Strom sollen nicht nur als europäische Kulturregion, als Region, die ihren Beitrag beim Zusammenschluss des Kontinents leiste und schon immer geleistet habe, präsentiert werden, sondern darüber hinaus ebenso in einen transatlantischen Kulturraum politisch-geographisch verortet werden. Diese Absicht war auch 2016 bei MarieLouise von Plessen erkennbar, als sie schrieb: »Geohistorisch gesehen floss der Rhein nicht nur über den Ärmelkanal hinaus – er reichte bis nach Amerika und machte die Rheinmündung (Rynmond) für Entdecker, Glaubensflüchtlinge und Auswanderer zum Tor in die Neue Welt.«275 Als ergänzendes Äquivalent kann eine Ausstellung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln von 2017 über den Deutschland-Besuch von John F. Kennedy gelten, in der wiederum geschildert wurde, dass der US-Präsident in der Rheinmetropole »herzlich empfangen«276 worden sei. Aus globaler Perspektive gesehen ist diese Intensität der internationalen Ausrichtung des Rheinlandes in musealen Präsentationen allerdings auch auf eine transatlantische Ausrichtung beschränkt und wird kaum auf weitere Kulturräume angewendet.
3.
Fazit – Das Rheinland als Speerspitze der Modernisierung
Das Rheinland hat in der musealen Präsentation nach 1945 einen bedeutenden Wandel durchlebt. Zum einen galt es nicht mehr als zentral, die Reichs- beziehungsweise Bundeszugehörigkeit und damit Abgrenzung zum Westen zu kommunizieren, sondern im Gegenteil, die historische Verbindung der Region zu einem westlichen, zunächst christlich geprägten »Abendland« zu belegen. Der Bedeutungswandel von Religion sowie die zunehmende Relevanz der europäischen
273 Vgl. Behrendt, Jörg Endris: »Sie fanden in der Fremde, was ihnen das Vaterland versagte. ›Forty-Eighters‹ aus der Grafschaft Mark – Netzwerke und Leitfiguren«, in: Trox/Meindl: Preußen, S. 87-99. 274 Vgl. Jochem, Marlene (Hg.): Aufbruch nach Amerika 1709-2009. 300 Jahre Massenauswanderung aus Rheinland-Pfalz, Kaiserslautern 2009. 275 Plessen: Rhein, S. 21. 276 Lewejohann, Stefan: »›Kolen al ass‹ oder ›Kern alaf‹? Der Kennedy Besuch in Köln«, in: Hubertus Neuhausen (Hg.): John F. Kennedy. Eine Ausstellung der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Köln 2017, S. 130-138, hier S. 136.
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Integration ließen jedoch bald andere Anknüpfungspunkte Richtung Westen für das Rheinland in den Vordergrund rücken. Da der Nationalstaat als entscheidende Kategorie in Westdeutschland sukzessive an Bedeutung verlor, hatte dies neben internationalen Herangehensweisen an historische Themen auch eine weitere Aufwertung der Region zur Folge. Somit galt die Angliederung des Rheinlandes an Frankreich im Zuge des Ersten Koalitionskrieges nicht mehr als deutscher Nachteil, sondern als ideengeschichtlicher Vorteil für die Region, wovon Europa noch heute profitieren würde. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der daraus folgenden EU-Osterweiterung wurde umso mehr die kulturelle Vorreiterrolle des Rheinlandes in der deutschen Geschichte und für Europa betont.277 Nahezu unabhängig von der ausgestellten Epoche gelten kulturelle Errungenschaften als Anknüpfungspunkte, die durch handwerkliche Fähigkeiten, aber auch ideell durch Gesetzestexte und Verfassungen repräsentiert werden. Eine Konstante ist die wirtschaftliche Prosperität der Rheinlande, die nun eben nicht mehr als Beleg deutscher Überlegenheit vermittelt wird, sondern eine lange zurückreichende europäische Verflechtung unterstreichen soll. Darüber hinaus gelten Waffen ebenfalls nicht mehr nur als Ausdruck von Gewalt und Stärke, sondern auch als Beispiele für Handelsgüter und Handwerkskunst – und weniger als Symbol dessen, wofür sie oft geschaffen waren: die Abwehr, den Angriff oder auch das Töten. Auffällig ist dabei, dass militärische Konflikte, die ja meist den Kontext der Ausstellung bilden, zwar nicht komplett ausgeblendet, aber lediglich auf einer Art Metaebene kommuniziert werden. Stattdessen ist die Alltagswelt der Zeitgenossen von Bedeutung, die Entbehrungen als Mahnung zum Frieden. Das Rheinland sollte nach 1945 immer in einen größeren europäischen Kontext historisch verortet werden. Dies geschah zunächst auf der Basis des christlichen Glaubens, kontinuierlich wirtschaftsgeographisch, alsbald auch rechtsgeschichtlich und schließlich ethnisch und religiös pluralistisch angelegt. Somit ist die rheinische Verortung in Europa ein Indikator für den ideengeschichtlichen Wandel, wie ein Zusammenschluss des Kontinents gestaltet werden sollte. Exemplarisch wird gezeigt, wie mit den Wertmaßstäben der Gegenwart die Vergangenheit bewertet wurde und wird, um hieraus Erkenntnisse und letztlich gesellschaftliche sowie politische Forderungen für die Zukunft abzuleiten. Verkürzt könnte gesagt werden: Das Rheinland wurde vom »Bollwerk« gegen den »Erbfeind« zur »Speerspitze« der europäischen Integration. Dieser Intentionswandel birgt jedoch auch die Kontinuität, dass sich das Rheinland immer als Vorreiter in Deutschland verstand. Bei dieser Analyse muss jedoch berücksichtigt werden, dass hier nur grobe Tendenzen der Geschichte von musealen Präsentationen herausgearbeitet werden 277 Zum Europäisierungsprozess in Museen und Ausstellungen vgl. Kaiser, Wolfram/Krankenhagen, Stefan/Poehls, Kerstin (Hg.): Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln/Weimar/Wien 2012.
Die politisch-kulturelle Geographie des Rheinlandes in musealen Präsentationen nach 1945
konnten. Der Bedeutungswandel verlief nicht immer geradlinig, und es lassen sich auch immer wieder differenzierte Betrachtungen ausmachen. Dies trifft auch auf die Vorworte für die Kataloge zu, wie etwa der Aachener Bürgermeister Marcel Philipp zeigt, der die Vorbildfunktion von Karl dem Großen entgegen der Ansichten von vielen Persönlichkeiten aus Geschichtswissenschaft und Politik doch stark relativiert sehen wollte.278 Doch die hier mehrheitlich herausgestellten Tendenzen der Kommunikation von Geschichte sind nicht zu übersehen und bergen in sich auch Risiken. Denn so sehr die Intentionen der Ausstellungsmacherinnen und Ausstellungsmacher auch der europäischen Integration, der Generierung eines europäischen Geschichtsbildes geschuldet sein mögen und dafür das Rheinland darüber hinaus auch politisch-geographisch in einen transatlantischen Kulturraum verortet werden soll, so muss ihnen doch angelastet werden, dabei unpassende Aspekte herunterzuspielen oder auszublenden. Ein lohnender Vergleich wäre nun, ob bei der musealen Aufbereitung das Rheinland durch seine rein geographische Nähe zu Frankreich, zu »Europa«, eine Sonderrolle besitzt, oder ob sich Parallelen zu anderen Regionen der alten westdeutschen Republik beziehungsweise zu den neuen Ländern nach 1990 mit anderen historisch-geographischen Kontexten ausmachen lassen.
278 Vgl. Philipp, Marcel: »Vorwort«, in: Pohle: Karl der Große 2, S. 12-13, hier S. 13.
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»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt« Die Hamburger Sehnsucht nach einer geopolitischen Sonderstellung im Kalten Krieg Christoph Strupp
Der Ausgang des Zweiten Weltkriegs und der Beginn des Kalten Kriegs zwischen den Supermächten USA und UdSSR schufen in Europa eine neue politische Geographie, die bis 1989/90 Bestand hatte und in diesem Zeitraum – und darüber hinaus – Politik, Wirtschaft und Kultur tiefgreifend prägte. Diesen Prägungen lässt sich für die genannten Felder auf unterschiedlichen Ebenen nachspüren. Dabei sind regionale und lokale Ebenen im Vergleich zu den Nationalstaaten und den neu entstehenden supranationalen Organisationen eher punktuell in den Blick genommen worden, z.B. in Studien zur Lebenswirklichkeit an der neuen innerdeutschen Grenze.1 Für die räumliche Konnotation politischer Ideengeschichte erscheint eine regionale Perspektive zunächst wenig naheliegend, wenn man dabei von Meistererzählungen wie »Amerikanisierung«, »Westernisierung« oder der »Abendland«Ideologie ausgeht. Am Beispiel Hamburgs und der von den Interessen des Hafens dominierten Wirtschaftspolitik der Senate nach 1945 lässt sich zeigen, wie sich auch auf der regionalen Ebene eine »Mental Map« mit räumlichen Bezügen herausbildete, die auf der fortdauernden realwirtschaftlichen Funktion des Hafens und dem Ideal der »Welthafenstadt« des Kaiserreichs aufbaute, aber unter dem Eindruck der jüngsten, von Hamburg nicht zu beeinflussenden politischen Entwicklungen wichtige neue Elemente enthielt. Ausschlaggebend war dabei, dass »Hafen« in Hamburg nicht nur für Wirtschaft und Infrastruktur stand und bis heute steht, sondern eng
1
Vgl. u.a. Eckert, Astrid M.: West Germany and the Iron Curtain. Environment, Economy, and Culture in the Borderlands, Oxford 2019; Johnson, Jason B.: Divided Village. The Cold War in the German Borderlands (= Routledge Studies in Modern European History, Band 44), London 2017; Schaefer, Sagi: States of Division. Border and Boundary Formation in Cold War Rural Germany, New York 2014; Sheffer, Edith: Burned Bridge. How East and West Germans made the Iron Curtain, Oxford 2011.
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mit Grundlagen städtischer Identität und dem Selbstverständnis Hamburger Eliten verknüpft war und ist.2 Die räumlichen Bezüge Hamburgs werden im Folgenden anhand von vier Schlüsselbegriffen bzw. -themen in den Blick genommen: Randlage, Mittler, Europa und Übersee. Belege für die Präsenz dieser Begriffe und Themen lassen sich in den zeitgenössischen Quellen reichlich finden – in den Bürgerschaftsprotokollen ebenso wie in Ansprachen der jeweiligen Ersten Bürgermeister und Wirtschaftssenatoren, in Veröffentlichungen der Hamburger Handelskammer und der Gewerkschaften sowie in Presse und Publizistik. Omnipräsent war dabei Ernst Plate (1900-1973). Plate, gebürtiger Hamburger, war nach dem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung bei Export-Firmen u.a. in Südamerika seit 1926 für die städtische Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Aktiengesellschaft (HHLA) tätig, die nicht nur das größte Umschlagsunternehmen im Hafen war, sondern bis zu einer Reform 1970 auch eine Reihe zentraler Aufgaben wie z.B. die Liegeplatzverwaltung und die Hafenwerbung wahrnahm. 1936 wurde Plate dort Mitglied des Vorstands und amtierte von 1946 bis 1967 als HHLA-Vorstandsvorsitzender, unterbrochen nur von 1953 bis 1957 von einem Intermezzo als »Hafensenator« in der »Bürgerblock-Koalition« Bürgermeister Kurt Sievekings (CDU). Diese Position war von Sieveking innerhalb der Behörde für Wirtschaft und Verkehr speziell für ihn geschaffen worden und er übte sie von seinem Büro im Verwaltungsgebäude der HHLA in der Speicherstadt aus. Als langjähriger Präsident des Zentralverbands deutscher Seehafenbetriebe (1947-1967) war Plate auch über Hamburg hinaus in Güterverkehrsfragen einflussreich.3
1.
Randlage
Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die deutsche und europäische Teilung Hamburg geopolitisch aus einer zentralen Position in Europa an den äußersten Rand des westlichen Blocks – nur 50 km vom »Eisernen Vorhang«, der Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR, entfernt. Damit war der Zugang zu wichtigen Teilen des traditionellen Hinterlandes des Hafens im Osten, wie dem Großraum Berlin, Thüringen, den Industriegebieten in Sachsen und Schlesien sowie der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien, unterbrochen. Die Folgen bildeten sich in den 1950er Jahren unmittelbar in der Umschlagsstatistik des Hafens ab: War 2
3
Vgl. Warsewa, Günter: »Lokale Kultur und die Neuerfindung der Hafenstadt«, in: Raumforschung und Raumordnung 68 (2010), S. 373-387; Amenda, Lars/Grünen, Sonja: »Tor zur Welt«. Hamburg-Bilder und Hamburg-Werbung im 20. Jahrhundert (= Hamburger Zeitspuren, Band 5), München 2008. Vgl. Martens, Holger: »Ernst Plate«, in: Franklin Kopitzsch/Dirk Brietzke (Hg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Band 5, Göttingen 2010, S. 287-288.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
1936 noch rund ein Drittel des Gesamtumschlags in den Osten gegangen, betrug der Anteil nun nur noch rund zehn Prozent.4 Der damalige Wirtschaftssenator Karl Schiller (SPD) prägte für die neue geopolitische Lage Hamburgs 1951 zwei viel zitierte Formeln: Hamburg sei »das Königsberg des Bundes« geworden und der Hafen atme »nur auf einem Lungenflügel«.5 Ernst Plate charakterisierte 1954 auf dem fünften Hamburger Überseetag in Anwesenheit von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) die Hansestadt deshalb sogar als »Opfer Nr. 2« des Kalten Kriegs nach dem geteilten Berlin.6 Die Ängste der Verantwortlichen vor einem dauerhaften wirtschaftlichen Abstieg Hamburgs und des Hafens waren dabei nicht nur von den aktuellen Entwicklungen geprägt, sondern auch von den wiederholten Krisenerfahrungen der vergangenen 30 Jahre: Auf die britische Seeblockade im Ersten Weltkrieg folgten die Schifffahrts- und Handelsbeschränkungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Hyperinflation 1923. Nach einer kurzen Phase wirtschaftlicher Erholung, in der der Hafen in den Jahren 1928 und 1929 mit 26,5 bzw. 28,6 Mio. Tonnen Gesamtumschlag den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 1913 übertraf, folgte mit der Weltwirtschaftskrise erneut ein Einbruch: 1933 lag der Gesamtumschlag nur noch bei 19,6 Mio. Tonnen. Zwar besserte sich die Lage im Hafen in den Friedensjahren des »Dritten Reichs« wieder, aber die zunehmende Zentralisierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen in Berlin, Devisenbeschränkungen und die nationalsozialistische Autarkiepolitik boten für die deutschen Überseehäfen insgesamt keine guten Rahmenbedingungen. Der Zweite Weltkrieg führte dann erneut zu einem weitgehenden Zusammenbruch der internationalen Handelsbeziehungen. 1945 betrug der Gesamtumschlag nur noch 1,8 Mio. Tonnen. Zudem kam es durch alliierte Luftangriffe besonders in den Jahren 1944 und 1945 auch zu umfangreichen Zerstörungen im Hafen, deren Beseitigung bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre dauerte.7 4
5
6
7
Vgl. Schmidt, Helmut: »Der Hafen von Hamburg«, in: Wirtschaftsdienst 31 (1951), Heft 4, S. 4144; Plate, Ernst: »Seehäfen und Seeverkehr«, in: Hauptvorstand der Gewerkschaft ÖTV (Hg.): Verkehr als öffentliche Aufgabe. Ergebnisse einer Arbeitstagung, Stuttgart 1952, S. 135-146. Schiller, Karl: »Ein Bundeshaus für den Seeverkehr: Ansprache zur Einweihung des Bundesverkehrsministeriums, Abt. Seeverkehr, in Hamburg am 30.6.1951«, in: Ders.: Hamburgische Anliegen zur Wirtschafts- und Verkehrspolitik, Hamburg 1952, S. 25-28, hier S. 26; Schiller, Karl: »Der Standort Hamburg«, ebd., S. 41-46, hier S. 41. Vgl. auch Mende, A.: »Hafen ohne Hinterland«, in: Erich Lüth (Hg.): Neues Hamburg: Zeugnisse vom Wiederaufbau der Hansestadt, Band 7: Hamburg im Blick der Welt und des internationalen Fremdenverkehrs, Hamburg 1952, S. 23-26. Staatsarchiv Hamburg (StaHH) 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375, Unterakte 1954, Ansprache des Herrn Senator Ernst Plate auf der Morgen-Veranstaltung des Übersee-Clubs am 7. Mai 1954 [Entwurf], Bl. 226. Vgl. Michalski, Wolfgang: Hamburg. Erfolge und Erfahrungen in der globalisierten Welt, Hamburg 2010, S. 289-316; Kludas, Arnold/Maass, Dieter/Sabisch, Susanne: Hafen Hamburg.
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Die »Randlage« des Hafens schien diesen Entwicklungen nun eine neue bedrohliche Facette hinzuzufügen und wurde in der Stadt auch deshalb so dramatisch empfunden, weil im hamburgischen Selbstverständnis Handel – Import und Export – »eine Frage auf Leben und Tod« waren, wie Bürgermeister Max Brauer (SPD) auf dem ersten Überseetag 1950 emphatisch formulierte. Den Gästen solle sich kundtun, »daß wir, getreu der Tradition der Vorväter, Hamburg als die Metropole des Handels wieder erstehen sehen wollen, daß wir es wollen, nicht nur um Hamburgs willen, sondern um Deutschlands, um Europas willen und hoffen, daß hier in Hamburg die starken sittlichen, geistigen Kräfte regsam sind, die sich einer Bewegung voranstellen sollen, die mit der Vergangenheit bricht und die Deutschland, seiner Jugend, der europäischen Jugend und der Menschheit den Frieden gibt«.8 Brauer war auch auf konkrete Probleme wie den Wiederaufbau und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit eingegangen, aber seine Ausführungen zu Hafen und Handel gingen über deren realwirtschaftliche Bedeutung deutlich hinaus, zumal die Wirtschaftsstruktur Hamburgs schon im Kaiserreich mit Stärken auch in der nicht hafengebundenen Industrie und im Handwerk vergleichsweise diversifiziert war und nach 1945 mit dem Aufschwung der Medien- und Kreativwirtschaft und der Luftfahrt weitere Branchen ohne maritimen Hintergrund hinzukamen.9 Die Rückbezüge auf die Traditionen des Handels, auf das Ideal des Hanseaten, des »ehrbaren Kaufmanns« und auf die internationale maritime Identität der Stadt bildeten aber den Kern des Selbstverständnisses einer Stadt, die sozusagen über sich hinausreichte und, wie es in der Präambel der bis heute gültigen Verfassung Hamburgs von 1952 heißt, »als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen« hatte.10 Zudem bot dieser Rückbezug auf hanseatische Traditionen nach 1945 auch die Möglichkeit, für die Zeit des »Dritten Reichs« das Bild eines hamburgischen
8
9
10
Die Geschichte des Hamburger Freihafens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Hamburg 1988, S. 112-182. Zahlen nach Kunz, Andreas/Scholl, Lars U. (Hg.): Die deutsche Seeschifffahrt 1821-1989. Ein Datenhandbuch (= Deutsche Maritime Studien, Band 16), Bremen 2011, S. 529530. StaHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375, Unterakte 1950, Rede von Herrn Bürgermeister Brauer anläßlich des Überseetages in Hamburg am 6. Mai 1950 im Festsaal des Rathauses, Bl. 60. Vgl. auch: »Hamburger Kaufleute. Eine besondere Species«, in: Hamburger Hafen-Nachrichten (HHN) 8 (1955), Nr. 9, S. 25. Vgl. Seegers, Lu/Strupp, Christoph: »Hafen- und Handelsstadt oder Stadt der Industrie? Wirtschaftspolitik und Deutung des Strukturwandels in Hamburg«, in: Stefan Grüner/Sabine Mecking (Hg.): Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945-2000 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 114), Berlin 2017, S. 205-222, hier S. 211-216. Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
liberalen »Sonderfalls« zu kreieren und die Mitverantwortung für Verbrechen des Regimes zu marginalisieren.11 In den fünfziger Jahren gehörte die Klage über die »Randlage« zum Standardrepertoire von Politikern aller Parteien in parlamentarischen Debatten in der Bürgerschaft, in Ansprachen und Veröffentlichungen.12 Aufgegriffen wurde das Schlagwort zudem von Vertretern der Wirtschaft wie dem Präses der Hamburger Handelskammer, dem Industriellen Albert Schäfer, der in seiner Jahresansprache Anfang Januar 1953 erklärte, man habe »die Verpflichtung, auf manche schwerwiegende Benachteiligung hinzuweisen, die durch unsere schwierige hamburgische Randlage entstanden ist«.13 Die Wirtschaftsbehörde fürchtete wenige Wochen später, »daß sich Hamburgs Randlage störend bei der zunehmenden Eingliederung der Bundesrepublik in die Weltwirtschaft bemerkbar zu machen droht«.14 Instrumentalisiert wurde die Klage regelmäßig, wenn politische Initiativen aus Bonn oder später auch aus Brüssel neue Belastungen für den Hafen zu bringen schienen. So wies der Senat z.B. 1953 darauf hin, dass die »kriegsbedingte wirtschaftliche Randlage Hamburgs […] die Hafenwirtschaft, insbesondere auch die FreihafenIndustrie schweren Belastungen ausgesetzt« habe und Einschränkungen des Freihafenstatus durch eine geplante Steuerreform des Bundesfinanzministeriums nicht hinnehmbar seien.15 Aus der »Randlage« wurden konkrete Forderungen an die Bundesregierung, aber auch an die anderen Bundesländer und die bremische Seehafenkonkurrenz an der Weser abgeleitet, auf die Hamburger Sondersituation Rücksicht zu nehmen.16 In seiner eben zitierten Ansprache hatte Schäfer den Forderungskatalog des Senats in Bonn prägnant zusammengefasst: »Hamburg […] könne seine deutsche und europäische Aufgabe als Hafen, Handels-, Schiffahrt- und Luftverkehrsplatz nur dann erfüllen, wenn es durch bessere verkehrsmäßige Verbindung, vor allem in der Nord-Süd-Richtung, enger 11
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Vgl. Seegers, Lu: »Hanseaten und das Hanseatische in Diktatur und Demokratie. Politischideologische Zuschreibungen und Praxen«, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): Zeitgeschichte in Hamburg 2014, Hamburg 2015, S. 71-83. Mühlradt, Friedrich: »Probleme eines großen europäischen Seehafens«, in: Europa-Verkehr 4 (1956), S. 25-29, hier S. 25. Zitiert nach: »Hamburgs Verkehrsforderungen. Präses Schäfer vor der Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns in Hamburg«, in: Hamburger Abendblatt vom 02.01.1953, S. 9. »Nur ein langsamer Anstieg. Hamburgs Behörde für Wirtschaft und Verkehr legt Rechnung für 1952«, in: Hamburger Abendblatt vom 17.02.1953, S. 9. StAHH 135-1 VI: Pressestelle VI, 2170, Staatliche Pressestelle Hamburg, 01.09.1953: Gefahr für die Freihafenrechte! Vgl. auch: Hamburg im Schatten der Bundespolitik. Denkschrift des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1951; Plate, Ernst: »Bundeshilfe für die Seehäfen«, in: Erich Lüth (Hg.): Neues Hamburg. Zeugnisse vom Wiederaufbau der Hansestadt, Band 6, Hamburg 1951, S. 10-11.
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mit den Wirtschaftszentren der Bundesrepublik verbunden werde. Der Anschluss an das Autobahnnetz sei unbedingt erforderlich. Eine weitere vordringliche Forderung sei der Anschluß Hamburgs an den Mittellandkanal. […] Der Ausbau des Seehafentarifsystems sei eine zwingende Voraussetzung, um Hamburg ausreichende Beteiligung am ein- und ausgehenden Verkehr zu sichern und die durch seine periphere Lage entstandenen Nachteile auszugleichen. Der Wiederaufbau der Hamburger Hafenanlagen müsse durch den Bund unterstützt werden. Der Wiederaufbau der Handelsflotte und der vor allem für den Außenhandel erforderlichen Linienfrachtschiffahrt müsse bis zur Erreichung eines angemessenen Anteils an der Welttonnage vorangetrieben werden.«17 Darauf ließ sich die Bundesregierung allerdings nur zögerlich ein, sondern förderte im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets und der rheinaufwärts gelegenen Industriegebiete und zum Unwillen Hamburgs auch die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur Richtung Rotterdam und Antwerpen. Zwar stiegen auch im Hamburger Hafen die Gesamtumschlagszahlen in den 1950er Jahren aufgrund der boomenden Konjunktur deutlich an – von rund 11 Mio. Tonnen 1950 über 24 Mio. Tonnen 1955 auf 31 Mio. Tonnen 1960, allerdings nicht zuletzt aufgrund eines erheblichen Anteils des finanziell weniger lukrativen Rohöls. In Hamburg verwies man dagegen eher auf die prozentualen Steigerungsraten im Vergleich zum Referenzjahr 1936, bei denen die Hansestadt hinter Rotterdam, Antwerpen und Bremen zurückblieb. Auch der Anteil Hamburgs am bundesdeutschen Außenhandel war rückläufig.18 Der britische »Economist« brachte die Hamburger Einstellung 1958 auf den Punkt und schrieb: »Hamburg’s regret, it seems, is that things could be better; its fear that they may get worse.«19 Das »Hamburger Abendblatt« warnte in einem ausführlichen Artikel über »Zukunftssorgen einer blühenden Millionenstadt« im November 1958: »Hamburg darf kein zweites Brügge werden!«20 Die Erfolge im Wiederaufbau der Stadt und des Hafens und die wirtschaftliche Erholung nach den Krisenjahren der unmittelbaren Nachkriegszeit
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Zitiert nach: »Hamburgs Verkehrsforderungen«. Vgl. Hafen Hamburg 1945-1965. Zwanzig Jahre Aufbau und Entwicklung, Hamburg 1965, S. 19; Gumpel, Werner: Die Seehafen- und Schiffahrtspolitik des COMECON. Ihre Auswirkungen auf den Hafen Hamburg (= Verkehrswissenschaftliche Forschungen, Band 7), Berlin 1963; Plate: »Seehäfen und Seeverkehr«, S. 143; Plate, Ernst: »Hafen – Schiffahrt – Luftfahrt«, in: HHN 8 (1955), Nr. 7, S. 3-4, hier S. 3; »Hamburger Binnenschiffahrtsfragen. Ein Vortrag von Senator Plate auf dem Deutschen Binnenschiffahrtstag 1957«, in: HHN 10 (1957), Nr. 19, S. 4-5; Engelhard, Edgar: »Hamburg für fairen Wettbewerb«, in: Wirtschafts-Correspondent 14 (1960), Nr. 9, S. 3-4, 6. Engelhard (FDP) war von 1957 bis 1966 Hamburger Wirtschaftssenator. »Hamburg between East and West«, in: The Economist vom 01.02.1958, S. 412-415, hier S. 412. Zimmermann, Georg: »Hamburgs Regierender Bürgermeister warnt: Hamburg darf kein zweites Brügge werden!«, in: Hamburger Abendblatt vom 06.11.1958, S. 9.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
schienen immer noch auf tönernen Füßen zu stehen und jederzeit verloren gehen zu können.
2.
Mittler
Hamburgs Ziel war es aber ohnehin nicht, sich in den neuen geopolitischen Verhältnissen, d.h. in der kleinräumigen westlich orientierten Bundesrepublik einzurichten. Senat und Wirtschaft unternahmen alles, um auch den Zugang zum »natürlichen Hinterland« in Mittel- und Osteuropa und damit »die alte Mittlerrolle« zurückzugewinnen.21 Die Titelseite der offiziösen »Hamburger Hafen-Nachrichten« zum Überseetag 1959 versinnbildlichte das Ziel dieser Politik in Form einer Landkarte: Sie zeigte Europa ohne politische Grenzen mit Hamburg an zentraler Stelle und gleich großen Abständen zu Städten wie Düsseldorf, Frankfurt a.M. und Zürich im Westen und Warschau, Dresden, Prag und Budapest im Osten.22 Die ebenfalls häufig gebrauchte Formulierung vom »natürlichen Hinterland« implizierte zum einen einen Anspruch auf den Wirtschaftsverkehr des Ostens und suggerierte zum anderen, dass Alternativen, wie z.B. der 1956 von der DDR begonnene Ausbau Rostocks zu einem Überseehafen, »naturwidrig« waren und eine Verschwendung von Ressourcen darstellten.23 Um die Verbindungen nach Mittel- und Osteuropa zu stärken, reklamierte Hamburg als Bundesland für sich besondere außenpolitische Handlungsspielräume. Politiker und Wirtschaftsvertreter setzten frühzeitig auf eine aktive Kontaktpflege über die Grenze hinweg zur Tschechoslowakei, nach Polen und Ungarn, später auch zur Sowjetunion und der DDR. Dazu gehörten vor allem Messebesuche, Treffen mit Fachdelegationen und »Hafenabende« in Prag, Budapest oder Leipzig mit mehreren hundert Teilnehmern, bei denen zunächst Ernst Plate als Repräsentant der HHLA, in den 1960er Jahren dann auch die Wirtschaftssenatoren anwesend waren. Einen frühen Höhepunkt dieser Form kommunaler Diplomatie stellten 1957 wechselseitige Besuche hochrangiger Delegationen aus
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Throm, Wilhelm: »Hamburg blickt auch nach Osten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.11.1954, S. 9; Plate, Ernst: »Hamburg – Mittler zwischen Ost und West«, in: Zeitschrift für Geopolitik 26 (1955), S. 193-195. Vgl. die Titelseite der Ausgabe, in: HHN 12 (1959), Nr. 9. Plate: »Seehäfen und Seeverkehr«, S. 140; Plate: »Hafen – Schiffahrt – Luftfahrt«, S. 3 (Zitat); »Rostock oder Hamburg? Ein erdachtes Gespräch«, in: West-Ost-Handel (1958), Nr. 8-9, S. 1922; »Bürgermeister Engelhard zum Ausbau des Seehafens Rostock«, in: HHN 12 (1959), Nr. 22, S. 3.
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Hamburg und Leningrad dar, die in eine Städtepartnerschaft mit der sowjetischen Hafenstadt mündeten.24 Die Aktivitäten Hamburgs jenseits des Eisernen Vorhangs wurden ab 1953 als »Politik der Elbe« bezeichnet – eine »Politik der praktischen Verständigung und der Schaffung eines neuen Gleichgewichtes in der Mitte Europas«, wie sie der im Dezember 1953 ins Amt gelangte Bürgermeister Sieveking (CDU) später charakterisierte.25 Sievekings sozialdemokratische Nachfolger setzten sie ab 1957 nahtlos bis zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90 fort. Der Bezug auf die Elbe und ihre Deutung als geographisch sichtbares Symbol für die Verbindung der beiden Teile Deutschlands und Europas war dabei geschickt gewählt und trug noch Ende der 1980er Jahre dazu bei, dass die DDR-Führung eine Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und Dresden zuließ.26 Die »Politik der Elbe« war unbestritten von den Wirtschaftsinteressen Hamburgs bestimmt – und realwirtschaftlich eher mäßig erfolgreich –, aber die ideologischen Ansprüche, die man in Hamburg damit verband, gingen über mehr Ladung für den Hafen weit hinaus. Das lässt sich inhaltlich vor allem anhand der zahlreichen Vorträge und Veröffentlichungen Ernst Plates, ihres wichtigsten Protagonisten, zeigen. Den Tenor seines Wirkens fasste die »Deutsche Verkehrs-Zeitung« 1966 anlässlich seines 40jährigen Dienstjubiläums bei der HHLA treffend zusammen: »Er ließ sich von dem Gedanken leiten, daß ein Seehafen neben seiner Aufgabe als Güterumschlagplatz die Mittlerfunktionen erfüllen kann, die über den Bereich des Verkehrs, ja der Wirtschaft, weit hinausgehen.«27 Zentrale Punkte seiner Argumentation wurden z.B. im Mai 1954 in seiner Ansprache beim Hamburger Überseetag deutlich: Für Plate prädestinierte ihre Lage die Stadt zum Mittler zwischen Ost und West. Man solle den Kalten Krieg durch wirtschaftliche Verflechtung überwinden und politisches Misstrauen durch wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Belebung des Handels und die Steigerung des Verkehrs verringern. »Zwischen dem Osten und dem Westen sollte als dritte Macht eine Organisation der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entstehen. […] Lassen wir also dem Kauf24
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Vgl. Bajohr, Frank: »Hamburger ›Außenpolitik‹ im Kalten Krieg. Die Städtepartnerschaft mit Leningrad«, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): 19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren, München 2012, S. 49-61. So die Definition Kurt Sievekings 1955, zitiert nach Plate, Ernst: »Politik der Elbe«, in: Bürgermeister a.D. Dr. Kurt Sieveking zum 70. Geburtstag am 21. Februar 1967, Neumünster 1967, S. 45-48, hier S. 46. Vgl. Dresden und Hamburg. Partner an der Elbe. Reden und Vereinbarung zur Städtepartnerschaft, Hamburg 1988. »Senator a.D. Ernst Plate. 40 Jahre im Dienste des Hamburger Hafens«, in: Deutsche Verkehrs-Zeitung vom 02.04.1966, S. 3.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
mann einen Vortritt. Lassen wir den Kaufmann Schrittmacher sein und fördern wir alles, was der wirtschaftlichen Verflechtung dient. […] Wir müssen unter Beweis stellen, dass wir durch den Ausbau des verbindenden Elbestroms einen faktischen Beitrag zur Wiedervereinigung leisten wollen, dessen Bedeutung weit hinaus geht über die Individual-Interessen Hamburgs.«28 Direkt an Bundeskanzler Adenauer gerichtet war der Hinweis, dass »Seehäfen von der Bedeutung Hamburgs […] auch von politischem Wirkungswert« seien und dass der »kluge Staatsmann […] die Entwicklung seines oder seiner Welthäfen [fördert], um die von ihm oder ihnen ausstrahlende Kraft nicht nur im nationalen, sondern auch im Grenzbereich von Grossraumwirtschaften, d.h. hier Europa, einzusetzen und als Basis für die zwischen den Erdteilen zu bauenden Brücken verwenden zu können.«29 1955 erklärte Plate, Hamburg habe »als fairer Mittler zwischen West und Ost seine Dienste beiden Teilen des zweigeteilten Deutschland und des auseinandergerissenen Europa anzubieten«. Eine derartige Haltung entspreche nicht nur der geographischen Lage Hamburgs im Zentrum Europas und »seiner jahrhundertealten Tradition als europäisches Tor zur Welt«. Sie berücksichtige auch die Gefahren für eine Wiedervereinigung Deutschlands, wenn der größte deutsche Seehafen dem Überseeverkehr der DDR seine Dienste verweigerte.30 In anderen Reden und Aufsätzen sprach Plate vom Hafen als »Zentralpunkt«, vom »natürlichem Zentralhafen Mitteleuropas« und von seinen »zentraleuropäischen Aufgaben«31 und forderte die Bildung eines »intraeuropäischen Raumes« der Verkehrswirtschaft. Leitete Plate einerseits aus der geopolitischen Lage des Hafens zwischen der innerdeutschen Grenze und der Mündung der Elbe als »ost-westliche[…] Lebens- und Verkehrsader« eine »völlig unpolitische[…]« Betrachtung des Ost-West-Problems ab,32 verband er dies andererseits immer wieder mit dem Hinweis, dass über Handel und Verkehr die auseinanderdriftenden Teile Deutschlands
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StAHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375, Veranstaltung von Übersee-Tagen, 1950-1959, Unterakte 1954, Ansprache des Herrn Senator Ernst Plate auf der Morgen-Veranstaltung des ÜberseeClubs am 7. Mai 1954 [Entwurf], Bl. 226-227. StAHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375, Veranstaltung von Übersee-Tagen, 1950-1959, Unterakte 1954, Ansprache des Herrn Senator Ernst Plate auf der Morgen-Veranstaltung des ÜberseeClubs am 7. Mai 1954 [Entwurf], Bl. 226-227. Plate: »Hamburg – Mittler zwischen Ost und West«, S. 193. Vgl. auch: Plate, Ernst: »Weltbrücke für Ost und West«, in: Hansa 92 (1955), S. 17-18. Plate: »Hafen – Schiffahrt – Luftfahrt«, S. 4. Plate, Ernst: »Zur deutschen und europäischen Seehafenentwicklung«, in: Hansa 92 (1955), S. 280-282, hier S. 280.
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und Europas zusammengehalten werden könnten.33 Die politische Überhöhung der Handelsbeziehungen und der besonderen Rolle Hamburgs kulminierte 1957 in einem Wiedervereinigungsplan Plates über einen »Gesamtdeutschen Rat« aus Ländervertretern, der allerdings keine große Beachtung fand.34 Ironischerweise übte er gleichzeitig scharfe Kritik an einer angeblichen »Politisierung des Seeverkehrs« durch die Sowjetunion, der er eine Politik der Autarkie und politisch motivierten Abschottung vorwarf.35 »Mittler«, »Brücke« und »Zentralpunkt« sind die geopolitischen Schlüsselbegriffe, mit denen Hamburg sich in den 1950er und 1960er Jahren selbst definierte und damit gegen die politische und wirtschaftliche Realität des Kalten Kriegs und der europäischen Teilung stellte. Sie waren vor allem bei Plate eng verbunden mit der Postulierung von Sachlichkeit, Vernunft und Weitsicht – sozusagen kaufmännische Grundtugenden, die den ideologischen Gegensätzen der Zeit entgegengestellt wurden. Außerhalb Hamburgs wurde diese Argumentation kaum geteilt: So waren die Spitzen in Konrad Adenauers Antwort auf Plate nicht zu überhören, als der Kanzler in seiner Rede zum Überseetag 1954 darauf hinwies, dass die größte Gefahr für Deutschland, Europa und die Welt vom Kommunismus und der Sowjetunion ausgehe. Diese Gefahr dürfe man nicht durch Gewöhnung unterschätzen oder übersehen, und europäische Politiker müssten sich darüber klar werden, dass »egoistische Interessen« hinter den Schutz der Freiheit zurückzutreten hätten.36
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Europa
Vor allem in den 1950er Jahren war die Sehnsucht nach einer Mittlerstellung Hamburgs eng verknüpft mit einem spezifischen Verständnis von Europa, das sich ebenfalls eher an der Geographie als an den politischen Gegebenheiten orientierte. Grundsätzlich galt Hamburg in den frühen 1950er Jahren als ausgesprochen 33
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Vgl. Plate, Ernst: »Deutsche Sonderaufgaben im Ost-West-Verkehr«, in: HHN 8 (1955), Nr. 23, S. 3-5. Der Artikel gibt Plates Vortrag vom 22.11.1955 vor dem Seeverkehrsbeirat des Bundesverkehrsministeriums in Duisburg wieder. Abgedruckt in: Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (Hg.): Dokumente zur Deutschlandpolitik, Band 3: 1. Januar bis 31. Dezember 1957, Drittelband 3, Frankfurt a.M. 1967, S. 1628-1634, ursprünglich veröffentlicht in der »Welt« vom 21.09.1957. Plate, Ernst: »Die Kernfrage für Europas Häfen: Die Politisierung des Seeverkehrs«, in: Verkehr 15 (1959), S. 11-14. Vgl. auch Gumpel: Seehafen- und Schiffahrtspolitik. Vgl. zur Frage des Primats von Politik oder Ökonomie im Ost-West-Handel zuletzt Scholl, Stefan: Begrenzte Abhängigkeit. »Wirtschaft« und »Politik« im 20. Jahrhundert (= Historische Politikforschung, Band 23), Frankfurt a.M. 2015, S. 266-281. StAHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375, Veranstaltung von Übersee-Tagen, 1950-1959, Unterakte 1954, Ansprache von Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer auf der Morgenveranstaltung des Übersee-Clubs am 7. Mai 1954, Bl. 311.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
europafreundlich.37 In seiner Regierungserklärung im Dezember 1953 hatte Bürgermeister Sieveking allerdings gewarnt: »Aufgeschlossen für das Denken in großen Räumen und für internationale Zusammenarbeit sympathisieren Wirtschaft und Bevölkerung Hamburgs, seit es einen konkreten europäischen Gedanken gibt, mit jeder Integration. Aber diese europäische Integration darf für die Handels- und Schifffahrtsstadt Hamburg letzten Endes nicht eine kleineuropäische und westliche sein, so sehr auch diese zu begrüßen ist.«38 Das richtete sich gegen die im Entstehen begriffene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die Politik und Wirtschaft in Hamburg aus mehreren Gründen kritisch sahen.39 So befürchtete man, dass sich durch den westeuropäischen Zusammenschluss der wirtschaftliche Schwerpunkt noch stärker in den Rhein-RuhrRaum und damit zu den Rheinmündungshäfen verlagern werde. Zudem drohten aus Hamburger Sicht durch die im EWG-Vertrag in den Artikeln 74 und 75 vorgesehene Harmonisierung der Verkehrspolitik eine Einmischung Brüssels in die Belange des Hafens und eine Gefährdung des Freihafens.40 Mit Blick auf letzteren forderte Hamburg offiziell vom Auswärtigen Amt eine Bestätigung, dass die
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Vgl. Bajohr, Frank: »Hochburg des Internationalismus. Hamburger ›Außenpolitik‹ in den 1950er und 1960er Jahren«, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.): Zeitgeschichte in Hamburg 2008, Hamburg 2009, S. 25-43. Stenographische Berichte über die Sitzungen der Bürgerschaft zu Hamburg im Jahre 1953, 09.12.1953, S. 698. Vgl. Thiemeyer, Guido: »Die Europäisierung des deutschen Föderalismus. Die deutschen Länder und die europäische Integration 1950-1958«, in: Gabriele Clemens (Hg.): The Quest for Europeanization. Interdisciplinary Perspectives on a Multiple Process (= Studien zur modernen Geschichte, Band 63), Stuttgart 2017, S. 221-236; Thiemeyer, Guido: »Stiefkinder der Integration. Die Bundesländer und die Entstehung des europäischen Mehrebenensystems 1950 bis 1985«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017), S. 339-363. Zeitgenössisch z.B. Plate, Ernst: »Die Verkehrsprobleme der nordwestdeutschen Seehäfen«, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 9 (1957), S. 309-317, hier S. 315-317; Plate, Ernst: »Wiedervereinigung und Gemeinsamer Markt«, in: HHN 10 (1957), Nr. 6, S. 2; Mühlradt, Friedrich, Die Seehäfen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (= Vorträge aus dem Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster, Band 17), Göttingen 1959; Weising, Hellmut, »Die Seehäfen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft«, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 14 (1959), S. 209-215; Plate, Ernst: »Wie ist Hamburgs Stellung im Wettbewerb der Seehäfen?«, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 15 (1960), S. 284-286. Vgl. zu den Auseinandersetzungen darüber in den 1960er Jahren: Strupp, Christoph: »Bedrohung aus Bonn und Brüssel? Hafenwirtschaft, Strukturwandel und Freihafenprivileg in Hamburg seit den 1950er Jahren«, in: Vom Freihafen zum Seezollhafen. Der Hamburger Hafen im Wandel der Zeit. Begleitpublikation zur Sonderausstellung im Deutschen Zollmuseum, Hamburg 2013, S. 29-55, hier S. 36-39.
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bisherigen Rechte gewahrt würden und hob hervor, im Rahmen der EWG werde die Funktion des Freihafens »nicht nur für die Bundesrepublik erhöhte Bedeutung gewinnen, sondern sie wird für die Freie und Hansestadt Hamburg, die durch den Abschluss des EWG-Vertrages in eine folgenschwere Randlage gedrängt wird, noch mehr zur Lebensfrage als bisher«.41 Der vor allem von den Niederlanden geforderten Liberalisierung des Wettbewerbs im internationalen Güterverkehr sah sich Hamburg frühestens nach der Erfüllung seiner diversen Forderungen an die Bundesregierung gewachsen.42 Dies machte man den Niederländern bei wechselseitigen Besuchen auch ganz direkt deutlich.43 Schließlich fürchtete man auch, dass die Kehrseite eines institutionalisierten Gemeinsamen Marktes im Inneren eine Abschottung gegenüber den traditionellen Handelspartnern außerhalb der EWG in Osteuropa, Skandinavien, Großbritannien und Lateinamerika sein werde. Handelskammer-Präses Schäfer hatte Anfang 1953 zwar die Vorteile eines »enge[n] wirtschaftliche[n] Zusammenschluss[es] der europäischen Staaten« hervorgehoben, in diesem Zusammenhang aber von »250 Millionen Menschen, die ihr wirtschaftliches Potential koordinieren,« gesprochen.44 Ernst Plate erklärte 1954, Europa sei in Hamburg »kein leeres Wort«, aber die »Handels- und Schiffahrtsstadt Hamburg sympathisiert über die klein-europäische und westliche Integration hinweg mit einer europäischen Lösung im großen Rahmen«.45 Die Einbeziehung Mittel- und Osteuropas in den Gemeinsamen Markt solle in die Präambel des Hauptvertrags der EWG aufgenommen werden.46
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StaHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 9762: Freihafenrechte der Freien und Hansestadt Hamburg im Rahmen der EWG [1957-1968], Freie und Hansestadt Hamburg, Vertretung bei der Bundesregierung/Asschenfeldt, an AA, 7. Mai 1957, Betr.: Freihafenrecht der Freien und Hansestadt Hamburg im Rahmen der EWG. Vgl. Lochner, Norbert: Niederländische und europäische Verkehrspolitik (= Vorträge aus dem Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster, Band 16), Göttingen 1958. StaHH 135-1 VI: Pressestelle VI, 945 [Auswärtige Beziehungen zu den Niederlanden, 19521982], Staatliche Pressestelle Hamburg, 02.09.1958: Bürgermeister Brauer zur Eröffnung der »Holland-Woche«. Zitiert nach: »Hamburgs Verkehrsforderungen«. StAHH 131-1 II: Senatskanzlei II, 1375: Veranstaltung von Übersee-Tagen, hier: 1950-1959, Unterakte 1954, Ansprache des Herrn Senator Ernst Plate auf der Morgen-Veranstaltung des Übersee-Clubs am 7. Mai 1954 [Entwurf], Bl. 225. Ähnlich z.B. bereits 1953 in: Plate, Ernst: »Europahafen Hamburg«, in: Europa-Verkehr 1 (1953), S. 128-130, hier S. 130: »Das ganze Europa wird es sein!« und in: Plate, Ernst: Weltwirtschaftliche Aspekte der europäischen Wirtschaftseinigung, gesehen von einem Hafenfachmann, Hamburg 1959, S. 13-15. Ähnlich: »Plates ›Ja mit Vorbehalt‹«, in: Hamburger Anzeiger vom 05.03.1957; Plate, Ernst: »Die Verkehrsprobleme der nordwestdeutschen Seehäfen«, in: Internationales Archiv für Verkehrswesen 9 (1957), S. 309-317, hier S. 315; »Plate: ›Hamburg der zentrale Hafen für Mitteleuropa‹. EWG notwendig – Politik der Elbe – Gegenstück zu Europoort«, in: Verkehr 15 (1959), S. 339-340.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
Bereits Ende 1959 brachten Hamburg und die drei anderen norddeutschen Küstenländer gegenüber Adenauer ihre Unzufriedenheit mit der bisherigen Entwicklung zum Ausdruck. Man habe im Bundesrat den Römischen Verträgen zugestimmt in der Erwartung, »daß ein größerer europäischer Wirtschaftszusammenschluß zustande kommen wird. Die norddeutschen Länder verfolgen daher mit größter Anteilnahme, ja mit Sorge, die Bildung einer von der EWG abgesonderten sogenannten Kleinen Freihandelszone (EFTA). Die Entwicklung bringt die Küstenländer, die bereits jetzt an der Peripherie der EWG und an der Grenze des Ostblocks liegen, in eine neue Randlage zur Kleinen Freihandelszone.«47 Hamburger Politiker und auch die Handelskammer plädierten in den 1960er Jahren nachdrücklich für eine Verschmelzung der EWG mit der 1960 gegründeten größeren Europäischen Freihandelsassoziation EFTA und begrüßten die EWGBeitrittsgespräche mit Großbritannien und den skandinavischen Ländern.48 Man müsse »das Ziel der europäischen Großräumigkeit« ansteuern, forderte Plate.49 In den frühen 1960er Jahren – mit der EWG der Sechs als Tatsache und unter dem Eindruck weiter steigender Umschlagszahlen im Hafen50 – verschob sich dann der Schwerpunkt der Hamburger Argumentation. Die öffentlichen Klagen über die »Randlage« wurden seltener. Die Hamburger »Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaftsförderung« hatte intern bereits Ende der 1950er Jahre den negativen Ton dieser Formel kritisiert.51 1964 wies Bürgermeister Paul Nevermann sie bei den Feiern zum 775. Hafengeburtstag sogar explizit zurück: 47
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StaHH 135-1 VI: Pressestelle VI, 1036, Staatliche Pressestelle Hamburg, 09.11.1959, Norddeutsche Küstenländer warnen: Keine wirtschaftliche Blockbildung in Europa! Gemeinsames Schreiben an Bundeskanzler Dr. Adenauer in Bonn überreicht. Vgl. auch StaHH 371-16 II: Behörde für Wirtschaft und Verkehr II, 25, Schriftwechsel und Dokumente zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 1959-1964, Band 2. StaHH 135-1 VI: Pressestelle VI, 1036, Staatliche Pressestelle Hamburg, 13.02.1960, Neue Intervention der Küstenländer: Erklärung über die Beziehungen zur EFTA; ebd., Staatliche Pressestelle Hamburg, 05.09.1962, Bürgermeister Dr. Nevermann: Beitritt Großbritanniens zur EWG muß unverzichtbares Ziel der deutschen Politik sein. Vgl. auch: »Die Schaffung einer Europäischen Freihandelszone verträgt keinen Aufschub!«, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 13 (1958), S. 730f.; Stephan, Rudolf: »Gemeinsamer Markt und Freihandelszone in Hamburger Sicht«, ebd., S. 893-895. »Plate: EWG hat sich noch nicht ›freigeschwommen‹«, in: Verkehr 15 (1959), S. 1761f., hier S. 1762. Vgl. die positive wirtschaftliche Bilanz des Hafens bei: Naumann, Karl-Eduard: »Die heutige Lage des Hamburger Hafens«, in: Handbuch für Hafenbau und Umschlagstechnik 10 (1965), S. 109-114. Vgl. StaHH 371-16 II: Behörde für Wirtschaft und Verkehr II, 288, Angelegenheiten der Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaftsförderung e.V., Band 1, 1952-1960, Unterakte 3, Bl. 3/108: Entwurf: Arbeitsbericht der AG für das Haushaltsjahr 1958/59.
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»Deshalb lehnen wir Hamburger auch die Vokabel von unserer ›Randlage‹ ab; wir erblicken vielmehr unsere Aufgabe darin, Kristallisationspunkt eines starken regionalen wirtschaftlichen Ballungsgebiets und eine Brücke zwischen den Blöcken, hauptsächlich zwischen EWG und EFTA, zu sein und die Beziehungen zur COMECON-Region herzustellen und zu vertiefen.«52 Die angestrebte Mittlerstellung wurde nun in gewisser Weise mit einem »Platz an der Nahtstelle der großen Wirtschaftsblöcke« EWG, EFTA und Comecon als gegeben angesehen.53 Die offizielle Hafenwerbung propagierte »Hamburg im Schnittpunkt der Märkte« und warb in Fachzeitschriften und auf Messen mit entsprechend gestalteten Grafiken.54 Zugleich wurden die Kontakte nach Mittel- und Osteuropa offensiver als politisch motiviert gerechtfertigt.55 Wirtschaftssenator Edgar Engelhard sah im Osthandel eine der letzten Klammern der beiden deutschen Teilstaaten56 und sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Helmuth Kern, erklärte in der Wochenzeitung »Die Zeit« 1971 selbstbewusst: »Wir vertreten die Interessen unseres Hafens, völlig unabhängig von den jeweiligen politischen Entwicklungen.«57 Endgültig geheilt war das Trauma des verlorenen Hinterlandes im Osten und der Randlage dann aber erst 1989/90. Es ist bemerkenswert, wie intensiv damals noch einmal Bezug auf die Vergangenheit genommen wurde. Die Öffnung der Mauer ermögliche Hamburg die »Rückkehr in die Zentralität im Herzen Europas«, formulierte Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) in einem Zeitungsinterview Ende Dezember 1989.58 Ein Jahr später, am 9. November 1990, hielt Voscherau seine Antrittsrede als Präsident des Bundesrates und betonte, dass durch die deutsche
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StaHH 371-16 II: Behörde für Wirtschaft und Verkehr II, 3422, Durchführung des 775jährigen Hafenjubiläums 1964 – Allgemeines [1964], Staatliche Pressestelle Hamburg, 29.4.1964, Hamburg im 775. Jubiläumsjahr seines Hafens. Erklärung von Bürgermeister Dr. Nevermann auf der Pressekonferenz am Mittwoch, 29. April 1964. Plate, Ernst: »Wie ist Hamburgs Stellung im Wettbewerb der Seehäfen?«, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 15 (1960), S. 284-286, hier S. 284; »Das Porträt: Senator a.D. Ernst Plate«, in: Mitteilungen der Handelskammer Hamburg 18 (1963). Vgl. z.B. Abbildungen in: Europa-Verkehr 8 (1960), S. 11; Internationale Transport-Zeitschrift 27 (1965), S. 1463; Mitteilungen der Handelskammer 21 (1966), S. 3; Jahrbuch des Schiffahrtswesens 5 (1966), S. A14. Vgl. z.B. das Bekenntnis Wirtschaftssenator Engelhards zur »allgemeinpolitische[n]« Dimension der Politik der Elbe, in: StaHH 135-1 VI: Pressestelle VI, 1043, Staatliche Pressestelle Hamburg, 29.05.1964, Hamburg – Mittler zwischen Europa und der Welt. Bürgermeister Engelhard vor dem Außenhandelsausschuß des Europaparlaments. Vgl. z.B. StaHH 135-1 VI: Staatliche Pressestelle VI, 1858, Staatliche Pressestelle Hamburg, 22.03.1966: Intensivierung des Interzonenhandels vorgeschlagen. Vgl. »Fragen zur Hafenpolitik an Helmuth Kern: ›Die DDR braucht uns‹«, in: Die Zeit Nr. 13 vom 26.03.1971, S. 36. Rademacher, Ludwig: »Hamburg wird das Herz Europas: Interview mit Bürgermeister Henning Voscherau«, in: Hamburger Abendblatt vom 29.12.1989, S. 3.
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Einheit gerade für Hamburg nun zusammenwachse, was zusammengehöre, und der Stadtstaat sein »natürliches Hinterland« im Osten zurückerhalte: »Nun endlich erfährt auch die ›Politik der Elbe‹, von meinen Hamburger Amtsvorgängern Kurt Sieveking und Max Brauer begonnen und seither in Hamburg jenseits aller Parteigrenzen von allen hochgehalten, ihre Vollendung.«59 Für Helmuth Kern, inzwischen HHLA-Vorstandsvorsitzender, war Hamburg durch den Wandel im Osten auf dem Weg, seine »historische Position als Zentralhafen für Mitteleuropa zurückzugewinnen«.60
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Eine letzte bemerkenswerte Dimension hamburgischen Selbstverständnisses stellte in den 1950er Jahren schließlich die Übertragung der Idee einer geopolitischen Mittlerstellung von Europa auf die Welt dar. Hamburg erschien dabei als »Mitte« im »Gegensatz von Land und Meer« und »Seeverkehrsströme [erschienen als] Mittler zwischen der maritimen und der terranen Welt« – so Plate unter Berufung auf den Staatsrechtler Carl Schmitt 1955 in Velden in einem Vortrag am Donaueuropäischen Institut.61 In seinem Grußwort zum Überseetag 1957 brachte Plate dies auf die Formel: »Die Elbe und ihr Kopfbahnhof Hamburg verbinden Mitteleuropa mit Übersee.«62 Der Syndikus der Handelskammer, Hellmut Weising, sah den hamburgischen Kaufmann »an der Schwelle von Festlands- und Überseewirtschaft«.63 Die Zeitschrift »Übersee-Rundschau« postulierte 1955 Hamburg als »Weltbrücke nach Übersee«.64 Die globale Vernetzung der Stadt und ihrer Eliten wurde in den 1950er Jahren ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg hervorgehoben, obwohl – oder gerade weil – sich die Schwerpunkte des Handels auch für Hamburg in den europäischen
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Deutscher Bundesrat, Stenographischer Bericht, 624. Sitzung, 9.11.1990, S. 618-619. Zitiert in: »Der zentrale Hafen für Mitteleuropa«, in: Hamburger Abendblatt vom 14.12.1989, S. 31. Plate, Ernst: »Seeverkehrsströme in Europa«, in: HHN 8 (1955), Nr. 13, S. 3-4, hier S. 3, auch veröffentlicht in: Zeitschrift für Geopolitik 26 (1955), S. 615-622. Das Bild eines maritimen Westens und eines terranen Ostens – Schiff und Haus – nutzte Plate noch häufiger in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen, z.B. in: Plate, Ernst: »Die deutsche Aufgabe im Ost-WestVerkehr«, in: Die Freie Stadt 10 (1956), Nr. 1, S. 1-2, hier S. 1. Plate, Ernst: »Die Elbe und ihr Kopfbahnhof Hamburg verbinden Mitteleuropa mit Übersee. Eine Betrachtung über hamburgische Verkehrsaufgaben innerhalb der EWG«, in: Hamburger Abendblatt vom 07.05.1957, Sonderbeilage S. III. Weising, Hellmut: »Hamburg – Hafen für Deutschland«, in: Wilhelm Brünger (Hg.): Hamburg. Großstadt und Welthafen. Festschrift zum XXX. Deutschen Geographentag, 1.-5. August 1955 in Hamburg, Kiel 1955, S. 255-261, hier S. 261. »Hamburg – Weltbrücke nach Übersee«, in: Übersee-Rundschau 7 (1955), Nr. 5, S. 10-12.
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Raum zu verschieben begannen. Auch in diesem Zusammenhang ging es um die Identität der Stadt, die eng mit räumlich konnotierten Begriffen verbunden wurde. Dabei erfuhren sowohl das in der Zwischenkriegszeit popularisierte Bild des »Tors zur Welt« als auch der enge Bezug zu »Übersee« eine Aktualisierung.65 Die »Hamburger Hafen-Nachrichten« postulierten 1953 eine »überseeische Grundhaltung unseres Stadtstaates« – die nicht zuletzt Ernst Plate verkörpere – und hoben hervor, dass Hamburg auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Erfolge gewesen sei, »als dieser Hafen der Mittler war zwischen einem wirtschaftlich starken, durch keine Ideologien gespaltenen Gesamteuropa auf der einen Seite und einer mit diesen europäischen Ländern handelspolitisch eng verbundenen überseeischen Welt auf der anderen.«66 Die Orientierung auf Übersee konkretisierte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Namen des 1948 gegründeten privaten »Übersee-Clubs«, der ähnlich wie sein gleichnamiger Vorläufer von 1922 nach einem verlorenen Krieg durch die Pflege persönlicher Beziehungen ins Ausland den Außenhandel wieder stärken sollte. Ein wichtiges Instrument dafür stellten die seit 1950 bis heute stattfinden »Überseetage« dar, bei denen jährlich am 7. Mai, dem (fiktiven) Tag des Hafengeburtstags von 1189, mehrere hundert geladene Gäste aus Politik und Wirtschaft im Rathaus und an wechselnden Schauplätzen in der Stadt und im Hafen zusammenkamen. Ein letzter Baustein ist schließlich die »Übersee-Rundschau«, eine 1949 neu gegründete gemeinsame Zeitschrift der traditionsreichen Ländervereine für IberoAmerika, Ostasien und Afrika, die Wirtschaftsnachrichten, aber auch nostalgisch gefärbte Erinnerungen an die überseeischen Beziehungen Hamburgs und seiner Handelshäuser in der Vergangenheit enthielt. Sie stellte erst 1991 ihr Erscheinen ein. Übersee-Club, Überseetage und die Auslandsvereine waren personell und institutionell eng miteinander und mit der Politik im Rathaus verflochten. Sie zelebrierten Hamburg als Stadt des Handels und globaler, auf den persönlichen Netzwerken und dem Renommee der Hamburger Kaufleute beruhenden Beziehungen, die wiederum im Interesse Deutschlands insgesamt genutzt werden sollten.
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Vgl. Amenda/Grünen: »Tor zur Welt«; Amenda, Lars: »›Welthafenstadt‹ und ›Tor zur Welt‹. Selbstdarstellung und Wahrnehmung der Hafenstadt Hamburg 1900-1970«, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv 29 (2006), S. 137-158; Brahm, Felix: »The Overseas World – and Hamburg: On the Postwar Recreation of Locality in a German Port City«, in: Localities. The International Journal for Humanities and Locality Studies 3 (2013), S. 103-123. »Hamburger und Europäer: Senator Ernst Plate«, in: HHN 6 (1953), Nr. 24, S. 2.
»Mittler zwischen Ost und West« und »Tor zur Welt«
5.
Fazit
Die Sehnsucht nach einer geopolitischen Mittlerstellung Hamburgs im geteilten Europa und in der Welt seit den 1950er Jahren hat unübersehbar nostalgische Züge, denn sie orientierte sich an den wirtschaftlichen Funktionen des Hafens im Kaiserreich und in der Zwischenkriegszeit. Allerdings ging es bei der »Politik der Elbe«, dem Ziel eines großräumigen Europas und der Erneuerung der Verbindungen nach Übersee dezidiert nicht nur um Fragen wirtschaftlicher Beziehungen und der dafür notwendigen Infrastruktur. Auf dem Spiel stand für Hamburg durch die Störung der »natürlichen« Handelswege und der etablierten geographischen Beziehungen vielmehr die maritime Identität der Stadt. Zwar lässt sich die wirtschaftliche Motivation von Politikern und Wirtschaftsführern wie Sieveking, Plate oder Schäfer nicht leugnen, aber ihre Aktivitäten waren mehr als nur ein Mittel zum Zweck der Umschlagssteigerung im Hafen. Es ging ihnen zugleich um die Fortführung bzw. Aktualisierung einer jahrhundertelangen Tradition unter den Rahmenbedingungen eines dramatischen politischen Strukturwandels. Dem Strukturwandel begegneten die Protagonisten in Hamburg mit einem für einen Stadtstaat bzw. eine Region bemerkenswerten Selbstbewusstsein. Die ideologische Überhöhung der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen des Hafens, die vor allem in den öffentlichen Äußerungen Ernst Plates zum Ausdruck kam, stärkte zum einen dieses Selbstbewusstsein und diente zum anderen der Vertretung der eigenen Position gegenüber Dritten, wie den Konkurrenzhäfen, der Bundesregierung und später der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das Hamburger Beispiel der Verknüpfung von Wirtschaft, Geopolitik und Ideologie lädt damit auch zum Vergleich ein, sowohl mit anderen Regionen in der Bundesrepublik als auch auf europäischer Ebene.
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Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland? Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 und die politische Geographie der deutschen Demokratie in Europa Tobias Hirschmüller
1.
Einleitung
Am 18. Mai 1998 fand in der im Zweiten Weltkrieg zerstörten und später in vereinfachter Form wiedererrichteten Frankfurter Paulskirche ein Festakt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »1848 – Aufbruch zur Freiheit«1 statt. Schon die Begrüßungsreden durch Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), Hessens Ministerpräsident Hans Eichel (SPD), Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und schließlich Bundespräsident Roman Herzog (beide CDU) verdeutlichen die parteiübergreifende bundespolitische Bedeutung, die der Veranstaltung zukam. Über dem Rednerpult war groß folgendes Zitat aus der Rede Heinrich von Gagerns zur Eröffnung des Frankfurter Parlaments am 19. Mai 1848 wiedergegeben: »Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegt in der Souveränität der Nation. … Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes.«2 Klaus Peter Möller (CDU), Präsident des Hessischen Landtages, äußerte 1998 in seinem Geleitwort zu der Feier: »In den Menschen, die vor 150 Jahren für die bürgerlichen Freiheitsrechte auf die Straße gegangen sind, finden wir heute noch gültige
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Gall, Lothar (Hg.): 1848. Aufbruch zur Freiheit. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums und der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49. 18. Mai bis 18. September 1998 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Berlin 1998. Klaus Peter Möller (Hg.): 150jähriges Jubiläum der Revolution von 1848/49 und Eröffnung der Ausstellung ›1848 – Aufbruch zur Frei-heit‹. Dokumentation der Festveranstaltung in der Paulskirche zu Frankfurt a.M. 1998, Wiesbaden 1998, S. 39-58, hier S. 2. Siehe auch: Wigard, Franz Jacob (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt a.M., 7 Bände, Frankfurt 1848/1849, hier Bd. 1, S. 17.
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Vorbilder.«3 Auch Bundespräsident Herzog bilanzierte, dass die Nationalversammlung in der Paulskirche »ein Moment unserer oft so schwierigen Geschichte« sei, auf den »wir uns ohne Einschränkungen berufen können«.4 Diese Traditionslinien zu den Revolutionsjahren 1848/1849 wurden nach 1945 von nahezu allen politischen Parteien konstruiert und sind auch im wiedervereinigten Deutschland sowohl bei den beiden Volksparteien wie der liberalen, der ökologischen und der sozialistischen Partei anzutreffen.5 Auch die Alternative für Deutschland (AfD) verzichtete nicht auf eine entsprechende Bezugnahme, sondern hielt 2016 in der Präambel ihres Parteiprogramms fest, in der »Tradition der beiden Revolutionen von 1848 und 1989 artikulieren wir mit unserem bürgerlichen Protest den Willen, die nationale Einheit in Freiheit zu vollenden und ein Europa souveräner demokratischer Staaten zu schaffen«.6 Seit dem Fall der Berliner Mauer scheint zudem ein breiter Konsens in der Bundesrepublik darüber zu bestehen, dass 1948/1949 die Westdeutschen im Parlamentarischen Rat und 1989 die Ostdeutschen an der Bornholmer Straße das vollendeten, was im März 1848 mit den Barrikaden in der Nähe des Berliner Stadtschlosses begonnen wurde. Nicht nur Persönlichkeiten aus Politik7 und Journalismus8 vertreten diese Sicht, auch Historiker
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Möller, Klaus Peter: »Geleitwort«, in: Ders.: 150jähriges Jubiläum, S. 11-12, hier S. 12. Herzog, Roman: »Rede«, in: Möller: 150jähriges Jubiläum, S. 39-58, hier S. 41. Hierfür kann beispielhaft die Aussprache des Deutschen Bundestages in Bonn, 27.05.1998 zum 150. Jahrestag der verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Paulskirche gelten. Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 21751-21772. Alternative für Deutschland – Die Bundeskommission – Der Bundesvorstand: Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland Leitantrag der Bundesprogrammkommission und des Bundesvorstandes Vorlage zum Bundesparteitag am 30.04.2016/01.05.2016, S. 1. Vgl. bspw.: Lengsfeld, Vera (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 21752; Klose, Hans-Ulrich (SPD): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: ebd., S. 21771; Lammert, Norbert (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 09.11.2007«, in: ebd., S. 12949. Bspw.: Rudolph, Hermann: »Die Veränderung an uns selbst«, in: Der Tagesspiegel vom 19.05.1998; Schmoock, Matthias: »Nicht gescheitert, nur vertagt«, in: Hamburger Abendblatt vom 21.03.1998.
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wie Hans Werner Hahn,9 Lothar Gall,10 Wolfgang J. Mommsen11 oder Günter Wollstein12 sehen die Forderungen des Jahres 1848 in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt. Dieser Konsens geht oft mit kontrafaktischen Gedankenspielen einher, wonach nationalistisches Großmachtstreben, zwei Weltkriege, der Holocaust und 40 Jahre Teilung den Deutschen wie Europa und der Welt erspart geblieben wären, hätten die »48er« gesiegt.13 Die Aufwertung der Jahre 1848 und 1849 nach 1945, bei einer gleichzeitigen Relativierung des Jahres 1871, erscheint als Konsequenz der katastrophalen militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands und der sich abzeichnenden deutschen Teilung jedoch nur zunächst als logischer Schritt.14 Was bei die9
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Vgl. Hahn, Hans-Werner: »Verdrängung und Vermächtnis. Die Revolution von 1848/49 in der Geschichtskultur der Deutschen«, in: Klaus Ries (Hg.): Revolution an der Grenze. 1848/49 als nationales und regionales Ereignis (= Schriftenreihe Geschichte, Politik & Gesellschaft der Stiftung Demokratie Saarland, Bd. 4), St. Ingbert 1999, S. 23-45, hier S. 41. Vgl. Gall, Lothar (Hg.): 1848. Aufbruch zur Freiheit. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums und der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 150jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49. 18. Mai bis 18. September 198 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Berlin 1998; Ders.: »Aufbruch zur Freiheit. Über die Abgeordneten der Paulskirche und ihren späten Triumph«, in: Die politische Meinung. Monatsschriften zu Fragen der Zeit 43 (1998), S. 63-71; Ders.: »Ein großer Tag der deutschen Geschichte. Am 18. Mai 1848 trat die erste deutsche Nationalversammlung zusammen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.05.1998. Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: »Die nationale Frage in der Revolution von 1848/49«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998) 3, S. 348-358; Ders.: »Freiheit und Einheit als Ziel der Revolution – Zur historischen Einordnung«, in: Frankfurter Rundschau. Beilage 1848 vom 18.05.1998; Ders.: »Der Höhepunkt der Revolution: Am 18. Mai 1848 wurde die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eröffnet. Die Idee einer Einheit in Freiheit«, in: Berliner Zeitung vom 16.05.1998. Vgl. Wollstein, Günter: »Gedenken an 1848. Tradition im Wandel der Zeit«, in: Bernd Rill (Hg.): 1848. Epochenjahr für Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland (Berichte und Studien der Hans-Seidl-Stiftung e.V., Bd. 77), München 1998, S. 311-345; Wollstein, Günter: »Für Recht und Freiheit. 1848/In einem Festakt am 18. Mai wird des Paulskirchen-Parlaments gedacht«, in: Rheinischer Merkur vom 15.05.1998; Wollstein, Günter: »Die deutsche Revolution vor 150 Jahren«, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte. Deutsches und europäisches öffentliches Recht 40 (2001), S. 128-150. Vgl. hierzu Beispiele in: Hirschmüller, Tobias: »Von der Barrikade ins Parlament. Die Pazifizierung der Revolution im westdeutschen Geschichtsbild nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: Christina Bröker/Sarah Gatzlik/Eva Muster et al. (Hg.): Mythos im Wissen. Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, München 2018, S. 249-288, hier S. 266. Zum Einschnitt in der deutschen Erinnerungskultur nach 1945 vgl. Siemann, Wolfram: »Die Revolution von 1848/49 zwischen Erinnerung, Mythos und Wissenschaft: 1848-1998«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998) 5/6, S. 272-281, hier S. 277; Hirschmüller, Tobias: »›Wegbereiter und Mahner zur Einheit Deutschlands‹? Der ›Eiserne Kanzler‹ und die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik«, in: Markus Raasch (Hg.): Die deutsche Gesellschaft und der konservative Heroe. Der Bismarckmythos im Wandel der Zeit, Aachen 2010, S. 221-
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sem erinnerungskulturellen Konsens verwundert, ist der Umstand, dass es sich doch bei der Nationalversammlung in der Paulskirche zunächst um einen großdeutschen Staatsgründungsversuch handelte. Die Mehrheit der Abgeordneten der Frankfurter Versammlung hatte 1848 mit dem Habsburger Erzherzog Johann einen Österreicher zum provisorischen Staatsoberhaupt, zum sogenannten Reichsverweser, erwählt.15 Dies relativiert die Selbstverständlichkeit, mit der 1948 – drei Jahre nach dem Tod des großdeutsch gesinnten Staatsoberhauptes und gebürtigen Österreichers Adolf Hitler – im in Zonen geteilten Deutschland unter der damals auch noch mit der großdeutschen Bewegung assoziierten schwarz-rot-goldenen Fahne der deutschen Revolution des 19. Jahrhunderts gedacht wurde. Zudem hatte ein Teil der Parlamentarier in Frankfurt Sympathien für einen Ausbau der deutschen Machtstellung, wie unter anderem der Krieg in den Herzogtümern Schleswig und Holstein oder vereinzelt erhobene Gebietsansprüche an Frankreich zeigten. Dies wirft die Fragen auf, welche Vorstellungen eines deutschen Großraumes oder einer deutschen Ordnungsmacht trotz der sich abzeichnenden staatlichen Teilung in Gesellschaft und Politik über 1945 hinausreichten und wie mit »dunklen« Seiten der Paulskirche in der Erinnerungskultur umgegangen wurde und wird.16 Ein Blick in die historische Forschung über die Erinnerung an die Revolutionen von 1848/1849 zeigt eine große Historiographiegeschichte seit der Weimarer Republik.17 Eine wichtige Arbeit stammt von Claudia Klemm, die ausführlich in 25Jahres-Schritten von 1873 bis 1998 die Unterschiede der Gedenkpraxis in Frankfurt und Berlin behandelte.18 Eine weitere bedeutende Arbeit verfasste Michael Doering über die Revolution in den deutschen Schulgeschichtsbüchern von 1890 bis 1945.19 Andere Ansätze nehmen einzelne Epochen der deutschen Geschichte wie das Kai-
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257; Ders.: Der Liberale und die Vergangenheit. Theodor Heuss und das deutsche Geschichtsbild (= Ernst-Reuter-Hefte 6), Berlin 2015, S. 36-51. Vgl. Hirschmüller, Tobias: »›Freund des Volkes‹, ›Vorkaiser‹, ›Reichsvermoderer‹. Erzherzog Johann als Reichsverweser der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/1849«, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 20 (2013), S. 27-57. Vgl. hierzu das Projekt von: Geschichte und Zukunft e.V. (Hg.): Das Dunkle und das Helle in der Paulskirche, Frankfurt a.M. [erscheint 2020]. Etwa: Hörth, Otto: Gedenkfeiern 1873/1898/1923, Frankfurt a.M. 1925. Vgl. Klemm, Claudia: Erinnert – umstritten – gefeiert. Die Revolution von 1848/49 in der deutschen Gedenkkultur (= Formen der Erinnerung, Bd. 30), Göttingen 2007. Vgl. Doering, Michael: Das sperrige Erbe. Die Revolution von 1848/49 im Spiegel deutscher Schulgeschichtsbücher (1890-1945) (= Internationale Hochschulschriften, Bd. 518), München 2008.
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serreich,20 die Weimarer Republik21 oder den Nationalsozialismus22 hinsichtlich des Gedenkens an die Revolution in den Blick. Für die Bundesrepublik liegen meh-
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Vgl. Harnack, Axel von: »Die Paulskirche im Wandel der Geschichtsauffassung«, in: Zeitschrift für Politik 12 (1922) 3, S. 235-247; Baumgart, Franzjörg: Die verdrängte Revolution. Darstellung und Bewertung der Revolution von 1848 in der deutschen Geschichtsschreibung vor dem Ersten Weltkrieg (= Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien, Bd. 14), Düsseldorf 1976; Hettling, Manfred: »Nachmärz und Kaiserreich«, in: Christoph Dipper/Ulrich Speck (Hg.): 1848 Revolution in Deutschland, Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 11-24; Mergel, Thomas: »Sozialmoralische Milieus und Revolutionsgeschichtsschreibung. Zum Bild der Revolution von 1848/49 in den Subgesellschaften des deutschen Kaiserreichs«, in: Christian Jansen/Thomas Mergel (Hg.): Die Revolution von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, S. 247-267; Elvert, Jürgen: »Die Revolution 1848/49 in der historiographischen Rezeption der Zwischenkriegszeit«, in: Heiner Timmermann (Hg.): 1848. Revolution in Europa. Verlauf, politische Programme, Folgen und Wirkungen (= Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 87), Berlin 1999, S. 467-479; Strupp, Christoph: »Erbe und Auftrag. Bürgerliche Revolutionserinnerung im Kaiserreich«, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 309-343. Vgl. Rohe, Karl: Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 34), Düsseldorf 1966; Vogt, Martin: »Weimar und NS-Zeit«, in: Dipper/Speck: 1848, S. 25-34; Bussenius, Daniel: »Eine ungeliebte Tradition. Die Weimarer Linke und die 48er Revolution 1918-1925«, in: Heinrich August Winkler (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 90-114; Bussenius, Daniel: Der Mythos der Revolution nach dem Sieg des nationalen Mythos. Zur Geschichtspolitik mit der 48er-Revolution in der Ersten Republik Österreichs und der Weimarer Republik 1918-1933/34, Dissertation Berlin 2011; Gruhlich, Rainer: Geschichtspolitik im Zeichen des Zusammenbruchs. Die Deutsche Nationalversammlung 1919/20. Revolution – Reich – Nation (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 160) (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Parlament und Öffentlichkeit, Bd. 3), Düsseldorf 2012; Buchner, Bernd: Um nationale und republikanische Identität. Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik (= Reihe Politikund Gesellschaftsgeschichte, Bd. 57), Bonn 2001, S. 168-184. Vgl. Vogt: Weimar; Weiß, Joachim: Revolutionäre und demokratische Bewegungen in Deutschland zwischen 1789 und 1849. Eine Untersuchung zu Geschichtsschreibung und Geschichtsbild in deutschen Schulgeschichtsbüchern der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Zeit (= Beiträge zur historischen Bildungsforschung, Bd. 10), Hildesheim 1991.
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rere Beiträge von Edgar Wolfrum23 und Wolfram Siemann24 vor und zudem eine Untersuchung des Verfassers dieses Beitrages zum Aspekt der Pazifizierung der Erinnerung.25 Wissenschaftlich problematisch sind die Untersuchungen von Walter Schmidt, der sich nicht um die Position eines Beobachters bemüht, sondern mit der Forderung nach einer bestimmten Revolutionserinnerung als politischer Akteur in Erscheinung tritt. Schmidt wertet die Schwerpunktsetzungen der bundesrepublikanischen Revolutionsforschung als Umsetzung eines politischen Willens. Die Konzentration der Erinnerung liege in Politik und Wissenschaft auf den liberalen und demokratischen Protagonisten, während den Arbeitern sowie deren Organisationen die historische Würdigung geflissentlich vorenthalten werde.26 Ein weiterer Ansatz ist die Untersuchung der Erinnerung von gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und Verbänden an zentralen Orten des Revolutionsge-
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Vgl. Wolfrum, Edgar: »Bundesrepublik Deutschland und DDR«, in: Dipper/Speck: 1848, S. 3549; Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, S. 39-49; Ders.: »Die Revolution von 1848/49 im geschichtspolitischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungslinien von 1948/49 bis zur deutschen Einheit«, in: Wolther von Kieseritzky/Klaus-Peter Sick (Hg.): Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 1999, S. 299-316. Vgl. Siemann, Wolfram: »Auf der Suche nach einer Friedensordnung: Das Jubiläum der Revolution von 1848 im Nachkriegsdeutschland«, in: Johannes Burkhardt (Hg.): Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart (= Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Historisch-sozialwissenschaftliche Reihe, Bd. 62), München 2000, S. 125-136; Siemann, Wolfram: »Großdeutsch – kleindeutsch? Österreich in der deutschen Erinnerung zu 1848/49«, in: Barbara Haider/Hans Peter Hye (Hg.): 1848. Ereignis und Erinnerung in den politischen Kulturen Mitteleuropas (= Zentraleuropa-Studien, Bd. 7), Wien 2003, S. 97-111; Siemann, Wolfram: »Der Streit der Erben – deutsche Revolutionserinnerung«, in: Dieter Langewiesche (Hg.): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen. Beiträge des Symposiums in der Paulskirche vom 21 bis 23. Juni 1998 (= Historische Zeitschrift. Beihefte, Neue Folge, Bd. 29), München 2000, S. 233-269. Vgl. Hirschmüller: Pazifizierung. Auch: Gildea, Robert: »Mythen der Revolutionen von 1848«, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.): Europa 1848. Revolution und Reform (= Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 48), Bonn 1998, S. 1201-1233. Vgl. exemplarisch: Schmidt, Walter: »1848 in der deutschen und europäischen Erinnerungskultur der Gegenwart«, in: Alfred Loesdau (Hg.): Erinnerungskultur in unserer Zeit – zur Verantwortung des Historikers. Beiträge eines Kolloquiums zum 70. Geburtstag von Helmut Meier (= Gesellschaft – Geschichte – Gegenwart, Bd. 35), Berlin 2005, S. 97-108; Schmidt, Walter: »Tendenzen in der 1848er Revolutionsforschung und Gedenkkultur im Umfeld des 150. Revolutionsjubiläums von 1998«, in: Wolfgang Eichhorn (Hg.): Was ist Geschichte? Aktuelle Entwicklungstendenzen von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft (= Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 19), Berlin 2008, S. 203-214.
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schehens,27 wie hauptsächlich in Berlin28 oder in der Paulskirche.29 Zusätzliche Arbeiten über die lokalen Erinnerungsriten wurden insbesondere zu Regionen im
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Vgl. Ruttmann, Matthias: »›1848 – Aufbruch zur Freiheit‹. Eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zum 15jährigen Jubiläum der Revolution von 1848/49«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998) 5/6, S. 346-353, hier S. 349-352. Zu den regionalgeschichtlichen Forschungsmethoden: Walter, Bernd: »Die Revolution von 1848/49. Perspektiven und Beiträge der regionalgeschichtlichen Forschung«, in: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landesverbandes Westfalen-Lippe 49 (1999), S. 1-19. Vgl. Bouvier, Beatrix W.: »Die Märzfeiern der sozialdemokratischen Arbeiter: Gedenktage des Proletariats – Gedenktage der Revolution. Zur Geschichte des 18. März 1848«, in: Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul Münch (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg (= Rowohlts Enzyklopädie. Kulturen und Ideen), Reinbeck bei Hamburg 1988, S. 334-351; Hettling, Manfred: Totenkult statt Revolution. 1848 und seine Opfer, Frankfurt a.M. 1998; Giovannini, Norbert: »Die ›Verwertung‹ der 1848/49er-Revolution im lokalen Kontext«, in: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt Heidelberg 3 (1998), S. 145-176; Christian Klausmann/Ulrike Ruttmann: »Die Tradition der Märzrevolution«, in: Gall: Aufbruch zur Freiheit, S. 159-183; Hoffmann, Joachim: Berlin-Friedrichsfelde. Ein deutscher Nationalfriedhof, Berlin 2001; Thamer, Hans-Ulrich: »18. März 1848: Revolution in Berlin«, in: Étienne François/Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 187-199; Kitschun, Susanne/Lischke, Ralph-Jürgen (Hg.): Am Grundstein der Demokratie. Erinnerungskultur am Beispiel des Friedhofs der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain, Frankfurt a.M. 2012; Hattenhauer, Hans: »Kampf um ein Geschichtsbild. Die Märzgefallenen«, in: Thomas StammKuhlmann/Jürgen Elvert/Birgit Aschmann u.a. (Hg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag (= Historische Mitteilungen, Bd. 47), Stuttgart 2003, S. 369-380. Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: »Die Paulskirche«, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 47-66.
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Südwesten,30 der Pfalz31 oder auch in geringerem Umfang zu Thüringen32 oder Teilen Bayerns durchgeführt.33 Hingegen ist bisher keine Studie erfolgt, welche die Erinnerung an die Revolution von 1848/1849 als Indikator für den Wandel des politisch-geographischen Selbstverständnisses der Westdeutschen nach 1945 gelesen hätte. Zudem ist ein nicht unbedeutender Teil der Aufsätze zu den Revolutionserinnerungen davon gekennzeichnet, dass einzelne Politikerreden oder Zeitungsartikel zitiert werden, die dann generell für die Haltung einer Epoche stehen sollen. Zugleich fehlt oft ein fundiertes methodisches Konzept, die Quellen werden lediglich nacherzählt. Diese beiden Vorgehensweisen sind zu vermeiden, indem zunächst eine breitere Quellengrundlage ausgewertet wird. Neben den Gedenkreden der führenden westdeutschen Politiker und Politikerinnen zu Jahrestagen der revolutionären Ereignisse
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Vgl. Dresch, Jutta: »Das Ringen um das Gedenken an die badische Revolution«, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, S. 484-486; Fliedner, Hans-Joachim: »Eine Stadt erinnert sich. Versuch einer lokalen Aufarbeitung des Erinnerns an die Demokratiebewegung 1847 bis 1849«, in: Dieter Langewiesche (Hg.): Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis 1849. Internationale Aspekte und europäische Verbindungen, Karlsruhe 1998, S. 195-226; Rehm, Clemens: »Helfen können nicht Festschmause und Toaste, nicht das Singen von Heckerliedern und anderen Gesängen … (Friedrich Hecker, 1848). Erinnerung und Identität im Südwesten 1997-1999«, in: Ders./Hans-Peter Becht/Kurt Hochstuhl (Hg.): Baden 1848/49. Bewältigung und Nachwirkung einer Revolution (= Oberrheinische Studien, Bd. 20), Stuttgart 2002, S. 341-357; Hochstuhl, Kurt: »In Erfüllung des Vermächtnisses. Revolutionsgedenken und Politik 1948 in Baden«, in: Rehm/Hochstuhl/Becht: Baden 1848/1849, S. 317-326; Reinbold, Wolfgang: »Die 48er in Baden im Spiegel der Medien – Geschichtliche Wahrheiten und ihre Gegenwart. Eine erste Bestandsaufnahme anläßlich der Berichterstattung zum Offenburger Freiheitsfest vom 12. bis 14. September 1997«, in: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 78 (1998), S. 133-145. Vgl. Schneider, Erich: »Erinnerungen an die badisch-pfälzische Revolution und die Pflege der 1848/49er-Tradition zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik«, in: Arbeitskreis der Archivare im Rhein-Neckar-Dreieck (Hg.): Der Rhein-Neckar-Raum und die Revolution von 1848/49. Revolutionäre und ihre Gegenspieler, Ubstadt-Weiher 1998, S. 327-356; Schneider, Erich: »Pfälzische Sozialdemokratie und die 1848/49er-Tradition vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik«, in: Manfred Geis/Gerhard Nestler (Hg.): Die pfälzische Sozialdemokratie. Beiträge zu ihrer Geschichte von den Anfängen bis 1948/49, Edenkoben 1999, S. 15-39; Schneider, Erich: »Revolutionsgedenken vor hundert Jahren«, in: Ders./Jürgen Keddigkeit (Hg.): Die Pfälzische Revolution 1848/49, Kaiserslautern 1999, S. 213-224. Vgl. Gottwald, Herbert: »1848-1898. Der fünfzigste Jahrestag der Revolution von 1848/49 im Spiegel der thüringischen Presse«, in: Hans-Werner Hahn/Werner Greiling (Hg.): Die Revolution von 1848/49 in Thüringen. Aktionsräume − Handlungsebenen − Wirkungen, Rudolstadt/Jena 1998, S. 669-682. Vgl. Mader, Ernst T.: »›Denn das bleibt.‹ Das Erinnern an 1848/49 in Kemptener Zeitungen 1858 bis 1998«, in: Barbara Lochbihler (Hg.): Es lebe die im Freiheit! Revolution im Allgäu 1848/49 (= Edition Allgäu), Immenstadt-Werdenstein 2018, S. 242-261.
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von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart werden daher hier zudem Ausstellungskataloge, wissenschaftliche Legitimationsschriften, Sammelbände zur Lokalgeschichte sowie die Berichterstattung und Kommentare in den zentralen Tageszeitungen ausgewertet, um ein möglichst weites gesellschaftliches und politisches Spektrum abdecken zu können.34 Der Umfang und die Heterogenität des Quellenmateriales stellen die Aufgabe einer systematisierten Darstellung. Eine Lösung bietet Jörn Rüsen durch sein Modell über die Dimensionen der Präsenz von Erinnerung. Er arbeitete drei Hauptdimensionen eines kulturellen Gedächtnisses heraus: a) eine politisch-moralische, b) eine ästhetische und c) eine kognitive Dimension.35 Dieser Ansatz bietet die Möglichkeit, die Ebenen der Mythostradierung sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen festzustellen. In den häufig gebrauchten Begriff »Erinnerungskultur«36 können somit Geschichtspolitik37 , der geschichtswissenschaftliche Diskurs38 sowie gesellschaftliche Erinnerungsformen inkludiert werden. Die Dimensionen sind nicht eindeutig voneinander zu trennen, sondern miteinander verschränkt. Mythisierte Geschichte wird dabei nach Jan Assmann transformiert, um Werte für die Gegenwart ableiten und bestimmen zu können.39 Hierbei wird die Existenz eines »kollektiven Gedächtnisses« einer Gesellschaft unterstellt. Dieses ergibt sich nach Maurice Halbwachs aus dem kollektiven Rahmen der Erinnerung.40 Hans Blumenberg differenzierte diese These, indem er die Dynamik der Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Mythos beschrieb. Demnach muss ein Mythos einerseits einen fixen, unveränderlichen Kern besitzen und andererseits unterliegen die
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Vgl. Kiefer, Markus: Auf der Suche nach nationaler Identität und Wegen zur deutschen Einheit. Die deutsche Frage in der überregionalen Tages- und Wochenpresse der Bundesrepublik 1949-1955 (= Europäische Hochschulschriften, Bd. 525), Frankfurt a.M. u.a. 1992. Vgl. Rüsen, Jörn: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen (= Forum Historisches Lernen), Schwalbach 2 2008, S. 137-138. Hölscher, Lucian: »Geschichte als ›Erinnerungskultur‹«, in: Kristin Platt/Miharn Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 146168. Vgl. Cornelißen, Christoph: »Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003) 10, S. 548-563, hier S. 555. Auch: Schmid, Harald: »Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie ›Geschichtspolitik‹«, in: Ders. (Hg.): Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis (= Formen der Erinnerung, Bd. 41), Göttingen 2009, S. 53-75. Vgl. Cornelißen: Erinnerungskultur, S. 555. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72013, S. 76. Zum Begriff vgl.: Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Ungekürzte Ausgabe (Fischer-Taschenbücher, Bd. 7359: Wissenschaft), Frankfurt a.M. 1991.
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äußeren Konturen, die Mythos-Peripherie, einer immanenten Wandlung. Blumenberg definierte weiter, dass eine Veränderung des Kerns oder eine Erstarrung der Peripherie einen Mythos zerstöre und in ein Dogma umwandle.41 Um nun herauszuarbeiten, welche Intentionen hinsichtlich der politisch-geographischen Verortung auf welcher Ebene durchgeführt wurden, müssen exemplarische Themenfelder als Indikatoren betrachtet werden. Hierfür wurden für diese Untersuchung folgende Aspekte ausgewählt: 1) die Grenzen Deutschlands; 2) die Bedeutung der Regionen; 3) die Stellung Deutschlands in Europa; sowie 4) die Relevanz von kultureller Heterogenität.
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Die Revolution von 1848/1849, das Verhältnis zu Österreich und die deutschen Grenzen
Die Vereinigung Deutschlands mit dem vom Habsburgerreich übrig gebliebenen Rest Deutsch-Österreich wurde in der Weimarer Republik nicht nur von extremistischen Parteien gefordert, sondern war mit Berufung auf die Revolution von 1848 auch bei gemäßigten Parteien ein politisches Ziel. Die Erinnerung an die großdeutsche Idee der Paulskirche besaß somit eine demokratische Tradition in der deutschen Parteiengeschichte. In seiner Eröffnungsrede für die Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 1919 erklärte Friedrich Ebert (SPD), dass in Anknüpfung an die Tradition von 1848 die Deutschen in Österreich »im neuen Reich der deutschen Nation mit offenen Armen und Herzen willkommen« geheißen werden sollten.42 Gustav Stresemann hatte sich als Reichstagsabgeordneter während des Ersten Weltkrieges dagegen verwahrt, über das Frankfurter Parlament zu spotten, und stattdessen gefordert, als Liberaler mit Stolz darauf zurückzublicken.43 Als Außenminister pries er 1926 in einer Rede vor dem Verein Deutscher Studenten die 41 42
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Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 3 1984, S. 40-67. Ebert, Friedrich: »Rede zur Eröffnung der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung in Weimar am 06.02.1919«, in: Friedrich Ebert (Junior): Friedrich Ebert. Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten Erinnerungen aus dem Nachlaß. Zweiter Band, Dresden 1926, S. 153. Zur Sicht Friedrich Eberts auf die Paulskirche im Kontext der 75-Jahr-Feier 1923 insbesondere: Rebentisch, Dieter: Friedrich Ebert und die Paulskirche. Die Weimarer Demokratie und die 75-Jahrfeier der 1848er Revolution (= Kleine Schriften. Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Nr. 25), Heidelberg 1998; Rohe: Reichsbanner, S. 227-240. Zur Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie über den Anschluss: Miller, Susanne: »Das Ringen um ›die einzige großdeutsche Republik‹. Die Sozialdemokratie in Österreich und im Deutschen Reich zur Anschlußfrage 1918/19«, in: Archiv für Sozialgeschichte 11 (1971), S. 1-67. Vgl. Stresemann, Gustav: »Der Volksvertretung mehr Rechte. Reichstagsrede vom 26.10.1915«, in: Hartmuth Becker (Hg.): Gustav Stresemann. Reden und Schriften. Politik – Geschichte – Literatur. 1897-1926, Berlin 2 2008, S. 88.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
Abgeordneten, »die in der Paulskirche mitwirkten für den Gedanken der Einigung, für den Gedanken ›Großdeutschland‹«.44 Ein weiterer Politiker der Weimarer Republik, der sich in seinen Reden und Kommentaren intensiv auf die Revolution von 1848 bezog, war Theodor Heuss, Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP).45 Seine Person ist deshalb von gehobener Relevanz, da er noch in der Bundesrepublik als politischer Verantwortungsträger fungierte. Ein beständiges politisches Ziel von Heuss, welches auch er mit dem Verweis auf die Frankfurter Nationalversammlung zu untermauern versuchte, war die Vereinigung des Deutschen Reiches mit Österreich. Auf der Grundlage einer Volkszusammengehörigkeit sollte eine demokratische großdeutsche Republik als Stabilitätsfaktor in der europäischen Staatenwelt fungieren, wie er in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder erklärte.46 Er betrachtete daher noch 1938 den durch Hitler erfolgten Anschluss des deutschsprachigen Nachbarlandes als »Konsolidierung Mitteleuropas«.47 Diese Bekenntnisse zur großdeutschen Lösung in der Tradition von 1848 im demokratischen Spektrum, verbunden mit der geopolitischen Vorstellung einer stabilisierenden Wirkung der staatspolitischen Einheit der deutschsprachigen Bevölkerung für Europa, werfen die Frage auf, welche Raumvorstellungen in der Nachkriegszeit noch präsent waren. Anlässlich des 100. Jahrestages der Barrikadenkämpfe hielt CDU-Politiker Jakob Kaiser 1948 bei einer Massenkundgebung auf dem Platz der Republik in Berlin eine Rede über die Bedeutung des 18. März 1848. Hierin fügte er seiner Forderung nach nationaler Einheit und Freiheit auch einen geographischen Umriss bei: »Unser Land wird erst wieder Deutschland sein, wenn der Westen, der Süden und der Osten miteinander verneigt sind, und zwar der Osten nicht nur diesseits, sondern auch jenseits der Oder-Neiße-Linie. Unser Land wird erst wieder Deutsch44 45
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Stresemann, Gustav: »Student und Staat. Rede vor dem Verein Deutscher Studenten in Berlin vom 06.07.1926«, in: Becker: Stresemann, S. 394. Hierzu vgl.: Kruip, Gudrun: »Gescheiterter Versuch oder verpflichtendes Erbe? 1848 bei Theodor Heuss«, in: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.): 1848. Die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg 1998, S. 189-208; Hirschmüller: Theodor Heuss, S. 17-26. Vgl. Heuss, Theodor: »Der großdeutsche Gedanke«, in: Deutsche Arbeit in Österreich 18 (1918) 3, S. 88-90; Ders.: Deutschlands Zukunft, Stuttgart 1919, S. 9-10; Ders.: »Großdeutsche Folgerungen«, in: Gerechtigkeit. Monatsschrift für auswärtige Politik 1 (1919), S. 99-108; Ders.: »Die Flaggenfrage«, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik 6 (1921) 4, S. 131-133; Ders.: »Die großdeutsche Frage«, in: Der Kunstwart. Deutscher Dienst am Geiste 39 (April 1925 bis September 1926) 2, S. 16-20; Ders.: »Warum großdeutsch?«, in: Schleswig-Holsteinische Volkszeitung. Organ für das arbeitende Volk vom 03.07.1926; Ders.: »Das Schicksal Oesterreichs. Der Anschluß eine Zeitfrage?«, in: Neues Wiener Journal vom 24.03.1928; Ders.: »Vom Werden und Wesen des nationalen Gedankens«, in: Das Reichsbanner. Zeitung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold vom 20.05.1928. Ders.: »Die Konsolidierung Mitteleuropas«, in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 45 (1939) 3, S. 49-51.
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land sein, wenn wir am Bahnhof Friedrichstraße eine Fahrkarte nach Essen, Köln oder Aachen lösen können, oder am Anhalter Bahnhof eine Karte nach München oder Stuttgart, oder am Schlesischen Bahnhof eine Karte nach Breslau, und wenn wir uns in Marienborn nicht erst durchsuchen lassen müssen, ob wir nicht für Mutter, Schwester oder Bruder – wer immer jenseits der Zonengrenze wohnt – etwas mitgenommen haben.«48 Der historischen Erinnerung von Jakob Kaiser lagen hierbei die Grenzen von 1937 zugrunde, die in der Nachkriegszeit ein parteiübergreifendes politisches Ziel waren, während Österreich keine Erwähnung mehr fand. In der historischen Forschung wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die großdeutsche Idee, also eine staatliche Einheit zwischen Deutschland und Österreich, nach 1945 in der deutschen Politik wie in der Presse im Unterschied zu der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr anzutreffen war. Stattdessen galten der Grenzverlauf vor dem Anschluss sowie das Heimatrecht der Sudentendeutschen als feste Bezugsgrößen. Eine allgemein gängige Bezeichnung für »Deutschland« war in den Medien noch nicht zu erkennen, sondern es lag eine heterogene Begrifflichkeit vor.49 Unter dem Schlagwort »Gesamtdeutschland« wurde zwar die staatliche Einheit gefordert, eine genaue Grenzdefinierung aber auch vermieden. Doch »gesamtdeutsch« war insbesondere nach 1918 eine oft verwendete Bezeichnung, um die historische Verbundenheit Deutschlands mit Österreich zu vergegenwärtigen und ein »Großdeutschland« zu fordern.50 Daher ist der Umgang mit dem südlichen Nachbarland in der Erinnerung an die Revolution bei einer Untersuchung der Verortung der deutschen Demokratie nach 1945 in Europa besonders brisant. Die Historikerin Angela Schwarz beispielsweise erwähnt Österreich 1999 in ihrem Aufsatz über nationale und expansionistische Ziele der Frankfurter Nationalversammlung und den Umgang mit diesen in Geschichtswissenschaft und politi-
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Kaiser, Jakob: »Rede auf einer Massenkundgebung auf dem Platz der Republik in Berlin, 18.03.1948«, in: Christian Hacke (Hg.): Jakob Kaiser. Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik, Köln 1988, S. 335. Vgl. Kiefer: Tages- und Wochenpresse, S. 174-201; Latsch, Johannes: Die Bezeichnungen für Deutschland, seine Teile und die Deutschen. Eine lexikalische Analyse deutschlandpolitischer Leitartikel in bundesdeutschen Tageszeitungen 1950-1991 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1484), Frankfurt a.M. u.a. 1994; Bopf, Britta: »›Für Großdeutschland‹ – Ende einer politischen Idee«, in: Petra Rösgen (Hg.): Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 19. Mai bis 23. Oktober 2005, im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, 2. Juni bis 9. Oktober 2006, in Wien 2006 (= Geschichte erleben), Bielefeld 2005, S. 90-91. Kraus, Hans-Christof: »Kleindeutsch – Großdeutsch – Gesamtdeutsch? Eine Historikerkontroverse der Zwischenkriegszeit«, in: Alexander Gallus/Thomas Schubert/Tom Thieme (Hg.): Deutsche Kontroversen. Festschrift für Eckhard Jesse, Baden-Baden 2013, S. 71-86.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
scher Festkultur für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.51 Auch Wolfram Siemann schrieb 2003 in seiner Abhandlung über »Österreich in der deutschen Erinnerung zu 1848/49«, dass 1948 bei den Feiern in Frankfurt und Berlin die »Österreicher nicht mehr gegenwärtig« waren.52 Fortan sei, so Siemann allerdings ohne Beleg weiter, die deutsche Frage im Hinblick auf Österreich »als Warnung vor einem Irrweg in den Nationalismus« behandelt worden. Und wo schließlich 1998 das Nachbarland in der Erinnerungskultur des wiedervereinigten Deutschlands Erwähnung fand, geschah dies »eingefügt in die gesamteuropäische Bewegung und Erschütterung«.53 Die Rolle des großdeutschen Aspektes nach 1945 erfordert jedoch eine konkretere Betrachtung. Das staatspolitische Verhältnis zwischen den alliierten Besatzungszonen in den Grenzen von 1937 und dem ebenfalls in Zonen geteilten Österreich stand zumindest für einen Teil der westdeutschen Politiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit offen, wie der Historiker Matthias Pape in seiner im Jahr 2000 erschienen Habilitationsschrift herausstellen konnte.54 Theodor Heuss argumentierte in seinem zum hundertsten Jahrestag 1948 erschienenen Buch Ein Vermächtnis. Werk und Erbe von 1848, die »nationalstaatliche Idee schien« durch die Angliederung Österreichs 1938 »jetzt auch für die Deutschen zu gelten«. Doch hatte es sich, so Heuss weiter, um einen Trugschluss von »manchen Betrachtern« gehandelt, dass sich »das Vermächtnis, das im Jahre 1848 festgeschrieben war«, nun vollziehe.55 Daher forderte er eine Differenzierung zwischen den Ambitionen von 1848 und denen von Hitler: »Denn jene ›Großdeutschen‹ von ehedem, die nicht machtpolitisch dachten, die ihren Kern in dem humanitär durchfärbten rheinischen und süddeutschen Katholizismus und Demokratismus besaßen, waren in ihrer repräsentativen geistigen Typik geradezu das Gegenstück zu der Technik der gewaltmäßigen Brutalisierung.«56 In den Berichterstattungen der Tagespresse zum hundertsten Jahrestag 1948 wurde das Thema Österreich zwar thematisiert, jedoch separat von den deutschen Verhältnissen als Ereignis in Europa behandelt, wie Siemann 2003 bilanzierte. Doch war hundert Jahre nach der Revolution auch ein Unmut über die geographische
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Vgl. Schwarz, Angela: »Nationale und expansionistische Ziele der Frankfurter Nationalversammlung und der Umgang mit ihnen in Geschichtswissenschaft und politischer Festkultur (1898-1998)«, in: Historische Mitteilungen. Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft 12 (1999), S. 182-206, hier S. 201-205. Siemann: Großdeutsch, S. 108. Ebd. S. 110. Vgl. Pape, Matthias: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945-1965, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 82-83. Heuss, Theodor: Ein Vermächtnis. Werk und Erbe von 1848, Stuttgart 1948, S. 231. Ebd. S. 232.
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Entwicklung »Deutschlands« seit 1848 vorhanden. Ein Beispiel ist 1948 der Verleger Albrecht Knaus im Münchner Merkur, indem er auf die Frage »Was ist des Deutschen Vaterland?« des Paulskirchenabgeordneten Ernst Moritz Arndt für die Gegenwart des Jahres 1948 die ironische Antwort gab: »Eine Bi-, bestenfalls eine Tri-, außerdem eine Ostzone mit einer Berliner Wasserburg. So müssen wir dem Abgeordneten antworten, von Österreich ganz zu schweigen.«57 Es fällt zudem auf, dass bei allen Anrufungen der Paulskirche als Vorbild für ein künftiges Deutschland und den damit verbundenen nationalen Einheitsbeschwörungen auch noch keine Distanzierung von großdeutschen Vorstellungen vorgenommen wurde. Das Ziel der Schaffung eines gesamtdeutschen Staates unter Einschluss Österreichs war immerhin eine Ausgangsprämisse der Frankfurter Parlamentarier von 1848, zu denen auch Abgeordnete aus österreichischen Territorien zählen. Zudem umfasste selbst das zum Schluss angestrebte Kleindeutschland der Paulskirche noch ein Territorium, welches über den Grenzverlauf von 1937 hinausging, wie zum Beispiel Gebiete in Oberschlesien und Westpreußen, Eupen und Malmedy oder das Memelland.58 Daher ist es umso bemerkenswerter, wenn beispielsweise der Journalist und Mitherausgeber Ernst Müller im »Schwäbischen Tagblatt« 1948 die Auffassung vertrat, dass der »einzige überhistorische Sinn der Paulskirche« nur darin bestehen könne, dass »alle Deutschen und ihre gewählten Vertreter einig sind in dem Willen ihrer Stämme, Zonen, Länder: entweder das ganze Deutschland oder kein Deutschland«.59 Anlässlich der Eröffnung der wiedererrichteten Paulskirche betonte Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb (SPD), dass am 18. Mai 1848 »zum ersten Male in der deutschen Geschichte gewählte Volksvertreter aus ganz Deutschland zur ersten Deutschen Nationalversammlung« zusammengekommen seien.60 Die Rohstoffe für den Neubau der im Krieg zerstörten Paulskirche kamen aus allen Gegenden Deutschlands, wie Oberbürgermeister Kolb stolz verkündete: »Wiederaufgebaut vom ganzen deutschen Volk. Wiederaufgebaut vom Holze der Wälder Thüringens, der Wälder des Ostens und des Südens, wiederaufgebaut von den Steinen Hessens und des Landes am deutschen Schicksalsstrom, wiederaufgebaut von dem Eisen und dem Stahl an der Ruhr, wiederaufgebaut von den Arbeitergroschen Berlins, der Städte Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Essen oder wo unsere arbeitenden Menschen auch wohnen, wiederaufgebaut
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Knaus, Albrecht: »Wider die falsche Paulskirche«, in: Münchner Merkur vom 18.03.1948. Vgl. zu den vielen territorialen Problemstellungen, die in der Paulskirche verhandelt wurden, immer noch: Wollstein, Günter: Das ›Großdeutschland‹ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977. Müller, Ernst: »Vom Sinn der Paulskirche«, in: Schwäbisches Tagblatt vom 19.05.1948. Vgl. Kolb, Walter: »Streben und Erfüllung 100 Jahre Frankfurter Paulskirche«, in: Die Brücke zur Welt. Sonntagsbeilage zur Stuttgarter Zeitung vom 15.05.1948.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
aus den Spenden aller deutschen Bürger – und vor allem wiederaufgebaut aus dem Bekenntnis zur deutschen Demokratie.«61 Damit wurden für Nord-, Mittel- und Westdeutschland von Kolb fixe geographische Punkte beschrieben, hingegen für den Süden und den Osten nur die Himmelsrichtungen angeführt, wodurch die Festlegung dieser Grenzen offen gehalten wurde. Der frühere Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD), der gebürtig aus dem schlesischen Liegnitz stammte, erklärte in seiner Ansprache zur Jahrhundertfeier 1948 in der Paulskirche immerhin noch, dass Deutschland die »Abtretung der zur Zeit unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete des Ostens niemals anerkennen« werde.62 Somit galt auch ihm das Jahr 1848 als historisches Argument für die Forderung zumindest der kleindeutschen Grenzen Deutschlands. Eine offene Forderung nach einem Einschluss Österreichs in einen neuen deutschen Staat war somit in der Publizistik wie in der Politik nicht anzutreffen, doch wurde vereinzelt aus katholischer süddeutscher Perspektive bedauert, dass es 1848 nicht zu einem großdeutschen Reich gekommen war. In dieser Variante sahen deren Vertreter die verpasste Chance eines stabilisierenden supranationalen Gebildes, wie etwa der Mettener Abt Wunibald Russer: »In ihm hätten auch alle fremden Völker der Habsburger Monarchie ihren Platz bekommen unter Wahrung aller natürlichen Rechte. Als eine Föderation von freien Völkern wäre es ein Bindeglied zwischen dem Osten und dem Westen geworden. Kein eifersüchtiger Nationalismus hätte in ihm um die Führung zu kämpfen brauchen, es wäre für die kleinen Völker des Südostens in ihrer Vereinzelung und der unheilvollen Verzahnung ihrer Wohnsitze ein Kristallisationskern gewesen, an den sie sich hätten anschließen können, ohne für ihre Freiheit fürchten zu müssen.«63 Derartige Sichtweisen, in denen unter anderem der 70-Millionen-Plan von Felix Fürst zu Schwarzenberg über die Verfassung der Paulskirche gestellt und der Zerfall der Donaumonarchie 1918 als Unglück beklagt wurden64 oder das Habsburger
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Kolb, Walter: »Lebenswille und Glaube. Zur Jahrhundertfeier in der Frankfurter Paulskirche«, in: Frankfurter Rundschau vom 18.05.1948. »Fest in der Paulskirche 1948 beendet. Paul Löbe schloß mit einem Bekenntnis für Frieden und Völkerverständigung«, in: Münchner Merkur vom 24.05.1948. Russer, Wunibald: »Die Revolution von 1848«, in: Pädagogische Welt. Monatsschrift für Erziehung, Bildung, Schule 2 (1948) 3, S. 143-152, hier S. 148. Vgl. bspw.: Traber, Theodor: »Die Paulskirche und die deutsche Frage im Jahre 1848«, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte 3 (Juli 1948), S. 4-8. Zur konservativ-christlichen Zeitschrift, in der der Kommentar erschien, vgl. Schild, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 4), München 1999, S. 21-81.
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Vielvölkerreich als »Vorstufe des Europas« galt, das man nun nach so vielen Irrwegen und Leiden zu errichten bemüht ist«,65 blieben jedoch die Ausnahme. Anlässlich eines Frühstücks des österreichischen Bundeskanzlers Julius Raab 1956 bei Theodor Heuss erklärte der deutsche Bundespräsident auch, dass »der Frost der Mißverständnisse« weggeschmolzen sei, Österreich eine »staatliche Eigenständigkeit« besitze und mit Deutschland durch kulturelles Erbe sowie wirtschaftliche Interessen verbunden sei.66 Österreichs Rolle blieb die nächsten Jahrzehnte, wenn überhaupt, eine Peripherie in der Erinnerung an 1848 in der Bundesrepublik. Unter anderem wurde auf die restriktive Politik des österreichischen Staatsmannes Clemens von Metternichs verwiesen, welche erst zur Revolution habe führen müssen.67 Die Vorgehensweise, Bezeichnungen wie »Gesamtdeutschland« oder »ganz Deutschland« synonym für die 1848 angestrebte Einigung wie das 1990 Erreichte zu verwenden und dabei den Faktor Österreich zu ignorieren, war dann auch 1998 ein weit verbreiteter Konsens. In dem einleitend erwähnten, bei der Festveranstaltung zum 150jährigen Jubiläum der Revolution angeführten Zitat von Heinrich von Gagern äußerte der Parlamentspräsident 1848 als Ziel, eine »Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich«68 zu schaffen. Dass Gagern mit dieser territorialen Umschreibung ein wesentlich größeres Staatsgebiet vorschwebte, als es das wiedervereinigte Deutschland umfasste, welches sich die Ereignisse von 1848/1849 zum Vorbild nehmen sollte, blieb außer Acht. Diese selektive Betrachtung war in variierender Form nicht nur bei der politischen Gedenkveranstaltung in Frankfurt a.M. anzutreffen. Wolfgang J. Mommsen beschrieb den Fünfzigerausschuss als »Versammlung angesehener Vertreter des Liberalismus aus ganz Deutschland«, erwähnte aber nicht, dass in diesem auch Vertreter aus Österreich
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Strobel, Robert: »Zwischen Donau und Rhein. Begegnungen mit Otto von Habsburg«, in: Die Zeit vom 23.10.1952. Strobel war langjähriger Korrespondent der Zeitung Die Zeit. Vgl. MüllerMarein, Josef: »Dank an Robert Strobel«, in: Die Zeit vom 27.09.1968. Ähnlich wie er äußerte sich der sudentendeutsche Publizist und spätere Münchner Staatsbibliothekar Emil Franzel: Franzel, Emil: »Unser Geschichtsbild und unser Weg«, in: Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Geschichte 4 (September 1949), S. 270-273, hier S. 272. Zur publizistischen Tätigkeit von von Franzel: Conze, Vanessa: »›Gegen den Wind der Zeit‹? Emil Franzel und das ›Abendland‹ zwischen 1930 und 1950«, in: Alexander Gallus/Axel Schildt (Hg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und 1930, Göttingen 2011, S. 181-199. Vgl. »Rede von Theodor Heuss anlässlich des Frühstücks zu Ehren des österreichischen Bundeskanzlers Dr. Raab im ›Haus des Bundespräsidenten‹ am 23.10.1956«, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 24.10.1956. Vgl. Berglar, Peter: »Der Arzt der Revolution. Fürst Metternichs Europapolitik im Urteil der Zeitgenossen und der Nachwelt«, in: Rheinischer Merkur vom 18.05.1973. Möller: 150jähriges Jubiläum, S. 2. Wigard: Nationalversammlung 1, S. 17.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
zugegen waren und diese sich als Teil der deutschen Nation verstanden.69 Auch Sabine Freitag legte 1998 ihrer Auswahl von Biographien die spätere kleindeutsche Perspektive zugrunde und verzichtete auf österreichische Repräsentanten.70 Zudem fällt auf, dass im wiedervereinigten Deutschland wie nie zuvor die von Siemann angesprochen Distanzierung von der großdeutschen Lösung bei der Erinnerung an 1848 anzutreffen war. Wo die Einbeziehung Österreichs in den Staatsgründungsversuch der Paulskirche 1998 thematisiert wurde, geschah dies mit einem Duktus, der deren Vertreter für das Scheitern mitverantwortlich machte. So kommentierte die Journalistin und Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) Ruth Kastner, dass von Anfang an das Problem die Nation gespalten habe, ob es »ein Großdeutschland (mit Österreich) oder Kleindeutschland (unter Führung Preußens) sein soll«.71 Auch Günter Wollstein führte an, dass »die eigentliche Crux des Unternehmens« darin gelegen habe, ein Großdeutschland als machtpolitisches »Gegenstück zum vormaligen Deutschen Bund« zu schaffen.72 Noch deutlicher verurteilte der Münchner Kulturreferent Jürgen Kolbe in seinem Kommentar die großdeutschen Ambitionen in Frankfurt, als er behauptete, das »gesamtdeutsche Paulskirchen-Parlament«, welches »sich ursprünglich der nationalen Einheit verpflichtet hatte, glitt unversehens in einen Nationalismus konkurrierender Gruppen« und »in großdeutsche Träume ab, in denen die ›Kornkammer der Ukraine‹ ebenso vorkam wie eine gewaltige deutsche Flotte.«73 Mit dieser Behauptung wird der Eindruck erweckt, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten sich mit dem Ziel einer kleindeutschen Lösung zusammengefunden und seien dann aus Machtversessenheit auf eine großdeutsche Lösung umgeschwenkt. Zudem wird keine scharfe begriffliche Trennung von »großdeutsch« im Sinne einer Österreich einschließenden deutschen Einheit und dem Streben nach einer Großmachtstellung in Europa und darüber hinaus durchgeführt. Noch einen Schritt weiter ging 1998 der SPD-Bundestagsabgeordnete HansUlrich Klose unter dem bestätigenden Zuruf des FDP-Abgeordneten und damaligen Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung Otto Graf Lambsdorff in seiner 69
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Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: »Der Höhepunkt der Revolution: Am 18. Mai 1848 wurde die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eröffnet. Die Idee einer Einheit in Freiheit«, in: Berliner Zeitung vom 16.05.1998. Ähnlich: »›Erste Macht Europas.‹ Der Geschichtswissenschaftler Heinrich August Winkler, 67, über den Reichsmythos und Deutschlands Weg zum Nationalstaat«, in: Der Spiegel vom 07.08.2006. Vgl. Freitag, Sabine (Hg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, München 1998. Kastner, Ruth: »Der lange Weg zur Freiheit«, in: Hamburger Abendblatt vom 14.03.1998. Wollstein, Günter: »Für Recht und Freiheit. 1848/In einem Festakt am 18. Mai wird des Paulskirchen-Parlaments gedacht«, in: Rheinischer Merkur vom 15.05.1998. Kolbe, Jürgen: »Eine Revolution, die keine war. Wie die Ereignisse von 1848 heute zum Mythos von der Entstehung unserer Demokratie umgebogen werden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.04.1998.
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Rede zum 150. Jahrestag. Deutschland, so Klose, habe 1848 »in einem nicht exakt definierten Territorium« bestanden, »dessen Grenzen aber weit, weit vorgeschoben waren: ›von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt‹«. Und er fügte noch hinzu: »Es läßt sich nicht leugnen, daß dieser Umstand den Charakter der demokratischen Revolution des Jahres 1848 schon bald verändert hat.« Mit der Umschreibung, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts die beanspruchten Grenzen »weit vorgeschoben« waren, wird nicht nur die großdeutsche Idee als Gefahr für die Demokratie charakterisiert.74 Klose suggerierte damit, Deutschland habe erst auf seine eigentlichen Grenzen beschränkt werden müssen. Ein gemeinsames Gedenken der deutschsprachigen Länder fand 1998 in Europa nicht statt, wie der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung mit dem fragenden Titel »Was bleibt von 1848?« richtig bilanzierte. Deutschland, Österreich und die Schweiz »feierten 1848 sorgfältig getrennt, aus Furcht vor Mißverständnissen oder Vereinnahmungen«, wie Maier weiter bemerkte.75 Zustimmung erfuhr 1998 die großdeutsche Vision der Paulskirche noch vereinzelt in österreichischen und deutschen Korporationen, die sich zu einem »Revolutionskommers« in der Wiener Hofburg einfanden.76 Auch in rechtsextremen deutschen Parteien waren zum 150. Jahrestag Anrufungen von 1848 vorhanden, um zu untermauern, dass der Begriff Deutschland territorial nicht auf die Bundesrepublik beschränkt werden könne. Gegenwärtig finden sich zudem in der AfD Anknüpfungen an die großdeutsche Idee von 1848, wie bei dem Bundestagsabgeordneten Alexander Gauland. Ziel ist es hier, die Zusammenarbeit seiner Partei mit der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) mit einer historischen Legitimation auszustatten.77 Dieser Absatz hat gezeigt, dass in Deutschland zur politisch-geographischen Verortung von Österreich in der Erinnerung an 1848 nach dem Zweiten Weltkrieg keine feste Narration entstanden ist und damit kein Mythoskern vorliegt. Hierzu hat nicht nur die unklare Verwendung von Begrifflichkeiten beigetragen. Entscheidend war, dass in der Nachkriegszeit zunächst Österreich noch stärker als Teil einer gesamtdeutschen Geschichte verstanden wurde. Wenn auch der erneute Anschluss nicht offen gefordert wurde, standen das verbindende Element mit dem deutschsprachigen Land und die demokratische Tradition der großdeutschen Idee noch
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Klose, Hans-Ulrich (SPD): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 21768. Maier, Hans: »Das tolle, das widersprüchliche Jahr. Was blieb von 1848? – Eine Bilanz der ersten deutschen Revolution nach 150 Jahren«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.12.1998. Uhse, Reinhard: »Die Erbschleicher der Revolution«, in: Süddeutsche Zeitung vom 18.05.1998. Vgl. Löwenstein, Stephan: »Präsidentenwahl in Österreich. Warum die FPÖ für die AfD ein Vorbild ist«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2016.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
mehr im Vordergrund. Diese Narration verlor sukzessive an Raum und die Paulskirche entwickelte sich als Symbol dafür, dass nur eine kleindeutsche Lösung in Europa möglich und mit der deutschen Demokratiegeschichte in Einklang zu bringen sei. Dies verdeutlicht den Bruch mit nationalgeschichtlichen Denkmustern, nach denen ein gemeinsamer Sprachraum in einem Staat zusammengefasst sein sollte oder mit historischen Beispielen Gebietsansprüche begründet werden konnten. Es bedeutet aber auch die Etablierung eines selektiven Geschichtsbildes, da die Ereignisse im Habsburgerreich als getrennter Raum von den deutschen Entwicklungen betrachtet werden. Das teilweise anzutreffende Wiederbeleben der großdeutschen Idee von 1848 im rechtskonservativen Spektrum lässt hier jedoch noch Potential für eine nähere Betrachtung durch die Geschichtswissenschaft.78
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Die politisch-geographische Verortung der regionalen Revolutionsräume
Die »Relativierung der nationalgeschichtlichen Sicht«79 , wie 1998 der Historiker Jürgen Kocka es unter anderem beschrieb, wurde zu einer immer stärker werden Konstante der bundesdeutschen Erinnerung. Dies drückt sich auch durch den Trend zur Regionalisierung aus. So stellte Angela Schwarz ein Jahr später zutreffend fest, dass die »Verortung der Ereignisse im eigenen Ort, in der eigenen Stadt« allgemeiner »Trend der Literatur zu 1848/49« sei. Jede Region habe das Bedürfnis, »das Revolutionsgeschehen in ihrem Teil Deutschlands aufzuarbeiten«80 . Dieses Ziel war auch schon 1973 am Schülerwettbewerb von Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) zu erkennen, wo am »Beispiel örtlicher und regionaler Ereignisse, Verhältnisse, Gruppen und Personen« dargelegt werden sollte, was »die Revolution für ihre Zeit bedeutet hat und welchen historischen Rang sie nach Ansicht der jungen Forscher heute noch besitzt«.81 Was nun hier näher zu betrachten ist, sind zwei Faktoren: Welche Regionen gedenken ihrer revolutionären Vergangenheit mehr als andere? Und was gilt als erinnerungswürdiger Beitrag zur Revolution? Zu der ersten Frage ist seit 1948 in den Westzonen die Herausbildung der Erinnerungszentren Südwestdeutschland, Rheinland und südliches Hessen festzustel-
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Vgl. Hirschmüller, Tobias: »Ein ›Frankfurter Beispiel‹? Die Rolle der großdeutschen Idee in der Erinnerung an die Revolution von 1848/1849«, in: Geschichte und Zukunft e.V. (Hg.): Das Dunkle und das Helle in der Paulskirche, Frankfurt [erscheint 2020]. Kocka, Jürgen: »Arbeit und Freiheit. Die Revolution von 1848«, in: Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Die Revolution von 1848. Akademievorträge von Jürgen Kocka und György Konrad gehalten am 17. März 1998, Berlin 1998, S. 3-32, hier S. 17. Schwarz: Ziele, S. 203. »Auf den Spuren der Revolution von 1848/49. Schüler zum Wettbewerb aufgerufen/'GustavHeinemann-Preis'«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.12.1973.
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len. In geringerem Umfang war die Erinnerung im östlichen Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und Bayern anzutreffen, wobei sie in Altbayern82 mit Ausnahme von München noch weniger ausgeprägt war als in Schwaben und den fränkischen Regierungsbezirken.83 Für das nach 1945 nicht mehr preußische, sondern hessische Frankfurt a.M. bot der vereinfachte Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Paulskirche die Möglichkeit eines zentralen Erinnerungsortes. Die sowjetische Ostzone verfügte zwar nur über die Ost-Berliner und mitteldeutschen Revolutionsstätten, doch besaß die Sozialistische Einheitspartei (SED) kein Interesse daran, an die parlamentarische Geschichte der Revolution anzuknüpfen. In Frankfurt hingegen war es das zentrale Anliegen von Oberbürgermeister Kolb, dass die Stadt zum 100. Jahrestag der Revolution wieder über ein intaktes Bauwerk und damit einen repräsentativen Gedenkort verfügen sollte. Diese Ambitionen waren umstritten, so wurde in der Presse kommentiert, dass Frankfurt angesichts der Wohnungsnot infolge der Kriegsschäden andere Prioritäten setzen sollte.84 Bei der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau 1947 begründete der hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) die Priorität des Vorhabens damit, dass der Bau »Haus und Sinnbild«85 der deutschen Demokratie sei. Kolb erklärte dann im Mai im Jahr darauf ebenfalls die nationale Bedeutung des Bauwerkes: »Wenn in der Frankfurter Paulskirche von 1848 der Beginn der deutschen Demokratie zu sehen ist, dann wollen wir in der Frankfurter Paulskirche von 1948 die 82
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Vgl. zum Begriff »Altbayern«: Sante, Georg Wilhelm: »Der historische Raum (Alt-)Bayern«, in: Ernst Deuerlein (Hg.): Geschichte Bayerns (= Geschichte der deutschen Länder) (= TerritorienPloetz. Sonderausgabe), Würzburg 1975, S. 1-5. Eine Analyse hierzu vgl.: Gailus, Manfred: »Deutsche Revolutionsfeierlichkeiten 1998. Zwischenbemerkung zur Politik und Kultur der Erinnerung an 1848«, in: Werkstatt Geschichte 7 (1998) 20, S. 59-68, hier S. 60. Vgl. Bartetzko, Dieter: »Triumph – oder Mahnmal? Die Frankfurter Paulskirche als Objekt eines städtebaulichen Wettbewerbs«, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 11 (1983) 3, S. 41-58; Schlott, Christoph (Hg.): Revolution 1848. 150 Jahre Paulskirche, Frankfurt a.M. 1998; Mommsen: Paulskirche; Reisinger, Olaf: Frankfurt 1848. Ein Stadtgang durch das Zentrum der ersten demokratischen Revolution in Deutschland, Wiesbaden 1998; Hils-Brockhoff, Evelyn/Hock, Sabine: Die Paulskirche. Symbol demokratischer Freiheit und nationaler Einheit. Begleitbroschüre zur Dauerausstellung des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt in der Wandelhalle der Paulskirche. Erschienen anlässlich der 150Jahr-Feier der ersten Deutschen Nationalversammlung. Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a.M. 2 2004; Falser, Michael: Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden 2008, S. 71-97; Rasch, Marco: »Frankfurts Stunde Null: Kontroversen um den Wiederaufbau nach dem Krieg«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 38 (2011), S. 335-351; Bartetzko, Dieter: Denkmal für den Aufbau Deutschlands. Die Paulskirche in Frankfurt a.M., Königstein 1998; Bleek, Wilhelm: »Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 48 (1998) B 3-4, S. 28-39. Bartetzko: Paulskirche, S. 41.
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Wiedergeburt des deutschen demokratischen Staates erblicken, der nun aber, nach der grauenvollen Episode von 1933 bis 1945 zum unverlierbaren Besitz der deutschen Nation werden soll.«86 Kritik an Kolb kam aber auch aus den eigenen Reihen: In der SPD nahen Zeitung Rhein-Echo wurde der Sinn der Feier im »Zonendeutschland« hinterfragt und zudem bemängelt, dass sich die Nationalversammlung in der Paulskirche keine Bodenreform zugetraut habe.87 Ähnliche distanziert äußerte sich die Presse der westdeutschen KPD,88 wo zudem die Feier nicht als Einheitsbeschwörung, sondern als Vorzeichen einer Weststaatsgründung und damit Symbol der Spaltung Deutschlands gesehen wurde.89 Ein anderes Beispiel für eine ablehnende Haltung ist der katholischer Publizist Walter Dirks, der mahnte, sich »vor einer falschen Aktualisierung der Paulskirche zu hüten«, da im Jahr 1848 vollständig andere Voraussetzungen in Europa vorgelegen hätten, als hundert Jahre später.90 Trotzdem konnte sich die Interpretation, die Paulskirche sei ein »ein gesamtdeutsches demokratisches Denkmal«, durchsetzen.91 Mehr noch als in Hessen war im 1948 zwischen Frankreich und den USA aufgeteilten Südwesten ein regionales Revolutionsbewusstsein anzutreffen. Während Frankfurt sich als gesamtdeutscher Gedenkort positionieren wollte und das regionale Revolutionsgeschehen sekundär eine Würdigung erfuhr, erhielten die spezifische lokalen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 in den drei südwestdeutschen Ländern vor Ort Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist der Begleitkatalog zu einer Ausstellung im Heimatmuseum im südlich von Karlsruhe in der amerikanischen Besatzungszone gelegenen Ettlingen. In dem nur wenige Seiten umfassenden Heft hieß es: »Wie Baden damals in der deutschen Freiheits- und Einheitsbewegung voranging, weil es Kraft seiner europäischen Vermittlerstellung die Aufgabe hatte, für ganz
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Kolb, Walter: »Lebenswille und Glaube. Zur Jahrhundertfeier in der Frankfurter Paulskirche«, in: Frankfurter Rundschau vom 18.05.1948. Vgl. »Die Paulskirche«, in: Rhein-Echo. Die Volkszeitung am Niederrhein vom 19.05.1948. Über die SPD-Nähe der Zeitung: Obermeier, Karl-Martin: Medien im Revier. Entwicklungen am Beispiel der ›Westdeutschen Allgemeinen Zeitung‹ (WAZ) (= Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Bd. 48), München u.a. 1991, S. 240. Vgl. »Noch sind nicht alle Märze vorbei!«, in: Volksstimme. Mitteilungsblatt der Kommunistischen Partei Deutschlands – Bezirk Württemberg vom 17.03.1948. Vgl. »Nach 100 Jahren – Spaltung in Frankfurt«, in: Freiheit. Blatt des schaffenden Volkes vom 09.01.1948. Dirks, Walter: »Dreimal 1848, dreimal 1948«, in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 3 (1948) 1, S. 5-8, S. 6. Kier, Hiltrud: »Die Paulskirche in Frankfurt – ein gesamtdeutsches demokratisches Denkmal des Wiederaufbaus«, in: Kunstchronik 36 (1983), S. 4-5.
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Deutschland den Anschluß an die Europäische Revolution herzustellen, so hat innerhalb Badens die alte Stadt Ettlingen eine besonders aktive Rolle in der Sammlung der Volkskräfte gegen die Reaktion gespielt. Baden hatte, wie die benachbarte Schweiz, das Glück gehabt, aus verschieden Volksstämmen (Alemannen, Schwaben, Rhein- und Mainfranken) eine föderative Einheit zustandezubringen, die sowohl dem damaligen Deutschen Bund wie überhaupt Europa fehlte, das vom reaktionären Metternich-System nur durch dynastische Interessen zusammengehalten wurde. Dank seiner langen Zugehörigkeit zur keltisch-römisch-germanischen Besiedelung der Oberrheinlande erwies sich Ettlingen neben Mannheim, Heidelberg, Offenburg, Freiburg und Konstanz als treibende Kraft der Revolution.«92 In diesem Zitat kommen entscheidende Punkte des südwestdeutschen Revolutionsgedenkens im Jahr 1948 zum Tragen: Der eigenen Region wird zunächst eine Vorreiterrolle in der Revolution auf nationaler und europäischer Ebene zugeschrieben. Die Begründung erfolgt durch eine Raumzuschreibung, die noch auf der Grundlage von völkischem Stammesdenken fußt, da eine Bevölkerungskontinuität von den Volksgruppen der Antike bis in die Gegenwart angenommen wird.93 Einen Zusammenhang von historischer politisch-geographischer Entwicklung und daraus resultierenden Begünstigungen für die Entstehung von revolutionärem Gedankengut sah auch Theodor Heuss, allerdings ohne Stammeskategorien, sondern wegen einer spezifischen Tradition der rechtlichen Verfasstheit der Regionen: »Der schwäbische und fränkische Kreis des alten Reiches, dieses städte- und burgenreiche Hügelland, war in zahllose Hoheitsgebiete aufgespalten gewesen, ein Raum ohne ausgreifende größere Territorialstaatlichkeit, der württembergische Herzog, der badische Markgraf, der Pfalzgraf bei Rhein nicht unansehnlich, noch ohne rechtes politisches Eigengewicht. Hob sich das öffentliche Leben über die Händeleien der Nähe, so gewann es nur Sinn im Anschluß an das ›Reich‹. Solches Bewußtsein hatte sich auch nach der napoleonischen Flurbereinigung zwischen 1803 und 1810 in der Bevölkerung erhalten; ein spezifisch dynastisches Gefühl konnte sich in den neu angeschlossenen Gebieten noch nicht verfestigen.«94 Auch von der Seite der französischen Besatzungsmacht wurden in unter ihrer Kontrolle stehenden Regionen 1948 Traditionen einer gemeinsamen revolutionären deutsch-französischen Vergangenheit konstruiert. Dies verdeutlicht etwa 92 93
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Heimatmuseum Ettlingen (Hg.): Ettlingen und die europäische Revolution 1848/1849, Ettlingen 1948, o. S. Vgl. ähnlich: Dahinten, Ernst: »Die Eisfelder kämpfen um Einheit und Freiheit im europäische Revolutionsjahr 1848«, in: Nordfränkische Monatsblätter. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Wirtschaft zwischen Rennsteig und Main (1954) 12, S. 637-642, hier S. 642. Heuss, Theodor: »Die deutsche Erhebung von 1848«, in: Schwäbisches Tagblatt 27.02.1948.
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die zweisprachige Ausstellung im Kurhaus Baden-Baden Die Revolution 1848-1849 in Südwestdeutschland95 unter der Leitung von Raymond Schmittlein, dem Generaldirektor für kulturelle Angelegenheiten in der französischen Besatzungszone Deutschlands. Schmittlein, dessen Vater aus dem Elsass stammte, hatte in Berlin und Paris Literaturwissenschaften studiert, war mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und hatte im Zweiten Weltkrieg in den freien französischen Streitkräften gedient.96 In seiner Einleitung erklärte er zum Ziel der Ausstellung, »die französische und die deutsche Öffentlichkeit auf die eminente historische Bedeutung der Revolution von 1848 gerade in denjenigen Gebieten Deutschlands hinzuweisen, die heute die französische Besatzungszone bilden.« Dezidiert wandte er sich gegen die auf »beiden Seiten des Rheines« vorhandene Auffassung, »der Deutsche sei für die Demokratie nicht geschaffen«, denn man »müßte selbst ein Anhänger der nationalsozialistischen Rassenlehre sein, wollte man behaupten, die Demokratie sei eben das Erbgut bestimmter Rassen und Völker.«97 Er zog eine historische Tradition eines Deutsche und Franzosen verbindenden Freiheitsstrebens von den beiden Revolutionszeiten (nach 1789 sowie 1848/49) bis in die Gegenwart und forderte daher eine Neujustierung der Forschung: »Aufgabe künftiger Geschichtsschreibung wird es sein, zu zeigen, wie die Ideen der Französischen Revolution und selbst die Besetzung Deutschlands durch Napoleon im Herzen des deutschen Volkes die ersten Regungen der Sehnsucht nach Freiheit wachriefen, jener Sehnsucht, die dann in umfassender Weise zum erstenmal im Jahre 1848 zum Durchbruch kam. Eines Tages wird dann jenes Gerede von der Begeisterung des deutschen Volkes für die angeblichen Befreiungskriege verstummen. Schon angesehene Historiker haben sie als ›Fürstenbefreiungskriege‹ charakterisiert.«98 Im Gegensatz zu Großbritannien und den USA hatte die französische Besatzungsmacht 1948 jedoch keine Grußadresse an die Frankfurter Jahrhundertfeier
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Generaldirektor für kulturelle Angelegenheiten in der französischen Besatzungszone Deutschlands (Hg.): Die Revolution 1848-1849 in Südwestdeutschland, Offenburg/Mainz 1948. Vgl. Zauner, Stefan: Erziehung und Kulturmission. Frankreichs Bildungspolitik in Deutschland 1945-1949 (= Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 43), München 1994, S. 19-39; Defrance, Corine: »Raymond Schmittlein (1904-1974), ein Kulturmittler zwischen Deutschland und Frankreich?«, in: François Beilecke/Katja Marmetschke (Hg.): Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, (= Intervalle 8. Schriften zur Kulturforschung), Kassel 2005, S. 481502. Schmittlein, Raymond: »Vorwort«, in: Generaldirektor für kulturelle Angelegenheiten (Hg.): Die Revolution 1848-1849, S. 9-13, hier S. 9. Ebd., S. 10.
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geschickt.99 Dem modernen, nach Westeuropa gewandten Südwesten stellte Schmittlein den historisch rückständigen Osten Deutschlands gegenüber, der eine Einigung der Nation verhindert habe: »In Freiburg, Neustadt und Rastatt war es die preußische Organisationskunst, die sich den Sieg erzwang.«100 Die Projektion des Ost-West-Gegensatzes in die Vergangenheit als politisch-geographischer Gegensatz zwischen fortschrittlich-demokratischen und feudalen sowie damit rückständigen Regionen Deutschlands war nicht nur im Geschichtsbild der Besatzungsmächte vorhanden, die den Staat Preußen per Kontrollratsbeschluss auflösten. Auch in der deutschen Regionalkultur wurde dieser Kontrast gezeichnet.101 Beispielsweise wollte CDU-Stadtrat und Archivar Otto Kähni anhand der Bedeutung von Offenburg102 die politisch-geographische Verbindung von Raum und Verfassung aufzeigen mit der Aussage: »Demokratie hat auf deutschem Boden Heimatrecht«.103 Kähni behauptete, »wenn Deutschland nicht durch den preußischen Obrigkeitsstaat, sondern durch das Frankfurter Parlament geeint worden wäre, so wäre uns diese furchtbare Katastrophe erspart geblieben«.104 Diese Narration war 1998 im Südwesten wieder festzustellen, nur dass er nun in noch mehr Städten und Gemeinden tradiert wurde, was sich in einer Vielzahl von regional- und landesgeschichtlichen Herausgeberwerken, Monographien und Ausstellungen mit Begleitpublikationen und den jeweils dazugehörigen Grußworten aus der Lokalpolitik niederschlug.105 Diese inszenierten Geschichtsbilder sowie 99
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Vgl. »Blau und Dur«, in: Der Spiegel vom 22.05.1948; Vgl. »Die neuen Glocken der Paulskirche läuten. Jahrhundertfeier der ersten deutschen Nationalversammlung in Frankfurt eröffnet«, in: Münchner Merkur vom 18.05.1948; »Höhepunkte der Freien Stadt Frankfurt. Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen in der Paulskirche«, in: ebd. vom 21.05.1948. Schmittlein: Vorwort, S. 11. Vgl. bspw.: Trautsch, Jasper: »Von der ›Mitte‹ in den ›Westen‹ Europas. Die räumliche Neuverortung Deutschlands auf den kognitiven Landkarten nach 1945«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), S. 647-666, hier S. 656. Kähni, Otto: Die demokratische Volksbewegung 1848-1948, Offenburg in Baden 1947, S. 6. Ebd. S. 66. Ebd. S. 5. Vgl. exemplarisch: Arbeitsgemeinschaft Hauptamtlicher Archivare im Städtetag BadenWürttemberg (Hg.): Revolution im Südwesten. Stätten der Demokratiebewegung 1848/49 in Baden-Württemberg, Karlsruhe 2 1998; Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998; Matt, Werner/Weber, Wolfgang (Hg.): ›Schwarzrotgold’ne Banner küssen‹. Die Jahre 1848/49 als Zeitenwende im Bodenseeraum, Konstanz 1999; Merk, Jan (Hg.): Lörrach 1848/49. Essays, Biographien, Dokumente, Projekte. Begleitschrift zur Ausstellung ›Nationalität trennt, Freiheit verbindet‹ des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und des Museums am Burghof in Lörrach, 19. April 1998-10. Januar 1999 (= Lörracher Hefte 3. Rote Schriftenreihe des Dreiländermuseums Lörrach), Lörrach 1998; Rüth, Bernhard (Hg.): Die Revolution von 1848/49 am oberen Neckar. Beiträge zum Kolloquium aus Anlaß des 150jährigen Jubiläums der Revolution von 1848/49 (= Kultur-Archiv), Rottweil 2000; Schmid, Ulla K.: Freiheit, Gleichheit, Bruderlieb. Schopfheim zur Zeit der Badischen Revolution von 1848/49. Zur gleichnamigen Sonderausstellung im Mu-
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die dazugehörigen Vermarktungsstrategien waren bereits in den Revolutionsjubiläumsjahren Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Untersuchungen.106 Um diese einzelnen lokalen Erinnerungspunkte zu vernetzen, entstanden im Vorfeld des Erinnerungsjahres 1998 mehrere überregionale Projekte wie die »Straße der Demokratie« von Bruchsal über Frankfurt, Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Landau, Lörrach, Mainz, Mannheim, Neustadt, Offenburg und Rastatt107 oder auch die Wanderausstellung »ZeitZug« des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim und der Deutschen Bahn AG.108 Die Qualität dieser regionalgeschichtlichen Arbeiten und dementsprechend der wissenschaftliche Mehrwert ist sehr heterogen. Doch entstanden auch gute Impulse für die Forschung wie von dem Arzt und Heimatkundler Herbert Burkarth über die Revolution in der Oberamtsstadt
seum der Stadt Schopfheim 18. April–2. September 1998 (= Schopfheimer Museumsschriften, Bd. 36), Schopfheim 1998; SPD-Landesverband Baden-Württemberg (Hg.): Dokumentation. Zur Geschichte der ›sozialen Demokraten‹ im Südwesten Deutschlands. Samstag, 15. Mai 1999, Rastatt, Stuttgart 1999; Stadtarchiv Villingen-Schwenningen (Hg.): Die Revolution 1848/49 in der Baar. Das Buch zur Ausstellung ›Freiheit, Bildung, Wohlstand für Alle!‹ (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der städtischen Museen Villingen-Schwenningen, Bd. 17), Villingen-Schwenningen 1998; Weber, Edwin Ernst (Hg.): Für die Sache der Freiheit, des Volkes und der Republik. Die Revolution 1848/49 im Gebiet des heutigen Landkreises Sigmaringen (= Heimatkundliche Schriftenreihe des Landkreises Sigmaringen, Heft 7), Sigmaringen 1998; Wehling, Hans G./Hauser-Hauswirth, Angelika (Hg.): Die großen Revolutionen im deutschen Südwesten (= Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Bd. 27), Stuttgart u.a. 1998. 106 Vgl. Altenburg, Andrea (Hg.): Inszenierte Geschichte(n). Museumstheater, Aktionsräume, Bildergeschichten, Umfragen. Am Beispiel der Landesausstellung: 1848/49. Revolution der deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1999; Lorinser, Margarete/Steffen, Horst: »›Roter Hecker ist ein Blauer Spätburgunder nach den Richtlinien des ökologischen Landbaus.‹ Über Revolutions-Ausstellungen und Sponsoring, Merchandising und Devotionalienhandel«, in: Margarete Lorinser/Roland Ludwig: Die Revolution hat Konjunktur. Soziale Bewegung, Alltag und Politik in der Revolution von 1848/49, Münster 1999, S. 259-272. 107 Vgl. Asche, Susanne/Bräunche, Otto: Die Straße der Demokratie. Revolution, Verfassung und Recht. Ein Routenbegleiter auf den Spuren der Freiheit nach Bruchsal, Frankfurt, Freiburg, Heidelberg, Karlsruhe, Landau, Lörrach, Mainz, Mannheim, Neustadt, Offenburg und Rastatt (= Regio guide, Bd. 7), Karlsruhe 2007. 108 Vgl. Dreikluft, Robert (Hg.): ZeitZug 1848. die deutsche Revolution von 1848/49: Erleben Sie den Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit in einem außergewöhnlichen Ausstellungsereignis. Das Magazin zur Ausstellung ›ZeitZug 1848‹ des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim und der Deutschen Bahn AG (= In Baden-Württemberg/Sonderheft 1998), Karlsruhe 1998. Vgl. zu dem Projekt auch folgende Bilanz: Oelsner, Reiner F. (Hg.): Eine Revolution fährt durch Deutschland. Erfahrungsberichte und Ergebnisse aus dem ›ZeitZug 1848‹ (= Landesmuseum für Technik und Arbeit, LTA-Forschung, Bd. 32), Mannheim 1999.
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Gammertingen, der auch das Konfliktpotential mit Frankreich erwähnt,109 oder auch die Arbeit der Historikerin Silke Knappenberger-Jans zu Reutlingen.110 Dem gegenüber stehen die jeweiligen Grußworte aus der Lokalpolitik, bei deren Lektüre sich unweigerlich die Erkenntnis aufdrängt, dass 1998 jeder Würdenträger und jede Würdenträgerin die eigene Kommune an die Spitze der südwestdeutschen Revolution schreiben wollte. Horst Maas, Bürgermeister von Konstanz, erklärte etwa: »Die besondere Rolle, die Konstanz in der badischen Revolution vor 150 Jahren gespielt hat, veranlaßt uns, durch vielerlei Aktionen an die damaligen Ereignisse zu erinnern.« Maas lieferte zwar keine Begründung, was das Besondere an der Rolle von Konstanz seiner Meinung nach war, begründete aber das Gedenken damit, dass 1848 für die Politik der Gegenwart »Richtschnur« für »mehr Mut und mehr Engagement« sein müsse.111 In den Medien wurde die These der Lokalpolitik gestützt, wie etwa in der Wochenzeitung Das Parlament, wo ein Oberstudienrat aus der Oberpfalz schrieb, Südwestdeutschland sei ein »ergiebiger Nährboden für die revolutionäre Bewegung« gewesen, womit die Korrelation von politisch-geographischem Raum und Ideengeschichte auch hier tradiert wird.112 Kritik über die »Revolution für die Touristen« blieb in der Minderheit,113 stattdessen war auch das akademische Milieu für die populären Geschichtsbilder offen, wie etwa Vorträge des Dies Academicus der Universität Mannheim 1998 zeigen. »Ohne Frankreich kein Baden«,114 behauptete 109 Vgl. Burkarth, Herbert: Die Revolution von 1848/49 in der Oberamtsstadt Gammertingen. Vortrag von Herrn Dr. Herbert Burkarth am 28. April 1998, Gammertingen 1998, S. 7-9. 110 Vgl. Knappenberger-Jans, Silke: »Forschungen und Quellen zur Reutlinger Stadtgeschichte in der Revolution 1848/49. Eine Dokumentation des Stadtarchivs Reutlingen«, in: Reutlinger Geschichtsblätter. Neue Folge 38 (1999), S. 9-429; Langewiesche, Dieter: »Populare und professionelle Historiographie zur Revolution von 1848/49 im Jubiläumsjahr 1998«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999) 7, S. 615-622. Auch: Ludwig, Roland: »Über einige Neuerscheinungen zum Revolutionsjubiläum«, in: Margarete Lorinser/Roland Ludwig (Hg.): Die Revolution hat Konjunktur. Soziale Bewegung, Alltag und Politik in der Revolution 1848/49, Münster 1999, S. 246-258. 111 Maas, Horst: »Geleitwort«, in: Gert Zang/Elisabeth Gleichenstein (Hg.): ›Die jüngere Klasse ist mehrheitlich für die Republik.‹ Die Revolution 1848/49 am See. Ausstellung 20. Juni bis 18. Oktober 1998 (= Konstanzer Museumsjournal), Konstanz 1998, S. 7. So auch die Herausgeberin in dem Ausstellungsband: Gleichenstein, Elisabeth von: »Vorwort«, in: Zang/Gleichenstein: Revolution 1848/49 am See, S. 9-10, hier S. 9. 112 Vgl. Meyer, Manfred: »Ein ergiebiger Nährboden für die revolutionäre Bewegung. Republikanische und demokratische Traditionen in Südwestdeutschland«, in: Das Parlament vom 16.01.1998. 113 Reiser, Rudolf: »Revolution für die Touristen. Baden-Württemberg feiert die Ereignisse von 1848/49«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.09.1998; Bleiber, Helmut: »Vom Umgang mit historischem Erbe. Zur Rezeptionsgeschichte von 1848/49 in der BRD und der DDR«, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung 9 (Juni 1998), S. 129-145. 114 Hemmerle, Oliver Benjamin: »Einführungsrede für das Dies-Komitee«, in: Belamir Evisen (Hg.): 150 Jahre Badische Revolution 1848/49 (Reden und Vorträge des Dies Academicus 1998)
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der Historiker Oliver Benjamin Hemmerle und erklärte das Verhältnis von Frankreich und Baden zu einer »der Keimzellen deutsch-französischer Freundschaft«. Während das Land »Teil des aggressiven preußisch-deutschen Militärstaates« habe werden müssen, seien aus »dem Westen, aus Frankreich« hingegen »meist positive Impulse für die Entwicklung Badens« gekommen.115 Auch der Rektor der Universität Mannheim und spätere Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Peter Frankenberg (CDU), sah aus Frankreich »demokratische Tradition und freiheitliche Prinzipien«116 kommen, somit im Südwesten »noch am ehesten eine durchgängige demokratische Tradition« und diesen Landesteil daher als »Kern der deutschen Demokratie.«117 Die Betonung, dass es vor »allem ostelbische Regimenter waren, die die Revolution in Baden und der Pfalz« niederschlugen, war nicht nur bei Historikern am politisch linken Rand anzutreffen.118 Vergleichbare geschichtspolitische Entwicklungen und damit politisch-geographische Selbstzuschreibungen eines Raumes sind mit Blick auf das Rheinland festzustellen, dessen erinnerungskulturelles Geltungsbewusstsein auch nach Westfalen ausstrahlte. Der aus Mannheim stammende Historiker Franz Schnabel meinte 1948 hierzu, der »Zug nach Osten, der die deutsche Geschichte seit dem Dreißigjährigen Kriege kennzeichnet«, sei durch die Französische Revolution unterbrochen worden, und »einmal ist im 19. Jahrhundert der Rhein – trotz Bismarck, der von der Herkunft her ostelbischer Junker gewesen ist – zum Mittelpunkt der deutschen Geschichte geworden.« Überall, so Schnabel weiter, »warfen im März 1848 die Völker das Joch der absoluten Fürstenherrschaft und der feudalen Ordnung ab«. Doch das Rheinland bildete für ihn ein revolutionäres politisch-geographisches Epizentrum: »Aber die deutsche Revolution hatte am Rheine ihren Mittelpunkt und wurde von rheinischen Menschen vorbereitet, durchgekämpft und auch begrenzt.« Zudem bedeuteten die Ereignisse des Jahres 1848 für Schnabel eine institutionelle Anknüpfung des Rheinlandes an den westlichen Rechtsraum: »Im Rheinischen Raume, zu Frankfurt, trat die Deutsche Nationalversammlung zusammen, ihre Institutionen stammten alle aus dem Westen, und auch der große Gegenspieler der Nationen, Fürst Metternich, der seit Jahrzehnten die Revolution hatte kommen sehen und sich ihr entgegenstemmte, war ein rheinischer
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(= Schriftenreihe des Allgemeinen Studierendenausschusses der Universität Mannheim 5), Mannheim 2 1998, S. 5-6, hier S. 5. Ebd., S. 6. Frankenberg, Peter: »Grußwort«, in: Evisen: Badische Revolution 1848/49, S. 4-5, hier S. 4. Ebd., S. 5. Vgl. Schmidt, Walter: »Die Handlanger, die gesiezt wurden«, in: Neues Deutschland vom 29.07.2000.
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Mann, der ein halbes Jahrhundert lang von Wien aus die Donaumonarchie und darüber hinaus Europa gelenkt hat.«119 Dass die Ideen der Freiheit im Westen durch die ostelbische Mentalität gescheitert wären, sah so auch die KPD in den Westzonen.120 Gegenthesen waren seltener anzutreffen, etwa wenn der Historiker Wilhelm Schulte 1954 meinte: »Man übersähe die Tiefe der Tragik, wollte man das Verhalten Berlins als ›Ostelbiertum‹ abtun.«121 Der Kontrast jedoch zwischen dem Rheinland als nicht nur geographisch, sondern auch politisch westlichster Provinz im Gegensatz zu den alten preußischen Gebieten im Osten blieb in Analogie zum Südwesten 1998 bestehen. Ein Beispiel ist der Aufsatz von Hellmut Wernher, Chefredakteur der Niersteiner Geschichtsblätter, von 1999 über Wilhelm Philipp Wernher, der 1848 zunächst dem Vorparlament angehörte und dann in der Paulskirche den Wahlkreis Alsfeld vertrat. Der Autor führt als Beleg seiner Thesen Zitate aus einer Rede von Wernher in der Nationalversammlung an.122 Darin hieß es, das »Rheinland der Gegenwart« habe »keine Anhänglichkeit mehr an ältere Fürstengeschlechter«,123 durch Frankreich sei »das Rheinland zu einem großen Ganzen gemacht« worden und das linke Rheinufer habe »das Glück« besessen, dass es die »Früchte der französischen Revolution erntete«. Hierzu zählte der Abgeordnete von 1848, zustimmend referiert vom Autor des Jahres 1999, »handgreifliches Jedem lesbares Recht, feste geregelte Verwaltung« sowie »Ordnung in den Finanzen«.124 Somit wird auch dieses Gebiet rechtshistorisch an eine westliche Tradition angeschlossen, in einen westlichen Rechtsraum integriert. Die Gültigkeit von verlässlichem Recht ist hier politisch und geographisch für eine Verortung wichtiger, als eine nationale Zugehörigkeit, was den Bruch mit einer am Nationalstaat orientierten Geschichtswissenschaft verdeutlicht, obwohl gerade dieser 1848 gegründet werden sollte. Dies war keine Einzelmeinung, auch der Historiker und Journalist Michael Salewski kommentierte, »das Rheinland war nun eben einmal die politische Erd119
Schnabel, Franz: »Zur Jahrhundertfeier«, in: Rheinischer Merkur. Wochenzeitung für Politik, Kultur und Wirtschaft vom 13. März 1948. Zum angeblichen deutschen ›Drang nach Osten‹ in der Geschichte seit 1848: Lemberg, Hans: »Der ›Drang nach Osten‹ – Mythos und Realität«, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche in Polen. Geschichte – Kultur – Politik (= Beck’sche Reihe, Bd. 1517), München 2003, S. 33-38. 120 Vgl. »1848-1948. Hundert Jahre Kampf um deutsche Einheit«, in: Volks-Echo für Westfalen und Lippe vom 03.01.1948. Zur politischen Zuordnung des »Volks-Echo«: Koszyk, Kurt: Pressepolitik für Deutsche 1945-1949 (Geschichte der deutschen Presse, Bd. 4) (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 10), Berlin 1986, S. 481. 121 Schulte, Wilhelm: Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Münster 1954, S. 11. 122 Vgl. Wigard: Nationalversammlung 4, S. 4772. 123 Wernher, Hellmut: »Ein Niersteiner 1848 in der Paulskirche«, in: Niersteiner Geschichtsblätter 2 (1999), S. 9-17, hier S. 13. 124 Ebd., S. 14.
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bebenzone Deutschlands und nicht das ostelbische Preußen.«125 Köln, Bonn und Freiburg »galten als Hochburgen eines Liberalismus, der sich Frankreich in einer merkwürdigen Haßliebe verbunden fühlte«.126 Auch Ottfried Dascher, 1998 Leiter des Hauptstaatsarchivs in Düsseldorf, schrieb: »Wer von der Revolution von 1848/49 im Rheinland sprechen will, muß zunächst von Frankreich sprechen.«127 Durch »die generelle Nähe zum Westen Europas« war das Rheinland für ihn »die gesellschaftlich fortgeschrittenste Provinz in Preußen« und galt ihm »als Sensorium für politische Klimaveränderungen«.128 Zudem wurden diese populären Geschichtsbilder auch hier in zahlreichen Ausstellungen kommuniziert.129 Ebenfalls waren diese Ansichten 1998 in der Politik anzutreffen, wie bei dem damaligen scheidenden Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau (SPD): »Der Funke der Revolution war aus Paris über den Rhein gesprungen: In Köln sangen die Menschen sogar im Karneval die Marseillaise.«130 Somit hob Rau neben den politischen zudem die kulturellen Alltagseinflüsse durch Frankreich hervor. Auch in einer im Namen des SPD-Ortsvereins Heinsberg im Regierungsbezirk Köln herausgegebene Broschüre wurde betont, die Revolution von 1848 habe »nicht nur im Südwesten Deutschlands«131 und »nicht nur in den großen Städten Europas […], sondern auch hier in unserem beschaulichen kleinstädtischen Heinsberg«132 stattgefunden. Gleichwohl konnte die Regionalgeschichte auch in Nordrhein-Westfalen jenseits des Erinnerungsbetriebes zum 150. Jahrestag Impulse gewinnen, wie etwa in der ausgewogenen Analyse des Historikers Andreas Leutzsch von 1999 über die Ambivalenz der Märzforderungen, die regional mit
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Salewski, Michael: »1848: Dimensionen einer Revolution«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 123 (1998), S. 7-26, hier S. 12. 126 Ebd. Vgl. auch: Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde/Landschaftsverband Rheinland (Hg.): Politische Strömungen und Gruppierungen am Rhein 1848/49. Vorträge, gehalten auf dem Symposium anläßlich des 150. Jahrestages der Revolution von 1848/49 im Rheinland am 9. November 1998 im Landtag Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (= Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 31), Düsseldorf 1999. 127 Dascher, Ottfried: »Die Revolution von 1848/49 in den nördlichen Rheinlanden«, in: Wilfried Reininghaus/Horst Conrad (Hg.): Ausstellung Für Freiheit und Recht. Westfalen und Lippe in der Revolution 1848/49, Münster 1999, S. 88-97, hier S. 88. 128 Ebd., S. 95. 129 Vgl. Reininghaus/Conrad: Ausstellung. Siehe auch den Beitrag von Eva Muster in diesem Band. 130 Rau, Johannes: »Die Tradition von 1848 und die deutsche Sozialdemokratie«, in: Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hg.): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln u.a. 1998, S. 69-75, hier S. 69. 131 Frenken, Wilhelm: Als die Demokratie Wurzeln schlug. Die Revolution von 1848 und ihre Auswirkungen auf das Heinsberger Land, Heinsberg 1998, S. 7. 132 Ebd., S. 4.
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unterschiedlicher Intensität gewaltsam durchgesetzt werden sollten.133 Ähnliche Bilanzen lassen sich auch noch für Rheinland-Pfalz ziehen, wo Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) die seiner Auffassung nach exponierte Bedeutung des Gebietes hervorhob, für das er nun politische Verantwortung trug.134 Im wiedervereinigten Deutschland versuchten sich nun auch sächsische und thüringische Regionen in die gängige Geschichtskultur zu integrieren.135 Hiervon wie von den politisch-geographischen Erinnerungszentren unterscheidet sich inhaltlich die Gedenkkultur in gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht in Schleswig-Holstein. In den 1848 und 1849 umkämpften Territorien stand das weiterhin als demokratischer Freiheitskampf verstandene Aufbegehren gegen eine als fremd empfundene äußere Herrschaft im Zentrum.136 Die Verbindung der Durchsetzung von Freiheitsidealen mit dem Kampf gegen die Herrschaft eines europäischen Nachbarlandes bildet eine Diskrepanz zur gängigen Erinnerungskultur. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Rede von Vera Lengsfeld 1998 bei der Gedenkveranstaltung im Bundestag, in der die CDU-Politikerin den Konflikt um die Herzogtümer im Gegensatz zum dortigen regionalen Verständnis als Hindernis von Einheit und Freiheit Deutschlands sah. Sie kritisierte explizit »die extremen Vertreter der Linken« des Jahres 1848 für deren Haltung in der Waffenstillstandfrage mit Dänemark als Ausdruck einer »unterentwickelten politischen Kultur« und sah den Konflikt
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Vgl. Leutzsch, Andreas: »Die Ambivalenz der Märzforderungen – Auftakt zu einem deutschen Sonderweg?«, in: Horst Walter Blanke (Hg.): ›Jede Umwälzung trägt den Charakter ihrer Zeit‹: Ostwestfalen-Lippe 1848/49. Regionalhistorische Studien anläßlich der Ausstellung Revolution – Kommunikation – Öffentlichkeit im Historischen Museum Bielefeld 9. Mai bis 15. August 1999. Texte und Dokumente (= Schriften der Historischen Museen der Stadt Bielefeld, Bd. 14), Bielefeld 1999, S. 23-42. Vgl. Beck, Kurt: »1832 und 1848: Ein Appell für uns heute«, in: Damals. Das aktuelle Magazin für Geschichte und Kultur. Spezial. 1848/49. Für die Freiheit streiten (1998), S. 7. Vgl. auch: Dühr, Elisabeth (Hg.): ›Der schlimmste Punkt in der Provinz‹. Demokratische Revolution 1848/49 in Trier und Umgebung. Eine Ausstellung des Städtischen Museums Simeonstift Trier 4.10.1998 bis 30.4.1999. Katalog-Handbuch, Trier 1998; Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hg.): Die Revolution 1848/49 … im heutigen Rheinland-Pfalz (= Blätter zum Land 1999, 3), Mainz 1999. Vgl. »Aufbruch zur Freiheit«, in: Thüringer Allgemeine. Wochenbeilage zum Sonntag vom 04.07.1998; Neemann, Andreas: »In Sachsen begann die Revolution friedlich und endete blutig«, in: Sächsische Zeitung vom 07/.08.03.1998; Rodekamp, Volker (Hg.): 1848, laß Recht und Freiheit nicht verderben. Zum 150. Jahrestag der deutschen Revolution 1848/49 in Sachsen. Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Altes Rathaus, 9. November 1998 bis 11. April 1999 (= Veröffentlichungen des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig), Leipzig 1998. Vgl. »Vor 150 Jahren kämpften Schleswig-Holsteiner um ihre Freiheit von Dänemark. Gedenken an den Aufstand von Boy«, in: Hamburger Abendblatt vom 09.04.1998; Daniel, Martina/Diercks, Willy (Hg.): 150 Jahre Streben nach Demokratie. Vorträge zum SchleswigHolstein-Tag 1998 in Elmshorn, Kiel 1999.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
um Schleswig-Holstein somit als Hindernis für die Festigung der demokratischen Errungenschaften der Revolution.137 Zu einem festen Kern der Erinnerung an 1848 konnte sich nach 1945 die Selbstdarstellung der Region herausbilden. Insbesondere im Westen und Südwesten Deutschlands wurde die Bedeutung des regionalen Beitrags an den deutschen und europäischen Revolutionsereignissen betont, wobei seit der Nachkriegszeit der nationale Aspekt sukzessive an Bedeutung verlor und der kontinentale an Relevanz hinzugewinnen konnte. Die Begründung der demokratischen Vorreiterrolle unterlag dabei in der Peripherie einem Wandel. Während in der Nachkriegszeit noch Vorstellungen einer völkischen Nähe zum Westen anzutreffen waren, galten alsbald ideengeschichtliche Anstöße, die den östlichen deutschen Landschaften versagt geblieben seien, als entscheidendes Element für eine frühere einsetzende demokratische Tradition in Baden und Württemberg, in der Pfalz und im Rheinland.
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Die Verortung der Revolution in Europa
Der Historiker Manfred Gailus bilanziert über das Erinnerungsjahr 1998 in der Bundesrepublik, dass nach »dem älteren Trend einer seit Jahrzehnten voranschreitenden Denationalisierung« einerseits sich eine »vermehrte Regionalisierung der Erinnerung als eine der hervorstechendsten Tendenzen diesjährigen Revolutionsgedenkens« abzeichne und andererseits die »Einbettung der deutschen Ereignisse in europäische Revolutionszusammenhänge«138 praktiziert werde. Diese Aussage von Gailus trifft zu, jedoch erweitert um die Feststellung, dass die Europäisierung bei gleichzeitiger Betonung lokaler Ereignisse ein fester Kern der westdeutschen Erinnerung an 1848/1849 seit 1945 war und keine Neuerung im Jubiläumsjahr 1998 darstellt. Somit gilt es, den Wandel der Intention der europäischen Dimension herauszustellen. Schon ab der unmittelbaren Nachkriegszeit bestand in den Westzonen ein breiter Parteienkonsens, die außenpolitische Anbindung Deutschlands an die neuen westlichen Partner auch historisch zu begründen und nicht als reines Novum zu kommunizieren.139 Der Historiker Jasper Trautsch schrieb über die geschichtspolitischen Herausforderungen der mentalen Angliederung der Deutschen nach 1945
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Lengsfeld, Vera (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 21752. Gailus: Revolutionsfeierlichkeiten, S. 60; so auch: Siemann: Streit, S. 150-152. Zur politischen Anbindung der deutschen Demokratie an den Westen immer noch vgl.: Herbst, Ludolf: Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag (= Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 27) (= dtv), München 1989.
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an den Westen: »Denn angesichts des Misserfolges einer demokratischen Revolution in den Jahren 1848/49 musste es doch etwas forciert erscheinen, Deutschland als historischen Bestandteil des ›Westens‹ darzustellen.«140 Doch war gerade jenes Ereignis ein zentrales Argument, um den Westdeutschen den Weg nach Europa als Wiederanknüpfung an eigene Traditionen zu kommunizieren. In den westdeutschen Tageszeitungen des Jahres 1948 wurde zunächst darauf hingewiesen, dass die Revolution von 1848 ein »Europäischer Umbruch«141 war, wie durch den der SPD nahen Journalisten Julius Zerfaß142 , und Ereignisse in Frankreich oder Italien als Belege für Völkerverbindungen aufgeführt. Dabei wurden zwar die parallelen oder sich gegenseitig anstoßenden Geschehnisse geschildert, weniger aber deren oft gegensätzliche Zielsetzungen. Nicht nur in Zeitungen wie Appell. Blätter der Verfolgten des Naziregimes143 oder dem vom niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme (SPD) herausgegebenen Blatt Denkendes Volk. Blätter für Selbstbildung144 wurde in erster Linie der gemeinsame revolutionäre Moment von 1848 für Europa hervorgehoben. In der Zeitschrift Neues Abendland behauptete Theodor Traber, der auch Schulbücher verfasste, dass die Revolutionäre erkannt hätten, »daß die deutsche Frage zugleich eine europäische war«, und unterstellte ihnen damit bereits eine Art europäisches Bewusstsein.145 In der Frankfurter Rundschau schrieb Redakteur Hans Henrich im Mai 1948, die »Reden der Paulskirche haben sich vom deutschen Problem« im 19. Jahrhundert auf das »europäische« der Gegenwart verbreitert, daher müsse ein bundesstaatlicher Zusammenschluss des Kontinents erfolgen. Hierin wurde die Chance gesehen, »im Rahmen eines überstaatlichen Europas mit Parlament und Oberregierung« den Deutschen im Konzert der europäischen Nationen eine Position zu erwerben. Ähnlich wie das egoistische Streben der einzelnen Fürsten sollte somit der »Anachronismus der europäischen Kleinstaaterei« überwunden werden.146 Von dem Juristen Wilhelm Püschel wurde darüber hinaus das Jahr 1848 als Vorbild gesehen, im Atomzeitalter den Weg über eine »europäische Union zu einer Weltföderation« zu beschreiten.147 Diese Verortung der Revolution im globalen Raum blieb 1948 jedoch 140 Trautsch: Neuverortung, S. 658. 141 Zerfaß, Julius: »Europäischer Umbruch vor 100 Jahren. Die deutsche Revolution«, in: Frankfurter Rundschau vom 20.03.1948, 30.03.1948 und 01.04.1948. 142 Osterroth, Franz: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Bd. 1, Hannover 1960, S. 341-342. 143 Vgl. Kühne, Karl: »Die Revolution 1848/49 und die Gegenwart«, in: Appell. Blätter der Verfolgten des Naziregimes (1948) 3, S. 1-8, hier S. 8. 144 Vgl. Linnartz-Kaiser, Franz: »Die Revolution von 1848 und ihre Bedeutung«, in: Denkendes Volk. Blätter für Selbstbildung 2 (1948) 1, S. 129-138, hier S. 129-130. 145 Vgl. Traber: Paulskirche, S. 8. 146 Henrich, Hans: »Von der Paulskirche in die Freiheit«, in: Frankfurter Rundschau vom 22.05.1948. Ähnlich: Jung, Bert: »Der deutsche Europa-Gedanke«, in: Die Zeit vom 11.11.1948. 147 Püschel, Wilhelm: Deutschland 1848 und heute. Das Problem der Staatsform, Reutlingen 1948, S. 111-112.
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
die Ausnahme, in der Regel diente sie in erster Linie der Begründung einer westeuropäischen Verbindung. Um die europäische Intention der Deutschen im Jahre 1848 zu belegen, wurden von den Kommentatoren Sätze aus Reden von Abgeordneten in der Paulskirche herausgegriffen, wie der Vorschlag des zwischenzeitlichen Reichsfinanzminister Hermann von Beckerath aus Krefeld nach einem »allgemeinen Völkerbund«148 oder das Bekenntnis des Südtirolers Carl Esterle, die »Achtung vor dem Nebenmenschen« sei die »erste Voraussetzung für eine Völkerversöhnung«.149 Gleich mehrmals wurde die Forderung Arnold Ruges aus Breslau zitiert, einen »Völkerkongreß ins Leben zu rufen zu dem Zwecke einer allgemeinen europäischen Entwaffnung«150 . Zuspruch haben diese deutschen Interpretationen im Jahre 1948 in der internationalen Politik weniger gefunden, dieser blieb auf Nichtregierungsorganisationen wie die Pan-Europa-Bewegung beschränkt. Deren Vertreter trafen sich auf einer sogenannten »Tagung der Europäischen Union« im Mai 1948 in der Paulskirche, wo unter anderem darauf hingewiesen wurde, dass die deutsche Sektion der UNESCO demnächst in Frankfurt errichtet werden sollte.151 Ein Kommentar des Journalisten Wilhelm Eduard Süßkind in der Süddeutschen über die Frankfurter Feiern lautete daher, durch den »bewußt europäischen Sinn« seien die »Jahrhunderttage über den Charakter eines bloßen Jubiläums hinaus« gehoben worden.152 Diesbezügliche Äußerungen von zentralen Politikern waren zum 100. Jahrestag seltener anzutreffen, deckten sich aber mit der journalistischen Sicht. Theodor Heuss schrieb in seinem »Nachhall von 1848«, dass es sich um »einen Europäischen Vorgang, einen Aufstand der süd- und mitteleuropäischen Völker« gehandelt habe, und schloss somit den Osten aus.153 Die Revolution wurde somit als Ausdruck davon gewertet, dass die Deutschen in der Geschichte Teil einer westeuropäischen Einwicklung waren. Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb erklärte darüber 148 »Aus der Paulskirche«, in: Münchner Merkur vom 18.05.1948. 149 Püschel: Staatsform, S. 111; auch: Venedey, Hermann: »Verpflichtung!«, in: Frankfurter Rundschau vom 18.05.1948. 150 Püschel: Staatsform, S. 23; »Aus der Paulskirche«, in: Münchner Merkur vom 18.05.1948. 151 Vgl. »Deutschland und Europa. Aus der Rede H. Brugmans am Tag der Europäischen Föderation in der Paulskirche«, in: Frankfurter Rundschau vom 20.05.1948; »Höhepunkte der Freien Stadt Frankfurt. Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen in der Paulskirche«, in: Münchner Merkur vom 21.05.1948. Zu den Paneuropabewegungen in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg: Brunn, Gerhard: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute (= Reclam Sachbuch), Stuttgart 32009, S. 51-68; Mittag, Jürgen: Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008, S. 59-71. 152 Süßkind, Wilhelm Eduard: »Die Frankfurter Feiertage«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.05.1948. 153 Heuss, Theodor: »Nachhall von 1848«, in: Die Schule. Monatsschrift für geistige Ordnung 3 (März/April 1948) 3/4, S. 90-95, hier S. 93.
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hinaus die deutsche Revolution zum Symbol einer »Hoffnung auf ein wiedererstehendes Deutschland, das seinen Platz im Kreise der europäischen Völker einnehmen und seinen Beitrag zur Wohlfahrt der Menschheit leisten« werde.154 Mehr als von der Politik wurde der europäische Aspekt 1948 in diversen wissenschaftlichen Disziplinen forciert. Aloys Wenzl, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, bezeichnete es als »unverlierbares Erbe« von 1848, an die Stelle des »Nationalismus der Macht« den Willen »zur gegenseitigen Hilfe« treten zu lassen.155 Der Historiker Rudolf Stadelmann stellte die kontrafaktische Überlegung an, das von der Paulskirche geeinte Deutschland wäre schon im 19. Jahrhundert »in die Gesellschaft der modernen Nationalstaaten als gleichberechtigter und gleichgeachteter Partner aufgenommen worden«,156 und äußerte damit wohl in erster Linie die Hoffnung, dass dies nun erfolge, wenn ein demokratischer Neubeginn gelänge. Als ersten Schritt auf dem Weg der Völkerverständigung sahen im Jahr 1948 Vertreter von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft, in Anlehnung an die gemeinsame revolutionäre Vergangenheit des Jahres 1848, die Annährung an Frankreich, bei einer gleichzeitigen Feindkonstruktion Richtung Osten. Dies verdeutlicht die Wahrnehmung des westlichen Nachbarn als wichtigsten zukünftiger Partner auf dem Kontinent. Im Gegensatz zur sogenannten »Erbfeindschaft«, nach der die Geschichte eine Gegnerschaft begründete, sollten nun historische Gemeinsamkeiten eine zukünftige Kooperation legitimieren. Beispielsweise wurde französische Literatur, welche die europäische Sicht auf die Revolution ebenfalls betonte, ins Deutsche übersetzt.157 Wiederum schrieb Püschel über 1848: »Niemals vielleicht ist ein deutscher Haß gegen Frankreich so sehr als Anachronismus empfunden worden wie damals.«158 Rudolf Stadelmann erklärte, Frankreich habe sich »friedefertig und zurückhaltend gezeigt« gegenüber einer deutschen Einigung sogar mit dem Einschluss fremder Sprachgruppen: »Der französische Gesandte in Berlin hat noch Mitte Juli 1848 ausdrücklich anerkannt, daß das nicht ohne den Gürtel der slawischen Randgebiete von Danzig bis Tilsit zu denken sei.« Somit stilisierte er Paris zum Garanten der deutschen Ostgrenzen. Stadelmann vermutete gar, dass England und Frankreich dem vereinten Deutschland bei einem »reaktionären Eingriff« Russlands »vielleicht sogar« geholfen hätten.159 Somit galt ihm die Revolution als
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Kolb, Walter: »Bekenntnis zur Demokratie«, in: Stadtkanzlei Frankfurt a.M. (Hg.): 1848-1948. Jahrhundertfeier der ersten deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche Frankfurt a.M.. Fest- und Kulturwoche 16. bis 22. Mai 1948, Frankfurt a.M. 1948, S. 3-4, hier S. 4. »Vor hundert Jahren«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.05.1948. Stadelmann, Rudolf: »Das Jahr 1848 und die deutsche Geschichte«, in: Deutsche Rundschau. Stuttgarter Ausgabe 71 (1948) 5, S. 99-110, hier S. 101. Vgl. bspw.: Sigmann, Jean: Die Revolution von 1848 in Baden, Freiburg i.Br. 1948. Püschel: Staatsform, S. 26. Stadelmann: Geschichte, S. 109.
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Beleg einer historischen deutsch-französischen Verbindung gegen das Reich im Osten. Er war nicht der Einzige, der eine Kontinuität der Gegner einer deutschen Einheit von Zar Nikolaus I. zum sowjetischen Diktator Josef Stalin zog. Auch andere Historiker wie Hans Rothfeld vertraten dies160 und ebenso Politiker wie Theodor Heuss, der meinte, die »Ideologien haben neue Kostüme angezogen«.161 Während in der SPD ebenfalls die Bedrohung von Osten her als Kontinuität zu 1848 dargestellt wurde,162 sah es die westdeutsche KPD als einzige politische Kraft genau umgekehrt: »Wie heute der sozialistische Osten, war damals der kapitalistische Westen der angebliche Störenfried der Ruhe und Ordnung.«163 Hiervon zu unterscheiden ist beispielsweise die Haltung des Kölner Historikers Peter Rassow, der in seiner Universitätsrede 1948 nicht nur betonte, »daß alles, was in Deutschland geschah, unter dem unmittelbaren Druck vom Osten stand«164 , sondern auch an die Gegnerschaft Frankreichs gegenüber der Paulskirche sowie die europäische Verflechtung der deutschen Frage erinnerte.165 Hierin sah Rassow die Kontinuität seit dem 19. Jahrhundert, es sei damals wie 1948 eine Utopie, dass »die Neugestaltung eines deutschen Nationalstaates ein Vorgang sein könne, der mit dem Stichwort ›innere Angelegenheit der Deutschen‹ zutreffend bezeichnet werden« könnte.166 Die Intention der europäischen Komponente der Erinnerung zum 100. Jahrestag war somit, die Revolution als historischen Beleg für die Verbindung der Deutschen mit Völkern im Westen des Kontinents anzuführen und an diese anzuknüpfen. Durch die Integration in eine föderativ aufgebaute Völkergemeinschaft sollte die deutsche Einheit in der Tradition der Paulskirche auf friedliche Weise erzielt werden. Es verdeutlicht die geschichtliche Erkenntnis, dass eine Vereinigung Deutschlands nur durch eine auf parlamentarischer Grundlage betriebene europäische Integration erreicht werden konnte. Zu den wenigen Kritikern, die sich gegen diese europäisierende Sicht auf die Revolution stellten, zählte 1948 der Historiker Friedrich Meinecke. Er führte an,
160 Vgl. Rothfels, Hans: 1848. Betrachtungen im Abstand von Hundert Jahren (1948), Darmstadt 1972, S. 60. 161 Heuss, Theodor: »Das Erbe von 1848«, in: DD. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ›Demokratisches Deutschland‹ vom 2.03.1948. Ähnlich in: Ders.: »Blick auf 1848«, in: Der Spiegel vom 11.03.1948. 162 Vgl. Schneider: Tradition, S. 37. 163 »100 Jahre Kampf für die deutsche Einheit«, in: Volksstimme. Mitteilungsblatt der Kommunistischen Partei Deutschlands – Bezirk Württemberg vom 11.03.1948. 164 Rassow, Peter: Deutschland und Europa 1848 und Das Werk der Paulskirche. Zwei akademische Festreden gehalten am 2. und 16. Juni 1948 (= Kölner Universitätsreden/Neue Folge 5), Krefeld 1948, S. 21. 165 Vgl. ebd., S. 13-20. 166 Ebd., S. 13.
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dass es an »expansionistischen Phantasien« schon im Jahre 1848 nicht gefehlt habe.167 In seinen »Säkularbetrachtungen« bilanzierte er daher: »So barg die deutsche Revolution von 1848 und insbesondere das Werk der Paulskirche, die Reichsverfassung von 1849, kriegerische Möglichkeiten, die durch das darauffolgende Jahrhundert zu Wirklichkeiten geworden sind und schließlich mit dem Zusammenbruch Deutschlands endeten.«168 Auch Meineckes Fachkollege Gerhart Ritter erinnerte 1948 an die deutschen Hegemoniebestrebungen und die vorhandenen Kolonialpläne der Revolutionsjahre, die er nicht zu ignorieren bedachte.169 Franz Schnabel führte über die »volkstümliche Bewegung« an, »gerade sie mußte über Europa Unruhe und Krieg bringen, sobald sie frei sich auswirken konnte.«170 Erwin Stein (CDU), Kultusminister von Hessen, mahnte 1948 als einer der wenigen Politiker, sich davor zu »hüten, die Frankfurter Ereignisse von 1848 in einer falschen Gloriole zu sehen«.171 Doch blieb die Revolution über den hundertsten Jahrestag hinaus ein immer wiederkehrendes geschichtliches Argument für die Westbindung, wie bei dem FDP- Politiker und Bundestagsabgeordneten Hermann Schäfer, der 1950 in einer Rede im Deutschen Bundestag172 die Worte von Robert Blum in der Paulskirche am 24. Juli 1848 zitierte: »Das Ziel, das man im Auge hat, muß man aussprechen, und das Ziel einer Verbrüderung des freigewordenen oder freiwerdenden Westens ist es, dem ich meine Stimme leihe.«173 Die Konstruktion der Kontinuität der Gegner im Osten verschwand jedoch bald auf allen Ebenen der Erinnerung. Argumente wie jene von dem Bundesjustizminister und FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler, der vor dem Hintergrund des Aufstandes in Ungarn 1956 an die russische Politik 1848 als gemeinsamen Widersacher deutsch-ungarischer Freiheitsbewegungen erinnerte, waren situationsbedingte Ausnahmen.174 Nur etwa in Presseorganen
167 Meinecke, Friedrich: 1848. Eine Säkularbetrachtung, Berlin 1948, S. 27. 168 Ebd. 169 Vgl. Ritter, Gerhard: Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948, S. 74. 170 Schnabel, Franz: »Das Problem Bismarck«, in: Hochland. Monatsschrift 42 (1949/1950), S. 127, hier S. 8. 171 Stein, Erwin: »Zum Geleit«, in: Ministerium für Kultus und Unterricht Hessen (Hg.): 1848. Die revolutionäre Bewegung und ihr Erbe (= Der deutsche Lehrer. Gedanken und Anregungen zur Lösung der Erziehungsaufgaben der Gegenwart, Heft 6/7), Wiesbaden 1948, S. 3. 172 Vgl. Schäfer, Hermann (FDP): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 10.03.1950«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 1587. 173 Wigard: Nationalversammlung 2, S. 1109. 174 Vgl. Dehler, Thomas (FDP): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 08.11.1956«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 9271. Der Vergleich war auch in der SPD gezogen worden: H. H.: »›Schon einmal … › Zweimal ungarische Tragödie: 1848/49-1956«, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 29.11.1956.
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von Vertriebenenverbänden, die sich in den 1970er-Jahren sukzessive an den rechtskonservativen Rand bewegten, blieb diese Argumentationslinie erhalten.175 Ab den 1950er-Jahren formierten sich in Unionskreisen zwar Positionen, die eine erneute Höherstellung des Jahres 1871 gegenüber 1848 vertraten. Doch war dies wie bei dem Mitglied der Deutschen Partei und späteren CDU-Angehörigen HansJoachim von Merkatz176 oder Kurt Georg Kiesinger (CDU)177 nicht einem neuen Nationalismus geschuldet, sondern der Annahme, dass Bismarck erfolgreich gewesen sei, eben weil er im Gegensatz zur Paulskirche die europäische Lage immer mit berücksichtigt und sich auf die kleindeutsche Variante beschränkt habe, »im Gegensatz zu den Träumen von 1848/49«178 , wie Franz Josef Strauß (CSU) bemerkte. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wies in seiner Begrüßungsansprache zur Gedenkveranstaltung an den 9. November im Jahr 2018 explizit auf die Ambivalenz der Ereignisse hin: »Die Revolution 1848 zeigte bereits vieles von dem, was später das 20. Jahrhundert prägte: Aufbruchseuphorie, Freiheitsdrang und die Sehnsucht nach nationaler Einheit, aber auch Ausgrenzung im Inneren und Abgrenzung nach außen, Hass, Gewalt und staatliche Willkür.«179 In der Geschichtswissenschaft ist die Interpretation Bismarcks als Europapolitiker im Gegensatz zu den nationalstaatlich denkenden Abgeordneten von 1848 seit der Nachkriegszeit zunehmend seltener anzutreffen, wie etwa 1998 noch bei Klaus Neitmann, Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs.180 Davon wiederum zu unterscheiden sind die Positionen im rechtskonservativen Lager, wo preußischen Heldenfiguren weiter auf Resonanz stoßen und daher behauptet wird, die Abgeordneten der Paulskirche hätten »die Ausweitung auf einen eu-
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Vgl. Thune, Wolfgang: »Rußlands Feindschaft gegen Deutschlands Einheit. Bereits 1850 erfolgte die erste erfolgreiche Intervention«, in: Das Ostpreußenblatt vom 11.11.1978. 176 Vgl. Merkatz, Hans-Joachim von (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 24.02.1955«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 3558. 177 Vgl. Kiesinger, Kurt Georg (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 15.01.1970«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 860. 178 Strauß, Franz Josef (CSU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 15.01.1970«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 899. 179 Schäuble, Wolfgang: Begrüßungsansprache zur Gedenkveranstaltung am 09.11.2018, URL: https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/018-577028 [letzter Zugriff 02.07.2019]. 180 Vgl. Neitmann, Klaus: »Vorwort«, in: Volker Klemm: Das Revolutionsjahr 1848 im preußischen Regierungsbezirk Frankfurt an der Oder (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam, Bd. 35), Weimar 1998, S. IX-XII, hier S. XII.
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ropäischen Konflikt kaltblütig einkalkuliert«,181 oder auch eine Kontinuität der Gegner Deutschlands in Europa von 1848 bis zur Kohl-Ära gezogen wird.182 Im Jahr 1998 wurde der Europa-Aspekt der Revolution in der Politik noch stärker betont als noch 50 Jahre zuvor, was die Etablierung der Einbindung des vereinigten Deutschlands in den europäischen Integrationsprozess verdeutlicht. Bundespräsident Roman Herzog erklärte in seiner Festansprache zum 150. Jahrestag, das Jahr 1848 sei »nicht nur der bleibende Anfang der deutschen Demokratiegeschichte«, sondern auch »eine entscheidende Wendemarke auf dem Weg zum modernen, demokratischen Europa« gewesen. Anders als die Französische Revolution habe jenes Ereignis zu einer »wirklich europäischen Bewegung« geführt, wodurch er das Jahr 1848 über 1789 stellte. Der »Wind des Wandels« habe in diesem »die Völker Europas nicht nur verändert, sondern auch auf neue Weise miteinander« verbunden.183 Die deutsche Übersetzung des englischen Titels der – oft als Hymne der Einheit beschriebenen – Rockballade Wind of Change der Musikgruppe Scorpions unterstrich die ideengeschichtliche Gleichsetzung der Jahre 1848 und 1989. Für die Gegenwart konstatierte er: »Die gemeinsame Tradition der Freiheitsbewegung, die seit 1848 die europäischen Staaten verband, war und ist auch heute des geistige Fundament des vereinten Europa.«184 Somit wollte der Bundespräsident das wiedervereinigte Deutschland in den Prozess der europäischen Integration mit historischen Argumenten auch weiterhin einbinden. Ähnlich äußerten sich Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth in ihrer Rede185 oder auch Heidemarie Wieczorek-Zeul, im Bundestag von 1987 bis 1998 europapolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, in ihrem Beitrag: »150 Jahre nach 1848 werden die europäischen Visionen Wirklichkeit«.186 Weitere Beispiele für den Europa-Aspekt sind die Äußerungen von Vera Lengsfeld (CDU), Rudolf Scharping (SPD), Rita Süssmuth (CDU) oder Hans Maier (CSU), um nur eine Auswahl zu nennen.187 Nachdem 1948 181
Möller, Martin: »Im Prinzip monarchistisch und reichstreu. 18. Mai 1848 in der Paulskirche: Die Mehrheit der Nationalversammlung plädierte für ein erbliches Kaisertum«, in: Junge Freiheit vom 17.05.2002. 182 Vgl. Ammon, Herbert: »Drama des Scheiterns«, in: Junge Freiheit vom 20.03.1998. 183 Herzog: Rede, S. 39. Zu der Rede auch: Langewiesche, Dieter: »Vergangenheitsbilder als Gegenwartskritik und Zukunftsprognose: Die Reden der deutschen Bundespräsidenten«, in: Nikolaus Buschmann/Ute Planert (Hg.): Zeitenwende. Geschichtsdenken heute, Göttingen 2008, S. 114-134, hier S. 128. 184 Herzog: Rede, S. 45. 185 Vgl. Roth, Petra: »Begrüßung«, in: Möller: 150jähriges Jubiläum, S. 15-20, hier S. 16. 186 Wieczorek-Zeul, Heidemarie: »150 Jahre nach 1848 werden die europäischen Visionen Wirklichkeit«, in: SPD-Bezirk Hessen-Süd, Historische Kommission (Hg.): 1848-1998. Der lange Weg zu Freiheit und sozialer Demokratie. Dokumentation des Festaktes der SPD Hessen-Süd am 9. Mai 1998, Frankfurt a.M. 1998, S. 7-14. 187 Vgl. bspw.: Scharping, Rudolf: »Die Revolution ist unser aller Erbe. Der Deutsche Bundestag hat gute Gründe, die Ereignisse von 1848 zu feiern«, in: Die Zeit vom 20.02.1998; Lengsfeld, Vera (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: Deutscher Bundestag.
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die Revolution noch als Symbol der Hoffnung auf eine europäische Lösung fungierte, galt ihr Werk nun als durch die Wende von 1989 erfolgreich umgesetzt. Auch in der Geschichtswissenschaft war 1998 die »europäische Dimension der Revolution weiter ins Zentrum« gerückt und dies wohl »stärker als je zuvor«, wie Rüdiger Hachtmann und Dieter Hein bemerkten.188 Dabei muss bei Historikern und Historikerinnen unterschieden werden zwischen einerseits solchen, die wie Wolfram Siemann »die revolutionären Vorgänge nicht nationalgeschichtlich isolieren wollten, sondern sie als Teil eines europäischen Prozesses betrachten«189 , oder wie Gerhard Beier auf die »europäische Dimension der Revolution« jenseits von »Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus«190 hinwiesen. Anderseits gibt es einen Personenkreis in der Geschichtswissenschaft, der über eine wissenschaftliche Erkenntnis hinaus die Ereignisse von 1848 als ideengeschichtlichen Vorläufer der EU wertet und somit Geschichtspolitik betreibt. Mehrmals erklärte beispielsweise Wolfgang J. Mommsen, dass Europa im Revolutionsjahr seine Chance, sich eine friedliche Ordnung in Freiheit zu geben, verpasst habe.191 Dies werde in der Gegenwart jedoch nachgeholt und so könne man die »Gründung und allmähliche Vollendung der Europäischen Union demnach als Fortschreibung der nationalemanzipatorischen Ideen der Revolutionäre des Vormärz und der Revolution von 1848/49 ansehen«.192 Diese Aussage belegt die Korrelation von europäischer Dimension und Pazifizierung der Revolution in der Erinnerung, in welcher nicht nur die Gewalt auf der Straße relativiert, sondern auch die Kriege und interna-
Stenographischer Bericht. 13. Wahlperiode, 237. Sitzung, S. 21752; Duve, Freimut (SPD): »Rede im Deutschen Bundestag«, ebd. S. 21753; Süssmuth, Rita (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag«, ebd. S. 21771; Maier, Hans: »Das tolle, das widersprüchliche Jahr. Was blieb von 1848? – Eine Bilanz der ersten deutschen Revolution nach 150 Jahren«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.12.1998. 188 Hachtmann, Rüdiger: »1848 – Bilanz eines Jubeljahres. Anmerkungen zum Problem der Traditionsbildung«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998) 12, S. 1489-1496, hier S. 1495; Hein, Dieter: »Einfach ist die Botschaft der Geschichte wahrlich nicht – Über neue Bücher rund um das Thema 1848«, in: Frankfurter Rundschau. Beilage 1848 vom 18.05.1998. Auch: Hachtmann, Rüdiger: »Europäische Revolutionsmetropolen. Ein Überblick«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 49 (1998) 4, S. 222-234; Ders.: »Die Jubiläen der 1848er Revolution in der europäischen Geschichtskultur«, in: Martin Sabrow (Hg.): Historische Jubiläen (= Helmstedter Colloquien, Bd. 17), Leipzig 2015, S. 93-108. 189 Rürup, Reinhard: »Revolution und Volksbewegung: 1848/49 im Kontext der deutschen Geschichte«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 49 (1998) 4, S. 208-221, hier S. 210. 190 Beier, Gerhard: »Die europäische Dimension der Revolution von 1848. Jenseits von Kapitalismus, Nationalismus und Imperialismus«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 49 (1998) 4, S. 235-239. 191 Vgl. Mommsen, Wolfgang: »Freiheit und Einheit als Ziel der Revolution – Zur historischen Einordnung«, in: Frankfurter Rundschau. Beilage 1848 vom 18.05.1998, S. 3-4. 192 Mommsen: Frage, S. 348.
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tionalen Konflikte der Jahre 1848/1849 ausgeblendet werden.193 Ähnliches gilt für Günter Wollstein, der bilanzierte, »damals ging es um eine moderne und friedliche Einigung Europas« und es sei der »Paulskirche hoch anzurechnen, daß sie schließlich den Zwängen europäischer Notwendigkeiten durchaus Tribut zu zollen wußte, indem sie sowohl auf das kleindeutsche Konzept umschwenkte als auch letztlich den Waffenstillstand im Schleswig-Krieg schluckte«.194 In der von Lothar Gall geleiteten Ausstellung »Aufbruch zur Freiheit« war dann auch unter der Rubrik »Nation und Europa« am Ende das deutsche Exemplar des Vertrages von Maastricht ausgestellt.195 Wohl auch deswegen resümierte Detlef Hoffmann über Galls museale Präsentation: »Die Ausstellung ist in der Konzeption ärmlich, in der Ausführung mangelhaft.«196 Über die Darbietung des Maastricht-Vertrages lautet ein Kommentar von Historiker und Politikwissenschaftler Frank Ebbinghaus in der Welt: »Eleganter, witziger und intelligenter als in Frankfurt ist die These vom ›deutschen Sonderweg‹ noch nicht beerdigt worden.« Und er fügt noch ironisch hinzu: »Willkommen an Bord des historischen Vergnügungsdampfers, einer ›Titanic‹ mit Happy-End.«197 Ablehnungen dieser selektiven, Konflikte marginalisierenden bis ignorierenden Interpretation von 1848 blieben auf allen Erinnerungsebenen 1998 die Ausnahme und waren in erster Linie in der Geschichtswissenschaft anzutreffen. Jürgen Kolbe kritisiert in der Süddeutschen Zeitung, dass die Ereignisse von 1848 »umgebogen« werden, denn der »neue Staat Europa« brauche wohl neben der »ausschließlich diskutierten materiellen Währung auch einen einigermaßen historisch fundierten Überbau«.198 Wolfram Siemann stellte noch zur Rede von Gustav Heinemann 1973 in Rastatt zutreffend fest: So »ehrenwert diese Absichten erscheinen«, 193 Vgl. Hirschmüller: Barrikade. 194 Wollstein, Günter: »Für Recht und Freiheit. 1848/In einem Festakt am 18. Mai wird des Paulskirchen-Parlaments gedacht«, in: Rheinischer Merkur vom 15.05.1998. 195 Schambach, Karin: »Nation und Europa«, in: Gall: Aufbruch zur Freiheit, S. 431-447. Zu Galls Sicht vgl. auch: Gall, Lothar: »›Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist die Eure!‹ 1848 – Eine europäische Revolution?«, in: Der Präsident des Landtags Rheinland-Pfalz. Red. Hans-Peter Hexemer (Hg): ›Eure Freiheit ist unsere Freiheit und unsere Freiheit ist die Eure!‹ 1848 – Eine europäische Revolution? Vortragsveranstaltung im Landtag Rheinland-Pfalz am 14. Juli 1998 (= Schriftenreihe des Landtags Rheinland-Pfalz, Heft 3), Mainz 1998, S. 11-280, hier S. 20. 196 Hoffmann, Detlef: »Die neue Germania. Zur Ausstellung ›1848. Aufbruch zur Freiheit‹, 18. Mai–18. September 1998«, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 51 (1998) 8, S. 375-381, S. 376. Ähnlich: Leutzsch: Ambivalenz. 197 Ebbinghaus, Frank: »Germania kehrt an ihren Platz zurück. Die Revolution vor 150 Jahren als Spiegel der Gegenwart: ›1848 – Aufbruch zur Freiheit‹ in der Schirn Kunsthalle«, in: Die Welt. Beilage vom 16.05.1998. 198 Kolbe, Jürgen: »Eine Revolution, die keine war. Wie die Ereignisse von 1848 heute zum Mythos von der Entstehung unserer Demokratie umgebogen werden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.04.1998.
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auch Heinemann »begab sich damit in die Reihe der Traditionsbildner, welche bestimmte Segmente der Erinnerung als die besonders wertvollen und verbindlichen hervorheben« und »die diesem Bilde widersprechenden Elemente ausblenden.«199 Manfred Kittel stellte heraus, dass »die Formulierung von Grund- und Freiheitsrechten, zu denen auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker gehörte, keineswegs automatisch zum Ausgleich zwischen den Nationen führen mußte.«200 Auch Michael Salewski gab 1998 die zahlreichen nationalistischen Konflikte des Jahres 1848 zu bedenken,201 und dem Historiker Andreas Biefang fiel 2016 erneut »eine gewisse Tendenz zur retrospektiven Harmonisierung ins Auge.«202 Während 1998 in Kontinuität zu 1948 die Deutschen als Bestandteil einer europäischen Revolution gegen die Obrigkeit kommuniziert wurden,203 lassen sich auch deutliche Unterschiede zum Gedenken im Jahr 1948 feststellen. War die Revolution am 100. Jahrestag noch ein Vorbild, die Zusammenführung der Völker Westeuropas einzuleiten, galt sie 50 Jahre später als Ansporn, dies trotz Differenzen der Einzelstaaten fortzuführen, wie etwa der Kommentar des Journalisten Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung zeigt. Für ihn waren die »Probleme, die sich damals, bei dem Versuch aus einem ziemlich losen Bund deutscher Staaten einen demokratischen deutschen Nationalstaat zu errichten«, gezeigt hatten, eine »verblüffende Beschreibung der europapolitischen Malaisen von 1999.«204 Die Intention, 1848 als geschichtspolitisches Argument gegen EU-Kritik anzuführen, ist seither immer wieder anzutreffen. Im Juni 2016 kündigte der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) an, dass in der Paulskirche, die als »Wiege der deutschen Demokratie gilt«, künftig auch die Europaflagge hängen solle.205 Nach den Diskussionen über die Folgen des Austretens Großbritanniens aus der Europäischen Union solle damit ein Zeichen gesetzt werden.
199 Siemann: Erinnerung, S. 278. 200 Kittel, Manfred: »Abschied vom Völkerfrühling? National- und außenpolitische Vorstellungen im konstitutionellen Liberalismus 1848/49«, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 333383, hier S. 383. 201 Vgl. Salewski: Dimensionen, S. 14. 202 Biefang, Andreas: »Gründungsmythen der parlamentarischen Demokratie? Erinnern an die Verfassungsgebungen von 1848/49 und 1948/49 am historischen Ort«, in: Thomas Hertfelder/Ulrich Lappenküper/Jürgen Lillteicher (Hg.): Erinnern an Demokratie in Deutschland. Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 179-196, hier S. 190. 203 Vgl. Worthmann, Joachim: »Wenn die Bilder sprechen. Die Ausstellung ›1848 – Aufbruch zur Freiheit‹ in Frankfurt«, in: Stuttgarter Zeitung vom 19.05.1998. 204 Prantl, Heribert: »Die Agenda 1849«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.03.1999. Ähnlich vgl.: »Mahnung und Verpflichtung für Europa. Gedenken an den 18. März 1848 in Berlin«, in: Das Parlament vom 20.03.1998. 205 »Künftig Europaflagge in der Paulskirche«, in: Berliner Zeitung vom 30.06.2016.
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Als anderer signifikanter Unterschied ist noch zu erkennen, dass nach Jahrzehnten der gefestigten deutsch-französischen Kooperation nun auch der östliche Nachbar Polen stärker mit einbezogen wurde. Acht Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung galt es von politischer wie journalistischer206 Seite immer noch, die Ressentiments gegenüber Deutschland im Osten sowie jene der Deutschen gegenüber ihren östlichen Nachbarn abzubauen. So erklärte beispielsweise der hessische Landtagspräsident Klaus Peter Möller 1998 in seiner Paulskirchenrede »neben anderen Freiheitskämpfern aus Europa« seien es »viele Polen« gewesen, »die gemeinsam mit uns Deutschen für die Revolution eingetreten sind«.207 Dabei richtete er seine Worte insbesondere an den bei der Feierstunde anwesenden Lech Wałęsa, vormals Vorsitzender der Gewerkschaft Solidarność und von 1990 bis 1995 Staatspräsident Polens. Ähnlich hatte sich schon im Juni des Jahres 1990 während der Verhandlungen über die deutsche Einheit Bundeskanzler Helmut Kohl geäußert.208 Auch die Europäisierung der Revolution wurde nach 1945 zu einem festen Kern des Revolutionsmythos. Dabei ist jedoch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine Vorstellung mehr von Deutschland als Ordnungsmacht anzutreffen gewesen. Stattdessen war in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1848 ein Beleg für die kulturelle und politische Verortung Deutschlands in eine westeuropäische Gemeinschaft. Verstärkt nach der Wiedervereinigung wurden an 1848 auch Anknüpfungspunkte nach Osten herausgestellt und damit die Bundesrepublik als verbindendes Element in der Mitte des Kontinents positioniert. Es ist eine Konstante seit 1945, dass die Nationalitätenkonflikte der Revolutionsjahre sekundäre Bedeutung erhielten.
206 Vgl. Sauerland, Karol: »Von 1848 bis 1989 warum bei den derzeitigen Revolutionsfeiern gern die osteuropäischen Nationen übersehen werden. Vom Völkerfrühling zum Völkerherbst«, in: Berliner Zeitung vom 04.05.1998 207 Vgl. Möller, Klaus Peter: »Grußwort«, in: Möller: 150jähriges Jubiläum, S. 29-32, hier S. 31. Ähnlich auch der Kommentar von: Sauerland, Karol: »Von 1848 bis 1989 warum bei den derzeitigen Revolutionsfeiern gern die osteuropäischen Nationen übersehen werden. Vom Völkerfrühling zum Völkerherbst«, in: Berliner Zeitung vom 04.04.1998. Zur Verbindung einer westdeutschen Region mit den Polen im Jahr 1848: Kermann, Joachim: »Die pfälzische Revolution von 1849 und die Rolle der Polen«, in: Clemens Rehm/Hans-Peter Becht/Kurt Hochstuhl (Hg.): Baden 1848/49. Bewältigung und Nachwirkung einer Revolution (= Oberrheinische Studien, Bd. 20), Stuttgart 2002, S. 95-131. Über die Paulskirchenverfassung von 1848/1849 und Verfassung vom 3. Mai 1791 aus polnischer Sicht vgl. auch: Kałążny, Jerzy: »Paulskirchenverfassung von 1848/1849 und Verfassung vom 3. Mai 1791. Finis coronat opus? Gescheiterte Verfassungen, die die Zukunft gestalteten«, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.): 20 deutschpolnische Erinnerungsorte, Paderborn 2018, S. 411-434. 208 Kohl, Helmut (CDU): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 21.06.1990«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 17145.
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Die Revolution als konstituierendes Moment für den kulturell heterogenen Raum
Im Gegensatz zu den bisherigen Aspekten war ein Erinnern an Juden oder nationale Minderheiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik auf politischer, gesellschaftlicher oder wissenschaftlicher Ebene kaum anzutreffen. Die zunehmende Inklusion von Minderheiten bewirkte hier jedoch eine Neuakzentuierung, die bezeichnend ist für die integrative Funktion von Mythen im Zeitalter der Globalisierung.209 Nur vereinzelt wurden nach 1945 im Revolutionsgedenken Juden berücksichtigt, dies geschah noch dazu mit Verweis auf die Ausgrenzung schon 1848. Ein Beispiel ist der Hinweis in der Frankfurter Rundschau, vom Mai 1948 dass sie von Urwahlen für einen Verfassungsrat der Stadt Frankfurt a.M. ausgeschlossen werden sollten.210 In der Wissenschaft kam in den 1970er- und 1980er-Jahren211 vereinzeltes Interesse an der Rolle der Juden auf, welches in den darauffolgenden Jahren
209 Vgl. Bizeul, Yves: »Politische Mythen im Zeitalter der ›Globalisierung‹«, in: Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/Stephanie Wodianka (Hg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung (= Formen der Erinnerung, Bd. 23), Göttingen 2005, S. S. 17-36, hier S. 31-32. 210 Vgl. Wendel, Hermann: »Verfassungskämpfe in Frankfurt«, in: Frankfurter Rundschau vom 25.05.1948. 211 Vgl. bspw.: Moldenhauer, Rüdiger: »Die jüdischen Petitionen an die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt a.M. 1848/49«, in: Wolfgang Klötzer/Rüdiger Moldenhauer/Dieter Rebentisch (Hg.): Ideen und Strukturen der deutschen Revolution 1848. Hermann Meiner zum 80. Geburtstag gewidmet (= Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Bd. 54), Frankfurt a.M. 1974, S. 177-208; Grab, Walter/Werner, Michael: Juden im Vormärz und in der Revolution von 1848 (= Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 3), Stuttgart u.a. 1983. In Österreich etwa als Beispiel: Häusler, Wolfgang: Das Judentum im Revolutionsjahr 1848 (= Studia Iudaica Austriaca, Bd. 1), Wien 1974.
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stetig zunahm.212 Vor allem das Engagement und die Haltung der Juden in der Arbeiterbewegung213 und in der Region214 wurden und werden verstärkt betrachtet. In der Tagespresse war dann beim Jubiläum 1998 das Interesse an den deutschen Juden größer als je zuvor. Jüdische Deutsche wie der Hamburger Jurist und Diplomat Johann Gustav Moritz Heckscher wurden als die »profiliertesten Kämpfer für Reformen« hervorgehoben.215 Mit dem Zitieren von Heckschers Wahlspruch »Nimmer wanken, nimmer weichen, gilt es Deutschlands Einheit zu erreichen« sollte das Nationalbewusstsein der Juden216 und mit Gabriel Riesser, dem zweiten Vizepräsidenten der Nationalversammlung, zusätzlich deren politisches Engagement für Gleichberechtigung unterstrichen werden.217 Somit wurden Juden als Akteure in der Revolution charakterisiert. Antonius Holtmann, Professor für Sozialwissenschaften in Oldenburg, verwahrte sich zudem gegen die Aussagen von Daniel J. Goldhagen, die »Deutschen Liberalen des Vormärz pauschal in die Reihe der Vordenker und Vorläufer« eines »rassistischen, eliminatorischen, letztlich
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Ein Forschungsüberblick zu Emanzipation und Antisemitismus unter anderem bei vgl.: Langewiesche, Dieter: »Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, Teil II«, in: Archiv für Sozialgeschichte 31 (1991), S. 331-443, hier S. 392-396; Eine Bestandsaufnahme nach dem Erinnerungsjahr 1998 hierzu bietet: Hachtmann, Rüdiger: »150 Jahre Revolution von 1848: Festschriften und Forschungserträge. Erster Teil«, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 447-493, hier S. 489493. 213 Vgl. Keßler, Mario: »Proletarische und jüdische Emanzipation in der Revolution 1848/49«, in: Helmut Bleiber/Rolf Dlubek/Walter Schmidt (Hg.): Demokratie und Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution von 1848/49. Beiträge des Kolloquiums zum 150. Jahrestag der Revolution von 1848/49 am 6. und 7. Juni 1998 in Berlin (= Geschichte – Gesellschaft – Gegenwart. Schriftenreihe des Vereins ›Gesellschaftswissenschaftliches Forum e.V.‹, Berlin, Bd. 22) Berlin 2000, S. 189-199. 214 Vgl. exemplarisch seinen hier genannt zu Hohenlohe: Seischab, Steffen: »1848 – auch eine jüdische Revolution? Anmerkungen zur Geschichte der Juden in Hohenlohe«, in: Sonja-Maria Bauer (Hg.): Die Revolution von 1848/49 in Hall und Hohenlohe (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schwäbisch Hall, Bd. 11), Schwäbisch Hall 1999, S. 177-205; oder für Franken: Link, Stephan: »Fränkische Juden in der Revolution von 1848/49. Zwischen Emanzipation und antijudaistischen Anfeindungen«, in: Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten Mitteilungsblatt der bayerischen Geschichtswerkstätten 14 (2009), S. 19-22. Zur Untersuchung der Interpretation der Emanzipation im Revolutionsgedenken: Beller, Steven: »Das Licht der Welt. Der 1848-Mythos und die Emanzipationsideologien«, in: Sigurd Paul Scheichl/Emil Brix (Hg.): ›Dürfen’s denn das?‹. Die fortdauernde Frage zum Jahr 1848 (= Österreichische Forschungsgemeinschaft: Reihe Civil Society der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, Bd. 3), Wien 1999, S. 169-188. 215 Schmoock, Matthias: »Der diplomatische Revolutionär«, in: Hamburger Abendblatt vom 09.06.1998. 216 Ebd. 217 Vgl. Mertens, Lothar: »Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden. Gabriel Riesser«, in: Das Parlament vom 16.01.1998.
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exterminatorischen Antisemitismus« zu stellen.218 Dies versuchte er damit zu belegen, dass deutsche Juden wie Hugo Preuß zu den Liberalen zählten. Der Publizist Joachim Riedel schrieb darüber hinaus, dass »die Reaktion massiv den Antisemitismus als politische Waffe einsetzte«219 und weniger die Revolutionäre. Wolfgang J. Mommsen hob in der Berliner Zeitung hervor, dass in der Verfassung der Paulskirchenversammlung die »Gleichberechtigung aller religiösen Bekenntnisse einschließlich des israelitischen Glaubens, also die Juden-Emanzipation den Einzelstaaten verbindlich vorgeschrieben«220 wurde. Eine »Fortführung der Judenemanzipation« galt als »Erbe des Aufstandes«.221 Diese Interpretation wurde zum Teil 1998 auch im deutschen Judentum vertreten, wie von Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, der in der Frankfurter Neuen Presse über 1848 als den »Geburtsort der Religionsfreiheit« schrieb.222 Positionen, die diese Interpretation nicht gelten ließen, waren und sind in der Minderheit. Unter anderem erinnerte der Historiker Reinhard Rürup an die »Ambivalenz der Revolution«223 und die »antijüdischen Ausschreitungen«224 , gleich seine Fachkollegen wie Hans-Peter Baum225 oder Stefan Braun.226 Wolfgang von Hippel gab zu bedenken, dass es auch gegen Juden »in den standes- und grundherrlichen Gebieten Nordbadens«, also im scheinbar liberalen Südwesten, zu Ausschreitungen gekommen sei.227 Die Historikerin Monika Min218 219 220
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Holtmann, Antonius: »Zur Erklärung«, in: Frankfurter Rundschau. Beilage 1848 vom 18.05.1998, S. 31. Riedl, Joachim: »Das verdrängte Jubiläum. Nichts und niemand erinnert in Österreich an die Revolution von 1848«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.06.1998. Mommsen, Wolfgang J.: »Der Höhepunktder Revolution: Am 18. Mai 1848 wurde die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eröffnet. Die Idee einer Einheit in Freiheit«, in: Berliner Zeitung vom 16.05.1998. »Freiheitsrechte: Das Erbe des Aufstandes«, in: Berliner Zeitung vom 7.02.1998. Über 1848 auch als Epochenjahr auf dem Weg zur Judenemanzipation: Langewiesche, Dieter: »1848 – ein Epochenjahr in der deutschen Geschichte?«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 25 (1999) 7, S. 613-625, hier S. 622-623. Bubis, Ignatz: »Der Geburtsort der Religionsfreiheit«, in: Frankfurter Neue Presse vom 16.05.1998. Rürup: Revolution, S. 217. Ebd. S. 219. Vgl. Baum, Hans-Peter: »1848/49, 1918/19, 1948/49. Jahre des demokratischen Aufbruchs aus dem Blickwinkel der Ereignisse in Würzburg«, in: Stadtarchiv Würzburg (Hg.): 1848/49, 1918/19, 1948/49. Jahre des demokratischen Aufbruchs. Eine Ausstellung des Stadtarchivs (= Kleine Reihe des Stadtarchivs Würzburg, Heft 35), Würzburg 2018, S. 7-22, hier S. 15. Vgl. Braun, Stefan: »Epochenschwelle zur Moderne«, in: Jüdische Allgemeine vom 05.03.2018. Auch: Mohr, Günther: »Unruhen gegen den Amtsdespoten, Exzesse gegen Juden. Aufbrüche zur Revolution in der ländlichen Amtsstadt Bühl«, in: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden 78 (1998), S. 245-274. Vgl. Hippel, Wolfgang von: »›Freiheit, die ich meine‹ – Von der Schwierigkeit, eine Revolution zu verstehen«, in: Gudrun Loster-Schneider (Hg.): Revolution 1848/49. Ereignis, Rekonstrukti-
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ninger konnte am Beispiel ostwestfälischer Juden belegen, dass 1848 keine Wende im Alltagsleben der Gemeinden nach sich zog.228 Neben Juden als religiöse Gruppe wurden seit den 1950ern auch nationale Minderheiten in das Revolutionsgedenken integriert. Der aus dem ostpreußischen Klinthenen gebürtige Bundestagsabgeordnete Reinhold Rehs (SPD) erinnerte 1954 in einer Rede: »Bereits im Jahre 1849, also vor über hundert Jahren, ist in der Reichsverfassung der Paulskirche der Grundsatz aufgestellt worden, daß den nichtdeutschen Volksstämmen ihre Gleichberechtigung, ihre volkstümliche Entwicklung und namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprache, der inneren Verwaltung, der Rechtspflege usw. zu gewährleisten ist.«229 Diese Form der Tradierung von 1848 blieb zunächst auf die sozialdemokratische Partei beschränkt, bildete jedoch hier einen festen Punkt in der Gedenkkultur. Auch Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) erwähnte 1973 in ihrer Ansprache zum 125. Jahrestag der Eröffnung der Nationalversammlung, dass es ungewöhnlich und weitblickend in einer Zeit gewesen sei, »in der sich doch alles auf die nationale Frage konzentrierte«, sich auch für die »Rechte nationaler Minderheiten, insbesondere aber für die Freiheit des polnischen Volkes« einzusetzen.230 Die Berücksichtigung von Minderheitenfragen im Revolutionsgedenken wurde später auch von den Grünen befürwortet, so 1998 bei der historischen Legitimierung der Forderung nach der Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft. Bei der zentralen Gedenkfeier des Bundestages erklärte der Publizist und SPDBundestagsabgeordnete Freimut Duve zunächst, er wolle sich »bemühen«, sein Amt im »Geist des Frühlings der Völker zu führen«, und bilanzierte unter Beifall von SPD und Grünen, dass zwar die Einheit erreicht sei, aber »als Land, in das eingewandert wurde und wird«, müsse man den »Staatsbürgerbegriff auf seinen Freiheitskern konzentrieren« und deswegen »die Bürger anderer Herkunft sehr viel intensiver in den demokratischen Prozeß und in die Verantwortung für die Demokratie einbeziehen.« Deutscher Bürger zu sein war für ihn »keine Frage der Abstammung«, sondern »der aktiven Mitverantwortung«. Die Einwanderer
on, Diskurs (= Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 21), St. Ingbert 1999, S. 109-132, hier S. 118. 228 Vgl. Minninger, Monika: »Ostwestfälische Juden zwischen Emanzipation, Kultusreform und Revolution«, in: Reinhard Vogelsang/Rolf Westheider (Hg.): Eine Region im Aufbruch. Die Revolution von 1848/49 in Ostwestfalen-Lippe (= 9. Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg e.V.), Bielefeld 1998, S. 159-190. 229 Reinhold Rehs (SPD): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 10.12.1954«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, S. 3082. 230 Renger, Annemarie (SPD): »Rede im Deutschen Bundestag, Bonn, 18.05.1973«, in: Deutscher Bundestag: Stenographischer Bericht, 7. Wahlperiode, 34. Sitzung, S. 1851.
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betrachtete er als »in die Demokratie und in den Rechtsstaat eingewandert«, sie sollten somit neben dem Übernehmen von Verpflichtungen auch Mitverantwortung und Partizipation übertragen bekommen. Als diesen Anforderungen entsprechende Möglichkeit, »Bürger bei uns zu werden«, galt Duve die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft.231 Diese historisch begründete Forderung nach einer Reform im Staatsbürgerschaftsrecht war auch bei der SPD nahen Journalisten wie Heribert Prantl anzutreffen. Die im Herbst 1998 gebildete rot-grüne Bundesregierung hatte nach einer Landtagswahlniederlage in Hessen im März 1999 die notwendige Stimmenmehrheit im Bundesrat verloren. Die führenden Politiker der Union und der FDP lehnten das Reformvorhaben ab. Um dem Anliegen daher Nachdruck zu verleihen, argumentierte Prantl, viele Ziele von 1848 seien sukzessive umgesetzt worden, doch manche »Ideen brauchen noch länger als 150 Jahre, bis sie Recht werden«. Für ihn konnte es Demokratie nicht vertragen, dass »Menschen, die in Deutschland leben, aus dem demokratischen Betrieb ausgeschlossen« bleiben. Um sein historisches Argument zu untermauern, griff er ein Zitat aus einer Rede des Paulskirchenabgeordneten Jacob Grimm in der Nationalversammlung heraus: »Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.«232 Die Stilisierung der Paulskirche zur Urheberin des Schutzes nichtdeutscher Nationalitäten hatte sukzessive in der wissenschaftlichen Erinnerung ebenfalls an Bedeutung gewonnen,233 die Berücksichtigung der Nationalitätenkonflikte erhielt weniger Raum.234 Ziel war es auch hier, der Wahrnehmung von Einwandernden als Fremde entgegenzutreten und stattdessen eine pluralistische Gesellschaft in der 231
Duve, Freimut (SPD): »Rede von im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: Deutscher Bundestag. Stenographischer Bericht, 13. Wahlperiode, 237. Sitzung, S. 21756-21757. Der grüne Abgeordnete Werner Schulz führte in der besagten Debatte auch die »Geschichte des politischen Asyls« auf die »Anfänge der Demokratie in Deutschland« zurück. Vgl. Schulz, Werner (Bündnis 90/Die Grünen): »Rede von im Deutschen Bundestag, Bonn, 27.05.1998«, in: ebd. S. 21760. 232 Prantl, Heribert: »Die Agenda 1849«, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.03.1999. Zum Kontext der Aussage von Grimm siehe aber: Seybold, Steffen: »Freiheit statt Knechtschaft. Jacob Grimms Antrag zur Paulskirchenverfassung«, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht 51 (2012) 2, S. 215-231. Mittlerweile findet das Zitat auch in CDU-Kreisen Verwendung, um die Vorbildfunktion der Paulskirche für die Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu suggerieren. Bspw. durch Bernd Heidenreich, Magistrat Frankfurt a.M., am 30.09.2019 in seiner Begrüßungsansprache für die vom Institut für Stadtgeschichte veranstaltete Tagung »Die Frankfurter Paulskirche. Ort der deutschen Demokratie« in Frankfurt a.M. 233 Vgl. Hug, Wolfgang (Hg.): 1848/49. Das ›tolle Jahr‹. Revolution in Deutschland (= Geschichte aus erster Hand 1998,2), Schwalbach 1998, S. 28. 234 Vgl. Müller, Ulrich: »Deutsche, Polen und Tschechen. Nationalitätenkonflikte im Deutschen Bund«, in: Geschichte lernen 11 (1998) 61, S. 36-40.
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Tradition der deutschen Demokratie- und Nationalgeschichte zu verorten. Ein Beispiel dafür, wie diese Thesen quellentechnisch untermauert werden sollten, ist ein Aufsatz des Soziologen Lutz Hoffmann von der Universität Bielefeld aus dem Jahr 1986. Der Autor erklärt hier zunächst: »Die Frankfurter Paulskirchenversammlung hat um dieses Problem in heftigen Diskussionen gerungen. Man löste es schließlich, indem man den Begriff ›Deutschland‹ nicht mehr sprachlich-ethnisch, sondern geographisch-politisch definierte.«235 Diese Ansicht untermauerte er durch Versatzstücke von Paulskirchenreden, wie etwa eine Aussage von Wilhelm Jordan: »Jeder ist Deutscher, der auf deutschem Gebiet wohnt.«236 Auch von Philipp Wilhelm Wernher237 führte er an, »daß als Deutsche alle diejenigen verstanden sind, die in Deutschland wohnen, mögen sie eine Sprache sprechen welche sie wollen«.238 Außerdem verwies Hoffmann, um seine Thesen fachwissenschaftlich zu untermauern, auf eine Aussage des Historikers Ludwig Bergsträsser (DP, später SPD), der schon 1913 erkannt habe: »Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Veraltung, der Rechtspflege.«239 Einer der wenigen Historiker, der dies im Erinnerungsjahr 1998 kritischer sah, war Wolfgang J. Mommsen, der zwar »das erste Minoritätenschutzgesetz« als Leistung anerkannte, aber gleichzeitig zu bedenken gab, dass ein Teil der Paulskirche »die Herrschaft des künftigen deutschen Bundesstaates auf ganz Südosteuropa ausdehnen wollte.«240 Er führte ebenfalls eine Rede von Jordan an, in der es hieß: »Ein
235 Hoffmann, Lutz: »Nichtdeutsche in Deutschland. Die Kontinuität der Ausländerpolitik«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Monatszeitschrift 31 (1986) 9, S. 1091-1101, hier S. 1095. 236 Wigard: Nationalversammlung 1, S. 737. 237 Vgl. Hoffmann gibt als Namen des Abgeordneten »v. Nierstein« an. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Verwechslung von Familiennamen und Wohnort. Der Redner hieß Philipp Wilhelm Wernher, war gebürtig aus Mainz, Wohnhaft in Nierstein und vertrat den Kreis Alsfeld. Ruppel, Hans Georg/Groß, Birgit: Hessische Abgeordnete 1820-1933. Biographische Nachweise für die Landstände des Großherzogtums Hessen (2. Kammer) und den Landtag des Volksstaates Hessen (= Darmstädter Archivschriften, Bd. 5), Darmstadt 1980, S. 268-269. 238 Wigard: Nationalversammlung 1, S. 741. 239 Bergsträsser, Ludwig (Hg.) Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849. Mit Vorentwürfen, Gegenvorschlägen und Modifikationen bis zum Erfurter Parlament (= Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Bd. 114), Bonn 1913, S. 95. 240 Mommsen, Wolfgang J.: »Der Höhepunkt der Revolution: Am 18. Mai 1848 wurde die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eröffnet. Die Idee einer Einheit in Freiheit«, in: Berliner Zeitung vom 16.05.1998.
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großes Volk braucht Raum, um seinen Weltberuf zu erfüllen.«241 Somit lautete das Fazit von Mommsen: »Im Nachhinein ist festzuhalten, daß die Unfähigkeit, die deutsche Frage in befriedigender Weise zu lösen, wesentlich zum Scheitern der Revolution von 1848/49 beigetragen hat, nicht zuletzt wegen der vielfach allzu massiven nationaldeutschen, und zuweilen ausgesprochen imperialistischen Begehrlichkeiten der Akteure, die auf die nationalen Interessen der anderen europäischen Völker nur unzureichend Rücksicht nahmen.«242 Einen wiederum anderen Standpunkt nahm der Journalist Peter Kuntze 2018 in der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit ein, als er die Revolution von 1848 nutzte, um ethnische Homogenität zu fordern. Der Autor erklärte zunächst: »Durch den massenhaften, bis heute unbewältigten Zustrom vorgeblich Asylsuchender aus Vorderasien und Nordafrika hat sich den Deutschen eine neue nationale Frage gestellt, auch wenn sie von manchen als ›nationale Phrase‹ verhöhnt wird.«243 Auch Kuntze untermauerte seine Forderung mit einer Quelle aus der Zeit der Revolutionsjahre 1848/1849. Er verwies auf einen Zeitungsartikel des Journalisten Ferdinand Adolf Gregorovius244 aus der Neuen Königsberger Zeitung vom Februar 1849, wonach »nichts natürlicher« sei, als »daß die Nationen das einfache Prinzip stammlicher und sprachlicher Zusammengehörigkeit zur Voraussetzung des zu erwartenden neuen Staatensystems machten«.245 Es kann festgehalten werden, dass der Minderheitenaspekt zunächst auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle der Juden beschränkt blieb und erst ab den 1990er Jahren auch in Politik und Gesellschaft Berücksichtigung erfuhr. Die zunehmende Präsenz Deutscher mit jüdischem Glauben besitzt jedoch keine feste Narration im Revolutionsgedenken, da zwar das Jahr 1848 mehrheitlich als Emanzipationsjahr gesehen, doch gleichzeitig – wenn auch in geringerem Umgang – auf Ausschreitungen verwiesen wurde. Die Berücksichtigung von ethnischen Minderheiten in der Erinnerungskultur kam schon ab den 1950ern auf, blieb gesellschaftlich und politisch aber auf das linke Spektrum beschränkt. Innerhalb dieses Kreises konnte sich die konstante Interpretation etablieren, dass der Nationalstaat
241 Wigard: Nationalversammlung 2, S. 1160. 242 Mommsen, Wolfgang J.: »›Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis …‹ Die Deutsche Frage in der Revolution von 1848/49«, in: Das Parlament vom 16.01.1998. 243 Kuntze, Peter: »Deutschlands neue nationale Frage. Kampf um die Herkunft«, in: Junge Freiheit vom 22.06.2018. 244 Vgl. Fugger, Dominik/Lorek, Karsten (Hg.): Ferdinand Gregorovius. Europa und die Revolution. Leitartikel 1848-1850, München 2017. 245 Gregorovius, Ferdinand: »Der Nationalismus«, in: Neue Königsberger Zeitung vom 13.02.1849.
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nicht mehr ethnisch oder sprachlich, sondern politisch-geographisch als Rechtsraum zu verstehen sei. Pluralismus wurde somit als Tradition in der deutschen Demokratie- und Nationalgeschichte verortet. Diese Form der Erinnerung konnte sich jedoch nicht im bürgerlichen Lager durchsetzen, zudem wird im rechtskonservativen Lager mit Verweis auf 1848 eine gegenteilige Position vertreten. In der Bundesrepublik bestand also noch kein Konsens darüber, ob sich Deutschland historisch-politisch gesehen als Einwanderungsland verorten solle. Während im linken Spektrum dies immer stärker vertreten wurde, schwiegen sich Teile der Mitte aus, während sich rechtskonservative Kräfte dagegen verwahrten. Somit konnte sich dieser Punkt noch nicht als Mythoskern etablieren, wenn er auch in der Intensität seit der Nachkriegszeit immer häufiger anzutreffen ist und daher wohl Entwicklungspotential besitzt.
6.
Fazit
Die vorangegangenen Ausführungen haben zunächst bestätigt, dass seit 1945 alle politischen Parteien eine Tradition von den Revolutionsjahren 1848/1849 zur Bundesrepublik beziehungsweise nach dem Mauerfall zum wiedervereinigten Deutschland konstruiert haben. Eine zeitliche Analyse der Artikel und Reden zu den Ereignissen von 1848/1849 ergibt zwar zunächst, dass keine gleichbleibende Intensität, sondern eine Kumulierung von Erinnerungswellen zu runden Jubiläen vorliegt. Doch lässt sich auch bei Äußerungen in Gesellschaft, Politik und letztlich auch der Wissenschaft jenseits der Jahrestage eine Kohärenz thematischer Fixpunkte in der bundesdeutschen Erinnerungskultur an die Revolution feststellen. Von den hier untersuchten Aspekten waren reziprok zueinander stehende lokale und europäische Verortungen ein fixer Kern. Während die Ereignisse von 1848 in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch historische Projektionsfläche einer Verbindung in erster Linie zu Westeuropa waren, gelten sie mittlerweile als Moment der Einbindung Deutschlands in die Mitte des Kontinents sowie als Mahnung, die erreichte Europäische Union zu wahren und auszubauen. Die Vorreiterrolle für die Revolution und für die Westanbindung, die sich allen voran Südwestdeutschland, die Pfalz und das Rheinland zuschreiben, bildet eine Konstante, die jedoch 1998 im Gegensatz zu 1948 nicht mehr mit vorgeblichen Volkseigenschaften, sondern mit dem Einfluss französischer Rechtsauffassungen begründet wurde. Die Interpretation der Rolle Österreichs durchlief jedoch in der Erinnerung seit dem Zweiten Weltkrieg einen so starken Wandel, dass eine feste Narration nicht festgestellt werden kann. Waren nach 1945 in der Tradition von 1848 zunächst noch die Grenzfragen nach Osten und peripher auch nach Südosten offen, wurde dies bald auf das Staatsgebiet von 1937 fokussiert und schließlich nur mehr auf die Terri-
Von Großdeutschland zu Gesamtdeutschland?
torien der beiden deutschen Staaten beschränkt. Die ursprüngliche Verfolgung der großdeutschen Lösung durch die Paulskirche wird in der Erinnerung mittlerweile weitgehend als Irrweg abgelehnt. Der immer noch verwendete Begriff »Gesamtdeutschland« wurde damit vom einstigen Einschluss Österreichs zunächst auf die kleindeutschen Grenzen und schließlich auf das Staatsgebiet von 1990 angewandt. Die Erinnerung an die deutschen Juden besitzt zwar einen breiten und im Vergleich zur Nachkriegszeit immer umfänglicheren Konsens in Gesellschaft, Politik und Wissenschaften. Doch bleiben auch hier die divergenten Positionen, nach denen die Revolution entweder als Impuls der Emanzipation oder des Antisemitismus gesehen wird. Die Erinnerung an weitere Minderheiten ist ebenfalls noch in der Peripherie des Mythos zu verorten, wenn sie auch bei den Befürwortern einer multiethnischen Gesellschaft an Bedeutung gewinnt und eine Ablehnung nur mehr in extreme Randgruppen anzutreffen ist. Somit ist in der Gesamtbetrachtung die Voraussetzung einer dynamischen Peripherie gegeben, wodurch in Kombination mit dem festen Kern von einem intakten Mythos bei der Verortung der deutschen Demokratie in Europa ausgegangen werden kann. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht muss jedoch auch die kritische Bilanz gezogen werden, dass das Geschichtsbild in der Bundesrepublik dabei stark vom Zeitgeist geprägt wurde und wird. Denn unter anderem der Politikwissenschaftler und Soziologe Eugen Kogon hat schon 1974 korrekt bemerkt: »Nicht einmal ideell führt der Weg geradlinig von der Paulskirchenversammlung zu uns. Sie hat den liberalen Rechtsstaat und den national-monarchischen Machtstaat zugleich proklamiert.«246 Es ist eine Aufgabe zukünftiger Forschung, die bereits in Vorbereitung befindlichen Feierlichkeiten des 175. Jubiläums zu untersuchen. Dabei wird auch zu betrachten sein, welche Aspekte der politisch-geographischen Verortung und damit deutschen Identitätskonstruktionen weiter tradiert werden beziehungsweise welcher Teil des Mythos neu gewichtet wird.
246 Kogon, Eugen: »Rückblick auf 1848«, in: Heinrich Böll/Helmut Gollwitzer/Carlo Schmid (Hg.): Anstoß und Ermutigung. Gustav W. Heinemann, Bundespräsident 1969-1974, Frankfurt a.M. 1974, S. 68-87, hier S. 69.
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Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland Migration und politische Geographien von 1945 bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts Stephanie Zloch
Die gegenwärtige sozial- und kulturwissenschaftliche Migrationsforschung hat sich in ihrer großen Mehrheit einer Kritik der herrschenden Verhältnisse verschrieben. Zu ihren epistemischen Praktiken gehört es, Begriffe zu prägen und im öffentlichen Diskurs durchzusetzen, Merksätze zu formulieren (»Migration ist der Normalfall«), counter-narratives zu entwickeln und auch eine enge Verbindung zu aktivistischem Engagement zu akzeptieren. Der Geduldsfaden mit der Politik, den Institutionen, mitunter auch mit der »Mehrheitsgesellschaft«, ist zum Zerreißen gespannt oder sogar schon gerissen und es steht außer Frage, dass es hierzu berechtigten Anlass gibt, wenn man sich etwa historisch die Asylpolitik1 oder die von Anfang an sachlich unzutreffende Aussage »Deutschland ist kein Einwanderungsland« ansieht, die wohl eher als eine politische Beschwörungsformel aufzufassen ist. Die Problematiken einer normativ geleiteten Migrationsforschung sehen ihre führenden Vertreter durchaus und reflektieren ausführlich das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Anforderungen an Distanz und Differenzierung einerseits und der politischen Präferenz für Eindeutigkeit und Engagement andererseits.2 Zu weiten Teilen verläuft diese Auseinandersetzung im Rahmen theoretischer und disziplinärer Abgrenzungsversuche innerhalb des aktuellen Feldes der Migrationsforschung. Historische Erkundungsprojekte zu Migrationsprozessen sind hingegen nicht präsent oder werden allenfalls auf die »Ausländer-
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Vgl. Poutrus, Patrice G.: Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis in die Gegenwart, Berlin 2019. Vgl. Mecheril, Paul/Thomas-Olalde, Oscar/Melter, Claus/Arens, Susanne/Romaner, Elisabeth: »Migrationsforschung als Kritik? Erkundung eines epistemischen Anliegens in 57 Schritten«, in: Dies. (Hg.): Migrationsforschung als Kritik? Konturen einer Forschungsperspektive, Wiesbaden 2013, S. 7-55.
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Stephanie Zloch
und Gastarbeiterforschung« der 1970er Jahre zurückgeführt, die gemeinhin als Negativfolie ohne nachhaltigen Erkenntniswert fungiert. Das Bewusstsein dafür, dass Migrationsforschung zeitlich nicht nur deutlich früher ansetzt, sondern auch den von ihr untersuchten Gegenstand oft erst (mit-)konstituiert und dabei stetigem historischem Wandel unterliegt, steckt noch in den Anfängen.3 In diesem Beitrag soll mit Raumvorstellungen und den darauf gründenden politischen Geographien für die Zeit von 1945 bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland eine der zentralen epistemischen Grundlagen in der Betrachtung von Migrationsprozessen näher ausgeleuchtet werden. Raumvorstellungen sind deshalb so zentral, weil Migration stets einen Ortswechsel bedeutet. Dies ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Migrationsforschung angesichts einer Vielzahl von Definitionsversuchen einigen kann. Doch schon die Frage, was aus einem Ortswechsel folgt, öffnet ein weites Feld an Erkenntnisinteressen und Untersuchungsansätzen. Zunächst hat ein Ortswechsel ganz praktische, materielle Bedeutung für die unmittelbar Betroffenen, die sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden und orientieren müssen. Zu einer solchen Orientierungsleistung gehört aber bereits eine kognitiv-reflexive Ebene, die den Ortswechsel in größere individualbiographische und gruppenspezifische erinnerungskulturelle Verarbeitungsprozesse einbettet. Räumliche Bezugspunkte und Raumvorstellungen helfen in diesen Fällen, Narrative zu entwickeln und zu strukturieren. Aus dem Ortswechsel wird so eine Ver-Ortung. Daraus ergeben sich schließlich, insbesondere wenn eine größere Bevölkerungsgruppe davon betroffen ist, immer wieder Anstöße zu politischen Imaginationen. Historische Debatten zeigen, wie strittig und zugleich assoziationsreich das Verhältnis von Raum und Bevölkerung seit dem Einsetzen von Territorialisierungsbestrebungen in der Frühen Neuzeit verhandelt wurde,4 und sie weisen über den Kreis der Migrantinnen
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Vgl. Möhring, Maren: »Jenseits des Integrationsparadigmas? Aktuelle Konzepte und Ansätze in der Migrationsforschung«, in: AfS 58 (2018), S. 305-330, hier S. 305. In diesem Bereich sind zwei aktuelle Forschungsvorhaben anzusiedeln, zum einen die interdisziplinäre Nachwuchsgruppe »Die wissenschaftliche Produktion von Wissen über Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, zum anderen, von der Verfasserin dieses Beitrags, die geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift zu Migrationswissen, die in der Leibniz-Wettbewerb-Gruppe »Migration und Bildung in Deutschland seit 1945« am Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig, ihren Ausgang genommen hat. Vgl. Jureit, Ulrike: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 7. Zum Territorialitätskonzept: Vgl. Maier, Charles S.: »Transformations of Territoriality, 1600-2000«, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 32-55.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
und Migranten hinaus auf ein großes gesamtgesellschaftliches Interesse. Auf diese Ebene konzentriert sich der vorliegende Beitrag. Er zeigt den gewichtigen Einfluss von Migrationsprozessen auf politische und gesellschaftliche Zeitdiagnosen, Selbstbeschreibungen und Identitätskonstruktionen, für die, insoweit räumliche Bezugnahmen eine wesentliche Rolle spielen, zusammenfassend der Begriff der politischen Geographien Verwendung finden kann. Das Interesse an politischen Geographien hat in jüngerer Zeit erneut zugenommen, wie sich nicht nur an deren Bearbeitung im Rahmen des spatial turn in Geschichts- und Kulturwissenschaften zeigt, sondern, über den engeren akademischen Bereich hinaus, auch im öffentlichen Räsonieren über Herausforderungen und Gefahren des Globalisierungsprozesses. Auch wenn jüngst Bedenken angemeldet wurden, ob sich der Begriff der »Globalisierung« als Epochensignum eigne,5 so hat doch die verbreitete Wahrnehmung, in einer global condition zu leben, auch die Wahrnehmung des Phänomens Migration verändert. Demnach gehört die hohe und oft grenzüberschreitende Mobilität von Menschen »zu den Basisprozessen einer Weltgeschichte, die sich über Interaktionen und Zirkulation definiert«6 und die Erforschung von Migration gilt als Schlüssel zur Erkundung transnationaler und globaler Konstellationen von Raum, Zeit, Wissen und Gesellschaft. Wenn nun für die Bundesrepublik Deutschland die beiden Hauptherkunftsrichtungen der Migrationsbewegungen, der »Osten« und der »Süden«, in den Vordergrund der Analyse rücken, dann handelt es sich nicht nur um den Vergleich zweier räumlicher Konstrukte, wie es schon seit längerem zum methodischen Instrumentarium der politischen Ideengeschichte gehört, sondern zugleich um die Frage nach der durchaus komplexen und widerspruchsvollen Genealogie von Verflechtungsannahmen. Denn nur auf den ersten Blick stellen die beiden Konstrukte ein »Äußeres« und ein »Anderes« dar, von dem sich die Bundesrepublik als Zielund Aufnahmeland abgrenzen konnte. Es wird vielmehr zu zeigen sein, auf welchen Wegen das vermeintlich »Äußere« der Migration und der Herkunftsregionen der Migrantinnen und Migranten eine diskursive Verlagerung in das »Eigene« des bundesrepublikanischen gesellschaftlichen Selbstverständnisses erfuhr: Wie kam »die Welt« nach Deutschland und in die (bundes-)deutsche Gesellschaft? Zeithistorisch korreliert eine solche Neujustierung politischer Geographien mit der allmählichen, aber keineswegs konfliktfreien Selbst-Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland. Die Frage nach dem Wandel politischer Geographien durch Migrationsprozesse stützt sich auf die Erkenntnis, dass Räume keine objektiv bestimmbaren Größen
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Mit einem Plädoyer für die Historisierung des Globalisierungsdiskurses: Vgl. Eckel, Jan: »Alles hängt mit allem zusammen. Zur Historisierung des Globalisierungsdiskurses der 1990er und 2000er Jahre«, in: HZ 307 (2018), S. 42-78. Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 212.
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sind, sondern soziale Konstruktionen, die durch Wahrnehmungen, Diskurse, Narrative, Repräsentationen, Bilder, Praktiken und Nutzungen konstituiert werden.7 Ein zuletzt stark beachtetes Angebot der raumtheoretischen Operationalisierung stammt von Henri Lefebvre, wonach die Produktion von Räumen über das beständige symbolische, diskursive und performative Herstellen von räumlichen Bezügen erfolgt und auf diese Weise eine Dreiheit von »wahrgenommenen«, »konzipierten« und »erlebten« Räumen konstituiert.8 Die mitunter etwas spröde und schwierig unterscheidbare Begrifflichkeit der Raumrepräsentation oder der Repräsentationsräume bei Lefebvre hat allerdings in der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur eine starke Konkurrenz in dem wegen seiner Alliteration und Bildhaftigkeit gerne verwendeten Begriff der mental maps. Dieses erstmals in den 1960er Jahren in Geographie und Stadtplanung erprobte Konzept geht davon aus, die Wahrnehmung von Räumen, konkret verstanden als die erlernten bzw. eingeübten Erkennungsmuster und Markierungen der alltäglichen Umwelt, zu erkunden.9 Es hat sich seither als höchst wandelbar und anschlussfähig erwiesen: »Mental maps were part of a broader movement in environmental perception, which in turn has elided into an interest in the representation and social construction of places in a variety of disciplines using less positivist methods and emphasizing social rather than psychological factors.«10 Mental maps sind nicht frei von Missverständnissen und Kritik geblieben. Längst nicht alle Forscher haben den Wandel von einem behavioristischen zu einem konstruktivistischen Konzept goutiert, und ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Kartenmetapher, da nicht alle für Raumvorstellungen konstitutive Komponenten wie Konnektivität, Distanz oder Lage zwangsläufig in ein festes räumliches Koordinatensystem, wie sie eine Karte repräsentiert, eingezogen sein müssen.11 Aus diesem Grund ist das Konzept der mental maps nicht als Synonym für politische Geo7 8
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Für einen konzisen Überblick: Vgl. Rau, Susanne: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt 2013. Lefebvre, Henri: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2006, S. 330340. Vgl. Downs, Roger M./Stea, David: Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982; vgl. Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern/Stuttgart/Wien 2000, S. 265-303. Ley, David: »Mental maps/Cognitive maps«, in: Derek Gregory et al. (Hg.): The Dictionary of Human Geography, Chichester 52009, S. 455; zur Adaption für die Geschichtswissenschaft: Vgl. Schenk, Benjamin Frithjof: »Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung«, in: GG 28 (2002), S. 493-514. Vgl. Weichhart, Peter: Entwicklungslinien der Sozialgeographie: Von Hans Bobek bis Benno Werlen, Stuttgart 2008, S. 208, 210.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
graphien, sondern eher als einer ihrer Bausteine zu sehen, der insbesondere auf topographische, anhand von Karten erlernter bzw. eingeübter räumlicher Erkennungsweisen abstellt. Damit stehen mental maps für die Produktion von Räumen im Sinne Lefebvres gleichberechtigt neben weiteren Zugängen, von denen noch die Überlegungen Michel de Certeaus zu Benennungspraktiken und zur sprachlichen Organisation von Orten und räumlichen Strukturen hervorgehoben werden sollten,12 da sie eine Sichtbarmachung von politischen Geographien über die Analyse von schriftlichen Texten ermöglichen. Den intensiven theoretischen Bemühungen um den Raum steht gegenüber, dass im Alltagsverständnis Raumvorstellungen selten hinterfragt werden. Raumvorstellungen gelten gemeinhin als notwendiges »Orientierungswissen«, und Karten, Graphiken sowie Bilder vermitteln dies in vermeintlich autoritativer Form. Von diesem Verständnis geprägt sind auch die im Folgenden untersuchten Quellen, die wichtige Zirkulationswege von Raumvorstellungen in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 darstellen: die politische Publizistik sowie die mit Migrationsfragen befasste sozial- und politikwissenschaftliche Forschung. Inhaltlich verteilt sich die Auswahl auf Debattenbeiträge sowohl mit einer außenpolitischen Agenda, etwa zum Standort Deutschlands in der Welt oder zur Zukunft Europas, als auch mit einem Fokus auf den inneren, demographischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik. In formaler Hinsicht flossen Auflagenhöhe, Bekanntheitsgrad der Autorinnen und Autoren sowie eine nachweisliche Rezeption (etwa durch Zitationen oder Empfehlungen als Schullektüre) in die Auswahl ein. Schließlich ist es aufschlussreich, einen genaueren Blick zu richten auf die einzelnen Autorinnen und Autoren, auf die Entstehungszusammenhänge ihrer Texte und auf die jeweiligen biographischen Erfahrungen, die sie in Bezug auf Migration hatten – oder auch nicht. In den wenigsten dieser Quellen sind politische Geographien umfassend ausformuliert, aber gerade wegen dieser Nicht-Intentionalität können sie einen ungefilterten Einblick in die Konstruktion und Persistenz von Raumvorstellungen bieten. Die hier vorgestellte These lautet, dass solche oft beiläufig präsentierten Raumvorstellungen mitunter quer zu den gesellschafts- und außenpolitischen Hauptbotschaften eines Textes stehen und die Erkenntnisse in Publizistik und Forschung zum Phänomen Migration somit widersprüchlicher und zeitgebundener sind, als dies den so oft in Anspruch genommenen Zielen der politischen Eindeutigkeit, Beweiskraft und Handlungsanleitung entspricht.
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Vgl. Certeau, Michel de: »Spatial Stories«, in: Ders.: The Practice of Everyday Life, Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 115-130.
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Vom »Osten« und »Süden« auf dem Weg nach dem »Westen«? Die beiden Nachkriegsjahrzehnte der Bundesrepublik
Flucht und Vertreibung der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg sind mittlerweile intensiv mit Blick auf die erinnerungskulturellen Auswirkungen untersucht worden.13 Dabei hat die historische Forschung vielfach betont, in welch hohem Maße Raumvorstellungen aus der Vorkriegszeit und geopolitische Ideen von der zivilisatorischen Mission Deutschlands im Osten Europas konserviert wurden.14 Die politische Implikation lautet, dass diese Raumvorstellungen quer zu zeitgenössischen und durchaus idealisierten gesellschaftlichen Selbstverständnissen verliefen, wie sie in der »Westernisierung« ihren prominenten Ausdruck fanden, und dass sie der politisch erwünschten Umdeutung und Verschiebung der politischen Geographie der jungen Bundesrepublik nach Westeuropa und Nordamerika hin15 einen kognitiven Widerstand entgegensetzten. Dieser Befund ist maßgeblich auf der Grundlage von Veröffentlichungen und Veranstaltungen der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften, der »Ostforschung« und »Ostkunde« erhoben worden. Er ist nicht grundsätzlich zu revidieren, aber doch zu erweitern. In einer Reihe von publizistischen und wissenschaftlichen Texten der 1950er Jahre wird nämlich auch die Tendenz ersichtlich, Flucht und Vertreibung mitsamt ihren Auswirkungen in die räumlich-politische Imagination des »Westens« einzuschreiben. Eine der ersten Stimmen kam von Marion Gräfin Dönhoff, was keineswegs so selbstverständlich war, wie es heute, in Kenntnis ihres langjährigen publizistischen Wirkens für ein westlich orientiertes und liberales Deutschland, den Anschein haben mag. Dönhoff war 1944 aus Ostpreußen geflüchtet, unter reichlich ungewöhnlichen Umständen, wie sie selbst und ihre Biographen es wiederholt ausgiebig schilderten: durch einen langen Ritt auf ihrem Pferd Alarich. Auch wenn der eigentliche Vorgang der Flucht als eine Art selbstbestimmtes Abenteuer erzählt werden konnte, so fiel doch die politische Verarbeitung der Migrationserfahrung alles andere als leicht, wie frühe publizistische Texte zeigen.16
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Vgl. Scholz, Stephan/Röger, Maren/Niven, Bill (Hg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn u.a. 2015. Vgl. Thum, Gregor: »Mythische Landschaften. Das Bild vom ›deutschen Osten‹ und die Zäsuren des 20. Jahrhunderts«, in: Ders. (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 181-210; vgl. Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn u.a. 2010. Vgl. Trautsch, Jasper: »Von der ,Mitte‹ in den ,Westen‹ Europas. Die räumliche Neuverortung Deutschlands auf den kognitiven Landkarten nach 1945«, in: ZfG 63 (2015), S. 647-665, hier S. 649, 656-665. Vgl. Dönhoff, Marion Gräfin: Weit ist der Weg nach Osten. Berichte und Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten, Stuttgart 1985, insb. S. 17-23.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
Seit 1946 arbeitete Dönhoff für die Zeit, die sich in dieser Phase stark national profilierte und die westlichen Alliierten wiederholt massiver Kritik unterzog – für die Nürnberger »Siegerjustiz« ebenso wie für die Entscheidungen auf der Potsdamer Konferenz 1945.17 Auch wenn Dönhoff nicht den sich organisierenden Vertriebenenverbänden angehörte, so trat sie in ihrer journalistischen Tätigkeit damals nicht als die Anwältin der Westintegration und Westbindung auf, als die sie seit den späten 1950er Jahren bekannt geworden ist. Umso bemerkenswerter ist ihr Text aus dem Jahre 1951. Anknüpfungspunkt war der Bericht einer amerikanischen Kommission zur Beratung der Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage, die unter dem Vorsitz des dänisch-amerikanischen Bankiers Hans Christian Sonne stand. Dönhoff lobte den so genannten »Sonne-Bericht« als einen Paradigmenwechsel: »Zum erstenmal ist klar herausgearbeitet, daß das Schicksal Deutschlands mit der Lösung der Flüchtlingsfrage untrennbar verknüpft ist, die damit zu einem Anliegen des Westens geworden ist. Sie kann nur in gemeinsamer Arbeit mit der westlichen Welt gelöst werden, und sie ist vom Standpunkt der westlichen Verteidigung wichtiger und vordringlicher als direkte Wehrbeiträge Deutschlands«.18 Eine räumliche Einschreibung in den »Westen« mag bei einer kritischen, in Fragen wie der Wiederbewaffnung in Opposition zur Bundesregierung stehenden Journalistin weniger überraschen als bei amtlichen Publikationen des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, das von seinen vielen Kritikern in Historiographie und zeitgenössischer Publizistik als zumindest gestrig und völlig eingefangen im gedanklichen Horizont des »Ostens« verortet wurde. In einer 1952, in der Amtszeit des ehemaligen Zentrumspolitikers und 1933 als Oberpräsident von Oberschlesien entlassenen Hans Lukaschek veröffentlichten Informationsbroschüre wurden Verbindungen zum »Westen« mit zum Teil frappierenden Vergleichen im Kartenbild konstruiert. So wurde die Zahl der Heimatvertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der Flüchtlinge aus der DDR, damals mit 9,6 Millionen Menschen beziffert, zur Bevölkerungszahl von Dänemark und der Schweiz einerseits und von Australien andererseits in Bezug gesetzt. Bei der Wahl der Vergleichsländer konnte kaum die Größenordnung ausschlaggebend gewesen sein, da Dänemark und die Schweiz, zwei einander nicht benachbarte oder sonst enger verbundene Länder zusammengerechnet werden
17
18
Vgl. Schildt, Axel: »Immer mit der Zeit. Der Weg der Wochenzeitung DIE ZEIT durch die Bonner Republik – eine Skizze«, in: Christian Haase/Axel Schildt (Hg.): DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 9-27, hier S. 19-20. Dönhoff, Marion Gräfin: »Sechsjahresplan für die Flüchtlinge«, in: Dies.: Im Wartesaal der Geschichte. Vom Kalten Krieg zur Wiedervereinigung. Beiträge und Kommentare aus fünf Jahrzehnten, Stuttgart 1993, S. 53-56, hier S. 55-56.
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mussten, um einen halbwegs passenden Zahlenwert zu erreichen. Der subtile Effekt war jedoch, dass die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in einer Reihung mit Dänen, Schweizern und Australiern gezeigt wurden und somit nicht als Menschen aus dem »Osten«, als die sie in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft immer wieder geringschätzig betrachtet wurden,19 sondern als ein Bevölkerungsteil der westlichen Welt. Diese Aussage erfuhr zusätzliche Verstärkung, indem auf einer anderen Karte erneut Australien als Referenz herangezogen wurde, um zu zeigen, dass eine größere Bevölkerung als diejenige Australiens im flächenmäßig viel kleineren Westdeutschland nach Arbeit und Wohnung suchen musste. Kartographisch wurden dabei die Fläche Deutschlands und Australiens nicht einfach nebeneinander gestellt, vielmehr erweckten zwei die Landmasse Australiens umrundende Pfeile, die auf Deutschland wiesen, die Vorstellung, dass hier auch eine wie auch immer geartete inhaltliche Verbindung bestehe.
Abbildungen 1 +2
Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg.): Tatsachen zum deutschen Vertriebenenproblem: 1952, Bonn 1952, Tafel 4+4a.
Mit umfassender wissenschaftlicher Autorität konnte die in den späten 1950er Jahren erschienene dreibändige Zwischenbilanz zu den »Vertriebenen in Westdeutschland« neue Deutungslinien setzen. Herausgegeben wurden die »Vertriebenen in Westdeutschland« von Eugen Lemberg und Friedrich Edding, zwei Profes19
Vgl. Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 22009.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
soren an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt: der eine, Lemberg, mit Migrationserfahrung, aus der Tschechoslowakei kommend, der andere, Edding, gebürtiger Norddeutscher aus Kiel. Eine Einschreibung in den »Westen« fand bereits dadurch statt, dass die Herausgeber in ihren einleitenden Worten das Erfolgsnarrativ von der gelungenen Integration der Vertriebenen in die Bundesrepublik anlegten.20 Dieses Narrativ zog sich dann durch eine Vielzahl der Beiträge. Nach dem Dafürhalten des Historikers Gotthold Rhode, eines der führenden bundesrepublikanischen »Ostforschers«, der vor dem Zweiten Weltkrieg der deutschen Minderheit in Polen angehört hatte und 1945 aus Breslau geflohen war, eignete sich die chronologisch jüngste Fluchtbewegung aus dem »Osten«, die zahlreiche Übersiedlung aus der DDR, allerdings noch weitaus besser, um die Bundesrepublik mit dem »Westen« zu verbinden. Während die einmalige Katastrophe der »Massenvertreibungen mit völligem Besitzverlust […] dem Westeuropäer wie dem Amerikaner in ihrem ganzen Ausmaß unvorstellbar« bleiben müsse, gelte dies nicht für die Flucht aus der SBZ: »Diese war dem Westeuropäer wie dem Amerikaner weit eher vorstellbar, weil er ähnliche Erscheinungen aus der Geschichte und aus der eigenen Erfahrung kannte: die Flucht vor einem unerträglich gewordenen politischen Regime und aus den von diesem geschaffenen Lebensverhältnissen, eine politische Emigration also, für die jeder einzelne den eigenen Entschluß fassen muß«.21 Solche Äußerungen, auch und gerade von Wissenschaftlern und Publizisten, die Flucht und Vertreibungen am eigenen Leib erlebt hatten und somit nach heutiger Diktion als Stimme von Migranten gelten konnten, zeugten zweifellos von der Attraktivität des »Westens«, der eben kaum konsequent Widerstände entgegengestellt wurden, auch nicht im Milieu der »Ostforscher« und »Ostkundler«. Die Frage, die politische Ideenhistoriker bis heute umtreibt, nämlich, welcher »Westen« in den 1950er Jahren vorgestellt wurde, eher ein »Westen« des »europäisches Abendlandes« oder doch ein um Nordamerika erweiterter »Westen«, ist für die hier vorgestellten Texte mit einer klaren Tendenz zu beantworten: Viele Vertriebene zeigten sich aufgeschlossen gegenüber einem transatlantischen »Westen«. Vor dem Hintergrund einer ostdeutschen Sozialisation relativierte sich nicht nur der Faktor der Nähe zu den großen Nachbarn Westdeutschlands, zu Frankreich oder
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21
Vgl. Lemberg, Eugen/Edding, Friedrich: »Einführung«, in: Dies. (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Bd. 1, Kiel 1959, S. 1-7, hier S. 1-2. Rhode, Gotthold: »Phasen und Formen der Massenzwangswanderung in Europa«, in: Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Bd. 1, Kiel 1959, S. 1736, hier S. 17.
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– über die Nordsee hinweg – zu Großbritannien, vielmehr war auch nicht zu vernachlässigen, dass die USA und Kanada noch in den 1950er Jahren wichtige Zielländer für Auswanderer aus der Bundesrepublik darstellten, unter denen Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten überproportional vertreten waren. Interessanter ist vielmehr die Frage, ob es in der Darstellung der Migrationsprozesse der Nachkriegszeit Alternativen sowohl zur Einschreibung in den »Westen« als auch zum Topos des »verlorenen Ostens« gab. Der Bevölkerungswissenschaftler und Mitbegründer von Pro Familia, Hans Harmsen, der seine wissenschaftliche Karriere vor 1945 auf dem Gebiet der Eugenik und Rassenhygiene vorangetrieben hatte, veröffentlichte 1958 »Ergebnisse einer sozialbiologischen Strukturanalyse« heimatloser Ausländer und anderer Migrantinnen und Migranten, die noch in verschiedenen Lagern und Übergangssiedlungen in der Bundesrepublik lebten, darunter auch die noch rund 100.000 verbliebenen Displaced Persons. Harmsen stellte sie als »Überlebende eines untergegangenen Europas«, aus dem »zwischeneuropäischen Raum«, in dem nach dem Ersten Weltkrieg eine große Zahl neuer Nationalstaaten entstanden war, vor.22 Damit verband Harmsen das Konstrukt des »verlorenen Ostens« mit dem in der Vorkriegszeit virulenten politischen Schlagwort »Zwischeneuropa«, das wiederum auf älteren imperialen Raumvorstellungen des »langen« 19. Jahrhunderts aufsetzte, als die angesprochene Region noch von den Großmächten Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland beherrscht war. Weiter in die Richtung einer universellen Perspektive gingen Eugen Lemberg und Friedrich Edding, die in den »Vertriebenen in Westdeutschland« eine »Schicksalsgemeinschaft« konstruierten, die die Vertriebenen mit »anderen Gruppen von Flüchtlingen, Vertriebenen, Mißhandelten und Getöteten« verband: »Es sind Deutsche auch aus dem Westen und aus überseeischen Ländern, es sind Angehörige zahlreicher anderer, vom Nationalsozialismus oder von der Sowjetmacht zu Zwangsarbeit verschleppter, in Lager gesperrter Bevölkerungen, Vertriebene, Verbannte, Auseinandergerissene, Deportierte, vom Nationalismus erwachender Völker Verjagte; es sind die verschleppten und getöteten Juden.«23 Aus heutiger Sicht erscheint diese heterogene Reihung von Opfergruppen historisch sehr fragwürdig, wenn nicht gar unangemessen, da sie die unterschiedlichen historischen Ursachen und Verantwortlichkeiten bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
22
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Harmsen, Hans: Die Integration heimatloser Ausländer und nichtdeutscher Flüchtlinge in Westdeutschland. Ergebnisse einer sozialbiologischen Strukturanalyse der 1954/1955 noch in Lagern, Wohnheimen und Wohnsiedlungen sowie in Heimen und Krankenhäusern erfassten 53642 nichtdeutschen Flüchtlinge, Augsburg 1958, S. 15-16. Lemberg/Edding: Einführung, S. 7.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
Eine andere Möglichkeit bestand in einer die deutschen Grenzen überschreitenden Befassung mit dem »Weltflüchtlingsproblem«. Dafür stand, ebenfalls in den »Vertriebenen in Westdeutschland«, ein Aufsatz des Geographen Herbert Schlenger, der aus Niederschlesien stammte, in Breslau ein enger Mitarbeiter Hermann Aubins war und mittlerweile in Kiel lehrte. Schlenger imaginierte eine »eurasische« bzw. »eurafrasische Schütterzone«, »die Europa von Norden nach Süden durchschneidet und in einem breiten Band die verhältnismäßig unverändert gebliebenen Kernräume West- und Osteuropas voneinander trennt. Ihre Fortsetzung umgürtet den mächtigen Festlandblock Asien im Westen, Süden und Osten. Von ihr hat sich in den letzten Jahren eine Wachstumsspitze durch Nordafrika bis fast zum Atlantik entwickelt. Sie bringt den Nordsaum des sonst verhältnismäßig stabil gebliebenen Schwarzen Kontinents in Bewegung. […] Diese eurafrasische Schütterzone wurde in den letzten zwei Jahrzehnten zum Quellraum umfangreicher, geordneter und ungeordneter Bevölkerungsverschiebungen«.24 Diese »Schütterzone« sei sowohl durch die Niederlage der Achsenmächte und das Erstarken der Sowjetunion als auch durch die Dekolonialisierung verursacht. Deutschland stehe in diesen weltpolitischen Prozessen anhaltend an herausgehobener Stelle: »Ein von der Öffentlichkeit fast unbemerkt fließender Dauerstrom von Abwanderern ist an allen solchen noch nicht zur Ruhe gekommenen Stellen, wie etwa in Berlin, an der österreichisch-jugoslawischen Grenze, an Indiens Teilungsgrenze oder in Hongkong der überzeugende Beweis für das Fortbestehen von Spannungen im politischen Leben der Staaten und Völker und das Nochvorhandensein und Weiterwirken aller jener Ursachen, die einmal große Bevölkerungsmassen mit urtümlicher Gewalt in Bewegung gesetzt haben und es jeder Zeit wieder können.«25 Ein typischer, repräsentativer Ort für die »eurasische Schütterzone« sei das Lager, »das zu einer Dauersiedlungsform für Hunderttausende von bodenentwurzelten Menschen geworden ist, in Deutschland, der arabischen Welt und in Ostasien.«26 Abgesehen von der durch keinerlei Zweifel berührten Denk- und Ausdrucksweise der Geopolitik der Vorkriegszeit ist an diesem Aufsatz bemerkenswert, dass er die deutsche Erfahrung mit Flucht und Vertreibung mit dem zeitgenössischen Prozess der Dekolonialisierung in Zusammenhang brachte. Dabei richtete sich die
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Schlenger, Herbert: »Das Weltflüchtlingsproblem«, in: Eugen Lemberg/Friedrich Edding (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Bd. 1, Kiel 1959, S. 36-60, hier S. 37-38. Ebd., S. 37. Ebd., S. 60.
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Perspektive allerdings noch zu stark auf einen asiatischen »Osten« bzw. den so genannten »Nahen Osten«, als dass hier schon ein vorläufiger Gedanke an einen »globalen Süden« erkennbar gewesen wäre. Die Arbeitsmigration setzte in formaler Hinsicht seit Mitte der 1950er Jahre ein, zunächst mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1955, dem dann in den folgenden Jahren vergleichbare Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei und weiteren Ländern vor allem des Mittelmeerraums folgten. In den zeitgenössischen Betrachtungen derjenigen Publizisten und Wissenschaftler, die sich zu Migrationsfragen oder zur politischen Geographie der Bundesrepublik äußerten und überproportional häufig selbst aus dem Kreise der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen stammten, spielten sie als Vergleichsoder Referenzpunkt lange Zeit jedoch keine Rolle. Dagegen gerieten, zeitlich nahezu parallel zur Arbeitsmigration, mit dem neu entstehenden Massentourismus über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus27 und mit der Etablierung ausländischer Gastronomiebetriebe28 zwei alltagsgeschichtliche Umstände zu bedeutsamen Antriebsfaktoren dafür, dass sich die politisch-räumlichen Imaginationen in der Bundesrepublik stärker nach »Süden« aufspannten. Auf die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik blickten zu einem frühen Zeitpunkt zwei Wissenschaftler, deren eigene Lebensverläufe in hohem Maße transnational geprägt waren. Der Politologe und Journalist Klaus Mehnert war in Moskau geboren worden, aber mit seiner Familie bereits im Gefolge der Russischen Revolution nach Deutschland gekommen und in Stuttgart aufgewachsen. Als Wissenschaftler und Auslandskorrespondent lebte er jeweils mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion und in China, bevor er sich 1946 wieder in Deutschland niederließ. Der als Totalitarismusforscher bekannt gewordene Politikwissenschaftler Carl J. Friedrich siedelte bereits 1926 in die USA über und lehrte nach dem Zweiten Weltkrieg als transatlantischer Pendler wiederholt an Universitäten in der Bundesrepublik. Beide sahen übereinstimmend die Arbeitsmigration als einen Faktor, der die Bindungen der Bundesrepublik an den »Westen« stärkte. So zählte Mehnert zu den personell getragenen deutschen Berührungen mit dem »Westen« zunächst Studenten, NATO-Soldaten und Touristen ins westliche Ausland, aber auch »Kontakte mit den zu uns kommenden Ausländern«, die 1966 über 1,2 Millionen Menschen umfassten, »davon weitaus die Mehrheit aus Ländern des ›Westens‹«.29 An der genannten Zahl war erkennbar, dass es sich bei dieser von Mehnert sozial nicht näher
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Vgl. Manning, Till: Die Italiengeneration. Stilbildung durch Massentourismus in den 1950er und 1960er Jahren, Göttingen 2011. Vgl. Möhring, Maren: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. Mehnert, Klaus: Der deutsche Standort, Stuttgart 1967, S. 230-231.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
bestimmten Gruppe von »Ausländern« um die Arbeitsmigranten im Rahmen der Anwerbeabkommen handeln musste. Friedrich unterstrich in seiner Vision eines geeinten Europas ebenfalls den Beitrag der Arbeitsmigranten, darunter explizit auch der »Türken und Nordafrikaner (Araber)«: »Es ist nicht übertrieben, zu sagen, daß sie sehr viel zur Entwicklung eines einheitlichen lebensfähigen europäischen Arbeitsmarktes beigetragen haben; sie haben außerdem einen erheblichen Beitrag zum europäischen Wirtschaftswachstum geleistet. Über die politische Einstellung all dieser ›Wanderarbeiter‹ und insbesondere jener, die sich im Rahmen des Gemeinsamen Marktes bewegen, ist relativ wenig bekannt. Daß zumindest einige von ihnen ein europäisches Gemeinschaftsbewußtsein entwickeln und am Wachstum und an der Weiterentwicklung der Gemeinschaft interessiert sein würden, versteht sich. Aber darüber, wie stark dieses Bewußtsein ist, weiß man nichts Genaues, und es läßt sich auch, besonders angesichts des kommunistischen Widerstandes, schwer beurteilen.«30 In Fallbeispielen betrachtete Friedrich dann nahezu ausschließlich französische und italienische Arbeitnehmer, wobei er vor allem die Franzosen als »Musterbeispiel« für seine europäische Integrationsthese heranzog.31 Die rahmende räumlich-politische Identitätskonstruktion war somit die Einbindung in einen europäischen, »westlichen«, transnationalen Kultur- und Wirtschaftsraum, wobei der Bundesrepublik die Rolle als wirtschaftlicher Motor zukam. Die Verbindung mit dem »Westen« und dabei auch mit solchen Herkunftsländern, die heutigen Betrachtern beim Stichwort »Gastarbeiter« kaum mehr in den Sinn kämen, hielt sich bis in die Mitte der 1970er Jahre. Sie findet sich noch in den viel beachteten dokumentarischen »Gastarbeiterporträts« des Schriftstellers und früheren Bergmanns Max von der Grün, die auch auf einer Liste mit Lektüreempfehlungen standen, die die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) für das Unterrichtsthema »Gastarbeiter« zirkulieren ließ.32 Darin stellte von der Grün eine Französin aus dem Elsass vor – platziert in einem Setting von Konflikten mit den Eltern, vom Leben in einer Grenzregion und von mehreren Ehen und Liebesbeziehungen in Frankreich und Deutschland.33 Die heutige Historiographie würde darin wohl eher eine transnationale Biographie als ein Beispiel für Arbeitsmigration erkennen.
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Friedrich, Carl J.: Europa – Nation im Werden? Bonn 1972, S. 133-134. Ebd., S. 143. BArch Koblenz, B 304, 7778: Anlage zu: KMK, AG Unterricht für ausländ. Schüler, 2. Sitzung am 27./28. 2. 1978 in Bonn. Grün, Max von der: Leben im gelobten Land. Gastarbeiterporträts, Darmstadt/Neuwied 1975.
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2.
Die Ankunft des »globalen Südens« in der Bundesrepublik: Sozialkritik und Kulturalismus seit den 1970er Jahren
Max von der Grün stand aber bereits in ganz anderer Weise als Mehnert und Friedrich für einen sozialkritischen Zug in der Betrachtung der Arbeitsmigration. Er nahm den »Westen« stärker in seiner Machtasymmetrie gegenüber dem »Süden« wahr und unterzog die Praktiken der Arbeitsmigration einer scharfen Kritik, etwa in seinem Vergleich der Arbeitsvermittlung mit dem »Sklaven- oder Menschenhändlertum früherer Zeit«.34 Stärker auf zeitgenössische Abhängigkeitsverhältnisse konzentriert und dabei schon die Bundesrepublik als Teil eines europäischen »Nordens« gegenüber einem – noch überwiegend mediterran gezeichneten – »Süden« wahrnehmend, war die die Einschätzung des Frankfurter Publizisten und Sozialarbeiters Ernst Klee, der sich in seinen Arbeiten bevorzugt jenen Menschen widmete, die als gesellschaftliche »Randgruppen« galten: »Gastarbeiter emigrieren aus den Agrarregionen Europas oder aus Europa angrenzenden Ländern. Ein Drittel der Auswanderungsnationen zählt zu den Entwicklungsländern: Griechenland, die Türkei, Marokko und Tunesien. Doch auch die Migrationsregionen der anderen ›Abgabeländer‹, für Italien gilt dies beispielsweise für Sizilien und Kalabrien, sind katastrophal unterentwickelt. […] Die Beschäftigung der Ausländer ist das Geschäft der reichen Industriestaaten. Doch während deren Reichtum wächst, bluten die Abgaberegionen aus. Dörfer, wo einstmals 6000 Menschen lebten, sind nur noch von 200 Alten und Kindern bevölkert. Seit Jahrzehnten zieht der Wanderstrom vom Süden in den Norden. Kein Gastarbeiter folgt ihm freiwillig; wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten zwingen ihn dazu: ihm bleibt keine Wahl. Der Gastarbeiter ist das Opfer wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, die einen kleinen Teil der Bevölkerung reicher und den großen Teil ärmer werden läßt.«35 Der Versuch, anhand der Arbeitsmigration soziale und regionale Ungleichheiten zu beschreiben und damit auch die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik auf eine moralische Anklagebank zu setzen, führte als eine nicht unerhebliche Nebenwirkung mit sich, die Herkunfts- und Lebensumstände der Arbeitsmigranten als exotisches, rückständiges »Anderes« zu konstruieren. Hier spielte zunehmend auch der seit den späten 1960er Jahren von hoher politischer und medialer Aufmerksamkeit getragene »Dritte-Welt«- bzw. später auch
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Ebd., S. 44. Klee, Ernst: »Gastarbeiter als Subproletariat«, in: Ders. (Hg.): Gastarbeiter. Analysen und Berichte, Frankfurt 1972, S. 25-35, hier S. 25, 34.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
»Eine-Welt«-Diskurs hinein, der Akteuren und Sprechern im »globalen Norden« eine »Problematisierung der eigenen Rolle im Weltzusammenhang« bot.36 Besonders drastisch zeigte dies ein vom Spiegel-Verlag herausgegebenes Buch, das rund zehn Jahre nach den Werken Klees und von der Grüns erschien. In der bundesdeutschen Migrationsdebatte standen nun nicht mehr, wie noch in der ersten Phase der Arbeitsmigration, die Anwerbevorgänge im Blickpunkt, sondern als neues Großthema die Rahmenbedingungen und, mehr noch, die Hindernisse gesellschaftlicher Integration. Der Spiegel-Redakteur Christian Habbe klagte in seinem einleitenden Beitrag die Isolierung und »Gettobildung« der Arbeitsmigranten in Deutschland als ein »Stück Südafrika mitten in Europa« an.37 Gemeinsam ist den bisher vorgestellten Konstruktionen eines mit der Arbeitsmigration verbundenen »Südens«, dass sie sich auf sozioökonomische und demographische Aspekte konzentrierten. Doch bereits die zahlreichen Visualisierungen der Zuwanderer auf Buchcovern, in Schulbüchern und politischen Informationsmaterialien, wie sie etwa die Bundeszentrale für politische Bildung verantwortete, wiesen Motive auf, die zeitgenössisch offenbar sogleich als symptomatisch für die Zuwanderer aus dem »Süden« erkannt werden sollten und damit ethnisch-kulturelle Markierungen transportierten: Männer mit dunklen Haaren und Schnurrbärten, zum Teil mit einem Koffer in der Hand, als Zeichen ihres Unterwegs-Seins, oder in der Ausübung gering angesehener Arbeit sowie schließlich kinderreiche Familien in baufälligen Häusern. Diese markierenden Visualisierungen waren keineswegs nur illustrativ; vielmehr ist festzustellen, dass in publizistischen und auch wissenschaftlichen Texten zur Migrationsdebatte Bezugnahmen auf Ethnizität, Kultur und Religion nicht erst Erscheinungen der 1990er Jahre waren, als die Thesen des amerikanischen Politologen Samuel Huntington über den »clash of civilizations« starke Reaktionen in der akademischen Welt hervorriefen. Spätestens seit den 1980er Jahren hatten sich zur Charakterisierung der Arbeitsmigration in der sozialwissenschaftlichen Literatur kulturalistische Deutungsmuster etabliert, wie eine Studie aus der Bildungsforschung zeigt, die sich den »ausländischen Mädchen« im Bildungssystem der Bundesrepublik widmete. Mit Blick auf deren Herkunft aus dem Mittelmeerraum, dem die EG-Mitglieder Italien und Griechenland sowie die in Kürze der EG beitretenden Spanien und Portugal ebenso zugerechnet wurden wie Jugoslawien und die Türkei, konstatierten Rita Rosen und Gerd Stüwe, die sich im noch jungen Feld
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Kuchenbuch, David: »,Eine Welt‹. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren«, in: GG 38 (2012), S. 158-184, hier S. 172. Habbe, Christian: »Die verfemten Fremden. Das deutsche ,Ausländerproblem‹ – ein Problem der Ausländer mit den Deutschen«, in: Ders. (Hg.): Ausländer. Die verfemten Gäste, Hamburg 1983, S. 7-22, hier S. 8.
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Abbildung 3
Martin Frey und Ulf Müller (Hg.): Ausländer bei uns – Fremde oder Mit-bürger? Bonn 1982, S. 31.
der interkulturellen Sozialarbeit engagierten, für alle genannten Länder übereinstimmend »patriarchalisch-traditionalistische Familienstrukturen«, die »disfunktional für die Existenz in einer hochindustrialisierten Gesellschaft« seien.38 Die hier ausgebreitete Imagination des »Südens« war zur Mitte der 1980er Jahre, wenn es nach der internationalen Politik- und Sozialwissenschaft ging, eigentlich schon nicht mehr zeitgemäß: An die Vorstellungen einer statischen, vormodernen, überwiegend ländlichen Kultur war im Zuge der Demokratisierungsprozesse in Griechenland und auf der iberischen Halbinsel, der Beitritte zur Europäischen Gemeinschaft, aber auch in bewusster Reaktion zu Edward Saids »Orientalismus«Dekonstruktionen die Auffassung einer südeuropäischen success story getreten, die auf die politische und gesellschaftliche Modernisierung eines neuen europäischen »Südens« abstellte.39 Dass die beiden Bildungsforscher weiterhin einen kulturalistisch gezeichneten »Süden« verwendeten, spricht nicht nur für die Beharrungskraft älterer Raumvor-
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Rosen, Rita/Stüwe, Gerd: Ausländische Mädchen in der Bundesrepublik, Opladen 1985, S. 38. Baumeister, Martin: »Mythos, Gegenbild, Utopie. Der Süden auf der geistigen Landkarte Europas«, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 27 (2018), H. 5, S. 13-32, hier S. 20-23.
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Abbildungen 4 +5
Verena McRae: Die Gastarbeiter. Daten, Fakten, Probleme, München 1980; Christian Habbe: (Hg.): Ausländer. Die verfemten Gäste, Hamburg 1983.
stellungen und für die zeitliche Verzögerung, mit der nicht wenige wissenschaftliche Arbeiten neue Deutungen und Diskurse rezipierten, sondern auch für eine Funktionalisierung, die sich nach innen, auf die Verhältnisse in Deutschland richtete. Je schärfer der Kontrast ausfiel, desto durchschlagender konnte sich Kritik geltend machen. Da die angesprochenen Familien und ihre Töchter in der Bundesrepublik lebten und am öffentlichen Bildungssystem teilnahmen, beeinflusste das »Äußere« und »Andere« folgerichtig das »Eigene«, wenn auch in ambivalenter Weise. So gingen die beiden Forscher einerseits von einer »Konfrontation zweier Kulturkreise«40 in der Bundesrepublik aus, hielten andererseits aber auch die Notwendigkeit weiterer Emanzipationsbestrebungen fest: »Die Lebenssituation von deutschen und ausländischen Frauen und Mädchen ist grundsätzlich von denselben Unterdrückungsmechanismen geprägt«.41 Sozialkritik und Kulturalismus bildeten in dieser Perspektive keine Gegensätze; vielmehr galt die Sichtbarmachung von Problemen des »globalen Südens« als ein 40 41
Rosen/Stüwe: Ausländische Mädchen, S. 121. Ebd., S. 121.
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Ausweis von Welt-Kenntnis und Interdependenzbewusstsein, der erst dazu befähigte, fundierte Zeit- und Krisendiagnosen für das Einwanderungsland Deutschland anstellen zu können. Stammten die Ansichten zum »Süden« nicht nur aus zeitgenössischer Lektüre, sondern sogar aus eigener Anschauung vor Ort, geriet die Sprecherposition intellektuell nahezu unangreifbar. Dies lässt sich exemplarisch an einem Aufsatz des Ethnologen Werner Schiffauer ablesen, den er 1980 in der Zeitschrift Kursbuch mit dem Titelthema »Vielvölkerstaat Bundesrepublik« publizierte. Schiffauer hatte während seines Studiums an der FU Berlin einen Auslandsaufenthalt an der Universität Ankara absolviert und dadurch vertiefte Einblicke in die Verhältnisse der Türkei gewonnen, die er für seine Diplomarbeit und weiteren wissenschaftlichen Arbeiten nutzte. In seinem Kursbuch-Aufsatz befasste er sich unter der Überschrift »Die Gewalt der Ehre« mit einer Gruppenvergewaltigung ausländischer Jugendlicher an einem deutschen Mädchen in Berlin-Kreuzberg.42 Schiffauer versuchte das Geschehene zu erklären, indem er ausführlich auf das türkische Verständnis vom Wert der Ehre (manus) einging und als Hauptproblem postulierte, dass der Kontext eines türkischen Dorfes auf eine deutsche Großstadt übertragen worden sei. Der räumliche und kulturelle Kontrast, der hier aufschien, wurde im Verlauf des Textes immer wieder bestätigt, indem wiederholt von »dörflichen Kategorien« oder »Bauerngesellschaft« die Rede war. Ein kulturalistisch gefasster »Süden« war Teil bundesrepublikanischer Realität geworden, doch eine Lösung für ein neues gesellschaftliches Miteinander zeichnete sich noch nicht ab, wie Schiffauer in einem resignativ gestimmten Fazit festhielt: »Aus den Fallgeschichten wird deutlich, daß sich die Familien in der Auseinandersetzung mit der hier vorgefundenen Situation verändern; deutlich wird aber auch, daß sich dieser Prozeß nicht als fortschreitende Anpassung an die deutsche Kultur begreifen läßt. Dies trifft auch auf die Söhne zu. Der Vorfall der Vergewaltigung zeigt, wie weitgehend ihr Denken und Handeln von der Logik der Ehre bestimmt ist.«43 Ein neuer Impuls kam über die langen Linien. Die sozialwissenschaftliche Literatur zur Arbeitsmigration hatte bislang kaum Bezug auf die Migrationsbewegung der Vertriebenen und Spätaussiedler genommen. Doch seit den 1980er Jahren mehrten sich wechselseitige Referenzen, Vergleiche und Parallelisierungen. Als eine der ersten Stimmen dürfte die aus dem sächsischen Zwickau gebürtige Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus gelten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Hessen ihren wissenschaftlichen Lebensmittelpunkt fand. Sie verband die Migration aus dem 42 43
Schiffauer, Werner: »Die Gewalt der Ehre. Ali, Veli, Erol in Kreuzberg«, in: Kursbuch 62 (1980), S. 1-16. Ebd., S. 14-15.
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»Süden« und dem »Osten« schon erkennbar unter sozialkonstruktivistischen Vorzeichen über eine gemeinsame zentrale Erfahrung: »Die Diskriminierungsmechanismen der deutschen Einheimischen gegen die deutschen Umsiedler und Flüchtlinge aus dem Osten zeigten sich gerade in der Einordnung in ein fremdes Ethnikum – Ungarn, Slowaken, Zigeuner, Russen, Polen – sehr deutlich.« Eine »Gettobildung« als »symbolische Rückkehr in die Heimat« sei sowohl bei Gastarbeitern als auch bei deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen die zwangsläufige Folge.44 Ihren eigentlichen Schwung erhielten solche Vorstellungen von Migrationen und Räumen in den von Öffnungs- und Entgrenzungsdiskursen geprägten 1990er Jahren. Dabei gab es unterschiedliche, zum Teil aber miteinander verknüpfte Argumentationslinien. Dazu gehörte zunächst eine, die unverkennbar von der zunehmenden Historisierung der Bundesrepublik profitierte. Historiker wie Klaus J. Bade,45 Ulrich Herbert46 oder Wolfgang Benz47 stellten fest, dass Flüchtlinge, Vertriebene und DDR-Übersiedler bis 1961 oft ebenso willkommene Arbeitskräfte gewesen seien wie die Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei. Auch die Anpassungsschwierigkeiten seien ähnlich gewesen: »Bis in die 80er Jahre sind rund 15 Millionen Neubürger in der Bundesrepublik aufgenommen worden, Flüchtlinge, Vertriebene, Aussiedler, Übersiedler, unter ihnen zahlreiche Menschen, denen das Eingewöhnen kaum leichter fiel als den ›Ausländern‹«.48 Diese Haltung war eng verbunden mit einer zweiten Argumentationslinie, die die Migrationsdebatte auf eine Kritik an essentialistischen Vorstellungen des »Deutsch-Seins« und am Ideal der homogenen Nation lenkte. Eine entscheidende epistemische Voraussetzung war die neue Blüte der historischen Nationalismusforschung, die seit den 1980er Jahren auf den breit rezipierten Arbeiten von Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner aufbaute. Mit der politischen Öffnung des europäischen Ostens seit 1989/91 erweiterte sich das wissenschaftliche und politische Interesse rasch auf die Beschäftigung mit nationalen bzw. ethnischen Minderheiten. Die Migrationsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland nahm dabei zum ersten Mal seit den 1950er Jahren wieder eine dezidiert gesamteuropäische Perspektive ein, verbunden mit neuen und ungewohnten Vergleichen und Parallelisierungen zwischen der Arbeitsmigration und den neu entdeckten deutschen Min-
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Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 101, 103-104. Vgl. Bade, Klaus J.: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992. Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986. Vgl. Benz, Wolfgang (Hg.): Integration ist machbar. Ausländer in Deutschland, München 1993. Benz, Wolfgang: »Ausländer in Deutschland. Einleitung«, in: Ders. (Hg.): Integration ist machbar. Ausländer in Deutschland, München 1993, S. 7-17, hier S. 12.
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derheiten im Osten Europas. So formulierte der aus dem Sudetenland stammende Sozialdemokrat, Publizist und Wissenschaftsorganisator Peter Glotz, der seit den späten 1980er Jahren in dichter Folge politische Streitschriften veröffentlichte, als eingängiges Junktim: »Wer für die deutsche Minderheit in Polen eintritt, der muß auch für die türkische Minderheit in Berlin eintreten – und umgekehrt.«49 Sehr schnell sollte es nach 1990 auch eine bedeutende polnische Minderheit in Berlin und anderen deutschen Städten geben. Dies bildete den Anstoß für eine dritte, demographisch inspirierte Argumentationslinie. Die mittlerweile längst zur Mitherausgeberin der Zeit und einflussreichsten Publizistin der Bundesrepublik avancierte Marion Gräfin Dönhoff gab zu Beginn der 1990er Jahre mit vielen prominenten Unterstützern, zu denen etwa Helmut Schmidt, Meinhard Miegel, Edzard Reuter, Richard Schröder oder Wolfgang Thierse zählten, ein Manifest zur zukünftigen Ausrichtung Deutschlands heraus. Darin mutmaßte sie: »Bis zum Ende der neunziger Jahre dürfte der Schwund der einheimischen Bevölkerung Deutschlands noch weitgehend durch die Zuwanderung deutschstämmiger Aussiedler ausgeglichen werden können.«50 Erst dann sei weitere Zuwanderung notwendig, und diese würde wohl »zunächst aus Mittel- und Osteuropa, später aus Entwicklungsländern stammen«, in jedem Fall aber nicht aus »hochindustrialisierten Ländern«.51 Das Manifest stellte sich dieser Zukunftsvision nicht generell ablehnend gegenüber, vielmehr überwog eine – in den 1990er Jahren wieder reüssierende – geopolitische Logik, wonach Deutschland bei weiterhin schrumpfender Bevölkerung in zwei oder drei Generationen »hinter Rußland, der Ukraine, Frankreich, England und möglicherweise auch Italien an sechster Stelle in Europa« stünde.52 Diesen drei Argumentationslinien war gemeinsam, dass sie neue Verbindungen zwischen den Konstrukten des »Ostens« und des »Südens« und damit zwischen lange getrennten räumlichen Teilrepräsentationen Europas herstellten. Das Ende der bipolaren Welt des Kalten Krieges und die zunächst vor allem wirtschaftlich getragene Globalisierung konnten aber auch das Signal geben zu einer weitergehenden Auflösung bisheriger Raumvorstellungen. Beispielhaft gezeigt werden kann dies für die unter dem griffigen Titel »Multikulti« bekannt gewordene Skizze des Politologen Claus Leggewie zu den veränderten Rahmenbedingungen der bundesdeutschen Gesellschaft: »Europas westliche Mitte ist eine der wenigen Einwanderungsregionen in einer Welt voller Auswanderer aus ökologischen, ökonomischen und politischen Grün-
49 50 51 52
Peter Glotz: Der Irrweg des Nationalstaats. Europäische Reden an ein deutsches Publikum, Stuttgart 1990, S. 119. Dönhoff, Marion Gräfin/Miegel, Meinhard/Nölling, Wilhelm et al.: Weil das Land sich ändern muss. Ein Manifest, Reinbek 1992, S. 32. Ebd., S. 26-27. Ebd., S. 26.
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den: die einstürzenden Altbauten Osteuropas, die armen Agglomerationen am Mittelmeer, die Hungergebiete Schwarzafrikas, die unheilbare Krisenzone Nahost.«53 Während das »Eigene« noch einen fest bestimmbaren Ort als »Europas westliche Mitte« besaß, erfuhr das »Äußere« der Herkunftsregionen von Migrantinnen und Migranten durch die narrativische Organisation von weit entfernt liegenden und bislang zueinander beziehungslosen Räumen eine räumlichen Entkontextualisierung. Darin war Leggewie freilich zukunftsweisend. Aus den unterschiedlichsten politischen Positionen heraus kam es nun zur Infragestellung, wenn nicht gar Inversion der vertrauten Dichotomie von Migrationsbewegungen aus dem »Osten« und dem »Süden«. Die Migration aus dem »Osten« war publizistisch und sozialwissenschaftlich vor allem als Ergebnis ethnisch-völkischer Prämissen bearbeitet worden, während die Migration aus dem »Süden« unter sozialkritisch-kulturalistischer Deutungshoheit stand. Dieser epistemischen Konventionen entledigte sich der Wirtschaftsjournalist Roland Tichy in seinem provokant verfassten Aufruf »Ausländer rein!«. Darin kritisierte er die »rassisch-nationale Staatsideologie« der Bundesrepublik, die jene begünstige, »die vorgegebenermaßen oder tatsächlich deutschen Blutes sind, was immer das sein mag: Aussiedler aus den deutschen Ostgebieten der Vorkriegszeit werden automatisch beim Überschreiten der bundesdeutschen Grenzen mit dem begehrten Papier ausgestattet – obwohl sie keine Verbindung mit diesem Land haben, nicht hier geboren sind, seine Sprache nicht sprechen, seine Mentalität nicht verstehen.«54 Viele Aussiedler kämen »aus einer buchstäblich anderen Welt in die Bundesrepublik«, einer agrarisch orientierten, abgeschlossenen Welt. Ihr »religiös geprägtes, noch fest an Familie und Traditionen gebundenes Leben« wirke »archaisch«.55 Dagegen seien viele, die gemeinhin noch als »Gastarbeiter« zählten, in Deutschland geboren, zahlten Steuern, »sind in deutschen Kindergärten aufgewachsen, in deutschen Schulen erzogen«.56 Tichy beschrieb damit die Aussiedler in einer ähnlich kulturalistischen Weise, wie dies zuvor für die Arbeitsmigranten aus dem »Süden« üblich war, während er die Nachkommen der Arbeitsmigranten als »Eigene« und Zugehörige zur bundesdeutschen Gesellschaft begriff. Mit Blick auf Raumvorstellungen und politische Geographien lässt sich somit seit den 1990er Jahren von einer sukzessiven Übernahme des »Ostens« in ei53 54 55 56
Leggewie, Claus: Multikulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin 31993, S. 17. Tichy, Roland: Ausländer rein! Warum es kein »Ausländerproblem« gibt, München 1990, S. 28. Ebd., S. 150-151. Ebd., S. 19, 33.
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nen erweiterten »Süden« bzw. in den »globalen Süden« sprechen. Verfestigt wurde dies wiederum durch Visualisierungen. Der 2003 erstmals erschienene »Atlas der Globalisierung«, dessen deutschsprachige Ausgaben von der Redaktion der Tageszeitung taz koordiniert werden, nahm Karten auf, die die Asylsuche bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge, Menschenhandel mit Ausgangspunkten in Südosteuropa oder die Todesopfer des gegen »illegale« Migration gerichteten Grenzregimes der Europäischen Union zeigten.
Abbildung 6
Benoît Bréville u.a. (Hg.): Atlas der Globalisierung: Das 20. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 66.
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
Abbildung 7
Dietmar Bartz u.a. (Hg.): Atlas der Globalisierung, Berlin 2007, S. 56.
3.
Fazit
Geht es um das Phänomen Migration, lässt sich in der Formulierung von Raumvorstellungen und politischen Geographien keine größere Trennschärfe oder Differenzierung in der sozialwissenschaftlichen Forschungsliteratur im Vergleich zur politischen Publizistik ausmachen. In diesem Punkt ist die Skepsis gegenüber sozialwissenschaftlichen Arbeiten in ihrer Funktion als Darstellungen zur Zeitgeschichte angebracht;57 die konsequente Historisierung durch den Zugriff über Raumvorstellungen weist sie in erster Linie als Quellen aus. Die wichtigsten gegenläufigen Botschaften, die die häufig nur sporadisch aufscheinenden Raumvorstellungen in die gemeinhin auf Eindeutigkeit und Engagement orientierten Migrationsdebatten transportierten, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Zum ersten verknüpften Publizisten und Wissenschaftler, die
57
Vgl. hierzu Graf, Rüdiger/Priemel, Kim Christian: »Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin«, in: VfZ 59 (2011), S. 479-508.
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häufig selbst aus dem Kreise der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Umsiedler stammten, in den beiden Nachkriegsjahrzehnten ihre Haltung zum »verlorenen Osten« immer wieder mit diskursiven und narrativischen Einschreibungen in den »Westen« und gaben damit zu erkennen, wie attraktiv auch für sie das Konzept eines – tendenziell transatlantisch verstandenen – »Westens« war. Zum zweiten zeigten Texte und Visualisierungen zum »globalen Süden« seit den 1970er Jahren, dass sich gesellschaftskritische und kulturalistische Vorstellungen keineswegs in Widerspruch zueinander befinden mussten. Vielmehr war darin zeitgenössisch ein über die eigenen nationalstaatlichen Grenzen hinausgehendes Problemund Interdependenzbewusstsein assoziiert. Zum dritten kam es in den 1990er Jahren zu räumlichen Entkontextualisierungen und Inversionen. Der »Osten« und der »Süden« waren bislang als zwei voneinander weitgehend unabhängige räumliche Konstrukte erschienen, die allenfalls zeitweilig durch die Einbeziehung in die bundesrepublikanische Räson des »Westens« Berührungspunkte aufwiesen. Nun fügte sich der »Osten« diskursiv immer häufiger in das umfassendere Gebilde eines »globalen Südens« ein und unterlag gleichermaßen gesellschaftskritischen und kulturalistischen Beschreibungsansätzen in Publizistik und Wissenschaft. Die Migrationsdebatten gingen wiederholt mit Sprecher- bzw. Akteurswechseln einher. Am deutlichsten erkennbar ist dies für die 1970er Jahre. Das Sprechen über Migration und die räumliche Verschiebung von einer »Ost-West-Achse« zu einer »Nord-Süd-Achse« in der politischen Geographie der Bundesrepublik wurde nun weitaus stärker von Akteuren aus dem linken politischen Spektrum geprägt, während konservativ orientierte Vertreter aus den Kreisen der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in der Zeit des Kalten Krieges den Migrationsdiskurs geprägt hatten, durch die Entspannungs- und Ostpolitik in die Defensive geraten waren. Darüber hinaus war der Akteurswechsel getragen von politischen und gesellschaftlichen Konstellationen, die über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinauswiesen: Zum einen war in vielen Industrieländern eine höhere Aufmerksamkeit für Fragen der globalen Ungleichheit geweckt, und zum anderen lenkte die Arbeitsmigration den sozialwissenschaftlichen Blick auf Kategorisierungen wie class und labour, die ebenfalls stärker von Vertretern des linken Spektrums rezipiert und bearbeitet wurden. Für die Zeit nach der politischen Wende von 1989 ist weniger ein Akteurswechsel als eine Erweiterung des Akteurskreises zu konstatieren. Konservative Positionen wurden nicht zuletzt über die Deutungsangebote der Demographie und der »neuen« Geopolitik wieder stärker in den Migrationsdiskurs eingespeist; auch traten dabei ehemalige Flüchtlinge und Vertriebene aus dem »Osten« publizistisch neu hervor. Voraussichtlich wird für die hier nicht mehr behandelte Zeit seit Beginn des 21. Jahrhunderts eine erneute Erweiterung des Akteur- und Sprecherkreises konstatiert werden können. Es trifft zwar nicht zu, dass in den Migrationsdebatten der
Die Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland
Bundesrepublik die Stimme von Migrantinnen und Migranten per se gefehlt hat, denn als eine solche ist zweifelsfrei auch diejenige der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu werten, doch war in der Tat die Stimme von Migrantinnen und Migranten aus dem »globalen Süden« in der bundesdeutschen publizistischen und wissenschaftlichen Landschaft lange Zeit deutlich unterrepräsentiert. Dies ist sicherlich nicht allein eine Frage der sozialen Position, sondern reflektiert auch den gesellschaftlich-kulturellen Großtrend der letzten Jahrzehnte zu Individualisierung und Subjektivierung, in dem Sinne, dass sich viele Veröffentlichungen von Migrantinnen und Migranten bevorzugt auf die Verarbeitung individueller biographischer Erfahrungen und damit dezidiert auf eine Selbst-Ver-Ortung fokussierten. Mittlerweile haben aber Navid Kermani, Mark Terkessidis, Naika Foroutan und andere mit ihren Schriften eine selbstbewusste Sprecherposition zur Ver-Ortung der Bundesrepublik als Einwanderungsland eingenommen und damit ein neues Kapitel in der Formulierung politischer Geographien angefangen.
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Autorinnen und Autoren
Frank Becker, Universitätsprofessor Dr. phil., Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsinteressen: Geschichte der politischen Kultur, intellectual history, Anthropologie der Arbeit. Einschlägige Veröffentlichungen: (Hg. mit Benjamin Scheller und Ute Schneider): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a. M. 2016; (Hg. mit Daniel Schmidt): Industrielle Arbeitswelt und Nationalsozialismus. Die Betriebsgemeinschaft als ›Laboratorium‹ der Volksgemeinschaft 1920-1960, Essen 2020; (Hg. mit Antonia Gießmann-Konrads): Die Grenzen des Sag- und Zeigbaren – Humor im Bild von 1900 bis heute, Darmstadt 2020 [im Druck]. Darius Harwardt, Dr. phil, Förderberater und Projektmanager im Referat Forschungsförderung der TU Dortmund. Forschungsinteressen: Ideen- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik, Rechtsintellektuelle, Amerikabilder. Einschlägige Veröffentlichungen: Amerikabilder deutscher Rechtsintellektueller in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2019; »›Die Gegenwehr muss organisiert werden – und zwar vor allem auch geistig‹ Armin Mohler und Caspar von Schrenck-Notzing als Rechtsintellektuelle in der frühen Bundesrepublik«, in: Goering, Timothy D. (Hg.): Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld 2017. Michael Wala, Universitätsprofessor Dr. phil, Inhaber des Lehrstuhls Geschichte Nordamerikas an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsinteressen: Geschichte Nordamerikas, Geschichte internationaler Beziehungen, Geschichte der Nachrichtendienste. Einschlägige Veröffentlichungen: (mit Benjamin Carter Hett) Otto John. Patriot oder Verräter: Eine deutsche Biographie, Hamburg 2019; George Vancouver - Reise zum Nordpazifik und um die Welt, (Hg.), Wiesbaden 2015; (mit Philipp Gassert) Weltmacht USA, Ditzingen 2013. Jasper M. Trautsch, PD Dr., Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsinteressen: transatlantische Beziehungen, Begriffsgeschichte, Glo-
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Autorinnen und Autoren
balgeschichte. Einschlägige Veröffentlichungen: Civic Nationalisms in Global Perspective, (Hg.), London 2019; The Genesis of America: U.S. Foreign Policy and the Formation of National Identity, 1793-1815, Cambridge 2018. Oliver Werner, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie (IDD) der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: deutsche Zeitgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, gesellschaftliche Kontinuitäten und Brüche im 20. Jahrhundert. Neuere Veröffentlichungen: »Raum und Gemeinschaft. Die Mobilisierung der deutschen Wirtschaftseliten im ›totalen Krieg‹«, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u. a. (Hg.): Der Ort der ›Volksgemeinschaft‹ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 169–181; »Misstrauen, Kommunikation und Diplomatie. Preußen und Österreich im Gründungsprozess des Deutschen Zollvereins 1828 bis 1834«, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): Auf dem Weg in den Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich 1740–1947, Berlin 2018, S. 63–84. Heiner Stahl, PD Dr. phil, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Uni Siegen. Forschungsinteressen: Medien-, Klang- und Sinnesgeschichte, Mentalitäts- und Wissensgeschichte politischer Kommunikation. Einschlägige Veröffentlichungen: Stadt hören. Geräuschkulissen und soziale Akustik in Erfurt, Essen und Birmingham, Köln 2020 [im Druck]; (Hg. mit Sabine Schmolinksy u. Diana Hitzke): Taktungen und Rhythmen. Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär, Berlin 2018; Jugendradio im Kalten Ätherkrieg. Berlin als eine Klanglandschaft des Pop (1962-1973), Berlin 2010. Jörg Probst, Dr. phil., Kunsthistoriker und Koordinator der interdisziplinären Forschungs- und Lehrplattform »Portal Ideengeschichte« am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Forschungsinteressen: Politische Ikonologie, wissenschaftliche Grafik, ästhetische Politik, Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Einschlägige Publikationen: »original instinct«. Populismus in der Bild- und Ideengeschichte der ästhetischen Politik, Marburg 2017; Sehen und siegen. Die Bildgeschichte der Geopolitik und die Zukunft der »Marburger Schule«, Marburg 2012; (Hg. zus. mit Jost Philipp Klenner) Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Frankfurt a.M. 2009/2.A. 2011. Eva Muster M. A., Kollegiatin im Forschungskolleg »Modellierung von Kulturgeschichte am Beispiel des Germanischen Nationalmuseums: Vermittlungskonzepte für das 21. Jahrhundert« am Institut für Kunstgeschichte der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Forschungsinteressen: deutsche Geschichtsbilder in musealen Präsentationen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, geschlechterspezifische Modellierung in Ausstellungen, museale Präsentation von historischen
Autorinnen und Autoren
Jubiläen im regionalen Vergleich, Rezeptionsgeschichte des Mittelalters mit Schwerpunkt auf den Karolingern. Einschlägige Veröffentlichungen: »›Jedem sein eigener Kaiser Karl‹. Der Karlsmythos in deutschsprachigen Periodika im Kontext des 1200. Todestages, in: Bröker, Christina/Gatzlik, Sarah/Muster, Eva et al. (Hg.): Wissen im Mythos? Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen sowie deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, München 2018, S. 28–64; Museale Geschichtsbilder als »Arbeit am Mythos«. Der Wandel der Präsentation von »Karl dem Großen« in kulturhistorischen Ausstellungen in Aachen im 20. und 21. Jahrhundert, München [im Druck]; »Protest ausstellen. Eine Analyse der Narrative im »Reformationsjahr 2017« in ausgewählten Sonderausstellungen«, in: Hirschmüller, Tobias/Muster, Eva (Hg.): Protest. Motive und Verläufe – Wahrnehmungen und Erinnerungen, München [im Druck]. Christoph Strupp, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH). Forschungsinteressen: Stadt- und Zeitgeschichte, deutsche und niederländische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Jüngste Veröffentlichungen: (Hg. mit Malte Thießen) Themenschwerpunkt: Rathausplätze als Arenen urbaner Selbstverständigung, in: Moderne Stadtgeschichte (2019), Nr. 1; »The Port of Hamburg in the 1940s and 1950s: Physical Reconstruction and Political Restructuring in the Aftermath of World War II«, in: Journal of Urban History (2019), OnlineFirst, DOI: 10.1177/0096144219877853. Tobias Hirschmüller M. A., DFG-Projekt »Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49« an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsinteressen: Provisorische Zentralgewalt von 1848/1849 in nationaler und internationaler Perspektive, Regionalgeschichte des Ersten Weltkrieges, Erinnerungskulturen, Ideengeschichte des Liberalismus, Jüdische deutschsprachige Presse im Ersten Weltkrieg. Einschlägige Veröffentlichungen: »Erinnerungskultur in Kriegsgesellschaften. Bismarck und die beiden Weltkriege im Rheinland und in Westfalen«, in: Westfälischen Forschungen 68 (2018); »Von der Barrikade ins Parlament. Die Pazifizierung der Revolution von 1848/1849 im westdeutschen Geschichtsbild nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: Muster, Eva u. a. (Hg.): Wissen im Mythos. Die Mythisierung von Personen, Institutionen und Ereignissen und deren Wahrnehmung im wissenschaftlichen Diskurs, München 2018; »›Freund des Volkes‹, ›Vorkaiser‹,› Reichsvermoderer‹ – Erzherzog Johann als Reichsverweser der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/1849«, in: Jahrbuch der HambachGesellschaft 20 (2013); mit Raasch, Markus (Hg.): Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität – Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis, Berlin 2013.
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Autorinnen und Autoren
Stephanie Zloch, Dr. phil, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der TU Dresden. Forschungsinteressen: Migrationsgeschichte, Wissensgeschichte, Verflechtungsgeschichte Deutschlands mit Mittel- und Osteuropa. Einschlägige Veröffentlichungen: (Hg. zusammen mit Lars Müller und Simone Lässig) Wissen in Bewegung. Migration und globale Verflechtungen in der Zeitgeschichte seit 1945, Berlin – Boston 2018; »Young People’s Agency and the Production of Knowledge in Migration Processes: The Federal Republic of Germany after 1945«, in: KNOW. A Journal on the Formation of Knowledge 3 (2019).
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