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German Pages 288 Year 2015
NATASCHA ADAMOWSKY (HG.) »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet«
Natascha Adamowsky ist Juniorprofessorin für Kulturwissenschaft (Spieltheorie/Medienkultur) am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsfelder liegen im Bereich der Kultur-, Wissens- und Mediengeschichte der Moderne.
»DIE VERNUNFT IST MIR NOCH NICHT BEGEGNET« Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis
herausgegeben von NATASCHA ADAMOWSKY
Impressum Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Ulrike Wewerke, Berlin Lektorat: Serge Embacher, Berlin Satz: wewerke, Berlin Fotos: Kerstin Schoof, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-352-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter [email protected]
INHALT Prolog 9
»Vorwort«
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Natascha Adamowsky »Spiel und Wissenschaftskultur. Eine Anleitung«
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Natascha Adamowsky, Sebastian Quack »Lucky Letters. Zwölf Stationen des Zufalls«
Essays 37
Marcel Beyer »Finden«
49
Andreas Platthaus »Homo ludens prudens«
59
Bernhard J. Dotzler »›Un autre jeu.‹ Das Spiel, der Film und die Frage einer allgemeinen Medienwissenschaft«
79
Hannes Böhringer »Windmühlen und Wortspiele. Wie hoch ist der Einsatz?«
87
Rüdiger Zill »Riesen Schultern. Wahn – Spiel – Metapher: Strukturen des als etwas«
101
Hans Ulrich Reck »Sich auf ein Abenteuer dieser Art verstehen ...«
123
Isabelle Graw »Gruppenspiele. Vierzehn Thesen zur Bedeutung von Zufall und Spiel in der Kunst«
137
Hartmut Böhme »Nataschas Spiel. Eine Widmung. Über Spiele in der Literatur und den Sinnen«
153
Helmar Schramm »Blickschranken. Zum Verhältnis von Experiment und Spiel im 17. Jahrhundert«
165
Christoph Wulf »Spiel. Mimesis und Imagination, Gesellschaft und Performativität«
175
K. Ludwig Pfeiffer »Spiel ohne Ball? Bemerkungen zum Lesen«
193
Fragebogen ›Spiel und Erkenntnis‹
Theater 199
»Inkognito. Ein Stationenstück in fünf Szenen«
Anhang 231
Gesprächsspiele – Dokumentation
259
Autoren
275
Literatur
PROLOG
VORWORT NATASCHA ADAMOWSKY
Das wissenschaftliche Leben ist voller wunderbarer Begebenheiten. Im Herbst 2002 wurde am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin eine Juniorprofessur für Kulturwissenschaft eingerichtet, die die Kultur- und Mediengeschichte des Spiels vertreten darf. Ich habe das Glück, diese Aufgabe ausfüllen zu dürfen, und befinde mich seither in der großartigen wie riskanten Lage, nicht nur offiziell als Wissenschaftlerin spielen zu dürfen, sondern auch darüber sprechen zu müssen. Wie aber soll man von etwas reden, das so flüchtig, so polymorph, so sehr dem Geschehen verbunden ist wie das Spiel? Über Spiel lässt sich in vielerlei Hinsicht nachdenken. Kaum etwas, das sich nicht betrachten ließe, als wäre es ein Spiel. Es scheint an der Zeit, einmal ernst zu machen mit diesem Befund: Nicht alles ist Spiel, aber überall kann Spiel sein – besonders tief scheint es in unserem Denken zu nisten. Um eine solche um Selbstreflexivität kreisende These weiterzuentwickeln, beginnt man besser nicht allein. So habe ich elf herausragende Wissenschaftler und Autoren als Mitspieler eingeladen, zuerst nach Berlin, um in einer Ringvorlesung mitzuwirken, und dann, sich auf das Wagnis dieses Buches einzulassen. In elf Essays kann man nun nachlesen, wie sich Spielen und Schreiben zusammenbringen lassen und Ideen sammeln, was es zu gewinnen gäbe, wenn man sich selbst auf ein solches Spiel einließe. Die Gäste der Ringvorlesung mussten jedoch nicht nur über Spiel sprechen, sondern auch verschiedene Spiel-Passagen meistern. Das war zweifellos ein Risiko und bedurfte sicherlich eines Vertrauensvorschusses. Ein Publikum war gefragt, das nicht nur mitdenken, sondern auch mitmachen würde, und nicht zuletzt brauchte es Helferinnen und Helfer, die die ›Show‹ auf- und abbauen würden. Ihnen allen gilt mein ganz besonderer Dank! Ein besseres Spiel hätte ich mir nicht wünschen können. Dieses Buch ist wie eine Zwiebel entstanden, in sehr vielen Schichten. LOTTO. Nicht nur, dass aus Vorträgen Essays werden mussten, son-
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dern 660 Minuten Gesprächsspiel waren zu transkribieren, Vortragsspiele in Buchspiele zu verwandeln, Texte zu formatieren, redigieren, korrigieren. Für die mühevolle Arbeit des Transkribierens und Formatierens bin ich Jette Röltgen, Alexander Lauschke und Kerstin Schoof zu großem Dank verpflichtet. Die Lucky-Letters-Spiele sind wesentlich den Ideen und Recherchen von Sebastian Quack zu verdanken, und das Theaterstück wäre ohne die umsichtige und inspirierte Arbeit von Stefanie Klein nicht zustande gekommen. Mein Dank gilt auch Hartmut Böhme und Claudia Benthien, die mir bei inhaltlichen wie organisatorischen Fragen zur Seite standen. Besondere Unterstützung hat mir die Humboldt-Universität zu Berlin zukommen lassen. Ein großer Teil des Projektes wurde aus dem Innovationsfonds der Universität bezahlt. Man beginnt kein Spiel, wenn man nicht etwas zu gewinnen hofft – und sei es, dass das eigene Spiel glücken oder aufgehen möge. Die nun folgende Runde wäre gewonnen, wenn sie den einen oder anderen Leser verführen könnte, seine ›Vernunft‹, zumindest eine kleine Weile lang, unter dem Wind des Spiels dahinsegeln zu lassen.
SPIEL UND WISSENSCHAFTSKULTUR Eine Anleitung NATASCHA ADAMOWSKY Die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Wissenschaftskultur mag auf den ersten Blick abseitig erscheinen. Wissenschaft gilt gemeinhin als ein Verfahren, das auf Erkenntnis zielt. Spiel hingegen wird kulturell zwar als ausgesprochen bedeutsam eingeschätzt, doch sieht man in ihm einen Untersuchungsgegenstand, nicht einen Bestandteil des wissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens. Spiele laden ein zu Wettstreit, Schicksalserfahrungen, zu Maske und Rausch. Sie erläutern aber nicht, so meint man, wie die Relativitätstheorie funktioniert oder nach welchen Regeln die Evolution abläuft. Solche Betrachtungen aber sind wohl zu kurz gefasst. Denn die Vernunft braucht das Spiel. Zu spielen heißt, Verbindungen zu knüpfen zwischen Intellekt und Sinnlichkeit; zu spielen heißt, spekulative Brücken zu schlagen zwischen Geist und Materie. Das Wahrnehmen, Sehen im Spiel ist immer auch ein Einsehen. Was uns im Spiel begegnet, wird auf eine vitale Art erkannt. So führt die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Wissenschaft nicht an die Ränder, sondern ins Zentrum des modernen Selbstverständnisses.
Zur Vorgeschichte Bis weit ins 18. Jahrhundert ist die Verbindung von geselligem Spiel und anspruchsvoller gelehrter Betätigung ein fester Topos. Leibniz beispielsweise hätte es gern gesehen, wenn »ein geschickter Mathematiker« ein detailliertes »Buch der Spiele« geschrieben hätte, um die Erfindungskunst zu vervollkommnen, denn, so Leibniz, »der menschliche Geist tritt in den Spielen besser als bei den ernstesten Angelegenheiten zutage« (Leibniz 1926/1765: 563). Nach 1800 jedoch sorgen verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen dafür, dass das Spiel zunehmend mit Unernst, Fiktion und Müßiggang gleichgesetzt wird und allenfalls
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noch die Kunst beflügeln, nicht aber die Wege von Erkenntnis und Vernunft beeinflussen kann. Zwar darf das Kind noch spielend die Welt erkunden, Erwachsene hingegen sind dem Ernst des Lebens verpflichtet. Diese Auffassung gilt bis heute weithin als zeitgemäß. Sie ist begleitet von der verbreiteten Vorstellung, Spiel ließe sich über die Begrifflichkeiten von Grenze und Regel erschöpfend definieren. Dass alle Formen des Spiels feste Grenzen, feste Zeiten und feste Regeln haben sollen, entspringt jedoch einer bürgerlich-kapitalistischen Ideologie vom Spiel, die eher beschreibt, in welchen Formen die moderne Gesellschaft Spiel zulässt, als dass sie Aussagen darüber erlaubt, in welchen Formen sich Spiel tatsächlich entfaltet. Diese Ideologie ist von zwei Extremen geprägt: einer utilitaristisch-idealisierenden Metaphorik, die jeden Spieler zum Programmdirektor eines fröhlichen Reichs des Spiels und des Scheins erklärt, sowie einem wissenschaftsbürokratischen Reduktionsprinzip für Verläufe mit variablem Ausgang, das formal Regelprozesse beschreibt. Ob sich Spiele als Kulturphänomene so adäquat oder gar erschöpfend beschreiben lassen, kann bezweifelt werden. Bemerkenswert ist vor allem der moderne Horror, dass ein Spiel sich jederzeit und überall ereignen könne. Allerdings ist diese ambivalente oder disziplinierungsfreudige Haltung den Spielen gegenüber nicht unbedingt ein Signum der Moderne. Viele Kulturen kennen Affekte gegen das Ludische; Spielverbote sind vermutlich so alt wie die Spiele selbst. Was jedoch der modernen Aversion gegen das Spiel eine einzigartige Tragweite verleiht ist, dass sie Spiel wesentlich als einen Differenzbegriff zum Nicht-Spiel verhandelt. Das klingt zunächst nach einer recht vernünftigen Auffassung und zweifellos ist damit auch ein Sachverhalt getroffen: Spiel kann sich nicht nur jederzeit und überall ereignen, es kann auch ausbleiben. Gott sei Dank, nicht alles ist Spiel! Andererseits: Ja und? LOTTO. Unbestreitbar ist Spiel anders als viele andere Dinge, die wir in unserem Leben tun. Das gilt aber für fast alles, das wir nicht ständig betreiben: Turmspringen, Kuchen essen, eine Blume malen, scharf Nachdenken, Sprechen, Krieg führen, Auto fahren ... Niemand aber käme auf die Idee, all diese Dinge über ihre Differenz zum Nicht-Sein, zum Nicht-Springen, Nicht-Essen, Nicht-Autofahren usw. zu beschreiben. Man nehme das Beispiel vom Essen: Die Tatsache, dass wir essen müssen, durchwirkt unser ganzes Leben. Unsere gesamte Kultur mit ihren Tagesabläufen, Ritualen, Ökonomien, etc. ist vom Essenmüssen bestimmt. Als völlig absurd jedoch würde es erscheinen, wenn man kulinarische Kultur anhand der Differenz von Essen und Nicht-Essen im Sinne einer erkenntnistheoretischen Leitunterscheidung beschreiben wollte. Trotzdem ist jedem klar, dass Essen etwas anderes ist als Tanzen, Küssen oder Schlafen. Die moderne Gesellschaft jedoch scheint dem Spieler ein solches
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Differenzierungsvermögen nicht zuzutrauen: Unser ganzes Leben ist durchwirkt vom Spiel; jeder Mensch muss spielen. Mit kaum etwas aber hat die Moderne ein derartiges Problem wie mit dieser Verflochtenheit des Spielerischen in die gesamte Bandbreite kulturell codierter Lebensvollzüge. Das ist insofern bemerkenswert, als Distinktionssicherheit anthropologisch gesehen nur für feindliche aggressive Gemeinschaften wichtig ist, nicht aber für freundlich gesonnene Gruppen – im Tierreich beispielsweise ist sie für Wölfe lebenswichtig, für junge Beagles dagegen kaum. Die Differenzierung Spiel – Nicht-Spiel führt somit auf die Logik einer Freund-Feind-Unterscheidung zurück, die den eigentlichen Wesenszug des Spiels ausblendet, eine Bewegung im Zwischen, eine Begegnung zu sein. Seit gut zwei Jahrhunderten wird der kulturkonstitutive Status des Spiels auf eine reine Oppositionsrolle zurückgeschnitten. Dies ist eine einzigartige Diskriminierungsstrategie, mit der nicht nur festgelegt ist, wo ein Spiel überall nichts zu suchen hat, vorzugsweise im Alltag, bei ernsten Dingen, bei der Arbeit oder allem, was als ›Wirklichkeit‹ oder auch ›Realität‹ bezeichnet wird. Mit dieser Gegenüberstellung ist auch entschieden, und dies ist der entscheidende Punkt, dass sich Spiel allein aus sich heraus nicht verstehen lässt. Spiel ist dieser Auffassung nach nicht nur anders als andere Dinge und gehört als kategorische Ausnahme und prinzipielle Andersheit grundsätzlich nicht zu dem, was das Leben wirklich ausmacht, sondern es kann im Kosmos szientifischer Wahrheiten überhaupt nur durch das erscheinen, was es nicht ist. Hier ist es wichtig, Missverständnisse zu vermeiden. Natürlich unterscheidet sich Spiel von vielen Dingen. Es ist aber erkenntnistheoretisch nicht zwingend, Eigenarten eines Phänomens als Opposition zu etwas anderem zu beschreiben. Niemand käme auf die Idee, Platon als NichtAristoteles zu beschreiben, Goethe als Nicht-Shakespeare, Willy Brandt als Nicht-Kohl. Im besten Falle sind solche Oppositionen nur unterdurchschnittlich banal. Seltsamerweise scheint dies bei Spielen kaum jemandem aufzufallen. So scheint es ein besonderes Erkenntnisbonmot für Spielforscher zu sein, dass man im Spiel stets nur so tut ›als ob‹. Ich selbst habe das oft geschrieben, froh, bei diesem proteushaften Phänomen überhaupt einen Beschreibungsfaden in der Hand zu halten. Je länger man aber Spiele studiert, desto mehr drängt sich die Frage auf, ob damit tatsächlich etwas Entscheidendes gesagt sei, das niemandem vorher aufgefallen wäre. Wer wollte bestreiten, dass man nur im Spiel fliegen kann und außerhalb eines Spiels natürlich nicht. Genauso aber kann man auch nur im Flugzeug fliegen und nicht außerhalb, und selbstredend fliegt das Flugzeug und nicht man selbst. Wen oder was will man mit solchen Beschreibungen eigentlich beruhigen?
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Will man sich von solchen und anderen Oppositionen verabschieden, ist selbstredend festzuhalten, dass damit nicht jede Differenz negiert ist. Die These, Spiel sei nicht Widerpart der Rationalität, bedeutet nicht, dass eins mit dem anderen zusammenfiele. Behält man dies im Hinterkopf, entfaltet die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Wissenschaftskultur eine besondere Brisanz. Anders als viele andere Dinge, die lustvoll Energien freisetzen können, ist das Spiel mit der Wissenschaft äußerst kompatibel. Es macht weder dick noch betrunken, es ist weder illegal noch gesundheitsschädigend, es fördert Ausdauer, Wagemut und Risikofreude, und kann von Solisten wie Teamfreunden gleichermaßen umarmt werden. Seine Zauberwörter sind Reversibilität, Wiederholung und Variation, die eigentlich prädestiniert wären, zu den Schlüsselkategorien wissenschaftlicher Verfahrensweisen aufzusteigen. Doch genau an dieser Stelle beginnen die Dinge, sich in Paradoxien zu verhaken. Spiele fördern offiziell die Phantasie des Kindes, nicht aber die des Wissenschaftlers. Der künstlerischpoetische Schaffensprozess entfaltet sich in experimentellen Spielräumen, szientifische Kreativität hingegen basiert auf scharfem Nachdenken. Es scheint etwas im Spiel zu sein, das seinen kategorischen Ausschluss aus allen Räumen der Vernunft herbeiführt bzw. den Verwaltern der Vernunft als notwendig erscheinen lässt. Was könnte das sein? Bekanntlich sind die Methoden von Wissenschaft und Erkenntnis in den Kategorien der Rationalität und Objektivität fest verankert. Verfahrensweisen des Spiels gehören offiziell nicht dazu. Andererseits: Jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler weiß aus Erfahrung, dass szientifische Erkenntnis ganz entscheidend von offenen ludischen Formen und Praktiken lebt wie dem Experiment, dem Entwurf, der Metapher und dem Modell. Schon ein Modell ist in gewisser Weise ein Spielentwurf, das Experiment ist durch zahllose Analogien zum Spiel geprägt, jede Metapher ist eine Einladung, das Sprachspiel der Beschreibungen weiterzutreiben. LOTTO. Ein wesentlicher Grund, warum das Spiel trotz all dieser zahllosen Verflechtungen, Analogien und Gemeinsamkeiten aus den Diskursen des Wissens herausgehalten wird, ist, erstens, seine strukturelle Ähnlichkeit mit wissenschaftsrationalen Operationalisierungen: Es ist – analog zur wissenschaftlichen Methodik – selbst eine definierende Aktivität. Dies führt einerseits dazu, dass sich Spiel als Untersuchungsgegenstand klassischen generalisierenden Standardverfahren wissenschaftlicher Aneignung wie Vermessung, Benennung, Inventarisierung oder Modularisierung entzieht. Andererseits zeigen wissenschaftliche Verfahrensweisen im Spiegel des Spiels nicht ihre Nicht-Rationalität (!), wohl aber ihre Artifizialität und Relativität, ihren Charakter als Setzungen. Ließe sich Wissenschaft auf die Begegnung mit dem Spiel
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ein, müsste sie ihren Alleinvertretungsanspruch auf die wahre Weltdeutung aufgeben und ihre Stärke darin suchen, eine – zweifellos unverzichtbare – Beschreibung von Weltausschnitten zu liefern. Zweitens müsste Wissenschaft, wenn sie offiziell ernst mit dem erkenntnisstiftenden Potential des Spiels machen wollte, selbst reflexiv werden. Sie müsste aus der Deckung kommen, das Primat der Beobachterperspektive aufgeben und Verfahren entwickeln, sich auf das Nicht-Identische einzulassen. Genau dies nämlich sind Eigenarten des Spiels, und zwar wundersamer Weise genau jene Eigenarten, die die Phänomene des Spielens mit denen des Erkennens zusammenbinden.
Spielen und Erkennen Jedes Spiel ist ein Versuch. Es kann glücken oder auch nicht, in jedem Fall hat man es mit einer Dynamik des Lebendigen zu tun, die Möglichkeiten der Begegnung mit Form und Fülle der umgebenden Wirklichkeit bereithält. Jedes Spiel vermannigfaltigt die Welt. Es stiftet Verbindungen zwischen dem Spieler und seinem Spielgegenstand, zwischen Subjekt und Objekt, dem Menschen und seiner ihn umgebenden Welt. Dieses Zusammensein ist eine wesentliche Voraussetzung menschlichen Erkenntnisvermögens. Es bedeutet nicht, dass in jedem konkreten Spiel Erkenntisoptionen faktisch zu entdecken wären, wohl aber, dass im Spielen Erkenntniseffekte erzielt werden können. Spielräumen ist grundsätzlich eine epistemologische Qualität eigen, die den medialen Eigenschaften des Spiels zur Organisation des Abstrakten geschuldet ist. Die Abstraktionsschwäche des Menschen innerhalb seiner Abstraktionsstärke ist immer schon gewesen, dass er darauf angewiesen ist, das Abstrakte emotional zu besetzen, zu konkretisieren, zu versinnlichen. Wie Dieter Claessens in Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie schreibt, ist Spiel eine wichtige evolutionäre Gelenkstelle, die menschlichen Gemeinschaften eine Möglichkeit bietet, sich diesem Problem zu stellen, eben weil es eine Bewegungsform ist, die zwischen dem archaischen Konkret-Sinnlichen und dem Möglichkeitsraum des Distanzierend-Abstrakten vermitteln kann (vgl. Claessens 1980: 1. Kap.). Dabei wird ein Prozess des Erkennens begünstigt, der mit Wahrnehmen und Erinnern gleichermaßen verwoben ist und mit der Emergenz von etwas einsetzt. Mit Emergenzerfahrung im Spiel ist in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht das Zusammentreffen von ästhetischer Erfahrung und der Ereignishaftigkeit der auftauchenden Formen gemeint (Gumbrecht 1998: 220f.). Oder anders gesagt: Spiel ist nicht nur überproduktiv, sondern
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bietet auch die Möglichkeit, Form im Prozeß ihrer Entstehung wahrzunehmen. Spiel ist deshalb eines der zentralen expressiven Phänomene der Kulturgeschichte, weil es Form und Ausdruck hervorbringt – »it gives shape as well as expression to individual and societal affective and cognitive systems«, wie die amerikanische Anthropologin Helen Schwartzman schreibt (Schwartzman 1978: 330). Meiner Überzeugung nach liegt genau in diesem Zusammentreffen die Anziehungskraft des Spiels begründet, in der Konvergenz von gesteigertem Erleben und ästhetischer Produktion. Gumbrecht entwickelt seine Emergenzerzählung am Beispiel von American Football. In dem Moment, in dem zwei Mannschaften aufeinanderprallen, wird Präsenz als das Ereignis von Form produziert. Spielzüge erscheinen als verkörperte Formen, Formen-in-Bewegung, als temporalisierte Formen (vgl. Gumbrecht 1998: 220f.). Die Liste der möglichen Situationen, in der sich diese Konvergenz von Ereigniseffekt und verkörperter Form wahrnehmen lässt, bleibt selbstverständlich nicht auf American Football beschränkt, sondern erstreckt sich über das ganze Feld der Kulturphänomene: Wettläufe beispielsweise gehören hierher, auf gerader Strecke wie in Runden, Wettkämpfe im Ring, die verschiedenen Drehungen um die eigene Achse, sei es beim Diskuswurf oder beim Tanzen, der Wurf des Würfels, das Mischen und Austeilen von Karten, der Gang des Riesen oder der Antilope. All diese Formen sind zunächst nicht viel mehr als die »Inszenierung einer Spannung zwischen nichts und etwas, welche, wann immer etwas (und nicht nichts) sich ereignet, [...] die Epiphanie von Form produziert« (ebd.: 223). Auf den zweiten Blick jedoch weisen sie das Spiel als ein beispielloses Überflussphänomen von Form und Substanz aus, als ein unerschöpfliches Verfahren ästhetischer Produktion. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang nicht die ungezählten Variationen von Spielbrettern, Spielsteinen, Spielzeugen, die in den Jahrtausenden dabei entstanden sind, sondern die spezielle ›Natur‹ dieses Produktionsprozesses. Fragt man sich nämlich, was Menschen eigentlich tun, wenn sie Spiele entwerfen, stellt man fest, dass hier vor allem Experimentalformen zur Verfügung gestellt werden, Spielzüge, Inszenierungen, Architekturen, in denen kulturelle Spannungen Verfahrensweisen finden können. Die ästhetische Formproduktion des Spiels bietet nicht nur Vergnügen und Genuss, sondern Techniken der Sichtbarmachung, Strategien der Expressivität, Methoden des In-Bewegungbzw. In-Beziehung-Setzens. Diese Techniken, Strategien und Methoden stellen auf eine höchst wechselhaft konnotierte Weise einen roten Faden europäischer Ideen- und Wissensgeschichte dar. Von besonderer Bedeutung für das Verhältnis von Spiel und Wissenschaftskultur ist dabei das seltsame Potential des Spiels, Spannung und Konflikt zu choreographieren und dabei zu Modellen des Ausgleichs und der Verbindung zu gelangen.
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Das Spiel gehört, so weit man das heute überblicken kann, zur Verfasstheit jeder Kultur. Es hat ein bemerkenswertes Vermögen, sich als Behälter oder Einschreibefläche für Sinnstiftungsprozesse anzubieten. Disparates kann in versöhnende Formen gebracht werden, Namenloses findet performative Vollzüge, aus denen benennbare Figuren entstehen. Insbesondere scheint Spiel geeignet, Vorstellungen von Schicksalhaftigkeit in plastischen Formen zu entfalten. Ein kurzer Blick auf die abendländische Rede vom homo ludens soll dies verdeutlichen. Seit der Antike ist die Verbindung von Spiel und Schicksal im Repertoire kultureller Selbstverortungen und Weltbeschreibungen überliefert. Das Bild des spielenden Menschen als Kind der Götter stiftet repräsentative Verbindungsformen zwischen menschlichem Sein und den jeweiligen Vorstellungen vom Kosmos. Ein Fragment von Heraklit bezeichnet den Weltlauf als ein spielendes Kind, das hin und her Brettsteine setzt (Fragment B 52), und Platon schreibt, dass der Mensch dazu gemacht sei, ein Spielzeug Gottes zu sein, und das sei wirklich das Beste an ihm. (Platon, Gesetze VII 803c-804b). So äußert sich auch Alfons X., König von Kastilien, 1283 im ersten europäischen Buch der Spiele, dem Libro del Juegos: »Gott schuf den Menschen, auf dass er sich vieler Spiele erfreue, denn Spielen erhebt und vertreibt die Grillen« (zitiert nach Oker 1976: 9). 1463 heißt es bei Nikolaus von Kues im Dialog »De ludo globi«: »Dieses Spiel, sage ich, bedeutet die Bewegung unserer Seele aus ihrem Reich zum Reich des Lebens, in dem Ruhe und ewige Glückseligkeit ist« (von Kues 1989/1463: 344). Der homo ludens als Kind der Götter führt selbstverständlich hinter jedem der eben aufgeführten Zitate einen anderen kulturellen Kontext mit sich. So ist mit Heraklits spielendem Weltlauf die Idee von Spiel als einer arbiträren, spontanen, freien Bewegung analog zur kindlichen oder göttlichen Beschäftigung als philosophisches Prinzip formuliert. Heraklit bringt darin die agonistischen, irrationalen und spontanen Aspekte von Spiel zusammen; Spiel ist für ihn primär Hader und Konflikt, die arbiträre Unterscheidungen treffen und wieder löschen. Dieses gewaltbereite, willkürlich-eigenmächtige »play of becoming« ist bei Platon einem rationalen und ordentlichen »play of being« gewichen (Spariosu 1991: xiii; vgl. auch ders. 1982). Das homerische Universum, regiert von Zufall und amoralischen Göttern, wird ersetzt durch eine Platonische Welt der ewigen guten, schönen, göttlichen Ordnung und universalen Gerechtigkeit. So gegensätzlich diese beiden Auffassungen auch sein mögen, scheint die Gemeinsamkeit entscheidender: In beiden Fällen geht es um eine kulturanthropologische Perspektive, die ein Verständnis von Spiel als gesellschaftlicher Selbstreflexions- und Thematisierungsform von Kulturgemeinschaften entfaltet. Besonders interessant daran ist, dass das Spiel als zentrale Kategorie der
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Verfasstheit von Kultur erscheint, die sich selbst in Spielen ausdrückt. Die Vermutung lautet nun, dass es zwischen diesem metaphorischen Gebrauch des Spielbegriffs bei Heraklit oder Platon, Alfons dem Weisen oder Nicolaus von Kues und der Welt der materiellen Kultur der Spiele Analogien gibt. Anders gesagt, eine Begriffsgeschichte des Spiels steht vermutlich in Verbindung mit einer Phänomengeschichte der Spiele. Die These ist, dass zwischen Spielen und Modellierungen von Weltausschnitten ein Zusammenhang besteht, für den sich auch im Bereich der Spielphänomene Hinweise finden lassen.
Spiele und Modelle Die frühesten komplexeren Spiele, von denen man zurzeit weiß, sind Ball- und Brettspiele. Eine Gemeinsamkeit dieser Spiele ist, dass sie in Überlieferungen immer wieder als Darstellungen der kosmologischen Ordnung bezeichnet werden. Aus vielen Aufzeichnungen geht hervor, dass sie die Ordnung des Universums offenbaren bzw. die Ordnung des Universums wird als ein Spiel der Gegensätze und Formen gedacht und erkannt. Was sich in solchen Spielen aber jenseits von symbolischen Zuschreibungen von Sonne, Mond und Sternen, Jahreszeiten und Lebensabschnitten noch offenbart, ist die Einladung eines Denkens, das nach Erklärungen sucht. So bieten diese Spiele zunächst und vor allem Vollzugsformen, mit denen sich, so Leroi-Gourhan, »die Angst des Menschen beruhigen ließe, als Schöpfer von Ordnung allein inmitten einer chaotischen Natur zu leben« (Leroi-Gourhan 1980: 412). Diese Suche hat zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unabhängig voneinander in ein Zusammenspiel von Qualitäten und Situationen des Universums geführt, zu einem Archiv der Kinästhesien, zu einem Wechselspiel von Identitäten und Gegensätzen. Es lässt sich vermuten, dass diese und andere der frühen Spiele das Spiele-Erfinden als einen Prototyp von Modellentwicklung etabliert haben. Denn indem diese Spiele den Menschen in den Kosmos einbinden, die Welt der Lebenden mit der der Toten einerseits und mit der Sphäre der göttlichen Mächte andererseits verknüpfen, dienen sie weniger als Signifikanten, sondern als Modell, »welches das Unaussprechliche in Worte fasst, das Unsichtbare anschaulich macht und das Unfassliche begreiflich werden lässt« (Schädler 2000: 109). Spiel ereignet sich dabei als Ausdruck und Vollzugsform einer Harmonie, gleich wie diese Harmonie gefüllt sein mag: mit Göttern, Sternen, Leben und Tod, mit Musik, Poesie, Mathematik oder Ökologie. Das Spiel stellt eine Verfahrensweise zur Verfügung, Zusammenspiele zu ermöglichen, und es ist gleichsam der Versuch, sich selbst dabei etwas in seiner
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Bewegung in Zeit und Raum zur Erscheinung zu bringen und damit eine Verbindung zwischen sich und diesem Etwas zu schaffen. In dieser Verbindung erweist sich das Spiel als ein Weg des vitalen Erkennens. Ich möchte also vorschlagen, das Entwerfen von Spielen als einen prototypischen Vorgang zu sehen, Modelle zu entwickeln. Diese Modelle sind selbstredend keine Modelle von etwas im Sinne eines Abbildungsverhältnisses, sondern Modelle für etwas, »also prozedurale, experimentelle Skripte der Konstruktion, Herstellung oder Manipulation von artifiziellen, epistemischen Dingen« (Böhme 2003: 597; vgl. dazu auch Rheinberger 2001). Spiele organisieren Räume, in denen sich die Epiphanie der Form ereignen kann, und sie initiieren eine Choreographie des In-Beziehung-Setzens. Spiele zu machen zeigt sich hierin sowohl in einer Qualität des Entwerfens neuer, virtueller und immersiver Welten als auch in einer Qualität, Dinge zu beschreiben, sie zu verkörpern und beschreibbar zu machen. Diese Produktivität des Spiels scheint mit einem besonderen Potential verbunden, aus der Fülle des Ungeordneten eine Situation zu verdichten, in der Konflikte, Dispositionen, Leidenschaften, Stimmungen auf den Punkt, auf ihr Prinzip, in ein Zusammenspiel gebracht werden können.
Einladungen zum Spiel Spielformen gehören mit zu den ältesten kulturellen Zeugnissen, die universal die Menschheitsgeschichte von Anbeginn begleiten. Interessanterweise tun sie dies bei allem überschäumenden Überfluss in relativ stabilen Formen. Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass Spiele nicht allein mit großem Erfolg sich selbst tradieren, sondern dabei auch die kulturelle Praktik des Spiele-Entwerfens. Das Entwerfen von Spielen jedoch ist dem Spiel nicht äußerlich. Der Spiele-Entwerfer verhandelt stets auch sich selbst als Spieler; der Spieler hingegen sucht, dass seine Entwürfe im Spiel glücken oder aufgehen. Aber was tun wir eigentlich, wenn wir spielen? Was geschieht in diesen Spielräumen, dass sich in ihnen Erkenntniseffekte ereignen können? Was hat man im Forscherblick, wenn man sagt, man betrachte ein Spiel? Versucht man, diese Fragen von hinten abzuarbeiten, ist zunächst zu konstatieren, dass man es zweifellos mit einem ausgesprochen ambivalenten Kulturphänomen zu tun hat, das auf seltsame Weise kulturell übliche Unterscheidungen zu vergleichgültigen scheint. Oft zeigt es sich als Tor zu ekstatischem Erleben, als dynamisches Arrangement kultureller Spannungsverhältnisse, als Inszenierung, die Übergangsphänomene in Bewegung setzt. Spiel korrespondiert mit eigenen Formen des Spielerlebens, insbesondere dem Gefühl uneinge-
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schränkter Präsenz, und tritt in Erscheinung durch seine charakteristische Performativität, die zu einer Fülle kultureller Einbettungen in die Kontexte von Ritual, Fest, Kunst, Vergnügen und Unterhaltung geführt hat (vgl. Adamowsky 2000). Wer jedoch ein Spiel betrachtet, sieht oft nur eine kulturell sanktionierte Form, in der sich Spiel ereignen soll. Um ein Spiel zu begreifen, ist es unerlässlich, sich ins Geschehen zu begeben. Die englische Unterscheidungsmöglichkeit von play und game verdeutlicht dies plakativ. Danach steht play für die Intensität und Expressivität des Spiels, sein Vermögen, toll zu machen, während games demgegenüber eine institutionalisierte Struktur bezeichnen, in der sich play entfalten kann, aber nicht muss. Die Tatsache, dass games und nicht play der häufigste Untersuchungsgegenstand der modernen Spielforschung sind, erklärt die Dominanz der Beobachterperspektive in der Spieltheorie, und nicht nur dort, denn im Gegensatz zu play können games ohne Bezug auf die Spielenden, ihre Wahrnehmungen, Erfahrungen, Leidenschaften, verhandelt werden. Aus der Teilnehmerperspektive heraus zeigt sich hingegen, dass games überhaupt nur in bestimmten Maßen play zulassen und zu viel play ein Spiel ruiniert. Dass dies kaum thematisiert wird, mag daran liegen, dass sich games im Gegensatz zu play idealtypisch als wissenschaftsbürokratisches Prinzip operationalisieren lassen: Differenz und Funktion; Feld und Regel; An und Aus. Games sind wesentlich dadurch charakterisiert, dass sie Ambiguität, Spontanität und Flexibilität, von genau denen play aber lebt, aus einer Situation herausregeln, so dass es nicht unangemessen scheint zu fragen, ob wir games wirklich spielen. Dessen ungeachtet ist mit einer feindlichen Gegenüberstellung von play und game natürlich nichts gewonnen. Man hat es vielmehr mit einem Verhältnis kultureller Transformationen zu tun, in dem sich Spiel als eine Agentur unmittelbarer Selbstreferenz von Kultur erweist, als gleichermaßen Bestandteil und Erzeugungsinstanz von Kultur. Seine jeweils konkrete historische Gestalt ergibt sich aus dem kulturellen Bemühen, Spiel in reizvolle Formen zu bringen und dadurch zum Spielen einzuladen. Diese Einladungen zum Spiel sind kulturelle Arrangements, Medienkonfigurationen, die in den Worten K. Ludwig Pfeiffers »gesteigerte Erfahrung« ermöglichen (Pfeiffer 1999). Sie motivieren dabei sowohl entlastende, entdifferenzierende Ereignisse, z. B. in Gestalt wilder Tänze und ausschweifender Lebendigkeit, die ein ekstatisches Erleben befördern. Sie bieten sich aber auch an als Medien der Komplexitätssteigerung und Intellektualisierung. Games sind nicht die einzigen Artefakte, die eine Kultur ersinnt, um play-Situationen zu stiften. Die Einladungen können zu verschiedenen Zeiten und Orten sehr unterschiedlich ausfallen. Zu den vergleichs-
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weise eindeutigen Beispielen gehören u. a. Lustschlösser, Gärten, Tanzpaläste und Spielhäuser, auch auf den Jahrmärkten und Sportplätzen sowie Bühnen aller Art könnte man sich umsehen. Man hat es dabei mit einem Prozess zu tun, bei dem sich das Erfinden, Entwerfen, Entwickeln von Spielen als Kulturalisierung des Spiels/play in Kulturobjekten und -praktiken vollzieht, also z. B. in games, genauso aber auch in ausgefeilten Architekturen, raffinierten Inszenierungen und komplizierten Spielzeugen, in Praktiken wie dem Verkleiden, Würfeln und Wippen. Immer jedoch hat man es auch mit Grauzonen zu tun. Denn selbstverständlich kann sich ein Spiel/play jederzeit auch außerhalb der kulturell sanktionierten Felder ereignen, während umgekehrt nicht alles, was sich auf ausgewiesenen Spielfeldern ereignet, als Spiel vollzogen oder erfahren wird. Der französische Spielforscher Roger Caillois hat diese Welt der Spieleinladungen bekanntlich in vier horizontale Grundkategorien eingeteilt: in den Wettkampf, agon, das Glücksspiel, alea, die Verwandlung, mimicry, und den Schwindel, ilinx (Caillois 1982). Diese vier Grundspielarten kreisen um Sieg und Ruhm, Glück, Verwandlung und Rausch. Sie rühren auf undurchsichtige Weise an den irrationalen Grund menschlicher Leidenschaften und Dispositionen, Befindlichkeiten und Stimmungen und sind dabei gleichzeitig, auf eine ebenso völlig unerklärliche Weise, bezogen auf das Schöpferische in jedem spielerischen Tun. Diese vier Grundkategorien von Disposition und Ausdruck, Stimmung und Exposition können auch als formalisierte Basisarchive der Spielformen der westlichen Welt begriffen werden. Agon und alea sind dann als ein Archiv der Äußerungsmöglichkeiten zu verstehen, welche Kulturen für die Entscheidungsfindung zur Verfügung stehen. Alea ist dabei auf Situationen des Zufalls und der Unwägbarkeit bezogen, welche das Glück entscheiden, die Gunst der Götter gewähren sollen. Agon dagegen bietet einen Pool von Strategien, die die Verfahren der Machtverteilung und Gewährung von Anerkennung anhand von Leistungskriterien bestimmen. Die ludische performance, die sich ergibt, wenn man beschließt, man sei jetzt ein anderer, Hamlet, ein Bär oder ein fabelhafter Typ in der Hafenbar, stellt den Effekt einer dynamischen Beziehung dar zwischen den formal möglichen Spielzügen im Archiv des mimicry und ihrer konkreten Aktualisierung. Modelle des Optionalen, des Wechsels und der Verwandlung kommen hier zum Einsatz. In ilinx-Spielen schließlich ist ein Archiv der Loshakungen zu sehen. In ihm sind Regeln formuliert, die die Möglichkeit zu Rausch und Taumel formalisieren und die möglichen Bewegungen, Raumarrangements und Dramaturgien organisieren. Ilinx-Spiele bilden somit ein Gedächtnis von Schwindel und Gleichgewicht, Schwerelosigkeit und Rhythmus.
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Es bleibt die Frage, was wir tun, wenn wir spielen. Auf diese Frage gibt es keine erschöpfende Antwort. Helmut Plessner hätte gesagt, wir hielten uns im Zwischen, Victor Turner, dass wir in einem Niemandsland seien betwixt-and-between, Brian Sutton-Smith hätte von der heteroglossalen Ausdrucksweise des subjektiv vervielfältigten Spielers gesprochen (Plessner 1941; Turner 1983; Sutton-Smith/Magee 1989). Ungezählte Tag- und Nachtstunden könnte man damit verbringen, die Gedanken all jener aufzuzählen, die sich mit diesem so ephemeren Phänomen beschäftigt haben. Will man jedoch vor allem das Spiel auf seine Interdependenz zu Wissen und Erkennen hin befragen, bietet es sich an, auf die intermediäre Position des Spielers zu verweisen. Spieler befinden sich stets in einem Schwellenbereich. Sie sind zwischen zwei und ungezählten Optionen, in-between-identities, wie Richard Schechner schrieb (1981; 1988). Zu Spielen heißt demnach, im Bewegungsmodus des Nicht-Identischen zu sein. Spiel ist die Bewegung ins Ungedeckte. Will Erkenntnis nicht bloß tautologisch sein, kann sie eigentlich nur aus einer vergleichbar exzentrischen Position gewonnen werden.
Spiel und Wissenschaft All dies bedeutet nicht, dass Erkenntnis ›bloße‹ Spielerei sei. Interessant ist vielmehr zu verfolgen, auf welche Art und Weise spielerische Verfahrensweisen epistemische Räume und Dynamiken erzeugen können. Allerdings ist es heute nicht üblich, das erkenntnisstiftende Verhältnis von Spiel und Wissenschaft zu thematisieren, ja mehr noch, es gibt keine anerkannten wissenschaftlichen Wege, um über diesen Zusammenhang überhaupt nachzudenken. Die eben geschilderte Verwandtschaft von Spiel und Modell wirft ein interessantes Licht auf die Ursprünge dieser ›Lücke‹. Denn an der Schwelle zum 17. Jahrhundert setzen sich mit der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften die experimentellen Methoden durch. Die experimentellen Zugänge auf eine zu erforschende Wirklichkeit bringen verschiedene Neuerungen hinsichtlich des Bezugs der Wissenschaften auf die Welt als ihren Erkenntnisgegenstand mit sich, zu denen vor allem gehört, dass die Verfahren der Erkenntnis der Welt wesentlich über Modelle der Welt zu verlaufen beginnen. Zuerst macht man sich ein Modell der Welt und dann daran, es zu verifizieren. Zwar ist das Gewinnen von Erkenntnis über Modellbildung kein Novum des 17. Jahrhunderts, wie oben ausführlich gezeigt wurde, doch zweifelsohne ziehen die neuzeitlichen Wissenschaften das Definitionsmonopol für Experiment und Modell auf ihre Seite. Sie beschreiben die Methoden des Experimentierens und Modellentwerfens jedoch in Parametern, die sich später zu den Kategorien von Objektivität
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und Rationalität verfestigen werden und es nahezu verunmöglichen, fortan danach zu fragen, wie sich Wissenschaft in Relation zum Spiel thematisiert. Ob sich nicht in jedem Modell, in jedem Experiment ein essentielles Moment des Spiels findet, sind Fragen, die sich mit guten Gründen sowohl mit Ja als auch mit Nein beantworten lassen. LOTTO. Wer heute etwas über das Verhältnis von Spiel und Wissenschaftskultur wissen will, steht daher vor der Schwierigkeit, überhaupt erst eine Sprache finden zu müssen, die in der Lage ist, jene großen Pakete von Objektivität und Rationalität noch einmal behutsam aufzuschnüren. Eine solche Entknotungsaktion, die an den Fundamenten modernen Selbstverständnisses rührt, ist natürlich unvorstellbar komplex und langwierig. Jeder ›Ausweg‹ aus dieser Sprachlosigkeit kann daher kaum mehr als vorläufig sein, eine Aneinanderreihung tastender Momente. Genau das Vorläufige und Tastende jedoch sind Charakteristika, die sowohl das Spiel als auch die Wissenschaft begleiten. In dem Versuch, Spiel und Erkenntnis konstitutiv zusammenzudenken, geht es also zuallererst darum, wissenschaftsfähige Formen vorzustellen. Gesucht sind Konstellationen, die das Verhältnis von Spiel und Wissenschaft nicht in Oppositionen zwingen, sondern Zusammenspiele ermöglichen, die erlauben, den dabei entstehenden Interdependenzen nachzugehen. Diese Suche ist zunächst von der ganz einfachen Einsicht geleitet, dass man Spielen muss, um über Spiel sprechen zu können. Anders gesagt: Bestimmungen des Spiels sind immer dann besonders plausibel, wenn sie sich nicht in distanzierter Beschreibung erschöpfen, sondern performativen Charakters sind. In der performance des Spielens liegt etwas begrifflich Uneinholbares, was aber jede Form des Begriffemachens affiziert. Aus diesem Grund muss die Performativität des Spiels performativ thematisiert werden. Wie oben dargestellt, erschließen sich Spielphänomene nur sehr partiell aus der Beobachterperspektive, und dies gilt umso mehr für Spielorte, an denen zunächst einmal gar keine Spielereien vermutet werden, wie eben in der Wissenschaftskultur. Welche Spiele aber eignen sich dazu, was könnte ein guter Spielplan sein, um herauszufinden, wie wir uns selbst im Medium des Spiels zu denken geben?
Essay Eine der bekanntesten Anlaufstellen, um solcherart Ausgelassenes einzuholen, ist der Essay. In »Der Essay als Form« schreibt Adorno: »Sobald er [der Geist] mehr will als bloß die administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch Tautologie« (Adorno 1958: 29).
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Keine Wahrheit also ohne Spiel. Das Spiel bringt etwas Ungedecktes, Unentdecktes in die Bewegungen des Geistes, eben weil es als NichtIdentisches agiert, ein ewiges Versuchen, das zwischen Sich-Versuchen und Etwas-Versuchen hin und her changiert. Das obige Zitat von Adorno war auch auf die Rückseite einer Spielkarte gedruckt. Sie ging jedem der elf Autoren dieses Bandes mit der Einladung zu, das eigene Arbeitsfeld im Medium des Spiels zu reflektieren und mögliche Facetten des Spiels als Denkmodell oder Verfahrensweise im je eigenen Fachgebiet zu präsentieren. Neben der Spielkarte mit dem Adorno-Zitat waren zwei weitere Karten der Einladung beigefügt, deren Rückseiten jeweils folgende Beschriftung trugen: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter –, Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.« (Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Goethe. Berliner Ausgabe. 22 Bde., Berlin/Weimar 1972; Bd. 12, S. 7); »›Was für Riesen?‹ fragte Sancho Pansa. ›Die du dort siehst,‹ erwiderte sein Herr, ›die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.‹ ›Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für die Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.‹ ›Da sieht man,‹ sprach Don Quixote, ›wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete ein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen.‹« (Miguel de Cervantes Saavedra: Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha. Nach der anonymen Ausgabe 1837 von Konrad Thorer. Frankfurt am Main 1975, S. 112 [span. zuerst I 1605; II 1615]).
Dies war mein erster Spielzug. Jedem Autor stand es frei, ein Zitat als Motto für seinen Essay auszuwählen, blind eine Karte zu ziehen und sich überraschen zu lassen oder auch alle Karten beiseite zu legen und sich ein eigenes Spiel zu überlegen. Von allen drei Möglichkeiten wurde Gebrauch gemacht. Die elf Essays, die dabei entstanden sind, zeigen Wissenschaft als ein funkelndes Feuerwerk spielerischen Wissens, als einen wundersamen Ort überraschender Effekte und aufblitzender Einfälle. Eröffnet wird der Blick auf die Möglichkeit einer Neubestimmung der Rolle des Spiels im wissenschaftlichen Erkenntnis- und Vermittlungsprozess, die damit verbundenen Chancen ebenso wie die darin lauernden Gefahren.
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Gesprächsspiel Da es für das Spiel als Konstituens rationaler Wissenschaftskultur bislang keine etablierte Sprachkultur gibt, gilt es für bislang Unausgesprochenes Vergleiche zu finden und Ungedachtem eine Bühne zu bieten. Um diesen Gedankengang ausspielen zu können, erweist sich ein historischer Rückblick als außerordentlich produktiv. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts etwa war die Allianz von Gelehrsamkeit und Geselligkeit ein fester Topos. Hätte man vor 250 Jahren einen Blick in die gängigen Zeitschriften für gebildete Leute geworfen, wäre man auf Titel gestoßen wie: »Belustigungen des Verstandes und des Witzes«, »Hamburgisches Magazin, oder gesammelte Schriften, zum Unterricht und Vergnügen aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt«, »Mineralogische Belustigungen zum Behuf der Chymie und Naturgeschichte des Mineralreichs«, »Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüths«, »Physikalische Belustigungen«. Man sprach vorzugsweise von galanter Wissenschaft, einer science of entertainment, die eng mit Sinnlichkeit und Geselligkeit verbunden war. Ein wichtiger Bestandteil dieser vergnüglichen Wissenskultur waren die beliebten Gesprächs- und Salonspiele der gebildeten Kreise des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Gesprächsspiele, d. h. nach Regeln durchgespielte Gespräche, sind, von Ansätzen in der Symposienliteratur abgesehen, erst seit der italienischen Renaissance überliefert. LOTTO. Wie viele andere Kunstformen dieser Zeit sollten die Gesprächsspiele verschiedene Ausdrucksweisen zugleich ermöglichen und alle Sinne beteiligen, d. h. sowohl die innerlichen als auch die äußerlichen Kräfte ansprechen. In Gesprächsspielen wie dem Dialogo de’ giuochi von Girolamo Bargagli (1537-86) oder den Frauenzimmer-Gesprächsspielen (1641-49) von Georg Philipp Harsdörffer sind eine Fülle von Spielen versammelt, in denen mit Hilfe von Regeln über ein großes sprachliches Material sowie über ein breites Wissen verfügt wird. Indem man über Moralia, Emblemata, Allegorien, Symbole und Metaphern spricht, werden Begriffe geklärt und definiert und Unterscheidungen geübt. Rätsel und Gleichnisse bringen Denkschemata zum Vorschein und inspirieren die Werkzeuge der Neugier. Sprache in Prosa, Vers, Ton, Bild und Gebärde sind in ihren Gestaltungen alle oder doch zu mehreren versammelt; ein breites Panorama zeitgenössischer Spielformen wird entrollt, von geistlichen und weltlichen Schäferspielen, Hirtendichtungen, Figuren- und Echogedichten, Singspielen und allegorischen Aufzügen bis hin zu Schauspielen und Festprogrammen. Literarische Spielformen sind breit vertreten, Sprichworte, Sentenzen, ernstund scherzhafte Grabsprüche, Lehrgedichte, Geschichtserzählungen und so fort. Ebenso ausführlich werden die anderen Künste, Technik und
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Handwerk besprochen, und all dies wird stets aufs engste mit Scherz und geselliger Unterhaltsamkeit verbunden. Vor allem aber geht es um die Stiftung einer Stimmung, um die Förderung einer Atmosphäre der Geselligkeit. So liefern Gesprächsspiele nicht nur einzelne Fragen, die dann spielerisch nach bestimmten Regeln zu beantworten sind, sondern entwerfen auch anregende Situationen, aus denen heraus Gesprächsspiele entstehen können, beispielsweise die gemeinsame Betrachtung der Sterne am Himmel, der Anblick einer auf einem Spaziergang angetroffenen Schäferin, die Begegnung mit einem Maler, der in der Umgebung malt, das Sitzen am Brunnen im Garten, die Überraschung über ein mitgebrachtes Geschenk. Handelt es sich hier bloß um inszenatorisches Füllwerk? Oder geht es darum, ein Gespür zu entwickeln für die Gestaltung von Räumen, Begegnungen und Konstellationen, die neue Wahrnehmungen, neue Erfahrungen, neue soziale, erkenntnisstiftende Situationen ermöglichen? In den Soirées Amusantes von Pierre Marie Huvier DesFontenelles (1790) bilden die Namen der beteiligten Spielgesellschaft eine Landschaft: Es gibt eine Madame Rose, eine Madame Wald, eine Madame Fluss usw. Ein simpler Scherz? Oder eine ludische Verfahrensweise, die eine bekannte Technik wie das Kartographieren auf eine neue Situation überträgt und damit die Möglichkeiten des geistigen Horizonts des Begriffs ›Karte‹ erweitert? Natürlich sollte man die intellektuellen Bezüge nicht überstrapazieren. Gesprächsspielen ist, wie allen Spielen, immer auch eine gewisse Banalität eigen. Es geht jedoch auch nicht um den Beweis, dass Spielen zu philosophischer Meisterschaft führt, sondern um die Aufmerksamkeit für eine heute in Vergessenheit geratene Tradition, die den Ort des Spiels wesentlich innerhalb der gelehrten Konversation sah. An diese Tradition, Gedanken und Gegengedanken durchzuspielen, Gedankenfiguren zu vermannigfachen und Gedankenmetamorphosen zu träumen, soll hier angeknüpft werden. Die elf Autoren dieses Bandes waren nicht nur zum essayistischen Kartenspiel eingeladen, sondern auch, sich auf das Wagnis eines Gesprächsspiels einzulassen. Es brauchte Mut, denn das Ganze fand als eine live-Veranstaltung vor großem Publikum im Rahmen der Ringvorlesung »Play Goes Science – Ludische Modelle der Wissenschaftskultur« im Sommer 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. In Anlehnung an die historische Kunstform des Gesprächsspiels wurde für die Veranstaltung ein intellektueller Hindernisparcours entworfen, der Spiel als ein Modell vorführte, um Begriffe zu erfinden und Sinn(en)zusammenspiele zu offerieren. Die Versuchsanordnung sah vor, abseits nach brauchbarem Material für neue intellektuelle Werkzeuge zu suchen und Bedeutungsnachbarschaften zu choreographieren.
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Im Fahrwasser geselliger Plauderei wurde ein fröhliches Gedankenschweben entfacht. Akustische Inspirationen waren ebenso gefragt wie die Imaginationskräfte des Tastsinns, eine Referenz an den Umstand, dass die Welt, die uns umgibt, nicht nur als Text oder als mathematische Formel vorliegt. Es wurde mit Leibniz gefragt – Leibniz hatte eine Vorliebe dafür, sich Gedankenspiele zur Übung des Verstandes auszudenken, und die drei Fragen stammen tatsächlich von ihm –, was alles passieren könne, während man ein Glas Wasser zum Mund führt, wozu Stroh gut sei und womit man schreiben könne. Es ging um das Buch, das man aus der Bibliothek der nie veröffentlichen Bücher entwenden würde, sowie um das eigene Lieblingsspiel, das jeder mitgebracht hatte, um seine Regeln und Spielzüge vorzuführen. Ein sehr bekanntes Spiel, welches ebenfalls in verfremdeter Form seine Aufführung fand, war das Gesellschaftsspiel der Fragebögen. Was heute vielen noch als sog. F.A.Z.-Fragebogen oder als ›Fragebogen Marcel Proust‹ bekannt ist, war eigentlich ein im 19. Jahrhundert sehr beliebtes Gesellschaftsspiel, welches aus 26 Fragen zu Vorlieben, Abneigungen und hervorstechenden Eigenschaften bestand. Die Antworten wurden in ein privates Gästebuch eingetragen, und die Bezeichnung ›Fragebogen Marcel Proust‹ ergibt sich schlicht daraus, dass Marcel Proust diesen Fragebogen zweimal ausgefüllt hat. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts geriet dieses Spiel in Vergessenheit, bis das F.A.Z.-magazin den Fragebogen in einer erweiterten Fassung 1980 wieder aufnahm. Abgesehen davon, dass ein Fragebogen-Spiel vielleicht am eindrücklichsten demonstriert, dass im Fragen immer schon ein Antriebsmoment für die Suche nach neuen Möglichkeiten liegt und Fragespiele daher immer auf die Gestaltung neuer Zusammenhänge zielen, ist die Wahl auch deshalb auf diese Form der ludischen Auseinandersetzung gefallen, weil sie auf den Augenblick zielt. Zwar lässt sich eine schriftlich gegebene Antwort auf die Frage nach dem Lieblingsmotto auch noch in dreihundert Jahren nachlesen, doch im Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit, die auf Ewigkeit zielt, will ein Fragespiel nicht mehr und nicht weniger als eine spielerische Annäherung an ein Augenblickspsychogramm sein, ein Schnappschuss von Assoziationen, Denkgewohnheiten und Ideenvorlieben. In dieser Offenheit des Augenblickshaften liegt die Chance, dem bislang begrifflich Uneinholbaren in der Performativität des Gesprächsspiels einen Ausdruck zu verleihen. Man darf sich nicht täuschen lassen von der vermeintlichen Simplizität der Fragen. Die vordergründige Banalität eines Spiels ist nicht selten auch ein Schutz, um den Kräften der Originalität Raum zu geben. Je einfacher und direkter die Frage, desto mehr schienen sich die Befragten herausgefordert zu fühlen, ein Moment der Überraschung ins Spiel zu
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bringen und mit der Gewitztheit ihrer Antwort einen Kontrast zu setzen. Allerdings: Es ist etwas anderes, einer furiosen Spielshow mit brillanten Schlaglichtern beizuwohnen, als hinterher das transkribierte Wort nachzulesen. So befindet sich zwar eine Dokumentation aller geführten Gesprächsspiele im Anhang, die die Gewandtheit der Befragten erahnen lässt, doch am eigentlichen Esprit der Erfahrung geht diese Form vorbei. Ohnehin ist ein bloßes Abbilden nicht geeignet, dem hier formulierten Erkenntnisanspruch gerecht zu werden. Da bekanntlich die Form dem Inhalt nicht äußerlich ist, musste ein Weg gefunden werden, die Lebendigkeit des Gesprächs ins Medium des Buches zu transformieren. Ausgehend vom Schauspiel der Spielshow fiel die Wahl auf die dramatische Form des Theaterstücks. Das Ergebnis »Inkognito. Ein Stationenstück in fünf Szenen« findet sich im zweiten Teil des Buches und hat natürlich Brüche, eben weil es nicht als Text für einen Theaterabend geschrieben wurde, sondern ein fiktives Arrangement aus vorgegebenen Antworten ist – ein Spiel aus dem Spiel. Bei aller dilettantischen Bescheidenheit jedoch, die jedem Anfang eigen ist, stellt es einen Versuch dar, das Spiel als Erfahrungsmedium wie Erkenntnismodell zu thematisieren. Nicht zuletzt ist es die theatrale Praxis, die die Inszenierungen des Spiels mit der wissenschaftlichen Ästhetik verbindet. So ist das ›Spiel in fünf Stationen‹ nicht als ein Kunstversuch, sondern als ein Entwurf zu verstehen, der sich auf die Frage konzentriert, wie man Einfälle zu Erlebnissen verdichten und diese in wissenschaftliche Erfahrung überführen kann – und dementsprechend auch, wie sich Erlebnisanlässe und Einfallstore schaffen lassen, die eine intellektuell anregende Atmosphäre befördern.
Rien ne va plus Die grundlegende Frage, der dieses Buch nachgeht, zielt auf die Rolle des Spiels in der Wissenschaftskultur. Wer jedoch nach dem Verhältnis von Spiel und Erkenntnis fragt, trifft dabei sogleich auf ein Problem: Das Spiel ist eine definierende Aktivität, und die wissenschaftliche Methode ist auch eine definierende Aktivität. Nähert man sich dem Spiel vom Standpunkt der Wissenschaft aus, schrumpft es leicht zum bürokratischen Regelwerk, nähert man sich der Wissenschaft vom Standpunkt des Spiels aus, verwandelt sie sich in wasserdichte Oberflächlichkeit. Man hat es also mit zwei definierenden Aktivitäten zu tun, die aufeinander angewiesen sind und sich gleichzeitig auszuschließen scheinen. Die Frage ist: Wie kann man die beiden Weisen des Definierens vergleichen, ohne dass die eine der anderen stetig in den Rücken fällt? Um hier zu einem ersten Entwurf zu gelangen, haben auf den folgenden Seiten elf Wissen-
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schaftler und Autoren – wie dargestellt – um den Einsatz ihrer Spielerehre gespielt. Ihre Essays und Spiel-Passagen können aus vielerlei Richtungen gelesen werden und bieten dabei immer wieder unterschiedliche Antworten auf die Frage, was es bedeuten würde, das Spiel in den offiziellen Kanon wissenschaftlicher Methodik einzulassen. Darüber hinaus ist dieses Buch selbst eine Einladung zum Spiel. LOTTO. Denn so wie die Protagonisten den Prozess von Spiel und Erkenntnis veranschaulichen, indem sie gewissermaßen den Vorgang des Verfertigens von Gedanken durch spielerischen Umgang aufzeigen, so ist auch jede Leserin und jeder Leser eingeladen, sich einzulassen, den Ball bzw. die Seiten aufzunehmen und die vorgeschlagenen Formen mit eigenem Hirngestöber und Blitzgefieder zu füllen und weiterzutragen. Die folgenden Seiten sind also nicht wie ein ›gewöhnliches‹ Buch gedacht, sondern als ein Erkenntnisspiel konzipiert. Der Blick, den der Leser in die geisteswissenschaftliche Werkstatt der elf Akteure werfen darf, die im Medium des Spiels Gedankenexperimente verfertigen, ist auf Reflexivität angewiesen, soll er nicht nur Windmühlen, sondern gelegentlich auch Riesen treffen. Die wichtigsten Stationen dazu wurden vorgestellt und erläutert, die Einzelheiten werden sich im weiteren Spielverlauf von selbst erklären. Auch wenn nicht jedes Detail zur Sprache gekommen ist, sollte doch die Motivation dieser Dramaturgie deutlich geworden sein, die darauf zielt, in der performance des Spielens das begrifflich Uneinholbare zu thematisieren, welches aber jede Form des Begriffemachens affiziert. Nur über die Performativität des Spiels kann man sich von einem Spielverständnis verabschieden, welches Spiel als Widerpart der Rationalität festschreibt. Anders gesagt: Um herauszufinden, welche Begriffe, Entwürfe, Phänomene, Ideen, Metaphern und Verfahrensweisen des Spiels Wissenschaft gebraucht, um epistemische Räume und Dynamiken zu erzeugen, muss man sich selbst in geistig-sinnliche Spielräume hineinbegeben, in denen neue Denkbewegungen und Betrachtungsweisen ausprobiert werden können. Damit sollen vor allem jene Programme alltagsüblicher wie wissenschaftstypischer Grenzziehungen konterkariert werden, die behaupten, die Welt ließe sich zuverlässig in Ordnungsschemata aufteilen: Hier das Spiel, dort der Ernst des Lebens, hier die harte Realität, dort die leichten Künste der Illusionen und des Scheins, hier die objektive Wissenschaft, dort die spekulativen Kräfte der Phantasie. Doch ganz so einfach funktioniert es bekanntlich nicht. Gerade das Schwerste ist auf das Leichteste angewiesen: einen zwecklosen Umgang mit den Dingen zuzulassen, den entstehenden Prozessen einmal zu folgen wie einem Spielverlauf, sich im Wechsel von Versuch und Irrtum zu bewegen, auf das Zyklische zu setzen und das Lineare einmal ruhen zu lassen – das wäre der Auftritt einer vom Spiel geküssten Vernunft.
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Mit der Erkundung des konstitutiven Verhältnisses von Spiel und Erkenntnis ist also zunächst ein Experiment verbunden. Es zielt nicht allein darauf, das Spiel im Erkenntnisprozess und damit in der Wissenschaft zu ›entdecken‹, sondern seinen konstitutiven Anteil an der Wissenschaftskultur der Moderne aufzuzeigen. Dabei geht es weniger darum, durch die Einbindung des Spiels den weiteren Fortschritt der Wissenschaft zu befördern, sondern Horizonte zu öffnen für den Blick auf eine ›vernünftige Gesellschaft‹, die Vernunft von den sie bislang begleitenden begrifflichen Härten löst. Ein Grund, das Spiel von der Oppositionsbank zu holen, wäre, dass es erlaubt, das Vernünftige als eine dem menschlichen Sein angemessene Flexibilität zu beschreiben und nicht als Schablone starrer Festlegungen. Der einzige Weg dorthin liegt im Spiel. Man wird aus der Deckung kommen müssen bei diesem Experiment, welches, um zu gelingen, selbst gespielt werden muss. Der Witz dieses Spiels aber besteht immerhin darin, dass die Phänomene des Spiels nicht nur zu den Voraussetzungen der Vernunft gehören, sondern auch untrennbar in sie eingelassen sind.
LUCKY LETTERS Zwölf Stationen des Zufalls NATASCHA ADAMOWSKY, SEBASTIAN QUACK Wer den vielfältigen Interdependenzen zwischen objektiven Wissenschaftsverfahren und den spekulativen Einladungen des Spiels nachgeht, trifft unweigerlich auf den Zufall. Diese Kombination, Wissenschaft und Zufall, bereitet fast noch mehr Unbehagen als die Verbindung von Wissenschaft und Spiel. Denn während man sich das Spiel noch als kreativitätsfördernden Steigbügelhalter der Erkenntnis vorstellen kann, scheint die Verbindung von Zufall und objektivem Wissen ein Selbstwiderspruch: eins und eins sind eben nicht zufällig zwei, oder auch mal drei, sondern immer und aus absolut zwingend logischen Gründen zwei. So hört man zwar auch immer wieder gern Anekdoten, die von der Zufälligkeit bahnbrechender Entdeckungen handeln, ohne dass dies jedoch jemanden auf die Idee brächte, dem Zufall einen konstitutiven Status im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zuzuschreiben. Wer solche und andere szientifische Ausschlussmechanismen hinterfragen will, gerät schnell unter den Generalverdacht, die tüchtigen Fortschritte der Wissenschaft relativieren zu wollen. Darum jedoch kann es nun wirklich nicht gehen. Zufälligkeit ist nicht der geheime Gipfel der Rationalität, oder anders gesagt: Es braucht zweifellos eine Methode, um Atome zu spalten oder Menschen auf den Mond zu schicken. Andererseits, so die These dieses Buches, ist auf dem Weg zur wissenschaftlichen Erkundung des Größten wie des Kleinsten auch der Zufall vonnöten als ein Mittel von Erkenntnisproduktion. Allerdings: Bewiesen werden wird dies hier nicht. Auf den folgenden Seiten jedoch werden verschiedenste Einladungen formuliert, darüber nachzudenken. Da im Vollzug des Spiels etwas begrifflich Uneinholbares liegt, das aber jede Form des Begriffemachens affiziert, tragen diese Einladungen allesamt die Form des Spiels. Und da es um die Frage nach dem Zufall geht, sind es Spiele, die vielleicht nicht glücklich machen, aber doch die seltsamen Wege des Glücks verhandeln.
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Wenn es stimmt, dass das Spiel im Zentrum unseres Denkens nistet, weil es zu den genialen Verfahren des menschlichen Verstandes gehört, Dinge in Beziehung zu setzen, dann bedeutet dies auch, dass selbst rationale Operationen stets mit einer Tür zum Zufälligen verbunden sind. Glücksspiele schließlich, die wahrscheinlich so alt sind wie die menschliche Kultur, sind daher der womöglich älteste Versuch, dem Auf- und Zuschlagen dieser Tür einen festen Rahmen aus Verbot und Lustgewinn zu geben. Die Art und Weise, wie Glücksspiele den Zufall in kulturell tradierbare Formen bringen, offenbart interessante Parallelen zwischen dem Spiel mit dem Glück und den Spielen des Verstandes: Man muss etwas aufs Spiel setzen, das sich nicht zurücknehmen lässt. Dabei gibt man auch immer etwas aus der Hand, und es ist das, was sich im Prozess dieses Sich-Aussetzens, dieses Sich-Etwas-Anderem-Überlassens ereignet, das für das Denken wie das Spielen entscheidend ist. Der Gewinn am Schluss ist oft nicht mehr als ein sympathietragendes give-away. Die meisten Glücksspieler rufen nach jeder Runde ›Noch einmal!‹, besonders passionierte Spieler gern auch ›Nur noch einmal!‹. Wir kaufen nicht wirklich Lose, um einen Stoffsmartie als Schlüsselanhänger zu gewinnen; wir kaufen Lose, weil wir den Moment lieben, in dem wir sie öffnen und das Glück uns voll in seinen Händen hält. Den meisten Glücksspielen haftet etwas Ruchloses wie Triviales an. Wie ihre Geschichte jedoch zeigt, sind sie vor allem ein Archiv von Faszinationsformen in beispielloser Variationsbreite. Zwölf Varianten davon sind im Folgenden exemplarisch aufgeführt. Sie bilden weder eine Enzyklopädie der Zufallsspiele noch offerieren sie eine Garantie, dass sich in ihrem Nachvollzug Bahnbrechendes ereignen wird. Was sie jedoch zeigen ist der Versuch, die Gebrauchsformen des Erkenntnismediums Buch um einige Parameter zu erweitern. Es sind Standardoperationen, die den Verlauf von Entscheidungsprozessen inspirieren können, aber nicht müssen. An konkreten Einsichten ist damit womöglich wenig gewonnen. Vielleicht aber lassen sie einen auf etwas Unentdecktes stoßen oder bringen ein Moment des Vergnügens in die Bewegungen des Geistes. Das wäre dann in der Tat ein Hauptgewinn.
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Auktion
Ein Albtraum! Sie ertappen einen bewaffneten Einbrecher beim Diebstahl eines Ihnen nicht unbedeutenden Gegenstandes (wie wäre es mit Ihrem Terminkalender, Ihrem Tagebuch oder gar Ihrem Laptop?). Statt zu türmen, macht der Einbrecher Ihnen ein Angebot. Sie zahlen eine bestimmte Summe, und er lässt alles an seinem Platz. Dummerweise ist er bereits per Mobiltelefon mit einer unbekannten Zahl weiterer Kaufinteressenten verbunden. Schätzen Sie nun, wie viel Geld Sie aufbringen wollen (und können), um den Gegenstand zu behalten. Blättern Sie zu der Seitenzahl, die dem Preis entspricht. Dies ist Ihr Eingangsgebot! Ob Sie telefonisch überboten wurden, verrät stets der letzte Buchstabe der aufgeschlagenen Seite (Fußnoten zählen nicht). Ist dieser ein ›t‹, gehört der Gegenstand wieder Ihnen. Andernfalls sieht es düster aus. Wenn Sie jetzt nicht weiterbieten (und entsprechend weiterblättern), ist Ihr Gegenstand futsch. Die nächste Runde beginnt. Eine Auktion ist eine fortwährende Aktualisierung der eigenen Beziehung zu einem zu ersteigernden Objekt. Jedes Gebot beeinflusst den Verlauf der Versteigerung, variiert die komplexe Beziehung zwischen Begehren, finanziellem Einsatz und den mitbietenden Kontrahenten. Der Unauffälligkeit des Überbietens, Kopfnicken, versteckte Handzeichen, unachtsames Ohrenkratzen, kontrastiert das überdeutliche Gebaren des Auktionators. Mit lauter Stimme wird das Höchstgebot mehrmals wiederholt, der Zuschlag schließlich zum ersten, zweiten und dritten laut herausgerufen und mit einem Hammerschlag – belegt seit dem Mittelalter – besiegelt. Die ersten Versteigerungen sind aus dem antiken Rom ab 400 v. Chr. überliefert. Versteigert wurden zunächst Dinge und ›Dienstleistungen‹, deren Wert man nicht ohne weiteres abschätzen konnte wie etwa Beutegut und Sklaven aus fremden Gegenden. LOTTO. Das Verfahren wurde jedoch rasch so populär, dass sich eine geregelte Versteigerungspraxis etablierte. Immerhin übersteigen die auf Auktionen erzielten Preise den Marktwert häufig um ein Vielfaches. Selten nur sind Versteigerungen ein Spiel nüchterner Kalkulation: In der Regel geht der Geldwert Hand in Hand mit der Passion, und man bietet mit der Leidenschaft eines Begehrenden, der nicht aufhören kann, solange seine Lust nicht beruhigt ist.
ESSAYS
FINDEN MARCEL BEYER I »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen« (Goethe 1972/1809: 7). Dieser Satz, mit dem Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften beginnt, bereitet mir einiges Unbehagen, seitdem ich ihn das erste Mal gelesen habe, zu Schulzeiten, also vor zwanzig Jahren. Damals blieb mir nichts anderes, als über dieses Unbehagen hinweg zu sehen und auch den nächsten und alle folgenden Sätze des Romans zu lesen. In einer Zeit dann, als ich noch kaum etwas vom Romanschreiben wusste, während ich an der ersten Fassung meines ersten Romans schrieb, nämlich Ende Oktober 1986, wie ich aus Notizen ersehen kann, habe ich Die Wahlverwandtschaften offenbar ein zweites Mal erworben, zu dem Zweck doch wahrscheinlich, den Roman noch einmal zu lesen: Sei es in der Hoffnung, das Unbehagen hätte sich verflüchtigt, sei es, um mein Unbehagen zu ergründen. Ob dies damals tatsächlich genügend Anreiz zu einer zweiten Lektüre geboten hat, weiß ich nicht mehr – aber ich zweifle daran. Vielleicht dachte ich, Die Wahlverwandtschaften sind ein Roman, der mir noch bevorsteht, ich muss älter werden. Jedenfalls habe ich so in den folgenden Jahren immer wieder gedacht, und als mir jetzt, zur Vorbereitung dieses Vortrags, der erste Satz erneut unterkam, sah ich dies als Zeichen, einen weiteren Versuch zu unternehmen. »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard«: zweimal wird der Name genannt, als müsse er durch die Wiederholung erst festgeklopft, mit doppeltem Faden sicher an der Figur festgenäht werden – was doch auf eine gewisse Unsicherheit hinweist: Wer weiß, ob der Name hält? Ohnehin erscheint dieser Satz, der so festgemauert wirkt, umso unsicherer, je länger ich ihn betrachte: Was habe ich unter dem »besten Mannesalter« zu verstehen, und was ist »die schön-
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ste Stunde eines Aprilnachmittags«? Doch so kann ich das erst heute, während ich schreibend nachdenke, sehen – noch immer nicht alt genug für diesen Roman. Denn das Moment der Unsicherheit wird für mich überwogen von dem der Setzung: Hier trifft jemand eine Entscheidung, an der ich nicht beteiligt bin. Das ist in Romanen selbstverständlich immer so, hier aber muss der Erzähler mich zusätzlich auch noch darauf hinweisen, wer die Zügel in der Hand hält: Nicht die Tatsache also, sondern die Geste lässt mich zurückschrecken. Es gibt nur einen Erzähler, ich bin am Erzählen nicht beteiligt. Und dieser Erzähler, so mein Eindruck, lädt mich, indem er ›wir‹ sagt, nicht zu einem Spiel ein (›lass uns die Figur Eduard nennen‹), sondern er verbirgt sich im ›wir‹. Weniger Unbehagen würde ich verspüren, wenn es hieße: »Eduard – so nenne ich einen reichen Baron im besten Mannesalter«: Der Erzähler erhielte eine Kontur, und ich bekäme eine Position auf gleicher Augenhöhe mit ihm zugewiesen. Wenn der Erzähler schon alles von vornherein weiß, wozu braucht er dann mich, den Leser? Ich habe den Eindruck, mit diesem ersten Satz soll mir signalisiert werden: Mit dem Schreiben, mit dem sich vor meinen Augen Satz für Satz erschließenden Roman will der Erzähler nicht schreibend etwas finden und mich dabei an seiner Suche beteiligen, sondern er hat etwas gefunden, das er nun vor mir ausbreitet. Er lädt mich zu einem Spiel ein, dessen Ausgang er längst kennt. Vielleicht habe ich damals, als ich an meinem ersten Roman schrieb und Die Wahlverwandtschaften las, geglaubt, irgendwann, »im besten Mannesalter« womöglich, würde auch ich beim Schreiben – und das Namengeben ist ein Teil davon – jene Sicherheit gewonnen haben, die aus Goethes erstem Satz spricht: Ich würde den Figuren in meinen Texten Namen zuschreiben, mit Selbstverständlichkeit und ohne viel Aufhebens, oder mit klarem Willen und aufgrund bestimmter Überlegungen: Sprechende Namen etwa, oder anspielungsreiche Namen, oder einfach nicht weiter auffällige zeitgenössische Namen. Aber ich tue mich bis heute schwer damit, Namen zu suchen. Viel leichter fällt mir der Umgang mit gefundenen Namen. Und warum benennt der Erzähler die Tiere nicht, die später in einem wunderbaren Satz erwähnt werden, als Eduard eine Nacht im Garten verbringt? »Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars, daß er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind« (ebd. 1972a: 91). Hier eine Liste von Namen, die ich gefunden habe, ganz anders als jener »Eduard, Eduard«:
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• Trun, • Jupitersfink, • Goldfink, • Rotvögelein, • Rotvogel, • Kletter, • Fistelfink, • Distelfink, • Distelvogel, • Distler, • Stachlick, • Stechlitz, • Stichlitz, • Stiegelitzsch, • gemeiner Stieglitz, • Stieglitz, • in hiesiger Gegend beim gemeinen Manne: die Sterlitze, • der Distel-Zeisig.
Keine Menschennamen, sondern Namen eines Vogels, und zwar des von Linné in seiner Systematik so genannten Carduelis carduelis. Ich habe sie hier, in umgekehrter Reihenfolge, aus Naumanns Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, auch einem Klassiker, gezogen. Gefundene, gesammelte Namen, so wie ein Ornithologe die dazugehörigen Vögel sammelt. Zu ihm, dem Forscher, der beobachtet, was die Welt für ihn bereithält, der Vögel bestimmt und, sofern sie noch keinen Namen tragen, bezeichnet, spüre ich eine größere Nähe als zum Erzähler in Goethes Roman, obwohl ich Schriftsteller bin und Figuren erfinde und ihnen Namen finden muss. Abwechselnd möchte ich nun zum einen der Eduard-Spur, zum anderen der Stieglitz-Spur folgen.
II Noch einmal bitte ich den Kustos der Ornithologischen Sammlung, uns den Inhalt jener Schubfächer zu zeigen, die er vor zwei Jahren anlässlich der Museumsnacht vorbereitet hatte, um den von Ausstellungsort zu Ausstellungsort ziehenden Laien einen ersten Einblick in die Arbeit des Vogelkundlers zu geben. Kein leichtes Unterfangen, denn der Eindruck, mit dem die Besucher die sonst ausschließlich Forschern zugängliche Sammlung verlassen würden, sollte zum einen ausreichend plastisch sein,
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damit sich die vermittelten Erkenntnisse nicht im diffusen Bild verlören, das von derartigen Abenden rasch wechselnder Erlebnisse bleibt, zum anderen aber galt es, keinerlei Kompromisse auf Kosten der Präzision und Differenzierung einzugehen, was das Vorgehen eines Wissenschaftlers – etwa auch im Unterschied zum Hobbyornithologen – betrifft. Ich erinnere mich, es war ein von heftigen Regengüssen bestimmter Sommerabend, wir liefen aufgeregt durch die Gänge, blieben, um möglichst viel aufzunehmen, jeweils nur kurz bei den Tischen mit Präparaten stehen, anhand derer die Kustoden ihre Fachbereiche illustrierten, um schließlich in der Nestersammlung wie gebannt einer ruhigen, eindringlichen Stimme zu lauschen, die zwischen Schaukästen und Schubladenschränken ornithologische Fachfragen mit einer Sorgfalt und Offenheit erörterte, als handele es sich um die selbstverständlichsten Wunder dieser Welt. Am Tag darauf, vielleicht noch in derselben Nacht, machte ich mir Notizen, die geradewegs in Verse mündeten, drei Strophen, bei denen schon während des Schreibens feststand, sie würden Teil eines längeren Gedichts mit dem Titel »Erdkunde« werden, an dem ich in jenen Wochen arbeitete (Beyer 2002:12):
Einmal habe ich Bälge gesehen, aufgereiht in ihrer Kiste, Stieglitze, Varietäten von überall aus dem Osten. Manche sind rund hundert Jahre alt, keinerlei Farbverluste, der Kopf, der Schwanz, die Flügel, und innen ist Watte. Erst seit kurzem bewahrt man auch ihre Knochen. Ich sah, sie liegen gut in der Hand.
III Eduard, so nennen wir ihn: Wird er, von den Menschen, die ihn kennen, immer so genannt? Erhält er seinen Namen in diesem Moment, mit dem ersten Satz des Romans? Oder handelt es sich am Ende nur um eine
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Annahme, um einen Hilfsnamen, der uns, indem er gesetzt wird, vorerst weiterhilft, wenn es darum geht, von dieser Figur zu sprechen? In den Naturwissenschaften gibt es, was die Benennung angeht, klarere und weniger klare Systeme. Linné und sein Ordnungssystem der belebten Welt habe ich bereits genannt. Mit Linné wird ein Weg eingeschlagen, den Lebewesen Namen zuzuordnen, der auf Klarheit ausgerichtet ist – was nicht heißt, dass es nicht auch lange Auseinandersetzungen um ein klares, nachvollziehbares und anwendbares System gegeben hätte und bis heute nicht unterschiedliche Namen für gleiche Lebewesen verwendet würden. Ganz abgesehen natürlich von den nichtwissenschaftlichen Namen, die viele Lebewesen zusätzlich tragen. Demgegenüber erfolgt die Bezeichnung von Mineralen, die ja in den Wahlverwandtschaften eine besondere Rolle spielen, bis heute im Grunde völlig willkürlich – ich zitiere aus Rolf Seims Minerale. Sammeln und Bestimmen: »Mit der Zahl der Minerale darf die Zahl der etwa 6200 Mineralnamen nicht verwechselt werden. Nicht wenige Minerale haben zwei oder mehr Namen. Einige Bezeichnungen für Abarten, die sich in der Farbe, der Gestalt usw. unterscheiden, sind berechtigt und haben sich eingebürgert. Viele Namen stellen jedoch einen unerwünschten Ballast dar, der leider schwer zu beseitigen ist. [...] Für die Benennung der Minerale gibt es im Gegensatz zur Zoologie und Botanik keine Regeln« (Seim 1981: 11).
Es ist so, »daß die Minerale entweder nach auffälligen Eigenschaften benannt wurden oder daß sie nach der chemischen Zusammensetzung, dem Verhalten bei der chemischen Untersuchung, nach dem Fundort oder nach Personen, vor allem Naturwissenschaftlern, ihren Namen erhielten« (ebd.).
IV Seit jenem Abend im Sommer 2001 bin ich, ohne es zunächst zu merken, auf einer Spur. Ich beobachte die Vögel im Garten aufmerksamer, ich ziehe auch Bestimmungsbücher zurate und studiere mit Begeisterung Zeitungsartikel über Forschungsergebnisse in der Ornithologie – aber ich kann nur schwerlich glauben, dass dieses für mich völlig neue Interesse allein vom Gegenstand, eben von jenen flugfähigen Wirbeltieren, die wir Vögel nennen, geweckt worden sein soll. Um mich derart zu fesseln, genügt ein bloßer Gegenstand nicht, es muss noch etwas anderes hinzukommen. In diesem Fall, dem Auslöser meiner Bewegung auf die
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Vogelkunde hin, ist es ganz sicher die Beobachtung des Umgangs mit dem Gegenstand gewesen: »Ich sah, sie liegen gut in der Hand.« Der Kustos, Dr. Siegfried Eck, hat, als er die Stücke seiner Sammlung vor uns ausbreitete, schon bei der ersten Begegnung darauf hingewiesen, wie wichtig die Haptik des einzelnen Vogelbalges für die Arbeit des Forschers sei, nun wiederholt und demonstriert er es, nimmt eine 1810 – also im Jahr, nachdem Die Wahlverwandtschaften erschien – gesammelte Krähe in die Hand, betastet sie vorsichtig, indem er das Federkleid mit den Fingern umfängt, lässt den Unterarm leicht in der Luft federn, als gelte es, das Gewicht des Balges abzuschätzen, und bemerkt: Das Exemplar stamme von Vater Brehm, er habe es etikettiert und präpariert. Christian Ludwig Brehm, diese besondere Größe der Ornithologie und Verfasser einer Schrift über Die Kunst, Vögel als Bälge zu bereiten, habe allerdings selbst nicht so gut gebalgt, der Vogel sei offenbar mit Werg gefüllt, darum zu hart und auch zu schwer. Ein kleiner Einwand, denn immerhin ist der Balg in tadellosem Zustand – Vater Brehm hat mit Arsen vergiftet. Als ich spürte, mit jenen drei Strophen, die unter dem Eindruck eines Besuchs in der Ornithologischen Sammlung hervorgegangen waren, hatte sich das Bild, der Anblick nicht erschöpft, sondern mir war vielmehr eine neue Welt eröffnet worden, suchte ich den Kontakt zu dieser Einrichtung, die wie gesagt nur Forschern offen steht, und bat den Kustos um eine Führung. Er fragte mich, worum es gehe, ich zögerte zunächst, ihm gegenüber anzudeuten, es könne sich um den Beginn der Recherche für eine größere literarische Arbeit handeln, ihn aber überzeugte bloße Neugier als Begründung nicht. Schriftsteller sei ich, und mit mir wollten zwei bildende Künstler in die Sammlung kommen – das ließ er gelten. Im Nachhinein erkläre ich mir seine Offenheit gegenüber uns Laien damit, dass er für jemanden, der bloß etwas beglotzen möchte, nichts übrig hat, im Künstler aber selbstverständlich einen Menschen sieht, der etwas herausfinden will, indem er die Gegenstände mit aufmerksamer Geduld betrachtet. Kein Fachbesucher also, aber doch jemand, dessen Umgang mit dem Gegenstand der Herangehensweise eines Morphologen ähnelt. Manchmal, meint Doktor Eck, sitze er wochenlang vor einer Anzahl Bälge, die er auf seinem Arbeitstisch ausgebreitet vor sich habe, um sie zu sortieren. Vierzig bis fünfzig ausgestopfte Individuen, die man bislang als zur selben Art gehörig sehe – eine Auffassung, an der er zweifle, ohne seinen Zweifel noch untermauern, geschweige denn den Gegenbeweis erbringen zu können. Es sei zunächst eine Vermutung, vielleicht nur eine Ahnung, es handele sich um mindestens zwei wenn auch natürlich sehr nah verwandte Arten. Stimmprofile oder Genanalysen gebe es in diesem Fall nicht, er bilde also immer neue Gruppen, lege die Vögel nach unscheinbarsten Merkmalen geordnet vor sich aus, schiebe den einen
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Balg zögerlich zwischen einer und einer anderen Reihe hin und her, gerate aufgrund dieser Zögerlichkeit zu der Erkenntnis, dass die bisherige Ordnung nicht stimmen könne, beginne nach anderen Kriterien noch einmal von vorn, lerne über dieser konzentrierten Auseinandersetzung jeden einzelnen Balg genauestens kennen, präge sich Schnabel und Federkleid jedes Individuums ein, atme von morgens bis abends den spezifischen Geruch dieser Vögel, ohne jedoch zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Irgendwann dann passiere es, gehe alles ganz schnell, nach Wochen des Zweifelns und Wartens und Studierens: Zuletzt sei es ihm auf diese Weise gelungen, anhand der äußeren Erscheinung von bestimmten Bälgen nachzuweisen, dass es sich nicht wie angenommen um eine, sondern um drei verschiedene Arten handelt.
V ›Goethit‹ – so nennen wir ein Mineral der Verwitterungszone, das durch Zersetzung eisenhaltiger Minerale entsteht und als ›Eiserner Hut‹ in den Oxydationszonen vieler Sulfidlagerstätten vorkommt – ›Goethit‹ wird als Name 1806 von Aschenbach zunächst dem Rubinglimmer beigelegt, den wir richtig allerdings ›Lepidokrokit‹ nennen (vgl. Vollstädt 1981: 96f.). Wenn ich Die Wahlverwandtschaften zu lesen beginne, fehlt mir also zunächst das Spiel der Namensfindung: ein Name wird gegeben, wird gesetzt, und ich als Leser habe das zu akzeptieren, oder ich akzeptiere es eben nicht. Was steckt dahinter? Vielleicht eine Vorstellung von Souveränität? Wer souverän mit seinem Material umgeht, der spielt nicht? Gilt Spiel demnach als Schwäche, als das, was der Arbeit, dem Schreiben vorangeht, aber nicht mehr als integraler Bestandteil der Arbeit aufscheint? Ein Freund, mit dem ich bei einem Ausflug nach Karlsbad – wo Goethe den ersten Teil und den Schluss seines Romans im Juni und Juli 1808 diktierte, woran ich aber auf unserem Spaziergang nicht dachte, denn es hatte uns eher zufällig an diesen Ort verschlagen, nachdem es am Ortsausgang von Ostrau keine Wendemöglichkeit mehr gegeben hatte – ein Freund, mit dem ich mich also in dieser schönsten Stunde eines Aprilnachmittags über Die Wahlverwandtschaften unterhielt, meinte, in der Art böser Bemerkungen, die wir manchmal gern austauschen: Es könnte ein schöner Roman sein, wenn nur die Figuren nicht alle solche unerträglichen Namen trügen. Unabhängig davon, ob einem Leser die Namen der Figuren nun gefallen oder nicht – die Namensgebung in den Wahlverwandtschaften ist ohne Zweifel seltsam: Denn genau betrachtet gibt es in diesem Roman gar
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keinen Eduard. Die vier Hauptfiguren heißen nämlich, wie sich später herausstellt, alle: Otto. Um diese vier Ottos nun voneinander unterscheiden zu können – man denke an das Spiel, das William Faulkner in The Sound and the Fury den Erzähler des ersten Kapitels mit dem Namen seiner Schwester, ›Caddy‹, und dem Golfwägelchen, ›Caddy‹, treiben lässt – um also die vier Hauptfiguren namens Otto für den Leser unterscheidbar zu machen, werden zwei weibliche Varianten dieses Namens eingeführt: Charlotte und Ottilie, so wie bei Proust die beiden weiblichen Hauptfiguren ›Bert‹ heißen und als Gilberte und Albertine in Erscheinung treten. Was die zwei männlichen Hauptfiguren der Wahlverwandtschaften angeht, so haben sie sich schon in ihrer Jugend darauf geeinigt, dass der eine zwar weiterhin Otto genannt werden, der andere aber einen neuen Namen annehmen sollte, nämlich eben jenen Eduard. Vielleicht, überlege ich, bin ich beim Lesen des ersten Satzes, indem ich mich von ihm distanziert habe, dem Erzähler auf den Leim gegangen: »Eduard, so nennen wir« steht da, und nicht etwa: »Eduard, so heißt«. Vielleicht wird in diesem Roman, über das Spiel der Kombinatorik, wie es anhand der Hauptfiguren vor mir abläuft, hinaus, doch gespielt. Eduard nennen wir ihn, damit niemand ihn mit seinem Jugendfreund verwechselt, der ebenfalls Otto heißt: Merkwürdig aber, dass dieser Jugendfreund im Roman nie beim Namen, sondern stets nur ›der Hauptmann‹ genannt wird, so dass die Gefahr einer Verwechslung gar nicht bestünde, wenn Eduard seinen Namen behalten hätte.
VI Er könne sich vorstellen, sagt Doktor Eck, dass es bei der künstlerischen Arbeit mitunter ganz ähnlich zugehe. Ein plötzliches Erkennen: So muss es sein, so stehen die Elemente in einem Verhältnis zueinander. Und gleich darauf die Frage: Warum habe ich das nicht sofort gesehen? Ich antworte im Kopf: Weil das Sortieren, das oft quälende Warten und die dennoch fortwährende genaue Beobachtung ein notwendiger Teil der Arbeit sind. Indem man einen Umgang mit dem jeweiligen Gegenstand einübt, seien es nun Vogelbälge, Farben oder Sprache. So erlebe ich, während der Kustos das Schubfach mit Stieglitzbälgen aus dem Schrank zieht und auf dem Tisch abstellt, eine eigentümliche Situation: Ein Ornithologe, über dessen Arbeit ich ohne sein Wissen ein kurzes Gedicht geschrieben habe, erklärt mir anhand seiner Arbeit, wie das Schreiben vonstatten gehen könne, oder, genauer: Indem er vorsichtig mögliche Analogien zwischen künstlerischer und ornithologischer
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Arbeit formuliert, versucht er, uns das Vorgehen eines Vogelkundlers zu veranschaulichen, der sich auf die Erkundung der äußeren Gestalt von Vögeln spezialisiert hat. Die Nachbarschaften, die Unterschiede, der Blick: Nicht lange, nachdem die Stieglitzbälge bei mir aufgetaucht sind, entdecke ich in Thomas Klings Gedichtband ›Sondagen‹ dieselbe Vogelart, in ebenfalls zwölf Versen, die ebenfalls Teil eines größeren Zusammenhangs sind. Vielleicht, überlege ich aufgeregt, saßen wir beide um dieselbe Zeit über einem Distelfinkengedicht, ohne dass wir, jeder mit seinem eigenen Stieglitz vor Augen, beim Schreiben voneinander gewusst hätten (Kling 2002:105):
dieser kopffleck, kopffleck; (funken: disteln) marke am haupt wie arterielles blut. der sich abhebt, vom reif noch; an pendelnder rispe schwingendes rot (distelfunk): was für ein schönes paar distelfinken.
VII Stieglitz und Distelfink: zwei Namen für denselben Vogel, wie sie heute weithin gebräuchlich sind, der eine auf jeden Fall slawischen Ursprungs, doch wortgeschichtlich nicht weiter geklärt, der andere unmittelbar anschaulich. Ich habe Karlsbad gesagt und Ostrau. Ich hätte auch Karlovy Vary und Ostrov sagen können. Eduard und Otto.
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Vielleicht kann beim Schreiben ein Spiel immer genau an solchen Punkten beginnen, wo ein und derselbe Gegenstand – ein Mensch, ein Tier, ein Ort – zwei Namen hat, vielleicht setzt die Arbeit beim Wundern angesichts dieser Spannung ein: zwischen Sprache und Sprache. Oder auch dort, dies am Ende als Beobachtung, die ich, zu meiner Verwunderung, erst mache, während ich diesen Text abschließe, wo zwei völlig verschieden geglaubte Gegenstände in einem Wort zusammenfallen: Ursprünglich hätte ich hier vielleicht etwas über Georges Perec und die Rolle des Spiels in seinen literarischen Arbeiten sagen wollen, dann kam mir einer seiner Lehrer in den Sinn, ebenfalls ein Lieblingsschriftsteller von mir: Michel Leiris, weil dessen Hauptwerk, eine autobiographische Arbeit, die sich über ungefähr fünfunddreißig Jahre hinzog, den Titel Die Spielregel trägt. Darüber, und über die Vorstellung vom Spiel darin, die Leben und Dichtung zusammenzubringen versucht, hier etwas zu sagen, hätte nicht nur Stunden des Vortrags, sondern Jahre der Vorbereitung gekostet. Also kam ich auf den Gedanken, ich könnte zumindest den ersten Band dieses Werkes, Streichungen, für die Verlosung mitbringen.1 Die deutsche Übersetzung des Buches ist aber leider vergriffen, außerdem ist es unschön, bloß das Viertel einer Autobiographie zu gewinnen. Im nächsten Schritt entschied ich mich für eine erste, von Leiris als abschließende, dann als ungenügend betrachtete Autobiographie. Ohnehin sollte man vielleicht sie zuerst lesen, um dann an der Spielregel Gefallen zu finden. Während ich also über einem Satz von Johann Wolfgang von Goethe sitze und mich frage, was denn die Formulierung vom »besten Mannesalter« zu bedeuten habe, treffe ich eine Wahl und besorge ein Buch mit dem Titel: Mannesalter.
1 Jeder Vortragende bei der Ringvorlesung wurde gebeten, ein Buch für eine Verlosung mitzubringen.
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Roulette
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Tabelle: Substantiv ungerade Buchstabenzahl Verb gerade Buchstabenzahl
vierfach zweifach fünffach dreifach
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Adjektiv Fremdwort
fünffach fünffach
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Roulette ist ein Spiel, bei dem sich 5 Euro in den Wert einer Diamantmine verwandeln können. Es wird mit eleganten bunten Jetons statt barer Münze gespielt, so dass sich auch die umgekehrte Transaktion – man erhält für den Wert einer Diamantmine keine 5 Bananen mehr – mit unauffälligster Leichtigkeit vollzieht. Auf dicken Teppichen findet an jedem Roulettetisch eine Mischung aus Leichtfertigen, Vergnügungssuchenden und Systematikern zusammen: »Sie sitzen mit linierten Papierblättern da, notieren die einzelnen Resultate, zählen, folgern daraus Chancen, rechnen, setzen endlich und – verlieren gerade ebenso wie wir gewöhnlichen Sterblichen, die wir ohne Berechnung spielen« (Dostojewksi 1980: 40). Roulette, so muss Alexei Iwanowitsch, Dostojewskis Spieler, am eigenen Leib erfahren, ist eine der mächtigsten Phantasmenmaschinen der Moderne. Das Spiel mit der unsterblichen Losung Rien ne va plus entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Seinen Siegeszug feierte es vor allem in den europäischen Bädern, als diese sich von Kurorten zu Spiel-, Mode- und Luxusbetrieben wandelten. Hier fand es die ideale Umgebung, sich als ein Lebensgefühl all jener zu inszenieren, denen der Bourgeois in Dostojewskis »Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke« aus der Seele sprach: »Was ist ein Mensch ohne eine Million?« (Dostojewski 1958: 110). In einer Zeit aus den Fugen geratender Lebensentwürfe brachte das schnelle Spiel am grünen Tisch ein existentielles Wagnis auf den Punkt: das wahre Leben als ekstatische Besitzergreifung in einer Mischung aus Machtrausch, Gewinnsucht und dem Verlangen nach Risiko. Getragen von dem Gefühl der Auflehnung, sowohl die Gesetze des Schicksals wie die der Arithmetik gleichermaßen beherrschen zu können, ist die Chance beim Roulette immer auch mit einer Kränkung verbunden: Das Glück ist für alle gleich, zumindest solange die Kugel rollt.
HOMO LUDENS PRUDENS ANDREAS PLATTHAUS Gleich zu Anfang muss eines klargestellt werden: Wer erwartet haben möge, dass in diesem Text grundlegende Prinzipien journalistischen oder gar feuilletonistischen Arbeitens erklärt würden, der lasse alle Hoffnung fahren. Ein Feuilleton wie das der F.A.Z., dem der Verfasser angehört, ist eine Art fortgesetztes Oberseminar, in dem sich eine wild zusammengewürfelte Horde von Akademikern mit jeweils mehr oder weniger ausgeprägten schweren Zacken ihren jeweiligen Lieblingsthemen widmet. Und dabei hofft sie auch noch auf Publikum. Nun, ganz so schlimm ist es denn doch nicht. Natürlich gibt es Verpflichtungen, denen man sich als Feuilletonist nicht entziehen kann. Da ist die spektakuläre Premiere vom Wochenende, das Aufsehen erregende Buch vom Erfolgsautor oder der vielbeworbene Film aus einer bislang für ihre Kinematographie eher unbekannte Region. Alles Themen, die im Kulturteil einer überregionalen Zeitung ihren Platz finden müssen, auch wenn alle Redakteure weder das Spektakel schätzen noch den Erfolgsregisseur und schon gar nicht das Prinzip des Ethnofilms (natürlich ist alles Gesagte nur bloße Annahme ohne Anspruch auf irgendeinen Wahrheitsgehalt). Kurz: Von der Freiheit eines Feuilletonmenschen ist auch nur als einer begrenzten zu sprechen. Und dennoch überwiegt sie die Pflichten, weil das kulturelle Geschehen eine Vielfalt bietet, die jedem Interessierten zahlreiche Blüten zugesteht, um die er seine Träume reifen lassen kann. Das also als erste Warnung. Dann als zweite Warnung: Der Verfasser des vorliegenden Textes ist ein grässlich schlechter Spieler. Er verliert ungern, und er reißt seine Partner ins Unglück. Deshalb zieht er Einzel- den Mannschaftssportarten vor, meidet Brettspiele, schätzt das Roulette und bemüht sich im Ganzen, jeglicher spielerischen Beschäftigung metaphysischen, wenn nicht gar materiellen Wert zu verleihen, damit er etwaig entstehenden Ärger über den Spielverlauf vor sich selbst rechtfertigen kann. Hinzu kommt, dass er unter einem Unstern geboren worden ist, während alle seine Gegner auf Spielfeldern – und dieser Begriff möge bitte sowohl topogra-
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phisch wie metaphorisch verstanden werden – Schoßkinder des Glücks zu sein scheinen. Die literarisch breit Gebildeten unter den Lesern werden der Terminologie der letzten Sätze vielleicht eine Vorliebe abgelauscht haben, die das ganze Leben des Verfassers geprägt hat: die zu Entenhausen. Wer Donaldist ist wie er, der kann zumindest mit dem Schicksal eines Pechvogels besser leben, denn dann darf als bekannt gelten, wie schlimm es noch kommen könnte und dass selbst eine Unglückssträhne die Liebenswürdigkeit eines Charakters nicht notwendig beeinträchtigt. Wir sprechen natürlich hier von Donald Duck, dessen Lebensprinzipien dem Verfasser in einer keineswegs spielerischen, sondern ganz buchstäblichen Weise Vorbild sind. Und Mahnung. Aber das versteht sich ja bei jeder Idealisierung von selbst. Glückspilz und Pechvogel sind also seit jeher – oder zumindest, seit die Alphabetisierung durch Donald-Duck-Hefte erfolgte – zentrale Kategorien des Verfassers Daseins. Und er glaubt, dass er selbst einer dieser beiden Kategorien eher zuzurechnen ist als der anderen. Man möge sich also seinen Schock vorstellen, als Natascha Adamowsky ihm im Januar 2004 einen kleinen gelben Umschlag zuschickte, in dem sich drei Spielkarten befanden, auf deren Rückseite jeweils ein Zitat aufgedruckt war, die als Ausgangspunkt für einen Vortrag an der Berliner HumboldtUniversität dienen sollten. Eines davon sollte gewählt werden, und dieses Angebot bezeichnete Natascha Adamowsky in einem Begleitbrief als ihren »ersten Spielzug«. Schon das Wort versetzte den Verfasser, wie man sich nach dem bislang Gesagten leicht wird vorstellen können, in Panik; er war praktisch bereits matt. Denn wer wäre er, einen Spielzug auszuschlagen? Schließlich sollte es in der Ringvorlesung, die den Rahmen für den Vortrag abgeben würde, um ludische Modelle gehen, und eine Kulturwissenschaftlerin darf wohl erwarten, dass man sie als Gegnerin ernst nimmt, auch wenn der erhoffte Spielpartner eigentlich alle seine Hoffnungen darein gesetzt hatte, das Ganze spielerisch absolvieren zu dürfen – also nach seinen Regeln. Kein Denken aber mehr daran nach Erhalt des gelben Umschlags, in dem sich die drei Karten befanden: ein Herzbube, eine Karo-Neun, eine Pik-Sieben. Und auf deren Rückseiten eben die drei Zitate, die der Verfasser gar nicht vorab zu lesen wagte, um nicht in Versuchung zu geraten, das Spiel zu manipulieren. Denn wenn er eines noch mehr verabscheut als seine eigenen Missgeschicke im Spiel, so ist es Unsportlichkeit. Deshalb versetzte er sich in einen Zustand geistiger Verwirrung, um völlige Unschuld zu simulieren, und zog eine Karte. Es war zu seiner Freude der Herzbube, den er aus Abscheu gegen jede Form von Ikonoklasmus ohnehin gewählt hätte, und auf dessen Rückseite war ein Satz
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aus Adornos Noten zur Literatur zu lesen, genauer: aus dem Aufsatz »Der Essay als Form«. Nun hatte der Verfasser schon immer damit kokettiert, dass ihm das einzig Kommensurable von Hegel wie Adorno jeweils ihre ästhetischen Theorien zu sein scheinen, und er war dementsprechend geschockt. Zumal eine eilige Lektüre der beiden weiteren Karten ergab, dass alternativ Don Quixotes Angriff auf die Windmühlen oder der erste Satz aus den Wahlverwandtschaften zur Auswahl gestanden hätten. Kurz – aber wirklich nur sehr kurz – erwog der Verfasser Betrug und schickte sich dann doch in sein Los und brütete drei Monate über folgenden Satz im unnachahmlichsten Jargon der Frankfurter Schule (und man wird sogleich verstehen, warum der Verfasser Heidegger vor allem deshalb schätzt, weil Adorno seine philosophische Sprache kritisiert hat): »Sobald er [und Natascha Adamowsky war so freundlich, in eckigen Klammern »der Geist« als nähere Bestimmung dieses »er« hinzuzusetzen] mehr will als bloß die administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch Tautologie« (Adorno 1958: 29). Die Ausdeutung eines solchen Satzes ist selbstverständlich unmöglich, deshalb sei es mit einer Andeutung versucht, die sich zunächst auf nur fünf Wörter aus dieser These beschränkt: »die vom Spiel verlassene Wahrheit«. Denn darin vermochte der Verfasser vor aller gedanklichen Durchdringung des Zitats eine reizvolle Anspielung auf seine Tätigkeit als Zeitungsredakteur zu erkennen. Was ist Wahrheit? Diese vielleicht älteste aller philosophischen Fragen weckt die Erwartung, es werde über die Wahrheit geredet. Wir verzichten darauf. Stattdessen sei ein bestimmter Aspekt von Wahrheit erörtert. Dadurch lassen wir uns, wie es scheint, unmittelbar in die Wahrheit versetzen. Wir verschaffen ihr so allein die rechte Möglichkeit, sich selbst vorzustellen. (Das war, man möge es als spielerische Albernheit durchgehen lassen, eine nur leicht variierte Wiedergabe des wunderschönen Anfangs von Heideggers Aufsatz »Was ist Metaphysik?«) Welche Präambel eines Redakteursvertrags man auch immer auf der ganzen Welt nachlesen sollte, ob der Aussteller ein Lügenblatt ist, das sich in einem totalitären Regime selbst ›Wahrheit‹ genannt hat, ob es parteiische Blätter von rechts oder links sind oder reaktionärste Postillen – man wird immer die Berufung eines ganzen Berufsstands auf Wahrheit darin finden. Wahrheit aber trägt den Schein von Objektivität mit sich. Und nichts ist ein Feuilleton weniger als objektiv. Man vergesse sofort alles wieder, was vielleicht im Erststudium der Publizistik über die Trennung von Bericht und Kommentar gelehrt worden sein sollte, sobald man den Kulturteil einer Zeitung aufschlägt: Dessen größter, man möchte behaupten: einziger Reiz entsteht aus der unbedingten Subjektivität
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des Rezensionsbetriebs. Die Wahrheit eines Feuilletonartikels ist die seines Autors – zumindest solange es um ästhetische Urteile geht, und um nicht anderes sollte es gehen. Nun ist das ästhetische Urteil eines, das sich sämtlichen nur denkbaren Fragen widmen kann, und so hält es zumindest das F.A.Z.-Feuilleton. Donald Ducks dem Verfasser schon immer einleuchtendster Satz lautet: »Ich versteh von allem was.« Das ist wahrscheinlich Hybris, aber hochsympathisch, denn Fachidioten gibt es genug. Als der Verfasser merkte, wie bei der F.A.Z. gearbeitet wird, beschloss er im Stillen, dass diese Institution nur geschaffen worden sein könne, um ihm persönlich Vergnügen zu bereiten. Diese Annahme hat zwar einige Prüfungen erfahren müssen, aber im Großen und Ganzen sieht er das heute immer noch so. Einmal also hatte er das große Los gezogen. Nun hat uns Adorno mit seiner Formulierung zur »vom Spiel verlassenen Wahrheit« einen Schlüssel an die Hand gegeben, mit der wir die Arkana journalistischer Werte analysieren können. Die vom Spiel verlassene Wahrheit, das ist natürlich die scheinobjektive, eine Wahrheit, die dem Zugriff des Individuums entzogen ist, gänzlich autark, man könnte sagen: schicksalsgegeben und natürlich vor allem ewig. Sobald aber Spiel ins Spiel kommt, ist die Ewigkeit perdü. Denn Spiel ist immer schon über die Müßigkeit seines Inhalts an die Vorstellung von Kinderzeit, also einer vergänglichen Spanne, gebunden gewesen. »Ein Spiel dauert neunzig Minuten«, lautet eine der wenigen Wahrheiten, die wir alle als beinahe objektiv anzuerkennen bereit sind. Spielen heißt, kurz gesprochen, sich die Zeit zu vertreiben. Und dieses Vertreiben muss man entgegen der üblichen Lesart so verstehen, als treibe man die Zeit vor sich her. Sie verläuft – jeder wird diese Erfahrung schon gemacht haben – im Spiel stets schneller als gewohnt. Als Angestellter einer Tageszeitung ist dem Verfasser die Vergänglichkeit tief vertraut. Und als Feuilletonist liebt er die Mehrdeutigkeit des Begriffs ›Spiel‹, der von Sandkastenaktivitäten über Profifußball bis zum Theater derart viel umfasst, dass ihm nicht aus dem Weg gehen kann, wer sich überhaupt mit menschlichem Tun befassen will. Und die Journalisten spielen selbstverständlich auch mit. Dass aber dürfen sie nicht so offen merken lassen wie die Spieler, denen sie sich widmen. Denn der Leser einer Tageszeitung, der Hörer einer Radiostation, ja selbst der Zuschauer eines Fernsehsenders glaubt beinahe abergläubisch daran, dass ihm von diesen Einrichtungen Erkenntnisse verschafft werden könnten, die zum Verständnis der Dinge beitragen. Es ist schwer, dem Publikum zu erklären, dass sich der Werbeslogan der F.A.Z. (»Dahinter steckt immer ein kluger Kopf«) nicht auf die Macher der Zeitung, sondern auf deren Leser bezieht. Diese nehmen die
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Sache tierisch ernst, und natürlich sind die Redakteure bis zu einem bestimmten Punkt aufgerufen, den Erwartungen an Ernsthaftigkeit auch zu entsprechen. Doch interessant wird es, wenn sie spielerisch an Themen herangehen, wenn sie darauf setzen, dass tatsächlich eine vom Spiel verlassene Wahrheit nur noch Tautologie wäre. Die müsste niemand mehr erklären. Der klassische Satz zur Erläuterung der Tautologie stammt erst aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert und lautet: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.« Dabei ist das gar keine Tautologie, oder bestenfalls eine syntaktische. Denn unser Bild von der Rose verändert sich mit jeder Wortwiederholung. Und warum? Weil wir den Satz plötzlich nicht buchstäblich, sondern spielerisch verstehen, als ironischen Kommentar, der als Signal für diese Deutung die dreifache statt der zweifachen Wortwiederholung enthält. Das ist ein rhetorischer Kniff von Gertrude Stein, der jeden Schreiber begeistern muss. Es hat dem Verfasser gefallen, dass er in dem Aufsatz der Noten zur Literatur, dem das Zitat entstammt und der, wie erwähnt, den Titel »Der Essay als Form« trägt, nicht nur die aller Volksweisheit widersprechende Behauptung fand, dem Essay seien Glück und Spiel wesentlich, sondern im ersten Satz auch die Behauptung, dass der Essay in Deutschland als »Mischprodukt« verrufen sei. Man könnte nun einfach das Wort ›Essay‹ durch ›Feuilletonartikel‹ ersetzen (bisweilen ist das ja sogar deckungsgleich) und hätte derart spielerisch eine Wahrheit erhalten. Und dem vom Herzbuben gelieferten Zitat selbst ist in Adornos Aufsatz ein martialischer Satz direkt vorangestellt, der alle Saiten im Verfasser zum Klingen gebracht hat und ihn den Vorsatz fassen ließ, alsbald wieder einmal die Adorno-Lektüre über die Ästhetische Theorie hinaus auszuweiten: »Die den Geist glauben gegen Unsolidität verteidigen zu müssen, sind seine Feinde: Geist selber, einmal emanzipiert, ist mobil« (Adorno 1958: 29). Eine solche Beweglichkeit ist auch die vordringliche Qualität eines jeden Journalisten, denn sonst wird er zum Berichterstatter, der keinen eigenen Blick auf die Welt haben und durch diese Ermangelung einer sich ständig variierenden Perspektive immer nur wiedergeben kann, was an ihn heran getragen wird. Passivität versus Aktivität. Der kluge Kopf steckt nie auf Dauer hinter einem Blatt, sondern schaut sich ständig um. Weiter mit Adorno, weiter in Begriffsfelder, die biographisch nun einmal die des Verfassers als ehemaliger Rhetorikstudent sind: »Historisch«, so fährt Adorno nach der von Natascha Adamowsky so grausam herauspräparierten Textinnerei fort, »ist denn auch der Essay der Rhetorik verwandt, welcher die wissenschaftliche Gesinnung seit Descartes und Bacon den Garaus machen wollte, bis sie folgerecht im wissenschaftlichen Zeitalter zur Wissenschaft sui generis, der von den Kommunikationen, herabsank.« Das Vergnügen, das wohlgesetzte Sprache verschaf-
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fen kann, ist ein intrinsisches, es ist nicht an Wahrheit im nichtspielerischen Sinne gebunden, da mag Quintilian in seinem grundlegenden Buch Die Ausbildung des Redners den ›vir bonus‹ als Ziel jeder Rhetorikschulung so lautstark beschwören, wie er will. Rhetorik als Genussempfinden heißt, sich der spielerischen Möglichkeiten von Sprache bewusst zu werden, sie als Kunstwerk und nicht als Werkzeug zu achten und somit das spielerische Element, das aller Kunst inhärent ist, in ihr zu erkennen. So muss auch guter Kulturjournalismus betrieben werden, der zum Dissens ohnehin schon durch seine Subjektivität herausfordert. Wenn aber nicht der Gegenstand Schreiber und Leser einigen kann, so muss es das beiderseitige Interesse an Darstellung sein. Wir erfreuen uns ja am Kunstwerk, weil es darstellt – oder profaner gesprochen: weil es spielt. Nichts anderes macht ein Text, also auch jeder Artikel. Doch nur jenes Spiel ist wirklich Kunst, das sich seiner Darstellung bewusst ist und das auch spüren lässt. Hierin erkennt der Verfasser den Vorzug feuilletonistischer Betrachtungen. Umso klüger ist ein Autor zu nennen, je mehr er dem Spiel freien Lauf lässt. Deshalb war der Vortrag des Verfassers im Rahmen der Ringvorlesung mit »Homo ludens prudens« überschrieben. Die Prudentia, die Verkörperung der Klugheit, spielt über die Schilderung von Giottos Freskenversion in Padua eine wichtige Rolle in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit. Das Bild ist dort gemalte Verkörperung des allegorischen Prinzips, also eines im Kern literarischen Kunstgriffs. Klugheit und Rhetorik sind in eins gesetzt, und der Verfasser gewährt dieser kleinen Abschweifung nur deshalb diesen kurzen Absatz in seinem Text, weil feuilletonistisches Schreiben ein Montageverfahren hervorgebracht hat, das in solchen Digressionen eine eigene spielerische Komponente aufweist: etwas andeuten und es sofort wieder verlassen, während sich im Kopf des Lesers ein ganzer Kosmos zu entfalten beginnt. In diese sympathetische Stimmung hinein kann man dann die nächsten Sätze senken, ohne wirklichen Widerstand befürchten zu müssen. Nun ist aus dieser kurzen Einlassung doch noch unter der Hand eine kurze Einführung ins Wesen des Feuilletons geworden. Ja, Feuilletonisten spielen als Autoren, und sie tun es vielleicht mehr als andere Vertreter der schreibenden Zunft, weil sie weniger Zeit haben: zum Schreiben und um gelesen zu werden. Das wird bisweilen verübelt, als mangelnde Ernsthaftigkeit ausgelegt, aber das Spiel, soviel dürfte klar geworden sein, ist dem Verfasser eine ernste Sache, wenn es um seine Wirkung geht. Adorno hatte recht, wenn er das Zeitalter der Wissenschaften als ein ungeistiges geißelt, und wer vielleicht verfolgt haben sollte, wie erbittert in den letzten Jahren im Feuilleton der F.A.Z. der Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern um die Frage von Hirnfor-
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schung und deren Resultaten ausgetragen wurde, der wird wissen, dass nicht der Gegenstand, sondern die Methode den Reiz darstellt. Das hat Descartes in seinem Discours de la méthode schon beschworen, als er die Würde einer Wissenschaft nicht aus ihrem Gegenstand, sondern aus ihrer Methode bestimmte, und eigentlich hofft man als Geisteswissenschaftler, als der sich der Verfasser immer noch versteht, darauf, dass diese Bestimmung der Dignität einer Profession den Disziplinenstreit schlichten sollte. Weit gefehlt, denn Descartes hatte natürlich nur die naturwissenschaftliche Methode im Auge, nicht aber die Möglichkeit, dass auch durch das Spiel Erkenntnis gewonnen werden kann. Eine Vernunft, so lautet die These des Verfassers, die sich auf nicht mehr gründet als den Spaß an seiner Arbeit, eine Vernunft also, die nicht spielt, ist irrational, denn sie verabsäumt die Einbeziehung eines wesentlichen Mittels zum Erkenntnisgewinn. Dass Adorno dem Verfasser darin beipflichten würde, ergibt sich schon aus seiner antihegelianischen Pointe »Das Ganze ist das Unwahre«. Erst wo die Brechung einsetzt, kann ein Lichtblitz analysiert werden, und für einen Geistesblitz gilt das gleichermaßen. Dann hat Spiel auch nichts mehr mit Glück im Sinne eines extrinsischen Einflusses zu tun. Und somit kann auch jemand wie der Verfasser, der das Spiel scheut, wo es Wettkampfcharakter hat, dennoch spielerisch denken, wenn er nur bereit ist, die Zügel schießen zu lassen und das zu wagen, was ein Kollege aus dem Naturwissenschaftsressort einmal so genannt hat: einen irren Blick. Dieser Blick jedoch irrt nie, auch wenn er durchaus die Möglichkeit hat zu täuschen. Aber er täuscht immer nur die anderen.
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Slot machines haben die Anmutung eines ludischen Pendants zum Fließband. Die Maschine entscheidet, bestimmt den Takt wie die Handbewegung, zahlt aus: ein endloses, auf endlose Wiederholungen angelegtes Spiel. Der maschinellen Logik nach bieten slot machines ein kurzes Vergnügen für’s kleine Geld. Eine Runde dauert wenige Sekunden und wird durch den Einwurf einer einzelnen Münze gestartet. Üblicherweise jedoch tauschen routinierte Spieler ihren Einsatz gleich gegen einen ganzen Eimer voller Münzen oder Chips und entleeren diesen dann durch gleichmäßigen wie gewissenhaften Münzeinwurf in einem flow-ähnlichen Gemütszustand, den auch lautstarke Gewinnausschüttungen nicht unterbrechen können. Das perfekte environment für diese Form postkapitalistischer Meditation avant la lettre bietet Las Vegas. Die Stadt im Südwesten der Vereinigten Staaten steht wie keine andere für den Aufstieg der slot machines zum heute populärsten und für die Betreiber ertragreichsten Kasinospiel der Welt – vielleicht deshalb, weil sie in der Lage war, für die vollendete Versachlichung des Spielgeschehens einen Kontext der Entsachlichung zu schaffen, in dem eine immer größer werdende Vielfalt virtueller Reisen mit neuen, immersiven Medien für jedermann erfahrbar wird.
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Während beispielsweise britische Kasinos am Ende des 20. Jahrhunderts noch über eine Vielzahl exklusiver Zugangscodes verfügten wie Clubmitgliedschaft oder Kleiderordnung, lautet in Las Vegas bereits seit den 1950er Jahren die Devise schlicht ›come as you are‹. Damit dies nicht langweilig wird, wartet eine einzigartige Angebotspalette an theme parc hotels, in die man eincheckt wie am Flughafen. ›Be who you want to be!‹ ist dabei Versprechen wie Imperativ zugleich. Wer nur als aufgeklärter Freizeittourist gekommen ist, um sich mal ein wenig umzuschauen, sieht kaum mehr als jede Menge Plastik im trostlosen Wüstensand.
»UN AUTRE JEU« Das Spiel, der Film und die Frage einer allgemeinen Medienwissenschaft BERNHARD J. DOTZLER Das Spiel, der Film, die Frage einer allgemeinen Medienwissenschaft – solchermaßen mit gleich drei bestimmten Artikeln versehen, erzwingt der Titel geradezu, dass der Text, der ihn einlösen soll, mit einer captatio benevolentiae beginnt. Sei also vorausgeschickt, dass dieser Titel in jedem Punkt ernst gemeint, gerade deshalb aber nicht so vermessen ist, wie er klingt. Tatsächlich geht es im Folgenden lediglich um die Frage einer allgemeinen Medienwissenschaft. Diese soll in ein bestimmtes Licht gerückt werden; von einer Antwort bleiben die folgenden Ausführungen weit entfernt. Zudem sollen in ihnen zwar wirklich das Spiel und der Film zum Gegenstand werden, aber nur, insofern der bestimmte Artikel in beiden Fällen auf ein konkretes Fallbeispiel referiert, nämlich ein Streichholzspiel (Abb. 1), das unter dem Namen NIM bekannt ist, und das als eines der ersten aller Computerspiele ebenso Berühmtheit erlangte wie als Element eines Filmklassikers, der ihm seinen Zweitnamen gab: Le jeu de Marienbad gemäß dem Titel des Films: L’année dernière à Marienbad von Alain Resnais. Wer immer sich fürs Kino interessiert, kennt diesen Film. Sinnvoll nachzuerzählen ist er kaum, aber fast jeder seiner Ausschnitte ist exemplarisch für das Ganze. So auch die Anfangssequenz, als die Kamera auf dem Weg ihres für diesen Film notorischen Travellings durch Flure und Zimmerfluchten in einem Theatersaal ankommt. Man hört die Voice over mit ihrer ebenAbb. 1: NIM in der so notorischen Litanei: »Une plus de fois ... Und Verpackung einer wieder – gehe ich, wieder diese Flure entlang, Streichholzschachtel diese Säle, diese Galerien, in diesem Bauwerk
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aus einer anderen Zeit, diesem gigantischen Hotel ...«1 und so weiter, bis diese Stimme in einen Dialog übergeht mit der Frage »Venez-vous?« und der das Filmende früh vorwegnehmenden Antwort »... maintenant. Je suis à vous.« Relativ bald – nur etwa sieben Filmminuten später – wird dann das NIM-Spiel eingeführt, und zwar in Form einer ersten Partie, der die Erklärung der Spielregeln vorausgeht: Der Beginn des Gesprächs zwischen X und M (off) ist schon zu hören, während das Bild noch zu ihrer Gruppe gleitet. STIMME VON M: ... Ich schlage Ihnen ein anderes Spiel vor: ich kenne ein Spiel, bei dem ich immer gewinne ... STIMME VON X: Wenn Sie nie verlieren können, ist es kein Spiel. STIMME VON M: Ich kann verlieren. (Kleine Pause, M erscheint in diesem Augenblick auf dem Bild; er ist es, der spricht.) M: (fortfahrend): ... Aber ich gewinne immer. X: Versuchen wir es. M (die Karten vor X ausbreitend): Man spielt es zu zweit. Die Karten werden folgendermaßen angeordnet. Sieben. Fünf. Drei. Eine. Die Spieler heben abwechselnd Karten auf, gleich wie viele, unter der Bedingung, diese jeweils nur aus einer Reihe zu nehmen. Wer die letzte Karte aufhebt, hat verloren. (Eine kurze Pause, dann auf die Karten weisend): Wollen Sie anfangen. M hat im Stehen [...] mit etwas steifen Bewegungen die Karten nach dem untenstehenden Schema vor X aufgelegt. Sie spielen schweigend, ohne Musik, in vollständiger Stille eine rasche Partie [s.a. Abb. 2]. # ### ##### ####### X nimmt nach einer Sekunde des Nachdenkens eine Karte aus der Reihe zu 7. M nimmt sehr rasch eine Karte aus der Reihe zu 5. X denkt drei Sekunden nach und nimmt den Rest der Reihe zu 7. M ergreift, ohne weiter nachzudenken, zwei Karten aus der Reihe zu 5. X nimmt eine Karte aus der gleichen Reihe. M nimmt zwei Karten aus der Reihe zu 3. X denkt einige Augenblicke nach, lächelt, als er ob begriffen hätte, dass er verloren hat, nimmt eine der drei noch verbleibenden 1 Dieses wie alle folgenden Filmzitate teils in Transkription der Tonspur (Original- und dt. Synchronfassung), teils nach dem Drehbuch des Films: L’année dernière à Marienbad, F/I 1961, R: Alain Resnais, sowie Alain Robbe-Grillet, Letztes Jahr in Marienbad. Drehbuch, München: Hanser 1961.
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Karten (Reihe zu 5). M nimmt eine andere (aus der Reihe zu 3). Es bleibt die einzelne Karte übrig [...], und das Bild bleibt einen Augenblick auf diese letzte Karte gerichtet, als ob sie eine besondere Bedeutung hätte. Die Aufnahme wird erst bei dem Lachen von A (unsichtbar) [...] unterbrochen, und zwar nachdem die letzte Karte für X zurückgeblieben ist. Dieses Lachen hält bis zum Ende der Einstellung und sogar noch ein wenig länger an. Abb. 2: Die NIM-Partien in L’année dernière à Marienbad 1. Partie: M gegen X (X beginnt:) X
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Soweit also das erste NIM-Duell in Letztes Jahr in Marienbad. Recherchiert man heute unter beiden Suchbegriffen – dem Namen des Spiels wie dem Filmtitel – im Internet, so stößt man neben Hunderten anderen etwa auch auf diese Seite, die auf die gerade gezeigte Szene Bezug nimmt und sie wie folgt kommentiert: »Last Year in Marienbad« features three [recte: vier] playings of nim. In the first of these scenes, Sascha Pitoëff’s character introduces the game in this dialogue:
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›I know a game I always win.‹ ›If you can’t lose, it’s no game.‹ ›I can lose, but I always win.‹ He always does win too (which anyone familiar with nim will recognize as some of the film’s more plausible events) (http.home.pacbell.net/ fransg/nim.htm).«
Lakonischer als durch den Zusatz in Klammern könnte wohl nicht gesagt werden, wie gewollt mysteriös der Film insgesamt ist, wie verrätselt und in der Gewolltheit dieser Verrätselung zugleich trivial, und wie das zugleich simple und doch vertrackte Spiel im Spiel an dieser durchschaubaren Undurchschaubarkeit teilhat. Wer mit dem Spiel vertraut ist, für den sind die NIM-Szenen des Films durchaus nachvollziehbar. Aber wie plausibel ist der Umstand, dass es diese Szenen überhaupt in diesem Film gibt? Diese Frage führt zu NIM als Computerspiel: Dass im selben Jahr 1961, in dem L’année dernière ... bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere hatte, das erste der in der Folge zu einer eigenen Mediengattung avancierenden Computerspiele entwickelt wurde – Spacewar –, ist oder war gewiss reiner Zufall. Ein schöner, ein bezeichnender Zufall allerdings. Vorausgegangen war nämlich beiden Ereignissen eine Periode höchster Popularität eben des NIM-Spiels. Heute – und mehr als eine der erwähnten Sites im Internet belegen das – kennt man das Spiel vor allem wegen seiner ›Verfilmung‹ durch Resnais. Damals hingegen wussten auf der einen Seite die Computerfachleute davon, weil namentlich Shannon und Turing mit einigen Papers darüber hervorgetreten waren (Shannon 1955; Turing 1953), und auf der anderen Seite eine verblüffte breite Masse, weil Apparate mit Namen Nimatron, Nimitron und Nimrod in der wenig später angeprangerten Gesellschaft des Spektakels (Debord 1967) einiges Aufsehen erregt hatten (vgl. Fuchs 1968: 313). Nimatron war eine noch rund eine Tonne wiegende Maschine, die auf den Weltausstellungen in New York (1939) und Brüssel (1958) gut 90% der gegen sie gespielten Partien für sich entschied. Nimitron hieß dann ein in England von Schülern der Exeter School konstruierter MiniComputer (Abb. 3). Und das (wie die damalige Presse titelte) »Elektronenhirn Nimrod« prägte sich dem Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit dadurch ein, dass es auf der Industrieausstellung Berlin 1951 keinen geringeren als Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister der jungen, ihrem ökonomischen Wachstumswunder entgegensehenden BRD, dreimal hintereinander schlug (Abb. 4): »Ich kann verlieren, aber ich gewinne immer«, sagte gleichsam auch dieser elektrifizierte Schreibbzw. Spiel-Tisch.
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Abb. 3: Gruppenbild mit Nimitron
Abb. 4: Ludwig Erhard gegen Nimrod
Verfolgt man die Geschichte dieser Apparate und ihrer Mathematik – denn darum handelt es sich ganz offenbar – weiter zurück, gelangt man ins Jahr 1901, als der Harvard-Professor Charles Bouton die erste »Complete Mathematical Theory« für NIM in den Annals of Mathematics veröffentlichte. Davor verliert sich das Spiel im Grau der Vergangenheit, oder wie Bouton es sagt: »The writer has not been able to discover much con-
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cerning its history, although certain forms of it seem to be played at a number of American colleges, and at some American fairs« (Bouton 1901/02: 35). Die seitdem geklärte Mathematik des Spiels bestätigt die Siegesgewissheit des Herausforderers M in Resnais’ Film: »Ich kenne ein Spiel, bei dem ich immer gewinne.« Wie aber steht es dann mit dem Einwand der Hauptfigur X? »Wenn Sie nicht verlieren können, ist es kein Spiel.« Die mathematische Formulierung dieser Frage lautet bei Bouton: »[that] the system is closed« (ebd.: 36). Das heißt, es handelt sich um ein berechenbares, deterministisches Spiel, ein Spiel, für das »a complete strategy« (Shannon 1955: 788; – meine Hervh.) angegeben werden kann, also in der Terminologie der Game Theory nach Morgenstern und von Neumann: ein »endliches Zwei-Personen-Nullsummen-Spiel mit vollständiger Information und optimaler Strategie« (Fuchs 1968: 308). Spiele dieser Art hätten wegen ihrer »vollen Rationalität« »für ein menschliches Individuum« im Prinzip keinen Sinn (Diebner 2001: 156), bemerkt ein einschlägiges Lehrbuch, und genau das artikuliert der Einwand von X: »Wenn Sie nicht verlieren können, ist es kein Spiel.« »Ich kann verlieren ...«, ergeht indes als Antwort hierauf, und mit der Trivialisierung alias Komplexitätsreduktion der Spieltheorie gesprochen, macht dies den Spielcharakter des Ganzen aus: dass beide Spieler abwechselnd die Wahl haben, wie ihr nächster, auf den vorhergehenden reagierender Zug jeweils aussehen soll.2 Für jeden der möglichen Züge steht fest, ob er Sieg oder Niederlage bedeutet, aber in seiner Determiniertheit lässt das Spiel doch eine Vielzahl variierender Spielverläufe zu. Resnais’ Film zeigt das, indem er vier im Ergebnis gleiche, in sich aber verschiedene NIM-Partien vorführt (Abb. 5-7); er nutzt diese Variabilität, indem die Partien – wie ein minutiöser Vergleich ergibt – zum Teil von den Vorgaben des Drehbuchs abweichen; und er realisiert sie (in der vollen Mehrdeutigkeit dieses Verbs), indem er insgesamt die repetitio cum variatione zu seinem Stilprinzip erhebt – strukturell ähnlich wie später Smoking/ No smoking (1993), als eine der jüngeren Produktionen Resnais’, die nicht nur einen Film in zwei Varianten auf die Leinwand zaubert (eben der Smoking- und der No smoking-Variante), sondern beide Fassungen in sich an immer die gleichen Punkte wieder zurückführt, von denen aus die Handlung unterschiedliche Wendungen nimmt, oder wie Lola rennt, um nur ein anderes Beispiel eines anderen bekannten Regisseurs zu nennen. 2 So umfasst die spieltheoretische Definition von ›Spiel‹ nach von Neumann: 1. dessen Beschreibbarkeit durch einen festen Satz unumstößlicher (Spiel-)Regeln, 2. seinen Ablauf in diskreten (Spiel-)Zügen und 3. die Möglichkeit der Wahl bei jedem Zug (vgl. Fuchs o.J.: 201).
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Die Struktur, nicht der Inhalt erzeugt das Geheimnis eines Spiels als Spiel, heißt es in einer mathematischen NIM-Studie aus dem Jahr 1940, die den schönen (und auch zum Zeitgefüge von L’année dernière ... passenden) Titel »Pastimes of Past and Present Times« trägt: »The mystifying nature of so many arithmetic tricks lies [...] in their structure, not their content« (Kasner/Newman 1940: 2420). Abb. 5: Die NIM-Partien in L’année dernière à Marienbad 2. Partie: M gegen Unbekannt (U beginnt:) U
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Abb. 6: Die NIM-Partien in L’année dernière à Marienbad 3. Partie: X gegen M (M beginnt) M
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Abb. 7: Die NIM-Partien in L’année dernière à Marienbad 4. Partie: X gegen M (M beginnt) M
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Diese Struktur verleiht dem NIM-Spiel aber nicht nur seinen Charakter als Spiel, sondern darüber hinaus auch medientheoretische Relevanz. In Resnais’ Film werden die NIM-Partien das erste Mal mit Spielkarten, dann mit Streichhölzern und schließlich mit Dominosteinen (Abb. 8) gespielt. Das könnte als Übercodierung zu deuten sein, die das Duell, das die beiden Spieler gleichsam miteinander austragen, zwischen reinem
Abb. 8: L’année dernière à Marienbad
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Glück einerseits und dem Zwang einer unentrinnbaren Verkettung andererseits situiert (für eine Deutung des Spiels in dieser Richtung vgl. Rocher 1974). Jenseits solcher semantischen Überlegungen führt der Film damit allerdings ganz im Gegenteil vor Augen, dass es auf die verwendeten Objekte nicht ankommt. NIM kann mit Münzen ebenso gespielt werden wie mit Papier und Bleistift oder am Meeresufer im Sand oder mit Muscheln wie Murmeln wie Steinchen aller Art. Man hat aus diesem Sachverhalt die These abgeleitet, dass die sich im Grau der Vorgeschichte verlierenden Ursprünge des Spiels kulturgeschichtlich bis vor die Entwicklung der Schrift zurückreichen3, und das hieße: Mit den jüngsten Möglichkeiten, NIM auch am Computer, im Netz zu spielen, würde das Spiel das prä- und das postliterale Ende der Medienevolution verbinden. Nur ist die These wohl erstens an und für sich schon zu spekulativ, um ernsthaft vertreten zu werden, und zweitens geht Medien(kultur)geschichte nur sehr grob – eher wohl gar nicht – in ihrer Chronologie von Oralität, Literalität, Holzschnitt, Buchdruck, Photographie usw. auf. Bemerkenswert bleibt dennoch die Übereinstimmung, dass auch alle Computerwissenschaft mit der Einsicht begann, dass sich (wie Norbert Wiener festhielt), »dieselbe Idee mit den verschiedensten Methoden [und Materialien] realisieren läßt« (Wiener 2002a: 203). Unter allen Technologien stellt der Computer das erste Medium vor, das sowohl systematisch als auch historisch gleichursprünglich die Konkretion und die Abstraktion seiner selbst zu denken verlangt. All das würde eigene und – im Namen einer allgemeinen Medientheorie – weitläufigere Ausführungen verdienen. An dieser Stelle jedoch sei ersatzweise eine Zwischenüberlegung zum momentanen Stand der Computerspiel-Theorie gestattet. Die Legende will, dass es den berüchtigten »Verbund von Mediengeschichte, Wirtschaftsmacht und Normierung« (Roesler/Stiegler 2002: 7), der auf den Namen Microsoft hört, also einen doch recht erheblichen Teil der heutigen Medienkultur, ohne die Lust am Spiel nicht gäbe. Der gerade 13 Jahre alte Bill Gates begann seine Laufbahn angeblich mit einem Tic-tac-toe-Programm (Abb. 9), und sollte dieser Anfang auch eine Mythifizierung sein, nun denn: se non e vero e ben trovato. Der fast noch Spielhöschen tragende Software-Autodidakt von einst wird zum Citizen Kane der Software-Branche – ganz diesem Muster gehorcht immerhin das Argument derer, die das Feld der Com-
3 So die besagte Website: »Nim probably originated in China, but the name is thought to be German, from ›nimm‹ the German word for ›take‹. [...] Nim was evidently played with what ever counters were at hand. The wide variety of legacy-objects in the cyber version graphics would seem to attest to that. And the wide variety of these objects probably indicates [...] nim’ s illiterate origins [...].«
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puterspiele als den Gegenstand zukunftsfähiger Medientheorie propagieren: Es sei die jetzt am PC und im Netz spielende Generation jene »kommende Generation«, die »den Computer als [die] universelle persönliche Maschine nicht nur des instrumentellen Handelns, sondern auch des emotionalen Erlebens« konstituiert, die er in Zukunft noch zunehmend werden wird (Krotz 2001/02: 30). Abb. 9: Tic-tac-toe 1.
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Tatsächlich ist es mit vielen Versprechungen auf dem Sektor der so genannten Neuen Medien de facto noch nicht allzu weit her; weder das interaktive Fernsehen noch das interaktive Kino sind bislang wesentlich mehr als Zukunftsentwürfe. Computerspiele bringen dagegen bereits jetzt und alltäglich nahe, wie interaktive Filme aussehen könnten – weshalb umgekehrt ein Teil der heutigen Filmproduktion zumindest schon der »Dramaturgie und Ästhetik« von Computerspielen gehorcht (man denke an Matrix [1999], Tomb Raider [2001] oder Resident Evil [2002], wovon die beiden letzteren ja auch als ›Verfilmungen‹ von PC-Games bezeichnet werden können – vgl. Krotz 2001/02: 27; Adamowsky 2001/02: 23; Felix 1999ff.: 1797.). Aus gutem Grund ist das Feld der Computerspiele daher zu einem der bevorzugten Schauplätze medientheoretischen Weiterdenkens geworden, so z. B. für die Hybridkultur-Wissenschaft, für die gender-Forschung, für die Narratologie und für gattungstheoretische Überlegungen (vgl. z. B. Wenz 2001/02; Deuber-Mankowsky 2001; Frasca 2000; Neitzel 2000). Einer der Versuche, auf diesem Feld Ordnung zu schaffen, verwendet etwa die »Dimensionen Denken, Action und Narration« (vgl. Art. »Bildschirmspiele«, in: Schanze 2002), um verschiedene Genres zu unterscheiden (Abb. 10; Fritz/Fehr 1997: 88). Aber zieht man nun diese Klassifikation heran, wird für das NIM-Spiel bzw. Apparate wie Nimitron und Nimrod zweierlei sofort deutlich: Erstens greift hier am ehesten noch die Denk-Funktion, nur greift zweitens das Gesamtschema nicht so recht, weil von den komplementären Simulationsräumen action-reicher Adventure Games weit und breit noch nichts zu sehen ist. Stattdessen markiert die NIM-Maschine den Beginn einer verzweigten Entwicklung, die bei veritablen Medienscheinwelten erst in jüngster Zeit angelangt ist. Zwar
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lockt sie ihre Gegner bereits in die Falle reaktiver Intelligenz alias Interaktivität (andernfalls wäre sie als Vorläufer der Computerspiele einfach nur missverstanden). Aber sie operiert dabei – und tritt auch noch dementsprechend reduziert in Erscheinung – elementar kybernetisch und dadurch, wenn man so will, elementar medial. Denn die Maschine vermag je nach Spiel-Situation zu reagieren, indem sie Zug um Zug den IstZustand der verbliebenen Spielmarken mit dem Soll-Zustand ihrer mathematisch vorgegebenen Gewinnstrategie vergleicht. Eben das nennt man »ein solides ›kybernetisches System‹« (Fuchs 1968: 313), eben das aber ist zum einen nichts anderes als die tatsächliche künstliche Intelligenz elektronischer Schaltungen wie zum anderen ihre Medialität. In einem »ganz konkreten Sinn«, postuliert das Kursbuch Medienkultur, müsse »alles, was Rückkopplung organisiert, als Medium begriffen werden« (Pias et al. 1999: 427). Abb. 10: Matrix der Computerspiele
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Bezogen auf die mit der Technikgeschichte einhergehende Faszinationsgeschichte des Digitalrechners markiert das computerisierte Spiel auf diese Weise den Wurzelpunkt der systematisch gleichursprünglichen, historisch jedoch nacheinander zutage tretenden Bifurkation zwischen dem Mythos vom Computer als Denkmaschine auf der einen Seite und der jüngeren Entdeckung des Computers als Medium auf der anderen Seite (Abb. 11). Wie erwähnt, äußert sich die aktuell dominierende Wahrnehmung des Computers als Medium in solchen Hybridphänomenen wie der ästhetischen Mimesis des Films ans Computerspiel (unter zunehmender Nutzung digitaler special effects) und der Computerspiele an Filme und Comicstrips – Hybridphänomene, angesichts derer eine allgemeine Medienwissenschaft heute wohl möglich und notwendig heißen darf. Abb. 11: Computer als Denkmaschine vs. Medium
(1945)
(1951)
… als Medium
… als Denkmaschine
Computer …
(1968)
(1998)
(oben: ENIAC, Nimitron und Nimrod; unten links: Bowden gegen HAL in Stanley Kubricks 2001; unten rechts: Stern-Titel mit Lara Croft-Imitatorin als Ikone der Multimedia-Kultur)
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Zumal Film und Computer im Vorfeld zwar noch technisch getrennte Bereiche waren, aber doch schon die ältere Debatte ums so genannte Elektronenhirn sich begleitet sah von Filmen wie Ridley Scotts Blade Runner (1982), Kubricks Twothousendone (1968) und Godards Alphaville (1965). Alle drei stehen filmgeschichtlich in einer von L’année dernière … herkommenden Linie, und so stellt sich abschließend die Frage, ob und wie das NIM-Spiel auch und gerade in diesem Film die Medienfrage fokussiert. L’année dernière … ist berühmt dafür, eine Art Traumlogik oder vielleicht sogar: die Logik der A-Logizität des Traums ins bewegte Bild gesetzt zu haben. Wie aber Freud einmal davon sprach, dass jeder Traum einen »Nabel« habe, an dem er hängt und »unergründlich« bleibt (Freud 1999: 116), so wäre nun also die These, dass sich das Spiel als der Nabel eben dieses Traums identifizieren lässt. Dass das Spiel gleichsam den ganzen Film in nuce darstellt, wurde im Vorbeigehen schon erwähnt: L’année dernière wie Le jeu de Marienbad belegen »die besonderen Wiederholungstechniken, die das Kino zur Verfügung hat oder erfindet«, »wobei alle diese Wiederholungen koexistieren und doch gegeneinander verschoben sind« (Deleuze 1992: 365; vgl. Leutrat 2000: 8). Aber soweit wäre das Spiel nur eines von vielen Elementen, die das Variationsprinzip des Films tragen, ornamentales Detail unter Abb. 12: Reklame aus den USA der 50er Jahre
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anderen (vgl. Armes 1968: 110). Um seinen besonderen Status zu erkennen, gilt es noch einmal die beiden eingangs angesprochenen Filmausschnitte zu erinnern. Der erste führt auf eine Theaterbühne und damit zu einer Reverenz vor der Tradition, zu der sich die einstmals neuen Medien Film und Fernsehen bis heute immer wieder ins Verhältnis setzen (Abb. 12). Darüber hinaus (das ist ein Topos aller Arbeiten über L’année dernière) nimmt die Theater-Sequenz den ganzen folgenden Film vorweg: das Dekor, die Mann-Frau-Konstellation, das Filmende (»Je suis à vous«) – und so auch das Moment, dass sie zugleich eine Irreführung ist. Denn sie macht zunächst glauben, die von Beginn an zu hörende off-Stimme gehöre dem Schauspieler auf der Bühne. Das aber ist falsch. Die rätselhafte off-Stimme bleibt auch im Weiteren ort- und körperlos, bis – und das ist nun der Punkt –: bis eben zu der Szene des zweiten Filmausschnitts. Hier, im Zuge der ersten NIM-Partie, wird die Stimme ihrem richtigen Träger zugeordnet, der Figur X, die von M herausgefordert wird: »Je vous propose un autre jeu!« Die Bedeutung, die zunächst dem Spiel auf der Bühne zukam, wird so auf dieses andere Spiel übertragen. Worin aber besteht diese Bedeutung? Die beiden Männer M und X sind Kontrahenten im Bemühen um die gleichfalls namenlose und im Drehbuch mit dem Buchstaben A bezeichnete Frau (Abb. 13). M figuriert als ihr Ehemann. X dagegen will A für sich gewinnen, indem er sie davon zu überzeugen versucht, dass sie einander schon einmal begegnet seien und sie sich ihm versprochen habe. A leugnet, doch X – daher die Unaufhörlichkeit seiner Stimme den ganzen Film hindurch – insistiert, erzählt sogar, einmal in ihr Zimmer eingedrungen zu sein; am Ende verlassen sie gemeinsam das Hotel, in dem das Geschehen spielt. So jedenfalls lautet die gängige Zusammenfassung der Handlung. Findet sich darin die Bedeutung des Films? Ja und nein. »If you have a message«, um ein Bonmot Woody Allens zu zitieren, »send a postcard«. Um Bedeutung im Sinne einer eindeutigen Botschaft oder Aussage geht es nicht. Vielmehr artikuliert der Film die grundsätzlichere Frage, ob, wie und mit welchen Effekten Botschaften überhaupt zustellbar sind. Als Film scheint sein Medienstatus unbezweifelbar, und was diese Reflexionsebene angeht, ist er ja unübersehbar voll von Selbstrepräsentanzen gleich dem besagten Schauspiel, gleich der Photographie, gleich Spiegeln, Bildern, Rahmen und so fort. Das eigentliche Problem der Medialität aber betrifft nicht nur die Spezifik solcher Einzelmedien, sondern mehr noch die Ebene der Instruktivität – schöner gesagt: der Verstrickung –, auf der Filme und Computerspiele (und andere Medien) miteinander vergleichbar werden. Im Kern aller Medienwissenschaft geht es, so gesehen, um Spiel-Theorie: Spiel verstanden als etwas, »worin das Subjekt teils Herr der Regeln, teils nur Figur« (Bahr 2001/02: 278)
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desselben Regelwerks ist. In diesem Sinne sprach Resnais von dem Versuch, einen »mentalen Film« zu drehen. Statt lediglich um einen Film »nach dem Bilde unseres Gehirns« (Resnais 1976: III/10) geht es zugleich um das Gehirn nach diesem Film. In einem Interview sagte Resnais: »Es kommt mir in meinen Filmen vornehmlich darauf an, den Zuschauer zu provozieren, [...] auf ihn einzuwirken [...]. Wir provozieren Fragen beim Zuschauer [...], um sie letztlich offen zu lassen. Die Provokation wird also aufrechterhalten; das Geschehen kommt im Zuschauer nicht zur Ruhe, es bleibt lebendig, weil ihm nirgends ein eindeutiges Ende gesetzt ist [...]« (ebd.: III/5f.).
Abb. 13: Marienbad-Konstellation
X X M A wie
M »X aime A«
oder wie M für:
machine mâle marié Marienbad marionette mathématique médias mémoire metteur en scène miroir monologue montage moyens (audio-visuels)
A
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Nachdem er L’année dernière als einer der ersten gesehen hatte, schrieb Michel Leiris an Resnais: »Subdued by the images and imbued by all the words he hears, the viewer willingly enters into the film (or allows himself to be penetrated by it!)« (zit. n. der engl. Übersetzung des Zitats in: Leutrat 2000: 7). Insofern hat man den großen Deutungsspielraum, den der Film lässt, zwar durchaus zurecht mit dem Begriff des ›offenen Kunstwerks‹ zu fassen versucht: Kino, das »nichts ist ohne seinen Zuschauer« (Jansen/ Schütte 1990: 118f). Ebenso trifft aber zu, wenn über denselben Film gesagt worden ist: »Im Kopf des Zuschauers ereignet sich nichts, was nicht von der Eigenschaft des Bildes herrührte« (Deleuze 1989: 139). Unwiderleglich, wenn es das gibt, beweist dies die Sequenz, in der X von seinem Eindringen in das Zimmer A’s erzählt, und an deren Ende das Lachen wiederkehrt, das den Ausgang der ersten NIM-Partie besiegelte. Das unmittelbar folgende Bild zeigt M, wie er die Steine für eine weitere Partie auslegt, davor aber geht ein Glas klirrend zu Bruch, A und X stehen an einer Bar, während X zu ihr spricht: X: Besonders nachts – liebten Sie das Schweigen. Unmittelbar nach diesen Worten erscheint ein sehr kurzes Bild ([kürzer als] eine Sekunde), das ein leeres, kahles Zimmer zeigt, in dem nur ein schmales Bett für eine Person steht [...]. A steht reglos in der Mitte des Zimmers, etwas seitlich auf dem Bild [...]. Doch das Bild von der Bar kehrt sogleich wieder zurück [...]. Dann sagt X [...] abermals einen Satz. X: Und eines Abends bin ich in Ihr Zimmer gekommen. Und nach einer Pause kehrt das Bild des Zimmers wieder. Dann erneut die Bar usw. [...] in sehr rascher Folge [...], wobei jedes neue Auftauchen des Zimmers kaum merklich ein wenig länger dauert als das vorhergehende [...].
Schnitt-Folgen wie diese brachten Rudolf Arnheim dazu zu klagen, hier würden »die Relationen der Zeit, die die Dimension der Handlung ist, und die des Raums, die die Dimension menschlichen Kontakts ist«, zerstört (Arnheim 1977: 57). Und tatsächlich darf hier die Ästhetik von Arnheims Film als Kunst wohl für überwunden gelten. Eher greift die frühere Medientheorie Hugo Münsterbergs: »Die Nuancierung der Lichter und die Flecken dunkler Schatten, die Verschwommenheit bestimmter Partien und die scharfen Umrisse anderer, die Ruhe in einigen Teilen des Bildes gegenüber der vehementen Bewegung in anderen – alles spielt auf der Klaviatur unserer Seele«, »all [of it] play[s] on the keyboard of our mind« (Münsterberg 1996/1916: 54; 1970: 83).
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Wie X in das Zimmer von A eindringt, so das aufblitzende Bild dieses Zimmers in das Auge des Zuschauers. Und kehrte das NIM-Spiel auch nicht unmittelbar anschließend wieder, allein das Lachen aus dem off wäre als Echo auf seine Vorgabe unverkennbar. Auf diese Weise spinnt der Film sein Geflecht interner Bezüge: Geflecht eines Traums, dessen Nabel das NIM-Spiel ist, das zudem die Verstrickung symbolisiert, die der Film damit nach außen trägt – sein Spiel, wenn man so will.
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Glückbringende Speisen
Trennen Sie behutsam die untere äußere Ecke dieser Seite ab. Bitte achten Sie darauf, nicht zu viel Papier zu entfernen. Nehmen Sie das abgerissene Stück in den Mund. Vergleichen Sie den Geschmack mit dem anderer Bücher oder Zeitschriften. Stücke der Welt zu essen gehört zu den basalen Interaktionsprozessen zwischen Mensch und Umwelt. Hunger ist furchtbar, Nahrung kostbar; mit Essen spielt man nicht. Gleichwohl sind Kulturen kaum so erfinderisch, als wenn es darum geht, Essbares in verschwenderische Formen zu bringen: Sahnetorten, thailändische Gemüseschnitzereien, Totenschädel aus Zuckerguss zum mexikanischen Allerseelenfest. Nahezu grenzenlos scheint die menschliche Phantasie, wenn es darum geht, kulturellem Selbstverständnis in Esswerken Ausdruck zu verleihen. Kein Kult, kein Fest, kein Ritual, bei dem einem Freude oder Leid nicht auf der Zunge zergehen. Auch die Verbindung von Spiel und Essen ist beliebt. Am häufigsten sind heutzutage glückbringende Sylvesterrituale oder Partyspäße. So ist es in vielen Mittelmeerländern üblich, zum Jahreswechsel eine Münze in den Neujahrskuchen einzubacken, die dem Finder ein glückliches Jahr ins Haus bringen soll. In Spanien werden zu Sylvester 12 Weintrauben verzehrt, eine zu jedem Glockenschlag um Mitternacht. Jede Traube symbolisiert dabei einen Wunsch für einen Monat des kommenden Jahres. Manche Scherze hingegen sind ganz pragmatischer Natur: Auf großen Parties werden in Argentinien empanadas gereicht. Eine ist mit Watte gefüllt – wer sie findet, muss die Teller abwaschen.
WINDMÜHLEN UND WORTSPIELE Wie hoch ist der Einsatz? HANNES BÖHRINGER Drei Spielkarten wurden mir angeboten, darunter ein Karo-Buben. Den habe ich ausgewählt, weil auf seiner Rückseite auszugsweise der Windmühlenkampf des Don Quijote stand. Wie Don Quijote habe auch mich seit meiner Jugend Sagen, Balladen und Ritterromane angezogen. Cowboy-Filme sind eigentlich nichts anderes. Wie Don Quijote glaube ich, dass die ritterlichen Tugenden nicht die schlechtesten sind: Tapferkeit, Großmut, Hilfsbereitschaft, Zurückhaltung, nicht zu vergessen das Mitgefühl, das Parzival vermissen lässt, als er zum ersten Mal dem siechen Gralskönig begegnet. Wie Don Quijote glaube ich, dass man manchmal kämpfen muss, dass der Kampf gelegentlich unausweichlich ist. Kindliches Balgen, Sport, Kampfspiele bereiten darauf vor. Fairness lernen und Niederlagen einstecken. Aber vierhundert Jahre nach dem Don Quijote weiß ich im Unterschied zu ihm, dass die Zeit der fahrenden Ritter vorüber ist. Sie war schon damals vergangen, nur hatte es der arme Hidalgo aus der Mancha nicht bemerkt, weil er von den Büchern nicht aufblickte. Seine Komik besteht darin, dass er in der Phantasiewelt seiner Bücher lebt und sie mit der Wirklichkeit verwechselt. Aber geht es uns eigentlich anders? Sind auch wir nicht der Wirklichkeit immer hinterher? Vielleicht sogar noch mehr als damals, weil wir nicht nur Bücher lesen, sondern auch noch Zeitungen. Und das Fernsehen. Wie könnten wir diese Wirklichkeit zweiter Hand durchbrechen, wenn wir nicht zugleich Sancho Pansa wären, einfach, ungebildet und bauernschlau, mit einem unverwüstlichen Rest Common Sense begabt? Sancho Pansa erkennt die Narreteien seines Herrn und bleibt doch bei ihm. Denn er verehrt den Edelmut und die Bildung, die ihm fehlt. Und wer weiß? Vielleicht nutzen sie ihm doch! Und er wird reich als Statthalter einer Insel, wie von Don Quijote versprochen. Der Realist hat eine heimliche Schwäche für den Idealismus. Denn verstohlen schämt er sich
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seiner und verehrt das Höhere, dem er nicht traut. Der Idealist hingegen bleibt in seiner Welt wie ein heiliger Narr. Wenn er bemerkt, dass die anderen ihn belächeln, ist er schon nicht mehr ganz bei sich, aber versagt heroisch sich jedes Nützlichkeitskalkül. Ich stamme wohl eher von Sancho Pansa ab. Denn ich tarne mich als närrischer Ritter, der gegen Windmühlen kämpft. Eine Generation nach Cervantes schreibt Gracián: das Leben ist ein Kriegsdienst gegen die Bosheit der Welt. Ein ernstes Wortspiel: militia gegen malicia. Da muss man klug sein: täuschen, fintieren und Finten parieren, Täuschungen rechtzeitig erraten, entziffern und sich sicherheitshalber auf das Unvermeidliche einstellen. Als höchste Form der Täuschung preist der fromme Gracián die Täuschung mit der Wahrheit. So spiele ich öfters den, der ich bin, einen, der gegen Windmühlen anreitet, und gewinne damit sogar das eine oder andere Treffen, weil man mich nicht ganz ernst genommen hatte, weil da keine Windmühlen waren, sondern Riesen oder andere bedrohliche Wesen. Wer oder was kann sich nicht alles hinter Windmühlen verstecken? Die ganze Philosophie erscheint mir als Donquijoterie: sie kommt immer zu spät, eine rostige Rüstung im Zeitalter der Feuerwaffen, ein Anthropomorphismus im Zeitalter der Maschinen. Manche meinen, Philosophie sei Aufklärung. Das glaube ich nicht. Denn Aufklärung gibt es auch ohne sie. Die Philosophie ist vielmehr der komische heroische Versuch, das aufzuheben, was in der Aufklärung unweigerlich verschwindet: den Mythos, Gott, die Welt, die Naivität, ohne dabei die Aufklärung aufzugeben. Das ist der Windmühlenkampf, für die meistens lächerlich und meistens auch vergeblich. Denn dieser Kampf mit den Paradoxien, mit sich ausschließenden Gegensätzen kann auch gar nicht so gewonnen werden, dass die eine Seite siegt und die andere verliert. Beide zugleich müssen verlieren und gewinnen. Mehr und mehr habe ich das Barock lieben gelernt, weil es eine Epoche und ein Stil ist, worin Gegensätze nicht ausgeschlossen, sondern integriert werden. Barocke Motive sind das Wechselspiel von Größe und Elend des Menschen, von Täuschung und Enttäuschung, von Lebensfreude und Weltflucht, Sancho Pansa und Don Quijote. Dass Täuschung in Enttäuschung und Glanz in Elend umschlagen kann, liegt an den Launen des Glücks. Aber die Sphäre der Fortuna wird nicht wie noch in der Renaissance ausgegliedert, um sie in den theologiefreien Raum der Prudentia zu stellen, sondern mit den Fragen der Willensfreiheit, der Vorsehung, der Theodizee, der Wahrscheinlichkeitsrechnung, also mit den großen Themen der Theologie, Philosophie und der Mathematik verknüpft. Sinnbild für Fortunas Macht ist das Glücksspiel. Pascal macht aus dem traditionellen Gottesbeweis eine Wette. Können wir die Thesen der
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Philosophen, ihre ›Setzungen‹ nicht als Einsätze in einem Spiel verstehen? Vielleicht ist unser Leben ein Glücksspiel, das wir nicht selbst entschieden haben zu spielen. Wir sind vielmehr immer schon im Spiel. Vielleicht setzen wir gar nicht so sehr auf Sicherheit, sondern viel lieber auf das Unwahrscheinliche und Riskante mit großen Gewinnchancen. ›Gefährlich leben‹, sagte Nietzsche dazu. Ich folge dem wunderbaren Buch von Roger Caillois Die Spiele und die Menschen. Darin werden vier verschiedene Arten von Spielen unterschieden. Drei davon habe ich schon gestreift: den Wettkampf (agon), das Glücksspiel (alea) und die Mimicry, das Nachmachen, Sichverkleiden und Sichtarnen, das Spiel mit Rollen und Täuschungen. Die vierte Spielart, sagt Caillois, ist die ilinx, der Wirbel, die Lust am Taumel und am Rausch, der von der körperlichen Rotation hervorgerufen wird, zum Beispiel vom Drehtanz. Doch ist das Sich-Schwindelig-Drehen schon eine kindliche Lust. Philosophisch bin ich an der Universität – ich habe es schon angedeutet – hegelianisch mit ›Begriffsgeschichte‹ großgezogen worden. Sie besagt etwa Folgendes: Wir spielen Karten. Die Karten sind die Begriffe, die wir unvermeidlich verwenden. Aber ihre Bedeutungen sind nicht ein für alle Mal festgelegt. Wir müssen also in der historischen Erforschung der Begriffe überhaupt erst herausfinden, welches Spiel wir gerade spielen und welchen Wert die Karten in unseren Händen haben, ob die Begriffe überhaupt noch greifen. Um die Geschichte eines Begriffs erkunden zu können, muss ich die Felder erforschen, in denen er vorkommt und in denen sich seine Bedeutung oft unmerklich allmählich verschiebt. In den Augen des närrischen Don Quijote gewinnt eine derbe Bauerntochter – der verliebte Ritter nennt sie Ducinea von Toboso – etwas, was sie von Natur gar nicht hat: Anmut. Der Begriff kommt gerade als ästhetische Kategorie da und dort wieder auf. Gehen wir auf das lateinische und griechische Wort gratia und charis zurück, öffnen sich uns Begriffsfelder, in denen sich Anmut bewegt: Gnadentheologie, Dankund Grußformeln wie grazie oder chaire. Über die Bedeutung Gnade und Gunst tauchen Günstlingswirtschaft und die heute wieder aktuell gewordene, im Zeitalter des Barock bedeutsame politische Figur des Favoriten auf, sein Charisma, sein Charme, die von Max Weber beschriebene charismatische Herrschaft, Sternenglaube und Starkult, die Ausstrahlung eines Filmstars. Nach Erkundungen solcher Art nehme ich mir Freiheiten heraus, die ich mir an einer Universität nicht im gleichen Maße erlaubt hätte. Ich vertraue mich meinem Gefühl an. Nach getaner Wortfeldforschung beschränke ich mich auf die Momente des Begriffs, die mich ansprechen, mit denen ich etwas anfangen kann, reduziere aber nicht nur, sondern
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greife auch auf begriffliche Momente zurück, die untergegangen sind, unhörbar geworden, und versuche, sie mit frischer Sprache zu reaktivieren. Ich strenge mich an, was ich schreibe, im Maße meiner Möglichkeiten täuschend leicht, einfach und anmutig erscheinen zu lassen, Begriffe zu verbalisieren und in flüssige Sprache zurückzuverwandeln, sodass die Anstrengung des Begriffs und der Aufriss der Begriffsfelder darüber fast unscheinbar werden. Don Quijote ist arm, aber von Adel: er arbeitet nicht. Wenn er dazu gezwungen wird, muss er sie unkenntlich machen. Während ich an einem Thema arbeite, achte ich in meinem Alltag auf Begebenheiten, die mit den von mir gerade traktierten Begriffen zu tun haben. Alltagsbeobachtung ist mindestens so wichtig wie eine gute Bibliothek in der Nähe. Aus beiden Sphären nehme ich, was ich brauche, auch die passenden Zufälle, eben alles, was mir eben zufällt. Wenn nun alle meine Funde so vor mir liegen, suche ich unter ihnen ein Element, das sich als Kreisel eignet, das ich mit Effet so in Rotation versetzen kann, dass es auch die anderen Elemente in Turbulenz versetzt. Das damit eindringende Chaos darf natürlich nicht Überhand nehmen. Aber erst in diesem Wirbel bekomme ich den richtigen Schwung zum Schreiben. Meine lakonische Natur lässt nicht mehr als kurze Texte zu. Was ich hier Kreisel genannt habe, heißt bei Ezra Pound Vortex, das lateinische Wort für ilinx, Wirbel. Pound hat das Manifest für eine englische Avantgarde-Gruppe geschrieben, die sich nach diesem Manifest Vortizisten nannten. Für Pound war der Vortex der Punkt maximaler Schwungkraft und höchster Empfindungsintensität, der Kern jedes Gedichts. Ich halte mich an diese Poetik und glaube, sie gilt auch für wissenschaftliche Schriften, zumindest für solche, die ich verfassen möchte. Die Windmühlen müssen sich drehen. Wind muss aufkommen und blasen. Die Windmühlen aber stehen auch für die Vergeblichkeit, das SichIm-Kreise-Drehen und Immergleiche, für Langeweile und Überdruß, Melancholie, die Rückseite jedes Spiels. Auch davon weiß das Barock ein Lied zu singen, von der Zerstreuung im Spiel, dem Zeitvertreib, der nichts anderes ist als der ennui, den es zu vertreiben gilt. Die Intensität des Vortex entspricht dem Einsatz im Glücksspiel. Das Spiel des Nachdenkens und Aufschreibens hat zwei Seiten. Es bedeutet Entlastung vom Ernst des Lebens. Wir können uns nur spielerisch Gedanken machen, weil wir wissen, dass sie nicht oder nicht gleich verwirklicht werden. Wir sind von ihren Konsequenzen entlastet. Und doch entwickeln Gedanken, Ideen und Bilder auf Dauer eine eigene Wirksamkeit, die den Nachdenkenden überraschen kann. Also ist immer auch ein Einsatz im Spiel, der früher oder später nach Einlösung verlangt, der immer weiter vordringt in einen Bereich, wo es um Kopf und Kragen geht. Und
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so würde auch ich um mein Leben gern auf einer Karte zusammenfassen, worauf ich alles setzten könnte. Doch weil ich mich davor fürchte, weil ich mich damit wahrscheinlich auch übernähme, reite ich immer wieder aus, ziehe aus auf neue alte Abenteuer, ein Sancho Pansa, der sich in die rostige Rüstung des verblichenen Don Quijote zwängt.
Lucky Letters 85
Würfel
Huftieren, die bei Ausgrabungen oft in auffälliger Zahl gefunden werden. Freilich lässt sich nicht genau rekonstruieren, nach welchen konkreten Regeln zu prähistorischen Zeiten gewürfelt
wurde, doch nimmt man an, dass die Schicksalsund Gottesbefragung ebenso dazu gehörte wie der einfache Zeitvertreib. Wer würfeln will, muss nicht nur den Würfel begreifen, er muss ihn auch geben. Das Interessante an Würfeln ist, dass sie nicht nur eine Entscheidung für oder gegen eine Option herbeiführen können, wie beispielsweise der Münzwurf, sondern auch komplexe Situationen aus mehreren Augenzahlen liefern. Selbst wenn die Würfel also gefallen sind, hat der Spieler oft noch einen Spielraum zu entscheiden, welche Spielzüge er daran anschließen wird.
✃
Es spricht einiges dafür, dass das Spielen mit würfelförmigen Objekten so alt ist wie die menschliche Kultur. Als frühe Würfelobjekte gelten die regelmäßig geformten Astragalus-Knochen von
loslassen wollen. Insofern ist Würfeln als eine einzigartige technische Lösung im Kontext von Losverfahren zu betrachten: Wer den großen Wurf wagen will, muss auch etwas aus der Hand
RIESEN SCHULTERN Wahn – Spiel – Metapher: Strukturen des als etwas RÜDIGER ZILL 1) Wahn »›Was für Riesen?‹ fragte Sancho Pansa. ›Die du dort siehst,‹ erwiderte sein Herr, ›die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.‹ ›Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für die Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.‹ ›Da sieht man,‹ sprach Don Quixote, ›wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete ein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen‹« (Cervantes 1975/1837: 112).
Den Referenten der Ringvorlesung »Play goes Science« wurden drei Zitate vorgegeben, je eines von Cervantes, von Goethe und von Adorno. Jeder von uns sollte sich eines davon aussuchen und zum Ausgangspunkt seiner jeweiligen Überlegungen machen. In einem bekannten Spiel muss aus einer Reihe von vorgegebenen – möglichst weit voneinander entfernten – Begriffen eine Geschichte konstruiert werden, in der alle Begriffe vorkommen. So fand ich es dem Thema am angemessensten, auf diese Weise hier alle drei Zitate miteinander zu verknüpfen. Don Quixotes inzwischen sprichwörtlich gewordener Kampf gegen Windmühlenflügel ist eines der ersten Abenteuer des verarmten spanischen Landedelmannes, der den größten Teil seiner Zeit damit verbringt, Ritterromane zu lesen und am Ende loszieht, selbst die Abenteuer eines Ritters zu bestehen. Er putzt die Waffen, die er von seinen Vorfahren geerbt hat, eine Pickelhaube ergänzt er mit Pappen, so dass sie wie ein richtiger Helm aussieht, von einem Schankwirt lässt er sich zum Ritter schlagen und einen benachbarten Bauern wirbt er unter blumigen Versprechungen als Knappen an. Unschuldige Reisende werden von ihm
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angegriffen, als seien es Wegelagerer oder feindliche Ritter, die er zum Ruhm seiner Dulcinea bekämpfen müsse. Alle Taten des Don Quixote werden als wahnhaft geschildert und darüber hinaus mit einem frühen Akt von Medienkritik verknüpft. Als eine Art Neil Postman der Frühmoderne lädt Cervantes der Romanliteratur die Schuld für eine Verzerrung der Wahrnehmung und ein fundamental gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit auf. Don Quixote gilt als die Personifikation der Verblendung schlechthin. Dabei hat Cervantes selbst vielfältige ironische Brechungen in seinen Roman eingebaut, u. a. indem er eine unsichere Überlieferungssituation fingiert. Bereits am Ende des achten Kapitels ›gesteht‹ der Autor, er habe keinesfalls Informationen aus erster Hand, vielmehr beziehe er sich teilweise auf Dokumente, die aus dem Arabischen zurückübersetzt werden mussten – und dies keinesfalls von besonders geschulten Übersetzern. Steckt also hinter dem Don Quixote, der uns gezeigt wird, am Ende ein ganz anderer, ein Revolutionär, dessen Bild uns von den herrschenden Mächten nur entstellt überliefert wird? Verdächtig schon, dass die Medienkritik im sechsten Kapitel in einem skandalösen Akt der Bücherverbrennung gipfelt. Die Herrschenden, hier repräsentiert durch den Pfarrer und den Barbier – nur scheinbar ein harmloser Diener, in Wahrheit aber eine symbolische Verkörperung derer, die den Unterdrückten das Messer an die Kehle setzen –, bemächtigen sich der Bibliothek und überantworten sie dem zerstörerischen Feuer. Auf der Oberfläche der gedruckten Seiten des Romans ist Don Quixote der Repräsentant des Wahns; bleiben wir zunächst dabei. Was wir für Windmühlen halten, sind ihm Riesen, die er mit seiner Lanze attackiert. Die Lanze zerbricht in den sich drehenden Flügeln der Mühle, und Ross und Reiter werden in hohem Bogen übers Feld geschleudert, wo sie hilflos und voller Blessuren liegen bleiben. Don Quixote reagiert nun wie jeder gute Verschwörungstheoretiker: Er sieht nicht etwa seinen Irrtum ein, sondern scheut keinen Aufwand, die Wirklichkeit umzuinterpretieren. Sein Gegenspieler Freston, ein Zauberer, den er schon für die Zerstörung seiner Bibliothek verantwortlich gemacht hat, habe die Riesen in letzter Sekunde in Mühlen verwandelt – und zwar nur um ihm, Quixote, den Ruhm, die Riesen besiegt zu haben, streitig zu machen. Im Wahn wird etwas zu etwas anderem; etwas wird als etwas anderes betrachtet, doch so, dass diese Doppelstruktur nur für den Zuschauer, nicht aber für den Protagonisten selbst durchsichtig bleibt. Deshalb ist der Wahn, nebenbei bemerkt, auch für die Wissenschaft eine Gefahr – genauso wie jene anderen Fälle, bei denen etwas als etwas anderes erscheinen soll und diese Differenz nicht mehr als Differenz wahrgenommen wird: in der Fäl-
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schung und im Plagiat. Beide stehen aber im umgekehrten Verhältnis zum Wahn, denn sowohl bei der Fälschung als auch beim Plagiat ist die Differenz den Protagonisten noch bewusst, nicht aber den Zuschauern, die gerade getäuscht werden sollen. Dabei verhalten sich Fälschung und Plagiat komplementär. Bei der Fälschung gibt der Fälscher etwas Eigenes als Fremdes aus, beim Plagiat der Plagiator das Fremde als Eigenes. So steht der Fälscher auf den Schultern von Riesen, jedoch verborgen unter einer Tarnkappe. Was dem Wahnhaften blind unterläuft, erfährt der Fälscher sehenden Auges: Er setzt – wie einst Odysseus – seine Identität aufs Spiel. Einer der berühmtesten Fälscher, Han van Meegeren, war dabei so erfolgreich, dass man ihm keinen Glauben schenkte, als er die angeblichen Vermeers als seine eigenen van Meegerens enttarnen wollte. Erst als er den Akt der Selbstentfremdung öffentlich vorführte, wurde die Fälschung und damit auch die Meisterschaft des Fälschers akzeptiert, allerdings nur um den Preis der Kriminalisierung und letztlich wieder des Untergangs (vgl. Geimer 2004). Der Plagiator hingegen verausgabt sich nicht, er eignet an, er frisst Fremdes in sich hinein und stilisiert sich zum Scheinriesen.
2) Spiel Szenenwechsel zu einem ganz anderen passionierten Leser: Knapp zweihundert Jahre nach Don Quixote und rund zweitausend Kilometer entfernt treffen wir in der norddeutschen Tiefebene des späten 18. Jahrhunderts den jungen Anton Reiser, den Helden aus Karl Philipp Moritz’ gleichnamigen autobiographischem Roman. Reiser ist das unglückliche, ungeliebte und stets kränkelnde Kind aus einer zerstrittenen Ehe. Die Eltern sind äußerst fromm: Er Pietist, sie eher traditionell bibelgläubig; er kalt, introvertiert, ein Mann, der die Auslöschung des Selbst und die Abtötung seiner Leidenschaften erstrebt, sie hingegen lässt ihren emotionalen Regungen durchaus Spielraum. Von beiden erfährt der kleine Anton keine Liebe. Mittellos und stets schlecht angezogen, traut er sich nicht, Freundschaften einzugehen, so entdeckt auch er sehr bald die Welt der Bücher. Nachdem er sich mehr oder weniger selbst das Buchstabieren beigebracht hat, liest er zunächst intensiv die Bibel, dann weitere religiöse Schriften – vor allem auch die der Madame de Guyon –, danach folgen die antiken Mythen – darunter werden wohl auch die Abenteuer eines anderen Riesenbekämpfers, die des Odysseus, gewesen sein – und schließlich die Geschichte des Odysseus-Sohnes in Form eines Bildungsromans aus dem späten 17. Jahrhundert, der Telemach von Fenelon. Wie Don Quixote lebt Anton Reiser ganz in der Szenerie seiner Lektüren, leidet mit den biblischen Helden mit, will nach dem Genuss pietistischer Schriften besonders fromm sein und lässt sich dann auch von den antiken Schlachten außerordentlich beeindrucken:
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»Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihn, sie mußten fallen. Dies mochte auch wohl einen großen Einfluß auf seine kindischen Spiele haben. Ein Fleck voll hochgewachsener Nesseln oder Disteln waren ihm so viele feindliche Köpfe, unter denen er manchmal grausam wütete und sie mit seinem Stabe einen nach dem anderen herunterhieb. Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blindem Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf. Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen« (Moritz 1979: 27f.).
Reiser schnitzt sich auch die Helden des Telemach aus Papier, malt sie liebevoll an, stellt sie in Schlachtordnung auf und wütet dann fürchterlich mit dem Messer unter ihnen. Er ist ein Polyphem, der sich die Blendung selbst simuliert, indem er die Augen verschließt und unter den Gefährten des Sohnes vollbringt, was sein mythisches Vorbild an den Mitstreitern des Vaters vergeblich versucht hat: ihre Vernichtung, wenn auch die Blindheit in einem Fall die des Zorns war, im anderen die des Schicksals (und blind auf ihre Weise, nämlich im Sinne blinder Kausalität, sind ja auch die Flügel der Quixote’schen Windmühlenriesen). Das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: »So liefen alle seine Spiele, auch mit Kirsch- und Pflaumkernen, auf Verderben und Zerstörung hinaus. Auch über diese mußte ein blindes Schicksal walten, indem er zwei verschiedne Arten als Heere gegeneinander anrücken und nun mit zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfallen ließ, und wen es traf, den traf’s« (ebd.: 28).
Don Quixote und Anton Reiser – zwei Heroen, die nicht müde werden, heldenhafte Kämpfe zu führen: gegen Windmühlen-Riesen, gegen Blumen-Krieger oder Kirschkern-Heere. Dennoch wird das eine als Wahn beschrieben, das andere als Spiel. Beide entstehen als Flucht der Protagonisten aus einer ungeliebten Wirklichkeit, angeregt durch intensive Lektüre. Beides, Wahn und Spiel, hat dann auch große strukturelle Ähnlichkeit, beide folgen demselben Muster des ›als etwas‹: Don Quixote nimmt die Windmühlen als Riesen wahr, Reiser die Blumen als Heroen.
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Und dennoch gibt es am Ende einen signifikanten Unterschied. Schon der Klassiker der Spieletheorie, Johan Huizinga, hat das in Homo ludens beschrieben: »Spiel ist nicht das ›gewöhnliche‹ oder das ›eigentliche‹ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz. Schon das kleine Kind weiß genau, daß es ›bloß so tut‹, daß alles ›bloß zum Spaß‹ ist. Wie tief dies Bewußtsein in der Kinderseele haftet, wird m.E. besonders schlagend durch den Fall illustriert, den mir seinerzeit der Vater eines Kindes mitgeteilt hat: Er trifft sein vierjähriges Söhnchen an, wie es auf dem vordersten einer Reihe von Stühlen sitzt und ›Eisenbahn‹ spielt. Er hätschelt das Kind, dies aber sagt: ›Vater, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, es wäre nicht echt‹« (Huizinga 1981: 16f.).
Wahn und Spiel sind also zwei verschiedene Arten der Überblendung. In beiden erscheint etwas als etwas anderes. Doch beim Wahn fällt die Spannung zwischen den beiden unterschiedlichen Polen, die Spannung etwa zwischen Windmühlenflügeln und Riesen, in sich zusammen. Don Quixote sieht in den Flügeln nichts anderes mehr als die Arme der Riesen.1 Im Spiel bleibt hingegen ein Rest, den Quixote nicht kennt. Auch im Spiel werden beiden Formen des Etwas miteinander identifiziert. Die Blumen werden zu Heroen, dennoch könnte Reiser seine Wahrnehmung umschalten und – wie in Vexierbildern, etwa jenem berühmten H-EKopf aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen (1984: 519ff.), der einmal als Hase, das andere Mal als Ente erscheint – die Heroen wieder als Blumen sehen, ohne dass er dafür einen realen Akt der Verwandlung unterstellen müsste. Don Quixote gelingt das nur, indem er glaubt, sein Gegenspieler habe die Riesen tatsächlich transsubstantiiert, Anton Reiser tut dies ohne fremde Hilfe in seiner Imagination. Daher ist es für ihn auch ohne weiteres möglich, sich selbst unter die Blumen zu projizieren und so dem Risiko auszusetzen, vom Fatum in der Schlacht gefällt zu werden – auch das genau genommen ein Kampf gegen Riesen, nicht nur weil der kleine Blumen-Reiser sich dem riesigen Reiser, der das Schicksal verkörpert, entgegenstellt, sondern auch weil im Kampf gegen Riesen immer der Verlust des Selbst droht, paradigmatisch
1 Wenn Ernst Bloch über die Versuche Don Quixotes, das Rittertum noch ernst zu nehmen, schreibt: »... was im dreizehnten Jahrhundert Geist der Zeit war, wurde im sechzehnten Gespenst, zu einer ungefährlichen, auf Spielform beschränkten Gestalt« (Bloch 1958: 1217), dann verschleift er diese Differenz. Der Wahn ist eben kein Spiel. Dennoch sieht man gerade am Anton Reiser, wie dicht das Spiel am Wahn sein kann.
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kennen wir das aus Odysseus Kampf gegen Polyphem, der nur gelingt, weil der Reisende seine Identität opfert. Odysseus sagt dem barbarischen Riesen, er heiße Niemand. Als der Geblendete die anderen Mitglieder seiner Sippe zu Hilfe ruft, um den Täter Odysseus am Entkommen zu hindern, ruft er ihnen zu, Niemand habe ihn geblendet. »Die Berechnung, daß nach geschehener Tat Polyphem auf die Frage seiner Sippe nach dem Schuldigen mit Niemand antworte und so die Tat verbergen und den Schuldigen der Verfolgung entziehen helfe«, kommentieren Horkheimer und Adorno, »wirkt als dünne rationalistische Hülle. In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht, und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe. Er nennt sich Niemand, weil Polyphem kein Selbst ist, und die Verwirrung von Name und Sache verwehrt es dem betrogenen Barbaren, der Schlinge sich zu entziehen: sein Ruf als der nach Vergeltung bleibt magisch gebunden an den Namen dessen, an dem er sich rächen will, und dieser Name verurteilt den Ruf zur Ohnmacht. Denn indem Odysseus dem Namen die Intention einlegt, hat er ihn dem magischen Bereich entzogen. Seine Selbstbehauptung aber ist wie in der ganzen Epopöe, wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung« (Horkheimer/Adorno 1987: 91).
3) Metapher Wie bei Odysseus, wie bei Don Quixote, auch bei Karl Philipp Moritz’ Helden ist die Reise der Ort der Bewährung, eine Abfolge von Abenteuern, die man zu bestehen hat, darunter auch immer wieder und an prominenter Stelle der Kampf gegen Riesen. Nicht zufällig nennt Moritz sein literarisches Alter ego dann auch Anton Reiser. Anton Reiser, das ist der, den es nicht am Ort hält, der reist – und das keineswegs allein durch Zufall. Denn in der Tat ist der Anton Reiser ein Bildungsroman, nicht anders als der Telemach. Nicht nur gehört zu jeder guten Erziehung der Zeit eine Horizonterweiterung, die nur durch das buchstäbliche Reisen erreicht wird, die Reise wird auch zur Metapher für den Prozess der Bildung selbst. Etymologisch ist ›Reise‹ eine Synekdoche, denn ihr erster Teil, der Aufbruch wird zur Bezeichnung für das Ganze. Wie es im englischen ›to rise‹ noch anklingt, meint dieser Aufbruch eine Bewegung in der Senkrechten, also etwa sich erheben – eine Reise ist wesentlich das Aufstehen aus der bequemen Sesshaftigkeit und das Losziehen ins Ungewisse: den Riesen entgegen (vgl. Kluge 1975, S. 594). Daher ist übrigens Reise etymologisch auch eng verwandt mit dem Wort Riese, das wie Reise auf das germanische reisan: sich erheben zurückgeht: Ein Riese ist ein Wesen wie ein Berg, etwas, das sich hoch erhebt (vgl. ebd.: 600). Auch wenn die Verbindung von Reise und Riese auf den
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ersten Blick etwas weit – nämlich aus der sprachgeschichtlichen Frühzeit – hergeholt erscheinen mag, so ist doch bei der Bildungsreise bzw. allgemeiner der Bildung als Reise, der Anklang von etwas, während dessen man an seinen Aufgaben wächst, sich über sich selbst erhebt, deutlich mitzudenken. Aber noch eine viel wichtigere Konnotation schwingt im Namen Reiser mit: In Antons Nachnamen ist auch der Pfropfreiser enthalten. Reis oder – wie es noch im Mittelhochdeutschen hieß – ris war zunächst das Wort für einen sich biegenden, schwingenden Zweig. Daraus wurden reisen – oder in manchen Gegenden auch riesen – als das Veredeln von Pflanzen (vgl. ebd.: 593f.). Eine edlere Sorte wurde auf eine weniger edle, aber kräftigere aufgesetzt. Wenn Anton Reiser aus den Blumen Helden macht, pfropft er den Pflanzen seine Phantasien auf. Das eine weniger edle Gewächs trägt das edlere und versorgt es gleichzeitig. In dieser Situation treffen wir dann auch einen der Protagonisten in Goethes Wahlverwandtschaften zu Beginn des Romans an. »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter –, Eduard hatte in seiner Baumschule die schönsten Stunden eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen« (Goethe 1993/1809: 242).
Der hier angesprochene botanische Veredelungsvorgang ist also eine Übertragung. Nimmt man diese Übertragung selbst wieder im übertragenen Sinne, nämlich als Gleichnis oder als Metapher, dann kann man sie verstehen als eben Sinnübertragung, d. h. als Metapher für den Prozess, der in einer Metapher abläuft. Viele Ausdrücke unserer Sprache sind als Metaphern entstanden, deren Herkunft vergessen worden ist. Viele Abstrakta sind Worte, die ursprünglich eine sehr konkrete, sinnlich erfahrbare Bedeutung hatten und die dann auf unsinnliche übertragen worden sind. Die Platoniker unter uns dürfen das als Veredelungsvorgang begreifen. Wie beim Wahn, wie beim Spiel, begegnet uns auch bei der Metapher wieder das Phänomen, das etwas als etwas erscheint: Das Leben ist eine Reise. Die traditionelle Metapherntheorie verstand diese Sprachfigur nun als Vergleich inhärenter Eigenschaften. Weil bestimmte Eigenschaften in beiden metaphorisch miteinander verkoppelten Figuren gleichermaßen enthalten sind, kann man sie sprachlich miteinander identifizieren: Achill ist mutig – heißt es bei Aristoteles –, ein Löwe ist ein mutiges Tier, also können wir Achill als einen Löwen bezeichnen. Die Sprache wird dadurch dekorativer und abwechslungsreicher – nicht mehr. Aber das als erstarrt darin. Etwas wird gerade nur deshalb durch etwas anderes
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darstellbar, insofern das andere gar kein anderes ist, sondern nur ein anderes zu sein scheint; denn in der entscheidenden Hinsicht ist es dasselbe. Die neuere Metapherntheorie hat sich bekanntlich von dieser Auffassung längst verabschiedet (vgl. Black 1983; Zill 1994). Der Vergleich wird nicht länger vorausgesetzt, sondern erst in der Metapher produziert. Nach der alten, der aristotelischen Metapherntheorie war eine Metapher nur dann erlaubt, wenn der Vergleich offensichtlich war, alles andere galt als missglückt. Erst im Barock begann man die so genannten kühnen Metaphern zu tolerieren, also solche, in denen die Analogie nicht offensichtlich war. Für uns heute sind genau diese Fälle die interessanten, weil nur in solchen Fällen neue Bedeutungen entstehen. Und diese Bedeutung entsteht, weil die beiden Phänomene, die in der Metapher aufeinander treffen als solche erhalten bleiben, also im etwas als etwas anderem, dies Etwas und das Andere gerade nicht ineinander kollabieren. Das unterscheidet sie vom Wahn, in dem die Differenz nicht gesehen wird; das unterscheidet sie aber auch vom Spiel, in dem die Differenz zwar im Hintergrund lauert, im aktuellen Prozess des Spiels aber gerade negiert werden muss. Wenn im Spiel die Differenz aktualisiert wird, dann ist das Spiel bedroht. Die Metapher besteht wesentlich aus dieser Differenz, die Spannung der beiden Etwas muss in ihrem Vollzug immer mitgedacht werden. Deshalb ist die Metapher auch nie ein Wort, sondern immer ein Satz. Das Wort Riese allein ist noch keine Metapher, dazu wird es erst, wenn es innerhalb eines Satzes in Bezug zu einem Anderen tritt. Arthur C. Danto hat für den visuellen Bereich noch eine weitere Differenz eingezogen: den Unterschied zwischen Modell und Metapher. Eine Person, die für eine Abbildung Modell steht, verschwindet im Abgebildeten, als Metapher bleibt sie in der Abbildung erhalten. »Modelle sind ja selbständige Darstellungsmittel und stehen lediglich für das, wofür sie Modell sind; die Identität des Modells wird von der Identität des von ihm Bezeichneten zum Verschwinden gebracht. Im Idealfall soll das Modell durchsichtig sein, und es wird von uns erwartet, daß wir weniger das Modell wahrnehmen als das, wofür sie oder er ein Modell ist, obwohl es natürlich das Modell ist, das gemalt, photographiert usw. wird. Wenn das Modell für dieses Verschwinden der Identität eine allzu vertraute Figur ist, dann ist es schlecht gewählt: Elizabeth Taylor, Jackie Kennedy oder Richard Nixon würden schlechte Modelle abgeben, da sie eine zu starke Identität haben, die nicht ohne weiteres verschwindet« (Danto 1991: 256).
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In einer metaphorischen Darstellung ist diese starke Identität geradezu gefordert. Wenn Napoleon als römischer Kaiser dargestellt wird, soll er gerade nicht ein zufälliger Körper sein, der dazu dient, einem römischen Kaiser ins Bild zu verhelfen, sondern er soll sich selbst als römischen Kaiser inszenieren, dessen Eigenschaften auf sich übertragen. »Es gehört zur Struktur der metaphorischen Transfiguration, daß ihr Sujet seine Identität durchgängig aufrechterhält und als solches wiedererkannt wird« (ebd.). Die Aktualisierung des metaphorischen Potentials, das in einem Begriff enthalten ist, wird nun durch zweierlei bestimmt: zunächst durch den Rahmen, in den es gestellt wird. Sagen wir zum Beispiel: Der Kampf gegen die Natur in uns ist ein Kampf gegen Riesen, dann werden am Begriff des Riesen bestimmte Eigenschaften aktualisiert: zum Beispiel, dass dieser Kampf mühsam und gefahrvoll ist. Charakterisieren wir aber den wissenschaftlichen Fortschritt mit einem Blick auf Riesen, so ergibt sich eine ganz andere Bedeutung. Isaak Newton soll in einer subtilen Mischung aus Selbsterhebung und Demutsgestik an Robert Hooke geschrieben haben: »Wenn ich weiter gesehen habe [als Hooke und Descartes], so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe« (Brief an Robert Hooke, 5. Feb. 1675/76, zitiert nach Merton 1980: 38). Nicht ich selbst bin groß, insinuiert der Naturforscher mit seinem Satz, ich stehe nur in der richtigen Tradition. Der Fortschritt der Wissenschaften ruht immer auf den Errungenschaften der Vorgänger auf. Insofern ist der Wissenschaftler auf den Schultern seiner riesenhaften Vorgänger eine Art szientifischer Pfropfreiser. Je nachdem, in welchem metaphorischen Rahmen ein Begriff steht, werden in ihm also andere Nuancen aktiviert, andere Eigenschaften selektiert: In dem einen Kontext erscheint der Riese als bedrohlich und gefährlich, eine negative Gestalt, im anderen wird allein auf seine Größe rekurriert, die Figur somit zu etwas Positivem. Und dies nicht etwa, weil der Riese als diskriminierte Minderheit entdeckt worden wäre, den man nun anders einzuschätzen hätte – wie z. B. die politisch korrekte Rehabilitierung der Riesen in Joanne K. Rowlings Harry Potter und der Feuerkelch –, sondern allein durch unterschiedliche Selektion gleichzeitig vorhandener Merkmale. Robert Merton hat den Filiationen des beliebten Topos von den Schultern der Riesen, auf denen die Wissenschaften stehen, nachgespürt. Popularisiert hat ihn Robert Burton, der in der Vorrede zu seiner Anatomie der Melancholie schreibt: »Obwohl sich die Naturkunde und Philosophie der Alten vieler Giganten rühmen kann, behaupte ich doch mit Didacus Stella, daß ein Zwerg, der auf den
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Schultern eines Hünen steht, weiter sieht als der Riese selbst, und ebenso bin ich meinen Vorgängern dadurch über, daß ich hinzuzufügen und sie zu korrigieren weiß« (Burton 1991/1621: 27).
Didacus Stella ist der spanische Mönch Diego Estella, wie Merton in seinem »Shandean Postscript« wortreich rekonstruiert (Merton 1980: 39ff. und 204ff.). Estella wurde 1524 in Navarra geboren und starb 1578 in Salamanca, er war damit nicht nur ein Landsmann, sondern fast auch ein Zeitgenosse von Cervantes, der von 1547 bis 1616 gelebt hat. Estella und Cervantes, zwei Vertreter einer Kultur zu ein und derselben Zeit, benutzen die Figur des Riesen in ganz verschiedenen Hinsichten. Allerdings hat auch Didacus Stella die Metapher vom Autor, der auf den Schultern seiner riesenhaften Vorgänger steht, nicht erfunden, wie Merton auf den Schultern von George Sarton zeigt. Die Metapher geht mindestens auf Bernhard von Chartres zurück, überliefert von seinem Schüler John of Salisbury, also mindestens bis ins 12. Jahrhundert (ebd.: 43ff. und 147ff.). Damit ist nun auch der zweite Faktor, der das metaphorische Potential eines Begriffs aktiviert, angesprochen. Ein Begriff ist natürlich nicht unumstößlich festgeschrieben, sondern in seiner Bedeutung auch vom sozialen und kulturellen Kontext abhängig. So kann ein und dieselbe Metapher in verschiedenen Kulturen oder Zeiten unterschiedlich verstanden werden. Der Kampf gegen Riesen wie er durch Erzählungen von Polyphem und Rübezahl, Goliath und Gulliver, Don Quixote und Anton Reiser geprägt ist, erscheint als mühevoll und als eine Gefahr, über die man aber triumphieren kann. Seit der Dialektik der Aufklärung erhält dieser Kampf aber noch eine andere Nuance. Verstehen wir etwa die Wendung vom Kampf gegen die innere Natur als einen gegen Riesen im Sinne Horkheimers und Adornos, dann ist dieser Kampf nicht nur beschwerlich, sondern am Ende immer auch bedrohlich insofern, als wir – wie in der Geschichte des Polyphem – letztlich mehr verlieren als gewinnen.
4) Die Metapher als Spiel Spiel und Metapher sind ähnliche Phänomene: Beide haben die Struktur von etwas als etwas anderem. Beide sind aber unterschieden, insofern die Differenz im Fall des Spiels latent bleibt, sie bei der Metapher jedoch notwendigerweise aktualisiert werden muss. Unter dieser Voraussetzung ist die Differenz zwischen Spiel und Metapher, die ich hier so sehr betont habe, auch eine Bedingung dafür, dass ich beide selbst in einen metaphorischen Zusammenhang setzen kann: Die Metapher ist auch ein Spiel. Und zwar nicht, weil beide etwas
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als etwas anderes sind, denn dann käme nur das Identische in den Blick. In der Metapher vom Spiel der Metapher ist erst die Differenz zwischen beiden produktiv. Dabei ist entscheidend, in welchem Kontext das Spiel verstanden wird. Wir wissen nicht zuletzt von Johan Huizinga, dass der Umfang des Begriffs Spiel historisch und kulturell extrem variiert (Huizinga 1981: 37ff.). Der andere große Klassiker der Spieletheorie, Roger Caillois, hat in seiner Systematik den ganzen Reichtum dessen, was wir heute unter Spiel subsumieren würden, aufgezeigt und ihn dabei unter die vier Stichworte Agon (Wettkampf), Alea (Chance), Mimicry (Verkleidung) und Ilinx (Rausch) zu gruppieren versucht (Caillois 1982: 18ff.). Setzt man diese Einteilung voraus, habe ich von Spiel bisher in erster Linie im Sinne von Mimicry gesprochen. Diese Einteilung zeigt aber auch, wie viel größer nicht zuletzt das metaphorische Potential dieses Begriffs ist. Interessanterweise betont, wer über das Spiel spricht, meist seine Regelhaftigkeit, also das, was bestimmten Spielen ihre Identität gibt. Mich interessiert hier eher das gegenteilige Element, das auch im Spiel steckt, das der Freiheit, der Unberechenbarkeit. Produktiv ist an der Metapher das Spiel der Bedeutungsübertragungen zwischen dem Metaphernfokus, also dem Hauptbegriff, wie etwa ›Riese‹, und dem Rahmen, in dem er steht, und damit den neuen Bedeutungen, die dadurch entstehen. Der fokale Begriff legt nicht fest, welche Metapher aus ihm entsteht; er steckt nur den Spielraum ab. Die Metapher und der Reichtum an Bedeutungsnuancen, der mit ihr entsteht, wird erspielt, er spielt sich ab, und zwar im Raum der von Metaphernrahmen und Metaphernfokus innerhalb der bestimmten kulturellen Kontexte, die durch sie aktiviert werden, geschaffenen Möglichkeiten. Daher ist die Metapher eine offene Figur. Dabei müssen diese Kontexte nicht immer nur große Kulturkreise sein (wie in dem Beispiel der Geschichte vom Riesen). Der Assoziationsspielraum der Metapher kann durchaus mitbedingt sein durch partikulare Kontexte, wie sie bestimmte soziale Gruppen teilen: eine scientific community, eine künstlerische Tradition oder eine berufliche Spezialausbildung. Die Variabilität und die Größe dieser Spielräume werden dabei häufig übersehen. Die Metaphorologie hat sich ursprünglich aus einer Metaphernkritik entwickelt. Sie sollte die Sprache von Unschärfen und Entstellungen, die durch bildliches Sprechen in sie eindringt, reinigen und dadurch ihre Präzision retten. Erst spät hat man umgekehrt das kreative Potential, das gerade in diesen Unschärfen liegt, erkannt (Diese doppelte Funktion findet sich noch 1960 in Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie). Der kritische Aspekt versteht sich inzwischen mehr als Enttarnung versteckter Bedeutungen, auf die Entzifferung von Schichten, die einen
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Text insgeheim zu prägen scheinen, Schichten, in denen überkommene oder falsche Prägungen nachleben. Metaphorologie läuft damit Gefahr, einer »Hermeneutik des Verdachts« (Ricœur 1986) Vorschub zu leisten, denn häufig unterstellt so der Interpretateur erst das, was er enthüllt. Metaphorologie wird zur Metaphernpolizei. »Many ideas grow better when transplanted into another mind« stand 1993 als Motto auf dem Cover der ersten Broschüre des Einstein Forums. Als ich diesen Satz, der mir sehr gut gefiel, im Rahmen eines Projektantrags wieder verwendete und die darin enthaltene Transplantationsmetapher – die ja dem Propfreiserbild eng verwandt ist – weiter entwickelte, stieß das auf Ablehnung. Denn es ging in diesem Projekt um Wissensvermittlung und die Folgen, die eine Übertragung wissenschaftlicher Theorien in andere nationale oder disziplinäre Kontexte hat. Mir wurde vorgehalten: »Herr Zill, Sie müssen auf Ihre Metaphern achten!«, und zwar, weil ich hier kulturwissenschaftliche Themen mit naturwissenschaftlichen Metaphern beschrieb. Fast als wollte der Vorwurf paradoxerweise unterstellen, dass Begriffe ein genetisch eingeschriebenes Bedeutungspotential hätten. Das bedeutet nicht, dass Metaphern unter bestimmten Bedingungen nicht an ihre Grenzen stoßen und so der Kritik verfallen, am deutlichsten dort, wo ihre Entwicklung die immanente Logik sprengt. Dem Bild von den Forschern, die auf den Schultern von Riesen stehen, ist es so ergangen. Es setzt ursprünglich ein Wissenschaftsverständnis voraus, das von einem linearen Fortschritt, von einer steten Akkumulation des Wissens ausgeht. Innerhalb dieses Rahmens zeigt die Metapher aber auch ihre Grenzen. Wie sähe der wissenschaftliche Fortschritt konsequent weitergedacht in diesem Bild aus? Auf die Schultern der Zwerge müssten dann weitere Forscherzwerge steigen: am Ende eine große artistische Pyramide von übereinander geschichteten wissenschaftlichen Leibern, die irgendwann beginnen die untersten zu erdrücken. Vielleicht wäre dieses Wissenschaftsbild auch unter der Last seiner Riesen und Zwerge zusammengebrochen. Ehe das geschehen konnte, sind allerdings einige Zwerge von den Riesenschultern herabgesprungen und haben diesen Sprung selbst zum Prinzip der Wissenschaftsentwicklung erklärt. An die Stelle der einfachen linearen Kumulation sind Paradigmenwechsel getreten. Die Riesen, auf denen man zuvor stand, werden nun zu Goliath, den es zu bekämpfen gilt. David ist der neue Theoretiker, der mit seiner Zwille bewaffnet, die etablierte Wissenschaft zu erlegen sucht. Aber woher stammen die Zwillen? Anders gefragt: Wie entstehen neue Paradigmen? Richard Rorty hat diese Frage ausgedehnt auf neue kulturverändernde Vokabulare generell. Seine Antwort verweist auf geniale Künstler, die in einer Schöpfung ex
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nihilo das Neue letztlich unnachvollziehbar kreieren.2 Eine weniger spekulative Möglichkeit ist die Modellbildung, nichts anderes als eine regulierte metaphorische Übertragung von Theorien von einem Bereich in einen anderen.3 Prominente Beispiele sind die mechanistische Philosophie in der frühen Neuzeit oder der Strukturalismus im 20. Jahrhundert. In beiden Fällen wurden Theoreme, die in einem bestimmten Kontext entstanden sind, in andere übertragen und führten dort zu neuen Konstellationen, die man dann teilweise sogar rückübertragen hat. Einzelne Theoretiker haben die riesen Schultern verlassen, sind auf die Reise gegangen bis sie in anderen wissenschaftlichen Regionen auf fremde Riesen gestoßen sind, die sie überwältigt und selbst geschultert haben, um so ihre Beute nach Hause zu tragen. Was sie dort allerdings für Kräfte entfalten, kann man nicht immer voraussagen. Das spielerische Moment innerhalb der Theorieproduktion ist dabei aber unverzichtbar. Oder wie Adorno sagt: »Sobald er [der Geist] mehr will als bloß die administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch Tautologie« (Adorno 1958: 29).
Die vom Spiel verlassene Wahrheit ist die Wahrheit des Sancho Pansa, der das herkömmliche Wissenschaftsbild verficht. Für das gilt: Eine Windmühle ist eine Windmühle ist eine Windmühle. Sancho Pansa ist der Logiker, der immer ein Tautologiker ist. Don Quixote aber ist der Metaphoriker (das ist die unterdrückte Wahrheit hinter dem Toren bei Cervantes). Er ist der Revolutionär in der Wissenschaft, der gegen die Riesen dieser alten Theorie kämpft. Und wenn er verliert, dann war doch der Einsatz das Spiel allemal wert.
2 Rorty 1989: Kap. 1, besonders S. 35; vgl. auch meine Kritik daran in: Zill 2001, sowie Rortys Erwiderung in: Schäfer/Tietz/Zill 2001: 141ff. 3 Vgl. Zill 1994, auch: ders. 1999. Der Modellbegriff ist hier nicht zu verwechseln mit dem von Arthur Danto, der nur einen sehr reduzierten Aspekt des Begriffs betont.
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Kaufen Sie dieses Buch ein zweites Mal und verschenken Sie es an eine MitspieleZum Ursprung von Spielkarten ist bisher wenig Genaues bekannt. Erste Spuren finden sich im 7. Jahrhundert n. Chr. in China, aber auch in rin. Legen Sie nun jeder alle fünf Finger Ihrer rechten Hand an beliebigen, unterJapan, wo man verschiedene Gedichtfragmente zu Legespielen immer wieder neu zusammensetzte. Als Vorläufer der heute verbreiteten Karten schiedlichen Stellen zwischen die Seiten Ihres Buches. Dieses sollten Sie dabei mit gilt ein im arabisch-persischen Raum entstandenes hierarchisches Motivsystem aus Zahlen und staatlichen Ämtern. Man nimmt an, dass diese der linken Hand so hochhalten, dass niemand anderes mit hineinschauen kann. Spielkarten aus dem Orient nach Europa gebracht wurden, wo sie ab dem Ende des 14. Jahrhunderts zuerst in Italien belegt sind. Dank techBetrachten Sie jetzt die fünf Doppelseiten, die Sie in der Hand halten. Die nischer Neuerungen in der Papierherstellung und bei Druckverfahren fanden Karten rasch Verbreitung und entwickelten sich zu einem frühen Augenzahl des Blattes ergibt sich jeweils aus der Anzahl der Buchstaben des Massenmedium. Karten gehören zu den vielseitigsten Spielmaterialien. Man erhält ein Blatt zugeteilt, und je nach Spiel erwachsen einem große ersten Wortes auf der rechten Seite. Wer die höhere Augenzahl hat, darf seinen oder kleine Möglichkeiten, seine Trümphe auszuspielen oder aber auch, das Blatt zu wenden. Manche lassen sich die Karten legen, in der Regel Finger aus dem Buch nehmen. Es beginnt der längste Daumen; dann spielt Finaber lässt man andere nicht in die eigenen Karten schauen. Mit Spielkarten wurde Wissen repräsentiert, geordnet und gelehrt, wurde wahrgeger gegen Finger. Wer zuerst alle Finger aus dem Buch hat, gewinnt. sagt und Konversation gemacht, wurden Andenken gesammelt und Waren verkauft. Kurz, mit Karten wird Zeit versüßt, vertrieben oder erst verstanden.
»SICH AUF EIN ABENTEUER DIESER ART VERSTEHEN ...« HANS ULRICH RECK In Das Netz von Lutz Dammbeck (Kinostart Herbst 2004) gibt es als eine nicht nur für den Inhalt, sondern auch die Dramaturgie des Films wichtige, selber schon spielerisch wirkende Passage ein Gespräch mit dem uralten Heinz von Foerster, der mit ungebrochenem Spaß am Flunkern Erkenntnismotive seines Lebens Revue passieren lässt. Foerster sagt: Eigentlich wollte ich nur Physiker sein, aber ich habe bald gemerkt, dass mich die Metaphysik sehr viel stärker interessiert. Es sei ja schließlich alles nur ein Spiel und gerade bei der Metayphsik komme es darauf an, dass die Geschichte gut erzählt werde, was eben auch heißt: dass gute Geschichten erzählt würden. Von Foerster reiht mindestens die Philosophie, tendenziell aber auch die Wissenschaften in die poetischen Disziplinen ein. Da Realität fehle – »wo kriegen Sie denn die her, die Realität? «, fragt Foerster den ihn interviewenden Lutz Dammbeck –, erscheine alles nur bezogen auf poetische Leistungen und ausschließlich den Kriterien einer fiktiven Narration unterstellt. Das Fiktionale, entworfen als Horizont des unseren Erfahrungen Verträglichen und Förderlichen, sei das Bestimmende und Objektivitätskriterien im übrigen nur Auswirkungen von undurchschauten, wissenschaftstheoretisch erzwungenen Fetischismen. Es gehe entschieden, vorrangig und in letzter Instanz der Geltungen darum, Geschichten zu erzählen. Natürlich entspricht diese, die Schwierigkeiten der Metaphysik wie der Wissenschaftstheorie gleichermaßen und selbstbewußt ausnutzende Strategie dem, was Lessing den gewitzten Riccaut in Minna von Barnhelm beanspruchen lässt, wenn er das Schicksal ein wenig zu seinen Gunsten beeinflussen möchte: »corriger la fortune«, was sowohl Glück im Leben wie Zufall im Spiel meint. Wahrscheinlich kann nur jemand wie Lessing den philosophischen Sinn des Aleatorischen im Erkenntnis- wie im Lebensspiel so gut einschätzen, jemand, der selber vollkommen außerstande war, sein Lebensglück zu beeinflussen und dessen Versessenheit auf Spiele wie Schach, aber auch Zahlenlotterien und das Glücksspiel
102 Hans Ulrich Reck
Pharao ihn wiederholt an den Rand des Ruins trieb und damit den Bibliophilen in die tätige Verzweiflung, dem nichts anderes übrig blieb, als Spielschulden mit dem Verkauf geliebter Bücher zu begleichen, ein Vorgang, den viel später Arno Schmidt als eine der wenigen privilegierten Möglichkeiten des Intellektuellen beschrieb, auf Erden freiwillig und vorgreifend die Hölle zu erleben. »Corriger la fortune« ist also kein Betrug und als praktische Maxime Heinz von Foersters »es geht darum, Geschichten zu erzählen« ebenbürtig. Beides meint: Es ist alles nur ein Spiel. Nur indiziert dieses ›nur‹ eine bereits trickreiche Interpretation dessen, worum es in dieser Vorlesungsreihe ging und verweist ganz nebenbei nicht allein auf die von Natascha Adamowsky in ihren Rahmenthesen so überaus präzis genannte Auffassung vom Spiel als einem genuinen Terrain von Wissenschaftsprozessen, sondern auch auf ältere Fassungen von einer Einheit der Künste und Wissenschaften im Rahmen bestimmter, formalisierbarer Kooperationsweisen. Das Verhältnis von Mechanik und Spiel in den berühmten Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts ist eine bedeutende Reminiszenz in dieser Hinsicht. Viele philosophische Spekulationen der damaligen Zeit finden sich, in veritable Fragen verwandelt, in den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts wieder. Einsteins Dekret »Gott würfelt nicht« bezieht sich nicht nur auf die Ambivalenzen zwischen Determinismus und Freiheit – ist Gott so mächtig, dass er sich als eine Spielfigur in einem von ihm erfundenen und willkürlich veränderlichen Spiel, also als ein Element des von ihm selber determinierten Feldes, also in nicht-determinierter Weise festgelegt und umgekehrt als Mechanismus variierbar konzipieren kann?1 –, sondern auch auf die Signifikanz eines Universums, das man sich in der Einheit von Organismus und Mechanismus eben immer als auf eine bestimmte Art ›kohärent‹ und damit von durchgängiger Beschaffenheit vorgestellt hat, demnach selber als Wunderkammer und nicht nur durch und in Wunderkammern darstellbar. Damals hatte man gegenüber dem Gottmechaniker, dem Weltenschöpfer, dem Schaffenden, Schöpfenden, Erhaltenden und Waltenden auch den semiotischen Spieler ins kosmische Spiel gebracht, wohl um sich zu
1 Die Frage, ob Gott sich als Metaspiel bewährt oder in der Laune, sich als Teil eines Spiels zu erfinden, seinen demiurgischen Höhepunkt findet, gibt Anlass zu bildreichen Imaginationen seitens des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, die sich nicht selten in Katastrophen ausdrücken (vgl. z. B. Dürrenmatt 1998; ders. 1979: 150ff.; ders. 1998a; ders. 1998b, bes. S. 661ff.).
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erklären, was im determinierten Kosmos niemals aufgeht oder nicht als universale Ordnung einspruchslos hingenommen werden kann, das individuelle Schicksal nämlich, also die Effekte von Zufall und Stochastik, die Nebenfolgen von zu Irregularitäten gebändigten Konditionierungen. Schon in den Sprüchen Salomonos gibt es einen Verweis auf den demiurgischen Spieler, der sich ein Ergötzen verschafft durch die Erfindung, mindestens den Vollzug eines gemeinsamen Spiels mit den Menschenkindern: Als Gott Himmel und Erde schuf »da war ich der Liebling an seiner Seite / war Tag für Tag das Ergötzen, / indem ich die ganze Zeit vor ihm spielte. Da spielte ich auf dem weiten Rund seiner Erde / und hatte mein Ergötzen mit den Menschenkindern« (zitiert nach: Bredekamp: 1993: 66). Solches globische oder auch globale Spiel wurde als ein Prozeß der Erzeugung von Unregelmäßigkeiten verstanden, die keineswegs nur als unvermeidlich in Kauf genommen, sondern in ihrer systematischen Bedeutung für die Anwesenheit eines alles durchwaltenden göttlichen Plans genommen wurden, zum Beispiel bei Nikolaus von Kues, der in De ludo globi die vergnügliche Selbstbelehrung des philosophierenden Verstandes mit dem Lehrgehalt jedes ›anständigen‹ Spiels in Verbindung brachte. Das Vergnügen, globisch oder auch: mit dem Globus als Inbegriff der göttlichen Ordnung zu spielen, gab ein seit der Renaissance oft wiederholter, in unserem Zusammenhang entscheidender Topos wieder, nämlich die Auffassung, dass in den frei sich ausformenden und gestaltenden Zufallsbildern der Natur die zu imitierende Potenz als Vorgabe und zugleich Vorprägung aller Kunstformen beschlossen läge.2 Eineinhalb Jahrhunderte voller Gelehrsamkeit später hat Francis Bacon in seinem Advancement of Learning (1609) das Lernen durch die Konstruktion von Monstrositäten, Abirrungseffekten in einem nicht vorab kontrollierbaren Spiel ergänzt. Zufall ist hierin identisch nicht nur mit der Nichtvorhersehbarkeit des Spiels, sondern der Notwendigkeit dieses Unvorhersehbaren für das freie, chaotische, deregulierende, aber auch unbegrenzte Geschehen der Natur selbst (für die den Ausdruck ›Spiel‹ zu brauchen synonym wäre mit kosmischer Ordnung, Schicksal, Determiniertheit). Es wäre ein Leichtes, solches als Modell zu propagieren. Aber es geht hier nicht um die in jüngerer Vergangenheit immer wieder besonders von den Künsten,
2 So auch Leon Battissta Alberti (vgl. Bredekamp 1993: 66). Im folgenden rekurriere ich mit einigen historischen, nicht mehr im einzelnen explizit aufgeführten Verweisen, wenn auch in anderer Folge und Zuspitzung, auf das überaus klare Buch von Horst Bredekamp Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte (1993: insbesondere 66-73).
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aber auch von Seiten der Wissenschaften her geforderte Synthese zwischen ebendiesen beiden, sondern es geht darum, an eine Konzeption zu erinnern, in der das, was erst sehr viel später als Rationalisierung des Spiels oder Deregulierung der Wissenschaften unter der Kontrolle einer höheren Synthese beansprucht wurde, als noch offene Vektoren, noch nicht festgelegte Signifikanten einer offenen Ordnung verstanden werden kann. Diese appellative Synthese ist identisch mit einer anderen Fassung ihrer Struktur, die als strikte Divergenz auftritt und argumentiert, der Rationalität des Wissens entspreche als Konterpart, Inspirator und Anreger die intuitive Imagination des Spielerischen. Das sind beides Reduktionsformen und Instrumentalisierungen, Kehrseiten desselben einen Sachverhalts. Es soll in meiner Sicht eine instrumentelle Indienstnahme gerade vermieden werden. Entscheidend mit Verweis auf das früh Vorgeprägte: Man hatte damals das naturwüchsige Verständnis, dass die Kunst selber ein Medium oder eine Kraft, ein Tatbestand wie ein Organon dieser Naturkraft und mithin besonderte Bühne der Verkörperung und Verdeutlichung von ›Abirrungen der Natur‹ sei. Die Naturformung kann sich nämlich kein angemessenes Bild ihrer selbst machen ohne Aufgreifen des sich aktual Bildenden, noch nicht Festgelegten. Es sind also gerade die – allerdings nicht vorselektionierten oder gereinigten, sondern ungebändigten und ›wilden‹ – Variationen, in denen sich der Reichtum zeigt. Kunst galt als eine Naturform der Vergegenwärtigung von Variierbarkeit im Medium der Natur als Binnenmodifikation dieser selbst, also explizite Darstellung von Möglichkeiten des Naturprozesses. Es handelt sich hierbei nicht um prioritäre Festlegungen, evolutionäre Selektion/ Modifikation, sondern Vorgänge, die auch die Kaprizen des Einzelnen, die Laune des Individuellen als legitime Ausdrucksform umfassen – was nebenbei wohl die letzte systematische, prozessuale Definierung der Künste im Rahmen einer Anerkennung derselben einen Realität, eben von ›Natur‹ liefert. Dass man danach diese in vorliegende und bearbeitete, nach Modifikationen, Transformationszuständen, Modi der Gegebenheit, Einsprengungsgraden der Artefakte etc. untergliedert, tut dem keinen Abbruch, weil die Einheit der Natur als Rohstoff und prozessual, nicht als Substanz oder organismische Synthese gedacht ist – vielmehr treibt das Prinzip der Differenz die Natur aus sich selbst heraus in Gegensätze zu ihr. Kunst ist darin hochstufige, manierismusfähige Explikations- und Konstruktionskraft, aber als Kraft eben gänzlich natürlich. Der Kunst eignet keine andere Sphäre der Existenz, weder der Formen noch der Stoffe, sie ist nicht Theorie ihrer selbst als Berufung auf eine eigene Ontologie, die aus einer Verdoppelung des Realen, Phantombildung und Wirklichkeitsverachtung, damit gespaltene
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Ontologie, Abwertung des Wirklichen, Verneinung und Skepsis, Lebensfeindlichkeit hervorgeht (vgl. Rosset 1973; 1976; 1977; 1991; 1994; 2000). Dass sie im menschlichen Tun sich als Setzung und Hypothese gliedert, dass sie fiktionalisiert und virtualisiert werden kann und muss, spielt, aus der Sicht eines Bacon, gänzlich innerhalb der Modifikationen, Valenzen und Potenz der Natur, eben als Variation, welche das Monströse immer eingeschlossen hat. Die Kreatürlichkeit der Kunst markiert selber die hochgradig explizierbare artifizielle Formkraft von ›Natur‹. Was – hart an der Grenze des Tautologischen, aber mit Hinweis auf eine besondere Abweichung im wichtigen Einzelnen formuliert – sowohl in der Natur wie in der Kunst zum Ausdruck kommt, ist sowohl Natur wie Objekt einer Betrachtung in Analogie zur Kunst, Vergegenständlichung ihrer Modellierung als Qualität im Hinblick auf naturhafte Aktualgenese. Dazu gehört mit Francis Bacon vorrangig die Lust am Monströsen, die nichts anderes als Einsicht in dessen naturphilosophische Bedeutung ist – stilgeschichtlich im Manierismus, technik- und evolutionsgeschichtlich als prinzipiell a-moralische Schrankenlosigkeit des Experimentierens von Natur mit sich selbst im Medium der menschlichen Artefakte – ein Prozeß, der unvermeidlich mit der Generierung von Monstren in einem noch nicht zähmbaren Sinne verbunden sein muss und real auch weiter verbunden sein wird, zum großen Erstaunen aller medizinisch vereinigten und technisch im Fortschritt der Artefakte geeinten Gesundheitsprediger der Gegenwart. Der ästhetische Prozess der Gewinnung der Variationen, natürliche Genesis und künstlerische Artifizialität semiotischer Darstellung des Variierten umgreifend, ist fundamentaler als eine nur außerkünstlerisch gedachte Natur oder als eine nur auf ästhetische Normen hin orientierte Darstellung. Kunst- und Wunderkammern waren dementsprechend Orte eines wissenschaftlichen Laboratoriums, in dem Erkenntnisprozesse durch spielerisches Vergnügen in Gang gebracht und auch als gänzlich durch Zufall und Launen der Natur hervorgebrachte gegenständlich werden konnten. Wegen der Artifizialität der natürlichen Variationsform ›Kunst‹ braucht es für eine angemessene Erklärung der Weltschöpfung neben dem Weltenschöpfer den universalen demiurgischen Spieler – bestimmt aus der Vorstellung der Einheit von Zweck und Zweckfreiheit. Wie das Spiel mit dem Gegebenen durch Menschen angeeignet werden kann, ist eine Frage der methodischen Fundierung der Epistemologie des Artifiziellen, aber eben auch organischer Bestandteil kunstvollen Spiels, was vielleicht vorrangig die Figur des Ingenieurs in sich zu vereinen vermag (vgl. Simon 1990).
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Die Kunst gehört in ihrem schöpferischen Tun zur Naturgeschichte. Kunstgeschichte ist aufgehoben in der Naturgeschichte – es wäre ein leichtes zu zeigen, dass die späten Reaktionsbildungen auf den Erkenntnisverlust seitens der Kunst im 20. Jahrhundert – zum Beispiel in Gestalt der neo-enzyklopädischen Imaginationen und Phantastereien von Benjamin Perret und Max Ernst – Ausweitungen spielerischer Formen eben nicht Kraft des ludischen Prinzips darstellen, sondern aus den Erkenntnisproblemen einer nicht-kohärenten Theorie des Universums hervorgehen, kraft deren man sich die Bedingungen der Variationen aktuell als Ausprägung des Variierten vorstellen mag. Die ludischen Ausweitungen der Kunst vollziehen sich im 20. Jahrhundert gänzlich auf der Verlustseite der Epistemologie und reagieren auf eine durchgehende Instrumentalisierung des Spielerischen. Sie sind also bereits melancholische Figuren eines Verlusts des Ludischen, auch wenn sie diese in die Gestalt behaupteter Ausweitung der Spielform kleiden. Es ist hier nicht über Spieltheorien im kulturtheoretischen Sinne zu referieren, aber doch ein häufig anzutreffendens Missverständnis zu streifen: Die Feier des kindlichen Spiels, das man entweder auf die Kommunikation bezieht oder auf ein spielerisches So-tun-als-ob es nicht im Innenblick der Spiele eherne Regeln gäbe, die man als eine Art Weltschöpfungskraft verstehen würde oder möchte. Gerade diese Instrumentalisierung des Spiels ist selber ein Produkt der Spaltung zwischen vermeintlich nur angewandten Wissenschaften und den vermeintlich sich von allem Zweckhaften emanzipierenden Künste und damit Ausdruck eines antiludischen, konzeptuellen Missverständnisses. Es hilft nichts: Die Beteuerung, gerade diese Konzeption sei innovativ, vermag uns nicht über den Tatbestand hinwegzutäuschen, dass es sich um Reaktionsbildungen auf den angeblich gerade aufzuhebenden Verlust handelt.3 Ernst Machs Erkenntnis und Irrtum ist schon weit vor der Epoche der behaupteten NeoUniversalismen über solche Fehler hinausgelangt (Mach 1980/1926). Überall dort, wo es um grundlegende Revisionsanstrengungen gegenüber gesetzten, aber nicht befriedigenden Theorien geht, sind zwischen 3 Es ist bemerkenswert, mit welch fröhlicher Unbedarftheit und Unschuld sonst so präzise argumentierende Kunstrichtungen wie Fluxus oder agil-kluge Theoretiker wie Allan Kaprow über die schier unbegrenzte kindliche Autonomie und angebliche Regelenthobenheit als Basis dieses wahrhaft Spielerischen sich auslassen – man hat darin einen wesentlichen Beleg und wird im Umkreis von Happening, Aktionismus und Fluxus weiter schnell fündig in Richtung auf das hier festgestellte Problem einer ästhetischen Verstellung des Funktionsverlustes des Spielerischen durch dessen universale Vereinnahmung. Dass, so Kaprow, die kindliche Erfindung des Spiels zugleich kommunikative Selbtsorganisation einer Gruppe sei, ist eine weitere, dazu nur all zu gut passende Mär.
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den Künsten und den Wissenschaften gewisse Gemeinsamkeiten festzustellen. Das betrifft nur die Natur dieser Genealogie einer Selbstbearbeitung/Selbsttransformation bisheriger Modelle – Funktion wie zahlreiche andere Aspekte, in Sonderheit die Erkenntnisinteressen, Ziele, Traditionen, Normen und Zwecke von Künsten und Wissenschaften sind verschieden. Selbst hier, weit vor der problematischen Beschwörung des Irrtümlichen als eines ›Interessanten‹, ist eine Einheit von Künsten und Wissenschaften nicht plausibel zu behaupten. Dass die Funktion und das Ziel andere sind, ist darin noch das geringste. Deshalb und darin hat Heinz von Foerster wie überhaupt die ganze von ihm vertretene Richtung nicht recht: Es geht keineswegs nur darum, Geschichten zu erzählen, auch wenn das einer bestens etablierten postmodernistischen Pose entsprechen mag. Es ist auch nicht so, dass Metaphysik um jeden Preis an den Wissenschaften als Zwang zur Erfahrungskontur oder des Systemabschlusses ›klebt‹. Von Foersters Dilemma, das er natürlich nicht anerkennt, ist genau dieses, dass aus seiner Optik heraus es keinerlei wissenschaftlicher Anstrengungen zur ›Erklärung‹, nämlich Erzählung von ›Welt‹ bedarf. Die moralische Eleganz und zugleich ehrenwerte Rigidität, jederzeit alle Objektivierungen als Ausdruck subjektiver Konstruktion verantworten zu müssen, erübrigt nicht diejenige Differenz zwischen Objektivierungen und dem Spekulativen, die er als grundlegend für die Austauschbarkeit von Spekulation und Erkennen in seinem Modell um jeden Preis vermeiden will. Es stimmt nicht einmal, dass Metaphysik nur ein Spiel sei oder dass man gegenüber den Wissenschaften besser das Spiel ›Metaphysik‹ statt das Spiel ›Wissenschaft‹ spielen solle – das sind intrinsische Perspektiven, die sich dem tätigen Subjekt als austauschbar aufdrängen oder suggerieren mögen – im Hinblick auf Geltungstheorien ist das in keiner Weise austauschbar. Es gibt im Bereich der Erkenntnisgewinnung überprüfbare Formen, die nicht arbiträr oder nur Stoff divergenter Narrationen sind, sich darin weder genealogisch noch funktional noch teleologisch erschöpfen. Die Möglichkeiten der Narrativierung von spielerisch als beliebig Gesetztem hat mit der Frage der Erkenntnisgewinnung prinzipiell nichts und aktuell eben nur dort mit Erkenntnisformen zu tun, wo das Ludische ›zufällig‹ auf ein Reales trifft, das gar erst durch dieses hat entdeckt werden können. Dort, wo man theoretische oder praktische Probleme lösen muss, ist es sinnvoll, alle Möglichkeiten unterhalb solcher Divergenzen zur Verfügung zu halten, aber das bedeutet nicht, dass die Realität der Probleme deswegen entobjektiviert würde. Das gilt – als Beschreibung wie als Einwand – auch dann, wenn man solcher Art zugrunde liegende Objektivierung für eine Konstruktion ihrer Beschreibbarkeit hält (eben dies ist die Crux: objektive Erfahrung ist nicht identisch mit der berühmten, radikalkon-
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struktivistisch gebetsmühlenhaft für solche Fragen stetig eingesetzten Viabilität, die ja nicht einmal Intersubjektivität zu erklären oder zu denken vermag, sondern nur deren praktischen ›Erfolg‹ oder Nutzen feststellt). Alle nicht deduktiv angelegten Methoden und erst recht die von Peirce abduktiv genannten Folgerungen sind Potentiale einer solchen Problembestimmungs-Ausweitung. Was von Foerster meint, erschöpft sich in der Bricolage, jener Technik der werkenden Kombination von subsidiären und situativen Mitteln und Formen, denen keine Wahl und damit objektivierende Abstimmung mit Problemangemessenheit zugrunde liegen, sondern die eingerichtet werden gemäß dem Druck der Verhältnisse bei ausbleibender Wahlmöglichkeit eines besseren Instruments. Interessant ist – in der Praxis zwar schon, aber jetzt nicht für uns – nicht, wie erfolgreich solche Formen improvisatorisch-apparativer Montage von fragmentierten Problemlösungstechniken sind, sondern dass die Rekombination der Fragmente und Teile zu einem pragmatisch operablen Ganzen aus der Konzeption der Bricolage, also der zündenden Idee eines Probehandelns, seinem Entwurf ›in situ‹ hervorgeht. Man mag diesen Rest meinetwegen in die fetischistischen Bestände des ›wilden Denkens‹ einrücken: Der Erfolg gibt ihrem Arrangement auch systematisch recht (vgl. Lévi-Strauss 1973; systematisch zum motivlichen Hintergrund Heubach 1987). Die dringend nötige neue Theorie oder Weltsicht geht aus dem Re-Arrangement der Dinge hervor. Man schaut dann eben erst im zweiten Schritt, ›wie weit man damit kommt‹. Der aktuale Vorgang der improvisierenden Rekombinationen – vulgo: Basteln – kann tatsächlich als spielerischer Prozess beschrieben werden. Dennoch ist ›Bricolage‹ weder aktual noch kulturtypologisch eine Art Spiel. An der Spieltheorie – wenn ich nicht die eigentliche wirtschaftswissenschaftliche4 oder evolutionstheoretische Seite des Spiels verfolge – interessiert mich noch nicht einmal in erster Linie die Klassifikation des Spielerischen oder die Einteilung der Spiele – vorbildlich in Agon, Alea, Mimikry und Ilinx z. B. bei Caillois (1982: 45f.; 1967), sondern dessen Grundierung der verschiedenen Spieltypen in einem ambivalenten Reservepotential, das er paidia nennt. Sie stellt eine bestimmte Energie dar, die sich in allem Spielerischen manifestiert, aber auch in der dogmatischen Auflösung des Ludischen, also Formbarkeit der Negation der Spiele als Prätention von ›Reifung‹, ›Ernst‹, Transgression der Kunst in Richtung formierendes Wissen etc. Diese höchst problematische Gestalt ist nie direkt, sondern immer nur indirekt im und als Spiel fassbar und charakterisiert 4 Vgl. von Neumann/Morgenstern 1944; Güth 1992; Harsany 1967/68: 159-182, 320334, 486-502; Selten 1982.
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das Spielerische demzufolge in keiner Weise. Diese Energiereserve trägt die Spiele, macht sie möglich, vergegenständlicht sich in ihnen – aber immer auf eine je spezifische und nicht synthetisch auflösbare oder verallgemeinerbare Weise. Es ist diese rohe Energie oder dieser Rohstoff einer generativen Prozessualität, aus der dann auch so etwas wie ein Regelbestand erwächst, der eine Definierbarkeit eines einzelnen Spiels ermöglicht, was mich vorrangig im Gedanken des Spielerischen interessiert. Caillois sieht – mit weit reichendem Blick auf die kulturellen Implikationen des Sachverhaltes, z. B. im Blick auf die Ritualisierung der Person und die Techniken der rauschhaften Selbstmodellierung, Selbstzersetzung und Selbstformung in Übergängen und Alteritäten – diese substanzielle Ambivalenz und die Tatsache, dass sich die zugrunde liegende Energie nur inmitten des Prozesses ihrer Modellierungen, Modifikationen und Transformationen, aber niemals substanziell, als sich selbst, feststellen lässt, eben weil sie zutiefst ambivalent ist. Dass das freie Spiel in seiner residualen Energie im Wortstamm Verwandtschaft aufweist mit der Pädagogik spricht Bände über diese Ambivalenz, wäre es doch, nur auf die Sache zentriert verstanden, eine mehr als nur kühne Neuerung, dass das telos der Pädagogen diese Art substantiierenden Spiels sei. Diese prozessuale Betrachtung eines Aufscheinens der Spielenergie im geformten Spiel – nämlich Unterscheidung des Spiels vom Instrument, das der Sphäre der Arbeit zugehört – entspricht genau der anthropologischen wie metaphysischen Umschreibung der Kunst durch Georges Bataille: »Was die Kunst vor allem ist und immer bleiben wird, ist ein Spiel, während das Werkzeug das Prinzip der Arbeit ist. Die Bedeutung der Fresken von Lascaux und jener Zeit, deren Ergebnis sie darstellen, bestimmen, heißt den Übergang der Welt der Arbeit zu derjenigen des Spiels, sehen der gleichzeitig der Übergang vom Homo faber zum Homo sapiens ist, physisch gesehen also der von der Anlage zum fertigen Wesen. [...] Die materielle Zivilisation, Werkzeuge und Tätigkeit dieser Zeit waren nur wenig von jener Zeit vor dem Erscheinen des Homo sapiens unterschieden, und doch waren die Lebensbedingungen umälzend verändert dadurch, das das Leben weniger hart war. Die Werkzeuge wurden zahlreicher, die dumpfe Tätigkeit des Menschen hatte aufgehört, nur Arbeit zu sein: zur nützlichen Tätigkeit ist nunmehr eine unnützliche gekommen, das Spiel [...] Eine unterscheidende, über ein triebhaftes Bellen hinausgehende Sprache ist in dem Augenblicke möglich, in welchem sie, durch die Bezeichnung des Objektes, sich von selbst auf die Art, in welcher es geschaffen wurde, überträgt, also auf die Arbeit, deren erstes Stadium in die Verwendung des geschaffenen Objektes übergeht. So
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stellt die Sprache von jetzt ab das Ding dauerhaft in der Flucht der Zeiten auf. Das Ding entreißt den, der es bezeichnet, der Unmittelbarkeit des Sinnlichen, das er aber doch gesteigert dann wiederfindet, wenn er durch seine Arbeit nicht mehr das Nützliche, sondern das Kunstwerk schafft« (Bataille 1955: 27f.).
Auf diesem Hintergrund war für mich auch die subjektive Seite der Fragestellung dieser Ringvorlesung zu sehen. Leitend war in der Vorgabe die »Rolle des Spiels in den Kulturwissenschaften« im Sinne des Spiels als einer Agentur unmittelbarer »Selbstreferenz von Kultur«. »Wie verortet man eine wissenschaftliche Position im Reich der Modelle?« Hauptaufgabe ist, das »eigene Arbeitsfeld im Medium des Spiels zu reflektieren und mögliche Facetten des Spiels als Denkmodell oder Verfahrensweise im eigenen Fachgebiet zu präsentieren«. Nun denn: was kann in gebotener Kürze dazu gesagt werden, wie sich das Spiel in den eigenen Arbeitsfeldern und -weisen thematisiert? Anders gesagt: Wie erscheint das eigene Arbeitsfeld im Medium so verstandenen Spiels? Das ist keine Frage der Reproduktion jener Listen von eigenen Arbeiten, in denen Motive des Spiels nicht nur evident oder benannt werden, sondern strukturell bedingend und auch im Hintergrund leitend. Es geht ja, darüber hinaus, um Typisierungen. Es geht, in meinem Falle, um das, was ich unter dem Projekt und Begriffsmodell der ›Ästhetik‹ umfassend wie detailliert verstehe: eine Differenzarbeit, die – analog zur prozeduralen Residualitätstheorie von Caillois – die denkerischen, symbolischen, bildnerischen und sprachlichen Modellierungen und Modifizierungen dessen herausarbeitet, worauf zugleich und stets im Prozess der Signifikation Bezug genommen wird, wobei das Prinzip der Differenz diese immer im Unterschied zu dem in ihr und durch sie Bezogenen, nämlich hinsichtlich der prinzipiellen Unerreichbarkeit adäquater oder isomorpher Darstellungen akzentuiert, womit als produktiver Prozess eine just durch solchen Entzug mögliche Weitung von Modifikationen vorgenommen wird (vgl. dazu systematisch Reck 1991). Soweit die abstrakte Definition und Umschreibung. Es gibt eine konkretere Verdeutlichung, deren metaphorisierende Gefahr ich der Kürze halber in Kauf nehme. Die Frontispiz-Abbildung (eigentlich genauer: die neben der Impressumsseite gedruckte Buchseite, die demnach als ein visuelles Leitmotiv oder Motto der gesamten Abhandlung fungiert) des spieltheoretischen, im Grunde aber strikte evolutionstheoretischen und biologischen Buches von Ruthild Winkler und Manfred Eigen (1975) reproduziert, in diesem Zusammenhang eben alles andere als thematisch zufällig, das in der Alten Pinakothek in München befindliche Bild von Bartolomé Esteban Murillo, Bettelbuben beim Würfel-
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spiel (17. Jh.) – wenn auch nur in schwarz/weiß. Das Bild zeigt, nach der Murillo gemäßen ebenso idyllischen wie realistischen Manier, in der thematischen Hauptszene zwei Buben, die sich in ein Spiel vertieft haben. Auf der linken Seite, neben ihnen stehend, im Bild erhoben, ist ein weiterer Knabe zu sehen, der gerade dabei ist, ein Butterbrot zu essen. Im Unterschied zu den beiden spielenden Knaben scheint diesen das Spiel überhaupt nicht zu interessieren. Er wird zwar durchaus mitbekommen, worum es geht oder was der Stand ist, aber er ist nicht involviert und mag dem wohl auch darüber hinaus wenig abgewinnen, zumindest jetzt, in diesem Moment. Sein Blick geht auch keineswegs nach Außen, auf den Betrachter, wiewohl das Motiv als eine Variation der zeitgemäßen Repoussoir-Technik verstanden werden darf. Er ist nicht Betrachter des Spiels, sondern einfach ko-präsent und lebendig in einer gleichzeitig ganz anderen Art von Realität. Sein Blick lässt vermuten, dass er beim Essen, das Brot ist halb in den Mund geschoben, innehält und sich einem, beispielsweise: verführerischen Tagtraum übergibt. Dieses ›Irgendwohinblicken‹, diese Unterbrechung des Spiels, wie erst recht jeder anderen Tätigkeit, die Bereitschaft, jederzeit mitgerissen zu werden von Verführung, Obsession und Traum hat mich immer besonders interessiert. Ich habe mich, seit ich dieses Bild kenne, immer diesem Knaben, nicht den Spielenden zugewendet und meine nun, genau dies sei für meine spieltheoretischen Auffassungen erhellend. Das Motiv wirkte so stark, dass ich diesen Ausschnitt wählte, um – im Jahre 1972 in Tübingen in einem praktischen Kurs beim Restaurator Prof. Ingenhoff, dessen Unterweisung in diversen Maltechniken im praktischen Vollzug für Kunsthistoriker mir noch heute das Mindeste zu sein scheint, was diesen an praktischen Kenntnissen zu frommen vermag – der Aufgabe einer möglichst getreuen, also mimetisch genauen, vielleicht gar annähernd identischen Kopie zwecks Erlernen der Ei-Tempera-Technik an diesem Beispiel nachzukommen (das Original ist in Öl auf Leinwand gefertigt). Nebenbei gesagt war das Resultat auch in der Hinsicht befriedigend, dass ich daran erfuhr, dass man auch bei geringer diesbezüglicher eigener praktischer Begabung es als Kopist weit bringen könnte, weil es hier auf ganz andere Tugenden ankommt und das erkennende scharfe Auge ja nicht naturwüchsig mit einer ebenso sicheren Hand zusammengehen muss. Signifikant ist diese Episode aber vorrangig, ja vielleicht ausschließlich deshalb, weil man Bild wie Bildausschnitt – aus praktischen Erwägungen erging die Empfehlung, einen einzelnen, ausgebildeten Kopf zu nehmen – selber wählen konnte und gegenüber dem und im Bild genau diesen Ausschnitt signifikant zu machen, alles andere als evident ist. Es braucht, um zum dritten Knaben und damit generell zur Instanz eines Dritten zurückzukommen, beim Spiel Momente des Drinseins und
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Momente radikaler Unterbrechung, ein Danebensein in jeder Hinsicht. Unterbrechung und Hinausgetretensein, die Präsenz des Anders-Sein – solche Motive lassen sich natürlich gewöhnlich leicht auf das abwesende Bild und den Typus paradigmatisch moderner Bilderfahrung beziehen, aber darum ging es hier nicht und worum es am Bildbeispiel geht, zweckmäßig eingerichtet für unser Thema, folgt übrigens genau dem Vorgehen des schon erwähnten »corriger la fortune«. Oder mit Dante: »Se non è vero, è ben trovato» – hier ist es aber wahr. Das Beispiel indiziert gerade nicht ein Interesse für ›spielerische Formen in der Kunst‹, sondern für eine Medialität der Kunst als eine genuine Verfolgung experimenteller Praxis, einer Poetik des Tuns und Werdens, die keineswegs in der Magie der Darstellung aufgeht. Das verdeutlicht, weshalb mich für eine fortgeschrittene systematische Theorie der ›praxologisch‹ verfahrenden Künste die Rede von deren Medialität wenig interessiert und weshalb ich noch immer keine wirklichen selbstgenügsamen Neuerungen daran zu entdecken vermag, wenn Künstler sich heute mit digital prozessierenden Spielen, Computerspielen etc. beschäftigen,5 auch wenn ich entschieden der Meinung bin, die Provokationen der visuellen Kultur hätten Künstler mehr zu interessieren als das, was ihnen narzisstisch nahe liegt und eine ritualisierte Kunstsphäre ebenso narzisstisch verfolgen zu dürfen immer noch ungebrochen erlaubt – also: Playstation 2 ist die eigentliche visuelle Herausforderung der ›freien‹ wie der ›angewandten‹ Künste, nicht die Iteration des expressionistischen Zerfallsprozesses, der natürlich gerade deshalb weiter gepflegt wird, weil er mit der Realität wenig bis nichts zu tun hat, was bedeutet, dass gerade die Kunstbehauptung das Anliegen der Kunst verstellt. Ähnliches gilt ja auch für das Thema des Spiels: Überall dort, wo es als Thema, begrifflich wie strategisch, vereinnahmt wird, kann man sicher sein, keinerlei wichtigen Aufschluss über aktualisierte Möglichkeiten des Spiels zu bekommen. Auch wenn es von Interesse ist: Es geht nicht um spielerische Formen in der Kunst, sondern es geht um Ästhetik und Kunst als Formen von Spiel in einem weiterführenden Sinne. Eben, wie schön dem Zyklus der Ringvorlesung überschrieben, zielend auf: »Play Goes Science«. Wie soll man denn Fragen beantworten wie: Ist das ein Spiel, ist das noch ein Spiel, ist das schon ein Spiel und wenn ja: welcher Art? Wenn man Spiel nicht definiert als ein Arrangement von Objekten, gefügt durch eine abzählbare Anordnung von untereinander verträglichen Regeln, dann geht es ja 5 Im Unterschied zu dem, was an den Spielen als solchen, also unbesehen ihrer künstlerischen Eignung, neu und kulturtheoretisch, soziologisch, rezeptions- wie produktionsästhetisch interessant ist; vgl. dazu Adamowsky 2000.
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nicht um die Definierbarkeit des Spiels durch den Set der es bestimmenden Regeln, sondern dann geht es darum, dass man gerade noch nicht weiß, welcher Art von Spiel solche Objekte oder Verfahrensweisen zugehören, weil eben weder die Objekte noch die Regeln minimal ausreichend angeordnet worden sind. In dieser Richtung möchte ich das systematische Interesse am und den strukturellen Stellenwert des Spiels in meiner Arbeit bezeichnen. Zur Verdeutlichung von Kernmotiven, die ja bekanntlich nicht schon zu Beginn eines Lebens greifbar sind, sondern, wenn überhaupt, dann erst spät zugänglich werden, greife ich auf eine Matrix zurück, die in der, mittlerweile und viel zu früh durch den Tod des Künstlers abgerissenen Kooperation mit diesem zwecks poetisch-rhetorischer Ausarbeitung einer Darstellung der philosophischen Grundprinzipien meines Denkens entwickelt worden ist, hauptsächlich in den Jahren 1999 und 2000.6 Sie hat – um die praktischen Umstände wenigstens anzudeuten, die treibenden Kräfte namentlich zu benennen – ausführlichere Konturen bekommen für eine Ausstellung, die ich, auf dessen Einladung hin, zusammen mit Michael Erlhoff in der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn realisieren durfte und die den Titel trug »Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion« (Juni 2000 bis Januar 2001). Es ging in dieser Ausstellung um eine eigentlich unmögliche Visualisierung des Sichtbarmachens der Prinzipien des Denkens der ›Welt‹, wofür auch das Eigene ein ›Fall‹ geworden ist, dessen Provokation ich mich nicht entziehen wollte, wenigstens nicht im vorneherein. In einem die Ausstellung einleitenden, den Besucher orientierenden Tafeltext von Michael Erlhoff und mir war das Anliegen knapp beschrieben: »Denken ist gewiß a priori unansehnlich – und schafft doch Bilder, äußert Vorschläge, vergewissert und irritiert, ermöglicht Ausweitungen und Verdichtungen, erzwingt Verschiebungen. Es führt kein Weg daran vorbei, sich zu äußern. Immer wieder gab es deshalb Versuche, Modelle des Denkens zu formulieren und das an und für sich Unscheinbare und Unsichtbare zu veranschaulichen. Hegel, Schopenhauer, Darwin oder Freud mühten sich ebenso darum wie viele Entdecker chemischer, physikalischer oder biologischer, mathematischer oder geodätischer Prozesse. Ungewiß bleibt natürlich weiterhin, ob Denken wirklich ausgestellt, der blinde Fleck als solcher sichtbar gemacht werden kann. Es kommt, wie im Prozess der Wissenschaften und Künste, immer wieder einzig auf den Versuch an. Für die Ausstellung
6 Vgl. Reck 1999; ders. 2000; ders. 2003; ders. 2004: 50ff., 259ff.; außerdem: ders. 1998: 1093f.; ders. 2000a; ders. 2000b.
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»Heute ist Morgen« ist dieser Versuch unternommen, sind einige der vielleicht anregendsten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unserer Zeit aus unterschiedlichen Kulturen eingeladen worden, ihre Modelle vom Denken auszustellen. Sichtbar gemacht werden also nicht in erster Linie die Gedanken (Befunde, Erkenntnisse) über die Welt als vielmehr die Modelle und Sichtweisen, die das jeweilige Denken über die Welt lenken, steuern, auch verführen und zuweilen gar abdriften lassen. Die Selbstdarstellung der Hintergrundsannahmen, Sichtweisen, Fluchtlinien, Orientierungsmarken, Leitplanken, Pfade zum Wesentlichen – unterhalb von Ruhm, Macht und Neugierde erzählt sie von einer Geschichte, die von der ›natürlichen Einbildungskraft‹ und ihrer notwendigen Inszenierung für und durch den Menschen handelt. Im Denken über das Wirkliche verbindet sich mit dem entdeckten Objektiven der Welt und der Konstruktion unserer Erfahrungen immer auch eine Ästhetik der Inszenierung und des Artifiziellen. Aspekte und Inszenierungen brechen sich im Wissen um das Künstliche ihre Bahn seit je nicht selten hinter dem Rücken der Urheber. In aller Behutsamkeit und mit drängender Wucht, in zwangsläufiger Vereinfachung und großer Komplexität, geheimnisvoll und offenkundig, ausdrücklich und eindringlich zugleich möchte dieses Zeigen des Denkens über die Welt in der Darbietung seiner Modelle einen Ausdruck finden, in denen es sich der Welt versichert mittels Hypothesen und Schlussfolgerungen, Anmutungen und Zumutungen. Und vielem mehr... « (Michael Erlhoff/Hans Ulrich Reck, Texttafel zur Orientierung der Besucher der Ausstellung Heute ist morgen. Über die Zukunft von Erfahrung und Konstruktion, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, 30. 6. 2000-7. 1. 2001).
Diese Beschreibung liest sich offenkundig wie der Rahmen eines Spielprogramms, das mit noch nicht festgelegten Regeln das Modell des Ludischen anhand eines diesem zunächst fremden Materials entwickelt und zwar ohne zu behaupten, es handle sich bei jenem ›eigentlich‹ um ein Spiel. Spiel ist hier gerade als diejenige heuristisch-experimentelle Bühne für ein virtualisierendes und fiktionalisierendes Probehandeln genommen, wie ich es in meinem Konzept von ›Ästhetik‹ für deren hauptsächliche Leistung halte, nämlich eine Wahrnehmung der jederzeitigen Differenz zwischen partiell mindestens undurchschaubaren antreibenden Hintergrundsannahmen und rationalisierten Darstellungsoptionen, thetischen Behauptungen, objektivierten Einsichten etc. zu schärfen und eben keineswegs gelungene Identifikation oder identische Abbildung zu behaupten. Eine sonst nicht artikulierte Sicht auf die Konstruktionsprinzipien von ›Welt‹, also gedeutete Erfahrungsmodelle hinsichtlich von epistemischen Aussagesystemen darzustellen und deren wiederum rekon-
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struierte Prinzipien zu visualisieren, markiert, ob das nun ausdrücklich oder in solche Richtung absichtsvoll geschieht oder nicht, jedenfalls beispielhaft ein Konzept des Ludischen in der hier aufgegebenen und verhandelten Weise. Das Denken im blinden Fleck, die Meta-Meta-Ebene, sie ist ohnehin nur einer fiktionalisierenden oder virtualisierenden Darstellung zugänglich und bleibt in diesem Unternehmen jederzeit sichtlich und überprüfbarerweise durchtränkt von Vermutungen und Spekulationen, die aber gerade als solche deutlich dargestellt werden sollen. Meine Matrix7, in der die epistemischen Motive zuweilen als ludische Optionen dargestellt sind, fand in ihrer ersten Kurzform unter dem Titel »›Flügelschlag der Sehnsucht.‹ Eine kurz gefasste erste Matrix als Versuch über das Denken und das Ephemere in 21 Schritten/Markierungen« Verwendung nicht erst in der eben erwähnten Ausstellung, für die sie geschrieben worden ist, sondern bereits in der letzten, ein letztes, schon fertiges Werk stellvertretend zeigenden Ausstellung zu Lebzeiten des Künstlers Aldo Walker.8 Die Frage, woraus wir Evidenz unseres Wissens beziehen, ist darin eine entscheidende. Ich zitiere aus dieser Matrix einige der hauptsächlichen Thesen, die für mich immer noch am besten verdeutlichen, wie eine Antwort auf die gestellte Frage der Beschaffenheit des Spielerischen im eigenen Arbeitsgebiet aussehen kann. Es handelt sich um die Thesen 5 bis 12, 19 und 21: »5. Wir beziehen unsere Evidenz und die Evidenz unseres Wissens in keiner Weise aus der Extensionalität der Begriffe, der Evidenz der Symbole, einer Wahrheitstheorie der Korrespondenzen oder Identitäten zwischen dem Bezeichneten und den Zeichen. Wir beziehen sie erst recht nicht aus einer Syntax oder dem permutativen Spiel der Elemente eines Codes. 6. Bedeutungen sind grundiert und fundiert in komplexen Wechselspielen der Wahrnehmung, Kommunikation und Reflexion einer gesamten Kultur. Es ist die Lebenswelt, die diese und jene trägt. ›Kultur‹ ist Programm und als solches immer auch entschiedene und entscheidende Dispensation von angestrengter Reflexion: Sphäre der Habitualisierungen und Validierungen.
7 Diese Matrix war ein initialer Teil der Bearbeitung meines Ausstellungsbeitrags, zu dem ich als einer der ausstellenden Wissenschaftler von Michael Erlhoff eingeladen wurde, bevor ich dann zudem als Berater/Co-Kurator der gesamten Ausstellung mitarbeitete. 8 Ausstellung Hugo Suter – Aldo Walker – Rolf Winnewisser, Helmhaus Zürich, Sommer 1999. Die Matrix wurde als Rückseite eines Plakates mit den wesentlichen Bildmotiven von Aldo Walkers Morphosyntaktisches Objekt publiziert und mit Beiträgen der anderen beiden Künstler in einem Schuber als Katalog dieser Ausstellung dargeboten. Vgl. auch: Ulmer 1999.
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7. Mediosphären sind Plattformen, Inszenierungsbühnen, Darstellungen dieser Grundierung und der tätigen Entlastung. Anders gesagt: Spielerische Differenzierungen am Programm. Sie sind nicht gekennzeichnet in erster Linie durch Technologien. Diese sind historisch different und wirken auf Formen und Materialitäten ein. Ihre Bedeutung ist aber jenseits dieser Differenz immer und unvermeidlich die Einheit, die die Unterschiede möglich macht. Diese sind auch bezeichnet durch und als Anthropologie. 8. Erkenntnisse werden wie alle Symbolisierungen gebildet durch Festlegung der Intensionalitäten. Phänomene, Begriffe, Deutungen wirken nicht isoliert, Bedeutung ist keine Domäne der Logik. Ihre Einwirkung/ Wirksamkeit erfolgt durch Grenzerfahrungen und innerhalb einer rhetorisch artikulierbaren Topik der Lebenswelt. Radikaler Nominalismus ist (ein Versuch zur angemessenen) Beschreibung der Schnittstelle der Welt, die das Subjekt ist, von innen her, d. h. aus seiner lebensweltlichen Grundierung und Fundierung. 9. Subjekt ist eine Denkfigur der Inkorporation der Beziehungen, die das Dispositiv als Kreuzung aller möglichen, erdenklichen und vorstellbaren Relationen dem intentionalen Akt ihrer Vergegenwärtigung einschreibt. 10. Wir verstehen Symbolisierungen und Erkenntnisse immer nur durch Analogien. Alle Analogien haben mindestens ein individuell priorisierbares Äquivalent in Gestalt eines materialisierten Sachverhaltes in der Lebenswelt. 11. Die Bezeichnungen markieren die Sphäre des ALS OB. Wir erkennen und handeln im Sinne des ALS OB, eines Spiels, einer bewussten Illusionierung und Fiktionalisierung. Bedeutungen erfolgen durch Kategorienverschiebungen, Aspektwechsel, Akzentuierungen. Es gibt keine Bedeutungen, die nicht durch Verschiebungen anderer Bedeutungen und Kontexte hervorgegangen sind 12. Rückkoppelungen – Mediosphären verbunden mit dem ALS OB, dem Spiel der Illusionen (das ja nicht nur eine insistente Zwischensphäre markiert, sondern das, was wortwörtlich ›illudere‹ meint: Ins Spiel eintreten, aber auch: Aufs Spiel setzen) – markieren Grenzen durch stetige Relativierung. Grenzen gehen aus diesen Grenzziehungen hervor. Sie sind keine sich aufdrängenden, feststehenden oder evidenten Fakten. Grenzen sind Perspektivierungen dieser Tätigkeit des Bezeichnens, also ihrerseits von Aspektsetzungen und Verzeitlichungen – anders gesagt: Von ›Kairos‹ und Willkür – abhängig. 19. Der Ort des Denkens ist das Ephemere. Es ist ausgezeichnet durch die Agilität, stetig auf alles Mögliche, sich Bewegende, Existierende Bezug zu nehmen. Von ihm aus werden Wahrheiten, dem Transitorischen der Zeit ausgesetzt, als noch nicht durchschaute Irrtümer, Vorläufigkeiten, Heuristik begreifbar. 21. Der Ort des Denkens greift aus, zieht Linien, entwirft sich in Verknüpfungen, als ein Dispositiv stetig wechselnder, verwandlungsfähiger Dispositionen.
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Nominalismus, Imagination und Resistenz bilden ein wesentliches Dreieck, entscheidende Fluchtlinien dieses Dispositivs, seiner Begriffe und ihrer Meta-Reflexion« (Reck 2004: 259ff.).
Was hier als radikaler Nominalismus bezeichnet worden ist, tut in unserem heutigen Zusammenhang im einzelnen nichts zur Sache. Es wird aber ausreichend deutlich geworden sein, dass er sich als Spielmaterial für eine ludische Fiktionalisierung bestens anbietet. Gewiss: Wenn immer wir etwas bezeichnen, sind wir im Bezeichnungszwang befangen gegenüber einem Realen, das dann eben als Signifikat, also Setzung, demnach gerade Kraft nomineller Irrealisierung erscheint. Aber es geht ja eigentlich gar nicht um das Zeichenhafte, sondern das, was mit den Zeichen operational beschrieben und damit als ›es selbst‹ ermöglicht wird. Sich auf den Charakter der Zeichensetzung zurückzuziehen, wäre keine epistemische Maxime, sondern würde nur noch einem luxurierenden Spiel jenseits der Überlebensgebote entsprechen und zusammen mit der Realitätstauglichkeit des eigenen Handelns schnell aus der Welt verschwinden, wenn es nur um dieses ginge. Dass man die Bedeutungen immer wieder durch und als Fiktionalisierungen verschiebt, belegt, dass das Prinzip des Spiels in die Prozessualität der Erkenntnisgewinnung gehört, aber nicht zum objektiven Terrain des Erkannten. Es ist ein experimentelles Prinzip, keine Ontologie. Es geht um Entautomatisierung, also Steigerung der Agilität und Wendigkeit, nicht um die Adäquation des Erkannten an das gegebene Wahre. Es entscheidet hier nämlich weder das eine noch das andere ›Prinzipielle‹, sondern, altertümlich gesprochen, nur die lebensweltliche Evidenz des Ausgesagten über die Valenzen des methodisch Gegliederten. Es gibt hier keine relevante Unterscheidung mehr zwischen Spiel und Rationalität, weil es nicht mehr um Prozessualität, Methode oder Terrainvermessung geht, sondern um Bilanzierung. Ein letzter zentraler Verweis im Horizont des Spiels ist Gregory Bateson. In seiner »Theorie des Spiels und der Phantasie« (1981: 241ff.) von 1954 sehe ich nicht nur einen methodischen Leitfaden und ein epistemisches Programm am Werk, denen ich mich verwandt fühle, sondern auch eine Fragestellung, die meinem Projekt der ›Ästhetik‹ als Differenz nahe kommt, wobei die Verschiebung von der Zoologie zu einer Anthropologie des Medialen nicht nur meiner Beschaffenheit und Neigung entspricht, sondern auch einen gewissen signifikanten Kulturwandel oberhalb des Persönlichen andeutet. Batesons Arbeit vermittelt nicht nur eine Nähe zu dem von mir Intendierten: Sie ist auch die grundlegende Arbeit zum Konzept des Spiels – aus meiner Sicht natürlich. Nicht zufälligerweise schließt sich der Bogen zu Heinz von Foersters Vorliebe für
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Metaphysik hier auch wissenschaftsgeschichtlich: Von Foerster war zur Zeit der Abfassung von Batesons Arbeit Sekretär der sogenannten, als interdisziplinäres Forschungsgremium legendär gewordenen Macy-Konferenzen, der Bateson als, neben Norbert Wiener, einer der wesentlichen Exponenten und Anreger angehörte, wovon auch noch der Film Das Netz von Lutz Dammbeck profitiert (vgl. auch Wiener 2002; sowie jüngst zum Kontext Pias 2003/2004). Batesons Kerngedanke ist ebenso einfach wie weiterreichend und originell: Bateson geht davon aus, dass man bei der Beobachtung von Spielsituationen feststellen können muss, ob die Akteure oder Subjekte des Spiels in der Lage sind, jederzeit, also vor allem an den entscheidenden Stellen des Vorgangs mitzuteilen, dass das, was sie tun, nicht der Ernstfall ist, sondern eben ›nur‹ ein Spiel oder auch dessen spielerische Simulierung (auf welche Unterscheidung es hier nicht ankommt). Bateson hat das im Gebiet der Zoo-Semiotik an Affen untersucht – mit für ihn verblüffenden Resultaten. Denn diese Tiere sind problemlos in der Lage, Metakommunikation zu betreiben, wiewohl sie nicht über eine eigentliche Metasprache verfügen. Konkret sind sie in der Lage, beim Spielen von Kampfspielen mitzuteilen und zu verabreden, dass sie jetzt eben nur spielen, auch wenn es so aussieht, als ob es Ernst sei. Der tödliche oder mindestens akut bedrohliche Biss steht jetzt also gerade nicht für das, was er als Zeichen ausdrückt und was, nähme man nur den geeigneten Ausschnitt der Ansichtigkeit, sensuell vom Ernstfall nicht zu unterscheiden wäre. Denn das Spiel macht auch den Tieren nur Spaß, wenn es hochgradig Ernst simuliert. Das Auftreten solcher metakommunikativer Zeichensysteme, die nicht an Wortsprache und kommunikativ-interaktiv explizit sich vergewissernde Rückkoppelungen gebunden sind, ist die wesentliche Einsicht in ein Spiel, das sich für seine Akteure nicht mehr von den Spielregeln unterscheidet, sondern schlicht in diesen besteht und im konkreten Vollzug den entscheidenden Zweck erfüllt. Die Möglichkeit solchen Vollzugs sieht Bateson gar als Anwendung wie als intrinsisch für Momentanes mögliche Aufhebung/Suspendierung der Russelschen Paradoxa. »Mit einer Erweiterung gewinnt die Feststellung ›Dies ist ein Spiel‹ etwa folgendes Aussehen: ›Diese Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, für die sie stehen, bezeichnen würden‹« (Bateson 1981: 244). Es ist die Unterbrechung der automatischen Zeichenvollzüge, ihrer Setzung wie der signaletischen Konditionierungen in Artikulation und Vollzug, die den offenen Raum des Spiels und seine Funktion der Fiktionalisierung, der Verschiebung auf ein meta-theoretisch valables ›Als ob‹ bezeichnen. Im Prozedieren dieses ›Als ob‹ sehe ich Künste wie Wissenschaften als heuristisch-
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experimentelles Organon zur probabilistischen Setzung von Neuem einander so nahe wir nirgendwo sonst. Nur so ist es so ernst wie zugleich spielerisch, dass wir ganz ernst meinen, dass wir uns jetzt nicht im Ernstfall befinden ... Daran schließen sich bei Bateson die Erörterungen zu den komplexen Relationen zwischen Karte und Territorium an, mit denen er damals das Spiel auch in den meta-kommunikativen Prozess von Psychotherapie und Psychiatrie integrieren wollte – offenkundig in einer Weise, die später Donald Winnicott nur noch in äußerst banaler, durch eine Sakralisierung kaschierter Reduktion des Spiels auf den therapeutischen Rahmen nachvollziehen wollte (vgl. Winnicott 1974: z. B. 119). Karten zu benutzen, setzt ein geklärtes Vertrauen in ihre Präzision voraus, auf das Reale zu referieren, was sie unter anderem nur in dem Maße tun können, wie sie nicht das Territorium sind, auf das sie sich mehr oder weniger ikonisch, mehr oder weniger diagrammatisch beziehen. Solchem Tun liegt nach Bateson auch eine Kombination von Drohung und Spiel zugrunde, was spieltheoretisch weiter führt als alle mir bisher bekannten spieltheoretischen Ansätze im Spektrum von John von Neumann bis Roger Caillois. Also doch »corriger la fortune«, nicht als Korrigieren der Chancen, aber als Modellierung der Reserven? Bateson fasst das in der Akzentuierung der Frage zusammen: »Ist das Spiel?«, die an die Stelle der üblichen tritt »Was ist das für ein Spiel?« (Bateson 1981: 247). Der Schluss meiner Überlegungen wird nicht zufälligerweise indiziert durch einen erneuten Durchlauf durch das Paradoxon der Denkfigur des Spielerischen: »Im Primärprozess werden Karte und Territorium gleichgesetzt; im Sekundärprozess können sie unterschieden werden. Im Spiel werden sie sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden« (ebd.). Das Spiel – man muss jetzt sagen: nur das Spiel – bietet und ist die Möglichkeit, Karte und Territorium gleichzusetzen und zu unterscheiden. Und zwar nicht, wie die Systemtheorie nicht müde wird zu beteuern, im ordentlichen und gestuften Nacheinander von Beobachtung, Selbstbeobachtung und Beobachtung der Beobachtung, sondern in deren als Einheit vollzogenem aktuellen Durchspielen, in dem jederzeit äußerst schnelle Wechsel der Ebenen so möglich sind, dass die Vorgänge signifikanterweise gleichzeitig ablaufen. Eben dies ist vorrangig der Kunst möglich, von der die Systemtheorie Luhmanns auffallend wenig versteht und noch weniger zu lernen bereit ist. Bleibt mir, das in den Titel meines Beitrags eingegangen Motto zu enthüllen, das meine Auswahl der von Natascha Adamowsky initial zugespielten drei Wahlmöglichkeiten eines anregenden Leitmotivs darstellt, welches mir sofort evident erschien:
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»›Was für Riesen?‹, fragte Sancho Pansa. ›Die du dort siehst‹, erwiderte sein Herr, ‹die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.‹ ›Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.‹ ›Da sieht man‹, sprach Don Quixote, ›wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete ein Vaterunser, derweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen‹« (Cervantes 1975/1837: 112).
Im Spiel wird Karte und Territorium zugleich unterschieden wie nicht unterschieden – wenn auch auf entschieden andere Weise als durch Don Quixote. So tun als ob ... Zuletzt erweist das Spiel sich nicht als eine Tätigkeit der Fiktion, nämlich so zu tun, als ob sei, was – wie alle wissen, auch Don Quichotte – nicht ist. Sondern, im Spielen, das in und als Erkennen handelt, so tun, als ob ist, was ist. Deshalb eben ist Realität eine Modifikation oder ein Modus des Virtuellen, seiner Existenz, und zwar als Reales, weshalb es einer externen Beschwörung gar nicht bedarf. Das Spielerische bewegt sich also innerhalb des Realen und bedarf gerade deshalb jederzeit seiner Darstellung. Das ist, was ich mit diesem nun rekonstruktiv erhellten Gedanken in meinem Arbeitsgebiet versuche und wozu mich diese doch gewiss auch intrikate Anlage und lockende Einladung verführt hat. Woher hat man die Evidenz, dass man so redet, wie man über die Welt redet, wenn man meint, sie zur Erkenntnis gebracht zu haben – sich und anderen? Man weiß es nie so genau, hat ja auch Angst, dass, wenn man es ganz genau wüsste, nicht nur das Spiel, sondern auch der Ernst aufhörten und man dann gar nichts mehr tun könnte, was ja nicht wirklich bedrohlich wäre, aber doch den Endpunkt bezeichnet, bis zu dem man in dieser Thematik – selber Subjekt wie Objekt des Verhandelten – vordringen kann. Nur so ist es weiterhin möglich, ernst wie zugleich spielerisch, dass wir ganz ernst meinen, dass wir uns jetzt nicht im Ernstfall befinden ...
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Quiz
Beantworten Sie folgende Fragen! A Was heißt Rien ne va plus? B Wer erfand die erste slot machine? C Aus welcher bundesrepublikanischen Spielshow stammte der Satz: ›Ich nehme das Fragezeichen.‹ (Auflösung am Ende des Buches) Der Legende nach ta_chte das Wort ›Quiz‹ __m ersten Mal _m späten 18. Jahrh_ndert a_f, als es e_nes Morgens _n D_bl_n stadtwe_t als Kre_dea_fschr_ft an Ha_swänden __ lesen war. _m Rahmen e_ner Wette konnte m_t der großangelegten Akt_on erfolgre_ch vorgeführt werden, dass e_n rätselhaftes Nonsens-Wort _nnerhalb von n_r e_ner Nacht _n den allgeme_nen Sprachgebra_ch e_n__führen war. D_e ersten Quizshows entw_ckelten s_ch _n den _SA _n den 1930er Jahren _m Rad_o. D_e me_sten der he_te pop_lären Sp_elshows lassen s_ch a_f Vorb_lder a_s d_eser _e_t __rückführen: Kand_daten müssen s_ch _n hera_sfordernder S_t_at_on vor e_nem großen P_bl_k_m, hä_f_g vertreten d_rch e_n Saalp_bl_k_m, bewe_sen. Das Sp_el w_rd von e_nem Showmaster gele_tet, den, allem ges_nden Menschenverstand __m Trot_, d_e Mehrhe_t der __scha_er deswegen für besonders _ntell_gent hält, we_l er d_e Antworten a_f alle gestellten Fragen we_ß. Für d_e Kand_datenwahl h_ngegen _st entsche_dend, dass es Herrn oder Fra_ Jedermann tr_fft. Das Hera_sgre_fen a_s dem __scha_erra_m gehört daher b_s he_te __m w_cht_gsten _ns_enator_schen Vokab_lar massenmed_aler _nterhalt_ngsshows.
GRUPPENSPIELE Vierzehn Thesen zur Bedeutung von Zufall und Spiel in der Kunst ISABELLE GRAW 1. Das Spiel als Prinzip der Gruppe Die surrealistische Gruppe – deren selbsternannter ›Führer‹ André Breton war – zeichnete sich – wie Künstlergruppen im Allgemeinen – durch ihre konstitutive Offenheit aus. Wer zu ihr gehörte, wurde ebenso unausgesetzt verhandelt, wie die Frage nach ihrer Ausrichtung umkämpft blieb. In dieser konstitutiven Offenheit und Unbestimmtheit der surrealistischen Formation könnte man nun eine erste Erklärung für die Beliebtheit von ›Gruppenspielen‹ und spielerischen Experimenten sehen. Surrealistische Praxis war – überspitzt formuliert – Spielproduktion, eine Praxis des Spiels, Spiel auch im Sinne einer künstlerischen Versuchsanordnung. Jenes »Ingrediens von Spiel«, ohne das Adorno zufolge die Kunst so wenig gedacht werden könne, wie die Theorie, sieht sich hier auf die Spitze getrieben. Denn es gab zahlreiche Spiele, die man erfand oder neu konzipierte und denen man sich verschrieb – etwa das kollektive Herstellen von Texten und Zeichnungen im Cadavre Exquis (köstlicher Kadaver), die Praxis der écriture automatique, Schlaf- und Hypnoseexperimente, das gemeinsame ziellose Umherschweifen auf dem Flohmarkt, wie es Breton in L’Amour Fou literarisch aufbereitet, das object trouvé als spielerisch erlangtes Fundstück, oder der von Aragon in seinem Buch Der Bauer von Paris festgehaltene nächtliche Besuch des Parks Buttes-Chaumont. Grundsätzlich setzen solche Spiele, oder besser gesagt experimentelle Anordnungen, eine Offenheit für den Zufall, für Unvorhersehbares und für das Ereignis voraus. Als Spieler muss man stets mit allem rechnen, so wie sich die Künstler/innen im Umfeld der surrealistischen Formation ihrer Zugehörigkeit zu dieser niemals sicher sein konnten. Das Spiel wäre demnach als ein Prinzip anzusehen, das der Unwägbarkeit der Gruppe selbst entspricht. Das Spiel steht aber auch mit jenen Unwägbarkeiten in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg in einem Zusammenhang, auf die die
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Dada-Bewegung zuvor mit Sinnentleerung, spielerischen Aktionen und Provokationen reagiert hatte.
2. Der Fall Duchamp Duchamp wäre hier an erster Stelle zu nennen, der ja schließlich noch vor dem 1. Weltkrieg mit dem Zufall experimentierte und das Modell ›Genie‹ in seinen 3 Standard Stoppages (1913-14) durch den Zufall ersetzte hatte. Er machte den Zufall als generatives Prinzip für seine Arbeiten fruchtbar. In seinem Buch über Duchamp und die anderen (1992) hat Dieter Daniels darauf hingewiesen, wie sehr Zufall und Präzisionsarbeit bei Duchamp ineinander greifen. Der Zufall ist hier stets in Planung und Konstruktion eingelassen. Nehmen wir die Trois Stoppages-Etalon von 1913/14, die ihr Herstellungsprinzip gleichsam in sich tragen: In einer Mischung aus Deskription und Anweisung steht auf dieser Arbeit folgende performative Formel zu lesen: »Ein Meter geraden, horizontalen Fadens, aus einem Meter heruntergefallen.« Hier wird also einerseits beschrieben, was passiert ist und wie die vorliegenden Formen entstanden sind. Andererseits ist dieser Text auch performativ als Anweisung für weitere Versuche dieser Art zu lesen. Dem entsprechend wurde die daraus entstandene Form für mehrere Arbeiten verwendet, für das Bild Réseau des Stoppages, wie im Großen Glas, jenem »Netzwerk von Kapillarröhrchen, das die neun männischen Formen, welche die Junggesellen des großen Glases vorstellen, verbindet« (Daniels 1992). Es wäre gleichwohl überzogen zu sagen, dass sich Duchamp mit dieser und anderen Arbeiten vorbehaltlos dem Zufall überlassen hätte. Denn er verfügte über die Bedingungen für dessen Entstehung, rahmte ihn gleichsam, indem beispielsweise festgelegt wurde, aus welcher Höhe ein Faden, der eben auch eine bestimmte Länge haben musste, zu fallen habe. Von jener »indifferenten Akzeptanz des Zufalls«, wie sie Daniels für Duchamp behauptet, kann demnach keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich um einen im hohen Maße gesteuerten und herbeigeführten Zufall, um einen Zufall mithin, der eine bestimmte Form hat. Der Zufall funktioniert bei Duchamp als »schöpferische Formel«, die das Subjekt auf bestimmte Weise ins Spiel bringt. Statt sich dem Zufall ganz und gar zu überlassen, wird der Zufall vielmehr präzise herbeigeführt und auf bestimmte Weise ästhetisch gestaltet. In dem selben Maße, wie sich Duchamp vom Zufall leiten lässt und beispielsweise bestimmte Vorgaben – etwa die Konvention der technischen Zeichnung für seine Schokoladenreibe – aufgreift, arbeitete er doch ungemein sorgfältig an seinen Arbeiten, insbesondere am Großen Glas. Dieter Daniels zufolge trat der Zufall sogar unmittelbar in das Große Glas ein: »Zum Beispiel in Form eines vom Wind bewegten Gaze-
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stückes, dessen drei Momentaufnahmen die Form der drei ›Fenster‹ in der ›Wolke‹ der Braut im oberen Teil des Glases bestimmen.« Zugleich resultierte das Große Glas aus Plänen, die lange vor seiner Ausführung entstanden waren und die Duchamp akribisch und über Jahre hinweg umsetzte und die dadurch eine bestimmte Gestalt annahmen, die ihrerseits nicht vom Zufall, sondern von der durchaus als handwerklich zu bezeichnenden Arbeit Duchamps gekennzeichnet waren. Aus dieser Perspektive lässt sich der verbreitete Glaube, dass Duchamp die Bedeutung des Manuellen in der Kunst auf das rein Handwerkliche reduziert habe, nicht aufrechterhalten. Denn noch für die scheinbar rein handwerklichmechanische Ausführung bedarf es eines – ja ›Händchens‹. Duchamp entwickelte ein für ihn typisches Verfahren und Vokabular, die einer Signatur gleichkamen. Von der vielbeschworenen Aufhebung von Autorschaft kann demnach keine Rede sein. Duchamp ist – nebenbei bemerkt – ja auch ein Bartleby-Künstler, allerdings mit Einschränkungen. Es ließe sich die These aufstellen, dass er in demselben Maße »I prefer not to« sagte, wie er sich dem Kunstmarkt bewusst aussetzte und ihn reflektierte. Seine ostentative Hinwendung zum Glücks- und Schachspiel ließe sich als Allegorie des so brutalen wie arbiträren ›Kunstspiels‹ lesen – und er selbst hat in einem Brief an seine Mäzenatin Katherine Dreier einmal recht abfällig vom »Kunst-Spiel« gesprochen, das von Lügnern und Gaunern durchsetzt sei. Aber Schritt für Schritt. Wieso soll Duchamp ein Bartleby-Künstler sein? Er gab vor, bereits 1912 beschlossen zu haben, kein Maler im professionellen Sinne mehr sein zu wollen. Also trat er eine Stelle als Hilfsbibliothekar in der Pariser Bibliotheque St. Genevieve an. Das klingt sehr nach Bartleby – Bücher ordnen, sich in ihnen vergraben, den bereits bestehenden Schriften nichts weiter hinzufügen, nur dazu beitragen, dass sie zirkulieren. Schriften zirkulieren zu lassen ist eine ähnliche Aktivität, wie sie abzuschreiben und zu reproduzieren. In New York jedoch, wohin Duchamp im Jahre 1915 gezogen war, führte er ein reges soziales Leben, frequentierte den Salon der Arensbergs, knüpfte Kontakte zu Sammlern, die seine Freunde und Förderer werden sollten. Er schaffte sich ein System des privaten Mäzenatentums, das ihn von der Abhängigkeit von Künstlergruppen und dem Kunstmarkt freistellen sollte. Auch profitierte er von dem Skandal, den sein Akt eine Treppe hinabsteigend ausgelöst hatte – auf der berühmten Armory Show im Jahre 1913. Man muss an diesem Punkt aber auch daran erinnern, dass all seine auf dieser Ausstellung gezeigten Bilder verkauft wurden. Einerseits behielt er die Bartleby-Haltung bei – er lehnte einen Vertrag ab, dem ihn die Galerie Knoedler anbot, zog ihn Daniels zufolge erst gar nicht in Erwägung. Andererseits
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betätigte er sich als Vermittler und Förderer der Kunst und fuhr auch auf der Ebene seiner Produktion zweigleisig, indem er nämlich jahrelang am Großen Glas arbeitete, das unbeweglich und nur wenigen Besuchern seines Ateliers zugänglich war, und parallel dazu Ready Mades schuf, die schneller zirkulieren und warenförmig sind. Lauter gegenläufige Bewegungen. Noch vor seiner Fertigstellung war das Große Glas den Arensbergs versprochen. Es gehörte also bereits jemandem, war gleichsam ›beliehen‹ wie ein Schuldschein, und noch vor seiner Fertigstellung in den ökonomischen Kreislauf eingespeist. Der Markt durchwirkte es noch vor seiner Fertigstellung, es wurde von der Warenlogik gleichsam überformt. Mehr noch stellten die Arensbergs das Große Glas, noch bevor es fertig war, in ihrer Wohnung auf, ein halb öffentlicher Ort. Dies trug natürlich erheblich zu seiner Mystifizierung bei. Zugleich produzierte Duchamp Ready Mades. Während der Zufall in seinem Fall als schöpferische Formel für sprichwörtliche Junggesellenmaschinen (The Bride Stripped Bare by Her Bachelors, 1915-23) zum Einsatz kam, ist er bei den Surrealisten jedoch in eine Gruppenpraxis eingelassen – und diese kollektive Dimension des surrealistischen Spiels macht es auch aus heutiger Sicht interessant.
3. Breton als Spielleiter Als selbsternannter Spielleiter agierte André Breton – er maßte es sich an, über die Regeln zu verfügen. Die Irrationalität des Spiels blieb somit einem gewissen Maß an rationaler Steuerung unterworfen, was der »rationalen Irrationalität« (Adorno) von Kunst im Allgemeinen entspricht. So problematisch Bretons Anspruch auf eine normative Setzungsmacht auch sein mag, muss man ihm doch zu Gute halten, dass in seinen Äußerungen ein spielerisches Kokettieren mit den Gesten der Kanonisierung mitschwingt. In dem, was er sagt, liegt also nicht die Wahrheit über den Surrealismus begründet. Vielmehr sind seine Aussagen als performatives Bemühen um eine bestimmte Kanonisierung zu interpretieren. Breton war ein Meister der Legendenbildung, die er von Anfang an selbst in die Hand nahm. Andererseits bemühte er sich darum, jede eigenmächtig vorgenommene Änderung der Spielregel, die oft zum Ausschluss führte, stets situativ zu begründen. Bestimmte veränderte Bedingungen – etwa die Forderungen der kommunistischen Partei – ließen es eben notwendig erscheinen, das Spielziel neu zu definieren und einige Mitspieler zu disqualifizieren. Neben Aragon war Breton tatsächlich derjenige, der Definitionsmacht über das, was beim Surrealismus auf dem Spiel stand, in Anspruch nahm – eine Definitionsmacht, die man ihm aber auch streitig zu machen suchte und die Widerstand – etwa von der Gruppe um Georges Bataille – auf den Plan rief.
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4. Das Spiel als generatives Prinzip: Der Automatismus Im ersten surrealistischen Manifest hatte Breton den Surrealismus folgendermaßen definiert: als »reinen psychischen Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise (in dieser offenen Formulierung scheint die Möglichkeit des Spiels auf) den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken versucht.« Es handele sich hierbei, so Breton, um ein »Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.« Zunächst einmal wird hier der anti-rationale Einsatz des Automatismus herausgestellt – mit ihm glaubte man das Prinzip gefunden zu haben, mit dem sich gegen »Logik und absoluten Rationalismus« im ersten Manifest des Surrealismus (1924) angehen ließ. Ein Prinzip mithin, an dem sich die antirationale Grundhaltung des Surrealismus festmachen lassen sollte und das gleichwohl ästhetisch ausgebeutet und instrumentell gehandhabt wurde, da es zu konkreten Ergebnissen führte, die darüber hinaus überaus ›ästhetisch‹ anmuteten, Bretons Verwerfung »jeder ästhetischen Überlegung« zum Trotz. So hat die automatische Praxis par excellence – die écriture automatique – z. B. eine Fülle eigenwilliger Metaphern hervorgebracht; sie hat sich als ein generatives Prinzip für die Herstellung von Bildern erwiesen, so wie sie die Kultivierung abrupt-assoziativer Gedankensprünge erlaubte. Der Automatismus ist somit eine Art Bilderherstellungsmaschine – eine genuin künstlerische Technik, die zu bestimmten Ergebnissen führte.
5. Automatismus als Reflexion der fordistischen Produktionsweise Man muss aber auch daran erinnern, dass diese Technik nicht vom Himmel fiel, und in einem Zusammenhang mit den veränderten Produktionsbedingungen stand, die sich ihr wie eine »verborgene Figur« (Walter Benjamin) eingeprägt haben. In seinem Text über Charles Baudelaire hat Walter Benjamin diesen Zusammenhang zwischen Automatismus und dem Modell ›Fließbandarbeit‹ – wenn auch ein wenig schematisch – suggeriert. Auch bei der Fließbandarbeit gelange das Werkstück unabhängig vom Willen des Arbeiters in dessen Aktionsradius: »Im Umgang mit der Maschine lernen die Arbeiter, ihre eigene Bewegung der gleichförmig stetigen Bewegung eines Automaten zu koordinieren.« Daraus könnte man nun folgern, dass in der surrealistischen Technik des Automatismus die Bedingungen von Fließbandarbeit eingelassen sind. Ich denke hingegen, dass zwar durchaus ein Zusammenhang besteht, der aber so unmittelbar und schematisch nicht zu konstruieren ist. Er ist vermittelter und geht verschlungene zeitversetzte Wege. Außerdem müsste
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streng und kategorisch unterschieden werden zwischen entfremdeter Arbeit am Fließband auf der einen Seite und dem Künstler auf der anderen, der Entfremdung kultiviert, indem er automatische Texte verfasst. Im Gegensatz zum Arbeiter hat der Künstler die Möglichkeit, Autorschaft für die Produkte dieser Entfremdung zu beanspruchen.
6. Automatismus und literarische Konvention Bretons Definition des Automatismus ist aber noch in anderer Hinsicht symptomatisch, da in ihr die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf ein vermeintlich authentisches ›wirkliches‹ Denken behauptet wird. Schon ein kurzer Blick auf die surrealistischen Textproduktionen genügt jedoch – als Beispiel könnte man hier das erste Experiment in Sachen écriture automatique, das von Soupault und Breton gemeinsam verfasste Buch Die magnetischen Felder (geschrieben 1919), anführen – um zu zeigen, dass die Praxis der écriture automatique durch literarische Konventionen vermittelt und von sprachlichen Regeln – etwa der Syntax – geprägt blieb. In den Sätzen, die sich in den Magnetischen Feldern finden – so spontan und scheinbar unmittelbar sie auch aus der Feder geflossen sein mögen –, hallen bestimmte literarische Konventionen nach – etwa der für Marcel Proust typische Satzbau und Erzählstil. Darin liegt aber auch eine gewisse Folgerichtigkeit – denn so wie sich der automatische Texte verfassende Künstler externen Eingebungen überlässt, enthalten ja auch Konventionen etwas dem Subjekt Auswendiges und Heterogenes, das es an seine eigenen Grenzen erinnert.
7. Automatismus: Ein Spiel zu zweit Für den Spielzusammenhang ist jedoch vor allem die Tatsache entscheidend, dass die écriture automatique – jedenfalls zu Beginn – ein Spiel zu zweit gewesen ist, für das eben auch bestimmte Regeln aufgestellt wurden: »Versetzen Sie sich in den passivsten oder rezeptivsten Zustand, dessen sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von ihrer Genialität, von ihren Talenten und denen aller anderen.« Sehr spielerisch und humorvoll zeigt diese ironisch-gebrochene Spielanweisung Bretons, dass es sich bei der écriture automatique um eine künstlerische Versuchsanordnung handelt, die bestimmter Maßnahmen und Voreinstellungen bedarf. Die gezielte Einnahme einer passiven und rezeptiven Haltung war nämlich die Bedingung dafür, dass der Satz, um das schöne Bild Bretons für die écriture automatique aufzugreifen, »ans Fenster klopfte«. Er tat dies nicht von allein – man musste ihn schon provozieren und sich für ihn bereithalten, sich empfänglich zeigen. Erst dann vermochte er einen zu überwältigen,
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wurde die rückhaltlose Preisgabe an ihn möglich. Daraus folgt, dass dem Automatismus zwei Momente innewohnen: ein Moment von Hingabe und des Sich-Überlassens einerseits und ein Moment von Entscheidung und Konzeptualisierung andererseits. Das, was dabei passiert, ist so wenig vorhersehbar und planbar, wie sich die Bedingungen dafür eben doch herstellen lassen. Paul Valéry – den die Surrealisten übrigens ablehnten und des Karrierismus bezichtigten – hat einmal von der Unwägbarkeit des Unterschieds zwischen »Tun und Geschehenlassen, Handeln und Erdulden« gesprochen. Die Unbestimmbarkeit dieses Unterschieds scheint bei der écriture automatique programmatisch auf dem Spiel zu stehen. Man könnte es aber auch anders, in Begriffen von Zufall und Planung, formulieren, zwei Dinge, die sich ja eigentlich gegenseitig ausschließen sollten und die hier auf eigentümlich produktive Weise miteinander konvergieren.
8. Der geplante Zufall Die Surrealisten haben viel dafür getan, um sich kollektiv dem Zufall auszuliefern, indem sie z. B. das ziellose Umherschweifen praktizierten, immer in Erwartung jedoch, dass ihnen das unvorhergesehene Ereignis zustoßen würde. Bretons Nadja wäre ein gutes Beispiel dafür: Erst in dem Moment, da Breton suggeriert, er sei auf einem bestimmten Boulevard, »dem Boulevard Bonne-Nouvelle zwischen der Druckerei des Matin und dem Boulevard de Strassbourg« auf- und abgegangen, stößt ihm das latent Erwartete zu, von dem er zu spüren vorgab, dass es sich ereignen würde; jene l’amour fou in Gestalt von Nadja, von der es ihm indes so vorkommen will, als habe sie ihn unverhofft überfallen und heimgesucht. Dieser Zusammenhang zwischen Zufall und Notwendigkeit hat Breton sein Leben lang interessiert – in L’Amour Fou definierte er den Zufall als »die Gestalt, unter welcher die äußere Notwendigkeit sich manifestiert, die im menschlichen Unterbewusstsein am Werk ist.« Dieser Zufall kommt also einer äußeren Notwendigkeit gleich, ist so zufällig, wie determiniert. In einer Umfrage zu diesem Thema, die 1936 in der Zeitschrift Minotaure erschien, klingt dieses beinahe mystische Zufallsverständnis ebenfalls an, da die Frage folgendermaßen lautete: »Können Sie uns sagen, was die wichtigste Begegnung Ihres Lebens war? Inwieweit dabei, nach Ihrem damaligen und Ihrem heutigen Empfinden, das Zufällige oder das Zwangsläufige eine Rolle spielte?« Einmal abgesehen von der etwas unangenehm investigativen Ausrichtung dieser Frage, scheint mit »wichtigster Begegnung im Leben« das Ereignis ›Liebe‹ gemeint zu sein, wo sich ja tatsächlich ein Gefühl des zwingend Notwendigen mit dem Moment von Zufälligkeit verbinden kann.
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9. Liebe ist Zufall Es ließe sich nun die These aufstellen, dass sich die surrealistische Ästhetik an dieser Idee der Liebesbegegnung orientiert – etwa im object trouvé, das ja das Ergebnis eines so notwendigen wie zufälligen Zusammentreffens (zwischen Künstler und Objekt) ist. Die Surrealisten haben ein bestimmtes Verständnis von Liebe zu ihrem ästhetischen Ideal erklärt. Tatsächlich ist ja die Liebe ein Terrain, auf dem zunächst der Zufall regiert. Liebe ist nichts, was sich planen ließe, obwohl sich bestimmte Weichen für sie durchaus stellen lassen. Und sie geht nicht in rationalen Erklärungen auf. Mit ihr konfrontiert zu werden löst indes häufig eine Art Planungseifer aus. Man will wieder Planungssicherheit haben, die offene Situation in eine berechenbare und verbindliche überführen. Breton z. B. notierte am Ende von Nadja, wie ihm Nadjas unkalkulierbar-sprunghaft überbordendes Verhalten auf Dauer auf die Nerven ging. Er kehrte in das sichere und vorhersehbare System seiner bürgerlichen Ehe zurück und ließ sie fallen.
10. Vervielfältigte Zufallsquellen Der Zufall ist also für die Surrealisten ein generatives Prinzip, bei dem sich die Zufallsquellen allerdings vervielfältigen lassen. Der scheinbar zufällige Fund einer Maske – jener ›Halbmaske aus Metall‹ – wäre hier anzuführen, den Breton in L’Amour Fou überaus stilisierend und legendenträchtig beschreibt. Gemeinsam mit dem Künstler Alberto Giacometti seien sie auf dem Pariser Flohmarkt umhergestreift und unverhofft auf diese Maske gestoßen, deren produktives Potential ihnen zunächst verborgen geblieben wäre. Giacometti selbst wäre dann noch einmal umgekehrt, um die Maske zu erwerben, die in seine persönlichen Recherchen, so Breton, »eingegriffen« habe. Es wird hier so dargestellt, als habe sich mit dem Erwerb dieser Maske Giacomettis Formproblem gelöst, die Frage nach der Gestalt des Gesichts jenes Objekts, an dem er gerade arbeitete. Dass die Aufmerksamkeit Giacomettis gerade dieser Maske galt, soll also nicht nur dem Zufall geschuldet sein und verdankt sich auch einer produktionsimmanenten Notwendigkeit. Womöglich kam diese Maske tatsächlich seinem Interesse für eine abstrahierende Formensprache entgegen. Festzuhalten bleibt, dass sich der Künstler, indem er sich von dieser Maske formal leiten zu lassen vorgibt, die Dinge gewissermaßen aus der Hand nehmen lässt oder wenigstens seine Bereitschaft zur Delegation signalisiert. Das Formprinzip wird mithilfe des Zufalls an eine äußere Instanz abgegeben, jedenfalls bis
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zu einem gewissen Grad, und in dieser Möglichkeit von eingeschränkter Autorschaft und Subjektkritik liegt die ungebrochene Attraktivität des Zufalls in der bildenden Kunst, von Duchamp über die Konzeptkunst bis hin zu Cage. Von einer Depotenzierung des Subjekts kann allerdings bei den Surrealisten noch keine Rede sein, zumal der Künstler das ihm von außen Zukommende ja auswählt und gestaltet. Er liefert sich aber auch einer externen Vorgabe aus und räumt auf diese Weise die Möglichkeit ein, dass es auch ganz anders hätte kommen können.
11. Der Zufall als Bruch mit traditionellen Kunstvorstellungen Adorno hat den Zufall einmal als »ästhetisch aktuelle Figur« bezeichnet. Seine Aktualität lag für ihn darin begründet, dass »das mit Ratio nicht Identische, Inkommensurable, als Moment der Identität selber in ihm ausgedrückt wird.« Künstler, die sich dem Zufall überlassen und ihn produktiv zu machen suchen, inszenieren ja tatsächlich Irrationalität und Kontrollverlust. Sie stellen sich dem Zufälligen und Arbiträren, das ja auch einen Anteil an ihrer Identität hat und dem sich ihre Platzanweisung im Kunstbetrieb zu gewissen Anteilen verdankt. So wie kein Platz arbiträr zugewiesen wird, hat man ihn ja niemals ganz und gar verdient. Wird einem ein Platz zugesprochen, ist immer auch ein Moment von Zufall im Spiel. Künstler, die den Zufall produktiv zu machen suchen, verschreiben sich einer externen Instanz. Dies kommt einem Abschied vom expressiven Ideal und von der Norm technischer Fertigkeiten gleich: Weder drückt sich der Künstler, der den Zufall integriert, in seiner Arbeit unmittelbar aus, noch kommt es in dieser Arbeit in erster Linie auf handwerkliche Fähigkeiten an. Eine Kunst, die dem Zufall Gerechtigkeit widerfahren lässt, bricht somit mit traditionellen Kunstvorstellungen.
12. Der vom Subjekt aufgesuchte und gestaltete Zufall Gleichwohl können Zufälle systematisch aufgesucht werden, und sie werden auch auf bestimmte Weise genutzt. Von der »Ohnmacht des Subjekts«, die Adorno im Zufall bekundet sehen wollte, ist dieser Einsatz des Zufalls allerdings weit entfernt. Für Adorno bestand das Problem zufallsorientierter Praktiken, zu denen er »Action Painting, informelle Malerei und Aleatorik« zählte, darin, dass sich das ästhetische Subjekt von der Last der Form des ihm gegenüber Zufälligen dispensiere. Einmal abgesehen davon, dass in diesen Worten sein normatives Festhalten an der Idee eines ›starken‹ Subjekts anklingt, dass zur Durchbildung der Zufälligkeit eben in der Lage sein muss, könnte man seinen Befund
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dahingehend korrigieren, dass sich auch in zufallsorientierten, aleatorischen und darin subjektkritischen Praktiken das Subjekt durch die Hintertür wieder einschleicht. Das surrealistische object trouvé verdankt sich zum Beispiel in demselben Maße einem zufälligen Zusammentreffen, wie es vom Geschmack und der Sensibilität des Finders Zeugnis ablegt. Der Künstler hat sich einem Objekt ausgeliefert, aber es war eben nur ein bestimmtes Objekt, das sich als Fundstück qualifizierte. Der Zufall im object trouvé ist mithin einer, der durch das Subjekt hindurchgegangen ist.
13. Zufall und Determination am Beispiel des Cadavre Exquis-Spiels Auch das Cadavre Exquis-Spiel könnte man als künstlerische Ausbeutung des Zufalls charakterisieren. Sein Titel verdankt sich angeblich einer Wortfindung, die aus diesem Gruppenspiel resultierte (»le cadavre exquis boira le vin nouveau«). Texte und Zeichnungen werden dabei auf folgende Weise generiert: Ein Blatt wird herumgereicht, jeder schreibt oder zeichnet etwas darauf. Dann wird das Blatt so gefaltet, dass die nächste Person entweder gar nichts oder nur einen Teil dessen sieht, was zuvor geschrieben oder gezeichnet wurde. Bei genauerer Betrachtung der Cadavre Exquis-Zeichnungen wird man jedoch feststellen, dass der Zufall in ihnen zu erstaunlich kohärenten Ergebnissen führt. Die Kunsthistorikern Rosalind Krauss hatte auf den »determinierten Charakter ihrer Syntax« bereits hingewiesen und die Omnipräsenz der »Struktur der Figur« festgestellt. Es stimmt zweifellos, dass das Figurative und eine veristische Bildsprache in diesen Zeichnungen dominieren. Auf eine beinahe magische Weise scheint sich immer wieder aufs Neue die Figur herauszukristallisieren. Im Ergebnis fallen diese Zeichnungen also nicht in kontingente und auseinanderstrebende Einzelbeiträge auseinander, vielmehr setzt sich in ihnen das figurative Repertoire der Surrealisten fort – mythische Mensch-Tier-Figuren, Fabelwesen. Der Zufall führt die Hand demnach auf eine Weise, die eben auch – durch bestimmte kollektive Übereinkünfte – determiniert ist. Das Prinzip ›Zufall‹ wird sozusagen von dem durchquert, was man mit Bourdieu als »Raum des Möglichen« der surrealistischen Ästhetik bezeichnen könnte.
14. Zufall und Spiel – von der Kunst zum Neo-Liberalismus Abschließend könnte man sagen, dass der Zufall in der Kunst des 20. Jahrhunderts für zweierlei steht: für das Auftauchen unbegrenzter Möglichkeiten, für das Sich-Überlassen an eine externe Instanz und ein gewisses
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Maß an Ergebnisoffenheit ebenso wie für den Inbegriff von Kontrolle und Determination. Jene ›Systeme‹, denen sich z. B. die Konzeptkunst unterwarf, waren so willkürlich wie sie streng geplant waren. Jedes rationale System – man denke nur an Hanne Darbovens absurd-rationales System der Quersummen – wird gleichsam von Irrationalität heimgesucht. Ich würde jedoch nicht so weit gehen wollen, im scheinbar zweckfreien Spiel ein Synonym für die angeblich zweckfreie Kunst zu sehen. Einmal abgesehen davon, dass Kunst meines Erachtens durchaus Zwecke hat, Zwecke, die sie sich allerdings selbst setzt, scheinen mir die ›Zwecke‹ besagter Gruppenspiele recht offensichtlich zu sein. Sie werden künstlerisch ausgeschlachtet und erzeugen ästhetischen Mehrwert. Was einmal Ausbeutung war, ist jedoch heute in Selbstausbeutung umgeschlagen, wenn man an den Einsatz von Spielen und Spieltheorien im Managementwesen denkt. Hier werden Mitarbeiter spielerisch zu Spielern erzogen, die flexibel auf deregulierte, also von Unwägbarkeiten gekennzeichnete, neoliberale Verhältnisse reagieren sollen. Wo das Spiel bei den Surrealisten noch konkretes Widerstandspotential (gegen den Mythos des individuellen Künstlergenies, idealistische Kunstbegriffe oder Rationalismus) besaß, sind spielerische Kompetenzen heute allseits gefragt. Vor diesem Hintergrund möchte ich mit der überzogenen Feststellung schließen, dass das Spiel womöglich aus ist.
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Stein-Schere-Papier Schließen Sie das Buch. Legen Sie einen Finger der linken Hand irgendwo zwischen die Seiten, aber schauen Sie auf keinen Fall hinein. Entscheiden sie sich für die linke oder rechte Seite. Warten Sie einen Moment. Ballen Sie nun die rechte Hand zur Faust und wiegen Sie Ihre Hand ganz locker dreimal nach links und rechts. Wenn Sie bereit sind, sagen Sie ›Schnick-Schnack-Schnuck‹ und machen auf ›Schnuck‹ ein Zeichen für Stein, Schere oder Papier. Zur Erinnerung: Stein: eine geballe Faust; Papier: eine flache ausgebreitete Hand; Schere: zwei Finger machen eine Schere. Schlagen Sie nun das Buch auf der Seite auf, für die Sie sich entschieden haben, und sehen Sie nach, welches Symbol unten auf der Seite abgebildet ist. Der Gewinner ergibt sich wie folgt: Stein schleift die Schere, Schere schneidet das Papier, Papier wickelt den Stein ein. Wenn Sie dreimal hintereinander gegen das Buch verloren haben, ist heute Fingerspiele sind univernicht Ihr verbreitet und gehören wahr- Tag. sal scheinlich zu den Archetypen menschlichen Spiels. Ein Nachweis hierfür ist zwar schwierig, jedoch sind Dar- stellungen von Handspielen bereits aus dem alten Ägypten überliefert. Näheres weiß man über ein ›Mora‹ genanntes Spiel, welches sich im antiken Rom großer Beliebtheit erfreute. Eine Variante des Spiels bestand für zwei Kontrahenten darin, gleichzeitig nur eine bestimmte Anzahl von Fingern stehen zu lassen. Anschließend wurde die Summe gebildet. Je nach Ergebnis (gerade oder ungerade) gewann der eine oder der andere Spieler. Mora wurde nicht nur aus Spaß oder um Geld gespielt, sondern es war durchaus üblich, kleinere und größere Alltagsentscheidungen per Mora zu fällen. In Rom nannte man sprichwörtlich den vertrauenswürdig, mit dem selbst im Dunkeln Mora zu spielen war. Die besondere Attraktivität von Fingerspielen wie Mora liegt neben ihrer Einfachheit in der Ambivalenz von Glücksspiel und Wettkampf. Statt eine Münze zu werfen, tritt man gegeneinander an: Aber was gibt es zu können? Die entscheidende Qualität des Fingerspielers liegt nicht so sehr in seiner Geschicklichkeit, die Voraussetzung ist, sondern in seiner Fähigkeit,
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das Verhalten des Gegners einzuschätzen. Das ist durchaus als echter Wettkampf zu betrachten, und so gibt es heute verschiedene Fingerspieler-Wettkampf-Kulturen. Breiter Beliebtheit erfreuen sich ›Rock/Paper/ Scissors‹-Turniere, die über das Internet organisiert werden. Wahrscheinlich stammt das Spiel aus dem asiatischen Raum, wo sich eine Vielzahl solch zyklischer Beziehungsketten finden: Der Elefant zertrampelt den Menschen, der Mensch die Ameise, die Ameise den Elefanten – wobei insbesondere Letzteres Gegenstand einer Fülle das Spiel umkreisender humoristischer Erzählungen ist: Der Held bezwingt den Tiger, der Tiger die Großmutter und die Großmutter wiederum den Helden. So lassen sich mit zwei Händen ganze Romane durchspielen, in denen doch keiner gegen alle gewinnen kann.
NATASCHAS SPIEL. EINE WIDMUNG Über Spiele in der Literatur und den Sinnen HARTMUT BÖHME Obwohl ich Natascha Adamowsky lange und gut kenne, hatte ich keine Ahnung, nach welcher Choreographie ihre Ringvorlesung ablaufen würde. Was sie im Einladungsschreiben mitteilte und mir an Spielkarten zuschickte, weckte in mir die Illusion, dies sei für mich bestimmt (und nicht auch für die übrigen Gäste ihres Spiels). So kann man sich irren, wenn man eine Ringvorlesung für eine Ringvorlesung hält und nicht für ein Kamel, ein Wiesel oder einen Walfisch (s.u.). Drei Zitate also, fein gedruckt auf die Rückseiten der Spielkarten Kreuz-König, Kreuz Neun, Karo Acht, hatte Sie mir zugedacht: von Adorno, Goethe und Cervantes. Was sollte ich damit machen? Mich an die Regeln und an die Zitate halten, die mir als Zufall zugefallen waren? Aber war es denn ein Zufall? Was hatte Natascha Adamowsky sich dabei gedacht? Ich hatte keine Ahnung. Kann denn eine Ringvorlesung zu einem Vortragsspiel mit Gästen werden? Spielt Alma Mater? Also fing ich an: Spiel – so nennen wir eine geregelte Kurzweil im besten Vergnügungsalter – Spiel folgt festen Ablaufkonventionen, die nur gelegentlich – heutzutage aber immer mehr – während ihres Vollzugs geändert werden können, ein lustvoller Zeitvertreib mit mindestens einem Agenten zur Erzeugung mäßig peinvoller und bis zum Taumel kitzelnder Unbestimmtheiten, Überraschungen und Offenheiten, die sich gelegentlich zu Wahrheitsfiguren verdichten. Spiele genügen sich selbst; und in sich selbst erschöpfen sie sich auch, bis nämlich Lust, Spannung und Kurzweil aufgebraucht sind und das Spiel keinen An-Trieb mehr findet: matt, energielos, eben erschöpft und verausgabt lässt man ab. Spiele – und damit nehme ich schon das zweite Zitat auf – Spiele enthalten immer etwas »Ungedecktes«: wahrhaft erregend, mitnehmend, wenn nicht außer Rand und Band setzend (wären da nicht die schützenden Regeln), wird das Spielen erst, wenn man sich über das eigene Vermögen hinaus auf das
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Spiel einlässt, sich aufs Spiel setzend, das Risiko, den Thrill suchend über das Sichere und Selbstsichere hinaus, bis man sich im Reich der am losen Band der Regeln gehaltenen Leidenschaft wiederfindet, ein wenig trunken und verwandelt: was denn auch die Gratuité des Spiels ausmacht, gleichgültig, ob man gewinnt oder verliert. Neugierde, Aufmerksamkeit und Staunen paaren sich hier aufs trefflichste mit Ausdauer, Disziplin und Zielbewusstsein. Eine seltsam gemischte Haltung entsteht, die Lorraine Daston und Katherine Park als die Leidenschaft der Wissenschaftler entziffert haben (1998). Sollte Wissenschaft selbst ein Spiel sein? Ein Wahrheitsspiel? Weisen beide, der Wissenschaftler und der Spieler, eine Art kontrollierter Exzentrizität auf, eine Preisgabe, ja Ekstase, die sie über sich hinaus setzt? Beruht Wissenschaft vielleicht nicht nur auf getreulicher Einübung, strenger Repetition, Mechanik des Geistes, sondern auch oder vor allem auf Risikolust, Transgression, Leidenschaft, auf »Ungedecktem« eben? Und hat unsere Kultur nicht jenseits der konventionalisierten Spiele – Theater, Tennis, Spitz pass auf! – ganze Sektoren entwickelt, die wir zwar nicht Spiel nennen, die aber doch wie Spiele funktionieren: z. B. die Konversationsspiele, der Flirt, der Fasching. Das akzeptieren wir schnell. Doch das meine ich nicht. Sondern: Sind vielleicht auch hochbesetzte Praxisfelder unserer Kultur Spiele? Kunst, Literatur, Wissenschaft? Oder Politik und Ökonomie? Wer spielt da und wem wird mitgespielt? Und enthalten nicht alle Religionen ludische Komponenten – im Ritual, in der Liturgie, in ihren überalltäglichen Zeremonien? Ist es vielleicht kein Spiel, sondern Ernst, wenn Bernhard Lang seine Geschichte des christlichen Gottesdienstes mit dem Titel versieht Heiliges Spiel und die Kapitel über Lobpreis, Gebet, Predigt, Opfer, Sakrament, Ekstase eben nicht Kapitel sondern erstes, zweites ... Spiel nennt (Lang 1998)? Und sind nicht gar die Götter reinste Spielernaturen, ihr Weltspiel spielend? Ludus globi (Kues 1989/1463)? Es gibt, und das ist das große Wissen der griechischen Tragiker, einen geheimen Zusammenhang zwischen Tragödie und Spiel (Menke 1996; 2005). Heraklit hat es als erster, durchaus pessimistisch, formuliert. »Das ewige Leben (der Aion)«, so sagt er, »ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.« (DK 22 B 52).1 Nicht umsonst wird in der Antigone des Sophokles die Protagoni1 Man kann dies Fragment auch im Sinne der heraklitschen Heimarméne, des Verhängnisses, auslegen. Doch gerade dies widerspricht nicht dem Spiel-Charakter, der sich in der Tragödie als deren Ilinx-Struktur ausdrückt. Letztere bildet im Sinne von Roger Caillois einen Spiel-Typ, den Rausch, mit dem die Tragödie ihren dionysischen Zug zeigt (sie kann immer wieder auch Merkmale des Agon- oder des Alea-Typs zeigen). Es ist hier nicht der Raum, das Fragment Heraklits über Spiel im Kontext seiner LogosPhilosophie zu entwickeln (vgl. Caillois 1982: 21-46; ferner allg. Dodds 1970).
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stin Antigone als pais (Kind), auch als kore (Mädchen) angesprochen. Ihr gehört »die Herrschaft«, so sehr sie bei Kreon zu liegen scheint. Denn sie ›spielt‹ ihre Rolle in Übereinstimmung mit dem aion, dem Göttlichen. Was dies heißen soll, erklärt eine Äußerung, die überraschender Weise von Platon stammt und in den ›Nomoi‹ nicht umsonst vom wortführenden Athener getan wird: »In Tat und Wahrheit ist es Gott, der aller verheißungsvollen Bemühung wert ist; der Mensch dagegen ist [...] nur ein Spielzeug in der Hand Gottes und das eben ist in Wahrheit gerade das Beste an ihm. Jedermann also, Mann wie Frau, muß diesem Ziele nachstreben und die schönsten Spiele zum eigentlichen Inhalt des Lebens machen, ganz im Gegensatz zu der jetzt herrschenden Denkweise « (Nomoi 803 c, d).
Der Kontext verdeutlicht, dass diese Aufgabe, ins Spiel den »eigentlichen Inhalt seines Lebens« zu setzen, sich darauf bezieht, »Opfer, Gesänge und Tänze« zu vollziehen, also in der Spielform der heiligen Rituale, also in der Tragödie bzw. in den Dionysien die Beziehung zum Gott wie zugleich den Sinn des Menschseins zu erfüllen. Der »Gegensatz« zur »herrschenden Denkweise«, den Antigone darstellt, besteht darin, dass sie den Ernst gerade nicht in die Einhaltung von Inzestverboten und in den Gehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen setzt – mit beidem ›spielt‹ man nicht. Sie aber ›verkehrt‹ diese »Denkweise« und macht sich zum »Spielzeug in der Hand Gottes«, was in Heraklits Worten gleichbedeutend damit ist, dass sie als »Kind« wie der Aion »die Brettsteine« setzt: dadurch wird sie »in Wahrheit« ein Mensch. Und das schließt ein, ein »Opfer« zu werden, unrein und heilig zugleich, eine Hingerissene, die sich tödlich mit dem Göttlichen vermählt. Dies ist aller Ehren des Dionysos wert. Diese durchaus ekstatische Umkehrung von Leben und Tod im Spiel der Tragödie ist denkwürdig genug. Soweit zum zweiten Zitat auf Karo Acht. Und nun die dritte Karte, Kreuz König. Muss nicht, damit das Spiel beginnen kann, da einer sein, ein Wissenschaftler, ein Gott, ein Erzähler, ein Verrückter, der mutwillig oder wahnhaft genug ist, um das Identische nicht mehr identisch sein zu lassen, Eins und Eins ist nicht mehr Zwei, und eine Pfeife ist nicht eine Pfeife ist (ceci n’est pas une pipe)2, kurz: einer, der die Wahrnehmung ein wenig verrückt, so dass alles wie in einem neuen Maßstab erscheint, verkleinert, vergrößert, oblique und grotesk, während der homo quadratus
2 Vgl. das Gemälde von René Magritte: The Two Mysteries. Oil on canvas. 1966. 65 mal 80cm. Privatbesitz.
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neben ihm, mit festem Hintern auf den soliden Dingen hockend, nun als einer erscheint, der »sich schlecht ... auf Abenteuer dieser Art versteht«, das Abenteuer Spiel, das Romanhafte schlechthin? *
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Ich beginne, obwohl ich längst begonnen habe, noch einmal. Und spiele erneut Karo Acht aus, auf der steht: »Sobald er [der Geist] mehr will als bloß administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden, hat er etwas Ungedecktes; die vom Spiel verlassene Wahrheit wäre nur noch Tautologie« (Adorno 1958). Jeder ist in der Universität schon dem Typ des Wissensverwalters begegnet, diesen getreuen Korrepetitoren des Kanonischen, das festzustehen scheint, den Wiederholern und Wiederkäuern des Geistes, der zum da capo verkommen ist. Heute sind es die Pisa-Fetischisten, die das Bildungsspiel mit offenem Ausgang einkochen wollen zu KompetenzStandards mit dosierten Wissensportionen; gestern waren es die Wissensbeamten und vorgestern die Scholastiker. »Essay« heißt ›Versuch‹ – und wenn Adorno den Essay zur Form erklärt, meint er damit mehr als die Bestimmung eines Genres, das im Zwielicht zwischen Literatur und Wissenschaft sein Unwesen treibt, sondern die Arbeitsweise derer, die Nietzsche die freien Geister nannte. Der Essay ist die Form der Freiheit. Das macht seine Dignität und seinen schlechten Leumund zugleich aus. Form der Freiheit ist nur zu haben, wenn die Wahrheit, um die es der Freiheit zu tun ist, sich aus der Deckung heraustraut, damit das Ungedeckte des Geistes sich zeigt, sich aufs Spiel setzt, damit das Spiel beginnen kann, die Suche und der Versuch, das also, was Robert Musil, der Naturwissenschaftler und Dichter, die »Utopie des Essayismus« nannte. Dieser ist der strikte Gegner des »Seinesgleichen geschieht«3 , der Tautologie also, in der sich – nach Musil – der Wirklichkeitssinn erschöpft und die den Möglichkeitssinn abstumpft, der den Sinn des Spielens überhaupt hervorbringt oder auch wieder Unsinn sein lässt. Nichts muss so sein, wie es scheint. »Wer ihn [= den Möglichkeitssinn, H.B.] besitzt, sagt beispielsweise nicht: hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es
3 »Seinesgleichen geschieht« ist der Titel des Zweiten Teils im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften. Dieser Titel meint die Stereotypie, Präformation und Serialität der Prozesse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
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könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist« (Musil 1958: 16).
Denn der Geist, wie Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, meint, der Geist ist der große Je-Nachdem-Macher, ein Spieler folglich. Mann ohne Eigenschaften zu sein, heißt alle Eigenschaften zu Spieleinsätzen zu machen und das Denken in wesenhaften Substanzen aufzugeben. Dieses Spielen im Modus des Möglichkeitssinns, diese Eigenschaftslosigkeit sind als gewähltes Existenzial des Mannes ohne Eigenschaften kein ästhetizistisches l’art pour l’art, sondern ein risikoreiches, von Abstürzen und Einsamkeiten bedrohtes, ein strenges und improvisierendes, ein ebenso kühles wie leidenschaftliches, ein selbstreflexives wie sich selbst objektivierendes Spiel, das nur im Modus jener Ironie durchzuhalten ist, die von Musil und Thomas Mann bis zu Richard Rorty und Wolfgang Welsch als Signatur der Moderne entziffert wurde. Tatsächlich darf man den Mann ohne Eigenschaften das Paradigma des Essays, aber auch des Spiels im 20. Jahrhundert nennen. Weil aber die Universitäten im wesentlichen »die administrative Wiederholung und Aufbereitung des je schon Seienden« abfordern, gehören sie, von denen das Ungedeckte des Neuen doch ausgehen sollte, wahrlich zur alten Welt, die vom Spiel verlassene Wahrheiten und verbeamtungsfähige Tautologien ausschwitzt. Erinnern wir uns an Daston/Park: Aufmerksamkeit, Neugierde, Staunen, Ausdauer, Disziplin, Leidenschaftlichkeit, kurz, Experimentalismus machen den Geist der Wissenschaft aus. »Diese sehr ernsten Spiele« der Wissenschaften sind aber in die Hände der Administratoren gefallen (Evaluierer, Unternehmensberater im Uni-Einsatz, Qualitätssicherer, Fragebogen-Tüftler, Standardisierer, Kompetenzforscher etc. etc.). Wenn etwas die Universitäten heute benötigen, so nicht den im Schatten von Pisa und Bologna verordneten Geist, sondern die Ermutigung zum Ungedeckten, zum Risiko, zum Experimentalismus und Essayismus, also zum Spiel. Ich spiele nun die Kreuz Neun. »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter –, Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Propfreiser auf junge Stämme zu bringen.« Es ist dies im deutschen Sprachraum der berühmteste Eingangssatz, mit dem ein Roman eröffnet wird: Die Wahlverwandtschaften von Goethe. Ursprünglich als eingelagerte Novelle im Wilhelm Meister gedacht, wuchs sich die Episode einer kreuzweisen erotischen Vertauschung während der Jahre, in denen Goethe die Publikation seiner umfänglichsten Arbeit, der Farbenlehre, vorbereitete, zu einem kleinen Roman aus. Die Erzähler-
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geste – »so nennen wir« – durchkreuzt sogleich jede Illusion, durch die der Leser sich in einer Erzählwirklichkeit wiegen könnte, die von etwas anderem handelt als den Spielzügen des Erzählers selbst. Was folgt, steht nicht unter den Regeln der Wirklichkeit, sondern der Fiktionen des Erzählers und der Regie des Autors, der nicht nur in der Farbenlehre eine Mannigfaltigkeit von Experimenten entwickelt, sondern der den Roman selbst als Experiment angelegt hat. Dies möchte ich das Erzählspiel nennen. Die zweite Auffälligkeit des Eingangssatzes sind die Pfropfreiser: in einem aus der Natur scheinbar rational ausgeschnittenen Bezirk, der »Baumschule«, werden Experimente zur Erzeugung von Hybridpflanzen vorgenommen, die nicht von Natur aus in der Welt wären, also Artefakte sind. Dies möchte ich das Gegenstandsspiel nennen. Die Natur und ihre Dinge, wie sie im Roman inszeniert werden, sind zuerst und vor allem Kultur. Das will sagen: die Natur, mit der sich sämtliche Personen beschäftigen, ist Schauplatz von Experimenten, in welchen die Personen ihre Intentionen zu objektivieren vermeinen, während sie dabei selbst, unwissentlich und unwillentlich, zu Elementen eines Experiments werden, nämlich der ›Wahlverwandtschaften‹. ›Wahlverwandtschaften‹ stellen in der Sprache der damaligen experimentellen Chemie ein Modell für chemische Prozesse dar, bei denen vier beteiligte Elemente chiastisch ihre Plätze tauschen. Es werden nicht nur Hybridpflanzen erzeugt, sondern die Menschen selbst erweisen sich als Hybriden des chemischen Erzählspiels. Was dem reichen Baron an diesem schönen Frühlingstag kontrolliert und gut gerahmt scheint – die »Baumschule« –, das wird außer Kontrolle geraten. Das Spiel setzt sich selbst aufs Spiel und das »Ungedeckte«, von dem Adorno spricht, das Kontingente und der Zufall lenken die erzählerische Experimentalordnung in eine katastrophische Richtung, an deren Ende mehrere Tote und Gescheiterte den Preis für ein allzu leichtfertiges Spiel mit der Natur, mit dem Eros und mit der moralischen Ordnung entrichtet haben werden (vgl. Böhme 1999). Das Spiel, wenn es den Rahmen selbst riskiert oder gar außer Kraft setzt, kann den Spielern den Schutz entziehen, den sie benötigen, um spielen zu können. Das »Ungedeckte«, das jedem Spiel eignen muss, zeigt nämlich eine unhintergehbare Ambivalenz: Es ist einerseits die Bedingung der Möglichkeit des Spiels und andererseits das Risiko radikaler Kontingenz, die sich den Spielern entzieht und sie zu ruinieren vermag. Die Wahlverwandtschaften handeln also vom Hasard. Hasard ist das Spiel, in dem der Einsatz so lange erhöht wird, bis der Rahmen selbst eingesetzt werden muss und an die Stelle geregelter Spielzüge die ultimative Entscheidung tritt, die den Untergang einschließen kann. Das wahrlich sind, erneut mit Goethe zu reden »diese sehr ernsten Spiele«. Sie können uns nicht nur taumeln machen, sondern vernichten.
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Ich spiele den Kreuz König. »Was für Riesen?«, fragte Sancho Pansa. »Die du dort siehst,« erwiderte sein Herr, »die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.« »Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für die Arme haltet, das sind Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.« »Da sieht man,« sprach Don Quijote, »wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete ein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen.« Sie alle kennen diese berühmte Episode des tapferen Helden von der traurigen Gestalt, der zu viele Ritterromane gelesen hat, so dass er sich sozusagen ins Innere der Bücher begeben hat und zur literarischen Figur geworden ist, oder umgekehrt: die längst außer Kraft gesetzten RitterZeiten, die nur noch in der Welt des Fiktiven Platz haben, haben seinen Kopf verlassen. Die Phantasien begegnen dem Don Quijote so real wie Sancho Pansa, dem Bauchmenschen, das Essen oder wie die in der Frühneuzeit so wichtigen Energiemaschinen, die das Korn mahlen für das Brot, mit dem sich den Wanst zu füllen das einzige Begehren Pansas ist. Und so rüstet sich Quijote gegen die Windmühlen, die eben keine Maschinen, sondern Ungeheuer sind. Quijote halluziniert eine andere Welt, eine Art Paralleluniversum, das sich an Pansas solidem Wirklichkeitssinn satirisch bricht, wie umgekehrt die Prosa der Realität angesichts der überbordenden Imaginationen Quijotes sich als allzu dürftig und von der banalen Gemeinheit des Gemeinsinns erweist. *
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Hier und heute möchte ich auf etwas anderes aufmerksam machen und damit neben dem Wahrheitsspiel Adornos und dem Erzählspiel Goethes abschließend auf etwas zu sprechen kommen, das ich das Sinnenspiel nennen möchte. Was Quijote widerfährt, ist eine Entdimensionierung von Wahrnehmungsidentitäten, oder man kann auch sagen: Er setzt diese durch die Übermacht seiner Einbildungen außer Kraft. Dadurch unterliegt Quijote einer anhaltenden Vertauschung des Wirklichkeitsmodus mit dem Imaginationsmodus. Auch dies kann ein Spiel sein, ja, es ist eines der am höchsten angesehen Spiele unserer Kultur: das Literaturspiel. Cervantes stellt es in seinem Roman indes als einen pathologischen Effekt manischer Lektüre dar, während er als Autor die Modus-Vertauschungen mit allem Raffinement betreibt. Doch lässt er uns auch vergessen, dass der närrische Quijote gerade wegen dieser Zerrüttung des Realitätssinnes die einzige Person ist, die in einer korrupten Welt arglose
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Herzensgüte, aufrichtige Moralität und humanen Idealismus zeigt. Eine Windmühle ist keine Windmühle; sie ist ein Riese, den zu bekämpfen die Ehre des Ritters erheischt. Darin liegt nun aber eine Problematisierung von Wahrnehmungsurteilen, die für das ganze 17. Jahrhundert charakteristisch wird. Was sehen wir, wenn wir sehen? Und sehen wir überhaupt oder projizieren wir? Und ist das Ding, das wir sehen, auch wirklich jenes Ding, als das es uns erscheint? Um 1600 sind die Wahrnehmungsspiele der Literatur und Kunst längst im Gange – und sie sind eine Parallele zur Entwicklung der optischen Techniken, des trompe l’oeuil der Kunst, der einsetzenden Entdeckung der teleskopischen und mikroskopischen Welten, im Verhältnis zu denen unsere ›reale‹ Wahrnehmungswelt eigentümlich verunsichert, jedenfalls relativiert wird. Überhaupt darf das 17. Jahrhundert als die Epoche gelten, die im unendlichen Spiel um Täuschung und Wahrheit, Sein und Schein, simulatio und dissimulatio die kulturelle wie experimentell-analytische Grundlage für das moderne Misstrauen gegen die Sinne und gegen die essentielle Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung legte. Wir erinnern uns an den zum Quijote, der 1605 und 1615 erscheint, zeitgleichen Hamlet, der, in gespieltem oder wirklich Wahn, Polonius in ein verrücktes Sprachspiel verwickelt: » POLONIUS: Gnädiger Herr, die Königin wünscht Euch zu sprechen, und das sogleich. HAMLET: Sehr ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? POLONIUS: Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel. HAMLET: Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. POLONIUS: Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel. HAMLET: Oder wie ein Walfisch? POLONIUS: Ganz wie ein Walfisch. HAMLET: Nun, so will ich zu meiner Mutter kommen, im Augenblick.« (III. Aufzug, 2. Szene)
Weiter kann man die Hybridität von Wahrnehmungsurteilen und der Arbitrarität von sprachlichen Zeichen nicht treiben. Die metaphorischen Wucherungen saugen wie Parasiten die Referenzialität von Sprache aus. Einhundert Jahre später, die einhundert Jahre tele- und mikroskopischer Entwicklungen waren, wird Jonathan Swift seinen Gulliver (d. h. der, der sich leicht täuschen lässt, gullible ist) imaginäre Reisen ins Land der Riesen und das der Zwerge unternehmen lassen, wobei ihm nicht nur die optischen, sondern auch moralischen Maßstäbe zunehmend unsicher werden. Literatur ist – vor dem Hintergrund sozialer wie naturwissenschaftlicher Entgrenzungen – nicht mehr nur ein Spiel innerhalb des ontologischen Rahmens der Welt, sondern ein Spiel mit genau diesen Rah-
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mungen. Es gibt fortan keinen metaphysischen oder religiösen Weltgrund mehr, sondern nur noch das rahmenlose »Meer der Erzählung«, wie Thomas Mann den Don Quijote bezeichnet hat, eine kontingente und relative Welt, mit deren frameworks zu spielen und zu experimentieren das Beste ist, was eine wissenschaftliche und ästhetische Vernunft noch tun kann. Für Michel Foucault ist Don Quijote derjenige, der an die Wirklichkeit der Zeichen noch glaubt. Ihm zaubert der Signifikant herbei, was er sagt: als gäbe es noch ein ontologisches, ja magisches Band zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Als im Kreise Irrender ist er für Foucault ein Relikt der Renaissance-Episteme, während die Welt bereits in die Konventionen der ›rechteckigen‹ Wissensklassifikationen, der dreieckigen Zeichenstrukturen (Zeichen, Bedeutung, Referent) und der linearen hypothetischen Erklärungen (wenn a, dann b; weil a, darum b), die wir Wissenschaft nennen, sowie der Logik des Tauschwerts getreten ist (Foucault 1980: 78ff.). Im Kreise laufen wie Quijote, wird in der Welt der Rationalität mit ihren neuen Geometrien zum Wahnsinn. Sein Spiel ist aus. Kant könnte Quijote, kennte er ihn denn, einen »Kandidaten des Hospitals« nennen (als den er Emmanuel Swedenborg bezeichnete, der mit Himmel, Hölle und Engeln seine Quichoterien trieb) (Kant 1977/1766). Natürlich können wir Quijotes Fehlgriffe als wahnhafte Sinnentäuschung bezeichnen und sie in psychiatrische Sinnespathologien einordnen. Das tat man schon vor 400 Jahren. Michel Foucault hat in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft (1969) von vielen Beispielen jener Zeit berichtet, in denen die Sinnesverrückungen zur Quelle des Wahns, doch damit auch zum Objekt der beginnenden Medizinisierung wurden. Vielleicht sind wir seither beide Wege konsequent weitergegangen: den Weg der Sinnesbetörungen, indem wir gewaltige Illusionsmaschinerien, unsere Medien nämlich, entwickelt haben, welche nicht mehr nur die Wahrnehmungsdispositive verrückter Einzelner, sondern ganzer Gesellschaft darstellen. Wenn Quijote mit allen Sinnen wahrnimmt, was er gelesen hat, so heißt dies: das Leitmedium der damaligen Zeit gibt das sinnliche Schema vor, in welchem ›Welt‹ wahrgenommen wird. Wir heute sehen und hören unsere Welt in unvergleichlich illusionskräftigeren Mustern, welche die audiovisuellen Massenmedien unseren Sinnen aufstülpen. Wir können nicht mehr sicher sein, ob wir nicht in einer ähnlichen Betörung der Sinne agieren wie seinerzeit der Ritter von der traurigen Gestalt. Den zweiten Weg haben wir ebenfalls ausgeschritten: einerseits durch Erkenntniskritik, durch die etwa Immanuel Kant die Wahrnehmungen strikt auf Zulieferungsfunktionen einschränkte, mittels derer Sinnesdaten dem Verstand zugespielt werden, der sie unter seine Begriffe subsumiert; andererseits durch Laborforschung, durch die die Sinne überhaupt
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vom Subjekt getrennt und zu komplexen, überpersönlichen, eigenlogischen und begrenzten Vermögen ›objektiviert‹ wurden, die man messen und standardisieren kann. Die Verknüpfungen der Sinne mit Gefühlen, Imaginationen, Begehren, Erfahrungen, Geschichten und kulturellen Prägungen des Subjekts spielen dabei keine Rolle. Dass der Leib, die Sinne und das Gefühl nach wie vor die vorrangigen Modi sind, durch die wir unser In-der-Welt-Sein spüren und realisieren –: solche Einsicht ist in die Literatur oder die Phänomenologie abgewandert, die von den Neuro- und Kognitionswissenschaftlern nicht einmal als seriöse Wissensformen anerkannt werden. So sind die Labore zu Administrationen der Daten geworden und haben den strengen spielerischen Sinn des Experiments verloren. Während umgekehrt die Kunst und Literatur als Spielfelder der Phantasie ausdifferenziert wurden, die an den Archiven der Daten und Facts wirkungslos abprallen. Was Quijote widerfuhr, macht ihn geradewegs zu unserem Zeitgenossen. Ihn trifft die Entdimensionierung von Wahrnehmungsidentitäten, man kann auch sagen: er setzt diese durch die Übermacht seiner Einbildungen außer Kraft. Dadurch unterliegt Quijote einer anhaltenden Vertauschung des Sinnesmodus mit dem Imaginationsmodus. Cervantes stellt dies als einen pathologischen Effekt manischer Lektüre dar. Der LektüreWahn, gegen den noch im 18. Jahrhundert verantwortungsbewusste Pädagogen einschritten, um Jünglinge und Fräuleins vor den Zerrüttungen der erhitzten Phantasie zu bewahren, ist heute durch viele Formen des Medien-Wahns abgelöst. Auch das macht uns zu Nachfahren Quijotes. Dem Misstrauen der Wissenschaften gegen die Sinne und die Spielwelten steht heute freilich eine ungeheure Ausdehnung kulturell möglicher Erfahrungswelten des Sinnlichen und des Spiels gegenüber. Für einen Menschen der frühen agrarischen Gesellschaften fiel die Welt mit dem zusammen, was ihm die fünf Sinne zuspielten. Sein mundus sensibilis war die aus sensorischen Nahumgebungen gebaute Welt. Alles andere war ›Jenseits‹: die Welt ferner Länder, die als Hörensagen, als fernes phantastisches Rauschen das Ohr erreichte, und die Welt des Überirdischen mit seinen numinosen Qualitäten, das die Ängste und Hoffnungen der um Zeit und Ewigkeit bangen Seele erfüllten. Gleichwohl kann man sagen, dass bis hin zur Neuzeit die fünf Sinne den Grund jedes Selbstund Weltverhältnisses bildeten. Davon kann heute keine Rede mehr sein, obwohl oder gerade weil die sinnliche Welt sich durch die technischen Medien explosiv vermehrt hat. Man kann von einer umfassenden Kultivierung und Technisierung der Sinne sprechen. Und doch stehen wir der allgemeinen Klage gegenüber, dass die Welt immer abstrakter, unerfahrbarer und ›undurchsichtiger‹ geworden sei. Was hat es mit diesem Widerspruch auf sich?
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Gewiss, das Tasten und das Riechen haben durch die technische Kultur nicht gerade ein exponentielles Wachstum durchlaufen. Tatsächlich lassen sie sich, anders als Ohr und Auge, auch viel schwerer massenmedial verschalten. Das Riechen gilt zudem seit jeher als niedrigster Sinn, der den Vierfüßlern als Leitsinn zukommen mag, nicht aber dem homo erectus. Zwar bestimmt er die Elementarkontakte, nämlich die Sympathie oder Antipathie, die wir Objekten und Lebewesen gegenüber empfinden, die wir riechen oder nicht riechen mögen. Die Riechwelt, die Wahrnehmung der olfaktorischen Aura der Dinge, spielt indes in unserer Merkwelt keine zentrale Rolle mehr. Die allgemeine Geruchsökologie und die Hygienisierung der Lebenswelt haben sogar die Orte dichten Zusammenlebens weitgehend neutralisiert. Eine mittelalterliche Stadt enthielt vermutlich viel mehr Geruchsnuancen, von denen wir die meisten als Gestank identifizieren würden, als eine europäische Großstadt heute. Wir selbst und unsere Umwelt sind durchgreifend desodoriert. Auf diesem neutralen Grund haben wir die Welt der synthetischen Düfte errichtet. Sie könnte eine wunderbare Spielwelt sein, wäre sie nicht zwischen der Tyrannis der Hygiene und dem ökonomischen Diktat der Kosmetik eingeklemmt. Mit Wohlgerüchen umhüllen wir, mehr pflichtgemäß als spielerisch, Achselhöhlen und Dekolletees, Toiletten und Badewasser, Wäsche und Geschlechtsteile, aber auch Einkaufsmalls und Hotellounges. Selbst die Hunde werden shampooniert. Starke Körpergerüche gelten, weil sie ›abzustellen‹ sind, als degoutant und finden eine Residualfaszination allenfalls im Sex. Diese Neutralisierung wie auch Optimierung der Riechwelt durch Wohlgerüche drückt den generellen Trend zu dem aus, was man die Kultur der Distanz nennen kann. Distanz wäre gut für jedwedes Spiel, das aber – widersprüchlich, wie es seiner Natur nach ist – immer auch seines Gegenteils bedarf: des Taumels und der hemmungslosen Hingabe. Gerüche verwickeln uns, bringen uns ungewählt in Nahbeziehungen, tauchen uns in Atmosphären – und das provoziert unser Bedürfnis, uns Dinge und Menschen ›vom Leibe‹ zu halten, nicht aber die Lust zum Spiel. Wir lesen indes gern davon: etwa den Roman Das Parfüm von Patrick Süskind oder die Studie Pesthauch und Blütenduft von Alain Corbin, die uns die Riechwelt der Vergangenheit, ihre so anderen Sensibilitäten und Idiosynkrasien nahe bringen. Ähnlich steht es mit dem Tastsinn. Noch im 18. Jahrhundert, bei Condillac, Berkeley oder Herder, bot er das Modell überhaupt für die Sinne und ›das Fühlen‹, das noch nicht in Emotionen und Sinnesleistungen auseinander getreten war (vgl. Böhme 1996). Das Tasten erst erschließt uns die Körperlichkeit der Körper, ihre Materialität, Schwere, Widerständigkeit, Plastizität. Damit fängt das Spielen der Kinder an, eine Schule zugleich der Dinge und der Stoffe. Welche sensorische Potenz
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liegt in der feinmotorisch mit dem Getast zusammenspielenden Hand, dem kreativen, plastischen Organ par excellence! Und enthält nicht das tastende Spüren, gleichgültig ob wir den eigenen Leib berühren oder über einen fremden Körper hinfahren, jenes sensorische ›Wunder‹, das man die Quelle allen Selbstbewusstseins nennen kann: Im Spüren nämlich empfinden wir immer das Gespürte und das Spüren gleichzeitig. Welch wundersame Reflexivität herrscht in dieser stets präsenten Propriozeption des Tactus: das Sich-Selbst-Spüren im Anderen-Spüren. Dieses weite und vielfältige Spielfeld ist heute auf die Sphäre des Erotischen (vielleicht, meist nicht), der skurrilen Bastler und der therapeutischen Körper-Gruppen zusammengeschnurrt. Und gar die Haut, dieses größte aller unserer Sinnesorgane. Der Psychoanalytiker Didier Anzieu hat zeigen können, dass und wie intensiv unser Ich im »Haut-Ich« fundamentiert ist (1991). Claudia Benthien hat wiederum die kulturhistorische Differenzierung des Hautsinns, seine funktionale Vielfalt, seine Bedeutung in den Künsten, aber auch in den Diskursen (z. B. im Rassismus) demonstriert (1998). Auch die Haut, so lernen wir, ist kulturell angeeignet und bezeichnet worden, nicht nur in Bemalungen und Tattoos. Sondern die Haut war, historisch wie kulturell höchst unterschiedlich, Fläche, Membran und Medium von Ein- und Ausdruck, von patho- und physiognomischen Semiosen und kulturellen Einschreibungen. All das ist richtig. Und doch können wir kaum in Abrede stellen, dass die »Berührungsfurcht«, wie Elias Canetti meinte, ein überhistorisches Anthropologicum ist (1994). In Berührung zu sein, berührt zu werden und aktiv zu berühren, dazu bedürfen wir der besonderen Vorkehrungen der Liebe, des unwiderstehlichen Drangs des Sex, der distanzvernichtenden Aggression oder der eigentümlichen Eintauch-Lust in orgiastische Massenerlebnisse. Distanz zu wahren, heißt Berührungen zu vermeiden: und das mindert die Angst. Vielleicht beruht der ungeheure Erfolg von Liebes-, Sex- und Action-Movies darauf, dass sie, ihrer Logik nach, zwar innig mit dem Nahsinn der Haut verbunden sind; doch die im Taktilen unvermeidliche Verwicklung mit anderen Körpern werden auf die visuelle Ebene hochtransformiert: Mit den Augen genießen wir eine Art Vorlust von Berührungsintensitäten – ohne Berührung, und damit ohne Angst. Gewiss kommt hinzu, dass, anders als der Augen- und Hörsinn, der Haut- und Spürsinn sich sehr schwer ›aufzeichnen‹, ›speichern‹, ›transportieren‹ und ›vernetzen‹, also massenmedial vervielfältigen lässt. Man erkennt dies an dem technischen Aufwand, der gegenwärtig noch erforderlich ist, um über sensorausgestattete Datenanzüge Empfindungsreize zu digitalisieren, zu übertragen und anderenorts wieder ›fühlbar‹ zu machen. Noch sind wir weit von der medientechnischen Übertragung
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der proprio- und heterorezeptiven Sensibilitäten der Haut entfernt: doch wir sind auf dem Weg dahin. Ein über Cyberspace weltweit ausgedehntes Fühl-Kino (die Audiovisualität einschließend): Wäre das nicht der Medien-Clou überhaupt? Nicht nur durch audiovisuelle Reizströme wären wir angeschlossen an andere Körper, sondern wir könnten sie betasten und fühlen, wie sie umgekehrt unseren Körper, der diese Berührungen seinerseits empfindet – und all das, ohne von der Physis des Fremdkörpers kontaminiert, von der Präsenz von Leibern, die uns ›auf die Pelle‹ rücken, gestört zu werden. Nicht nur Fernsehen, sondern Fernempfinden! Nicht nur Audiovisualität, sondern Audiovisutaktilität! Das wäre ein Spiel ohne Grenzen. Sicher ist, dass man die Intensität der Sensationen durch die ›Einschaltung‹ des Tastsinns in die massenmediale Zirkulation exponentiell steigern könnte. Man hätte einen Sprung in der Technikgeschichte des Medienverbundes geschafft, der ökonomisch ungeheure Folgen hätte. Und weil dies so ist, darf man erwarten, dass der Tastsinn der erste Nahsinn ist, auf den sich die Anstrengungen zu seiner Massenmedialisierung richten werden. Was das Schmecken angeht, so ist die Gastrosophie eine der ältesten Kultivierungen der Sinne überhaupt. Zu innig ist die durch Hunger und Durst elementare Reproduktionslogik und der verfeinerte Genuss des Geschmacks miteinander verwoben, als dass man erwarten könnte, die Zunge ließe sich jemals von virtuellen Genüssen verführen. Gewiss isst das Auge mit, es delektiert sich am Augenschmaus und folgt insofern einer gastrosophischen Logik. Mund und Zunge indes sind radikal auf Materie aus; Mahlzeiten des medialen Scheins verführen sie nicht. Es ist ein prinzipieller Unterschied, ob optische oder akustische Wellen ›internalisiert‹ und verarbeitet werden müssen, um zu Bildern und Musik zu werden, die man genießt; oder ob, wie beim Essen und Trinken, tatsächlich Materie ›einverleibt‹ werden muss, damit Genuss und Gaumenkitzel entstehen. Darum richten sich die Anstrengungen zur Kultivierung des Geschmacks vor allem auf die Zubereitung der Speisen. Das semiotische, multisensorische Drum und Dran – die feinen Tischsitten, die Anrichtung der Speisen, die Tafelmusik, der Kerzenschein, das schöne Besteck, Porzellan und Glas, die gepflegten Tischgespräche –: sie sind zweifelsohne wichtige Ingredienzien einer Mahlzeit. Doch wenn sie zentral werden, so ist dies das sichere Zeichen dafür, dass es nicht um Gastrosophie geht, sondern um einen anderen Zweck mit dem Nebensinn der Nahrungsaufnahme (Staatsbankette, Arbeitsessen). Im Grunde: sinnliche Banauserie. Speisen und Getränke sind Nahrung, gewiss; doch zugleich sind sie das materielle Medium, durch das der Geschmackssinn allererst kultiviert wird, ein Medium, das mit seiner Sinnes-Botschaft zugleich selbst verzehrt wird. Das ist etwas Besonderes: Stellen wir uns vor, unse-
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re Rembrandts und Picassos, damit wir sie genießen können, müssten realiter ›aufgesehen‹ werden; oder ein Film, angesehen, wäre danach ein Schwarzstreifen; das gelesene Buch leer. Nun – in jedem Fall ist die gastrosophische Welt durch die Kulturgeschichte enorm ausdifferenziert worden. Welche gewaltige Veränderungen der Gastrosophie sind durch Eroberungen, interkulturelle Begegnungen, Reisen, kolonialen Handel und heute die Globalisierung ausgelöst worden – zu schweigen von binnenkulturellen Entwicklungen. Sie sind die Formen, in denen sich Ess-Kultur entwickelt hat, nicht die Massenmedien. Wie wenig sich der Geschmackssinn technisieren lässt, erkennt man nicht zuletzt daran, dass sich die Essensaufnahme über Jahrtausende hin ziemlich konstant gehalten hat: ein paar Instrumente, ein paar gestische Verfeinerungen, das ist schon alles. Man kann den Geschmackssinn durch eine Ess-Kultur ›rahmen‹, aber er setzt, wie auch der Geruchssinn, enge Grenzen für seine Technisierung und Medialisierung. Dies ist ganz anders bei Auge und Ohr. Sie sind die kulturellen Leitsinne. Dies hängt zum einen anthropologisch mit der Aufrichtung zum homo erectus zusammen, für dessen Raumorientierung Auge und Ohr wichtiger wurden als die Nase. Zum andere sind sie auch heute unsere Leitsinne, weil sich an sie technische Systeme anschließen lassen und umgekehrt. Die älteren Kulturstufen waren audiovisuell. Seit es Kulturtechniken wie Bild, Schrift und Zahl gibt, haben sich die an Auge und Ohr angeschlossenen technischen Medien stark vervielfältigt; und sie sind in ihrer kulturellen Bedeutung immer durchgreifender und umfassender geworden. Man darf sagen, dass die visuelle und akustische Verbindung zu Dingen und Umgebungen weitgehend unterbrochen, wenigstens rückläufig ist. Man kann dies durch etwas grobe Beispiele verdeutlichen: Kam es früher z. B. darauf an, in der Nacht ein gutes Unterscheidungsvermögen für die Geräusche des Dunkels zu entwickeln, so kommt es heute darauf an, die Unterschiede des akustischen Medienangebots, das durch alle möglichen Geräte vermittelt wird, wahrzunehmen. Kam es früher darauf an, einen Baumstamm im Blick auf seine Verwendbarkeit für den Hausbau abzuschätzen, den Nutzpflanzen ihr Gedeihen anzusehen, am überraschend begegnenden Fremden blitzschnell Freund- oder Feindlichkeit wahrzunehmen, so ist heute die Realwelt, in der wir uns bewegen, weitgehend visuell durchorganisiert und benötigt keine besondere Augen-Kultur, während die Sensationen des Seh-Sinns sich vor allem an technischen Geräten abspielen. Selten sind solche Menschen geworden, die durch ihre Sinnlichkeit Beziehungen zur Welt aufnehmen. Im Durchschnitt gilt: Wir sind immer schon eingetreten in eine produzierte Mannigfaltigkeit von Sinnesreizen, die ›objektiv‹ da und nicht etwa unsere sind. Umgekehrt bedienen sich die vorgefertigten Reize unsere
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Sinne, um sich in ihnen zu realisieren – nicht selten, dass wir dafür auch noch Geld bezahlen. Wir betreten nämlich nicht nur ein Kino, sondern eine raumfüllende Welt von Sinnesreizen, die uns das Schema ihres Wahrgenommenwerdens vorgeben. Die sinnliche Intensität, mit der man dadurch optisch-akustisch teilhat an fremden Personen, Orten, Situationen, Handlungen, Lebensstilen, Konflikten, Leidenschaften und Gewaltsamkeiten (ob real oder fiktiv, ist gleichgültig), – diese Intensität der Partizipation ist historisch einzigartig. Durchaus aber, und das treibt das kulturkritische Lamento seit 1900 an, ist die mediale und technische Kolonisierung der Sinne mit ihrer Standardisierung verbunden. Nicht nur das: Man beklagt den Verlust der gegenständlichen Nähe und materiellen Verwicklung; immer seltener werde die situative Konkretheit von Wahrnehmungen und die Individualität des sinnlichen Stils. Wer könnte noch an einer Landschaft anderes sehen, als was die Kunst oder die Fotografie präformiert hat? Wer anderes hören, als was die großen AudioKonzerne uns als musikalischen Standard verordnen? Dem sei, wie es wolle. Sicher ist, dass wir uns seit einem Jahrhundert in einer Dauer-Revolution der technisch produzierten sinnlichen Welt befinden – und kein Ende ist abzusehen. Das hat zu einer Krise dessen geführt, was einmal die ›Natur‹ der Sinne hieß. Doch darin drückt sich ein langwelliger Trend aus. Vergessen wir nicht, dass bereits die Antike, so sehr sie eine »Kultur des Augenscheins« war, mit der fundamentalen Kritik der Sinne auch deren Krise eingeleitet hat. Das Christentum hat von Beginn an die Sinne diszipliniert, wenn nicht unterdrückt. In gewisser Hinsicht musste in der Frühneuzeit das Sehen neu erfunden, das Hören, das bisher das Medium des Gehorsams war, neu gelernt werden. So skeptisch die Geschichte der Sinne beurteilt werden mag: sicher ist, dass die an die Sinne geknüpften Lüste nicht einen Grad nachgelassen haben – Kritik hin, Medientechnik her. So sehr die Sinne verführbar und kulturtechnisch modellierbar sind – sie haben sich zugleich als außerordentlich resistent, robust und konservativ erwiesen. So muss man um die Zukunft der Sinne nicht fürchten.
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Lotto
In diesem Buch ist siebenmal das Wort ›Lotto‹ versteckt. Notieren Sie die Seitenzahlen und füllen Sie einen Lottoschein aus. Warten Sie bis zum nächsten Mittwoch. Mit diesem Verfahren sollten Sie eigentlich immer gewinnen. Ab dem 15. Jahrhundert finden sich einzelne Spuren von größeren öffentlichen Verlosungen: In Venedig verlosten Kaufleute unverkäufliche Waren, in Genua wurden fünf Senatoren durch ein Losverfahren aus neunzig Kandidaten ausgewählt, aus Augsburg gibt es ab 1470 Belege für tombolaartige Glückshäfen, die auf jährlichen Messen stattfanden. Im 16. Jahrhundert entwickelten sich dann in England und Frankreich frühe staatliche Lotterien mit festgelegtem Prozedere, etwa um Geld für den Neubau von Kirchen zu sammeln. Teilnehmer konnten sich zunächst gegen eine Gebühr mit Namen und einem Glücksspruch registrieren lassen. Bei der Z i e h u n g wurde dann zuerst aus einem Behälter ein Zettel g e z o g e n und der darauf notierte Glücksspruch vorgelesen: Der Verfasser wusste nun, dass sein großer Augenblick gekommen war. Im zweiten Schritt konnte aus einem anderen Behälter der Hauptgewinn g e z o g e werden – oft war es wieder bloß ein leerer Zettel. Auf diese Art fuhr man fort, bis alle Teilnehmer ihre Chance gehabt und damit auch alle Preise vergeben waren. Das konnte unter Umständen Tage dauern und festliche Ausmaße annehmen. Als ›Lotto‹ durchsetzen sollte sich hingegen jene Spielart, die ab 1610 aus der genuesischen Senatorenauslosung hervorging. Hier wurde es üblich, auf den Ausgang der Wahl Wetten abzuschließen, was schnell so beliebt wurde, dass man bald den Anlass der Senatorenwahl nicht mehr brauchte. Aus einem rotierenden Behälter wurden nummerierte Kugeln gezogen, aus deren Kombination sich nun statt der Staatsämter satte Gewinne für diejenigen ergaben, die richtig getippt hatten. Das Neue am lotto genuese war ein Einstellungswandel gegenüber dem Zufall. Hier wurde Fortuna nicht mehr um personale Entscheidung gebeten, sondern auf den Verlauf weltlicher Geschäfte spekuliert. Meist zahlte sich die Spekulation für die Veranstalter aus; selten nur traf ein großer Gewinn einen Spieler. Trotzdem wurde Europa rasch vom Lottofieber ergriffen. Die Aussicht auf unerhörten Reichtum zu einer Zeit, in der sich die soziale Durchlässigkeit der Gesellschaft zwar erhöhte, ein Aufstieg aber für die meisten ganz und gar unmöglich blieb, war schlicht betörend.
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BLICKSCHRANKEN Zum Verhältnis von Experiment und Spiel im 17. Jahrhundert HELMAR SCHRAMM Eine Spielkarte ist eine Spielkarte ist eine Spielkarte. Vorderseite, Rückseite, kein Dazwischen. Gebrauchswert, Tauschwert, Spielwert. Blindness and Insight, dazwischen beredtes Schweigen. Verborgene Zahl, maskiertes Bild, geheimes Wort. Jede Karte kein Fingerzeig. Wegweiser und Blendmarke. Möglich auch die ganz andere Herausforderung: Entkräftung, Verwerfung der Karte als Karte. Durchspielen neuer Regeln, Kreation neuer Sichten, Griffe, Sprachen. Stets sind beim Spiel auch ganz andere, nie zuvor erprobte Spiele im Spiel. Hier nun ein kurzer Vortrag, ein Gesprächsspiel, keine übliche Mischung der Karten. Dafür drei skurrile Karten-Mischwesen. Einerseits Spielkartenmotiv, andererseits motivierendes Zitat. Spielregel, Auftrag, vorgegebene Setzung: Der Autor ist autorisiert, sich für eine der drei Karten und somit für ein Eröffnungsbild, ein inspirierendes Zitat zu entscheiden. Ich nehme das Spiel an, indem ich aufs Recht der Entscheidung verzichte. Beginne stattdessen mit einem anderen Dreh, einem Kartentrick. Das Publikum kann die Karte ziehen – es wird genau die richtige sein. Es ist die Don-Quichotte-Karte.
»›Was für Riesen?‹ fragte Sancho Pansa. ›Die du dort siehst‹, erwiderte sein Herr, ›die mit den langen Armen. Denn manche sind an die 2 Meilen lang.‹ ›Gebt nur acht, gestrenger Herr, was Ihr tut. Denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen. Und was Ihr für die Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.‹ ›Da sieht man‹, sprach Don Quichotte, ›wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete ein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen.‹«
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Ein seltsamer Augenblick wird da heraufbeschworen, eine irritierende Situation, in der ein scheinbar deutlich erkennbares Phänomen von zwei Personen – ihres Zeichens Abenteurer, Wanderer, Spieler – völlig gegensätzlich beurteilt, ja, offenbar sogar ganz unterschiedlich gesehen wird. Die Positionen der beiden Figuren scheinen geradezu durch eine gespenstische Wand gegeneinander abgeschottet. Und folglich können sie einander im wahrsten Sinne des Wortes nicht verstehen. Zwischen ihnen ist da etwas unheimlich Fremdes, etwas Hermetisches, das gleichermaßen als entfesselter Wahnsinn wie auch als Symptom eines grundverschiedenen In-der-Welt-Seins deutbar ist. Ähnlich massive Blickschranken finden wir auch in einem spektakulären Drama, das Joseph Furttenbach 1663 in seinem Mannhaften Kunstspiegel vorstellt. In mehreren Akten wird da ein dramatisches Geschehen präsentiert, das einerseits die Aufmerksamkeit eines festlichen Publikums, andererseits die Beobachtungskunst aktiv beteiligter Organisatoren, Darsteller, Funktionsträger bewusst auf grundverschiedene Zeichensysteme und Handlungsketten fixieren soll. Der Unterschied des jeweils Wahrgenommenen, der jeweils ernst genommenen Wahrnehmung, ist so gravierend, dass man im Grunde von zwei einander gänzlich fremden performativen Räumen, Zeichenordnungen, Ereignisformen sprechen muss, die da geschickt und absichtsvoll ineinander gewirkt worden sind. Das Publikum erlebt eine einfache, klar strukturierte Handlung, die sich im Rahmen eines fulminanten Feuerwerks voller überraschender Wunder und Knalleffekte abspielt. Der Verlauf des dramatischen Geschehens, die erzählte Geschichte, das Tun und Treiben der Figuren – all dies soll die Zuschauer ablenkend fesseln, um den Zauber des Feuerwerks überhaupt in einer Kette aufscheinender Plötzlichkeiten pointiert, effektiv, überraschend zur Geltung zu bringen. Aus völlig anderer Perspektive, eben aus Sicht der Pyrotechniker und Hilfskräfte, geht es dagegen um Verborgenes, um sichtbar Unsichtbares, nämlich um ein Signalsystem, das den einwandfreien Ablauf der Veranstaltung garantieren soll. In diesem Sinne ist folglich das Handlungsgeschehen gleichsam mit einer Schicht funktionaler Zeichen überzogen, die zwar von den Zuschauern durchaus gesehen, nicht aber als solche ernst genommen, geschweige denn verstanden werden können. Der pyrotechnische Meister spielt sozusagen ganz offen seine Trümpfe aus, lässt sich dabei jedoch nie in die Karten schauen. Derlei Fälle radikaler Blickschranken – einerseits wie aus dämonischer Krankheit des Geistes und der Sinne emporwachsend, andererseits fungierend als notwendige Abgrenzung funktionaler Beobachtungsfelder – deuten auf wichtige kulturelle Entwicklungen hin, verweisen auf typische Veränderungen der Dispositionen von Wahrnehmung und Sprache im 17. Jahrhundert, verbinden sich mit dem Aufkommen völlig neuer
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Theorien und Praktiken des Wissens, insbesondere auch mit der Herausbildung neuer Experimentalkünste. Denn nirgendwo treten uns Strategien und Techniken, treten uns geistige, räumliche und materiale Zurichtungen, treten uns Instrumente und Versuchsanordnungen zur systematischen Kultivierung solcher Blickschranken offener entgegen als auf Feldern der sich allmählich konstituierenden experimentellen Wissenschaften. Gerade die Verbindung der Laboratorien, Versuchsanordnungen und Experimentalpraktiken mit dem Riesenkomplex der Feuerwerke deutet auf ein bemerkenswertes Verhältnis von Experiment und Spiel hin, dessen theoretische Bedeutung weit über den Horizont des 17. Jahrhunderts hinauszuweisen vermag. Dabei erwächst die symptomatische Sonderstellung des Feuerwerks nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sich in seinem Rahmen entscheidende Dimensionen von Ernst und Spiel gleichsam zwingend ineinander spiegeln, und zwar als strahlendes Schauwerk theatraler Lust und flammendes Schauspiel des Krieges. Denn das Feuerwerk ist auf der einen Seite mit jener Spielkultur verbunden, die sich berauscht und erschöpft im Taumel der höfischen Feste, dem Prunk demonstrativer Verschwendung und dem zweckfreien Genuss aller Ressourcen, auf der anderen Seite verbindet es sich jedoch mit dem allergrößten und tiefsten Ernst, geht es doch in speziellen Laboratorien vorrangig darum, immer neue, überraschende Feuer-Waffen zu entwickeln und damit die Logistik der Kriegsführung buchstäblich auf weit reichende Weise umzuwälzen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich der Begriff ›Artillerie‹ gegen Ende des 17. Jahrhunderts über Europa. Aber nicht allein im Lichte des Feuerwerks verdient das Verhältnis von Experiment und Spiel unsere Aufmerksamkeit. In letzter Konsequenz wäre vielleicht sogar eine Archäologie des Experiments denkbar als Geschichte von Spielen. Um historische Momentaufnahmen des Experimentierens ginge es dabei, verbunden mit einer systematischen Infragestellung kulturprägender Blickschranken, wie sie sich etwa zwischen Wissenschaft und Kunst erheben. Dazu hier nur ein paar Anhaltspunkte. Zunächst ist auf performative Seiten des Experimentierens zu verweisen, auf Darstellungsmomente, die sich unter anderen Vorzeichen auch in weiten Bereichen der zeittypischen Spielkultur, in den Künsten und vor allem im Theater offenbaren. Hinzu kommt die gezielte Intensivierung von Wahrnehmung auf Grundlage scharfer Eingrenzungen. Neue instrumentelle Sichtfelder, methodische Grenzbefestigungen, Landvermessungsmarken, Rahmen, Vorhänge – Blickschranken als Bedingung für die Hegung, die Konzentration von Aufmerksamkeit. Vor allem aber verdient die weit verbreitete Spielregel der Modellübertragung Beachtung: Offenlegen der Spielkarte, Drehung der Münze, Ent-
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fesselung des Augen-Blicks und des Gedankens – willkommener Einbruch, Einfall des Neuen, Geburt des Einfalls. Robert Hooke, der seinerzeit die Royal Society wieder und wieder durch neue experimentelle Entdeckungen zu verblüffen weiß, hat in seinen Aufzeichnungen ausdrücklich das methodische Prinzip der Modellübertragung hervorgehoben. Geht es einerseits darum, in den Wunderwerken der Natur nützliche Verfahren und Techniken zu entdecken, so bilden umgekehrt Erfindungen und Versuchsanordnungen einen originären Deutungsrahmen für Natur. In diesem Sinne wird beispielsweise die Luftpumpe in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum zentralen Bezugspunkt eines weit gespannten Kreises experimenteller Neugier, der die Wunder des Vakuums ebenso einschließt wie astronomische Beobachtungen oder die schwere Atmung im kunstvoll geöffneten Brustkorb sterbender Hunde. Stets geht es prinzipiell darum, im Windschatten gesicherter Modelle vorzudringen in unheimliche Gefilde des Neuen. Aus Aufzeichnungen der Feuerwerkslaboratorien lässt sich eindrucksvoll ablesen, wie etwa Modelle aus dem Bereich der festlichen Spielkultur gezielt übertragen werden in kriegspraktische Übungen, wie Elemente der Unterhaltungskunst und Techniken der bösartigsten Kriegsführung, vom Gaskrieg bis zu raffinierten Splittergranaten, kommentarlos ineinander transformiert und im neuen Kontext, im Gefüge neuer Spielregeln höchst überraschend perfektioniert werden. Neben den bislang skizzierten Aspekten des Performativen, der Hegung von Aufmerksamkeit und der Modellübertragung ist schließlich als weiterer, grundsätzlich wichtiger Anhaltspunkt das Prinzip der Wiederholung zu betonen. Genauer gesagt, ein Prinzip, eine Spielregel der Wiederholung bei gleichzeitiger Tendenz zur Variation. Wieder anders gesagt: eine Dynamik von Differenz und Wiederholung. Ist diese Konstellation für die Entwicklung europäischer Philosophie und Wissenschaft durchgehend von größter Bedeutung, so lassen sich – bezogen auf unterschiedliche Zeiträume – doch sehr prägnante Akzentverschiebungen ausmachen. Mit Blick auf das 17. Jahrhundert wären dabei wohl eher Momente der Differenz, der Unterscheidung, der Schranke von höchster Wichtigkeit, während dagegen etwa im 19. Jahrhundert entscheidende Problematisierungen gerade vom Prinzip der Wiederholung inspiriert werden. Nur am Rande sei hier auf Kierkegaards tiefsinnige Bemerkung verwiesen, die Wiederholung wäre der neue Begriff, die neue Kategorie des 19. Jahrhunderts, die man lernen solle zu begreifen. Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt für das Verhältnis von Experiment und Spiel liegt schließlich im Gestus, in den Regeln, den Verfahren und Praktiken des Framing, der Begrenzung, der kultivierten Schranke. Kein Spiel ohne Grenzen, kein Experiment ohne begrenzende Spielre-
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geln. Von daher ist es interessant, dass diese Tendenz im 17. Jahrhundert nicht bloß in Laboratorien zu finden ist, sondern buchstäblich in allen Bereichen der Kultur. So kann man erahnen, inwiefern sich soziale und politische Mikrobereiche bilden, in denen Spiel und Experiment, auch bezogen auf die Stilisierung von Verhaltenspraktiken wirksam werden. Die gesamte Verhaltensökonomie der Zeit ist tatsächlich in erheblichem Maße von repräsentativen Regeln des Framing und habitualisierten Blickschranken determiniert. In aller Deutlichkeit tritt dies etwa zutage in jenem Konzept der Zerstreuungskunst, das uns im Nachlass Blaise Pascals überliefert worden ist. Wie bewertet Pascal da eine Kultur der immer weiter fortschreitenden Fragmentierung? Und wie steht er zur feinsinnigen Kultivierung immer neuer Blickschranken? Zerstreuungskunst ist für ihn zunächst einmal etwas, das zu tun hat mit Unterhaltung, Zeitvertreib, bewusster Ausblendung und Verdrängung der enormen Folgen solcher Grenzerfahrungen der Zerrissenheit und Fragmentierung. Das ist die eine Seite. Die andere Seite seines Zeit-Bildes aber besteht darin, die Gesamtheit menschlicher Berufstätigkeiten unter dem Begriff der Zerstreuung zu sammeln. Alle Berufe – und er zählt sie auch konkret im einzelnen auf – lassen sich für ihn dem Begriff der Zerstreuung subsumieren, der somit selber wie eine rätselhafte Spielkarte wirkt, auf einer Seite geschmückt mit den spielerischen Insignien lustvollen Zeitvertreibs, deren Erscheinungsbild jedoch umschlägt in des Lebens vollen Ernst, sobald sich das Blatt einmal wendet. So gesehen ist es denn auch verständlich, wenn Leibniz den gleichermaßen verblüffenden wie durchdachten Vorschlag unterbreitet, ein geschickter Mathematiker möge doch einmal versuchen, alle umlaufenden Spiele zu sammeln und zu katalogisieren. Denn in den Spielen würden sich die Feinheiten menschlicher Verhaltensweisen und die Kraft des menschlichen Geistes sehr viel klarer offenbaren als in allen anderen Bereichen menschlichen Tätigseins. Bemerkenswert ist daran zum einen die Überzeugung, mit unbestechlicher, mathematischer Genauigkeit lasse sich die schwer überschaubare, trügerische Vielfalt der Spiele durchschauen und systematisieren. Zum anderen geht es ihm darum, aus den Spielen ein nützliches, verwertbares Element herauszufiltern und es sodann einem besseren Zweck, nämlich der Welt des Experiments und der Erfindungskunst zuzuführen. Produktivität soll also aus jener Sphäre, in der sie sich durch unmittelbare Vernetzung mit menschlicher Lust, mit Vergnügen und Genuss besonders stark entfaltet, übertragen werden in eine andere, die größeren Nutzen verspricht. Diese Position haftet nicht nur zufällig einer vereinzelten Äußerung an, sie lässt sich vielmehr in subtiler Ausdifferenzierung bei Leibniz nachweisen. Immer wieder wird spielerisches Tun quasi vom sinnlichen Moment des Genusses ent-
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koppelt. Nützlich und übernehmbar sind nurmehr gewisse Spielregeln, und zwar als Effektivierungsmodelle. Bei seinem Nachdenken über Produktivität geht es Leibniz primär um geistige Tätigkeit, und folglich muss sich sein rationalistisch gebrochenes Spielverständnis vor allem auch im Bereich der Sprachkonzeption, der als Werkzeug der Erkenntnisarbeit verstandenen Sprache auswirken. Bezeichnend dafür sind seine Überlegungen zum Entwurf einer künstlichen Universalsprache. Naturwüchsige Schnörkel, Fehlentwicklungen und Ausbuchtungen, alle Unberechenbarkeit und metaphorischer Doppelsinn sollen als Quelle zeitverschwenderischer Mißverständnisse getilgt werden. Eigensinnigen Wort-Spielen gelte es, den Boden zu entziehen, Streitereien um theoretische, politische und ökonomische Fragen wären auf solcher Grundlage zu beenden mit einem Abdelegieren der offenen Fragen in den Bereich der mathematischen Berechnung. Man kann hier an einem exemplarischen Fall erahnen, wie gleichsam hinter dem Rücken der großen Denker, strategischen Köpfe, Projektemacher, Erfinder und Experimentatoren absurde Blickschranken herauf wachsen, die spontan und unbeherrschbar den Prozess des Fragens, Suchens und der Wissensakkumulation begleiten. Sehen wir das Verhältnis von Spiel und Experiment bei Leibniz insbesondere im Bereich der Sprache gänzlich in den Dienst einer durchgreifenden methodischen Rationalisierung gestellt, so kontrastiert diesem Ansatz die etwa fünfzig Jahre später von Giambattista Vico bezogene Position in aller Deutlichkeit. Worum geht es in Vicos Scienza Nuova, an der er über zwanzig Jahre gearbeitet hat, bevor das Werk 1744 in dritter Fassung erscheinen kann? Von Bacons Novum organum bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft spannt sich ein Bogen groß angelegter Systematisierungsversuche menschlichen Wissens, die sich immer wieder als überfälliger Neuanfang begreifen, als kopernikanische Wenden. Unter all diesen Versuchen aber ragt Vico heraus, weil sich bei ihm die kritische Reflektion von Blickschranken des Wissens untrennbar mit dem ersten tiefgründigen Entwurf einer Kulturgeschichte verbindet, in die er seine Sicht auf das Verhältnis von Experiment und Spiel einbettet. Bildlich gesprochen ist dem Text gewissermaßen eine Spielkarte vorangestellt, ein Kupferstich, dessen inszenierter Bildraum ganz und gar von spektakulärer Theatralik durchwaltet scheint. Auf unsicherem Grund eines Globus, dessen Absturz von der Kante eines Altarsockels nach allen bekannten Gesetzen des freien Falls jederzeit möglich wäre, balanciert eine Frau mit geflügelten Schläfen in ekstatischer Haltung. Fast scheint sie sich mit einer Hand abstützen zu wollen an der trügerischen Stabilität des rechten Bildrahmens, während ihr Blick fixiert ist auf ein gött-
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liches Auge in strahlendem Dreieck, dessen Licht düsteres Gewölk verdrängt. Im Vordergrund die marmorne Statue eines Denkers in kontemplativer Haltung und ein ganzes Arsenal symbolträchtiger Requisiten. Die Frau verkörpert die Metaphysik, die Weltkugel das Reich der Natur, die Statue Homers den mythologischen Grund unseres Wissens über die Anfänge des Wissens. Beherrscht aber wird die gesamte Bildstruktur durch die geometrische Brechung eines einzigen, kräftigen Lichtstrahls, der als unübersehbare Spur wahrer Erkenntnis das Auge der Vorsehung, die Metaphysik und Homer verbindet. Fast vierzig Seiten widmet Vico der andeutenden Ausdeutung dieser Szenerie, die dem Leser behilflich sein soll, die Idee des Werkes noch vor der Lektüre auf einen Blick zu erfassen und sie auch leichter in Erinnerung zu rufen. Die hier in der Konstellation von Bild und Text aufscheinende Wichtigkeit spielerischer Phantasie verweist direkt auf den Kern des Werkes: Poesie, Imagination, Phantasie werden darin als Urgrund menschlichen Wissens behauptet. Die weit reichenden Folgen lassen sich allein schon aus dem bloßen Auftauchen von Begriffen wie poetische Metaphysik, poetische Logik, poetische Politik oder poetische Physik erahnen. Mit dieser Position steht Vico auf provozierende Weise jener mächtigen Tendenz entgegen, die sich seit Descartes anschickt, den Raum des Wissens auf geometrisch-philosophischer Grundlage im Zeichen einer methodischen Rationalisierung neu zu kartographieren und zu umschranken. Auch für Vico sind Grenzen wichtig, aber sie haben im Zeichen einer doppelten Dynamik von Imagination und Geschichtsprozess eine völlig andere Qualität, markieren gleichsam Orte der Berührung, des Überganges, des Zusammenspiels eines Ganzen der Kultur. Vor diesem Hintergrund muss natürlich auch das Verhältnis von Experiment und Spiel in neuem Licht erscheinen. Das Experiment und die damit verbundene induktive Methode hat aus Vicos Sicht eine sehr wichtige Funktion in der Naturforschung inne. Hier sieht er allerdings einen gravierenden Kontrast zur cartesianischen Methode, die seiner Meinung nach die Geister zwar spitzfindig macht, aber nicht wirklich schärft. Eine Modellübertragung methodischer Grundzüge des naturwissenschaftlichen Experiments auf die Erforschung menschlicher Kultur ist ihm vor allem dadurch möglich, dass sein erkenntnistheoretischer Ansatz wesentlich auf einem verum-factum-Prinzip beruht: sicheres Wissen könne es nur über solche Erkenntnisgegenstände geben, die auch von Menschen selber hergestellt worden sind, wie etwa die ständig produzierte und reproduzierte Geschichte der Kultur. Es ist schon paradox: So sehr diese These auch darauf zielt, den Geltungsanspruch exakter Naturforschung zu relativieren, so sehr bestätigt sie andererseits gerade das entscheidende
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Kriterium naturwissenschaftlichen Experimentierens gegenüber der bloßen Beobachtung: Forschungsgegenstand und Beobachtungsrahmen sind ja im Falle des Experiments stets vom Beobachter selbst gesetzt und kontrolliert. Viele konkrete methodische Züge des Experimentierens lassen sich im Text der Scienza Nuova bemerken. Zu nennen wäre diesbezüglich insbesondere eine auffällige Fülle von Eingrenzungstechniken und Rahmensetzungen, immer wieder wird gleichsam versucht, größere Prozesse in nuce einzufangen, eine Tendenz, die ja schon in der Deutung des Eingangsbildes aufblitzt. Da werden exemplarische Fälle und zahllose Beispiele dargeboten und über das Netzwerk eines komplexen Verweissystems miteinander verknüpft. Da wird immer wieder ein intensives Zusammenwirken von Beobachtungs- und Deutungsstrategie erkennbar. Und auch die zahlreichen Wiederholungen implizieren einen ausgeprägten Gestus des Experimentierens, der Auswertung, Ausdeutung von Beobachtungsserien. Worin besteht nun aber eigentlich das Material, an dessen experimenteller Ausdeutung sich Vico versucht? Nun, sein Material ist die Sprache, sind die vielen geistigen Wörterbücher, in denen Kulturgeschichte lagert, sind die Wortspiele, Sinnsprüche und Gleichnisse als Speicher historischer Formen der Imagination, sind die Systeme dinghafter, bildhafter, stummer Zeichen, sind die Wörter als Bildarchive und Instanzen begrifflicher Rationalität. Und daher heißt das Laboratorium seiner Experimentierkunst, und daher heißt das Legitimationszentrum seiner Neuen Wissenschaft: Philologie. Indem sich nun aber seine ganze Aufmerksamkeit im Medium der Sprache auf den Prozess der Imagination richtet, der in seiner dynamischen Ambivalenz alle Bereiche der Kultur durchwirkt und deren unauftrennbare Verbundenheit stiftet, indem er auf diese Weise im buchstäblichen Sinne des Wortes zur Vielschichtigkeit realer Sprachprozesse vordringt, macht er Entdeckungen von ungeheurer Reichweite, die in gewissem Sinne erst 200 Jahre nach ihm auf den Begriff gebracht werden. Auf den Begriff der ›Sprachspiele‹ nämlich von Wittgenstein. Ein Zusammendenken von Wittgensteins Konzept der Sprachspiele mit Vicos Philologie der Imagination könnte m. E. vor dem Hintergrund medienhistorischer Fragestellungen höchst aufschlussreiche Resultate erbringen. Neben dem praktizierten Konzept des Experiments taucht also direkt im methodischen Bewegungszentrum der Neuen Wissenschaft ein anderer Begriff auf, und zwar der des Spiels. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass Formen des Spielens auch vielfach ganz explizit thematisiert werden, wobei dem Spiel von Kindern besondere Beachtung zuteil wird, wegen einer vermuteten Analogie biographischer und historischer Chronologie.
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Worauf es mir jedoch an dieser Stelle besonders ankommt, ist Folgendes: In der Scienza Nuova tritt die tiefe Wesensverwandtschaft von Experiment und Spiel auf eindrucksvolle Weise aus einem weit gespannten Lektürefeld hervor. Und genau darin liegt ein Schlüssel für das Verständnis jener nie wirklich abreißenden Beziehung zwischen Wissenschaften und Künsten, um die es hier eigentlich geht. Festzuhalten wäre an dieser Stelle noch einmal die dem Verhältnis von Experiment und Spiel innewohnende Notwendigkeit einer systematischen Kultivierung funktionaler Grenzen und Blickschranken. Aber die gewohnten räumlichen und apparativen Bedingungen im Laboratorium, die streng funktionalen Ordnungen zweckmäßiger Handlungsabläufe, die hochkultivierten Techniken der Beobachtung, Aufzeichnung und Speicherung von Ergebnissen sowie die gängigen Spielregeln disziplinärer Diskurse garantieren nicht nur effektiven Erkenntnisgewinn, sie können sich auch als spontan heranwachsende, mächtige Blickschranken im Schatten der Gewohnheit erweisen. Solche Blickschranken hängen gleichermaßen mit anthropologischen wie auch technisch-instrumentellen, sozialen und politischen Gegebenheiten der Wahrnehmung und der körperlichen Bewegung, der Sprache und des Denkens zusammen. Als notwendige Sekundäreffekte wohnen sie dem Aufbau jeglicher Kultur inne, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie äußerst schwer zu identifizieren sind, ja eigentlich überhaupt nur im Zeichen ereignishafter Brüche ihre ganze Komplexität aufscheinen lassen. Zweifellos gibt es gut funktionierende kulturelle Gefüge (als Wissenschaft, Kunst, Politik und Lebensstil), die regelrecht taub und blind machen. Nicht zuletzt daher erklärt sich im Gegenzug eine starke Affinität avancierter Künstler zu Strategien der Störung, der Unterbrechung, der Dissonanz und der bewussten Umkehr gewöhnlicher Perspektiven. Wenn etwa für Marcel Duchamp der Staub auf einem Objekt zum eigentlich interessierenden Beobachtungs- und Zuchtobjekt wird, wenn Nam June Paik im Rauschen eines Radioapparats der Selbstpräsenz des Mediums nachlauscht, wenn Joseph Beuys seine Energie auf das Geheimnis von Materialien richtet, so geht es dabei im Grunde stets um eine radikale Verfremdung der Beobachtungssituation. So gesehen ließe sich die Avantgarde-Bewegung des 20. Jahrhunderts aus heutiger Perspektive, unter ausdrücklichem Bezug auf wissensarchäologische Spuren, vielleicht als groß angelegte Experimentalanordnung beschreiben, gerichtet auf die radikale Infragestellung kulturprägender Blickschranken in Kunst, Politik, Wissenschaft und Alltagsleben. Genau dieser konzeptionelle Kern bleibt anschlußfähig und verweist, jenseits aller verebbten Skandale, Utopien und Illusionen, auf die Dringlichkeit
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eines noch ausstehenden Projekts, die ambivalente Architektonik kultureller Grenzen in ihrer ganzen Dynamik zu untersuchen.
Zum Schluss noch einmal zurück zum Anfang. Zum ›Kartentrick‹. Wieso wurde eigentlich genau die Richtige gezogen? Glücks- und Risikospiel? Wenn nur drei Karten vorhanden sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch? Scheinerklärung. Der wahre Grund – zwei grundverschiedene Auffassungen von Wissenschaft. Die eine behauptet: Wenn ein Text sinnvoll und konsequent sein soll, ist es unmöglich, ihn beliebig anzufangen. Dagegen aber dies: Der Satz mit dem ich anfange, spielt als solcher überhaupt keine entscheidende Rolle. Ich kann etwas setzen, voraus setzen, um dann ganz anderes dagegenzustellen und gerade aus dieser Spannung etwas zu entwickeln. Insofern wäre es möglich gewesen, am Anfang auch auf die anderen beiden Zitate zu bauen. Das alles ist von Interesse, um über die spielerische Konstruktion von Texten nachzudenken und die verschiedenen Weisen ihrer Inszenierung zu diskutieren.
Lucky Letters 163
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Die frühesten Belege des Rutengangs, bei dem ein gegabelter Ast als Detektionsinstrument auf der Suche nach Erzen verwendet wurde, stammen aus dem 15. Jahrhundert. In der Folgezeit suchte man jedoch nicht nur nach Unterirdischem, sondern verwendete Wünschelruten auch zur Bestimmung von Schuldigen in Kriminalfällen und zur Diagnose von Krankheiten – ein für das mittelalterliche Verständnis der Welt als Fülle von offenen und verborgenen Ähnlichkeitssystemen durchaus verständliches Verfahren. Wesentlich älter als die Wünschelrute ist das Pendel, welches schon im antiken Rom zur Schicksalsbefragung verwendet wurde. Wie die Wünschelrute ist das Pendel ein Gegenstand, dessen Bewegung äußeren, den menschlichen Sinnesorganen verborgenen Kräften zugeschrieben wird. So war es insbesondere die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die, beeinflusst von der Entdeckung zahlreicher unsichtbarer Kräfte wie Magnetismus oder Elektrizität, das Phänomen in den Blick zu nehmen begann. Sowohl Wünschelrute wie Pendel erwiesen sich dabei als erstaunlich resistente Objekte, die offenbar bis heute in der Lage sind, Erfahrungen zu ermöglichen, die esoterische Anhängerschaften befördern. Dem Ausbleiben eines wissenschaftlichen Beweises steht dabei stets das Argument gegenüber, dass sich das Nichtvorhandensein einer Beziehung ebenso schwer experimentell nachweisen lässt. Ohnehin ist Rutengehen oder Pendeln nichts für Unerfahrene. Dieses besondere Spiel können vielleicht nur Auserwählte spielen.
SPIEL Mimesis und Imagination, Gesellschaft und Performativität CHRISTOPH WULF »›Was für Riesen?‹ fragte Sancho Pansa. ›Die du dort siehst,‹ erwiderte sein Herr, ›die mit den langen Armen, denn manche haben ihrer, die sind an die zwei Meilen lang.‹ ›Gebt wohl acht, gestrenger Herr, was Ihr tut, denn was wir dort sehen, das sind keine Riesen, sondern Windmühlen, und was Ihr für die Arme haltet, das sind die Flügel, die den Mühlstein treiben, wenn der Wind sie dreht.‹ ›Da sieht man‹, sprach Don Quixote, ›wie schlecht du dich auf Abenteuer dieser Art verstehst. Und kommt dich etwa Furcht an, so hebe dich hinweg und bete dein Vaterunser, dieweil ich hingehe, um den kühnen, wenn auch ungleichen Kampf zu bestehen‹« (Cervantes 1975/1837: 112).
Dass Imagination bereits bei der Wahrnehmung eine Rolle spielt, ist bekannt. Wir würden nichts sehen, nichts in uns aufnehmen können, wenn nicht die Einbildungskraft die Außenwelt in Bilder und Vorstellungen transformieren würde. Diese Prozesse sind historisch und kulturell normiert. Sancho Pansa bietet dafür ein gutes Beispiel. Natürlich handelt es sich um Windmühlen, deren Flügel eine allen Menschen dieser Region bekannte Funktion und ein entsprechendes Aussehen haben. So ist auch unsere Wahrnehmung der Welt, so unterschiedlich sie von Mensch zu Mensch ist, historisch und kulturell kodiert. Dadurch ist bei aller Differenz Verständigung möglich. Gegen diese gebräuchliche Sicht der Welt erhebt Don Quixote Einspruch. An die Stelle der Windmühlen setzt er Riesen, an die Stelle der Windmühlenflügel die langen Arme der Riesen, an die Stelle einer zielgerichteten Reise Abenteuer und einen »kühnen, wenn auch ungleichen Kampf«, den es zu bestehen gilt. Möglich wird dies durch die Welt erzeugende Kraft der Phantasie. Sie bringt eine andere Welt zur Erscheinung und transformiert die Welt der realen Dinge in eine Welt der Abenteuer. Es kommt zur Entwirklichung der realen Welt der Windmühlen und zur Erzeugung einer anderen Welt, der Welt der Abenteuer und der Kämp-
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fe. Dabei wird deutlich: Ohne die reale Welt des Sancho Pansas kann die Abenteuerwelt des Don Quixote nicht zustande kommen. Es bedarf einer vorgängigen realen Welt, um eine Phantasiewelt erzeugen zu können, die die reale Welt transformiert und umdeutet. In Übereinstimmung mit der Bedeutung des griechischen Wortes ›Phantasie‹ wird mit ihrer Hilfe die Abenteuer- und Spielwelt des Don Quixote zur Erscheinung gebracht; Welt ereignet sich. Als ästhetisches Ereignis ist diese Welt fiktiv und als solche für die Leser, die sich auf sie einlassen, in ihrem Imaginären als Erlebens- und Erfahrungswelt gegeben. Der Eintritt in die Welt der Fiktion und des Spiels ist nur möglich, wenn man an sie glaubt. Wer an die Welt des Spiels glaubt, kann in ihr spielen. Ohne den Glauben ist es nicht möglich, an dem Als-ob des Spiels teilzunehmen. Don Quixote betrachtet die Windmühlen, als ob sie Riesen seien. Diese Sicht des Als-ob ermöglicht es ihm, in den Kampf zu ziehen und Abenteuer zu bestehen. Mit Hilfe des Als-ob werden Raum und Zeit, also wesentliche Bedingungen des Spiels geschaffen, damit das Spiel stattfinden kann. Ohne bestimmte Räume und Zeiten sind Spielhandlungen nicht möglich. Im Spiel verdoppelt sich der Körper. Einerseits gibt es den individuellen Körper des Menschen, der in eine Spielwelt eintritt; andererseits legt sich über diesen Körper derjenige, den die Rolle des Spiels vorschreibt. Der Körper eines zehnjährigen Jungen wird im Indianerspiel zum Körper eines Indianerhäuptlings, doch nur so lange, wie das Spiel anhält und er und seine Freunde daran glauben. In dieser Verdoppelung entsteht ein Spiel-Körper, der sich nach den Regeln und Kriterien des jeweiligen Spiels bewegt, ohne dadurch in seinem Handeln wesentlich eingeschränkt zu sein. Der Junge hat also seinen Körper und den eines Indianerhäuptlings. Mit seinem Körper als Kind vollzieht er Gesten und Handlungen, von denen er annimmt, dass sie einem Häuptling gut anstünden. Wenn er durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall gezwungen wird, seine Spielwelt zu verlassen, wird er schnell darum bemüht sein, nach der Störung wieder in sie einzutauchen und seinen Körper weiterhin als verdoppelten Spielkörper zu inszenieren. Wer in der Nachfolge Buytendijks (1933), Huizingas (1981/1938) und Finks (1960) darauf besteht, dass Spiele von den Zwängen der Lebenswelt abgekoppelt sind und daher einen Raum der Freiheit und eine Möglichkeit der Entfaltung des Menschen bieten, der muss im Anschluss an Wittgenstein auch sehen, dass Spiele geregelte soziale Handlungen sind, die die gesellschaftliche Welt gestalten (Wittgenstein 1960; Gebauer
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1997). Nach Gebauers und meiner Auffassung besteht zwischen der internen Ordnung des Spiels und der Ordnung der Gesellschaft, in der es inszeniert und aufgeführt wird, ein mimetisches Verhältnis. »In Spielhandlungen zeigt sich die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft organisiert, Entscheidungen trifft, wie sie ihre Hierarchien konstruiert, Macht verteilt, wie sie Denken strukturiert« (Gebauer/Wulf 1998a: 192). Die Handlungen des Spiels nehmen Elemente und Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung auf, machen diese in der Inszenierung und Aufführung des Spiels sichtbar, verändern diese und wirken auf sie zurück. Mit Hilfe der Einbildungskraft erzeugen Spiele Spielwelten mit einer relativen Autonomie, die zugleich Bezug auf eine oder mehrere Welten außerhalb des Spiels nehmen. Wenn der oben genannte Junge Indianer spielt, dann erfolgt eine Bezugnahme auf die seinem Spiel in zeitlicher Hinsicht vorgeordnete Welt der Indianer. Das bedeutet nicht, dass die Welt des Jungen ein einfaches Abbild der Welt der Indianer ist. Die Bezugnahme ist komplexer. In ihrem Rahmen werden keine Aussagen über die Welt der Indianer getroffen. Vielmehr findet die Bezugnahme dadurch statt, dass der Junge vom Begehren getrieben, für die Dauer des Spiels Indianer zu werden, sich seinen mentalen Bildern bzw. Vorstellungen von der Welt der Indianer anähnelt. In diesem Prozess kommt die Phantasie ins Spiel. Mit ihrer Hilfe entwickelt das Kind innere Bilder von einer längst vergangenen, ihm vor allem über fiktive Texte und Filme zugänglichen Welt. Dabei geht es nicht um historisch exakte Vorstellungen, sondern um die Erzeugung von Bildern, in denen sich sein Begehren manifestiert, seine Alltagswelt zu verlassen und im Rahmen des Spiels ein Anderer zu werden. Bestimmte Gesten und Requisiten wie das Rauchen der Friedenspfeife oder das Tragen eines Federkopfschmuckes sind Mittel für diese Transformation. Mit Hilfe ritueller Handlungen gelingt der ›Identitätswechsel‹. Erzeugt wird er durch den Wunsch, ein Anderer zu werden. Der Wunsch schafft Bilder eines anderen Lebens, ermöglicht die Übernahme anderer Rollen und Identitäten. Das Kind wird zu einem andere Indianer anführenden, wilden Häuptling, der den Kampf mit verfeindeten Stämmen oder mit bösen ›Bleichgesichtern‹ sucht. Seine Einbildungskraft erzeugt seine Indianerwelt, in deren Ausformung sein Verlangen nach neuen Erfahrungen gestaltet wird. Gelingt es, dieses Begehren zu leben, wird das Spiel intensiv und rauschhaft. Auf die Typologie des Spiels von Caillois bezogen (Caillois 1982), kommen Elemente von Agon, Mimikry und Ilinx zur Wirkung: im Kampf mit anderen Indianern Agon; in der Verkleidung und Angleichung an das Aussehen der Indianer Mimikry; im Rausch des Andersseins Ilinx. Das Zusammenwirken dieser durchaus heterogenen Elemente in vielen Spielen erzeugt deren Spannung und Intensität.
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In einem solchen Spiel entsteht eine paradoxe Situation: Das Kind ist der Indianerhäuptling und ist es zugleich nicht. Seine Handlungen und seine Aussagen sind die eines Häuptlings und sind es zugleich nicht. Die Behauptung, dass der Junge ein Indianerhäuptling sei, ist zutreffend und ist es zugleich nicht. Sie ist nur wahr, solange Spieler, Mitspieler und Umwelt an das Spiel und die in ihm gesetzten fiktionalen bzw. imaginären Bedingungen glauben. Im Spiel findet ein mimetischer Bezug auf vorausgehende Situationen anderer Spiele oder Welten statt. Der Glaube an das Spiel ist die Voraussetzung dafür, dass es in ihm zur Anähnlichung an imaginäre Bilder und Entwürfe kommt und eine Inszenierung und Aufführung des Spiels erfolgt. Es entsteht eine wirkliche Unwirklichkeit und mit ihr die Möglichkeit, die Grenzen des Alltagslebens zu überschreiten und neue Intensitäten zu leben und sich damit über sich selbst hinaus auszuweiten und in diesem Prozess ein Anderer zu werden. Dabei entwickelt das Indianer spielende Kind neue Gesten und Verhaltensweisen. Es lernt andere Kinder anzuführen, bei allen Gefährdungen eine unerschütterliche Haltung zu bewahren und nach spielerischen Kämpfen sich wieder zu versöhnen, um sich sodann in einer neuen Spielkonstellation wieder zu entzweien und die Kräfte zu messen. Darüber hinaus übt es seine Fähigkeit, eine imaginäre Welt zu konstruieren, in sie einzutauchen, an ihr auch gegen Widerstände festzuhalten und sie zu gestalten. Spiele sind nachgeordnete Welten, die durchaus Auswirkungen auf die Alltagswelt haben können. Clifford Geertz hat in einem viel, aber auch kontrovers diskutierten Beitrag gezeigt, dass der Hahnenkampf in Bali eine Darstellung der treibenden gesellschaftlichen Kräfte ist, »nämlich der Abhängigkeitsbeziehungen, die sich ausdrücken in gegenseitigen Verpflichtungen, im Prestige und in der ›Notwendigkeit, es zu bestätigen, zu verteidigen, zu feiern und zu rechtfertigen oder sich einfach darin zu sonnen‹« (Geertz 1983: 236). Im Hahnenkampf werden die balinesische Statushierarchie und das Netzwerk sozialer Verpflichtungen in ein Spiel transferiert, inszeniert, aufgeführt und sichtbar gemacht. In diesem Kampf kommt es zu einer Simulation der sozialen Matrix des komplizierten Systems der einander überschneidenden und überlappenden strikt kooperativen Gruppen, denen die Anhänger des Hahnenkampfes angehören. Alle Teilnehmer des Spiels glauben an diese soziale Hierarchie und an die Notwendigkeit, diese öffentlich zu zeigen, Ehre und Prestige ihrer Gruppe und Missachtung und Abwertung anderer nicht zu ihnen gehörenden Gruppen zu inszenieren und aufzuführen. Auch für ihr Handeln im Alltagsleben gel-
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ten diese Prinzipien. Im Hahnenkampf werden sie dargestellt. Im Kampf der Hähne und im leidenschaftlichen Engagement der auf die Hähne wettenden ›Teilnehmer‹ des Kampfes werden gesellschaftliche Konflikte stellvertretend inszeniert und aufgeführt; dabei erfolgt keine Imitation, sondern es wird im Hahnenkampf etwas sichtbar gemacht und differenziert dargestellt, das anderenfalls keinen Ausdruck fände. In diesem Wettkampf erfährt der Balinese völligen Triumph bzw. die vernichtende Niederlage und damit eine zentrale Dimension seiner Subjektivität. Selbst wenn man nicht jeder Deutung Geertz’ zustimmt, so hat sein Versuch, die gesellschaftliche und kulturelle Dimension des Spiels herauszuarbeiten, eine exemplarische Bedeutung. Für den Hahnenkampf wie für jedes andere Spiel gilt: Jede Inszenierung eines Spiels ist einmalig. Zwar finden Bezugnahmen auf vorherige Inszenierungen, auf gleiche oder ähnliche Spiele statt, doch unterscheidet sich jede Inszenierung durch die an ihr beteiligten Spieler, Orte und Zeitverläufe. Spiele sind repetetiv, doch niemals bloße Wiederholungen. Jedes mal inszenieren sie die Welt neu und anders. Dabei entsteht niemals dasselbe; oft bilden sich Ähnlichkeiten und Kontingenzen oder aber komplementäre Handlungen und Situationen heraus. Wie Bateson gezeigt hat, kommt es angesichts der Unterschiede zwischen Personen oder Positionen, also angesichts einer Schismogenese, entweder zu Prozessen der Angleichung der unterschiedlichen Positionen oder aber zu Prozessen der Komplementarität (vgl. Bateson 1981). In beiden Fällen handelt es sich um einen mimetischen Bezug auf den durch Unterschiedlichkeit charakterisierten Anderen, der entweder zur Anähnlichung oder zur Verstärkung der Differenz und damit zu einem komplementären Verhältnis führt. Spiele werden inszeniert und aufgeführt. Ihre Aufführungen sind performativ. Als solche sind sie körpergebunden, expressiv und ostentativ. In vielen Fällen sind sie eine Folge von Inszenierungen mentaler Bilder, die jedes Mal neu kontextualisiert werden und die die Möglichkeit bieten, innere Bilder in körperlichen Aufführungen zu manifestieren. Spiele werden erzeugt und machen etwas sichtbar. Sie ereignen sich. In ihnen werden Emotionen ausgedrückt und öffentlich gemacht. Viele Spiele haben eine demonstrative Seite. Sie bringen nicht nur etwas zur Darstellung, sie zielen darauf, dass das, was sie ausdrücken, auch gesehen wird. Dazu benötigen sie Gestaltungsfreiraum, der Unterschiede in Inszenierung und Aufführung möglich macht. Mit der ostentativen Seite von Spielen geht auch ihr expressiver Charakter einher. In einer Zeit relativ geordneter Lebensverhältnisse droht Langeweile und Spannungslosigkeit des Alltagslebens. Angesichts dieser Situation gewinnen die Erregungs- und Ausdruckskomponenten vieler Spiele eine neue Bedeu-
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tung. Im Spiel spüren sich die Individuen, entstehen Emotionen und Leidenschaften. Elias und Dunning (1986) sprechen von einem Quest for Excitement. Zu den erstrebten Momenten gesteigerten Lebens führen Spiele aufgrund ihrer Körperlichkeit und ihrer damit verbundenen Performativität. Die Performativität von Spielen umfasst folgende Aspekte: Einmal gehören zu ihr der Übergang von den imaginären Vorstellungen zur Aufführung des Spiels und die damit verbundene Erzeugung einer Spielwelt, deren Protagonisten in ihren Bewegungen aisthetisch wahrgenommen werden können. Sodann umfasst die Performativität des Spiels den historischen und kulturellen Charakter der spielerischen Inszenierung und Aufführung, der Bezüge zu anderen Spielen aufweist und der prinzipiell verständlich wird, wenn Spieler oder Zuschauer wissen, was es bedeutet zu spielen. Ferner gehört auch die symbolische Seite dazu, die den Rahmen des Spiels festlegt. Schließlich umfasst die Performativität des Spiels die Erzeugung und den Gebrauch von Regeln und anderen Spielelementen. Nur im Spiel lässt sich bestimmen, was ein Spiel ist, und dies nicht durch eine Definition, sondern durch die handelnde Aufführung des Spiels, durch das Spielen des Spiels. Wittgenstein hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Spiele nur in ihrem Gebrauch erschließen und Erläuterungen und Erklärungen nur Hilfsmittel sind. Spielen wird nur im Spiel gelernt. Zum Spiel bedarf es eines praktischen Wissens. Sprachliche Erläuterungen bieten nur unzulängliche Hilfen, spielen zu lernen. Das zum Spielen erforderliche praktische Wissen wird mimetisch erworben. Praktisches Spielwissen entsteht, wenn man sich mimetisch auf bestehende Spiele und Spielwelten bezieht, wenn man von diesen gleichsam einen Abdruck nimmt, diesen in seine Vorstellungswelt überführt und diese Vorstellungsbilder in die erforderlichen Spielbewegungen transferiert. In diesem Prozess ist eine kontinuierliche wechselseitige Abgleichung zwischen inneren Bildern, eigener Körperbewegung und äußeren Spielszenen und Spielbewegungen erforderlich. In diesem für mimetische Bewegungen charakteristischen Hin und Her entsteht das erforderliche praktische Spielwissen. Dieses ist ein Körperwissen, das zu seiner Transferierung in Inszenierungen und Aufführungen der mit dem Körper verbundenen Bewegungsphantasie bedarf. Mit dem mimetischen Erwerb eines praktischen Spielwissens findet eine Ausweitung eines Menschen im Hinblick auf den Erwerb neuer Kompetenzen statt. Indem der Spielende mit seinem Körper, seiner Sprache, seinen Gefühlen seine Version des Spiels inszeniert und darstellt, macht er sein individuelles Engagement zu einer öffentlichen für andere sichtbaren Aufführung. Im Spiel kehrt sich der Mensch nach außen und
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erweitert sein Handlungsrepertoire. Es kommt zu einer Ausweitung seiner Empfindungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die organisierenden Prinzipien des Spiels werden zu Gewissheiten, indem sie »einerseits als subjektive, innere Zustände zur unerschütterlichen Grundlage des Spiels gemacht, andererseits in der Spielaktivität veräußerlicht, objektiviert werden. Die Modelle, mit deren Hilfe unser Inneres strukturiert wird, weisen analoge organisierende Prinzipien wie die soziale Praxis auf. Spiele sind in dieser Perspektive nicht nur Mimesis der sozialen Welt, sondern auch der inneren Verarbeitung der Welt. Sie sind ein Medium zwischen dem Inneren und der Sprache über das Innere. Man kann das Zeigen des Spiels nicht explizit formulieren; daher kann es durch Sprache nicht ersetzt werden. Man kann es nur auf wiederum andere Weise zeigen, in einem weiteren Spiel« (Gebauer/Wulf 1998a: 205).
Im Spiel wird der Einzelne Teil eines umfangreichen Netzes von Beziehungen. Sein spielerisches Handeln verbindet ihn mit anderen Spielern, mit Zuschauern, mit früheren und zukünftigen Spielen. Es ist auf die materiellen Bedingungen des Spiels bezogen, auf konkrete Räume und Zeitverläufe. In Bezug auf diese erfolgt sein praktisches Handeln, die Inszenierung und Aufführung des Spiels. Neben der Erfahrungsgewissheit entstehen im Spiel auch die »Ordnungen und Strukturierungen der Erfahrungen selbst, insbesondere räumliche, zeitliche und soziale Gliederungen. Dies sind praktische Interpretationen der Welt, die dem sozialen Handeln ein sicheres Fundament geben« (ebd.: 207). Spielen ist eine Form sozialen Handelns, das auf praktischem Wissen beruht und das sich in einem Rahmen vollzieht, der seinen Als-ob-Charakter konstituiert, auf dessen Struktur die Organisationsprinzipien der Gesellschaft Einfluss haben, die wiederum in mimetischen Prozessen im Spiel gelernt, geübt und inkorporiert werden. Der agonale Charakter, die Kombination von Einzelleistung und kollektiver Leistung, der Zwang zu Höchstleistung und Verausgabung, wie sie z. B. im Fußball sichtbar werden, entsprechen in vieler Hinsicht den Werten und Organisationsprinzipien der kapitalistische organisierten bürgerlichen Gesellschaft. In jedem Fußballspiel werden diese Werte und Organisationsprinzipien inszeniert, aufgeführt, in mimetischen Prozessen gelernt, geübt und bestätigt. Da Arbeit zum zentralen Organisationsprinzip der Gesellschaft geworden ist, organisieren ihre Prinzipien auch das Verhalten der Spieler und Zuschauer. Wie die Sprache wird das Spiel zu einem Medium, in dem die Prinzipien der Arbeit, der Arbeitsteilung und der Gemeinschaft inszeniert, aufgeführt und bestätigt werden (Gebauer 1996).
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Mit dem Entstehen eines praktischen Wissens, das Kinder und Jugendliche mitzuspielen befähigt, werden diese Werte und Organisationsprinzipien miterworben und in mimetischen Akten inkorporiert. Dabei entstehen Transwelt-Elemente, die sich in der sozialen Welt und in vielen durch Familienähnlichkeit verbundenen Spielen finden. Diese wiederholt in verschiedenen Spielen, Ritualen und anderen sozialen Handlungen erworbenen Elemente schreiben sich in den sie aktiv verarbeitenden Körper und damit in das Körpergedächtnis ein. Zu den vielen Transwelt-Elementen, die in Spielen gelernt werden, gehören auch die in der Gesellschaft verbreiteten gender-Rollen. Sie lassen sich im unterschiedlichen Spielverhalten von Jungen und Mädchen feststellen. Dabei zeigt sich: »Jungenspiele sind vorwiegend weiträumig, öffentlich, körperbetont, hierarchisch und wettkampfmäßig organisiert. Mädchenspiele sind dagegen weniger raumgreifend, eher privat und kooperativ, auf Beziehungen und Intimität gerichtet« (Gebauer/Wulf 1998a: 210; vgl. Thorne 1993; Tervooren 2001). Eine solche Differenz mag man aus gesellschafts- und genderpolitischen Gründen ablehnen. Doch ist sie zunächst einmal gesellschaftlich und kulturell verankert und wird immer wieder in Spielen und Ritualen reproduziert und verfestigt, selbst dann, wenn die Häufigkeit der Abweichung von diesen Stereotypen zugenommen hat. So unterschiedlich Spiele von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Kultur zu Kultur sind und so sehr sie sich in historischer Hinsicht unterscheiden, in anthropologischer Hinsicht sind sie für Gesellschaften, Gemeinschaften und Individuen unhintergehbar. Das gilt für Sprachspiele, freie Spiele, Regelspiele in gleicher Weise. Darüber hinaus enthalten viele menschliche Handlungen, seien es Liturgien, Zeremonien, Feiern oder Interaktionsrituale, ludische Komponenten. Spiele stellen Kontinuität zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft her und führen aufgrund ihres innovativen Potentials zu sozialem und individuellem Wandel. In Spielen manifestieren sich Phantasie und Einbildungskraft; in ihnen kommt Unsichtbares zur Erscheinung und wird öffentlich, oft in ostentativer Geste. Spiele sind paradox; sie inszenieren Als-ob-Handlungen und erzeugen im Spielkörper eine Verdopplung des Körpers. In Spielen vollzieht sich eine Ausweitung in andere Welten; fremde Horizonte und Strukturen werden sichtbar. Neue Erfahrungen werden gemacht, bei denen Zufall und Kontingenz eine wichtige Rolle spielen. Um spielen zu können, bedarf es eines Spielwissens. Dieses ist kein theoretisches, sondern ein körperliches, performatives, praktisches Wissen, das in mimetischen Prozessen erworben, erinnert und gestaltet wird.
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momentaner Situation zwei Spiele an. Sollte sich gerade kein fester Lebenspartner in Ihrer Umgebung befinden (oder am Horizont abzeichnen), schließen Sie mit Wucht das Buch. Werfen Sie es mit geschlossenen Augen rückwärts über den Kopf. Warten Sie, bis es Ihnen jemand zurückbringt. Öffnen Sie die Augen. Falls niemand erscheint, sieht es schlecht aus. Haben Sie hingegen bereits jemanden im Auge bzw. an der Seite, blättern Sie um (bitte nicht ausreißen) – und flüstern dabei jeweils abwechselnd die Sätze ›Er/Sie liebt mich‹ und ›Er/Sie liebt mich nicht‹, bis das Ende des Buches erreicht ist. Eine Hochzeit ist traditionell ein transformierendes Ritual. Für die bedeutende Lebensveränderung wird Rat in großem Stil gesucht, vor allem wenn es gilt, den oder die Richtige zu finden. Hierzu war das Befragen von Orakeln lange Zeit der übliche Weg. Noch im 19. Jahrhundert war das so genannte Pantoffelorakel in Deutschland und Österreich eine verbreitete Methode. Hierzu warfen Zukunftsinteressierte einen Schuh rückwärts über den Kopf – landete dieser mit der Spitze zum Ausgang des Zimmers, sollte sich der zukünftige Ehemann dort bald einfinden. Geworfen wurden auch Blumensträuße in Baumkronen: Die Anzahl der Versuche bis zum Obenbleiben des Straußes gab die Zahl der Jahre an, die noch bis zur Hochzeit vergehen würden. Entscheidend ist bei den meisten Verfahren die genaue Ausführung zu einem besonderen Zeitpunkt – oft im bedeutungsvollen Rahmen eines Festes, am liebsten im Rahmen einer anderen Hochzeit: Ob die Braut im Brautreigen mit verbundenen Augen tanzend ihren Kranz, bevor dieser durch die Haube ersetzt wird, noch einer anwesenden Jungfrau aufsteckt oder, wie heute üblicher, ihren Strauß nach der Zeremonie in die verlegene Menge schleudert, stets ergibt sich eine lebendige Brücke von Fest zu Fest: Wenn auch Brautpaar und Gäste die Hochzeit von völlig verschiedenen Seiten erleben, verbindet das Glücksspiel des Straußwurfs doch am Ende alle zu einem Ganzen. Als inszenierter Ausgang des festlichen GlückSpielens von Braut und Bräutigam ist es zugleich schon möglicher Ausgangspunkt für zukünftige Ehen nicht-getrauter Gäste. So verbindet die Hochzeit nicht nur das Brautpaar: Zwei werden die nächsten sein, ob sie wollen oder nicht.
SPIEL OHNE BALL? BEMERKUNGEN ZUM LESEN K. LUDWIG PFEIFFER I. Er- oder entmutigendes Vorspiel Der Ausdruck ›Spiel ohne Ball‹ bezeichnet vor allem beim Fußball die erwünschte Fähigkeit von Spielern, das Spielgeschehen auch und vor allem dann konstruktiv-dynamisch voranzutreiben, wenn sie sich nicht selbst ›am Ball‹, also in Ballbesitz befinden. Diese positive wörtliche Bedeutung verwandelt sich zumindest vorläufig in eine problematische metaphorische Hypothek, wenn man den Ausdruck auf das Lesen, also eine allgemein kognitiv und spezifisch kulturwissenschaftlich zentrale Tätigkeit anwendet. Dort nämlich signalisiert der Ausdruck den Verdacht, dass im Geschehen zwischen Text, Augen und Gehirn ein Ball, das heißt ein das Spiel ersichtlich steuerndes Element womöglich nicht auszumachen ist. (Vielleicht sollte ich anstandshalber darauf hinweisen, dass ich in meinen Kapitelüberschriften mit eher wörtlichen und eher metaphorischen, in jedem Fall aber geläufigen Varianten des Wortes ›Spiel‹ spiele.) Es gibt, wie man weiß, viele Typologien des Spiels, darunter solche, die ihre Unterscheidungen entlang der Differenz physisch/mental entwickeln. Ich lasse diese wie andere Typologisierungsmöglichkeiten hier unerörtert. Eine gute physische Kondition schadet einem Schachspieler vermutlich nicht; eine andere Frage ist, ob er sie wirklich benötigt. Beim Lesen dürften unklare Verschränkungen, wie ich später wenigstens noch andeuten möchte, noch unklarer ausfallen. Es gibt, auch das weiß man, auch viele Typologien des Lesens. Wichtiger noch dürften Typologien von Leserinnen und Lesern in einem empirischen, etwa im kulturgeschichtlichen Sinn von jeweils intendierten Lesern, aber auch Typologien ›des Lesers‹, etwa des ›impliziten‹ als einer von Texten systematisch, freilich insgesamt auch geschichtlich variabel vorgezeichneten Leserrolle sein. Auch diese Typologien lasse ich hier weitgehend beiseite. Die kulturgeschichtliche Welt des Lesens (so der Titel eines von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo herausgegebenen
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Buches) präsentiert sich auch dem wissenschaftlichen Blick in großer Uneinheitlichkeit. Die verschiedenen Typen von Leser(inne)n scheinen historisch mehr oder weniger gut ausgeprägt immer wieder vorzukommen. Bei den von den Texten entworfenen Leserrollen bleibt unklar, inwiefern sie empirische Leser(innen) auch wirklich an- und übernehmen. Folgt man Karl Clausberg, so haben sowohl Literatur- wie Kunstwissenschaft in seltsamer systematischer Fehlleistung ohnehin die kulturgeschichtlich wichtigen ausdrucksgeladenen Mischformen übersehen, welche Texte und Bilder seit der Antike in Europa und noch mehr in manch anderer Kultur immer wieder eingegangen sind. Würde man sich an die Beschreibung des Geschehens machen, welches bei der Wahrnehmung solcher Mischformen abläuft, so hätte man es schon mit einer beträchtlichen Verkomplizierung des Sehens zu tun. Denn man sieht Texte wie Bilder, verarbeitet sie, und noch mehr ihre Mischformen, in partiell ähnlicher (›Bilder lesen‹), partiell aber offensichtlich auch ganz anderer Weise. Mit den Bildern der Leselust von Rembrandt bis Vermeer, welche die Frankfurter Schirn-Kunsthalle vor längerer Zeit (25.9.19932.1.1994) ausstellte, kann man spielerisch, das heißt in diesem Fall unentschlossen umgehen. Wollte man genauer wissen, was das Lesen für die dargestellten Personen – oder komplementär dazu was das Bild der Lucrezia als Poesie von Salvator Rosa – bedeutet, könnte die Entschlüsselung auch quälend vieldeutig ausfallen. Es ist daher bestimmt auch keine triviale Frage, in welchem Sinn und mit welchen Folgen man japanische manga liest oder sieht. Wie spannend und aufschlussreich dergleichen ausfallen kann, mag man ermessen, wenn man Lichtenbergs HogarthKommentare liest – und gleichzeitig dessen anderssinnliche Evokationen mitzuvollziehen versucht.
II. Frage(zwischen)spiel Mir geht es, in einer wenig anspruchsvollen Interessenverschiebung, um eine Skizze des Richtungssinns, welchen man möglicherweise in den offenen Spielräumen zwischen kulturgeschichtlicher Vielheit und den zwischenzeitlich auffällig gewordenen neurowissenschaftlichen Kontrollversuchen ausmendeln kann. Wie nähert man sich einem Aktivitätsareal, dessen Zentren zwischen Auge und Gehirn allenfalls durch schlüssig kaum interpretierbare Hirnstromableitungen zugänglich, dessen sozio- wie psychokulturelle Objektivierungsformen extrem uneinheitlich beschaffen sind? Einer Aktivität, die wir einerseits als sowohl elementare wie avancierte unabdingbare, zudem staatlich verordnete Kulturtechnik uns mehr oder weniger contra
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naturam aneignen müssen, die es uns andererseits zumindest gelegentlich erlaubt, in einen, wie das Heinz Schlaffer (1999: 1-15) formuliert hat, entrückten, zu Träumereien geneigten und zu assoziativem Denken verführenden Zustand, in einen einsamen Rausch gleichsam leidenschaftlich zu versinken? Wie soll man einen Begriff vom Lesen bekommen, wenn doch schon sein Gegenstand verschwimmt? Besteht dieser in der Serie der uns geläufigen modern-monotonen Buch-Buchstaben? Oder müssen wir, und wenn ja wann, mit vielschichtigeren visuellen, materiellen, kultischen, und sei es nur noch halluzinierten Elementen, Rändern, Hintergründen, mit einer wie immer verkürzten Kultur des Bildes und verschiedenen ›Paralektüren‹ anderstextueller und andersmedialer Art, mit anderen, spielerische Assoziationsmuster vorstrukturierenden Schriften und Typographien auch dann rechnen, wenn diese sich nicht offenkundig als Illustration, als auratisch-wertvolles Material oder als gebetsartige Nötigung zum »Kauen des Wortes« (Marcel Jousse) etwa der Mönche des Mittelalters präsentieren? Und wenn der Lektüre derartige Spielräume in der Disziplinierung des Zivilisationsmenschen, wie Lévi-Strauss etwa befürchtete, ausgetrieben worden sein sollte: Müssten wir dann nicht über die Kosten des Lesens und nicht so sehr über seinen Zauber oder Nutzen reden, von der widernatürlich gekrümmten Haltung bis hin zu dem von manchen pauschal konstatierten Verlust der Sinnlichkeit? Mit ziemlicher Sicherheit können wir davon ausgehen, dass der Gegenstand der Lektüre jedenfalls seinem Umfang nach nie hinreichend bestimmbar ist: Die Vorstellung, wohl eher die Illusion, es gehe darum, einen ganzen, ganzheitlichen, ›integralen‹ Text welchen Umfangs auch immer zu lesen, dürfte im 18. Jahrhundert entstanden und pädagogisch, sodann literaturwissenschaftlich, jedenfalls aber kontrafaktisch befestigt worden sein. Selbst ein großer Theologe und Philosoph des Mittelalters wie Wilhelm von Ockham bezog, worauf kürzlich Volker Leppin in einer Monographie hingewiesen hat, seine – aufgrund der Textlage zwangsweise durchaus fragmentarische – Kenntnis der Texte etwa des Aristoteles aus zweiter und dritter Hand, musste sich die Zeit, die er für die Lektüre eines Textes aufwendete, auch nach dem verfügbaren Tageslicht einteilen. Denkt man dies weiter, so könnten sich die ›Leerstellen‹ und die daraus folgende Potenzialität, der Wirkungsreichtum des Lesens der Texte, mit denen Wolfgang Isers impliziter Leser kreativ und kontrolliert umzugehen hat, in die ›potentielle‹, die versäumte, aufgeschobene, vermiedene oder vorgetäuschte, mit symbolischen Vorwegnahmen oder Ersatzhandlungen teilweise oder ganz ersetzte Lektüre verwandeln. Heinz Schlaffer hat sich ironisch über die Techniken ausgelassen, die es angesichts der Unbestimmtheit lesenden Geschehens und seiner Ergebnisse
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dem Leser, vor allem dem Literaturwissenschaftler erlauben, seine Leseautorität, den Anspruch ganzheitlicher Lektüre auch mit einigermaßen vagen Auskünften über Leseeindrücke zu wahren, ja im Examen erfolgreich den Eindruck zu erwecken, er/sie habe die heterogene Masse der von den Prüflingen vorgeschlagenen und vermutlich gelesenen Texte auch selbst gelesen. Und weiter: So berechtigt für die Objektebene die Clausbergsche Forderung, man möge doch Text-Bild-Verhältnisse nicht vernachlässigen, sein dürfte, so wenig klärt sie uns darüber auf, wie solche Kombinationen vom Lesenden/Betrachtenden denn genau verarbeitet werden, wie sich die gedruckten Bild-Text-Welten zu jenen im Bewusstsein flottierenden verhalten. Kann man gleichwohl das »Panorama des Lesens« als eines »Neben-, In- und Durcheinander der verschiedenen Art von Lektüren und Nichtlektüren« (Schlaffer 1999: 23) noch anders strukturieren? Wie weit muss man dabei, auch der Mahnungen Clausbergs eingedenk, den an der Literatur verzweifelnden Wolfgang Hildesheimer (Das Ende der Fiktionen) ›im Blick behalten‹, der seiner ›Romanfigur‹ Marbot ein »Pingo, ergo sum« in den Mund legt und damit auf Zusammenhänge zwischen körperbezogenen performativen und (scheinbar rein) mentalen Operationen aufmerksam macht?
III. Spielräume Vielleicht hat niemand die Spannweite und Ambivalenz des Lesens so prägnant in einem Satz zusammen gefasst wie der ›Dichter‹ Abraham Cowley in der instabilen kulturell-medialen Situation des 17. Jahrhunderts in England: Die Lektüre Spensers habe ihn so schnell zum Dichter gemacht »as a Child is made an Eunuch« (vgl. das achte Kapitel in Raven et al. 1996: 140; für ähnliche Ambivalenzen vgl. ebd.: 138-141). Für empirisch plausibel und relevant halte ich jedenfalls die von Ralf Schnell einmal eher spielerisch aufgemachte These, gerade jene vom Ende des Buch- und Lesezeitalters Redenden und zu den so genannten Neuen Medien Überlaufenden würden dann doch wieder ab und zu, gewissermaßen zum Ausgleich, ein Gedicht lesen. Plausibel scheint mir auch die in der freilich paradoxerweise zu stark literarisch ausgerichteten Mediologie des 18. Jahrhunderts von Albrecht Koschorke gezogene weiterreichende These, vornehmlich die Schrift- und Lesekultur, zu Zeiten die entsprechenden Manien des 18. Jahrhunderts, hätten jene Affektintensitäten in Form von Intimsemantiken hervorgebracht, die selbst noch in der Emphase der heutigen Mediologen und heimlichen Gedichtleser nachhallten. Das stille, einsame Lesen, in welchem die Rhetorik nur
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einen melancholischen Sonderfall gesehen hatte, mag, in einer Mixtur Foucaultscher und Lévi-Strauss’scher Perspektiven, der Kontrolle und Verwaltung der Phantasie dienen. Aber es beschert der affektiven Intensität, jedenfalls gelegentlich (eben beim heimlichen Lesen von Gedichten), eine attraktive, wenn auch keine allein oder auch nur vornehmlich seligmachende Form. Dass Koschorke viele, vielleicht wichtigere formgebende Instanzen wie die Oper und damit den in vielerlei Hinsicht, später noch zu besprechenden spezifisch prekären Charakter des Lesens vergisst, ist sein Problem. Wenn man über Leseintensitäten des 18. Jahrhunderts spricht oder schreibt, darf man, wie schon angedeutet, den häufigen nervlich-physischen Kollaps der Lesewütigen nicht vergessen. Goethe, auf dessen nahezu kollabierende ›schöne Seele‹ im Wilhelm Meister ich angespielt habe, hegt wie Fichte und viele danach den Verdacht, das Lesevergnügen beruhe auf den relativ simplen Mechanismen der von Geschichten oder sonstigen Texten hervorgerufenen Vorstellungsbilder, deren Klischeehaftigkeit der Leser und vor allem die Leserin nicht durchschaue. Die Klischeehaftigkeit eignet sich zum Beispiel, wie Diderot bei seiner Frau feststellen zu können glaubte, vor allem bei lautem Vorlesen vorzüglich zur Austreibung ehefraulicher Melancholie. Freilich hatten schon die Kirchenväter auch den anderen Fall, das Umschlagen von tagträumerischer Entrücktheit in eben diese Melancholie beklagt, in die Todsünde des Nicht-wirklich-etwas-tun, welches Körper und Seele zerrüttet, in den Zustand einer Verzweiflung ähnlichen acedia versetzt. Das Lesen, sagt uns die leserorientierte Ästhetik, und die Hirnforschung bestätigt es auf ihre Weise, ist eine Aktivität. Doch hält sich, bis hin zu Heinz Schlaffer, die Überzeugung, es sei doch eine vergleichsweise allzu passive, in keinem relevanten Sinn wirklich performative. Im motorischen Stillstand der Lektüre aber lauert die der Vergeblichkeit dieses Tuns entspringende Unruhe. Hat sich dieser Verdacht einmal festgesetzt, so verwandelt sich das vermeintlich erregende Buch schnell in langweilig-erdrückende Makulatur, wie bei Lichtenberg, in die »Nullitäten« der »Bücherfabrikanten« wie bei Fichte. Kleist berichtet in diesem Sinne über eine Lesebibliothek in Würzburg, wo er keinen Wieland, Goethe und Schiller, dafür aber massenweise Rittergeschichten antrifft; A. W. Schlegel notiert, dem Romaneschreiben vor allem wohne ein trivialisierender Wiederholungszwang inne: »Wie verschieden von der Sprödigkeit des zurückhaltenden Genius, der wie die Löwin nur eins gebiert, aber einen Löwen!« Ich wüsste eine Reihe von Romanschriftstellern des 20. Und 21. Jahrhunderts, sehr bekannten, zu nennen, welche die Schlegelsche Metapher hätten beherzigen und ihr Glück lieber in einem normalen bürgerlichen Beruf suchen sollen. Kaum einer besitzt die Aufrichtigkeit eines Kingsley
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Amis, der bereitwillig zugab, kontinuierliches Romaneschreiben sei potboiling, Fließbandproduktion, ganz so wie das Fichte bereits beurteilte und wie es Anthony Trollope im englischen 19. Jahrhundert ganz offen betrieb. Worin immer das Lesen solcher Texte bestehen mag: ein Kompliment an die Intelligenz der Leser ist es wohl nicht. Trollope druckt einen an ihn gerichteten Brief Thackerays ab, in welchem dieser ihn zur Mitarbeit an einem Magazin auffordert, um aus dem Spinnen von Romanen heraus- und in die Welt wieder hineinzukommen. Dorothea Veit rät daher Schleiermacher, statt »dreißig Bücher« von Hardenberg, also immerhin doch Novalis, zu lesen, lieber einmal Tee mit ihm zu trinken, er verstünde ihn dann besser. Das alles und mehr findet man in einem 1988 von Helmut Richter herausgegebenen Band zum Zusammenhang von literarischer Kultur und gesellschaftlichem Leben im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Man muss sich daher nicht wundern, dass das entrückte, sich völlig mit erlebten Textdimensionen identifizierende Lesen auch im 19. Jahrhundert und später vorkommt, dass aber seit dem 19. Jahrhundert die andersmediale Redramatisierung des Gedruckten gewaltig ansteigt. Von Dickens ist bekannt, dass und wie er schauspielerartig die Effekte seiner Vortrags- und Romanrezitations-Tourneen vorbereitete. Im Internet kann man heute Lyrikern beim Rezitieren ihrer eigenen Gedichte zuhören. (Soll man die Texte dabei vorher, gleichzeitig, später oder gar nicht lesen?) Neben Gottfried Benn, einem früheren Siegener Studenten, meiner ehemaligen Hilfskraft Marcel Beyer, jetzt auch und vornehmlich einer der erfolgreichsten Romanschriftsteller des Landes (sein Roman Flughunde steht auf der vorläufigen Bestsellerliste des Suhrkamp Verlags an neunter Stelle) erlebt man da auch Paul Celans Vortrag seiner »Todesfuge«. Das Ergebnis dürfte oft ein Erlebnis kognitiver Dissonanz sein, wie es bei der bloßen Lektüre in dieser Weise wohl nicht so leicht vorkommt. Und das ist ja schon etwas. Warnt doch auch Gottfried Benn in einem an Hamlets Antwort auf die Frage, was er denn lese: »Words, words, words« gemahnenden Originalton, »du« mögest bei den Worten nicht nach der Seele ihres Vor- und Urgesichts fahnden: »Jahre um Jahre – quäle/dich ab, du findest nicht« (so das Gedicht »Worte«). Für den intensiv wie extensiv lesenden Literaturwissenschaftler, der mit den Worten so oft »allein« (»Allein: du mit den Worten«, so die erste Zeile) ist, klingt das nicht sehr ermutigend. Das schwarz auf weiß Gedruckte kann man also nicht getrost nach Hause tragen, weil es einem auf dem Nachhauseweg zumeist abhanden kommt. Im Bewusstsein verschwimmen die Texte, so als ob, nach einem Ausspruch von Alberto Manguelas in seiner Geschichte des Lesens (1996), ihre Buchstaben auf Wasser geschrieben wären. Manguel zitiert aber
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auch den Neurolinguisten André Roch Lecours vom Côte-des-NeigesKrankenhaus in Montreal, der da meint, unsere Gehirnhälften und ihre Sprachpotenziale entwickelten sich nicht genügend, wenn wir uns auf den mündlichen Umgang mit der Sprache beschränken. Wir wissen nicht, wie wir den Begriff des Lesens im Blick auf seine polaren und übergänglichen psychischen Befindlichkeiten und Korrelate, auf Art und Umfang der Texte, ja der Textualität (oder Visualität usw.) selbst, auf das Ausmaß fragmentarischer oder möglichst vollständiger Lektüre hinreichend präzisieren können. Aber wir geraten diesseits der eben einigermaßen launig geschilderten uneinheitlichen kulturgeschichtlichen Evidenzen, angesichts der involvierten Dimensionen der Wahrnehmung, Erinnerung, Wiedererkennung, Erfahrung, Wissen, Übung usw. unweigerlich in die Domänen der Aufmerksamkeitsforschung, Neurolinguistik, der Neurowissenschaften, der Hirnforschung und des jüngst angesagten biokulturellen Ko-Konstruktivismus. Julian Jaynes hatte in seinem kontroversen Buch The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind (1976) die These vorgetragen, die ersten Leseerfahrungen, etwa im Medium der Keilschrift, seien noch – halluzinierte – Hörerfahrungen gewesen. Nimmt man an, dass solche Neigungen, vielleicht sogar Prägungen nicht gänzlich verschwinden, so könnte dies immerhin das Halluzinatorisch-Lebhafte mancher Leseerfahrungen auch heute erklären helfen. Gleichwohl klaffen weiterhin enorme Lücken zwischen den kulturgeschichtlichen Ordnungsversuchen und dem, was beispielsweise eine Frühform der Neurowissenschaften, die Aufmerksamkeitspsychologie, an Ordnungshilfen anbietet. Gehen wir zunächst von der genuin neurowissenschaftlichen These Gerhard Roths aus, wonach es, im Rahmen des Gehirns und seiner Wirklichkeit (1994), nicht den Geist, sondern eine Vielzahl höchst unterschiedlicher mentaler und psychischer Zustände gibt (Erleben von Wahrnehmungsinhalten, Denken, Vorstellen, Aufmerksamkeit, Erinnern, Wollen, Gefühle, der Körperidentität, Selbsterleben). Ich komme auf diese These später nochmals zurück. Wahrscheinlich jedenfalls spalten sich die einzelnen Zustände selbst wieder in eine Vielzahl von Unterzuständen auf. Nehmen wir etwa die für das Lesen zentrale Aufmerksamkeit. Auch wenn man die neuronalen Ursachen für Aufmerksamkeitszuwendung kennt, kann man noch lange nicht die genauen Folgen selbst der elementaren Sakkaden beschreiben, jener drei bis vier mal in der Sekunde erfolgenden Sprünge, mit denen das Auge über eine Seite huscht. Der – nach seiner offiziellen Berufsbezeichnung – medizinische Psychologe Ernst Pöppel hält in einem Buch über Grenzen des Bewusstseins (1997) daher schon das Gefühl, als gleite
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unser Blick gleichförmig über das Geschriebene, für eine Illusion. Die offizielle Aufmerksamkeitspsychologie bewilligt uns Aufmerksamkeit zwar als eine generalisierte zentrale Kapazität, eine Art generalisierter mentaler Energie. Doch vergönnt sie uns diese, wie viele der Beiträge in dem von Odmar Neumann herausgegebenen Standardwerk zur Aufmerksamkeit (1996) zeigen, lediglich als einen nur kurzfristig aufrecht zu erhaltenden Ausnahmezustand des Organismus. In ihrem Rahmen muss es einem Leser schwerfallen, seine Aufmerksamkeit durch aufmerksamkeitsfördernde, aber auf oft hunderten von gleichartigen Seiten nur schwer feststellbare Regelbrüche, Pegelsprünge, ›pop-out‹-Effekte, durch Kriterien der Neuheit, Seltenheit, Unwahrscheinlichkeit, Bedeutsamkeit zu mobilisieren. Dies fällt noch schwerer, wenn man, wie auch die Psychologie gelegentlich, sich der Hirnforschung bedient und die Aktivierung der Aufnahmebereitschaft (›arousal‹) eher der rechten Gehirnhälfte zuschreibt. Diese aber ist gerade nicht, oder nicht vornehmlich, für verbalanalytische Operationen zuständig. Der Ausnahmezustand ›Aufmerksamkeit‹ mag überdies mit einem gesteigerten physiologischen Erregungsniveau einhergehen, das bei längerem Lesen nur bei entsprechender Spannung gehalten werden kann. Das mag ja immerhin die Popularität von Kriminalromanen und kriminalistischen Strukturen selbst in so genannten normalen, auch postmodernen Romanen erklären helfen. Ansonsten aber legt die Psychologie eine Rangfolge von auditiver über visuelle bis hin zu semantisch-verbaler-schriftlicher Aufmerksamkeit nahe.
IV. Spielformen der Neurowissenschaften und das Lesen Pöppel hat nun über die in Zehntelsekunden zu messenden Sakkaden und ihr Zerhacken des Lesevorgangs, über seine weiteren allgemeinen Thesen zur Naturwidrigkeit des durch Erziehung und Rechtschreibvorschriften kujonierten Lesens hinaus eine möglicherweise bedeutsame Drei-Sekunden-Front aufgemacht. Er glaubt, dass ein Bewusstseinsinhalt »nur eine Überlebenschance von drei Sekunden hat« und dass es innerhalb der drei Sekunden immer nur einen Bewusstseinsinhalt gibt; ferner, dass diesen Drei-Sekunden-Paketen vor allem in lyrischen Versen und in der Musik – und dies in verschiedenen Sprachen und Kulturen, also auch etwa in der Rezitation und musikalischen Untermalung des japanischen Nô – Gerechtigkeit widerfährt. Längere Verse wie Hexameter, Pentameter und Alexandriner ließen sich in die entsprechenden kleineren Einheiten aufteilen (Pöppel 1997: 72, 85-91). Meine Email-Anfrage, wie es unter diesen Voraussetzungen mit der Lektüre längerer Texte bestellt sei, bezeichnete Pöppel als »recht komplex«. Das Drei-Sekunden-Fenster sei
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eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung »für die Gestaltung längerfristiger Spannungsbögen« (9.10.2003). Ich selbst vermute, dass hier kulturelles Training und psychisch wirksame, imaginär besetzbare und stark verankerte, unter Umständen sogar (vgl. auch das Beispiel Kriminalroman) mit Tatsächlichkeits- oder Körpervorstellungen attachierte Textbausteine ins Spiel kommen. Wie immer: Bei aller unaufhebbaren Heterogenität kulturell-medialer Konfigurationen und hirnphysiologischer Befunde – dass Aufmerksamkeit sowohl medial wie auch im Blick auf die Stärke intensiver, an packende Tatsächlichkeits- oder Körperlichkeitsbezüge gemahnende Vorstellungen differenziert werden muss, das legen zunächst einmal auf ihre jeweiligen Arten sowohl die Mediengeschichte wie auch die Hirnforschung nahe. Pöppel verweist auf die Produktivität des Denkens bei moderater körperlicher Aktivität und dessen leichtes Eintrocknen bei (sitzender) Trägheit (1997: 184). Zwar kann man, so warnt mich der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer in einer Email (24.9.2003), längeres intensives Lesen nicht als sensorische Deprivation, nicht einmal als deren Vorform ansehen. Ich hatte gehofft bzw. befürchtet, man könne dies, um auf diese Weise die intensiv-halluzinatorische Qualität mancher, auch langtextbezogener Leseerlebnisse zu erklären. Denn, darauf beharrte vor allem der russische Hirnforscher Alexander Lurija in einem Buch zum Gehirn in Aktion (2001) und seiner Autobiographie über seine Karriere als »romantischer« Wissenschaftler (1993), bei sensorischer Deprivation treten leicht Halluzinationen auf. Singer legt mir nahe, Lurijas Betonung der visuellen Basis auch von Gegenstandsbezeichnung, Begriffsbildungs- und per implicationem von Leseprozessen, das Betreiben von Reflexion auch und vielleicht vor allem als Abrufen visueller Gedächtnisspuren nicht zu verallgemeinern. Visualisierungsfähigkeiten (und -nötigungen) seien bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aber die meisten Hirnforscher bringen gleichwohl starke Evidenzen dafür bei, dass entscheidende Bewusstseins-, vielleicht auch, in Pöppelscher Terminologie: Außer-, Neben-, Unterbewusstseinsprozesse der Sprache und dem Lesen vorausliegen. Singer selbst hält in Büchern zum Beobachter im Gehirn und zu einem neuen Menschenbild (2002 bzw. 2003) nichtverbale, »nichtrationale« Kommunikationsformen für »natürlicher« als verbal-rationale. Als Beispiele nennt er meditative Verfahren, bildende Kunst, Musik, Tanz und Medien, in denen sich nichtverbale Inhalte speichern und multiplizieren lassen. Er kann sich deren Praxis sogar auf Konferenzen vorstellen. Auseinander halten muss man wohl vor allem sprachliches und musikalisches Hören und, a fortiori, musikalisches Hören und sprachliches
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Lesen. »Auf peripherer Ebene«, so Singer in seiner Email, werden sie gemeinsam verarbeitet, »dann trennen sich aber die Wege«. Natürlich heißt dies nicht, dass sich die – vor allem jungen – Leute noch mehr vom Sound irgendeiner Rockband behämmern lassen, noch mehr die überbordenden, vielbeklagten Bilderfluten reinziehen sollen. Karl Clausberg hat zu Recht notiert, dass die eigentlichen Orte unserer Bilder in uns selbst liegen, auch wenn die Macht der medialen Verführungen und Verrücktheiten sie immer weiter zurücktreten lässt. Das wiederum bedeutet neurowissenschaftlich nicht, dass man, wie sich das manche Pädagogen und wohl auch Literaturwissenschaftler vorstellen, den Bilderfluten und Soundwellen durch die Lektüre von Texten wirklich beikommt. Man kann also zwar, wie es Olaf Breidbach in einem Beitrag zur neuronalen Ästhetik (2000) tut, einen Text als Gefüge von Zeichen bezeichnen, bei dessen Digitalisierung es keine Rolle spielt, ob es sich um Pixel eines Bildes, digitalisierte Teilbereiche einer Messkurve oder numerisch kodierte Buchstaben eines Textes handelt. Die Maschine kennt keine Buchstaben, keine Bilder. Aber das interpretierende Bewusstsein unterscheidet da sehr wohl. Daher erscheint es mir fraglich, ob man den Begriff des Bildes zur »Aus-Bildung des in den Sensoren Erfahrenen« verallgemeinern kann. Denn auch für Breidbach soll bei dieser AusBildung dem visuellen Bild eine besondere Bedeutung zukommen. Damit aber werden die unaufgelösten Spannungen zwischen Text- und Bildwahrnehmung verhärtet und nicht etwa harmonisiert. Nach wie vor ist unklar, wie man sich die sicherlich anzustrebende Revitalisierung der Schellingschen »intellektuellen Anschauung«, also die enge Verzahnung von Bild-Wahrnehmung und Sprache, die Zuordnung von Denken und Anschauen vorstellen und wie die Neurowissenschaft sie in den disziplinär-begrifflichen Griff bekommen soll.
V. Das Spiel des polymodalen Lesens In einem letzten Abschnitt will ich das Thema Bewusstsein und mediale Differenzierung nochmals variieren. Manchmal, so will es nicht nur bei Breidbach scheinen, erschrickt die Hirnforschung davor, dass ihre eigenen Ergebnisse sie zu weit in die Arme von Irrationalismen und Reflexionsarmut treiben. Sprach- und reflexionsbewusste Philosophen wie Habermas halten ihr das immer wieder mal vor. Vielleicht versuchen das philosophiebewusste Hirnforscher auch dadurch abzuwehren, dass sie, wie Gerhard Roth, Kognitive Neurobiologie als jenen Teil der Neurobiologie definieren, der sich mit den neurobiologischen Grundlagen kognitiver als bedeutungshafter Leistungen beschäftigt.
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Man kann das tun, müsste aber in diesem Fall das so genannte Bedeutungshafte selbst wiederum differenzieren. Denn für die Hirnforschung zählen multisensorische Erkennungsprozesse zu den zentralen Bewusstseinsvorgängen. Natürlich ist alles irgendwie bedeutungshaft. Manche Hirnforscher halten sich aber sehr, für mein Gefühl zu sehr bei der Frage zurück, ob nun Geist und Bewusstsein an die Existenz von Sprache gebunden sind. Angesichts der unbestritten fundamentalen Rolle der Sprache, der gesprochenen wie auch wohl in geringerem Maße der geschriebenen und gedruckten, ist das verständlich. Aber man tut der Sprache keinen Gefallen, wenn man ihre Rolle überschätzt. Diese Überschätzung kann schon in der Vernachlässigung von Bemühungen bestehen, anderen als sprachlichen Modalitäten des Bewusst- und Nebenbewusstseins auf die Spur zu kommen. Wenn ich mir die Banalität erlauben darf: Auch bei der Sprachhandhabung zeigt sich der Meister in der Beschränkung. Man kann kulturgeschichtliche und diskurstheoretische Gründe dafür angeben, dass im Laufe der Zeit die bedeutungsverstehende Lektüre von verschiedenen Textsorten durch Auslegungsvorschriften (›Hermeneutiken‹) mehr oder weniger (eher weniger) erfolgreich geregelt und u. a. dadurch die Trennung von Bildwahrnehmung und Textlektüre besiegelt wurde. Die Bedeutungs- und Auslegungskontrolle begann mit zunehmend komplexen, bildlich nicht mehr illustrierbaren theologischen Texten. Sie setzte sich über juristische und historische Textsorten fort und endete im 19. Jahrhundert (vorläufig) mit der Leseregulierung auch der literarischen. Man könnte sagen: Die diversen Hermeneutiken sind – meist etwas ›faule‹ – Kompromisse zwischen Normalisierung/Dogmatisierung und Spiel. Dass diesen Anstrengungen kein allzu großer Erfolg beschieden war, liegt nicht nur an der Produktivität dekontextualisierter Schriftlichkeit: Jeder Satz ruft andere, von ihm zunächst abgeblendete Formulierungs- und Verstehensmöglichkeiten auf. Es liegt vor allem auch daran, dass selbst das Erkennen nach Lurija immer »polymodal« verfährt, weil der ›Geist‹ aus einer Vielzahl psychischer und mentaler Zustände besteht. Dann aber wird man sich, bei allen Risiken, an die Differenzierung der Polymodalität machen müssen. Dann geht es zumindest nicht mehr an, wie Gilles Fauconnier und Mark Turner einen einheitlichen, auf »conceptual blending« beruhenden Denkbegriff, ein zwar nicht in seinen bedeutungshaften Inhalten, aber doch seinen literarisch-sprachlichen Verfahrensmodalitäten angeblich homogenisiertes Bewusstsein zu behaupten. Fauconnier und Turner behaupten allen Ernstes, es liege ein originärer Denkprozess, also ein Fall von »conceptual blending«, wie die Zauberformel lautet, im Falle des Skilehrers vor, der seinen Zöglingen eine Skibewegung mit der Instruktion beizubringen versucht, sie sollten
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sich einen ein Tablett mit einem Champagnerglas und Croissants mit aller Vorsicht tragenden Kellner in einem Pariser Café vorstellen. Natürlich sind hier Elemente von »conceptual blending« im Spiel. Aber das Entscheidende dürfte doch, worauf etwa Moshé Feldenkrais immer wieder hingewiesen hat, wohl die Bewusstheit eines bildlich vorgestellten Bewegungsablaufs und des Bewegungsgefühls dabei sein. Fauconnier und Turner räumen das en passant auch ein: »What counts are direction of gaze, positioning of the body, and overall motion« (Fauconnier/Turner 2002: 21). In seinem vorhergehenden Buch The Literary Mind. The Origins of Thought and Language (1996) hatte Turner gar »conceptual blending«, Alltagsdenken und literarische Schemata zur großen Einheitssauce verrührt. In der Tat: Wer wollte bestreiten, dass wir andauernd mit Geschichten, Projektionen, Parabeln (wobei »parable« »the projection of story« ist) – kurzum: »narrative imagining« als »fundamental instrument of thought« (ebd.: 7) – operieren? Vorübergehend schieben sich die Themen »image schemas«, »complex image schemas«, »kinesthetic« oder »auditory« oder »tactile image schemas« in den Vordergrund. Deren Integration habe Antonio Damasio mit dem Begriff der »convergence zones« versucht. Damasio bemühe sich, Ordnung in die Vielfalt – und die vielfältige Hirnlokalisierung – des Gedächtnisses, der motorischen und der bedeutungshaften Prozesse zu bringen. Die Theorie Gerald Edelmans über neuronale Gruppenselektion wird hinzuzitiert. Doch dann macht Turner fröhlich mit heruntertransformierten Metaphorologien weiter. Er führt Lakoffs und Johnsons Metaphors We Live By, ferner abgesunkene, zu Geschichtchen und Geschichten montierte Elementarmetaphern (»Die Kommission gab schließlich nach und brach zusammen«) ins Feld, Elemente also, die wir uns im Sinne W. Schapps für unsere Verstrickungen des Lebens tagtäglich zusammenbrauen. Mit Turners »literary mind« kommen wir wohl nicht weiter. Vermutlich aber mit den von ihm und Fauconnier so schlampig zitierten und halbherzig verwendeten Hirnforschern Edelman und Damasio. Edelman und Tononi haben in einem neueren Werk A Universe of Consciousness. How Matter Becomes Imagination (2000) ähnlich wie auch Roth vor allem die nach Inhalten, Intensitätsgraden und Bewusstseins-/Bewusstheitsabstufungen, nach Schattierungen, Tönungen und Aufmerksamkeitsgraden variierende »incomparable richness of being« hervorgehoben: »variability«, »the variety of discriminable situations« darf als Schlüsselwort gelten (vgl. ebd.: 20-22, 29-32, 85 usw.). Die Integration dieser nach Milliarden zählenden möglichen Bewusstseinssituationen ist weitaus schwieriger als sich das Turner vorstellt. Es besteht Einigkeit bei den ›seriösen‹ Hirnforschern darüber, dass weder Bewusstsein überhaupt noch
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auch etwa Gedächtnisleistungen wie ein Computer organisiert sind. Beide lassen sich nicht in Repräsentationsbegriffen beschreiben, wie wir sie bei den ›symbolischen‹ Aktivitäten unserer syntaktischen und semantischen Fertigkeiten verwenden. Denn die Bewusstseinssignale enthalten keine präcodierten Botschaften; wir kennen die Bewertungscodes des Gehirns, vor allem des limbischen Systems nicht, die für die Qualia (Damasio), das »selective matching« verantwortlich sind (Edelman/Tononi 2000: 94f.). Einheit und Kohärenz solcher Mannigfaltigkeit sind durch enge Kapazitätsgrenzen beschränkt – »we cannot keep in mind more than a few things«, es gibt nur wenige »independent entities«, die wir in einem bewussten Zustand unterscheiden können, ohne dass »the integration and coherence of that state« gefährdet würde (ebd.: 26). Im Blick auf die geforderten Integrationsleistungen des Lesens vor allem bei längeren Texten stimmt das nicht gerade hoffnungsfroh. Generell kann die durchs Gehirn vermittelte »phenomenal experience« (ebd.: 220) sprachlich schlecht wiedergegeben werden. Edelman und Tononi wollen deshalb nicht zu den Mystikern überlaufen. Sie machen Hoffnung, dass es sowohl wissenschaftlich wie auch medial erheblich zu differenzierende Umwege der Annäherung gibt. Aber welche? Der medialen Differenzierung hat sich am entschiedensten wohl Damasio angenommen. Für ihn ist das menschliche »Kernbewusstsein« nichtsprachlich; der repräsentationale, der Bezeichnungscharakter der Sprache spricht gerade dagegen, dass sie für das Bewusstsein viel bedeutet, denn offenbar geht den Bezeichnungen ja etwas voraus, was durch die Sprache dargestellt, vor allem aber auch fiktionalisiert wird (Damasio 2002/1999). Die Erzeugung von Bewusstseinskarten kann man sich nach Damasio besser als Film oder auch als Pantomime vorstellen – so wie etwa Jean-Louis Barrault in Kinder des Olymp einen Uhrendiebstahl mimisch darstellt. »Wortloses Geschichtenerzählen ist natürlich«. Es geht der Sprache, deren Vorbedingung es ist, voraus – und fällt nicht wie bei Turner damit zusammen. Gerade Hamlet zeige mit seinen elementaren Fragen (»Wer da?« usw.), so Damasio in einer für Shakespeare-Experten in der Tat interessanten These, wie schwierig es sein kann, die Ursprünge und die Koordinaten der eigenen Situation zu begreifen. Selbst das erweiterte Bewusstsein, welches so etwas wie autobiographische Strukturierungsmomente (elementare Erfahrungsgeschichten wie einen zeitlich gegliederten Vorstellungsraum von Schmerz und Freude) enthält, kommt ohne Sprache aus, nicht aber ohne beträchtliche Gedächtnis- und Denkleistungen. Es wird durch Sprache bereichert, aber eben auch fiktionalisiert (ebd.: 224, 228f., 237, 375f.). Wer liest, begibt sich daher nicht nur in der Literatur zumindest tendenziell in ein Feld von Fiktionen. Diese neigen dazu, polymodale Inten-
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sitäten des Bewusstseins zu zersetzen. Daher bilden fast alle Textsorten Strategien aus, welche dieser Zersetzung gegensteuern. Solche Strategien können bei vielen nichtliterarischen Textsorten im gezielten Einsatz von plausibilisierbaren Normen und Interessen bestehen, die sich mit Beispielen erläutern, ›illustrieren‹ lassen (müssen). Im Blick auf literarische Texte freilich könnte ein unfreiwillig ironischer Kurzschluss in der Feier von Fiktionalität stecken, welche die Literaturwissenschaft oft der Literatur hat zuteil werden lassen. Erfahrene, teilweise auch andersmedial tätige Autoren wie Samuel Johnson, Oscar Wilde, Wolfgang Hildesheimer u. a. haben bemerkt, dass diese Art der Fiktion weder eine Art Anbiedern der Literatur bei den gesellschaftlich herrschenden und deshalb für Realität gehaltenen Fiktionen verhindert (Oscar Wilde nannte das »the decay of lying«) noch vor einem quälenden Irrelevanzverdacht schützt. (Das Lügen im Sinne Oscar Wildes ist eine mögliche Form von Spiel, weil die ›Wahrheit‹ gekonnten und variablen Stilisierens bewusstseinsadäquater ist als ein wie auch immer gearteter rein sprachlicher Wahrheitsversuch.) Samuel Johnson wunderte sich daher gelegentlich über Leute, die literarische Bücher zu Ende lesen. Spätestens seit Oscar Wilde steht die Frage, aus welchen Texten eine Literaturgeschichte bestehen könnte, einigermaßen offen im theoretischen Raum. Man kann die Frage heute umformulieren: Wie gelingt es den – metaphorischen usw., textuell ohnehin etwas blassen, in der Moderne nochmals vielfältig gebrochenen – Konkretisierungs- und Verlebendigungsstrategien der Literatur, in das polymodale Spiel der derzeit neurowissenschaftlich erhärteten Tatsächlichkeiten des Bewusstseins und des Imaginären einzusteigen? Sicher lassen sich, wenn man nicht wieder einmal irreführende Banalitäten wie die vom Tod der Literatur oder auch ihre hochgemute Apologie verkünden will, gute Antworten auf solche Fragen finden. Sicher dürfte aber auch sein, dass für die Zwecke des polymodalen Spiels neben der etwa vom Film verkörperten intermedialen Typik die emotionalmotorische Kopplungsfähigkeit der Musik und ihr Assoziationspotenzial eine zentrale Rolle spielen. Das heißt nun alles nicht, dass man nicht die Steigerung, sondern die weitere Absenkung sprachlicher Leistungen, das noch reflexionslosere Eintauchen in die Ströme der allerorten zum Billigtarif angebotenen Bilder oder Töne fordern könnte. Was aber folgt dann aus den vorstehenden Ausführungen, wenn überhaupt etwas daraus folgt? Ich riskiere einige institutions- bzw. disziplinbezogene Andeutungen. Da man die Lesekompetenz nicht reduzieren darf, sondern eher noch steigern sollte, müssten die Selektionen im Blick auf Leseinhalte sowohl härter wie auch variationsreicher werden. Die
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Lektüre eines Kanons, einer vermeintlichen kohärenten geschichtlich ausdifferenzierten Serie von Texten (›Literaturgeschichte‹) kann nicht eingeklagt werden. Stattdessen müsste die Lektüre bestimmter Texte sowohl nach Umfang wie Intensität und Interesse von Fall zu Fall begründet werden. Dabei kann man sich Ablehnungen einhandeln. Jedenfalls drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Einrichtung der Literaturwissenschaften als unabhängiger Fächer (mit, selbstverständlich, ewigen Außenbegründungsproblemen sowohl kultureller wie theoretischer Art) insoweit ein akademischer Irrläufer war, als diese sich über lange Zeit als flächendeckende Textinterpretationsanstalten verstanden. Dilthey hatte sicher ursprünglich etwas anderes, kulturwissenschaftlich Weiteres im Blick, auch wenn sich dieser Blick zeitweilig auf das Erlebnis und die Dichtung verengt haben mag. Selbst die verdienstvollen und anstrengenden Bemühungen, kritisch-historische Texte und Gesamtausgaben von Autoren zu erstellen, verstehen sich beileibe nicht von selbst. Es genügt, an Shakespeare zu denken. Es könnte sein, dass ein »authentischer Shakespeare« gerade nicht in der Fixierbarkeit des Textes, sondern, wie Stephen Orgel in einem neueren Buch mit dem halbironischen Titel The Authentic Shakespeare (2002) variationsreich zu demonstrieren sucht, in der ständigen performanztauglichen Neu- und Umschreibung vorläufiger Textbausteine besteht. Die Neurobiologie, speziell die Hirnforschung, dürfte den Kulturund Medienwissenschaften daher am ehesten die Erforschung polymodaler Verhältnisse nahe legen. Kultur- und medienwissenschaftlich schlagen sich diese als Medienkonfigurationen nieder. Die Geschichtlichkeit der Wahrnehmung könnten wir neurowissenschaftlich als Umbesetzungen in den Figuren der Polymodalität, diese medienwissenschaftlich ab und an als Medienumbrüche zu erfassen versuchen. Wären wir ein Genie wie Shakespeare, so Damasio (2002: 272), könnten wir die Kämpfe unseres Selbst dazu benutzen, das ganze Personal des abendländischen Theaters oder was auch immer zu erschaffen. Wären wir Fernando Pessoa, könnten wir die Komplexität vier verschiedener Dichter mit einer Feder bzw. einem Computer entwerfen. Aber am Ende ist es, nach kaum 20 Jahren Theaterlaufbahn, derselbe Shakespeare, der sich nach Stratford zurückzieht und seiner Frau sein zweitbestes Bett vermacht, derselbe Pessoa, der die leseerzeugte Komplexität in einem Lissabonner Krankenhaus im Alkohol zu vergessen sucht. Wir könnten auch an Rimbaud denken, der als Teenager ›große‹, aber eigentlich nicht mehr zu interpretierende Gedichte schreibt und Erhebliches an Drogen konsumiert, danach sich zum erfolgreichen Geschäftsmann zwischen Afrika und Europa mausert und nach einer Knieoperation mit 36 Jahren stirbt.
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Der viel schreibende und sehr schwer zu lesende A. N. Whitehead – der gelegentlich Briefe Bertrand Russells nicht beantwortete, weil sie ihn von mathematischer Denkarbeit abhielten, die europäische philosophische Tradition für eine Folge von Fußnoten zu Plato hielt, der sich für die Rolle der Eingeweide und körperlicher Gefühle ebenso wie für die Möglichkeit von »presentational immediacy« interessierte – dieser Whitehead sah die Grenzen der lesbaren Welt eng gezogen. »The philosophy of organism abolishes the detached mind« – ein distanziertes Bewusstsein, welches die Formen eines interpretierend geregelten, aber auch noch jene des wirkungsästhetisch in die Freiheit entlassenen Lesens eigentlich voraussetzen. Die Selbstbestimmung seiner Philosophie als realistische Version des absoluten Idealismus F. H. Bradleys, die ebenso umfassende wie differenzierte Theorie der Gefühle als positiver Erfassungsakte im Rahmen einer Zell-Theorie des Wirklichen (actuality), – all das ließe sich womöglich heute annäherungsweise neurowissenschaftlich reformulieren und kunst- bzw. medienwissenschaftlich differenzieren. Vielleicht könnten sich diese Disziplinen in entsprechend stilistisch-begrifflicher Ernüchterung dann an Whiteheads Bestimmung der Philosophie zumindest anhängen: »Philosophy is the welding of imagination and common sense into a restraint upon specialists, and also an enlargement of their imaginations. By providing the generic notions philosophy should make it easier to conceive the infinite variety of specific instances which rest unrealized in the womb of nature« (Whitehead 1979/1929: 17; vgl. S. xiii, 11-13, 39, 48-51, 122, 162f., 219-280).
Mit dieser ›Definition‹ der Philosophie liefert Whitehead natürlich keine Bestimmung des Lesens. Wollte man sie gleichwohl als eine Art Inspiration für eine solche Bestimmung benutzen, müsste man sich Analogien und Differenzen ausdenken. Ein Set solcher Analogien und Differenzen bestünde sicherlich im instrumentellen Charakter (»„By providing the generic notions philosophy should make it easier ...«) der jeweiligen Tätigkeit. Das polymodale, die Übergänge in Anderes vorbereitende und organisierende Lesen wäre dann ein notwendiger (Um)Weg zu seiner eigenen, immer wieder aufgeschobenen Abschaffung. Übergänglichkeit aber ist ein zentrales Moment des Spiels in D. W. Winnicotts Theorie (1971). Man muss vielleicht nicht einmal die etwas billige Ausbeutung der Titel Whiteheads und Winnicotts scheuen. Das Spielerische könnte man sich demnach als Prozess (der Übergänglichkeit) denken. Das Schicksal des Lesens ist dann sicher auch damit verknüpft, inwieweit es – etwa – der Literatur gelingt, Multisensorisches in der sensori-
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schen Deprivation des Lesens monotoner Buchstaben in attraktiven Formen zu suggerieren, ohne die Leser pornographisch oder naturalistisch zu düpieren. Der Verwandlung der negativen Metapher des Spiels ohne Ball in eine positive stünde dann nichts im Wege. Ob man mit dem Lesen – und sei es nur metaphorische – Tore erzielen kann, steht allerdings immer noch dahin.
FRAGEBOGEN ›SPIEL UND ERKENNTNIS‹ I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchen Sie sich aus und warum?
Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: »Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt?«
»Wozu ist Stroh gut?«
»Womit kann man schreiben?«
II Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft?
2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben?
194 Fragebogen
3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben?
4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment.
5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler?
6 Welche Entdeckung hätten Sie gern gemacht?
7 Wer ist Ihr Lieblingswissenschaftler?
Können Sie uns drei Synonyme für (ihren Lieblingswissenschaftler) nennen?
8 Bitte vervollständigen Sie die beiden folgenden Sätze: »Aufklärung ist …«
»Der Mensch ist nur da ganz Mensch …«
›Spiel und Erkenntnis‹ 195
9 Was ist Ihre Lieblingstheorie und warum?
10 Welches Buch hätten Sie gern geschrieben?
11 Wie sähe Ihr idealer Studierplatz aus?
12 Was würden Sie gern können und was würden Sie gern noch lernen?
13 Was ertragen Sie nur mit Humor?
14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen?
15 Ist Ihnen schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen?
16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen?
17 Was ist des Pudels Kern?
THEATER
INKOGNITO Ein Stationenstück in fünf Szenen
DRAMATIS PERSONAE Die Wissenschaftler Marcel Beyer Hartmut Böhme Hannes Böhringer Bernhard Dotzler Isabelle Graw K. Ludwig Pfeiffer Andreas Platthaus Hans Ulrich Reck Helmar Schramm Christoph Wulf Rüdiger Zill weiterhin Der Bibliothekar Der Pudel Die Verkäuferin Die Vernunft
200 Ein Stationenstück
1. Szene – Die Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher Die Wissenschaftler, der Bibliothekar und die Vernunft (inkognito als einsamer Leser) Es ist still und das Sonnenlicht bricht sich in den hohen Fenstern. Die Wissenschaftler stehen im Hauptgang der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher und schütteln sich gegenseitig die Hände. Kurz vor einem hinten gelegenen Seitengang steht ein Sessel. Darauf sitzt die Vernunft, inkognito als einsamer Leser, und blättert in einem Buch. ERSTE STIMME: Wo sind wir hier? Der einsame Leser (die Vernunft) schaut auf und räuspert sich vorwurfsvoll. ZWEITE STIMME: (flüsternd) Ich weiß es nicht. Eben noch war ich in meinem Büro und hatte eine seltsame Einladung in der Hand. DRITTE STIMME: (erregt) Ich auch! Auf meiner stand, ich solle den beigefügten gelben Umschlag öffnen und eine Karte ziehen. VIERTE STIMME: Ich habe den Karo-Buben ausgewählt, weil auf seiner Rückseite auszugsweise der Windmühlenkampf des Don Quijote stand. Aber ich sehe hier gar keine Riesen. Aus den hinteren Gängen der Bibliothek tritt ein eleganter Herr hervor. Mit einer steifen Verbeugung gesellt er sich dem Kreis hinzu. DER BIBLIOTHEKAR: Guten Tag meine Dame, willkommen die Herren. Willkommen in der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. BERNHARD DOTZLER: Wo finde ich die Anleitung zur Schlagfertigkeit? DER BIBLIOTHEKAR: Das ist nicht so einfach. Schlagfertigkeit ist ein schwieriges Geschäft. Ich darf mich Ihnen zunächst vorstellen: Ich bin der Bibliothekar dieses außergewöhnlichen Instituts. Sie kennen sich sicherlich untereinander? Allgemeines Nicken. DER BIBLIOTHEKAR: Sie wundern sich vielleicht, was der Grund Ihrer Anwesenheit hier sein könnte. Ich habe mir erlaubt, Sie an diesen ungewöhnlichen Ort einzuladen, weil ich Sie um einen Gefallen bitten will. Ich verwalte in diesen Räumen alle denkbaren Gedanken und Einsichten wie auch die ungedachten Halluzinationen und Träume.
Inkognito 201
Seit Jahren arbeite ich an einer Systematik, die es mir erlaubt, jedem Neuzugang einen eindeutigen Platz zuzuweisen und ihn nach klaren Regeln zu verschlagworten. Doch sehen Sie selbst. Gerade erhalte ich ein Werk Die Tugend der Wissenschaft. (schüttelt ärgerlich den Kopf) Tugend der Wissenschaft! Was für eine Tugend sollte das denn sein? BERNHARD DOTZLER und HARTMUT BÖHME: (gleichzeitig) Neugier. K. LUDWIG PFEIFFER: Leichtigkeit. HANNES BÖHRINGER: Klarheit. ISABELLE GRAW: Nicht zu wissen. ANDREAS PLATTHAUS: Erkenntnis sammeln. MARCEL BEYER: Aufrichtigkeit. HANS ULRICH RECK: Wahrhaftigkeit ist es schon lange nicht mehr, außer in idealtypischen, also empiriefreien Abstraktionen, Glauben hat es nie sein dürfen und darf es nicht sein. Nun denn, wie seit je und erst recht Kant: Selbstkritik. CHRISTOPH WULF: Wagemut. RÜDIGER ZILL: Da bin ich jetzt verleitet, Spielerei zu sagen. HELMAR SCHRAMM: Kann man auch sagen: diese Frage interessiert mich nicht? DER BIBLIOTHEKAR: Natürlich, Sie dürfen alles sagen. Ich bin froh, dass wir gleich zum Kern der Sache kommen. Eine Tugend der Wissenschaft ist es wohl auch, sich für bestimmte Fragen nicht zu interessieren. Meine Tugend als Bibliothekar, wenn ich so sagen darf, ist es hingegen, sich für alles zu interessieren und eine lückenlose Ordnung herzustellen. An manchen Tagen jedoch kommt mir mein eigenes Mühen nicht anders vor als ein zufälliges Sortieren von Fragmenten. Statt Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Regelwerken scheint meine archivarische Kunst eher Zufälle und Variationen zu ergeben. Irgendetwas Entscheidendes muss ich übersehen. Aber was? Ich habe mich daher entschlossen, Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Sie alle kennen vermutlich das Gefühl, dass irgendwo etwas fehlt. Wie ich aus Ihren Schriften weiß, haben Sie ja deshalb immer wieder neue Wege beschritten, um Anderes an den Dingen zu entdecken, und dabei neue Denkweisen erfunden. Das ist es, was ich brauche! Ein anderer Blick auf die Dinge, der mir eine klare Ordnung zeigt. Ich wüsste zu gern, wie man das macht! Darf ich Sie bitten, sich meiner Suche anzunehmen und Ihnen dabei zusehen? Ich bin sehr neugierig, wie Sie ein solches Problem angehen würden. HANNES BÖHRINGER: (zustimmend) Neugier ist eine Eigenschaft, die jeder Wissenschaftler haben sollte. ISABELLE GRAW: Ja, Neugierde, Offenheit und Genauigkeit. ANDREAS PLATTHAUS: Ehrlichkeit. BERNHARD DOTZLER: Und Variationsreichtum. Das größte Abenteuer für
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einen Wissenschaftler ist es doch, sich auf so unbekannte Situationen wie diese einzulassen. MARCEL BEYER: Und das Finden. DER BIBLIOTHEKAR: Es freut mich, dass Sie meinem Anliegen so positiv gegenüberstehen. Ich bin gespannt auf die Entdeckungen, die Sie bzw. wir machen werden. HARTMUT BÖHME: Ich bin kein Entdecker, sondern ein Nachdenker. ANDREAS PLATTHAUS: (mit einem neugierigen Blick in Richtung der Regale) Ich hätte ja gerne den einundfünfzigsten Jahrgang der Peanuts entdeckt. Charles Schulz ist nämlich nach dem fünfzigsten Band gestorben. DER BIBLIOTHEKAR: (leicht irritiert) Ich glaube, gelesen zu haben, dass zu den Eigenschaften, die jeder Wissenschaftler haben sollte, auch die Geduld zählt. HANS ULRICH RECK: Und die Verzweiflung am Leben, die er in eine Erkenntnis umzusetzen bestrebt ist. Die Fähigkeit zur Verzweiflung ist eine ganz grundlegende Fähigkeit. Nur ja kein ›positives Denken‹, denn das führt unweigerlich zu vollkommenen Katastrophen, wie ja überhaupt die Gutmeinenden hierin die Schlimmsten sind. MARCEL BEYER: Wissenschaftler brauchen aber auch Humor. DER BIBLIOTHEKAR: (überrascht) Ich hätte eher gedacht, dass es die Vernunft ist, auf die es am meisten ankommt. HANNES BÖHRINGER: Mir ist sie leider noch nicht begegnet. K. LUDWIG PFEIFFER: Ich kann mich nicht erinnern ... etwas Besonderes war es jedenfalls nicht. BERNHARD DOTZLER: Nein, mir ist sie auch nicht begegnet. Ich habe sie aber auch nie gesucht – und so geschah nichts. RÜDIGER ZILL: Mir kann sie gar nicht begegnen. Das klingt jetzt ein bisschen komisch, aber Vernunft ist ja eine Hypostasierung von Verfahren. Man beschwört sie immer: ›kritische Rationalität‹ oder ›kommunikative Rationalität‹. Ich halte das alles für ein Missverständnis. Vernunft ist etwas, das den Prozess bildet, das bestimmte Verfahren und bestimmte Atmosphären ausmacht. Man kann das nicht in einen Einzelnen legen, allenfalls in eine vernünftige Entscheidung. HELMAR SCHRAMM: Mir ist sie oft im Leben begegnet, im wahrsten Sinne des Wortes, und dabei sind immer sehr schockierende Dinge passiert. Der einsame Leser (die Vernunft) schaut nochmals auf – diesmal amüsiert. HARTMUT BÖHME: Bei der Vernunft als Person weiß man ja nie, ob sie eine mütterliche Matrone oder ein anorektisches Wesen ist. Insofern möchte ich ihr lieber gar nicht begegnen, sondern sie in jener Unbestimmtheit halten, die zeigt, dass man sich von ihr lieber kein Bild machen sollte. ISABELLE GRAW: Ich glaube, mir ist sie wirklich in der Person Kants begegnet – und ich habe mit ihr gerungen.
Inkognito 203
ANDREAS PLATTHAUS: Mir begegnet sie immer wieder in Büchern. Was
dabei geschieht sind wunderbar erhellte Momente, meistens in tiefer Nacht und in tiefer Zufriedenheit vor dem Zubettgehen. CHRISTOPH WULF: Mir ist sie nicht begegnet, aber viel Vernünftiges und nicht weniger Unvernünftiges. DER BIBLIOTHEKAR: Meine Dame, meine Herren, vielleicht darf ich Sie nach Ihrer anstrengenden Reise erst einmal zu einer kleinen Erfrischung einladen. Bitte hier entlang.
2. Szene – Im Gasthaus zur grauen Theorie Die Wissenschaftler, der Bibliothekar, die Vernunft (inkognito als neugieriger Gast), der Pudel und weitere Gäste Im dem überfüllten Raum machen Wein und Bier die Runde. Ein Pudel läuft durch die Reihen. Der Tisch hinten rechts ist besonders laut und die Diskussion schon weit fortgeschritten. Vom Nebentisch brüllt jemand: GAST: Des Pudels Kern ist doch, dass es keinen gibt. Hans Ulrich Reck und Bernhard Dotzler murmeln zustimmend. CHRISTOPH WULF: (ebenfalls zustimmend) Es gibt nicht den Kern. Es gibt auch nicht den Kern des Menschen, des Individuums, der Sache usw. – und genauso ist es mit dem Kern des Pudels. K. LUDWIG PFEIFFER: Des Pudels Kern ist leer. HARTMUT BÖHME: Ich sage, es ist das Geheimnis. HANNES BÖHRINGER: (nickt) Wenn ich wüsste, was des Pudels Kern ist, dann müsste ich ja keine Philosophie betreiben. Pudelbellen. RÜDIGER ZILL: Wenn er einen Kern hätte, wäre er tot. ANDREAS PLATTHAUS: Des Pudels Kern ist hoffentlich das Herz. MARCEL BEYER: Der Pudel ist das Wesen, und das verändert sich natürlich permanent. Der Bibliothekar tritt an den Tisch heran. DER BIBLIOTHEKAR: Guten Tag meine Herrschaften, wie ich sehe, sind Sie bester Stimmung. Darf ich? Zeigt auf die Weinflasche und schenkt sich ein. CHRISTOPH WULF: Wissenschaft macht nur Spaß, wenn sie im geselligen
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Kontext stattfindet, wenn man zusammen isst, trinkt und lacht. Dann ist man erst in der Stimmung, in der man Experimente machen kann, in der man sich etwas Neues anschaut oder in der man einfach darüber staunt, dass man, was man immer schon wusste, plötzlich nicht mehr weiß. Diese merkwürdige Erfahrung, dass etwas Vertrautes plötzlich fremd wird. Man kann auch sagen, es ist nötig, schielen zu lernen, also die Dinge anders zu sehen. Für das Finden neuer Ideen ist es sehr wichtig, sich die Dinge von der Seite anzuschauen, Vertrautes fremd werden zu lassen, zu staunen, zu fragen und Antworten zu suchen. HANNES BÖHRINGER: Ja, Wissenschaft braucht Geselligkeit, Austausch der Forschungsergebnisse, die in den Naturwissenschaften meist auf Experimente zurückgehen. Erst durch die Geselligkeit der Forscher können die Experimente relativiert und falsifiziert werden. So kann es weitergehen. DER BIBLIOTHEKAR: Haben Sie denn schon etwas herausgefunden? Eine Lücke in den theoretischen Grundlagen meiner Wissensordnung vielleicht? (holt ein Notizbuch hervor und schlägt es auf) Habe ich eine Theorie übersehen? Einige von Ihnen haben anstrengende Lektüretage in diversen Bibliotheken hinter sich? HELMAR SCHRAMM: Ein Wissenschaftler braucht eine ungeheure Menge Masochismus. Wissenschaft zu betreiben ist eigentlich ungeheuer lebensfeindlich in vielerlei Hinsicht. Allein diese Konzentration aufzubringen oder das permanente, geradezu wahnwitzige Aufhalten im Laboratorium oder ein ebenso, wenn nicht noch schlimmeres, Gebundensein an irgendwelche Regale im Archiv. Für den Wissenschaftler ist damit natürlich immer auch eine bestimmte Lust impliziert, aber es ist halt so: Wenn man ein Buch liest, kann man in dieser Zeit nicht viel anderes machen. Das ist ein großes Problem: Man muss eine ungeheure Energie aufbringen, um den eigenen Lebenswillen niederzuschlagen. DER BIBLIOTHEKAR: Das ist interessant, dass Sie das sagen. Ich bin zwar auch tagaus tagein von Büchern umgeben, doch ich muss sie nicht lesen oder gar schreiben. Meine Passion ist es, sie zu ordnen. Bei Ihnen ist das sicherlich etwas Anderes. (gießt sich weitersprechend Wein nach) Das wollte ich eigentlich immer schon einmal fragen, ob Sie noch so etwas wie Passion für Ihre Gegenstände empfinden können? Ich meine, haben Sie beispielsweise so etwas wie eine Lieblingstheorie? Ein neugieriger Gast (die Vernunft) am Nebentisch hört aufmerksam zu, unbemerkt. HANS ULRICH RECK: Sie meinen das ganz unspezifisch, so wie wenn man fragt, was ist Ihre Lieblingsmusik? Als Theorie? Na gut, ich sage etwas ganz Konventionelles. Wenn Theorie zu verstehen ist als ein
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Arbeiten an überprüfbaren Fortschritten in Feldern, die mich interessieren in Bezug auf Vorstellen und Imaginieren, dann ist meine Lieblingstheorie das Lebenswerk von Jean Piaget. Es könnte aber auch ein anderer genetischer Strukturalismus von solcher Qualität sein. BERNHARD DOTZLER: Meine Lieblingstheorie ist die vom Warp-Antrieb, weil ich sie nicht verstehe. Da fehlt mir einfach die Raum-Zeit-Physik. Der Warp-Antrieb ist eigentlich die netteste Theorie, die ich mir vorstellen kann. MARCEL BEYER: Meine Lieblingstheorie ist die Theorie der spontanen Selbstverbrennung. Zum ersten Mal habe ich davon von Ihnen gehört, Herr Pfeiffer: Man befürchtete, Menschen könnten von jetzt auf gleich innerlich verbrennen. Das wurde sehr ernst diskutiert. Erst mal ging man davon aus, dass es das gibt, und dann musste man eine Theorie dazu entwickeln, wie das dann passiert ... vielleicht ein falsches Essen oder so etwas. ANDREAS PLATTHAUS: Meine Lieblingstheorie ist die Gegenthese zur StellaAnatium-Theorie. Die Stella-Anatium-Theorie besagt, dass Entenhausen in einem uns unzugänglichen Paralleluniversum liegt. Jeder, der sagt, das ist nicht so, hat meine volle Sympathie. DER BIBLIOTHEKAR. Jetzt sagen sie aber nicht, ihr Lieblingswissenschaftler sei Carl Barks? ANDREAS PLATTHAUS: Doch. Der Donald-Duck-Zeichner ist gleichzeitig Autor der Comédie Humaine des zwanzigsten Jahrhunderts und größter Comiczeichner aller Zeiten. Rüdiger Zill lehnt sich offensichtlich erfreut zu Andreas Platthaus, der neben ihm sitzt. RÜDIGER ZILL: Mein Lieblingswissenschaftler ist der erste, den ich kennen gelernt habe: Daniel Düsentrieb. Er hat Humor, ist von nie erschlaffender Kreativität und hat im rechten Moment immer die richtige Lösung. DER BIBLIOTHEKAR: Aha, Lieblingswissenschaftler existieren also auch. Aber sie waren mit den Theorien noch nicht am Ende ... ISABELLE GRAW: Meine Lieblingstheorie ist – das klingt jetzt ein bisschen prätentiös, aber ich sage es trotzdem – die Dekonstruktion, weil sie so schön anwendbar ist. K. LUDWIG PFEIFFER: Ich würde mich für die philosophische Anthropologie entscheiden, sofern sie auch biologisch interessiert ist. CHRISTOPH WULF: Mich interessiert nach wie vor, womit ich mich schon seit zehn Jahren beschäftige, die Frage des Mimetischen im Sinne eines komplexen Prozesses, der kreativ ist und nicht einfach Kopien herstellt. Mimesis ist meiner Vorstellung nach die Kraft, die kulturelles Lernen ermöglicht. Nach wie vor interessiert mich der Ablauf mimetischer Prozesse.
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HELMAR SCHRAMM: Für mich kann die Lieblingstheorie, sofern sie mit dem
eigenen Denken zu tun hat, immer nur über eine bestimmte Zeit existieren. Vieles, was man für sehr wichtig hält, wird absolut unerträglich durch die gefährlichen Liebschaften mit dem großen institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb. Zum Beispiel war das Wort ›Theatralität‹ für mich in einer gewissen Frühphase einmal sehr wichtig und sehr innovativ und interessant. Inzwischen ist es eins der schrecklichsten Wörter, die ich kenne. Das heißt, die Frage der Lieblingstheorie hängt eng zusammen mit der Frage, wie sich die Dinge entwickeln. In der Zwischenzeit schenkt sich der Bibliothekar immer wieder Wein nach. RÜDIGER ZILL: Meine Lieblingstheorien sind die reflektierenden und in sich reflektierten, die mit doppeltem Boden, mit mehreren Ebenen arbeiten und sich selbst in sich spiegeln. HANNES BÖHRINGER: Für mich sind Theorien keine Spielzeuge, von denen ich sagen könnte: es gibt solche, die ich mag und nicht mag, Spielzeuge in einer Spielzeugkiste. Theorie hat für mich noch etwas mit Kontemplation zu tun. DER BIBLIOTHEKAR: (mit geröteten Wangen und erstmals leicht gestikulierend) Aber einen Lieblingswissenschaftler haben Sie? HANNES BÖHRINGER: Ja, den Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftler Pascal. DER BIBLIOTHEKAR: (das Glas hebend) Ein Hoch auf die Philosophen! Allgemeines Anstoßen. CHRISTOPH WULF: Ich habe mich früher sehr intensiv mit Platon beschäftigt. Müsste ich drei Synonyme für Platon finden, würde ich sagen, Nietzsche, Zen und Picasso. K. LUDWIG PFEIFFER: Bei mir wäre es David Hume: Skepsis, Weitermachen, Geselligkeit. MARCEL BEYER: Mein Lieblingswissenschaftler ist Michel Leiris: Zweifler, Zauderer und Essayist. BERNHARD DOTZLER: Turing: schwul, störrisch, intelligent. HANS ULRICH RECK: Für mich keiner, denn einer alleine kann es nicht sein. Ich arbeite – durchaus als ich selber und auf mich gestellt – immer in Konstellationen, vorzugsweise in Kooperation mit Toten. Dass dem nicht so ist, kann man sich nur zwischenzeitlich und mittels Verblendungen vormachen. Dabei denke ich keineswegs an Gebilde wie die scientific community oder eine langfristige Verbesserung des Argumentierens durch kommunikative Vereinigung rationaler Subjekte. Eine gewisse Sympathie habe ich eher für historisch subkutan wirkende, allerdings höchst bedeutsame Konstellationen wie die Acéphales, die Encyclopaedia da Costa, die Pataphysik oder auch die Macy-Versammlungen.
Inkognito 207
HELMAR SCHRAMM: Einen Lieblingswissenschaftler? Muss man sowas haben?
Nein? Ok. HARTMUT BÖHME: Mein Lieblingswissenschaftler ist Aristoteles. Er ist anti-
metaphysisch, er versucht, das Unordentliche in eine anschauliche und sinnliche Ordnung zu überführen, und er hat dennoch größte Achtung vor der Ordnung, die der menschlichen Vernunft entspricht und die er mit dieser sinnlichen Ordnung in Korrespondenz setzen möchte. DER BIBLIOTHEKAR: Wobei wir wieder bei meinem Problem mit der Ordnung angekommen wären. (leicht empört) Ihre Lieblingstheorie kenne ich ja auch noch gar nicht! HARTMUT BÖHME: Meine Lieblingstheorie ist die aufgeklärte Aufklärung. Weil die aufgeklärte Aufklärung jene Form der Vernunft ist, die sich selbst gegenüber spielerisch sein kann, sprich ironisch, gebrochen, widersprüchlich, differenziell, und damit den Modus des Literarischen und der Möglichkeit in sich aufgenommen hat. Der neugierige Gast (die Vernunft) am Nebentisch beugt sich noch ein Stück weiter in die Richtung des Wissenschaftlertisches. DER NEUGIERIGE GAST (DIE VERNUNFT): (ein wenig gespielt melancholisch) Will denn heute noch jemand etwas von Aufklärung wissen? Alle schauen den neugierigen Gast (die Vernunft) an. HARTMUT BÖHME: Nun, sie bleibt weiterhin nötig. HANS ULRICH RECK: Heute ist sie wohl eher die Erkenntnis über den nicht selbstverschuldeten Teil der Unmündigkeit. ISABELLE GRAW: Ein Mythos. HELMAR SCHRAMM: Schrecklich. CHRISTOPH WULF: Wirksam, wenn es gelingt, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. BERNHARD DOTZLER: Vorbei. Wäre also dringend neu zu erfinden. DER NEUGIERIGE GAST (DIE VERNUNFT): Das finde ich überaus interessant. Was meinen Sie dazu? HANNES BÖHRNGER. Ich denke, Aufklärung ist nicht alles. K. LUDWIG PFEIFFER: Zumindest nicht das, was Kant gesagt hat. RÜDIGER ZILL: (zustimmend) Entgegen der landläufigen Meinung, die von dem heroischen Einzeldenker ausgeht, der einfach mal seine Vernunft benutzt, sehe ich Aufklärung als ein kollektives Verfahren. Es war sicher ein genialer Coup von Immanuel Kant, diesen Begriff zu besetzen. Wer wissen will, was Aufklärung ist, schlägt in seinem programmatischen Aufsatz nach, obwohl in England und Frankreich längst ein viel komplexerer Begriff von Aufklärung, und vor allem auch ein sozialphilosophischer, entwickelt worden war. Kant war zweifellos einer der einflussreichsten Philosophen, sicher auch ein
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Aufklärer, dennoch würde ich ihn nicht unbedingt als den paradigmatischen Aufklärer bezeichnen. Man sollte die Frage »Was ist Aufklärung?« durch die Frage »Wer ist Aufklärung?« ersetzen. Je nachdem, an wem man sich orientiert, kommt man zu sehr unterschiedlichen Begriffen. DER BIBLIOTHEKAR: (leicht entsetzt) Aber dann gäbe es ja verschiedene Aufklärungen, ein heilloses Durcheinander! Gerade ein Begriff wie Aufklärung muss sich doch eindeutig vernünftig bestimmen lassen. DER NEUGIERIGE GAST (DIE VERNUNFT): (lächelnd zum Bibliothekar) Aber ist denn nur das Eindeutige vernünftig? (blickt in die Runde) Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit der Vernunft, alle eindeutig? CHRISTOPH WULF: Nein, ich habe durchaus ambivalente Empfindungen: Einerseits entlastet es sehr, wenn sich Menschen vernünftig verhalten und andererseits kann es schrecklich langweilig werden. Wenn man Vernunft in einem höheren Sinne meint, dann hat sie mit Verantwortung zu tun, sei es für das eigene oder auch für das darüber hinausreichende Handeln der Menschen. Nach meiner Auffassung ist die Ausübung der Vernunft eine wichtige Fähigkeit. Das gilt, auch wenn man weiß, dass sie in inhaltlicher Hinsicht von kulturellen und historischen Bedingungen abhängt und dass sie manchmal korrumpiert ist. In der Annahme, es gäbe eine Vernunft, steckt ein Stück Utopie, das ich für notwendig halte, um die menschlichen Verhältnisse friedlich zu ordnen. Mir ist natürlich bewusst, dass die Motive historischen Handelns häufig wenig mit Vernunft zu tun haben, sondern dass sie eher interessebezogen sind und im Wunsch nach Lust und Macht wurzeln. Doch muss man dennoch auf die Vernunft setzen, so sehr ihre Möglichkeiten im Einzelfall auch zu relativieren sind. Oft ist die Vernunft hilflos und bedarf der Macht, um sich durchzusetzen. Einsicht reicht nicht; sie ist zu begrenzt. Die Vernunft ist eine regulative Größe, an der man festhalten muss. In unserer Zeit ist sie ein wichtiger Referenzpunkt. Daher würde ich gern freundschaftlich mit ihr umgehen, allerdings auch jeden Allmachtsanspruch zurückweisen. Man lasse mich chaotisch sein und spielen; dann will ich auch gerne vernünftig sein. DER NEUGIERIGE GAST (DIE VERNUNFT): (sein Glas hebend) Darauf stoßen wir an! Alle heben die Gläser, der Bibliothekar besonders beschwingt.
Inkognito 209
3. Szene – Holodeck Die Wissenschaftler, der Bibliothekar Die Wissenschaftler stehen in einem Raum mit schwarzen Wänden, erhellt nur durch gedämpftes Deckenlicht. DER BIBLIOTHEKAR: Ich weiß nicht, ob es sinnvoll war, hierher zu kommen. Aber ich will mich Ihren Wünschen nicht versperren. Eine warme Stimme erklingt. STIMME: Willkommen auf dem Holodeck. Erleben Sie eine neue Dimension! Hier werden alle Ihre Gedanken Wirklichkeit. Sie haben die Wahl! Entdecken Sie die Welt neu! Leises Raunen unter den Wissenschaftlern. RÜDIGER ZILL: In dieser Hinsicht bin ich gar nicht ehrgeizig. Bei allen nützlichen Entdeckungen und Erfindungen bin ich zufrieden, wenn sie überhaupt jemand gemacht hat. HELMAR SCHRAMM: Ich hätte schon gern eine wirkliche Entdeckung gemacht. Zum Beispiel damals, als ich als 10-jähriger Schüler nach Experimenten mit meinem Chemiebaukasten in einem Reagenzglas plötzlich eine weißliche Flüssigkeit entdeckte und darin schwebend einen roten Ring. Im hinteren Teil des Raumes entsteht das Bild eines Jungen mit einem Reagenzglas in der Hand. Darin schwebt ein roter Ring. HELMAR SCHRAMM: Das war ein Moment in meinem Leben, den ich niemals vergessen werde, und zugleich eine der heftigsten Enttäuschungen, weil ich mit dem Ring so dastand, und ich wagte nicht zu zittern und ging dann am nächsten Tag auch so in die Schule zu dem Chemielehrer, glaubte eine riesengroße Entdeckung gemacht zu haben – den Schrammschen Ring – und dieser Chemielehrer, namens Apparowsky auch noch sagte eher so über die Schulter: »Ach ja, das ist der und der Ring, jaja« und schüttelte noch so ein bisschen an meinem Glas.
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Die Simulation hält sich noch eine Weile und verschwindet dann. Das Licht geht wieder an. Amüsiertes Räuspern. HARTMUT BÖHME: Das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler ist es doch, auf etwas zu stoßen, wovon er noch nicht mal eine Vorstellung hatte. ISABELLE GRAW: Ich hätte gerne den Minirock entdeckt. Ganz kurz flackert eine Simulation auf, die eine junge Frau zeigt, die gerade einen Rock an einem Modell mit der Schere auf Minirocklänge kürzt. HANNES BÖHRINGER: Ich wäre vielleicht gern auf die Infinitesimalrechnung gekommen. CHRISTOPH WULF: Wenn man es mir angeboten hätte, ich hätte sehr gern einen Abend mit Leibniz verbracht. Ich hätte mich sehr gern mit ihm getroffen, darauf wartend, was sich ereignen würde, was plötzlich auftauchte, wovon man vorher nicht weiß und wofür man die Offenheit des Anderen braucht, dass er sich ebenfalls einlässt und mitspielt. Das hätte eine wunderbare Begegnung werden können. Plötzlich verlischt das Licht. Dann wird es langsam wieder heller. Die Anwesenden befinden sich in einem Raum mit barockem Interieur. In einer Ecke sitzt Gottfried Wilhelm Leibniz und schenkt sich eine dampfende Tasse Tee ein, zwölf weitere Gedecke stehen bereit. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Willkommen meine Herrschaften! Enchanté Madame! Ich freue mich, Sie alle hier in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen. Auf dass wir zusammen ein wenig empirische Erfahrung sammeln und die Geselligkeit pflegen! K. LUDWIG PFEIFFER: Geselligkeit war eine Form experimenteller Wissenschaft im 18. Jahrhundert. BERNHARD DOTZLER: Aber Geselligkeit ist kein wissenschaftliches Experiment. ANDREAS PLATTHAUS: Geselligkeit besteht aus Wissenschaft, die nicht als Experiment betrieben wird. HANS ULRICH RECK: Die Geselligkeit in der Wissenschaft ist keine Folge eines Experimentes. MARCEL BEYER: Irgendwie passt die Geselligkeit nicht dazu, oder? HARTMUT BÖHME: Die Experimentalsituation als Grundform aller neuzeitlichen Wissenschaft ist immer auch eine Form der Kommunikation, also Geselligkeit. RÜDIGER ZILL: Das Experiment in den Wissenschaften ist meistens das Ende der Geselligkeit. ISABELLE GRAW: Wissenschaft ist nur dann gesellig, wenn sie sich Experimenten gegenüber öffnet. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Mir scheint, Sie haben alle ein Faible für Wortspiele und gesellige, wissenschaftliche Experimente. Ich muss zuge-
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ben, auch ich habe große Freude an Gesellschaftsspielen. Erst kürzlich habe ich mir ein neues Spiel ausgedacht, um das Denken zu üben. Haben Sie Lust auf eine Partie? DER BIBLIOTHEKAR: (indigniert) Ich habe eigentlich keine Lust, meine Zeit mit Spielen zu verschwenden. Der Bibliothekar stellt sich demonstrativ gelangweilt in eine Ecke des Raumes und beobachtet das Geschehen. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Wie schade! Ich meine, der menschliche Geist tritt in den Spielen besser als bei den ernstesten Angelegenheiten zutage. Also meine Herrschaften, fangen wir an. Ich stelle die erste Frage: Womit kann man schreiben? BERNHARD DOTZLER: Mit der rechten Mischung aus Geduld und ab und zu einem Einfall. HARTMUT BÖHME: Auch mit Federn. ANDREAS PLATTHAUS: Nur mit Herzblut. HANNES BÖHRINGER: Mit dem dicken Zeh im Sand. Aber ich kann nur mit einem Bleistift schreiben. K. LUDWIG PFEIFFER: Mit den Zähnen. HANS ULRICH RECK: Nur mit dem Leben und dem, was das Leben kostet. HELMAR SCHRAMM: Ich würde wirklich auf materielle Instrumente gehen, angefangen bei den Fingern über Federn bis hin zu eigentlich allen Materialien, die man sich denken kann, außer gasförmigen. Gase entziehen sich irgendwie dem Schreibprozess. RÜDIGER ZILL: Finger, Bleistifte, Reiseschreibmaschinen, Notebooks: Können kann man mit fast allem. Interessanter ist die Frage, ob dabei jeweils andere Texte entstehen, wie manche meinen. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Und wozu ist Stroh gut? K. Ludwig Pfeiffer und Hartmut Böhme beginnen gleichzeitig zu sprechen. K. LUDWIG PFEIFFER: Zum Dreschen. HARTMUT BÖHME: Nicht zum Dreschen. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: (lächelnd) Aha. HANS ULRICH RECK: Metaphorisch und metonymisch: Zum Dreschen, aber nicht Leeres. RÜDIGER ZILL: Um die Gedanken auszupolstern. HANNES BÖHRINGER: Zur Not, um darauf zu übernachten. Aber es kratzt. BERNHARD DOTZLER: Um diese surrealen Landschaftsbilder im Augustlicht zu erzeugen. ANDREAS PLATTHAUS: Nun, im Märchen, um Gold daraus zu spinnen, im normalen Leben, um darauf zu schlafen, um den Strohsack auszubessern, im weiteren Sinne, um auch den Tieren eine angenehme Nachtruhe und vielleicht auch Nahrung zu bieten, im weiteren natürlich zu Mästzwecken. Wenn man denn mehrere Strohhalme hat, kann
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man auch ein Entscheidungsspiel daraus entstehen lassen; und nicht zuletzt sollte man darauf hinweisen, dass bereits die Herstellung von Stroh so viel menschliche Mühe erfordert hat, dass es allemal zu metaphysischen Überlegungen taugt. HELMAR SCHRAMM: Bei einer solchen Frage von einem Menschen wie Ihnen, Herr Leibniz, würde ich denken, dass da etwas dahinterstecken muss. Jemand wie Sie fragt ja nicht einfach so: Wozu ist Stroh gut? im Sinne eines Bauern. Aber vielleicht: Leeres Stroh dreschen? Vielleicht geht es darum, Metaphern zu bilden. Das würde mich zum Beispiel interessieren, ob diese Metapher ›leeres Stroh dreschen‹ zu Ihrer Zeit schon existierte? GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Diese Frage bestätigt Ihre Vermutung, dass ich solche Fragen nicht einfach so stelle – oder vielleicht stelle ich sie gerade einfach so? Eine letzte Frage habe ich noch: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? HELMAR SCHRAMM: Es gibt eine riesige Menge von Aktivitäten, die nicht passieren können, während man einen Becher zu den Lippen führt. Was aber ist möglich? Es ist möglich, dass einem das Zu-den-Lippen-Führen so gut gelingt, dass es einem nicht weiter auffällt. Nur wenn man etwas verkleckert oder etwas anderes passiert, das einen im Grunde genommen stört, wird man auf solche Dinge überhaupt aufmerksam. Im 17. Jahrhundert war die Aufmerksamkeit für solche Automatismen schon sehr ausgeprägt. In Erziehungskonzepten z. B. spielte das eine sehr große Rolle: Es ging nicht nur darum, Verhaltensweisen, z. B. richtiges Essen und Trinken, richtig zu lernen, sondern der Zögling sollte sie am Ende wie ein Klavierspieler beherrschen, der bei seinem Spiel ja auch nicht nachdenken kann. So gehört das Trinken oder einen Becher zu den Lippen führen, genau wie das Klavierspielen, zu den Tätigkeiten, während derer man nicht nachdenken kann und eigentlich auch nicht will. ISABELLE GRAW: Es kommt darauf an, ob der Becher gefüllt ist oder nicht. Aber wenn der Becher gefüllt ist, kann die Flüssigkeit herauslaufen und eine Art Fontäne zwischen Mund und Becher ergeben. Man kann den Becher natürlich auch fallen lassen. Man kann ihn derart kräftig halten – zumal wenn man vielleicht etwas getrunken hat –, dass er zerbirst. Man kann auch nicht treffen, also den Becher, den man eigentlich zum Mund führen wollte, plötzlich an die Wange führen. BERNHARD DOTZLER: Die Welt kann untergehen, es kann ein Stromausfall sein, man kann eine gute Idee haben ... Viel mehr passiert nicht – im Jahr 1704 ja noch nicht einmal ein Stromausfall. HARTMUT BÖHME: Da ich sehr aufgeregt bin, mit dem berühmten Leibniz Tee zu trinken, und mir deswegen die Hand zittert, kann es natürlich
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sein, dass mir der Tee auf meine damals natürlich sehr elegante, weiße Hose kleckert – und ich also noch dazu ganz schamrot werde und dadurch jeden Einwand gegen die Monadologie vergesse. HANS ULRICH RECK: Mich wundert Ihre Frage überhaupt nicht, denn ich denke, dass Sie etwas im Schilde führen. Mehr als die Weltschöpfung könnte nicht geschehen, weniger geschieht allemal in der Zeit, das heißt: sehr vieles. MARCEL BEYER: Der Inhalt des Bechers kann verdunsten. K. LUDWIG PFEIFFER: Der Becher kann aus der Hand fallen. HANNES BÖHRINGER: Es kann eine Tür zufallen, weil der Wind so stark ist. Vor Schreck fällt einem der Becher aus der Hand und zerspringt auf dem Boden. Gott sei Dank nur Wasserflecken auf der Hose. Aber doch ärgerlich. ANDREAS PLATTHAUS: Man kann den Becher fallen lassen, man kann von einem Herzschlag getroffen werden, man kann ein gutes Buch entdecken und den Becher wieder absetzen, man kann verdursten, man kann von einem anderen Wasser angeboten bekommen, was angenehmer aussieht als dasjenige, was man selber gerade zum Munde führt, man kann entdecken, dass man eher hungrig ist, als durstig und sich zum Buffet hinwenden, man könnte feststellen, dass man eine Wasserallergie hat, dass das Wasser an sich schmutzig aussieht, man könnte sich überlegen, dass Wasser prinzipiell nicht so gut als Getränk ist, dass ein Wein vorzuziehen wäre. Solche Dinge ungefähr. CHRISTOPH WULF: Die Welt kann untergehen. Eine Katastrophe sich ereignen. Der Becher fällt einem aus der Hand. Wenn man plötzlich eine Bewegung macht ... – Wir machen dauernd Bewegungen, wissen aber nicht, was eine Bewegung ist. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich eine solche Bewegung in Ihrer Gegenwart hier machte, dass ich mich plötzlich fragte: Was mache ich hier eigentlich? Was ist das, eine Bewegung? Ich könnte ein Aha-Erlebnis haben: Ja, das ist eine Bewegung! Und dann fiele mir auf, dass ich Wasser im Glas habe. – Seit langer Zeit bin ich vom Wasser fasziniert. So segle ich gerne, gehe gerne in Thermalbäder und wohnte gerne wieder wie früher am Rande eines Flusses. Heute trinke ich sogar gerne Wasser. Ich habe Freude an seinem Geschmack – Mir würde vielleicht, wenn ich den Becher mit Wasser hochnehme, plötzlich die Frage kommen: Was heißt es eigentlich, Wasser zu sich zu nehmen? Ich könnte denken: Ach, Du lebst durch das Zu-Dir-Nehmen von Wasser. Vielleicht würde ich dann mit Ihnen, Herr Leibniz, in ein Gespräch darüber eintreten, was eigentlich Wasser sei und welche Bedeutung es für das Leben hat. Panta rhei – alles fließt; nichts bleibt; alles wird formlos und findet immer wieder neue Formen.
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GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ: Neue Formen – ein interessanter Hinweis. Ich
danke Ihnen für Ihre Kooperation. Das bestätigt mich in meiner Sache. Doch jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich arbeite gerade an einer Idee für ein neues Buch. Ein Buch der Spiele, um die Erfindungskunst zu vervollkommnen. Die Simulation verblasst langsam. DER BIBLIOTHEKAR: (aufgeregt) Jetzt ist mir auch noch etwas eingefallen. Während der Becher zu den Lippen wandert, könnte Newton etwas verkleckern und in diesem Moment die Idee für ein Gesetz der Schwerkraft haben. Gerade noch kann man auf dem Gesicht von Leibniz ein Lächeln erkennen. Dann wird es wieder hell. DER BIBLIOTHEKAR: (ungläubig) Das ist ja erstaunlich. Ich kannte Leibniz immer nur aus seinen Endgültigen Notizen zur Monadologie. Ich meine, mich zu erinnern, dass dieses Buch der Spiele bei uns in der Bibliothek steht – aber wo habe ich es noch einmal hinsortiert? Vermischtes? Oder war es Unterhaltung? Ich selbst lese ja nur Fachbücher. Aber die Fragen haben mir doch gefallen. HANS ULRICH RECK: Die besten Fragen sind doch diejenigen, die unabhängig von ihrer Bedeutsamkeit im Hinblick auf irgend etwas aus der Freude an der Lebendigkeit gestellt werden, egal von wem, egal wofür, egal in welcher Richtung, das sind die besten Fragen. ISABELLE GRAW: Die besten Fragen sind die, die man als Zumutung empfindet. HANNES BÖHRINGER: Oder die, die man nicht gleich beantworten kann, auf die einem keine gute Antwort einfällt. MARCEL BEYER: Für mich sind es Fragen, auf die man selber nicht gekommen wäre. K. LUDWIG PFEIFFER: Fragen, auf die man halbe Antworten geben kann. CHRISTOPH WULF: Auf die es keine erschöpfenden Antworten gibt. RÜDIGER ZILL: Oder mehr als eine Antwort. Fragen, die man immer wieder stellen kann, ohne dass einem langweilig wird, ohne dass man das Gefühl hat, dadurch, dass man sie nicht beantwortet, an einem aussichtslosen Verfahren teilzunehmen. Solche Fragen sind aber nicht zu verwechseln mit den angeblich ewigen Fragen. Das ist nur eine müde Ausrede, wenn man sich nicht auf die Details einlassen will. ANDREAS PLATTHAUS: Mir scheint, es gibt keine beste Frage. Der Witz ist, dass wir eigentlich alle Antworten kennen, wir kennen aber keine richtigen Fragen dazu. Das ist ein bisschen die Schwierigkeit der conditio humana. Dementsprechend würde ich sagen, wenn es überhaupt eine gute Frage geben kann – von bester will ich überhaupt nicht reden –, dann wäre es die, wie man all die Fragen finden könnte, die
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wir uns eigentlich stellen müssten, auf die wir längst Antworten haben. STIMME: Vielen Dank für Ihren Besuch! Ihre Zeit ist nun um. Wir freuen uns, Sie bald wieder in unseren Räumen begrüßen zu dürfen. Bitte beachten Sie die Stufen beim Hinausgehen. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Tag!
4. Szene – Im Spielzeugladen Die Wissenschaftler, der Bibliothekar, die Vernunft (inkognito als langjähriger Kunde), der Pudel und die Verkäuferin Die Wissenschaftler bewegen sich auf den Spielwarenladen zu. Der Bibliothekar geht missmutig in einigem Abstand hinter ihnen. Über dem Eingang hängt ein Schild: »DER MENSCH IST NUR DA GANZ MENSCH, ...« Die Gruppe bleibt stehen, schaut sich das Schild an. BERNHARD DOTZLER: Wo er spielt, vielleicht? K. LUDWIG PFEIFFER: Wo er spielt, da würde ich zustimmen. HANNES BÖHRINGER: (nickt zustimmend) Aber arbeiten muss er auch. ANDREAS PLATTHAUS: Ich würde sagen, wo er seinem Leben freien Lauf lässt. CHRISTOPH WULF: Wo er sich richtig freuen kann, wo er springen und jubeln kann. HANS ULRICH RECK: Wo er sich von sich selber als Ganzem verabschiedet. RÜDIGER ZILL: Obwohl ich sonst kein Schiller-Fan bin, ist der Klassiker vielleicht noch immer die beste Formulierung, da sie am meisten Spielraum lässt. HARTMUT BÖHME: Ich würde Schiller auslassen und sagen: wo er liebt. DER BIBLIOTHEKAR: (ankommend, leicht unwirsch) Der Mensch ist da ganz Mensch, wo er die Welt objektiv zu erfassen sucht. Was wollen wir nun auch noch in einem Spielzeugladen? Mir scheint das nicht der geeignete Ort, um mit meinem Anliegen voranzukommen. CHRISTOPH WULF: Zu den Eigenschaften, die ein Wissenschaftler haben sollte, gehören Neugier und Staunen.
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K. LUDWIG PFEIFFER: Und Flexibilität. RÜDIGER ZILL: Neben Gelassenheit und Ausdauer auch Phantasie. HARTMUT BÖHME: Phantasie, Beweglichkeit, Sorgfalt, Selbstreflexion. CHRISTOPH WULF: Ich würde übrigens gerne herausfinden, wie die Phanta-
sie arbeitet. Wie ist das mit der Phantasie? Wie ist sie mit dem Körper verbunden? Was erzeugt sie? Wie hängt sie mit dem Spiel zusammen? Wie wirkt sie, wie entsteht ihre Vielgestaltigkeit? DER BIBLIOTHEKAR: Ich verstehe durchaus, dass Wissenschaftler gelegentlich auch Phantasie brauchen. Aber warum vertun wir unsere Zeit mit billigem Amusement? Vielleicht habe ich mein Problem nicht richtig geschildert. (erhitzt sich langsam) Vielleicht denken Sie, ich sei einfach ein ›überarbeiteter‹ Wissensbeamter, der dringend mal ausspannen sollte. Ich soll wahrscheinlich mal etwas ›lockerer‹ werden, ein bißchen Trallala und Hopsasa und dann läuft die Archivierung des Weltwissens schon wie geschmiert, was? (verzweifelt erzürnt) Aber ich brauche keinen sog. Urlaub vom Alltag oder Freizeitspaß, um mich anschließend frisch erholt wieder dem Produktionsprozess anzuschließen. Ich bin der Bibliothekar der Bibliothek der nie veröffentlichen Bücher! Ich lebe nicht in Zahlen! Die Wissenschaftler sind stehen geblieben, einige schauen sorgenvoll auf den Bibliothekar: Diesem, innehaltend, sind seine erregten Worte seinen Gästen gegenüber peinlich. DER BIBLIOTHEKAR: (um Würde bemüht) Verzeihen Sie, aber Fun ist ein Stahlbad – damit habe ich nichts zu tun. Auf mich warten in diesem Moment dreißig Neuzugänge. Was hat ein Spiel da zu suchen? Die Wissenschaftler nehmen den Bibliothekar in ihre Mitte und betreten den Spielwarenladen. Einer klopft im aufmunternd auf die Schulter. K. LUDWIG PFEIFFER: (beruhigend zum Bibliothekar) Ein Spiel hat sehr oft nichts zu suchen, aber das Spielerische kann es überall geben. HANS ULRICH RECK: Aber im Bereich des Spielerischen hat ein Spiel nichts zu suchen. RÜDIGER ZILL: Überall da nicht, wo keine Zeit mehr bleibt. HARTMUT BÖHME: In der Hölle. ISABELLE GRAW: Auch nicht am Schreibtisch. BERNHARD DOTZLER: Oder im Kino. ANDREAS PLATTHAUS: Vor allem nicht in einem anderen Spiel. Ein in sich potenziertes Spiel ist wahrscheinlich der Horror. DER BIBLIOTHEKAR: Aber wo kämen wir denn hin, wenn Wissenschaft ein Spiel wäre? (hilfesuchend) Herr Böhringer, Sie haben doch neulich selbst gesagt, dass Theorien keine Spielzeuge seien. Und selbst wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie sollte man die Regeln eines solchen Spiels beschreiben?
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BERNHARD DOTZLER: Gar nicht. ISABELLE GRAW: Als gegeben und situativ abänderbar zugleich. HARTMUT BÖHME: Streng. HANNES BÖHRINGER: Das ist mir zu schwierig. ANDREAS PLATTHAUS: Immer mit offenen Karten spielen. K. LUDWIG PFEIFFER: Durch Interaktionsformen. HELMAR SCHRAMM: Das kommt drauf an. Es gibt zwei ganz verschiedene
Spiele. Das eine ist das Spiel, das man selber spielt und das mit den eigenen Vorgehensweisen zusammenhängt; das andere ist das institutionalisierte Spiel und meistens ein sehr spielfeindliches Spiel. Das überträgt sich manchmal auch auf die Art, wie man selber spielt. Das hat eine sehr große Kraft, einen sehr großen Einfluss. Wenn das Wort von den ›gefährlichen Liebschaften‹ nicht schon besetzt wäre, könnte man es auch auf die Wissenschaft beziehen. Das Sich-Einlassen mit dem ganzen Wissenschaftsbetrieb ist eine außerordentlich gefährliche Liebschaft. CHRISTOPH WULF: Ich würde Akzente setzen auf Spontaneität, Einfälle, Sprünge, chaotische Situationen, die, nachdem sie sich ereignet haben, irgendwie erklärt werden müssen. Ich halte es für wichtig, dass man das Ungestaltete vor der Form und im Prozess der Gestaltung erlebt. – Ordnungen herstellen kann und muss man sein ganzes Leben lang. HANS ULRICH RECK: Die Regeln einer Wissenschaft als Spiel müssten so sein, dass die Auswirkungen des Spiels nicht so wären, als wenn das Spiel ein Ernstfall wäre, welcher ja in der Regel das Problem aller erfolgreichen Wissenschaft ist, denn sonst wäre sie tatsächlich ein Spiel. RÜDIGER ZILL: Genau, das sind Regeln, von denen gilt, dass sie an den entscheidenden Stellen nicht mehr gelten. DER BIBLIOTHEKAR: (erleichtert) Es beruhigt mich sehr, dass Sie Wissenschaft nicht als ein Spiel betrachten. Aber ich meine, in den letzten Gesprächen doch herausgehört zu haben, dass Sie dem Spiel eine durchaus konstitutive Rolle im Erkenntnisprozess zuschreiben. Mir will das nicht einleuchten. Wie sollte denn eine harmlose Spielerei das Denken ernsthaft weiterbringen? CHRISTOPH WULF: Spiel gibt es überall, vom Liebesspiel bis hin zu den Spielen in der Ökonomie. An der Börse habe ich oft das Gefühl, dass sie davon lebt, dass gespielt wird. Das Spiel ist ein Grundgefühl, eine Grundhaltung zur Welt, die immer wieder alles durchkreuzen kann. Eine Verkäuferin tritt auf die Gruppe zu. DIE VERKÄUFERIN: Guten Tag. Kann ich Ihnen behilflich sein? Suchen sie etwas Bestimmtes? DER BIBLIOTHEKAR: Ja, ich suche schon etwas Bestimmtes, obwohl ich Ihnen nicht sagen kann, warum wir es hier suchen.
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DIE VERKÄUFERIN: (strahlend und überzeugt) Ach, das macht doch nichts! Bei
den Spielen hat sich noch für jeden etwas Passendes gefunden. Alle Menschen spielen. Was machen Sie denn beruflich, wenn ich fragen darf? Das macht die Suche immer einfacher. DER BIBLIOTHEKAR: (indigniert) Ich bin Bibliothekar. DIE VERKÄUFERIN: Oh, soll ich Ihnen die neuesten Schachbretter zeigen? Ein Kollege von Ihnen, Monsieur Duchamp, war oft bei uns. Sie kennen ihn? Nein? Aber Sie spielen doch bestimmt Schach – allein wegen der intellektuellen Herausforderung! RÜDIGER ZILL: Ich habe in meiner Kindheit viel Zeit damit verbracht, auf dem Fußboden des Wohnzimmers zu liegen und mit meinem Vater Schach zu spielen. Wahrscheinlich ist davon die Vorliebe für verzwickte Konstruktionen geblieben. K. LUDWIG PFEIFFER: Schach ist das komplizierteste Spiel, das ich kenne. Meine Lieblingseröffnung, wenn ich Weiß habe, ist die englische, wahrscheinlich, weil ich auch Anglist bin, wenn ich Schwarz habe, die sizilianische: scharfes Konterspiel, das mir schon beim Tischtennis lag. HANNES BÖHRINGER: Das komplizierteste Spiel, das ich kenne, ist Scrabble. Das habe ich nie gewinnen können. BERNARD DOTZLER: Heiner Müllers Quartett – und die Regeln sind so vielfältig einfältig wie die gesamte Liebschaften-Literatur. MARCEL BEYER: Ich glaube Skat, weil einem das keiner beibringen möchte. ANDREAS PLATTHAUS: Skat ist das einzige Spiel, das ich wirklich häufig gespielt habe und an das ich mich erinnern kann, etwa von der fünften Klassen an. In diese Situation komme ich heute tatsächlich immer wieder mal und merke, dass mir nicht sehr viel entgangen ist. DIE VERKÄUFERIN: (lacht, die Worte rollen wie helle Perlen aus ihrem Mund) Wie wäre es mit Musik, Herr Bibliothekar? Vielleicht ein Klavier oder ein Flügel? Der Bibliothekar schaut verunsichert. Die Verkäuferin läuft in eine unbestimmte Richtung durch den Laden. Schlendernd folgt ihr die Gruppe der Wissenschaftler. BERNHARD DOTZLER: Ich würde gerne wirklich Klavier spielen können. ANDREAS PLATTHAUS: Ich auch, ich möchte es aber weiß Gott nicht lernen, weil es wahrscheinlich wahnsinnig mühselig wäre. RÜDIGER ZILL: Ich würde gerne Trompete spielen können. K. LUDWIG PFEIFFER: Und ich würde das Cello-Spiel gerne wieder lernen. Vielleicht entdecke ich dann auch, wie man Metaphysik mit Rossini behandelt. Valéry hat das einmal vorgeschlagen, aber nicht realisiert. DER BIBLIOTHEKAR: Noch einmal etwas lernen? Wo sollte man die Zeit dazu hernehmen? K. LUDWIG PFEIFFER: Ich würde außerdem gern den Delphinstil lernen und
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damit die 400m-Lagen im Schwimmen, die anderen drei Lagen kann ich schon. BERNAHRD DOTZLER: Bei mir wären es Astrophysik, Jura und Filmemachen. HANNES BÖHRINGER: Mühelos leben. CHRISTOPH WULF: Gelassen sein. ANDREAS PLATTHAUS: Besser verlieren können. MARCEL BEYER: Ich würde gerne Japanisch können, möchte es aber nicht lernen. Im Moment bin ich dabei zu lernen, mich in der Vogelwelt besser auszukennen. Das muss einfach besser werden! Inzwischen passieren sie den Tisch, an dem ein Kunde (die Vernunft) auf einem elektronischen Tisch ›Mensch ärgere Dich nicht‹ gegen sich selbst spielt, und bleiben stehen, um zuzuschauen. ANDREAS PLATTHAUS: ›Mensch ärgere Dich nicht‹ ist das komplizierteste Spiel, das ich kenne. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit dem Ergebnis zurecht kommen soll. DER KUNDE (DIE VERNUNFT): (schaut auf) Nicht wahr? Ich versuche mich selbst auszutricksen, aber es funktioniert nicht. DER BIBLIOTHEKAR: (irritiert zum spielenden Kunden) Sagen Sie, kennen wir uns nicht? DER KUNDE (DIE VERNUNFT): Oh ja, wir sind uns schon oft begegnet. (lächelt) Meist aber sind Sie zu beschäftigt. Erst neulich waren Sie in eine erregte Diskussion über die Aufklärung verwickelt. MARCEL BEYER: Aufklärung ist für Kinder! DER KUNDE (DIE VERNUNFT): (lacht erfreut) Das klingt in diesem Ambiente ja geradezu programmatisch! Wenn man das wörtlich nimmt, ergibt sich sogleich die spannende Frage, ob spielen vernünftig macht. DER BIBLIOTHEKAR: (nachdenklich geworden) Nun gut, Kinder lernen beim Spielen. Das ist ja bekannt. Ich glaube aber nicht, dass letztlich viel übrig bleibt vom Spiel. Das ist so eine Phase, die mit dem Erwachsensein endet. DIE VERKÄUFERIN: Sagen Sie das nicht! Wie oft begegnen uns nicht Situationen aus dem Lieblingsspiel unserer Kindertage in unserem späteren Leben wieder! MARCEL BEYER: Mein Lieblingsgesellschaftsspiel in der Kindheit war, glaube ich, Malefiz. Oder ich glaube, ich fand es anfangs gut, weil ich dachte, dass man dafür älter sein muss ... Wahrscheinlich, weil die auf dem Spielbrett dargestellten Figuren so sehr erwachsen waren. BERNHARD DOTZLER: (freudig) Mein Lieblingsspiel war auch Malefiz, weil das der Meier Klaus hatte und ich nicht. An die Regeln kann ich mich aus demselben Grund nicht mehr genau erinnern. K. LUDWIG PFEIFFER: Mein Lieblingsspiel war Mühle. Wiederbegegnet ist mir diese Situation in dem Sinne, dass visuelle Wahrnehmungen
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nicht nur mit Gefühlen, sondern auch mit strategischen Überlegungen verbunden werden mussten. Das war in der Tat bedeutsam. HANS ULRICH RECK: Bei mir waren es Tagträume und das Murmelspiel. HANNES BÖHRINGER: Ich habe in meiner Kindheit gerne mit Bauklötzen gespielt. Und ich habe den Eindruck, dass ich auch jetzt noch mit Bauklötzen spiele. DER BIBLIOTHEKAR: Bauklötze? In diesem Moment gewinnt der Kunde (die Vernunft) auf dem Brett gegen sich selbst und eine heitere digitale Gewinnmelodie erklingt. Der Bibliothekar schaut dem Kunden (der Vernunft) intensiv ins Gesicht und schreckt dann plötzlich zurück. Nach wenigen Sekunden erscheint ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht. DER BIBLIOTHEKAR: (noch ungläubig, beim Reden zunehmend begeistert) Nicht zu fassen! Und doch so naheliegend! Natürlich: Ein neuer Blick braucht neue Formen, braucht Bewegung, neue Verbindungen! Die gibt es natürlich nicht wie einen Pappbecher Kaffee zum mitnehmen – Erkenntnis-to-go (lacht). Die muss man entwerfen, die muss man erfinden! (fasst sich an die Stirn) Wie festgewachsen ich war! Nicht die kleinste Ungedecktheit riskiert! Stattdessen habe ich so getan, als könne man Wissen wie eine Kuhweide abgrasen und anschließend einfach fein säuberlich sortieren. Ein Witz! (an die Wissenschaftler gewandt) Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen, das Holodeck, der Spielzeugladen, die Gespräche – keine banalen Ablenkungen, wie ich vorhin noch argwöhnte, sondern alles Erlebnisanlässe und Einfallstore, mit denen Sie mich einladen wollten zu neuen gedanklichen Abenteuern. Ich bedanke mich für Ihre Geduld! Die Wissenschaftler beginnen, sich im Laden umzusehen. Nur der Kunde (die Vernunft) bleibt neben dem Bibliothekar stehen. DER BIBLIOTHEKAR: (zu sich selbst) Wie aber kommt das Spiel da hinein, von dem alle immer wieder sprachen. Das sehe ich noch nicht ganz. Man muss sich natürlich einlassen, sehen, wie man sich auf ein Abenteuer dieser Art versteht. Schrieb nicht Novalis, Spielen sei eine Art, spekulative Brücken zu schlagen zwischen Geist und Materie? Oder ging es um Verbindungen zwischen Intellekt und Sinnlichkeit? Ich werde das zu Hause gleich nachschlagen. DER KUNDE (DIE VERNUNFT): Spielen wir? (weist auf das Spielbrett) DER BIBLIOTHEKAR: Aber gern! Sagen Sie, was meinen Sie: Ist das Spiel eine der Voraussetzungen der Vernunft oder ist es womöglich sogar untrennbar in sie eingelassen? DER KUNDE (DIE VERNUNFT): (lacht) Ich nehme rot.
Inkognito 221
5. Szene – Wieder in der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher Die Wissenschaftler, der Bibliothekar und die Vernunft (inkognito als einsamer Leser) Die Wissenschaftler stehen in dem langen Gang zwischen den Regalen und unterhalten sich angeregt. Der einsame Leser (die Vernunft) sitzt auf einem Sessel in der Nähe der Gruppe und liest. Als die Wissenschaftler ihn bemerken, nicken sie ihm freundlich zu. Der Bibliothekar will gerade auf ihn zugehen, als er die Wissenschaftler bemerkt und sich ihnen schnellen Schrittes zuwendet. DER BIBLIOTHEKAR: Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung! Ich bin Ihnen allen sehr zu Dank verpflichtet! Als ich Sie hierher einlud, hatte ich die Vorstellung, ich könnte mit Ihrer Hilfe die eine Ordnung finden, in die sich mit der Zeit ein komplettes Bild der Welt und all ihrer Möglichkeiten hineinklassifizieren ließe. Nachdem ich Ihnen aber nun eine Weile beim Denken zuschauen durfte, ist mir klar geworden, dass gerade eine solche Vorgehensweise – selbst wenn sie möglich wäre – nichts als Tautologien produziert. Ich war auf dem besten Weg, meine Bibliothek zu einem der denkbar langweiligsten Ort werden zu lassen, an dem es nur Wiederholungen zu verwalten, aber nichts Neues zu entdecken gäbe. Im Nachhinein scheint mir, ich hätte mich in einer Art Schrumpfform verbeamteter Rationalität bewegt. Ich bin froh, dass Sie mir geholfen habe, mich aus dieser Deckung herauszutrauen, auch wenn ich momentan noch keine Vorstellung habe, wie es konkret weitergehen soll. (lächelt) Ich werde wohl etwas auf’s Spiel setzen müssen. Aber ich habe Ihre Zeit schon genug beansprucht. Bitte erlauben Sie mir, mich Ihnen erkenntlich zu zeigen. Als kleinen Dank für Ihre Hilfe sollen Sie sich ein Buch aus dieser Bibliothek aussuchen, etwas, das Ihnen vielleicht noch fehlt, wenn Sie so wollen. Herr Dotzler, da ich ihren Wunsch ja bereits kenne: Die Anleitung zur Schlagfertigkeit steht im dritten Regal links ganz oben.
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Bernhard Dotzler will gerade in Richtung des besagten Regals verschwinden. DER BIBLIOTHEKAR: Oh nein, entschuldigen Sie, es ist gerade im Gebrauch. (zeigt in Richtung des einsamen Lesers [die Vernunft]) Aber er wollte nur kurz hineinschauen. Bernhard Dotzler geht zum Sessel des einsamen Lesers (die Vernunft). Der Bibliothekar schaut fragend in die Runde. HANNES BÖHRINGER: Ich werde rechts in den Gang gehen und auf mittlerer Höhe eins auf gut Glück herausnehmen. Geht los. DER BIBLIOTHEKAR: Und Sie, Herr Platthaus? Ist es das, was ich vermute? Der einundfünfzigste Jahrgang der Comicserie Peanuts? Gehen sie einfach bis ans Ende der Regale und dann rechts und ganz hinten finden sie ihn. Andreas Platthaus geht freudigen Schrittes los. DER BIBLIOTHEKAR: Und Sie? MARCEL BEYER: Nur eins? DER BIBLIOTHEKAR: Nur eins. MARCEL BEYER: Ich würde es dann auch lesen? DER BIBLIOTHEKAR: Das nehme ich doch stark an. MARCEL BEYER: Ich könnte es ja auch nur klauen und mit nach Hause nehmen. DER BIBLIOTHEKAR: Sie können damit machen, was Sie wollen. MARCEL BEYER: Dann nehme ich mein nächstes Buch mit und lese es nicht. DER BIBLIOTHEKAR: Die Gegenwart haben wir rechts an der Wand sortiert, unter B finden sie Ihr nächstes Buch. RÜDIGER ZILL: Ich wähle die Memoiren von Gottlieb Theodor Pilz. DER BIBLIOTHEKAR: (zeigt in eine Richtung) Das finden sie dort unter den Autobiographien und dann P. CHRISTOPH WULF: Eigentlich möchte ich von drei Büchern sprechen. Das eine ist das Buch, das es nicht gibt und das man also auch gar nicht ausleihen kann; es ist ein ungeschriebenes Buch. Das kann das eigene sein, das man noch schreiben möchte, oder eines, das sich nicht schreiben lässt, dessen potentieller Inhalt so widerständig ist, dass er sich nicht in Schrift transformieren und ausdrücken lässt. Das andere Buch ist ebenfalls anders als normale Bücher; es enthält Zeichen, Bewegungen, Bilder, vielleicht sogar Töne und in jedem Fall viele zur Meditation einladende Leerstellen. Es müsste möglich sein, ein Buch herzustellen, das, wenn man es aufschlägt, Töne oder gar Gerüche von sich gibt, ohne dass es dadurch simpel wird. Das dritte Buch erinnert mich an Kindheitserlebnisse, an Erfahrungen in den ersten Lebensjahren. Auch dies ist ein Buch, das nicht möglich ist. Doch in diesem Buch meiner Kindheit würde ich gerne
Inkognito 223
lesen. Wahrscheinlich würde ich dann jedoch die Erfahrung machen, gar nicht lesen zu können. DER BIBLIOTHEKAR: Wir haben alle diese Bücher hier. Da Sie aber das erste und letztere für nicht möglich halten, empfehle ich Ihnen das mittlere zu lesen. Letztendlich bleibt die Entscheidung Ihnen überlassen. Das Regal mit den Büchern mit außerordentlichen Inhalten finden Sie in dem kleinen Raum hinter dem rechten Seitengang. ISABELLE GRAW: Ich suche mir den nie veröffentlichten ersten Roman von Simone de Beauvoir aus, und der heißt Das Jahr Null. DER BIBLIOTHEKAR: Das haben wir im mittleren Teil unter Fiktion nach den Vornamen sortiert. – Herr Böhme, jetzt werden Sie doch noch zum Entdecker. Welches Buch wählen Sie? HARTMUT BÖHME: Jedenfalls nicht das verloren gegangene über das Lachen von Aristoteles, hinter dem alle im Namen der Rose her sind, sondern vielleicht das letzte Kapitel, das Gott der Bibel anhängen wollte, als Selbstkommentar zu dem, was er da eigentlich mit der Schöpfung und besonders mit dem Menschen gemacht hatte. DER BIBLIOTHEKAR: Oh, ein Klassiker, da müssen Sie im linken seitlichen Regal mittig schauen. K. LUDWIG PFEIFFER: Ich aber nehme Aristoteles’ Traktat über das Komische, weil es die unzulänglichen Thesen über die Tragödie korrigieren könnte. DER BIBLIOTHEKAR: Folgen Sie Herrn Böhme und dann unten rechts. HANS ULRICH RECK: Nun denn: Ich suche ein Buch, das mir sagt, welcher Teil der mir wichtigen Texte, also reine spekulative Desiderate, aus der Bibliothek von Alexandria, die verbrannt sind, doch geschrieben worden sind. DER BIBLIOTHEKAR: Oh, da existieren mehrere. Schauen sie gleich hier vorn im rechten Regal bei den Nachschlagewerken, gleich neben dem LVB. Oh, Entschuldigung, sie können dieses Kürzel ja nicht kennen: neben dem Lexikon der nie veröffentlichten Bücher. Fast alle Wissenschaftler sind in den Tiefen der Bibliothek verschwunden, nur Helmar Schramm ist noch übrig. DER BIBLIOTHEKAR: So, Herr Schramm, Sie sind der Letzte?! HELMAR SCHRAMM: Ihre Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher ist vielleicht die ehrbarste Bibliothek. Jeder lineare Schreibprozess ist ja auch ein Verrat an der vieldimensionalen Idee, die man im Kopf hatte. Man ›schreibt‹ im Kopf und bei größeren Arbeiten, das kennt jeder, dauert das sehr lange. Was man sich im Kopf vorstellt wird immer komplexer, doch dann kommt äußerer Druck und man wird gezwungen, sich jetzt hinzusetzen und alles aufzuschreiben. Das ist ein ungeheurer Verrat an den Visionen, die man vorher zu dem Thema
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hatte. Also ich suche mir ein Buch aus, das von diesem Verrat handelt, Schreiben als Verrat. DER BIBLIOTHEKAR: Oha, das steht unter kritische Literatur zur Literatur hinten rechts, und dann unter V. Die Wissenschaftler kommen langsam aus allen Richtungen der Bibliothek wieder zusammen. Alle haben ein Buch in der Hand und sehen sehr zufrieden aus. DER BIBLIOTHEKAR: Sie sind fündig geworden, wie ich sehe. Es freut mich, auch Ihnen einen Gefallen tun zu dürfen. Schließlich habe ich durch Sie viel gelernt in den letzten Tagen. Ich danke Ihnen nochmals von ganzem Herzen. Jetzt werde ich mich wohl doch einmal hinsetzen und das unveröffentlichte Buch der Spiele von Leibniz lesen. Durch unsere Entdeckungsreise, so scheint mir, bin ich auch ein klein wenig zum Wissenschaftler geworden. MARCEL BEYER: Zu den Eigenschaften, die ein Wissenschaftler haben sollte gehört übrigens auch der Humor. DER BIBLIOTHEKAR: (lächelt wissend) Das kann ich mir vorstellen, es gibt bestimmt einige Dinge, die nur mit Humor zu ertragen sind. K. LUDWIG PFEIFFER: (zustimmend) Gremiensitzungen an der Universität. BERNHARD DOTZLER: Tagungen. CHRISTOPH WULF: Mich selbst. HANNES BÖHRINGER: Eigentlich alles, fast alles. ANDREAS PLATTHAUS: Manche Redaktionssitzungen der F.A.Z. RÜDIGER ZILL: Manche Wissenschaftler. HANS ULRICH RECK: Wenn überhaupt, dann hälfe nur Humor, neben anderen unangenehmen Seiten oder Untugenden, eine gewisse Intoleranz zu ertragen. Es geht dabei eigentlich nicht um Ertragen der Rigidität, sondern um ihre Abmilderung. Es müsste Regulativ werden, was unerträgliches Sich-Entwerfen in solchem ist. In der Zwischenzeit übe ich mich in Warten und versuche, Geduld zu erlernen. Die Wissenschaftler entfernen sich grüppchenweise mit jeweils einem Buch in der Hand. ERSTE STIMME: … ein fast idealer Studierplatz … ZWEITE STIMME: … ja, wunderbar … HANNES BÖHRINGER: Stille, Abgeschiedenheit und ein leichter Zugang zu Büchern. CHRISTOPH WULF: Ohne Telefon, Internet und Post mit dem Blick über Wasser oder Berge. RÜDIGER ZILL: Ruhig, aber nicht isoliert. Allein, irgendwo auf dem Land fällt mir gar nichts ein. Große Bibliotheken mit einer vernünftigen Cafeteria kommen der Sache schon ziemlich nahe. K. LUDWIG PFEIFFER: Ich brauche einen einsamen Leseplatz in einer sehr großen – mindestens eine Million Bücher – Bibliothek, in der die vielen Bücher gleichwohl ganz leicht zugänglich sind.
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MARCEL BEYER: Ich arbeite seit einigen Jahren an einem Bügelbrett. Das ist
der erste Schreibtisch, den ich mir je gekauft habe – sechzig Mark oder so. Das ging eigentlich damit los, dass ich Rückenprobleme hatte, in New York in einem Appartement, wo wir waren, und wir feststellten, dass die Stühle alle blöd sind. Da habe ich beschlossen, im Stehen zu arbeiten. Ich habe mich sehr dran gewöhnt, weil auf dem Bügelbrett kein Platz für unerledigtes Zeug ist. Große Tische wachsen bei mir einfach zu, und man könnte sie dann als Installation stehen lassen und zum nächsten Tisch weiter wechseln. Das Bügelbrett ist das eine, das andere ist: Ich habe sowohl große Räume, wie auch kleine Räume gern. Ich habe zu Hause einen größeren Raum, in dem ein Bügelbrett steht, und dann habe ich in dem Atelier meiner Freundin eine ganz kleine Kammer, vielleicht so zwei Quadratmeter, wo ich so gerade durch die Tür am Tisch vorbei komme und dann auf den Stuhl fallen muss. Das wächst auch ein bisschen zu, mit Zeitschriften und Büchern, und dann gibt es da einen Schrank, der aber ganz leer ist und das ist auch sehr gut. Die Wissenschaftler entfernen sich immer weiter aus dem Blickfeld. Ganz leise sind ihre Worte noch zu hören. DRITTE STIMME: Ich frage mich, ob es in dieser Bibliothek hier auch Bücher gibt, die man gerne geschrieben hätte? K. LUDWIG PFEIFFER: Ich hätte gern eine theoretische Version von Hamlet geschrieben. ANDREAS PLATTHAUS: Ich wäre sehr versucht zu sagen: den einundfünfzigsten Band der Peanuts. Aber das wäre nun wirklich Wahnsinn! Ein Buch, das ich gerne geschrieben hätte, ist über den Einfluss des japanischen Farbholzschnittes auf die Zeichentrickästhetik. BERNHRAD DOTZLER: Die Recherche. CHRISTOPH WULF: Faust. HANNES BÖHRINGER: Das Symposium von Platon. HARTMUT BÖHME: Den Mann ohne Eigenschaften. In diesem Moment schaut der Bibliothekar erstaunt in sein Register, blättert neugierig zu einzelnen Stellen, zieht jeweils Karten heraus, liest sie, steckt sie wieder hinein und lächelt dann. MARCEL BEYER: Ich glaube, eigentlich keines. Bei allen Büchern anderer Autoren, die ich gelesen habe, freue ich mich, dass die Autoren das gemacht haben. RÜDIGER ZILL: Es gibt sicher Bücher, die ich liebe, z. B. Laclos’ Gefährliche Liebschaften, Nathanael Wests Der Tag der Heuschrecke oder Philip Roths Gegenleben. Aber es geht mir da genau so wie bei den Entdeckungen, besonders bei den wissenschaftlichen und philosophischen Büchern. Auf schon existierende Texte bin ich wenig neidisch. Und
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dass nicht nur, weil man viele großartige Bücher – von Hegel bis Adorno – heute gar nicht mehr so schreiben könnte und wollte, sondern weil mich vielmehr interessiert, was man heute machen kann, was vor uns liegt. Allgemeines Verabschieden. VIERTE STIMME: In den Büchern meiner Kindheit stand am Schluss immer: ›und sie zogen weiter, auf zu neuen Abenteuern‹. FÜNFTE STIMME: War das jetzt unser größtes Abenteuer? K. LUDWIG PFEIFFER: Ich denke mal, das größte Abenteuer ist, einen Marathon zu laufen. HANNES BÖHRINGER: Warum muss es immer ein Größtes geben? RÜDIGER ZILL: Nun, frei nach dem Satz »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel«: Das größte Abenteuer ist immer das nächste.
Lucky Letters 227
Bingo
XT JO IA PÜ LD ÄR OL RN WE KA EC MT FÜ BL LS HL
Lesen Sie einfach weiter. Wenn Sie dabei über eine der Buchstabenkombinationen stolpern, die im oben abgebildeten Feld vorkommt, machen Sie dort ein Kreuz. Sobald Sie vier davon aneinandergereiht haben (senkrecht, waagrecht oder diagonal), heben Sie die Hand und rufen laut ›Bingo‹. Man wird es Ihnen verzeihen. Bingo entstand in den 1930er Jahren in Amerika und verbreitete sich dort vor allem bei kirchlichen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Zu gewinnen gab es meist Sachpreise, oft kam die ganze Familie. In England wurde es in den 1950ern populär, als insolvente Kinobetreiber dazu übergingen, anstelle von Filmabenden Bingo anzubieten. Beim Bingo sind alle Teilnehmer in ein und dasselbe Geschehen integriert. Als Einsatz erwirbt man eine individuelle Karte, auf der ein Feld mit Zahlen- oder Buchstabenreihen vorgedruckt ist. Während der Runde konzentriert man sich auf die Ansagen des Spielleiters und gleichzeitig auf die eigene Karte. Wird eine Zahl genannt, die dort verzeichnet ist, muss angekreuzt werden. Je länger das Spiel dauert, umso spannender wird es, denn die Kreuze auf der Karte nähern sich unweigerlich einer Gewinnkombination, meist eine ganze Reihe, Spalte oder Diagonale. Der Gewinner muss laut ›Bingo!‹ rufen, und die Runde ist vorbei. Obgleich nichts weiter verlangt wird, als Kreuze zu machen, wenn bestimmte Zahlen aufgerufen werden, sind Bingospieler mit ganzer Seele bei der Sache. Es gilt, den Überblick zu behalten und kein Kreuzchen zu verpassen, was bei hohem Tempo und vielen Zahlen nicht leicht ist. So lässt sich verdichtet erleben, was vielen ihr ganzes Leben lang nicht recht gelingen will: Zufallendes sinnvoll in das ungewählte persönliche Schicksal zu integrieren.
ANHANG
GESPRÄCHSSPIELE – DOKUMENTATION
Der Gesprächsspielleitfaden war für alle Gäste gleich. Es konnten jedoch aus Zeitgründen nicht jedem Gast alle Fragen gestellt werden. Einige Antworten fehlen deshalb.
Marcel Beyer am 26. April 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum? Beyer: »Nur eins?« Adamowsky: »Ja. Nur eins.« Beyer: »Ich würde es dann auch lesen?« Adamowsky: »Ja.« Beyer: »Ich könnte es ja auch nur klauen und mit nach Hause nehmen.« Adamowsky: »Du kannst machen damit, was du willst.« Beyer: »Ich würde mein nächstes Buch mitnehmen und es nicht lesen.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Der Inhalt des Bechers kann verdunsten.« Wozu ist Stroh gut? Womit kann man schreiben?
II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Viel angenehmer, als wenn Dynamo Dresden spielt.« Kratzen?: »Da fällt mir ein, dass meine Bassbox kaputt ist. Die habe ich schon mit Paketband beklebt …« Saloon (Schuss am Ende): »Dazu fiel mir – aber gleich am Anfang – ein, dass man seit Anfang oder Mitte März in Irland im Pub nicht mehr rauchen darf.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? Beyer: »Lebt es noch?« Adamowsky: »Nein. Ich möchte von dir wissen, welche Attributionen dir dazu einfallen, das Publikum sieht, was du greifst.«
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Federn: »Doch Federn, oder?« Adamowsky: »Ja.« Beyer: »Ich muß jetzt nicht bestimmen, welcher Vogel?« Adamowsky: »Nein, es ist kein Rätsel. Ich will wissen, was dir dazu einfällt.« Beyer: »Gans.« Apfel: »Das ist grünes Gemüse. Ich habe doch gesagt, Pflanzen sind nicht meine Stärke. Jetzt bin ich total fixiert.« Adamowsky: »Es ist keine Gemüsepflanze. Du kannst alles sagen.« Beyer: »Avocado, es passt nur von der Form nicht.« Pistole: »Hat etwas vom Dachgepäckträger … Aber wenn das jetzt so eine Pistolenimitation wäre, das hat ja gar keinen Abzug. Eigentlich finde ich Dachgepäckträger besser.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Aufrichtigkeit.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Humor.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? 4 Bilde bitte einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Irgendwie passt die Geselligkeit nicht dazu, oder? Ich passe.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Finden.« 6 Welche Entdeckung hättest du gerne gemacht? »Das weiß ich noch nicht.« 7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? »Michel Leiris.« Kannst du uns drei Synonyme für ›Michel Leiris‹ nennen? »Michel Leiris hat selbst so etwas gemacht. Er hat ein Dossier über Jahre hinweg geschrieben und versucht, aus den Lauten, die ein Wort oder auch ein Name beinhaltet, das Leben oder den Gegenstand zu erklären. Das schaffe ich jetzt aber nicht: Zweifler, Zauderer und Essayist.« 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Für Kinder!« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Meine Lieblingstheorie ist die Theorie der spontanen Selbstverbrennung. Zum ersten Mal habe ich davon von Prof. K. Ludwig Pfeiffer gehört. Man befürchtete, Menschen könnten von jetzt auf gleich innerlich verbrennen. Das wurde sehr ernst diskutiert. Erstmal ging man davon aus, dass es das gibt, und dann musste man eine Theorie dazu entwickeln, wie das dann passiert … vielleicht ein falsches Essen oder so etwas.« 10 Welches Buch hättest du gerne geschrieben? »Ich glaube eigentlich keines. Bei allen Büchern anderer Autoren, die ich gelesen habe, freue ich mich, dass die Autoren das gemacht haben.« 11 Wie sieht dein idealer Schreib-, Studier-, Recherchierplatz aus? »Ich arbeite seit einigen Jahren an einem Bügelbrett. Das ist der erste Schreibtisch, den ich mir je gekauft habe – sechzig Mark oder so. Das ging eigentlich damit los, dass ich Rückenprobleme hatte, in New York in einem Appartement, wo wir waren und feststellten, dass die Stühle alle blöd sind. Da habe ich beschlossen, im Stehen zu arbeiten. Ich habe mich sehr daran gewöhnt, weil auf dem Bügelbrett kein Platz für unerledigtes Zeug ist.
Gesprächsspiele 233
Große Tische wachsen bei mir einfach zu, und man könnte sie dann als Installation stehen lassen und zum nächsten Tisch weiterwechseln. Das Bügelbrett ist das eine, das andere ist: Ich habe sowohl große Räume wie auch kleine Räume gern. Ich habe zu Hause einen größeren Raum, in dem ein Bügelbrett steht, und dann habe ich in dem Atelier meiner Freundin eine ganz kleine Kammer, vielleicht so zwei Quadratmeter, wo ich so gerade durch die Tür am Tisch vorbei komme und dann auf den Stuhl fallen muss. Das wächst auch ein bisschen zu, mit Zeitschriften und Büchern, und dann gibt es da einen Schrank, der aber ganz leer ist, und das ist auch sehr gut.« 12 Was würdest du gerne können und was gerne noch lernen? »Ich würde gerne Japanisch können, möchte es aber nicht lernen. Im Moment bin ich dabei zu lernen, mich in der Vogelwelt besser auszukennen. Das muss einfach besser werden!« 13 Was erträgst du nur mit Humor? 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? 16 Was ist die beste Frage? Welches sind die besten Fragen? »Die, auf die man selber nicht gekommen wäre.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Des Pudels Kern – der Pudel ist das Wesen und das verändert sich natürlich permanent.«
Hartmut Böhme am 21. Juni 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum? »Jedenfalls nicht das verloren gegangene über das Lachen von Aristoteles (hinter dem alle im Namen der Rose her sind), sondern vielleicht das letzte Kapitel, das Gott der Bibel anhängen wollte, als Selbstkommentar zu dem, was er da eigentlich mit der Schöpfung und besonders mit dem Menschen gemacht hatte.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Da ich sehr aufgeregt bin, den guten Leibniz zu sehen, und mir deswegen die Hand zittert, kann es natürlich sein, dass mir der Tee auf meine damals natürlich sehr elegante, weiße Hose kleckert – und ich also noch dazu ganz schamrot werde und dadurch jeden Einwand zur Monadologie vergesse.« Wozu ist Stroh gut? »Nicht zum Dreschen.« Womit kann man schreiben? »Auch mit Federn.«
II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Zuerst dachte ich an die letzte Viertelstunde von Kubricks 2001, an die psychedelische Reise. Aber dann kam eine Assoziation an Kathedraleninnenräume
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und die Transformation eines göttlichen in einen teuflischen Gesang, der sich dann verbreitert zu einer Europameisterschaft.« Wind, Pfeifen: »Da dachte ich an Karl Rossmann in Kafkas Amerika-Roman; wie der sich unten im Schiffsleib gefühlt haben muss bei seiner Unterdeck-Überfahrt in die USA, und an die Beschreibung des Motorlärms.« Saloon (Schuss am Ende): »Naja, das waren ja jetzt zwei ganz verschiedene Teile. Zunächst habe ich an Urlaub gedacht: Man sitzt auf irgendwelchen Plätzen herum, ein Basar, es klappern die Marktgeräte, es wird verkauft, und dann kam diese banale Musik auf, ich weiß gar nicht mehr, wie sie heißt, und am Schluss, da dachte ich an ›KriminalTango/Nachts in der Taverne‹, also etwas ganz Altes. Das war wie ein TV-Film.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? Federn: »Daunenfedern. Das ist so eine Mischung aus pelzig-weich und diesem leicht Stachelig-Pieksige, das man bei schlechten Daunenfedern antrifft.« Apfelsine: »Rund. Passend. Ja, man möchte gleich damit spielen, kullern, stoßen, werfen. Man merkt erst, wenn man mit den Dingen hantiert, dass allen Gegenständen eine eigentümliche Handlungsanweisung, Handlungsassoziation zugrunde liegt. Nicht nur, dass man etwas spürt, wie hier die Apfelsinenhaut, an der man erkennt, was es ist, sondern auch, dass sie eine Anmutung haben, davon, was man mit ihnen machen könnte. Das hängt zwar von einem selbst, aber eben auch von den Dingen ab.« Revolver: »Erst einmal fühle ich mich historisch zurückversetzt in die Zeit des Duells: Barry Lyndon, der sich mit seinem Stiefsohn in der Scheune duellieren muss. Von Duellen habe ich natürlich auch in vielen Romanen gelesen. Ute Frevert hat ein Buch geschrieben über das Duell und die Ehre der Männer. Ich bin froh, dass ich diese Ehre nicht mehr empfinden muss, also im wahrsten Sinne ehrlos geworden bin.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Neugier.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Phantasie, Beweglichkeit, Sorgfalt, Selbstreflexion.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Streng.« 4 Bilde einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Die Experimentalsituation als Grundform aller neuzeitlichen Wissenschaft ist immer auch eine Form der Kommunikation, also Geselligkeit.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Auf etwas zu stoßen, wovon er noch nicht einmal eine Vorstellung hatte.« 6 Welche Entdeckung hättest du gern gemacht? »Ich bin ja kein Entdecker, sondern ein Nachdenker.« 7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? »Aristoteles.«
Gesprächsspiele 235
Kannst du uns drei Synonyme für ›Aristoteles‹ nennen? »Er ist anti-metaphysisch, er versucht das Unordentliche in eine anschauliche und sinnliche Ordnung zu überführen, und er hat dennoch größte Achtung vor der Ordnung, die der menschlichen Vernunft entspricht und die er mit dieser sinnlichen Ordnung in Korrespondenz setzen möchte.« 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Nötig.« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« »Ich lasse Schiller aus und sage: wo er liebt.« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Die aufgeklärte Aufklärung. Weil die aufgeklärte Aufklärung jene Form der Vernunft ist, die sich selbst gegenüber spielerisch sein kann, sprich ironisch, gebrochen, widersprüchlich, differenziell, und damit den Modus des Literarischen und der Möglichkeit in sich aufgenommen hat.« 10 Welches Buch hättest du gern geschrieben? »Den Mann ohne Eigenschaften.« 11 Wie sähe dein idealer Studierplatz aus? »So wie er ist: die wichtigsten Bücher um mich, Schreibgerät, Computer. Das Ganze aber vielleicht doch ebenerdig mit Blick auf Wiesen und Wälder.« 12 Was würdest du gern können und was würdest du gern noch lernen? »Medizin und Biologie als Wissensfelder. Im Übrigen: gelassen sein können.« 13 Was erträgst du nur mit Humor? »Wenn ich etwas nur ›ertragen‹ kann, vergeht mir leider der Humor.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »In der Hölle.« 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Bei der Vernunft als Person weiß man ja nie, ob sie eine mütterliche Matrone oder ein anorektisches Wesen ist. Insofern möchte ich ihr lieber gar nicht begegnen, sondern sie in jener Unbestimmtheit halten, die zeigt, dass man sich von ihr lieber kein Bild machen sollte.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Sesamstraße: Wieso, weshalb, warum …« 17 Was ist des Pudels Kern? »Das Geheimnis.«
Hannes Böhringer am 17. Mai 2004 I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher, welches Buch entwenden Sie und warum?»Ich würde rechts in den Gang gehen und auf mittlerer Höhe eins auf gut Glück herausnehmen.« 1704: Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Es kann eine Tür zufallen, weil der Wind so stark ist. Vor Schreck fällt einem der Becher aus der Hand und zerspringt auf dem Boden. Gott sei dank nur Wasserflecken auf der Hose. Aber doch ärgerlich.« Wozu ist Stroh gut? »Zur Not, um darauf zu übernachten. Aber es kratzt.«
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Womit kann man schreiben? »Mit dem dicken Zeh im Sand. Aber ich kann nur mit einem Bleistift schreiben.«
II Assoziation Was assoziieren Sie mit diesem Geräusch? Rauschen: »Autobahn.« Geysir: »Trinken, Sturm.« Saloon (Schuss am Ende): »Am Anfang dachte ich: ein Metronom wie das, mit dem ich früher Cello geübt habe, dann aber Partygeräusche.« Bitte stecken Sie Ihre Hand einmal in diesen Kasten und ertasten die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen Ihnen ein? Federn: »Perücke.« Apfel: »Das ist das Schlimmste: man spürt, was es ist – oder glaubt zu wissen, was es ist, möchte aber nicht sagen, was es ist – das wäre zu simpel – und sagt, was es nicht ist: Quitte.« Pistole: »Das ist die Lanze des Don Quijote.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Klarheit.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Neugier.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Das ist mir zu schwierig.« 4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Wissenschaft braucht Geselligkeit, Austausch der Forschungsergebnisse, die in den Naturwissenschaften meist auf Experimente zurückgehen. Erst durch die Geselligkeit der Forscher können die Experimente relativiert und falsifiziert werden. So kann es weitergehen.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Warum muss es immer ein Größtes geben?« 6 Welche Entdeckung hätten Sie gerne gemacht? »Vielleicht wäre ich gerne auf die Infinitesimalrechnung gekommen.« 7 Wer ist ihr Lieblingswissenschaftler? »Pascal.« Können Sie uns drei Synonyme für ›Pascal‹ nennen? »Philosoph, Theologe, Naturwissenschaftler.« 8 Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: Aufklärung ist …»Nicht alles.« Bitte vervollständigen Sie den nächsten Satz: Der Mensch ist nur da ganz Mensch …»Wo er spielt. Aber arbeiten muss er auch.« 9 Was ist Ihre Lieblingstheorie und warum? »Für mich sind Theorien keine Spielzeuge, von denen ich sagen könnte: Es gibt solche, die ich mag und nicht mag, Spielzeuge in einer Spielzeugkiste. Theorie hat für mich noch etwas mit Kontemplation zu tun.«
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10 Welches Buch hätten Sie gerne geschrieben? »Das Symposium von Platon.« 11 Wie sähe Ihr idealer Studierplatz aus? »Stille, Abgeschiedenheit und ein leichter Zugang zu Büchern.« 12 Was würden Sie gern können und was würden Sie gern noch lernen? »Mühelos leben.« 13 Was ertragen Sie nur mit Humor? »Eigentlich alles, fast alles.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Fällt mir im Moment nicht ein.« 15 Ist Ihnen schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Ist mir leider noch nicht begegnet.« 16 Was ist die beste Frage bzw. was sind die besten Fragen? »Die besten Fragen sind die, die man nicht gleich beantworten kann, auf die einem keine gute Antwort einfällt.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Wenn ich das wüsste, dann müsste ich ja keine Philosophie betreiben.«
Bernhard Dotzler am 10. Mai 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum?»Anleitung zur Schlagfertigkeit.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Die Welt kann untergehen, es kann ein Stromausfall sein, man kann eine gute Idee haben … Viel mehr passiert nicht (im Jahr 1704 ja noch nicht einmal ein Stromausfall).« Wozu ist Stroh gut? »Um diese surrealen Landschaftsbilder im Augustlicht zu erzeugen.« Womit kann man schreiben? »Mit der rechten Mischung aus Geduld und ab und zu einem Einfall.«
II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Rauschen: »Das war ein Gebläse.« Zug: »Das war zu realistisch, eine Eisenbahn, als dass man dazu etwas erfinden könnte.« Saloon (Schuss am Ende): »Das war eine Kinovorführung, die schon begonnen hat.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? Federn: »Federn! Ach ja, attribuieren. Also: flauschig, piecksig, unangenehm.« Apfel: »Unhandlich, langweilig.« Pistole: »Interessant. Aber kannst du fühlen, ohne Erkennen zu wollen? Ich nicht.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Neugier.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Neugier und Variationsreichtum.«
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3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Gar nicht.« 4 Bilde bitte einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Geselligkeit ist kein wissenschaftliches Experiment.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Sich auf so unbekannte Situationen wie diese hier einzulassen.« 6 Welche Entdeckung hättest du gerne gemacht? »Überhaupt ‘mal eine.« 7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? »Turing.« Kannst du uns drei Synonyme für ›Turing‹ nennen? »Schwul, störrisch, intelligent.« 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Vorbei. (Wäre also dringend neu zu erfinden.)« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch ...« »Wo er spielt, vielleicht?« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Meine Lieblingstheorie ist die vom Warp-Antrieb, weil ich sie nicht verstehe. Da fehlt mir einfach die Raum-Zeit-Physik. Der Warp-Antrieb ist eigentlich die netteste Theorie, die ich mir vorstellen kann.« 10 Welches Buch hättest du gern geschrieben? »Die Recherche.« 11 Wie sähe dein idealer Studierplatz aus? »Zu vielfältig und wechselnd loziert, als dass er sich bündig beschreiben ließe.« 12 Was würdest du gern können und was würdest du gern noch lernen? »Wirklich Klavierspielen. Lernen würde ich gerne noch Astrophysik, Jura und Filmemachen.« 13 Was erträgst du nur mit Humor? »Tagungen.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Im Kino.« 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Nein, die ist mir nicht begegnet. Ich habe sie aber auch nie gesucht, und so geschah nichts.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Naja, immer die Frage: Und was würdest du jetzt fragen? Alter Gesprächsspieltrick.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Da gibt es die Antwort längst: Nichts.«
Isabelle Graw am 14. Juni 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum? »Ich suche mir den nie veröffentlichten ersten Roman von Simone de Beauvoir aus, und der heißt Das Jahr Null.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Es kommt darauf an, ob der Becher gefüllt ist oder nicht. Aber wenn der Becher gefüllt ist, kann die Flüssigkeit herauslaufen und eine Art Fontäne zwischen Mund und Becher ergeben. Man kann den Becher natürlich auch fallen lassen. Man kann
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ihn derart kräftig halten – zumal wenn man vielleicht etwas getrunken hat –, dass er zerbirst. Man kann auch nicht treffen, also den Becher, den man eigentlich zum Mund führen wollte, plötzlich an die Wange führen.« Wozu ist Stroh gut? Womit kann man schreiben?
II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Gestern Abend, ›Sale e Tabacci‹, viele Stühle, aufgeregte MenschenFraktionen, die sich unterschiedlichen Solidaritäten verpflichtet sehen, auf- und abspringen auf den Stühlen, ich selber, die ich mir als Zidane-Fan selber zugucke, wie ich plötzlich auch in die Luft springe und vor lauter Fantum kaum an mich halten kann, Getränke, Stühle, die gerückt werden, Aufforderungen, nicht zu reden, Aufforderungen, bei dieser Gelegenheit überhaupt nie zu reden, Geschlechterpolaritäten, die sich dergestalt herauskristallisieren, dass die anwesenden Frauen tendenziell reden, während die anwesenden Männer tendenziell dazu auffordern, zu schweigen und sich zu konzentrieren. Das Warten auf Günter Netzer, Fan von Günter Netzer sein, die Krawatte von Günter Netzer, die Frau von Günter Netzer, die ihm die Krawatte aussucht, der Dialog von Günter Netzer und dem anderen, Günter Netzer, der anthropologische Konstanten entwirft und davon spricht, wie die Kenianer seien, latenter Rassismus, den man aber trotzdem gern in Kauf nimmt, weil man Günter Netzer so mag …« Elektronischer Sound: »Neue Musik, Avantgarde, Techno, Ausgehen, Konzerte, atonale Musik, Atonalität, die trotzdem ein Element von Tonalität hat; Volksbühne, ein Abend in der Volksbühne, Musik-Festivals, John Cage, Rave, Klubs, Technobässe, Wummern, Rainald Götz, Ibiza, Klub Amnesia, Sven Väth, Love Parade, WMF.« Saloon (Schuss am Ende): »Verabredung, Essen gehen, reden wollen, nicht reden können, weil man dauernd gestört wird durch Musik, darum bitten, dass die Musik leiser gestellt wird; reden wollen, nicht reden können, weil der Musiksound anschwillt; auf Reisen in eigentümlichen Restaurants auf dem Flughafen sein, dem Lärm ausgesetzt, man versucht, sich zu konzentrieren, versucht zu lesen, immer wieder von den Küchen- und Tellergeräuschen abgelenkt werden; immer wieder in Restaurants sitzen, reden wollen, nicht reden können, versuchen, ein Gespräch aufzuzeichnen, aber die Aufzeichnung scheitert an dem Kaffeetassengeklapper, das die Aufzeichnung überlagert; Einbruch des Unvorhergesehenen, der Katastrophe, des nicht identifizierbaren Geräusches, Terrorismus, Angst, Phobie, Paranoia, kollektive Paranoia, jedes Geräusch wird als Anschlag gedeutet.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? Federn: »Weich, kuschelig, sensitiv, sexy, animalisch, sanft, vollweich gespült, Wollspülmittel.«
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Apfelsine: »Knackig, vermeintlich gesund, Zwischenmahlzeit, Mini-Break, Diätwahn, essen und zugleich nichts essen, Kalorientabellen, Magersucht.« Revolver: »Was ist denn das? – Heimwerkerhobbykeller, Hammer, Reparatur, Sanierung, Renovierung, Härte, Gewalt, Gefahr, Penetration.«
IV Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Nicht zu wissen.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Neugierde, Offenheit, Genauigkeit.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Als gegeben und situativ abänderbar zugleich.« 4 Bilde einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Wissenschaft ist nur dann gesellig, wenn sie sich Experimenten gegenüber öffnet.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? 6 Welche Entdeckung hättest du gern gemacht? »Den Minirock.« 7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? Kannst du uns drei Synonyme für deinen Lieblingswissenschaftler nennen? 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Ein Mythos.« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Meine Lieblingstheorie ist – das klingt jetzt ein bisschen prätentiös, aber ich sage es trotzdem – die Dekonstruktion, weil sie so schön anwendbar ist.« 10 Welches Buch hättest du gern geschrieben? 11 Wie sähe dein idealer Studierplatz aus? 12 Was würdest du gern können und was würdest du gern noch lernen? 13 Was erträgst du nur mit Humor? 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Am Schreibtisch.« 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Die Vernunft ist mir, denke ich, wirklich in der Person Kants begegnet – und ich habe mit ihr gerungen.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Die besten Fragen sind die, die man als Zumutung empfindet.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Dass es ihn nicht gibt.«
K. Ludwig Pfeiffer am 12. Juli 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum? »Aristoteles’ Traktat über das Komische, weil es die unzulänglichen Thesen über die Tragödie korrigieren könnte.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er
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fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Der Becher kann aus der Hand fallen.« Wozu ist Stroh gut? »Zum Dreschen.« Womit kann man schreiben? »Mit den Zähnen.«
II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Ich würde sagen, hier sieht man sehr deutlich im Sinne der Polymodalität den Übergang von Lärm zu Signal. Das könnte auch der Anfang eines Opernchores sein, der gerade am Proben ist, und die Stimmen sind noch nicht richtig geordnet.« Kratzen: »Ich assoziiere das mit dem Lassen Park in Nordkalifornien, und zwar mit einem Abschnitt, der heißt Bumpers Hell. Dort ist jemand mal tödlich verunglückt. Der ist so ›bomp‹ ›bomp‹ im heißen Sumpf versackt, das klingt genauso.« Saloon (Schuss am Ende): »Das assoziiert man mit den leider Gottes sehr häufig vorkommenden, anstrengenden Formen von Polymodalität. Man sitzt im Restaurant und möchte sich unterhalten, man möchte auch etwas essen, wird aber vom Lärm in beide Richtungen so vollgedeckt, dass man weder zum Essen noch zum Unterhalten kommt. Und der Schluss erinnert mich an den Kriminaltango und den Satz ›Und in diesem Tango, da fällt ein Schuss‹.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? Federn: »Das schreibe ich frühkindlichen Erfahrungen zu, als die Betten noch schlecht waren und man sich ständig an irgendetwas gestochen hat. Ich assoziiere das mit frühkindlichen Erinnerungen an unbequeme Betten.« Apfelsine: »Das assoziiere ich mit einer angenehmen, erleichterten Form von Kugelstoßen.« Revolver: »Das assoziiere ich mit den nicht ganz, aber zum Teil vergeblichen Versuchen, mit Werkzeugen umzugehen.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Leichtigkeit.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Flexibilität.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Durch Interaktionsformen.« 4 Bilde einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Geselligkeit war eine Form experimenteller Wissenschaft im 18. Jahrhundert.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Ich denke mal, einen Marathon zu laufen.« 6 Welche Entdeckung hättest du gern gemacht? »Wie man Metaphysik wirklich mit Rossini behandelt. Valéry hat das einmal vorgeschlagen, aber nicht realisiert.«
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7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? »David Hume.« Kannst du uns drei Synonyme für ›David Hume‹ nennen? »Skepsis, Weitermachen, Geselligkeit.« 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Nicht das, was Kant gesagt hat.« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« »Wo er spielt, da würde ich zustimmen.« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Die philosophische Anthropologie, sofern sie auch biologisch interessiert ist.« 10 Welches Buch hättest du gern geschrieben? »Eine theoretische Version von Hamlet.« 11 Wie sähe dein idealer Studierplatz aus? »Ein einsamer Leseplatz in einer sehr großen (mindestens eine Million Bücher) Bibliothek, in der die vielen Bücher gleichwohl ganz leicht zugänglich sind.« 12 Was würdest du gern können und was würdest du gern noch lernen? »Den Delphinstil und damit die 400m-Lagen im Schwimmen (die anderen drei Lagen kann ich schon). Sodann würde ich das Cellospiel gerne (wieder) lernen.« 13 Was erträgst du nur mit Humor? »Gremiensitzungen an der Universität.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Ein Spiel hat sehr oft nichts zu suchen, aber das Spielerische kann es überall geben.« 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Ich kann mich nicht erinnern … etwas Besonderes war es jedenfalls nicht.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Das sind Fragen, auf die man halbe Antworten geben kann.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Dass der Kern leer ist.«
Andreas Platthaus am 3. Mai 2004 I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher, welches Buch entwenden Sie und warum? »Ich entwende den einundfünfzigsten Jahrgang der Comic-Serie Peanuts.« Adamowsky: »Und warum?« »Weil Charles Schulz nach dem fünfzigsten Jahrgang gestorben ist.« 1704: Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Man kann ihn fallen lassen, man kann von einem Herzschlag getroffen werden, man kann ein gutes Buch entdecken und den Becher wieder absetzen, man kann verdursten, man kann von einem anderen Wasser angeboten bekommen, was angenehmer aussieht als dasjenige, was man selber gerade zum Munde führt, man kann entdecken, dass man eher hungrig ist als durstig und sich zum Buffet hinwenden, man könnte feststellen,
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dass man eine Wasserallergie hat, dass das Wasser an sich schmutzig aussieht, man könnte sich überlegen, dass Wasser prinzipiell nicht so gut als Getränk ist, dass ein Wein vorzuziehen wäre. Solche Dinge ungefähr.« Wozu ist Stroh gut? »Nun, im Märchen, um Gold daraus zu spinnen, im normalen Leben, um darauf zu schlafen, um den Strohsack auszubessern, im weiteren Sinne, um auch den Tieren eine angenehme Nachtruhe und vielleicht auch Nahrung zu bieten, im weiteren Sinne, wenn man tatsächlich feststellen sollte, dass man eher hungrig als durstig ist, um zumindest ein grobes Gefühl von Hunger zu befriedigen, bevor man dann doch das Glas Wasser zum Munde führt, im weiteren natürlich zu Mästzwecken. Wenn man denn mehrere Strohhalme hat, kann man auch ein Entscheidungsspiel daraus entstehen lassen; und nicht zuletzt sollte man darauf hinweisen, dass bereits die Herstellung von Stroh so viel menschliche Mühe erfordert hat, dass es allemal zu metaphysischen Überlegungen taugt.« Womit kann man schreiben? »Nur mit Herzblut.«
II Assoziation Was assoziieren Sie mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Fanatismus.« Elektronischer Sound: »Fehlgeleitete Moderne.« Saloon (Schuss am Ende): »Godard.« Bitte stecken Sie Ihre Hand einmal in diesen Kasten und ertasten die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen Ihnen ein? Federn: »Weich, flaumig, leicht stechend, haften an der Hand.« Apfel: »Ich hätte zuerst gesagt, ein Baseball, aber dann lässt es sich doch weniger gut fassen, hart, glatt, kalt, mit einem seltsamen Appendix an der Unterseite.« Pistole: »Schwer, kalt, Metall, ein Wagenheber ist es nicht, unangenehm, die Öffnung vorne lässt sehr unangenehme Assoziationen zu, klickt aber nicht, oder doch: klickt bei Gebrauch. Ja, nicht unbedingt das, was man sich zu spüren freut.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Erkenntnis sammeln.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Ehrlichkeit.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Immer mit offenen Karten spielen.« 4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Geselligkeit besteht aus Wissenschaft, die nicht als Experiment betrieben wird.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Erkenntnis sammeln.« 6 Welche Entdeckung hätten Sie gerne gemacht? »Den einundfünfzigsten Jahrgang der Peanuts.“ 7 Wer ist Ihr Lieblingswissenschaftler? »Carl Barks.« Können Sie uns drei Synonyme für ›Carl Barks‹ nennen? »Donald-Duck-Zeichner, Autor der
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Comédie Humaine des zwanzigsten Jahrhunderts, größter Comiczeichner aller Zeiten.« 8 Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Die Bemühung, Wissen zu schaffen unter den Bedingungen vollständiger Objektivität.« Bitte vervollständigen Sie den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, …« »Wo er seinem Leben freien Lauf lässt.« 9 Was ist Ihre Lieblingstheorie und warum? »Meine Lieblingstheorie ist die Gegenthese zur Stella-Anatium-Theorie. Die Stella-Anatium-Theorie besagt, dass Entenhausen in einem uns unzugänglichen Paralleluniversum liegt. Jeder, der sagt, das ist nicht so, hat meine volle Sympathie.« 10 Welches Buch hätten Sie gerne geschrieben? »Ich wäre sehr versucht zu sagen: den einundfünfzigsten Band der Peanuts. Aber das wäre nun wirklich Wahnsinn! Ein Buch, das ich gerne geschrieben hätte, ist über den Einfluss des japanischen Farbholzschnittes auf die Zeichentrickästhetik.« 11 Wie sähe Ihr idealer Arbeitsplatz aus. »Viel Zeit, blendende Bibliothek, ein LehrerSchüler-Verhältnis von maximal eins zu zwei, große Unterstützung seitens der Regierung, höheres Bafög.« 12 Was würden Sie gerne können und was würden Sie gerne noch lernen? »Ich würde gerne Klavier spielen können, ich möchte es aber weiß Gott nicht lernen, weil es wahrscheinlich wahnsinnig mühselig wäre. Ich würde gerne lernen, besser verlieren zu können.« 13 Was ertragen Sie nur mit Humor? »Manche Redaktionssitzungen der F.A.Z.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »In einem anderen Spiel. Ein in sich potenziertes Spiel ist wahrscheinlich der Horror.« 15 Ist Ihnen schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Die Vernunft begegnet mir immer wieder in Büchern. Was dabei geschieht, sind wunderbar erhellte Momente, meistens in tiefer Nacht und in tiefer Zufriedenheit vor dem Zubettgehen.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Es gibt keine beste Frage. Der Witz ist, dass wir eigentlich alle Antworten kennen, wir kennen aber keine richtigen Fragen dazu. Das ist ein bisschen die Schwierigkeit der conditio humana. Dementsprechend würde ich sagen, wenn es überhaupt eine gute Frage geben kann – von bester will ich überhaupt nicht reden –, dann wäre es die, wie man all die Fragen finden könnte, die wir uns eigentlich stellen müssten, auf die wir längst Antworten haben.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Hoffentlich das Herz.«
Hans Ulrich Reck am 7. Juni 2004 I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher, welches Buch entwenden Sie und warum? »Sie wollen doch nicht suggerieren, dass in diesem Falle Entwenden selbstverständlicher sei als sonst, allgemein oder gar in Betracht
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meiner? Gerade hier wäre das ja durch und durch paradox. Nun denn: Ich würde ein Buch suchen, das mir sagt, welcher Teil der mir wichtigen Texte, also reine spekulative Desiderate, aus der Bibliothek von Alexandria, die verbrannt sind, doch geschrieben worden sind. Damit antworte ich, wie ich weiß, nicht genau auf die Frage, aber bei allen Büchern vor Gutenberg ist ja nicht generell klar, was ›veröffentlicht‹ heißt. Ein solches Buch also würde ich wohl auch entwenden – die Gefahr besteht.« 1704: Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Mich wundert die Frage des alten Freundes Leibniz überhaupt nicht, denn ich denke, dass er etwas im Schilde führt. Mehr als die Weltschöpfung könnte nicht geschehen, weniger geschieht allemal in der Zeit, das heißt: sehr vieles.« Wozu ist Stroh gut? »Metaphorisch und metonymisch: zum Dreschen, aber nicht leeres.« Womit kann man schreiben? »Nur mit dem Leben und dem, was das Leben kostet.«
II Assoziation Was assoziieren Sie mit diesem Geräusch? Glocken: »Das erweist für mich eine enge biographische Bindung und hohe mnemische Qualität. Solche Klänge haben für mich zu tun mit spätem Frühling. Sonntag, Spazieren über nasse Wiesen an Waldesrändern, wo noch Schnee liegt. Das heißt, es ist keine Welt der Arbeit. Es ist ein Zur-Ruhe-Kommen in diesen Klängen mit allem, was dazu gehört, auch mit Nostalgie und großem Bedauern, dass diese Sonntage nicht mehr so sind, wie sie früher einmal waren, für mich wenigstens.« Kratzen: »Das ist für mich ein Klang, der mit der Umkehrung der Tonfolge zu tun hat, anklingend auch an die psychedelischen Feedback-Geschichten, bei denen man meint, man höre nicht die Musik, sondern den eigenen Organismus. Das war in den späten sechziger Jahren, und wir hatten ein großes Vergnügen daran, die nicht geformten Klänge, sozusagen wie eine Naturgewalt aus Ton, zu hören.« Saloon (Schuss am Ende): »Ich habe den dringenden Eindruck, dass ich hier für mich gerne die Erlebnisrichtung umdrehen würde. Wenn ich so etwas höre, schau’ ich, dass ich in die Position komme, um schnell wegzugehen. Das ist so ein Klang, da bin ich gut beraten, wenn ich weggehe. Es sei denn, ich wäre schon drin, aber ich höre es eben, bezeichnenderweise, von außen, indirekt mich als Gegenüber von diesem empfindend.« Bitte stecken Sie Ihre Hand einmal in diesen Kasten und ertasten Sie die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen Ihnen ein? Federn: »Ich finde das wie immer einnehmend und anmutend, dieses Weiche, Federnhafte, Flauschige, so als würde man Haare liebkosen.« Apfel: »Es gibt andere Früchte, die ich lieber mag, als diese hier.« Pistole: »Das scheint mir ein gewalttätiges Instrument zu sein. Das macht mir Schwierigkeiten. Ich würde dem auch den eben nicht sonderlich geliebten Apfel jederzeit
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vorziehen. Das ist mir zu schwer. Wenn es etwas Schweres sein soll, dann hätte ich viel lieber eine ganz schwere Kugel. Das scheint mir interessant: Die Kombination von reiner Gestalt, mindestens Gestaltregelmäßigkeit, oder, was auf dasselbe hinausläuft, Gestaltlosigkeit und Schwere, das wäre etwas, was mir gefallen würde. Was ich hier taste, ist außerordentlich signifikant geformt, klar geformt und schwer. Diese Mischung von klar geformt und schwer erscheint mir uninteressant. Die ungestaltete Welt muss schwer sein, aber nicht die Vorstellung von etwas, das gestaltet ist. Deshalb: Das mag ich nicht.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Wahrhaftigkeit ist es schon lange nicht mehr, außer in idealtypischen, also empiriefreien Abstraktionen, Glauben hat es nie sein dürfen und darf es nicht sein. Nun denn, wie seit je und erst recht Kant: Selbstkritik.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Er sollte unabhängig davon, was er tut, eine Erfahrung der Verzweiflung am Leben haben, die er in eine Erkenntnis umzusetzen bestrebt ist. Die Fähigkeit zur Verzweiflung ist eine ganz grundlegende Fähigkeit. Nur ja kein ›positives Denken‹, denn das führt unweigerlich zu vollkommenen Katatrophen, wie ja überhaupt die Gutmeinenden hierin die Schlimmsten sind.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Dass die Auswirkungen des Spiels nicht so wären, als wenn das Spiel ein Ernstfall wäre, welcher ja in der Regel das Problem aller erfolgreichen Wissenschaft ist, denn sonst wäre sie tatsächlich ein Spiel.« 4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment! »Die Geselligkeit in der Wissenschaft ist keine Folge eines Experimentes.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Man kann die bekannten Figuren zitieren, aber ich hoffe, dass es hier keine wirklich generalisierende Antwort gibt.« 6 Welche Entdeckung hätten Sie gerne gemacht? »Keine.« 7 Wer ist Ihr Lieblingswissenschaftler und warum? »Keiner, denn einer alleine kann es nicht sein. Ich arbeite – durchaus als ich selber und auf mich gestellt – immer in Konstellationen, vorzugsweise in Kooperation mit Toten. Dass dem nicht so ist, kann man sich nur zwischenzeitlich und mittels Verblendungen vormachen. Dabei denke ich keineswegs an Gebilde wie die scientific community oder eine langfristige Verbesserung des Argumentierens durch kommunikative Vereinigung rationaler Subjekte. Eine gewisse Sympathie habe ich eher für historisch subkutan wirkende, allerdings höchst bedeutsame Konstellationen wie die Acéphales, die Encyclopaedia da Costa, die Paraphysik oder auch die Macy-Versammlungen.« Können Sie uns drei Synonyme für (Ihren Lieblingswissenschaftler) nennen? »Umgekehrt und in verdeutlichender Anlehnung an die Literatur: Einschlägige ›Verdächtige‹ wie Mallarmé, Baudelaire, Beckett, Kafka, Joyce erscheinen mir immer mehr wie Synonyme ihres Schreibens und nicht als dessen Autoren.« 8 Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Heute die Erkenntnis über den nicht selbstverschuldeten Teil der Unmündigkeit.«
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Bitte vervollständigen Sie den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« »Wo er sich von sich selber als Ganzem verabschiedet.« 9 Was ist ihre Lieblingstheorie und warum? »Sie meinen das ganz unspezifisch, so wie man fragt, was ist Ihre Lieblingsmusik? Als Theorie? Na gut, ich sage etwas ganz Konventionelles. Wenn Theorie zu verstehen ist als ein Arbeiten an überprüfbaren Fortschritten in Feldern, die mich interessieren in Bezug auf Vorstellen und Imaginieren, dann ist meine Lieblingstheorie das Lebenswerk von Jean Piaget. Es könnte aber auch ein anderer genetischer Strukturalismus von solcher Qualität sein …« 10 Welches Buch hätten Sie gern geschrieben? »Bisher leider nur alle eigenen, die wichtig und dennoch Vorhaben geblieben sind – das sind etwa fünf oder sechs. Als Produzent nehme ich einen egozentrischen Standpunkt ein, selbstverständlich nicht, weil ich meine Bücher für die besseren, besten oder wichtigsten halte, das gerade nicht – aber wohl weil sie die sind, die ich machen muss und vielleicht nur ich machen kann. Mich hat die Vorstellung, Autor eines der zutiefst bewunderten, wissenschaftlichen oder literarischen Bücher zu sein – hiermit ist schon klar gesagt, dass es sich dabei nicht um ›eigene‹ handeln kann – nie begeistern, noch nicht einmal ansatzweise berühren können. Im Gegenteil, da ich immer die Strapazen mitlese, die sie möglich gemacht haben, bin ich zutiefst dankbar dafür, dass andere sie geschrieben haben – das kommt zur Bewunderung dann noch dazu. Es war und ist immer die Figur des Anderen, die mich begeistert, nicht die Vorstellung, ich könnte ein solcher sein. Allerdings – es sei nicht verschwiegen – ist die Auffassung, Desiderate seien mir die eigenen Bücher, nicht geeignet für diejenige rituelle Bescheidenheit, mit der man so gerne und begierig mediale Tugendbehauptungen zirkulieren lässt.« 11 Wie sähe Ihr idealer Studierplatz aus? »Es gibt ihn, mehrere sogar, an verschiedenen Orten. Wunsch ist dagegen: Zeit haben.« 12 Was würden Sie gern können und was würden Sie gern noch lernen? »Kaum begrenzbar. Vieles, Sprachen, Wissenschaften – darunter endlich die, die ich gestreift und dann wieder gelassen habe, z. B. Mathematik, Recht. Zu schweigen von der Selbstbegegnung mit einem in den zur Debatte stehenden Zügen dann annehmbarer erscheinenden Charakter.« 13 Was ertragen Sie nur mit Humor? »Wenn überhaupt, dann hälfe nur Humor, neben anderen unangenehmen Seiten oder Untugenden, eine gewisse Intoleranz zu ertragen. Es geht dabei eigentlich nicht um Ertragen der Rigidität, sondern um ihre Abmilderung. Es müßte Regulativ werden, was unerträgliches Sich-Entwerfen in solchem ist. In der Zwischenzeit übe ich mich in Warten und versuche, Geduld zu erlernen.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Im Bereich des Spielerischen.« 15 Ist Ihnen schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Gott sei Dank nicht, und insofern ist auch nichts passiert. Dafür bin ich dankbar, vielleicht dankbar, eine Entdeckung nicht gemacht zu haben.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Die besten Fragen sind diejenigen, die unabhängig ihrer Bedeutsamkeit im Hinblick auf irgendetwas aus der
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Freude an der Lebendigkeit gestellt werden, egal von wem, egal wofür, egal in welcher Richtung, das sind die besten Fragen.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Ich glaube, dass es keinen gibt.«
Helmar Schramm am 28. Juni 2004 I Imagination Stell dir vor, du erhältst Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchst du dir aus und warum? »Die nie veröffentlichten Bücher – das ist vielleicht die ehrbarste Bibliothek. Jeder lineare Schreibprozess ist ja auch ein Verrat an der vieldimensionalen Idee, die man im Kopf hatte. Man ›schreibt‹ im Kopf, und bei größeren Arbeiten, das kennt jeder, dauert das sehr lange. Was man sich im Kopf vorstellt wird immer komplexer, doch dann kommt äußerer Druck und man wird gezwungen, sich jetzt hinzusetzen und alles aufzuschreiben. Das ist ein ungeheurer Verrat an den Visionen, die man vorher zu dem Thema hatte. Also, ich würde ein Buch aussuchen, das von diesem Verrat handelt, Schreiben als Verrat.« 1704: Du bist bei deinem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert dich zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt dich: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Es gibt eine riesige Menge von Aktivitäten, die nicht passieren können, während man einen Becher zu den Lippen führt. Was aber ist möglich? Es ist möglich, dass einem das Zu-den-Lippen-Führen so gut gelingt, dass es einem nicht weiter auffällt. Nur wenn man etwas verkleckert oder etwas anderes passiert, das einen im Grunde genommen stört, wird man auf solche Dinge überhaupt aufmerksam. Im 17. Jahrhundert war die Aufmerksamkeit für solche Automatismen schon sehr ausgeprägt. In Erziehungskonzepten z. B. spielte das eine sehr große Rolle: Es ging nicht nur darum, Verhaltensweisen, z. B. richtiges Essen und Trinken, richtig zu lernen, sondern der Zögling sollte sie am Ende wie ein Klavierspieler beherrschen, der bei seinem Spiel ja auch nicht nachdenken kann. So gehört das Trinken oder einen Becher zu den Lippen führen, genau wie das Klavierspielen, zu den Tätigkeiten, während derer man nicht nachdenken kann und eigentlich auch nicht will.« Wozu ist Stroh gut? »Bei einer solchen Frage von einem Menschen wie Leibniz würde ich denken, dass da etwas dahinterstecken muss. Jemand wie Leibniz fragt ja nicht einfach so: Wozu ist Stroh gut? im Sinne eines Bauern. Aber vielleicht: leeres Stroh dreschen? Vielleicht geht es darum, Metaphern zu bilden. Das würde mich zum Beispiel interessieren, ob diese Metapher ›leeres Stroh dreschen‹ zu der Zeit von Leibniz schon existierte.« Womit kann man schreiben? »Ist das jetzt auch eine Frage von Leibniz? In dem Fall würde ich wirklich auf materielle Instrumente gehen, angefangen bei den Fingern über Federn bis hin zu eigentlich allen Materialien, die man sich denken kann, außer gasförmigen. Gase entziehen sich irgendwie dem Schreibprozess.«
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II Assoziation Was assoziierst du mit diesem Geräusch? Fußballfans: »Gewalt.« Elektronischer Sound: »Das ist dysfunktional und provozierend. Dysfunktional in Bezug auf menschliche Beziehungen, wenn dieses Geräusch zum Beispiel aus einem gegenüberliegenden Fenster auftaucht, während man seine Ruhe haben will. Dann sind beide Elemente bis auf den Gipfel getrieben, Provokation und Dysfunktion. Und ich glaube, dass dies heutzutage eine riesige Rolle spielt, ich halte das für eines der größten Probleme, eins der größten erkennbaren Symptome unserer Pseudogesellschaften: Es ist geradezu erschreckend, wie viel akustische Vernichtungskraft wir um uns herum ertragen müssen und wie sich das, was Kant schon bei seiner provisorischen Klassifizierung der Künste erahnt hat, als er sagte, ›Musik – eine nicht-urbane Kunst‹, wie sich das bewahrheitet. Eben weil man sich nicht dagegen schützen kann; zumindest kann man es nicht so leicht haben, wie wenn man die Augen schließt. Musik dringt einfach vor und geht irgendwie auf einen los.« Saloon (Schuss am Ende): »Schock. Vorher baut sich eine Situation auf, in der man sich, wenn man gerade Lust darauf hat, eigentlich wohl fühlen könnte. Wohlfühlen hängt mit Entspannung zusammen. Je entspannter man ist, desto mehr schlägt wahrscheinlich ein Schock ein, wenn ein Schuss fällt – das war ein Schuss für mich, ich könnte mir kaum etwas anderes vorstellen, es könnte natürlich auch sein, dass einfach nur ein Glas heruntergefallen ist. Ist der Schock vielleicht umso größer in einer Haltung der Entspannung? Ich weiß nicht.« Bitte stecke deine Hand einmal in diesen Kasten und ertaste die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen dir ein? »Ich überlege, ob ich meine linke oder rechte Hand benutzen soll. Bei mir ist das ein bisschen durcheinander. Ich bin weder Links- noch Rechtshänder. Manche Dinge kann ich nur mit rechts, manche nur mit links, – ich nehme jetzt einfach mal die Linke.« Federn: »Uhh, das ist irgendwie unangenehm – Federn oder so? Man erwartet, dass da gleich noch etwas hervorspringt, um die Federn zu verteidigen. Es ist irgendwie unheimlich – wie uns überhaupt alle Reste von Lebewesen, wenn wir sie nur betasten können, irgendwie erschrecken. – Vom Aussehen her wiederum ist es nicht schlecht!« Apfelsine: »Ein Objekt von einem bestimmten Gewicht von etwa 300 Gramm mit einer vergänglichen oder geschickt imaginierten porigen Haut überzogen – mit einer Orangenhaut überzogen.« Revolver: »Das ist ja eine gefährliche Waffe. Da wagt man gar nicht, sie hier so in die Richtung zu halten (hält Revolver ins Publikum gerichtet). Das fühlt sich sehr schwer an; gleichzeitig merkt man, dass viele Jahrzehnte daran gearbeitet wurde, damit ein so schwerer Gegenstand optimal in der Hand liegt und man verschiedene Funktionen unkompliziert und schnell damit ausführen kann. Aber die entscheidende Funktion, die man hier normalerweise erwarten würde, den Abzugshahn nämlich, der müßte
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hier geschickt verborgen sein. Aber vielleicht ist es gar keine Waffe, sondern das abgebrochene Ende eines ganz ungewöhnlichen Spazierstocks.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Kann man auch sagen: Diese Frage interessiert mich nicht?« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Eine ungeheure Menge Masochismus. Wissenschaft zu betreiben ist eigentlich ungeheuer lebensfeindlich in vielerlei Hinsicht. Allein diese Konzentration aufzubringen oder das permanente, geradezu wahnwitzige Aufhalten im Laboratorium oder ein ebenso, wenn nicht noch schlimmeres Gebundensein an irgendwelche Regale im Archiv … Für den Wissenschaftler ist damit natürlich immer auch eine bestimmte Lust impliziert, aber es ist halt so: Wenn man ein Buch liest, kann man in dieser Zeit nicht viel anderes machen. Das ist ein großes Problem: man muss eine ungeheure Energie aufbringen, um den eigenen Lebenswillen niederzuschlagen.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würdest du die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Das kommt drauf an. Es gibt zwei ganz verschiedene Spiele. Das eine ist das Spiel, das man selber spielt und das mit den eigenen Vorgehensweisen zusammenhängt; das andere ist das institutionalisierte Spiel und meistens ein sehr spielfeindliches Spiel. Das überträgt sich manchmal auch auf die Art, wie man selber spielt. Das hat eine sehr große Kraft, einen sehr großen Einfluss. Wenn das Wort von den ›gefährlichen Liebschaften‹ nicht schon besetzt wäre, könnte man es auch auf die Wissenschaft beziehen. Das Sich-Einlassen mit dem ganzen Wissenschaftsbetrieb ist eine außerordentlich gefährliche Liebschaft.« 4 Bilde einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment kann man in einen Satz zusammenpacken.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? 6 Welche Entdeckung hättest du gern gemacht? »Ich hätte gern eine wirkliche Entdeckung gemacht, als ich als 10-jähriger Schüler nach Experimenten mit meinem Chemiebaukasten in einem Reagenzglas plötzlich eine weißliche Flüssigkeit entdeckte und darin schwebend einen roten Ring. Das war ein Moment in meinem Leben, den ich niemals vergessen werde, und zugleich eine der heftigsten Enttäuschungen, weil ich mit dem Ring so dastand, und ich wagte nicht zu zittern und ging dann am nächsten Tag auch so in die Schule zu dem Chemielehrer, glaubte eine riesengroße Entdeckung gemacht zu haben – den Schrammschen Ring –, und dieser Chemielehrer (namens Apparowsky auch noch) sagte eher so über die Schulter: ›Ach ja, das ist der und der Ring, jaja‹ und schütteltete noch so ein bisschen an meinem Glas.« 7 Wer ist dein Lieblingswissenschaftler? »Muss man sowas haben? Nein? Ok.« 8 Bitte vervollständige den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Schrecklich.« Bitte vervollständige den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« 9 Was ist deine Lieblingstheorie und warum? »Die Lieblingstheorie kann, sofern sie mit dem eigenen Denken zu tun hat, immer nur über eine bestimmte Zeit existieren. Vie-
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les, was man für sehr wichtig hält, wird absolut unerträglich durch die gefährlichen Liebschaften mit dem großen institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb. Zum Beispiel war das Wort ›Theatralität‹ für mich in einer gewissen Frühphase einmal sehr wichtig und sehr innovativ und interessant. Inzwischen ist es eins der schrecklichsten Wörter, das ich kenne. Das heißt, die Frage der Lieblingstheorie hängt eng zusammen mit der Frage, wie sich die Dinge entwickeln.« 10 Welches Buch hättest du gern geschrieben? 11 Wie sähe dein idealer Studierplatz aus? 12 Was würdest du gern können und was würdest du gern noch lernen? 13 Was erträgst du nur mit Humor? 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? 15 Ist dir schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Die Vernunft ist mir oft im Leben begegnet, im wahrsten Sinne des Wortes, und dabei sind immer sehr schockierende Dinge passiert.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? 17 Was ist des Pudels Kern? »Tja, das, was man dazu so weiß …«
Christoph Wulf am 05. Juli 2004 I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher. Welches Buch suchen Sie sich aus und warum? »Eigentlich möchte ich von drei Büchern sprechen. Das eine ist das Buch, das es nicht gibt und das man also auch gar nicht ausleihen kann; es ist ein ungeschriebenes Buch. Das kann das eigene sein, das man noch schreiben möchte, oder eines, das sich nicht schreiben lässt, dessen potentieller Inhalt so widerständig ist, dass er sich nicht in Schrift transformieren und ausdrücken lässt. Das andere Buch ist ebenfalls anders als normale Bücher; es enthält Zeichen, Bewegungen, Bilder, vielleicht sogar Töne und in jedem Fall viele zur Meditation einladende Leerstellen. Es müsste möglich sein, ein Buch herzustellen, das, wenn man es aufschlägt, Töne oder gar Gerüche von sich gibt, ohne dass es dadurch simpel wird. Das dritte Buch erinnert mich an Kindheitserlebnisse, an Erfahrungen in den ersten Lebensjahren. Auch dies ist ein Buch, das nicht möglich ist. Doch in diesem Buch meiner Kindheit würde ich gerne lesen. Wahrscheinlich würde ich dann jedoch die Erfahrung machen, gar nicht lesen zu können.« 1704: Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Die Welt kann untergehen. Eine Katastrophe kann sich ereignen. Der Becher fällt einem aus der Hand. Wenn man plötzlich eine Bewegung macht … – Wir machen dauernd Bewegungen, wissen aber nicht, was eine Bewegung ist. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich eine solche Bewegung in Gegenwart von Leibniz machte, dass ich mich
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plötzlich fragte: Was mache ich hier eigentlich? Was ist das, eine Bewegung? Ich könnte ein Aha-Erlebnis haben: Ja, das ist eine Bewegung! Und dann fiele mir auf, dass ich Wasser im Glas habe. – Seit langer Zeit bin ich vom Wasser fasziniert. So segle ich gerne, gehe gerne in Thermalbäder und wohnte gerne wieder wie früher am Rande eines Flusses. Heute trinke ich sogar gerne Wasser. Ich habe Freude an seinem Geschmack. Mir würde vielleicht, wenn ich den Becher mit Wasser hochnehme, plötzlich die Frage kommen: Was heißt es eigentlich, Wasser zu sich nehmen? Ich könnte denken: Ach, du lebst durch das Zu-Dir-Nehmen von Wasser. Vielleicht würde ich dann mit Leibniz in ein Gespräch darüber eintreten, was eigentlich Wasser sei und welche Bedeutung es für das Leben hat. Panta rhei – alles fließt; nichts bleibt; alles wird formlos und findet immer wieder neue Formen. Wenn man es mir angeboten hätte, ich hätte sehr gern einen Abend mit Leibniz verbracht. Ich hätte mich sehr gern mit ihm getroffen, darauf wartend, was sich ereignen würde, was plötzlich auftauchte, wovon man vorher nicht weiß und wofür man die Offenheit des Anderen braucht, dass er sich ebenfalls einlässt und mitspielt. Das hätte eine wunderbare Begegnung werden können.« Wozu ist Stroh gut? Womit kann man schreiben?
II Assoziation Was assoziieren Sie mit diesem Geräusch? Glocken: »Da fällt mir etwas aus meiner Kindheit ein. Ich bin neben einer mittelalterlichen Kirche groß geworden, und dies Geräusch erinnert mich an Glockenklänge. Sonntags morgens ertönte dieses Läuten. Das war ein Klang, der sich über meine Kindheit legte, sie schützte und ordnete. Wahrscheinlich sind auch erste Erfahrungen von Transzendenz mit diesem Läuten verbunden.« Elektronischer Sound: »Das gefällt mir. Diesen Sound würde ich gern länger hören. Mir kommen keine Assoziationen, es bleibt bei dem Hören der Klänge, aber so, dass es mir gefällt und ich es gerne weiter hören würde.« Saloon (Schuss am Ende): »Western, Männer in Cowboystiefeln, mit Revolvern; Whisky; eine Dame kommt die Treppe hinunter; die Männer schauen zu ihr hinauf; eine gespannte Atmosphäre; gleich wird sich etwas ereignen; durch die Schwingtür tritt ein Bösewicht herein. Nein: Es ist der moralisch selbstlos handelnde, vom Schicksal gebeutelte ›Rächer‹. Gleich geschieht etwas, was die ›Welt‹ des Saloons verändern wird.« Welche Attributionen fallen Ihnen zu den folgenden Gegenständen ein? Federn: »Schön weich. Leicht. Federn. Bisschen piekrig auch. Aber nicht nur. Das ist so diese Mischung aus weich und piekrig. Eine Erfahrung aus Begegnungen mit Frauen. Aber das Leichte und Schöne überwiegt.« Orange: »Rund. Fasst sich gut an. Die möchte ich werfen. Jemandem zuwerfen. Der Gegenstand ist sympathisch; er ist geschlossen, hält einen auf Abstand; man kann nicht in ihn eindringen. Ich vermute, es handelt sich um eine Apfelsine oder so etwas Ähnliches; im Grunde genommen ist das nicht wichtig; das Gefühl ist einfach schön.«
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Revolver: »Oh. Olala. Eines Tages braucht man ihn vielleicht, um sein Leben zu beenden, um Hand an sich zu legen. Knallt das auch, wenn ich es spanne. (Drückt ab) Also das gefällt mir. Nicht nur, um es auf mich zu richten, sondern auch als Zeichen potentieller Macht. So habe ich den Plastikrevolver in meinen Kinderspielen erlebt. Doch heute ist ein Revolver als Ausdruck dafür ein bisschen veraltet; Machergreifung und Welteroberung vollziehen sich anders. Berühren und Begreifen ist wunderbar. Es ist der Tastsinn, der am Anfang von so vielen Erfahrungen steht. Diese vielen Metaphern, die wir für das Begreifen der Welt haben. In seiner Berliner Kindheit um Neunzehnhundert spricht Walter Benjamin von einem Wollknäuel und davon, wie er beim Fühlen dieser Wolle die ersten erotischen Empfindungen hat.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Wagemut.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Staunen und Neugier.« 3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Anders, als sie von vielen Wissenschaftlern beschrieben werden. Ich würde Akzente setzen auf Spontaneität, Einfälle, Sprünge, chaotische Situationen, die sich, nachdem sie sich ereignet haben, irgendwie klären müssen. Ich halte es für wichtig, dass man das Ungestaltete vor der Form und im Prozess der Gestaltung erlebt. – Ordnungen herstellen kann und muss man sein ganzes Leben lang.« 4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Wissenschaft macht nur Spaß, wenn sie im geselligen Kontext stattfindet, wenn man zusammen isst, trinkt und lacht. Dann ist man erst in der Stimmung, in der man Experimente machen kann, in der man sich etwas Neues anschaut oder in der man einfach darüber staunt, dass man, was man immer schon wusste, plötzlich nicht mehr weiß. Diese merkwürdige Erfahrung, dass etwas Vertrautes plötzlich fremd wird. Man kann auch sagen, es ist nötig, schielen zu lernen, also die Dinge anders zu sehen. Für das Finden neuer Ideen, ist es sehr wichtig, sich die Dinge von der Seite anzuschauen, Vertrautes fremd werden zu lassen, zu staunen, zu fragen und Antworten zu suchen.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? 6 Welche Entdeckung hätten Sie gern gemacht? »Ich würde gerne herausfinden, wie die Phantasie arbeitet. Wie ist das mit der Phantasie? Wie ist sie mit dem Körper verbunden? Was erzeugt sie? Wie hängt sie mit dem Spiel zusammen? Wie wirkt sie, wie entsteht ihre Vielgestaltigkeit?« 7 Wer ist Ihr Lieblingswissenschaftler? »Ich habe mich früher sehr intensiv mit Platon beschäftigt.« Können Sie uns drei Synonyme für ›Platon‹ nennen? »Nietzsche, Zen und Picasso.« 8 Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Wirksam, wenn es gelingt, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.« Bitte vervollständigen Sie den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« »Wo er sich richtig freuen kann, wo er springen und jubeln kann.«
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9 Was ist Ihre Lieblingstheorie und warum? »Eine Theorie? Mich interessiert nach wie vor, womit ich mich schon seit zehn Jahren beschäftige, die Frage des Mimetischen im Sinne eines komplexen Prozesses, der kreativ ist und nicht einfach Kopien herstellt. Mimesis ist meiner Vorstellung nach die Kraft, die kulturelles Lernen ermöglicht. Nach wie vor interessiert mich der Ablauf mimetischer Prozesse.« 10 Welches Buch hätten Sie gern geschrieben? »Faust.« 11 Wie sähe Ihr idealer Studierplatz aus? »Ohne Telefon, Internet und Post mit dem Blick über Wasser oder Berge.« 12 Was würden Sie gern können und was würden Sie gern noch lernen? »Gelassen sein; Weisheit.« 13 Was ertragen Sie nur mit Humor? »Mich selbst.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Also, wahrscheinlich bei den Banken, bei den Finanzen. Obwohl, das stimmt nicht: Beim Kapital und bei der Börse spielt es eine große Rolle. Ich glaube, das kann ich nicht beantworten. Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? Spiel gibt es überall, vom Liebesspiel bis hin zu den Spielen in der Ökonomie. An der Börse habe ich oft das Gefühl, dass sie davon lebt, dass gespielt wird. Das Spiel ist ein Grundgefühl, eine Grundhaltung zur Welt, die immer wieder alles durchkreuzen kann. Wenn es allerdings um Täuschungen geht, kann man schon sagen, dass man nicht getäuscht werden will. Man will nicht, dass der andere mit einem spielt, ein böses Spiel mit einem treibt, dass er einen hinters Licht führt. – Ich muss im nächsten Frühjahr einen Aufsatz über Täuschungen schreiben und werde mich dann auch mit den in sozialer Hinsicht produktiven Seiten von Täuschungen und Lügen beschäftigen. Was ist das eigentlich: eine Lüge? Die Pädagogik zielt darauf, den Kindern das Lügen auszutreiben. Das mag ja auch richtig sein. Doch die möglicherweise ungewollten Nebenwirkungen bestehen darin, dass Kinder so zu einer Wirklichkeit ohne Alternativen gedrängt werden.« 15 Ist Ihnen schon einmal die Vernunft begegnet und was ist dabei geschehen? »Die Vernunft ist mir nicht begegnet, aber viel Vernünftiges und nicht weniger Unvernünftiges. Dazu habe ich ambivalente Empfindungen: Einerseits entlastet es sehr, wenn sich Menschen vernünftig verhalten und andererseits kann es schrecklich langweilig werden. Wenn man Vernunft in einem höheren Sinne meint, dann hat sie mit Verantwortung zu tun, sei es für das eigene oder auch für das darüber hinausreichende Handeln der Menschen. Nach meiner Auffassung ist die Ausübung der Vernunft eine wichtige Fähigkeit. Das gilt, auch wenn man weiß, dass sie in inhaltlicher Hinsicht von kulturellen und historischen Bedingungen abhängt und dass sie manchmal korrumpiert ist. In der Annahme, es gäbe eine Vernunft, steckt ein Stück Utopie, das ich für notwendig halte, um die menschlichen Verhältnisse friedlich zu ordnen. Mir ist natürlich bewusst, dass die Motive historischen Handelns häufig wenig mit Vernunft zu tun haben, sondern dass sie eher interessebezogen sind und im Wunsch nach Lust und Macht wurzeln. Doch muss man dennoch auf die Vernunft setzen, so sehr ihre Möglichkeiten im Einzelfall auch zu relativieren sind. Oft ist die Vernunft hilflos und bedarf der Macht, um sich durchzusetzen. Einsicht reicht nicht; sie ist zu begrenzt. Die Vernunft ist eine regulative Größe, an der man festhalten muss. In unserer Zeit ist
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sie ein wichtiger Referenzpunkt. Daher würde ich gern freundschaftlich mit ihr umgehen, allerdings auch jeden Allmachtsanspruch zurückweisen. Man lasse mich chaotisch sein und spielen; dann will ich auch gerne vernünftig sein.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Auf die es keine erschöpfenden Antworten gibt.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Den gibt’s nicht. Es gibt nicht den Kern. Es gibt auch nicht den Kern des Menschen, des Individuums, der Sache usw. – und genauso ist das mit dem Kern des Pudels.«
Rüdiger Zill am 24. Mai 2004 I Imagination Stellen Sie sich vor, Sie erhalten Zutritt zu der Bibliothek der nie veröffentlichten Bücher, welches Buch entwenden Sie und warum? »Das sind die Memoiren von Gottlieb Theodor Pilz.« 1704: Sie sind bei Ihrem Freund Gottfried Wilhelm Leibniz zum Tee eingeladen. Leibniz liebt Gesellschaftsspiele und fordert Sie zu einem von ihm selbst ersonnenen Gedankenspiel heraus. Er fragt Sie: Was kann alles geschehen, während man einen Becher zu den Lippen führt? »Der Hund lernt auch noch das Wort ›Tee‹.« Wozu ist Stroh gut? »Um die Gedanken auszupolstern.« Womit kann man schreiben? »Finger, Bleistifte, Reiseschreibmaschinen, Notebooks: Können kann man mit fast allem. Interessanter ist die Frage, ob dabei jeweils andere Texte entstehen, wie manche meinen.«
II Assoziation Was assoziieren Sie mit diesem Geräusch? Kratzen: »Das ist auf alle Fälle etwas sehr Unterirdisches.« Zug: »Das ist ganz eindeutig eine Szene aus einem frühen Hitchcock-Film. Jemand steht inmitten einer stürmischen Landschaft, sagen wir in Cornwall, und wartet auf den Zug.« Saloon (Schuss am Ende): »Das ist eine Szene aus einer amerikanischen Zigarettenwerbung.« Bitte stecken Sie Ihre Hand einmal in diesen Kasten und ertasten Sie die darin befindlichen Gegenstände. Welche Attributionen fallen Ihnen ein? Federn: »Flaumig, weich, entschwindend.« Apfel: »Etwas aus Wachs, z. B. ein Apfel aus dem Supermarkt.« Pistole: »Etwas sehr Nützliches: ein Fleischwolf, durch den man irgendwelche Sachen dreht, schwer, sehr handfest, sehr bodenständig, solide.«
III Fragebogen 1 Was ist die Tugend der Wissenschaft? »Da bin ich jetzt verleitet, Spielerei zu sagen.« 2 Welche Eigenschaften sollte ein Wissenschaftler haben? »Gelassenheit, Phantasie, Ausdauer.«
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3 Wenn Wissenschaft ein Spiel wäre, wie würden Sie die Regeln dieses Spiels beschreiben? »Das sind Regeln, von denen gilt, dass sie an den entscheidenden Stellen nicht mehr gelten.« 4 Bilden Sie einen Satz mit Geselligkeit, Wissenschaft und Experiment. »Das Experiment in den Wissenschaften ist meistens das Ende der Geselligkeit.« 5 Was ist das größte Abenteuer für einen Wissenschaftler? »Frei nach dem Satz, ›Nach dem Spiel ist vor dem Spiel‹: Immer das nächste.« 6 Welche Entdeckung hätten Sie gerne gemacht? »In dieser Hinsicht bin ich gar nicht ehrgeizig. Bei allen nützlichen Entdeckungen und Erfindungen bin ich zufrieden, wenn sie überhaupt jemand gemacht hat.« 7 Wer ist Ihr Lieblingswissenschaftler? »Der erste, den ich kennengelernt habe: Daniel Düsentrieb. Er hat Humor, ist von nie erschlaffender Kreativität und hat im rechten Moment immer die richtige Lösung.« 8 Bitte vervollständigen Sie den folgenden Satz: »Aufklärung ist …« »Entgegen der landläufigen Meinung, die von dem heroischen Einzeldenker ausgeht, der einfach mal seine Vernunft benutzt, ein kollektives Verfahren. Es war sicher ein genialer Coup von Immanuel Kant, diesen Begriff zu besetzen. Wer wissen will, was Aufklärung ist, schlägt in seinem programmatischen Aufsatz nach, obwohl in England und Frankreich längst ein viel komplexerer Begriff von Aufklärung (und vor allem auch ein sozialphilosophischer) entwickelt worden war. Kant war zweifellos einer der einflussreichsten Philosophen, sicher auch ein Aufklärer, dennoch würde ich ihn nicht unbedingt als den paradigmatischen Aufklärer bezeichnen. Man sollte die Frage ›Was ist Aufklärung?‹ durch die Frage ›Wer ist Aufklärung?‹ ersetzen. Je nachdem, an wem man sich orientiert, kommt man zu sehr unterschiedlichen Begriffen.« Bitte vervollständigen Sie den nächsten Satz: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch …« »Wo er spielt, sagt der Klassiker. Obwohl ich sonst kein Schiller-Fan bin, ist das vielleicht noch immer die beste Formulierung, da sie am meisten Spielraum lässt.« 9 Was ist Ihre Lieblingstheorie und warum? »Meine Lieblingstheorien sind die reflektierenden und in sich reflektierten, die mit doppeltem Boden, mit mehreren Ebenen arbeiten und sich selbst in sich spiegeln.« 10 Welches Buch hätten Sie gerne geschrieben? »Es gibt sicher Bücher, die ich liebe, z. B. Laclos’ Gefährliche Liebschaften, Nathanael Wests Der Tag der Heuschrecke oder Philip Roths Gegenleben. Aber es geht mir da genau so wie bei den Entdeckungen, besonders bei den wissenschaftlichen und philosophischen Büchern. Auf schon existierende Texte bin ich wenig neidisch. Und dass nicht nur, weil man viele großartige Bücher – von Hegel bis Adorno – heute gar nicht mehr so schreiben könnte und wollte, sondern weil mich vielmehr interessiert, was man heute machen kann, was vor uns liegt.« 11 Wie sähe Ihr idealer Studierplatz aus? »Ruhig, aber nicht isoliert. Allein irgendwo auf dem Land fällt mir gar nichts ein. Große Bibliotheken mit einer vernünftigen Cafeteria kommen der Sache schon ziemlich nahe.« 12 Was würden Sie gern können und was würden Sie gern noch lernen? Trompete spielen. 13 Was ertragen sie nur mit Humor? »Manche Wissenschaftler.« 14 Wo hat ein Spiel nichts zu suchen? »Überall da, wo keine Zeit mehr bleibt.«
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bisschen komisch, aber Vernunft ist ja eine Hypostasierung von Verfahren. Man beschwört sie immer: ›kritische Rationalität‹ oder ›kommunikative Rationalität‹. Ich halte das alles für ein Missverständnis. Vernunft ist etwas, das den Prozess bildet, das bestimmte Verfahren und bestimmte Atmosphären ausmacht. Man kann das nicht in einen Einzelnen legen, allenfalls in eine vernünftige Entscheidung.« 16 Was ist die beste Frage bzw. welches sind die besten Fragen? »Die, auf die es mehr als eine Antwort gibt, die, die man immer wieder stellen kann, ohne dass einem langweilig wird, ohne dass man das Gefühl hat, dadurch, dass man sie nicht beantwortet, an einem aussichtslosen Verfahren teilzunehmen. Solche Fragen sind aber nicht zu verwechseln mit den angeblich ewigen Fragen. Das ist nur eine müde Ausrede, wenn man sich nicht auf die Details einlassen will.« 17 Was ist des Pudels Kern? »Wenn der Pudel einen Kern hätte, wäre er tot.«
AUTOREN
Marcel Beyer »Canasta ist das einzige Spiel, das ich kann. Ich habe nie gern Gesellschaftsspiele gespielt und erst zu spielen begonnen, seitdem ich in Dresden wohne. Manchmal habe ich den Eindruck, dass im Osten allgemein noch viel mehr gespielt wird und dass die Leute auch viel, viel mehr Kartenspiele kennen. Das habe ich beobachtet in einem Bummelzug, in dem die Reisenden ein Spiel nach dem anderen gespielt haben. Ich habe mich am Anfang dagegen gesträubt, weil ich dachte, Karten spielen ist blöd. Jeder hat natürlich andere Regeln. Da kann man sich, wenn man in verschiedenen Runden zusammensitzt, immer schön über Regeln streiten. Man braucht zwei Kartenspiele. Wichtig ist, erst einmal die Joker auszusortieren, diesen hier finde ich am blödsten. Man hat also fünf große Joker mit Bild und die Zweien sind auch alle Joker. Wenn wir zu viert spielen, sind wir zwei Mannschaften. Man muss die Karten gut mischen – ich kann gar nicht gut mischen – dann bekommt jeder dreizehn Karten, die restlichen Karten liegen als Stapel auf dem Tisch. Dann geht es immer reihum, man zieht eine Karte und legt eine Karte ab. Der Sinn ist, einen Canasta zu legen. Um raus zu kommen, muss einer von den beiden in der Mannschaft mindestens fünfzig Punkte auslegen können. Ein Ass gilt zwanzig Punkte, also sind drei Asse sechzig Punkte. Einer von beiden kommt raus, damit haben beide die Möglichkeit, den Stapel zu nehmen, der langsam aus den abgeworfenen Karten entsteht. Sieben Karten in der Reihe sind ein Canasta. Und man muss natürlich langsam darauf kommen, dass man nicht eine Karte auf den Stapel schmeißt, von der der andere ein Pärchen hat. Da ist viel Suggestion im Spiel. Man muss gucken, was ist schon gelaufen, was wurde abgeworfen. Im Endeffekt ist das eigentlich ein Psychotrick. Je öfter man mit bestimmten Leuten zusammen spielt, desto eher weiß man auch, wie die gestrickt sind, wie die spielen, ob die schnell spielen wollen, ob die ängstlich sind oder ob die gerne ein Risiko eingehen. So kann man Leute auch beeinflussen. Ich habe das ganz gerne, manchmal klappt das. Wenn ich nur noch Karten auf der Hand habe, mit denen ich Schluss machen kann, also unsere Mannschaft hat mindestens einen Canasta und ich kann die restlichen Karten auslegen und habe noch eine Karte zum Abwerfen, dann gebe ich in der Runde vorher gern noch mal den Stapel ab. Aus der gegnerischen Gruppe hat jetzt jemand die ganze Hand voll und kommt natürlich mit dem Sortieren und Auslegen gar nicht nach. Alle sagen dann: ›So, jetzt mach mal ein bißchen schneller‹, und er wirft erst einmal eine Karte ab, um dann in Ruhe zu sortieren – in der nächsten Runde ist aber schon Schluss! Die Punkte, die er dann auf der Hand hat, sind alles Miese.
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Wir spielen immer bis fünftausend Punkte und dann meistens dreimal bis fünftausend. Das kann bis zu acht Stunden dauern. Das ist ganz schön, wenn man im Sommer draußen anfängt, erst wird es dunkel, dann wieder hell.« Was war das Lieblingsspiel in deiner Kindheit? »Mein Lieblingsgesellschaftsspiel in der Kindheit war, glaube ich, Malefiz. Oder ich glaube, ich fand es anfangs gut, weil ich dachte, dass man dafür älter sein muss. Wahrscheinlich, weil die auf dem Spielbrett dargestellten Figuren so sehr erwachsen waren.« Hast du die Situation deines Lieblingsspiels einmal in deinem späteren Leben wiedergefunden und war sie bedeutsam? »Du meinst im richtigen Leben? Vier Leute müssen über einen Parcour und man kann den anderen den Weg blockieren? Nein, weil beim Malefiz jeder für sich kämpft. Viel schneller käme ich darauf zu sagen, Mensch, das ist jetzt wie bei Canasta! Die beiden spielen zusammen und sitzen sich gegenüber, ja eben gar nicht telepathisch, wenn es so wie schlafwandlerisch zusammenwirkt!« Was ist das komplizierteste Spiel, das du kennst? »Ich glaube Skat, weil einem das keiner beibringen möchte.« Marcel Beyer, geboren 1965, lebt heute in Dresden. Drei Romane (Das Menschenfleisch, 1991; Flughunde, 1995; Spione, 2000), mehrere Gedichtbände (u. a. Falsches Futter, 1997; Erdkunde, 2002), Essays (Nonfiction, 2003), Editionen (zuletzt: Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939 – 2003, 2004), Übertragungen (zuletzt: Michael Hofmann: Feineinstellungen, Gedichte in zwei Sprachen, 2001).
Hartmut Böhme »Ich habe drei Kinder, die mittlerweile erwachsen sind, deswegen ist meine SpieleEpoche eigentlich zu Ende. Wir haben hunderte von Spielen gespielt, und mein Lieblingsspiel war immer das, was die Kinder am liebsten gespielt haben. Doch gab es einmal eine ganz andere Spiel-Epoche, die war vor über zwanzig Jahren in einer singulären Beziehung zu einer Frau, die derart unkalkulierbar war, dass sie in der Tat einem Spiel am nächsten kam, in dem man nicht nur etwas, sondern den ganzen Rahmen riskiert. Es war eine ausgesprochen agonale Beziehung, und wir waren eigentlich 24 Stunden dabei, in irgendeiner Weise miteinander zu kämpfen – und zum Glück auch manches Spiel zu spielen. Es waren zwei Spiele, die unmittelbar zusammenhingen und die wir bis zur Besinnungslosigkeit gespielt haben. Das eine war Scrabble, das kennt jeder und ich muss es nicht erläutern. Das andere war das Anagramm. Anagramm ist ein Gedichtspiel: Man hat einen Ausgangssatz und muss aus dessen Buchstabenmaterial ein Gedicht machen, und zwar so, dass jede Gedichtzeile sämtliche Buchstaben des Ausgangssatzes aufbraucht. Wir waren damals leiden-
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schaftliche Anhänger von Unica Zürn, einer Anagrammatikerin, die hunderte von Anagrammen geschrieben hat. Anagramme zu bilden ist ein obsessionelles Spiel, von dem man süchtig wird, noch viel süchtiger als von Scrabble, wenn man es so agonal spielt, wie wir das taten. Man kommt in eine ganz eigentümliche Spielerfahrung hinein, nämlich in die äußerste Engigkeit – man hat ja nur diese 25 oder 17 oder 34 Buchstaben, um sie wieder in eine Gedichtzeile zu verwandeln. Das ist eine Art Gefängnis. Aber das Begehren ist, in und mit diesem Gefängnis der Buchstaben eine Freiheit zu erzeugen, die plötzlich zu einer lyrischen Form geworden ist. Das ist eine Leidenschaft von Spiel gewesen, die sicherlich auch etwas über uns damals aussagt. Ich möchte ein Anagramm von Unica Zürn vorlesen, das ein Zitat aus der Bibel zum Ausgangspunkt hat: ›Tönendes Erz und klingende Schelle‹. Das ist das Ausgangsmaterial, die Buchstaben dieser Zeile. Daraus macht Unica Zürn: Gellend entzuenden des Kirchenoels Donner zischende Lendenlust. Kegele In Geldern des Nutzens. Lohe lecke den Nonnensterz. Du, Heldenesel, leg’ dicke Seelen in Zucker. Tod, send’ Geld, Lehnen Des edelen Klerus, echte Zinn-Gondeln, Heiden-Geldsteckel zur elenden Sonn’ (Berlin 1954). Jede Zeile enthält also genau die Buchstaben aus ›Tönendes Erz und klingende Schelle‹. Und aus dieser Enge heraus gelingt Unica Zürn ein Gedicht, das den gesamten Katholizismus erledigt. Es ist ein sehr anspruchsvolles, literarisch aufregendes Spiel für uns gewesen, aber auch sehr schwierig. Es hing mit unserer Scrabble-Sucht insofern zusammen, als man sich daraus ein Hilfsmittel machen kann, ähnlich so wie auch Unica Zürn sich Hilfsmittel bastelte: Sie hat sich nämlich Buchstaben ausgeschnitten, bei Scrabble bekommt man sie schon mitgeliefert. Und dann beginnt die Kombinationslust und Bastel-Leidenschaft. Es war also auch eine Form von Lyrik als ›Bastelei im Posthistoire‹, wenn man so will. Bei Unica Zürn ist es allerdings Kunst. Diese Überlassenheit, dieses Moment von Verregelung und Not – denn man hat seine liebe Not, mit diesen Buchstaben zurechtzukommen und irgendwie etwas Sinnvolles herzustellen – wird zu der überraschenden Erfahrung, was in diesen Buchstaben für ein überraschender und niemals gedachter Sinn schlummern kann. Irgendwo habe ich auch noch unsere Gedichte. Anagramme könnte man gegenüber dem Wahrheitsspiel, Gegenstandsspiel, Erzählspiel, Fragenspiel, Sehspiel und dem Hörspiel das Buchstabenspiel nennen.« Was war das Lieblingsspiel in deiner Kindheit? Kannst du einmal die Regeln erläutern? »Wir waren arm, Flüchtlinge, und lebten in einem Dorf. Wir hatten nicht viel. Zwei Spiele spielten wir wie besessen. Das eine war Murmeln. Dabei kullerte man kleine TonMurmeln über ein plan gemachtes Stück Erde in ein Loch. Und wer die meisten Treffer hatte, gewann alle Kugeln. Und dann spielten wir Karten mit den Deckblättern
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von Zigarettenschachteln. Fielen zwei die gleichen aufeinander, gewann man den Haufen. Ziel war, möglichst viel Deckblätter zu gewinnen – ich hatte weit über tausend –, aber noch besser war, ganz seltene Zigaretten-Marken einzuheimsen, englische und orientalische. Hier hing Spielen und Sammeln eng zusammen.« Was ist das komplizierteste Spiel, das du heute kennst? Kannst du die Regeln dazu einmal erläutern?»Mein Bruder hatte Anfang der 50er Jahre aus Pappe ein eigenes Monopoly hergestellt, das hieß das ›Straßenspiel‹. Das Feld war aus Straßen von Goslar gebildet, wo wir unterdessen wohnten. Dazu hatte er eine Menge neuer Regeln erfunden, die das Spiel wahnsinnig in die Länge ziehen konnte, es war eben nicht wie bei Monopoly, wo man von einem gewissen Stand an genau weiß, wer gewinnen wird und das geht meist dann recht schnell. Eine einzige Partie ›Straßenspiel‹ konnte tagelang dauern und war ein unglaubliches Ringen, wie mir vorkam. Später in den 70ern kam dann das Gegen-Monopoly auf, nämlich ›Provopoli‹, eine linke Revolutionsvariante des Monopoly. Das haben wir ziemlich anarchistisch gespielt, allerdings schon ironisch und als eine Art Groteske. Kompliziert, weil niemand sich an Regeln hielt, nur der Rahmen wurde eingehalten, alles andere war improvisiert und willkürlich, chaotisch.« Hast du die Situation deines Lieblingsspiels einmal in deinem späteren Leben wiedergefunden und war sie bedeutsam? »Nein.« Hartmut Böhme war bis 1993 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg; seither Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; Sprecher des SFB 644 Transformationen der Antike; Projektleiter im SFB 447 Kulturen des Performativen; Mitglied im Graduiertenkolleg Codierungen der Gewalt im medialen Wandel.
Hannes Böhringer »Wenn ich Auto fahre, schaue ich gerne in andere Autos hinein, denke mich in die Personen in dieser Kiste hinein und erfinde mir Geschichten dazu.« Was ist das komplizierteste Spiel, das Sie kennen? »Scrabble. Das habe ich nie gewinnen können.« Hatten Sie ein Lieblingsspiel in ihrer Kindheit und ist Ihnen möglicherweise die Situation ihres Lieblingsspiels irgendwann später noch mal begegnet? »Ich habe gerne mit Bauklötzen gespielt. Und ich habe den Eindruck, dass ich auch jetzt noch mit Bauklötzen spiele.« Hannes Böhringer ist 1948 im Rheinland geboren, lehrt Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und lebt in Berlin.
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Bernhard J. Dotzler »Mein Lieblingsspiel heißt Nim; es ist in dem Film Letztes Jahr in Marienbad zu sehen, über den ich geschrieben habe. Die Regeln sind die gleichen wie im Film. Es gibt diese vier Spielreihen. Und man muss zunächst entscheiden, wer beginnen will. Als nächstes muss man immer die Reihe angeben und die Anzahl der Spielmarken, die weggenommen werden sollen. Wer die letzte nehmen muss, hat verloren. Mich hat es faktisch nicht losgelassen, bis ich wusste, wie es funktioniert. Danach ist es natürlich relativ langweilig, weil trivial geworden. Eines der interessanten Momente an dem Spiel bleibt, dass die mathematische Theorie so kompliziert ist bzw. es ist eine ganz einfache Theorie, aber man muss im Kopf so viel mitrechnen, weil sie darauf beruht, dass man die Zahlen in Binärzahlen umrechnen muss und dann bestimmte Summenbildungen vornehmen muss usw. Das ist im Kopf so anstrengend. Wenn ich es – ich kann es auch mit richtigen Streichhölzern spielen – selber spiele, spiele ich gar nicht nach dem Algorithmus, sondern nach bestimmten Mustererkennungsstrategien, und hoffe halt, dass der andere rechtzeitig einen Fehler macht, so dass ich irgendwie mit meiner ›menschlicheren‹ Gewinnstrategie dazwischen kommen kann. Es ist nie langweilig, das mal vorzuführen, ernsthaft spielen kann ich das natürlich nicht mehr.« Was war das Lieblingsspiel in deiner Kindheit? Kannst du einmal die Regeln erläutern? »Malefiz, weil das der Meier Klaus hatte und ich nicht. An die Regeln kann ich mich aus demselben Grund nicht mehr genau erinnern.« Was ist das komplizierteste Spiel, das du heute kennst? Kannst du die Regeln dazu einmal erläutern? »Heiner Müllers Quartett – und die Regeln sind so vielfältig einfältig wie die gesamte Liebschaften-Literatur.« Hast du die Situation deines Lieblingsspiels einmal in deinem späteren Leben wiedergefunden und war sie bedeutsam? »Nein, Nim zu beherrschen, ist reine Prophylaxe: Falls einmal jemand kommt und um die Geliebte spielen will. Da sollte man ja nicht kneifen müssen. Ansonsten – um meinen Text zu zitieren – ist das Spiel existentiell sinnlos.« Bernhard J. Dotzler, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Universität
Regensburg. Publikationen u. a.: Papiermaschinen. Versuch über COMMUNICATION & CONTROL in Literatur und Technik (1996); 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien (Mithg., 2002); L’Inconnue de l’Art. Über Medien-Kunst (2003).
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Isabelle Graw »Mein Lieblingsspiel ist Scharade, wobei ich nicht weiß, ob die Art und Weise, wie ich mit meinen Freunden spiele, wirklich die orthodoxe ist. Bei Scharade geht es darum, einen Begriff darzustellen, also performativ vorzuführen. Was ich daran mag ist die gruppendynamische Dimension dieses Spiels, auch wenn man sich gut zu kennen glaubt. Wenn die Einzelnen dazu aufgerufen sind, sich in eine Schauspielerpose hineinzubegeben, lernt man sie auf eine ganz andere Weise kennen. Man lernt auch ihr Denken auf eine ganz neue Weise kennen zum Beispiel allein dadurch, welche Begriffe sie wählen, und dadurch, dass es einige gibt, die gut im Spielen sind und andere, die gut im Raten sind, und dass einige einen bestimmten Begriffstypus eher erraten als andere. Man lernt sich auf eine Weise kennen wie sonst nie. Außerdem mag ich den Bild-Text-Zusammenhang natürlich gerne, der in diesem Spiel gleichsam ausagiert wird. Man stellt ein Bild dar zu einem Text, man macht sich zum Bild eines Textes. Das ist natürlich klar, warum ich das gut finde, weil ich mich auf textueller Ebene mit Bildern befasse und in Bildern Textdimensionen aufspüre und auch meinen Texten versuche, Bilddimensionen zu verleihen. Scharade ist ein Spiel, das richtig süchtig macht. Wenn man erstmal reinkommt und ein bisschen diese Scham ablegt, die natürlich immer im Spiel ist, wenn man sich plötzlich auf der Bühne wiederfindet, wenn auch in einem Wohnzimmer, wenn auch an Silvester, wenn auch vielleicht mit einigem Alkohol im Spiel, dennoch: Man sieht sich plötzlich mit einer Bühnensituation konfrontiert, die natürlich für die, die einen Hintergrund als Schauspieler haben oder überhaupt eher exhibitionistisch agieren, leichter auszuhalten ist als für andere. Da sind natürlich die, die sich gern inszenieren, immer im Vorteil. Wir haben das so weit getrieben, zum Beispiel Sachen darzustellen wie eine Szene aus Le Mepris von Godard mit Brigitte Bardot. Man kann dann auch so identifikatorischen Irrsinn aufführen und sich zu den Celebrities machen, die einen schon immer interessiert haben. Das ist auch der große Spaß daran. Es hat natürlich auch etwas Abgründiges, sich in solcher Weise auszusetzen und nicht nur Einblick zu verschaffen in die Wörter, die einem so in den Sinn kommen – das ist ja auch schon ausschlaggebend –, sondern diese auch noch aufzuführen und sich in einer Weise in einer Gruppe zu verhalten, wie man das sonst nie tun würde. Es ist eine Grenzerfahrung!« Isabelle Graw ist Herausgeberin der Kunstzeitschrift Texte zur Kunst und lehrt Kunsttheorie und Kunstgeschichte an der Kunsthochschule Städelschule in Frankfurt am Main. Publikationen u. a.: Silberblick. Texte zu Kunst und Politik (1999); Die bessere Hälfte. Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert (2003). Derzeit arbeitet sie an einer Studie zum Verhältnis von Kunst, Kunstmarkt und Mode.
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K. Ludwig Pfeiffer »Mein Lieblingsspiel war über Jahre hinweg Schach. Aber meine wissenschaftliche Arbeit wurde über die Zeit so anstrengend, dass mir Schach auch zu anstrengend geworden ist. Ich bin jetzt auf eine etwas reduzierte, aber vielleicht auch stärker spielerisch orientierte Form umgestiegen, die sich Shanghai nennt. Es ist zum Teil, aber nur zum Teil, ein Glücksspiel. Es kommt darauf an, wie eine Reihe von Fliesen liegt, die man mit Fantasy-Motiven, mit Tiermotiven, mit Zahlen und in verschiedenen strukturellen Anordnungen haben kann. Eine der schwierigsten Anordnungen ist die Ochsenkonfiguration: 144 Fliesen, und jede Fliese gibt es viermal. Man muss nun durch einmaliges Anklicken einer Fliese und zweimaliges Anklicken einer dazu passenden, also der gleichen Fliese, immer zwei wegnehmen, aber mit der Strategie, dass man insgesamt alle vier wegbekommt – und so insgesamt alle 144 Fliesen entfernt. Eine Kombination von strategischem Denken und visueller Wahrnehmungsfähigkeit kommt dadurch hinein, dass man herausfinden muss, welche Fliesen wie viele andere Fliesen verdecken und deswegen möglichst frühzeitig entfernt werden müssen. Es ist also klar, dass einige Fliesen möglichst bald abgenommen werden müssen, weil man an die nächsten sonst überhaupt nicht rankommt. Das Dumme ist nur, man sieht nicht immer alle vier Fliesen, die zu einer Art gehören. Das heißt, man muss überlegen, wo könnten die fehlenden sein, und von da aus dann die Strategie weiterführen und überlegen, was kann man gefahrlos entfernen, ohne dass man Gefahr läuft, sich dadurch etwas zu blockieren. Ich brauche für ein Spiel ungefähr zehn Minuten. Wenn man es gelöst hat, bekommt man als Belohnung einen Chinese Cookie, einen Fortune Cookie, mit sehr schönen Sprüchen, die man auch für Spieltheorie gut gebrauchen kann.« Was war das Lieblingsspiel in deiner Kindheit? Kannst du einmal die Regeln erläutern? »Das war Mühle, ein Spiel mit drei ineinander geschachtelten Quadraten, dessen aus drei Punkten bestehende Geraden jeweils mit drei Steinen (z. B. weiß) besetzt werden mussten. Der Gegenspieler (z. B. schwarz) versucht, das zu verhindern, indem er/sie Steine dazwischen setzt. Wer die meisten Mühlen hat bzw. den anderen so einsperren kann, dass er nach dem Setzen (ich weiß nicht mehr, wieviele Steine man setzen konnte, vielleicht jeder sechs oder neun) nicht mehr ziehen kann, gewinnt.« Was ist das komplizierteste Spiel, das du heute kennst? Kannst du die Regeln dazu einmal erläutern? »Das ist Schach, die Regeln sind bekannt. Stattdessen: Meine Lieblingseröffnung, wenn ich Weiß habe, ist die englische (wahrscheinlich, weil ich auch Anglist bin), wenn ich Schwarz habe die sizilianische (scharfes Konterspiel, das mir schon beim Tischtennis lag).« Hast du die Situation deines Lieblingsspiels einmal in deinem späteren Leben wiedergefunden und war sie bedeutsam? »Ja, in dem Sinne, dass visuelle Wahrnehmungen nicht nur mit Gefühlen, sondern auch mit strategischen Überlegungen verbunden werden mussten. Das war in der Tat bedeutsam.«
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K. Ludwig Pfeiffer, Professor für Anglistik und Allgemeine (Medien- und) Literaturwissenschaft, Universität Siegen, zahlreiche Gastprofessuren in den USA, Japan und Brasilien. Neuere Veröffentlichungen: Das Mediale und das Imaginäre (1999), The Protoliterary. Steps towards an Anthropology of Culture« (2002); Mithg., Theorie als kulturelles Ereignis (2001).
Andreas Platthaus »Sie werden nicht mehr überrascht sein: Mein eigentliches Lieblingsspiel ist das einzige Spiel, bei dem ich wirklich mal Erfolg hatte. Es ist ein Spiel, das man nicht spielen kann, wenn man die Bedingungen nicht kennt, unter denen es gespielt wird. Es ist ein Spiel aus Entenhausen, das dort eben in dem Sinne, wie ich Spiele begreife, verstanden wird, oder wie ich Spiele begreifen muss, um als unglücklicher Spieler damit zurecht zu kommen, als eine Form von Lebensentscheidung. Vielleicht kennen Sie die Geschichte. Sie ist außerordentlich berühmt, natürlich von Karl Barks, 1952 in Amerika, 1954 in Deutschland erschienen. Durch nichts wird die Freiheit des menschlichen Willens sinnfälliger dokumentiert als durch die Methode des Knoblismus. Nun werden Sie wissen wollen, was Knoblismus ist. Donald Duck wusste es zunächst auch nicht. Sein erster Kontakt mit dem Knoblismus war ein Zelt auf einem Jahrmarkt. Sie sehen, wie seltsam in Entenhausen Wahrheiten auftreten: Wahrheit wird in einer Jahrmarktbude angeboten: ›Werden Sie Knoblist! Lernen Sie ihr Leben meistern!‹ Das hat so etwas Scientologisches, und sie werden sehen, dass es ähnliche Folgen zeitigt: ›Wozu sich Sorgen machen, Knoblismus löst alle Probleme!‹ Die Frage, die sich normale Menschen stellen, ist: Was ist denn überhaupt Knoblismus? Darum tritt Donald Duck in dieses Zelt ein. Dort steht ein gut gekleideter Herr vor einer mehr oder weniger schläfrigen Gruppe Menschen und erläutert eben, dass das Leben jegliche Schrecken verliert, wenn man sich die Philosophie des Knoblismus zu eigen macht. Wobei die Grundfrage – Was ist denn überhaupt Knoblismus? – noch gar nicht beantwortet ist. An jedem Kreuzweg des Lebens fällt einem Knoblisten die Entscheidung leicht. Die Frage, was der Knoblismus ist, wird dadurch beantwortet, dass man vor allem erklärt bekommt, was der Knoblismus kostet: nämlich einen Taler für die lebenslängliche Mitgliedschaft der weltweiten Organisation der Knoblisten. Auch wenn Donald Duck behauptet, er wisse noch überhaupt nicht, ob er Knoblist werden wolle, ist dieser Mann schon so gut wie überzeugt. Ich überspringe jetzt das eigentlich überzeugende Argument, komme auf die simple Lösung, die Sie sich wahrscheinlich eh schon gedacht haben: Für einen Taler erwirbt Donald Duck die lebenslängliche Mitgliedschaft im Club der Knoblisten und das entsprechende Buch von Professor Poth. Hier haben Sie die Lösung: Knoblismus ist nichts anderes als Münzwurf. Zahl bedeutet links, Wappen rechts. Wie sagt Poth – Sie sehen bereits: Poth ist der Urheber dieser Lehre – ›Stelle dein Schicksal den Kräften des Zufalls anheim‹. Hier haben wir wieder das prinzipielle Moment des Spiels. Das
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Interessante ist, dass es hier etwas kostet. Der Zufall soll plötzlich das System darstellen, mit dem den Zufällen des Lebens begegnet werden soll. Duck durchschaut das verständlich nicht, und darum folgt er einfach. Das Schicksal hat gesprochen: Wir fahren links, und die Folgen sind, dass Sie plötzlich so viele Möglichkeiten haben, dass Sie es mit einer logischerweise einfachen Null-Eins-Entscheidung, digital geschaltet, nicht mehr weiter klären können. Die Geschichte endet so, dass Donald Duck auf Lynchjustiz aus ist und Professor Poth jagt und witzigerweise sagt, wenn es ausgleichende Gerechtigkeit in dieser Welt gibt, dann wird mich der Knoblismus zu diesem Scharlatan führen. Er wirft tatsächlich die Münze so lange, bis ihn die wechselnden Entscheidungen in eine Sackgasse führen. Dann zeigt ihm die Münze die richtige Hausnummer der letzten beiden Häuser an, er geht hinein, steht vor zwei Türen, wirft die Münze ein letztes Mal und kann, weil es so dunkel im Hausflur ist, leider nicht lesen, was auf der Münze drauf ist. Er sagt sich, wenn Poth nicht hinter der ersten Tür ist, gehe ich eben zur zweiten. Er klopft an die erste Tür, hinter der sich unglücklicherweise seine Freundin Daisy befindet, die nun behauptet, er habe ihr hinterher spioniert, da er nie darauf hätte kommen können, wo sie sei. Sie verprügelt ihn und schleppt ihn weg. Auf dem nächsten Bild sieht man dann, wie hinter der anderen Tür Professor Poth steht, bibbernd vor diesem Verfolger, und natürlich muss man als Leser schließen, dass Donald Duck, hätte er den Knoblismus richtig befolgt, auch bei Professor Poth gelandet wäre. Das ist ein Beispiel, warum ich die Geschichten von Carl Barks so wahnsinnig schätze. Einerseits erläutern sie ganz banale Dinge und andererseits erfährt man viel über die Verführbarkeit von Menschen. Denn das, was Duck gefordert hat, höhere Gerechtigkeit gerade durch das, womit man ihn betrogen hat, wird vom Knoblismus tatsächlich eingelöst. Hätte er die Methode strikt befolgt, wäre er zu Professor Poth gekommen, und der Himmel weiß, was Poth widerfahren wäre. Das Schöne ist, dass selbst diese Berechnung noch einmal von Barks gebrochen wird. Keiner, der in dieser Geschichte vorkommt, hat die Wahrheit für sich. Alle haben einen Teil der Wahrheit: Poth hat natürlich irgendwo Recht mit seinem Zufallsprinzip, Duck hat Recht mit seinem Gerechtigkeitsstreben, ja sogar der Knoblismus hat Recht, denn er führt ihn ja tatsächlich genau dahin, wohin es erwartet wird. Und trotzdem geht es für alle Beteiligten relativ übel aus. Professor Poth flieht aus der Stadt, Donald Duck wird von seiner Freundin fertig gemacht und der Knoblismus ist seitdem nicht nur bei Journalisten, sondern in ganz Entenhausen verschrien als vollkommen unlogische Wissenschaft, obwohl er funktioniert hat. Er taugt eben leider nicht für Situationen, in denen es mehr als eine Alternative gibt. Darum mag ich eigentlich den Knoblismus sehr gerne. Das Problem ist nur, dass er im klassischen Sinne eigentlich kein Spiel ist, sondern etwas Elementares. Damit werden Lebensentscheidungen getroffen. Aber der schlichte Münzwurf scheint mir in dieser Deutung das allerinteressanteste Spiel zu sein, was es auf der Welt gibt.«
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Was ist das komplizierteste Spiel, das Sie kennen? »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit dem Ergebnis zurecht kommen soll.« Hatten Sie ein Lieblingsspiel in ihrer Kindheit und haben sie später einmal diese Situation ihres Lieblingsspiels wiedererkannt? »Ich habe sehr wenig Lieblingsspiele als Kind gehabt im klassischen Sinne von Spiel. Es gab natürlich unglaublich viele Rollenspiele, in die man sich begeben hat. Sobald man unter Freunde kam, nahm man irgendeine Rolle an und tobte mit ihnen durch den Garten. Aber das würde ich hier nicht im klassischen Sinne als Spiel betrachten. Das einzige Spiel, das ich wirklich häufig gespielt habe und an das ich mich erinnern kann, ist etwas später, von der fünften Klassen an, Skat gewesen. In diese Situation komme ich tatsächlich immer wieder mal und merke, dass mir nicht sehr viel entgangen ist.« Andreas Platthaus, geboren 1966 in Aachen, studierte Betriebswirtschaftlehre, Rheto-
rik, Philosophie und Geschichte. Seit 1983 ist er Mitglied der Deutschen Organisation nichtkommerzieller Anhänger des lauteren Donaldismus (D.O.N.A.L.D.), seit 1997 auch Redakteur im Feuilleton der F.A.Z.
Hans Ulrich Reck »Die Lieblingsspiele sind – auf leisen Sohlen, irgendwann, aber nicht ohne anhaltendes Bedauern – aus dem Leben verschwunden. Das wirkt oft nach auf seltsame Weise. Es scheint aber bei genauerem Nachdenken gar nicht an den Spielen selbst zu liegen, sondern kommt eher darauf an, mit welchen Freunden man welche Spiele spielt. Mit meiner Frau und einem guten Freund wäre das französische ›Belote‹ ein valables Lieblingsspiel, insofern dort eine Aufgehobenheit im Fühlen des Lebens stattfindet – eine Pause, die sich ›ewig dehnt‹, Unterbrechung, Nebensächlichkeit, der wahre Ernst des Unwichtigen: Darum geht es eigentlich. Für mich erscheinen heute viele Spiele wie weggeschwommen, z. B. das Schachspiel, das ich heute auch mitgebracht habe. Damit habe ich mich lange beschäftigt, aber eigentlich ist das eine ganz seltsame Art von Spiel. Es bereitet eigentlich nur dann noch Freude, wenn man sich ganz intensiv darauf einlässt und nicht nur Spielregeln, sondern zahlreiche Variationen der Spielmöglichkeiten vollkommen internalisiert hat, so dass sich bei Gegebenheit Räume schlagartig, wie von alleine und äußerst präzise, öffnen. Ich habe bei mir früh gemerkt, dass Schach keine Obsession werden kann, weil ich mich den dann notwendigen Mühen auswendig eingeübter Endspielstrategien nicht unterwerfen will. Die muss man nämlich studieren und lernen, Zug um Zug, in großer Pedanterie. Insofern scheint mir meine Reminiszenz, da selektiv, ohnehin nur eine Nostalgie zu sein: Schach war ein so empfundenes Lieblingsspiel über lange Jahre hinweg bis zu einem Punkt, an dem ich aus verschiedensten Gründen keine Partner mehr fand. Ich merkte zwar, es brauchte eine zweite Person, und wünschte mir diese, die aber doch nur der Schatten meiner willkürlichen Konstruk-
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tion blieb, das Unbegriffene meiner selbst, etwas pathetisch ausgedrückt, oder, dies gar noch zutreffender, das Licht, von dem ich Schatten wäre. Da geht es dann nicht um Schach als Spiel, sondern um denkerisch angespannt fühlbaren Einklang zweier Personen, die sich auf einen ähnlichen Rhythmus und einen zeitlichen Bogen von mindestens sechs Stunden konzentrierten Spielens und Schweigens einlassen können. Man merkt auch hier wieder: Die Qualitäten dessen, was man dem Spiel zuschreibt, haben mit vielem anderen, aber kaum je etwas mit dem eigentlichen Spiel, seinem Kern, zu tun. Das ist wohl verallgemeinerbar über mein Beispiel hinaus. Also: Dieses Lieblingsspiel ist seit langem verschwunden, mit Hegel: Eine Gestalt des Lebens ist alt geworden, der zwingende Wechsel drängt in eine andere Richtung. Ein zweites Lieblingsspiel schien mir immer nur ein Vorwand zu sein für andere Dinge: nämlich Tennis zu spielen, was ich vor weit über fünfzehn Jahren restlos und ohne Reue aufgegeben habe. Das war nicht wirklich ein Hobby. Es war vielmehr eine Möglichkeit, mich bestimmten Sozialkontrollen zu entziehen. Insofern war der Zweck, der übrigens damals spielerisch leicht und gut zu erreichen war, kein spielerischer, aber ich habe heute noch herausragend spielerische, nämlich sich auf Dynamiken imaginativ verstehende Empfindungen dabei (eher ›darin‹ als ›daran‹), die ich auch genauer und im einzelnen beschreiben könnte. Heute findet man Vergleichbares nicht mehr in diesem Sport, er lässt das nicht mehr zu. Tennis ist ein vollkommen militarisierter und deshalb schlecht ritualisierter, degenerierter Sport geworden, der mit Spielen im allgemeinen Sinne nichts mehr zu tun hat. So etwas wollte ich dann an und mit mir überhaupt nicht betreiben (lassen). Da ist das Spiel durch die Beschäftigung mit den geschaffenen Möglichkeiten in der Konsequenz selber aufgehoben worden. Deshalb glaube ich nicht, daß Tennis ein Spiel ist, sondern ein Sport. Diese Freude am Sportiven, die geht mir vollkommen ab, nicht erst jetzt, sondern auch früher, immer schon, eigentlich seit je. So reduziert sich das in Frage Stehende auf ganz einfache Spiele, gesellige Vergnügungen, die auf großer Gewöhnung beruhen wie das französische ›Belote‹. Schade, dass der heutige Vortrag nicht vor zehn Jahren stattfand, als wir, nach langer Zeit, zum zweiten Mal und wohl ›für immer‹, nach Deutschland kamen. Dann hätte man sagen können: So, wir suchen jetzt hier Partner, die uns die anspruchsvollen Spiele, Kartenspiele besonders, die es in Deutschland gibt und die mir außerordentlich interessant erscheinen, zeigen können. Ich wollte dies lernen – es wäre schön gewesen. Skat z. B. kann ich überhaupt nicht, weiß nicht einmal genau, worum es geht. Wenn man in einem Land lebt, in dem solche Spiele gespielt werden, wäre es schön, man hätte auf eine leichte Weise da hineinwachsen können. Das wäre eine Idee des Spiels, die ich mit Kontext und Lebensweise hätte verbinden können. Aber in unserem Umfeld war niemand, der sich dafür anbot, und so liegt das bis heute brach, wie eine bestimmte soziale Praxis zum großen Teil brach liegt. Deshalb: Ich kann eigentlich unter solchen Umständen nicht mehr sagen, welches oder was mein Lieblingsspiel ist. Ich pralle immer wieder auf die dominante Figur eines Abwesenden oder sich Entziehenden. Es ist in der Folge diese Form des gemeinsamen Ausreizens von Möglichkeiten, der Ver-
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hinderung von Zufällen geworden. Aber das stimmt auch wieder nicht ganz, denn es hängt hierbei, wie gesagt, sehr stark ab von den Menschen, mit denen man spielt. Die anspruchsvollen Rätsel und Kreuzworträtsel im Stile von ›Um die Ecke gedacht‹ habe ich nie gemocht. Ich weiß nicht, wie beschaffen man sein muss, um solchem wirklich auf die Spur zu kommen. Also, Kreuzworträtsel sind es nicht, Sport ist es nicht, Schach ist es nicht. Das Lieblingsspiel, es gibt es eigentlich nicht mehr.« Was war das Lieblingsspiel in Ihrer Kindheit? Können Sie einmal die Regeln erläutern? »Murmelspiel und vor allem Tagträumen. Demnach: Ja und Nein.« Was ist das komplizierteste Spiel, das Sie heute kennen? Können Sie die Regeln dazu erläutern? »Die bekannten Spiele scheinen mir da gut definiert, weder komplex noch wirklich kompliziert. Beides ist beispielsweise ›I Ging‹, aber dafür auch nicht wirklich ein Spiel im hier erörterten Sinne oder dem der Regelspiele. Auch ist und bleibt das Verfahren einfach; nur, sich auf den tiefsten Ernst einer wahren Frage zu konzentrieren, welche die Kraft hat, das Leben umzuwerfen und die man sich um des Lebens willen bisher nicht hat stellen wollen – natürlich kann man das ›I Ging‹ auch harmlos brauchen, als generativ formales Spiel; so hat es John Cage benutzt –, und auf die man eine veritable Antwort haben will, ist extrem anspruchsvoll und unüberschaubar, wie alle Magie des Typs: in der richtigen Verfassung sein, um mit dem richtigen Wunsch zur rechten Zeit die richtige Münze in den wundertätigen Brunnen zu werfen. Und das Leben ändert sich, ein Leben zeigt sich, entzieht sich ... immer schon versperrt im Spiel.« Haben Sie die Situation Ihres Lieblingsspiels einmal in Ihrem späteren Leben wiedergefunden und war sie bedeutsam? »Es dreht sich hier meiner Auffassung nach nahezu alles um Initiation, um einen rite de passage. Nichts kehrt mehr wieder, weil sich die Intensität in diesem Übergang erfüllt. Oder es kommt willkürlich, unabsichtlich, stellt sich ein wie der genießende Einklang seiner selbst mit einem strahlend hellen Herbstmorgen, wessen Glück sich wie eine momentane Laune geltend macht. Diese Poesie ist jederzeit möglich, aber Spiel immer weniger eine ihrer Verkörperungen. So wie die Orte unwichtig und gegenstandslos werden. Es hängt nichts mehr an den Orten, sie verschwinden, sind verschwunden, es bleibt die Zeit in anderer Intensität und Form.« Hans Ulrich Reck, Prof. Dr., ist Philosoph, Kunstwissenschaftler, Publizist und Ausstellungsmacher. Seit 1995 arbeitet er als Professor für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien in Köln.
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Helmar Schramm »Ich habe zum Lieblingsspiel eine Lieblingspassage, ein Zitat, das mir in letzter Zeit untergekommen ist und ein Problem beschreibt: ›Es gibt wohl kaum einen jungen Menschen mit etwas Phantasie, der sich nicht einmal vom Zauber des Theaters gefesselt gefühlt und sogar gewünscht hätte, selbst mit hineingerissen zu sein in jene künstliche Wirklichkeit, um als Doppelgänger sich selbst zu sehen und zu hören, sich selbst in seiner größtmöglichen Unterschiedenheit von sich selbst abzuspalten und doch so, dass eine jede Unterschiedenheit wiederzuerkennen als ein Selbst ist. Natürlich äußert sich eine solche Lust in einem sehr jungen Alter. Nur die Phantasie ist aufgewacht zu jenem Traum von der Persönlichkeit, alles andere schläft noch fest. Die Hauptsache ist, dass jedes Ding zur rechten Zeit geschieht.‹ Das scheint mir eine ganz interessante und wichtige Sache zu sein bezogen auf das Lieblingsspiel. Selbstverständlich kann man auch sagen, das und das ist mein Lieblingsspiel. Ich kann z. B. sagen, Schach ist mein Lieblingsspiel, wenn ich gerade mit meinem Freund zusammensitze und ein Wunder es fertiggebracht hat, dass wir beide genau gleich schlecht Schach spielen, denn nur dann bereitet dieses Spiel Genuss und produziert wunderbare, kunstvolle, überraschende Momente. Ich glaube auch, zwei Dilettanten, zwei absolute Dilettanten, sind in der Lage, wenn sie denn gleich dumm sind, fantastische Situationen auf dem Brett herzustellen. Aber das eigentliche Problem scheint mir zu sein, dass wir in der Kindheit in viel stärkerem Maße Lieblingsspiele, Lieblingsfarben und so etwas haben, die dann teilweise übertragen werden in andere Bereiche. John Locke hat ein Konzept entwickelt zur Vertreibung des Spiels aus dem Kinde. Er sagt, man solle den Zögling beobachten, ohne dass er es merkt, und versuchen, ihn bei seinem Lieblingsspiel zu erwischen. Dieses Lieblingsspiel, sei es der Ball oder die Karten, soll man mit einem Spielzwang belegen. Und dann schreibt Locke triumphierend: ›Dann werdet ihr mal sehen, wie lang der noch dieses Lieblingsspiel hat!‹ Dagegen soll man Lateinlernen mit einem Verbot belegen und dann wird alles gut. Etwas Ähnliches passiert mit uns auch: Teile unserer Spielenergien haben wir in uns hineingerettet und verborgen, die können gar nicht mehr als Lieblingsspiel daherkommen, weil sie diese Verborgenheit brauchen, die Tarnung. Die spielerische Energie braucht irgendwie die Verpackung, das Getarnte.« Helmar Schramm ist seit 1998 Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Univer-
sität Berlin. Arbeitsschwerpunkt: Theatrale Kultur im Spannungsfeld von Medienund Wissenschaftsgeschichte. Publikationen u. a.: Karneval des Denkens. Studien zur Theatralität in philosophischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts (1996); Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst (2003), Mithg.; Collection – Laboratory – Theatre. Scenes of Knowledge in 17th Century (2005).
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Christoph Wulf »Ich mag am liebsten freie Spiele. Wenn ich früher zur Schule ging, träumte ich gern. Dabei habe ich viele Figuren ersonnen. Auf meinem Schulweg gab es einen Jungen, der häufig mit mir ging. Er war etwa sieben Jahre alt, und ich habe ihm meine Geschichten erzählt, die er mir glaubte und von denen er immer wieder Fortsetzungen hören wollte. So erzählte ich ihm von meinem Onkel, der König von Amerika sei. Ich erfand Geschichten über das, was sich meiner Vorstellung nach in Amerika ereignete: Ich beschrieb bis ins Detail die Kleidung und den Tagesablauf meines Onkels, des Königs von Amerika. Im Lauf der Monate erfand ich viele Geschichten, die ich manchmal nur mit Mühe in Bezug zu meinem Onkel bringen konnte. Es war lustvoll, derartige Welten zu ersinnen. Meine Erzählungen waren sicherlich auch Ausdruck der Ergänzungsbedürftigkeit meiner Kinderwelt und vielleicht auch von Gefühlen der Einsamkeit. Zwar habe ich überwiegend schöne Erinnerungen an meine Kindheit, vor allem an die vielen wilden Spiele im Garten unseres Hauses und in den angrenzenden Parkanlagen, doch es gab auch andere Empfindungen wie die der Einsamkeit. Ein anderes, sehr intensiv erlebtes Phantasiespiel bestand darin, dass ich einen Bauernhof erwarb und ihn bewirtschaftete. Ich überlegte, wie viele Kühe und Schweine ich halten, wie ich Milch und Käse verkaufen und wie ich das Leben auf dem Hof gestalten würde. Unter den traditionellen Regelspielen habe ich gerne Mensch-Ärger-Dich-Nicht gespielt, aber in meiner Weise. Manche mochten nicht, wie ich dieses Spiel spielte. Denn ich veränderte während des Spiels die Regeln. Ich versuchte immer zu verhandeln. Wenn einer mich rausschmeißen wollte, versuchte ich ihm klarzumachen: Wenn du mich jetzt nicht rausschmeißt, dann schmeiße ich dich beim nächsten Mal auch nicht raus. Ich habe immer versucht, die Regeln flexibel zu machen. Manchmal gab es darüber Streit, auch später, als ich mit meiner Frau und meinen Kindern spielte. Die Kinder haben sich auf dieses Verhandeln und verändern von Regeln eingelassen, aber meine Frau, Tochter eines Staatsanwalts, hatte dafür keinen Sinn. Sie wollte, dass die einmal festgelegten Regeln auch gelten. Mir hingegen machte es mehr Spaß, diese Regeln zu verändern, vielleicht auch manchmal ein klein bisschen zu schummeln, indem ich, wenn es gerade passte, mich verzählte.« Christoph Wulf, Dr. phil., ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft, Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie des SFB »Kulturen des Performativen» an der Freien Universität Berlin; Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren u. a.: Stanford University, The University of Tokyo, Université de Paris: Nanterre, Saint Denis, Denis Diderot. Publikationen (Auswahl): Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie, Reinbek 2004; (mit anderen) Bildung im Ritual, Wiesbaden 2004, Das Soziale als Ritual, Opladen 2001; Hg.: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997.
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Rüdiger Zill »Die Frage nach meinem Lieblingsspiel war in der Tat die schwierigste aller Fragen der Vorbereitung. Dagegen war das Vortragschreiben eine Kleinigkeit. Das hat mich die meiste Zeit gekostet. Mir ist dabei aufgefallen, dass es bei mir nur temporäre Lieblingsspiele gibt. Es gab mal eine Zeit, da habe ich Schach gespielt. Dann gab es eine Zeit mit Flipper und Computerspielen. Nach einer Zeit hatte sich das immer wieder erledigt, man kommt an einen Punkt, von dem aus man sich nur noch verbessern kann, wenn man es zu einer Obsession macht. Dann war der Reiz weg. Was dann bleibt sind eher Spiele, die man nicht versteht und von denen man den Eindruck hat, dass man sie auch nie verstehen wird, z. B. bestimmte englische Spiele. Die Engländer sind ja die Nation, die auch das Wettpflügen kennt. Da sitzen dann Leute vor dem Fernseher und gucken sich minutenlang an, wie zwei Leute auf Traktoren versuchen, den anderen zu übertreffen, indem sie besonders gerade Furchen ziehen. Oder nehmen wir so ein Spiel wie Cricket. Als ich das erste Mal in England war, habe ich gedacht: Das muss dich jetzt packen! Ich habe mir daraufhin ein Buch gekauft, das hieß How to watch Cricket. Wie man das so macht. Ich habe das Buch studiert mit einem Bleistift und Papier, richtig exzerpiert. Ich habe dann den Fernseher angeschaltet, aber viel verstanden habe ich trotzdem nicht. Aber es fasziniert mich weiterhin.« Ist Cricket denn das komplizierteste Spiel, das Sie kennen, oder würden Sie sagen, es gibt noch ein komplizierteres? »Ich weiß gar nicht, ob Cricket an sich kompliziert ist. Es gibt ja sicherlich kompliziertere Spiele. Schach ist so ein Spiel. Das kann in der Durchführung hoch kompliziert sein. Es gibt hochkomplexe Situationen, die dann schwer zu meistern sind. Cricket ist wahrscheinlich ein ziemlich langweiliges und banales Spiel. Man muss dafür wahrscheinlich eine bestimmte Mentalität haben.« Hatten Sie in Ihrer Kindheit ein Lieblingsspiel und haben Sie diese Situation später in Ihrem Leben wiedergetroffen? »Kommt darauf an, wann in der Kindheit (s. o.). Ich habe z. B. viel Zeit damit verbracht, auf dem Fußboden des Wohnzimmers zu liegen und mit meinem Vater Schach zu spielen. Wahrscheinlich ist davon die Vorliebe für verzwickte Konstruktionen geblieben.« Rüdiger Zill ist wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam; er studierte
Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London. Veröffentlichungen u. a. Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien (1994); Hinter den Spiegeln. Zur Philosophie Richard Rortys (Mithg. 2001).
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[Lösung : A ›Nichts geht mehr‹; B Charles Fey; C Am laufenden Band ]
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video Thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen
Christoph Ernst Essayistische Medienreflexion Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien
Oktober 2005, ca. 350 Seiten, kart., ca. 200 Abb., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-383-6
Oktober 2005, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-376-3
Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen
Oktober 2005, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-389-5
Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht Oktober 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5
Joanna Barck, Petra Löffler Gesichter des Films Oktober 2005, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-416-6
Andreas Becker, Saskia Reither, Christian Spies (Hg.) Reste Umgang mit einem Randphänomen Oktober 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-307-0
Oktober 2005, ca. 130 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0
Natascha Adamowsky (Hg.) »Die Vernunft ist mir noch nicht begegnet« Zum konstitutiven Verhältnis von Spiel und Erkenntnis September 2005, 288 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-352-6
Markus Buschhaus Über den Körper im Bilde sein Eine Medienarchäologie anatomischen Wissens September 2005, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-370-4
Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft August 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 50 Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Horst Fleig Wim Wenders Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie August 2005, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-385-2
Veit Sprenger Despoten auf der Bühne Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze August 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-355-0
Andreas Sombroek Eine Poetik des Dazwischen Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge August 2005, 320 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-412-3
Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock August 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5
Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen Juli 2005, 320 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X
Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche Juli 2005, 234 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5
F.T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film Juli 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3
Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur Juni 2005, 350 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-343-7
Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien Juni 2005, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-274-0
Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde Mai 2005, 208 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-326-7
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9
Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999 Mai 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5
Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch, was Geschichte? Annäherungen an eine kulturwissenschaftliche Anthropologie Mai 2005, 380 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-266-X
Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur
Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart Mai 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0
Eckhardt Köhn Erfahrung des Machens Zur Frühgeschichte der modernen Poetik von Lessing bis Poe März 2005, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-299-6
Andrea Allerkamp Anruf, Adresse, Appell Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur März 2005, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-331-3
Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet Januar 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN: 3-89942-287-2
September 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9
Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Vom digitalen Wandel des Wissens Mai 2005, 410 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de