Ist das nicht Sara?: Eine Geschichte zum Judentum 376684508X, 9783766845085

Irgendetwas stimmt nicht. Als Sarah wie jeden Freitag zu ihrer Großmutter kommt, sitzt diese wie gebannt vor dem Fernseh

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German Pages 96 [97] Year 2020

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Ist das nicht Sara?: Eine Geschichte zum Judentum
 376684508X, 9783766845085

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Monika Tworuschka Ist das nicht Sara?

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Monika Tworuschka

Ist das nicht Sara? Eine Geschichte zum Judentum

Calwer Verlag Stuttgart 3

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abruf bar.

ISBN 978-3-7668-4508-5

eBook: ISBN 978-3-7668-4508-5

© 2020 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlagfoto: © mauritius images/science Faction/Library of Congress Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]

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Inhalt Eine Stimme aus der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Der Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Großmutters Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Beratung mit Frau Rosenstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Kriegsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Bei Jeans Schmitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Ein interessanter Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Wichtige Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Düstere Neuigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Kluge Bonnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Bar-Mizwa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Auf dem Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Ein Besuch am Freitagabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

Trübe Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Es ist ein großes Wunder geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Der Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Enthüllungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Langersehntes Wiedersehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Kleines Lexikon zu „Ist das nicht Sara?“ . . . . . . . . . . . . . . 92 5

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Eine Stimme aus der Vergangenheit Als Sara an der Tür klingelt, merkt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie hat wie sonst auch nach der Schule die Wohnungstür ihrer Großeltern geöffnet und gerufen: „Hallo Opa, hallo Oma!“ Und Opa hat wie immer geantwortet: „Schön, dass du da bist, Sara.“ Doch trotzdem war alles irgendwie anders als sonst. Prüfend schaut Sara ihren Opa an. Der sieht ernst und ein bisschen ratlos aus. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Und auch das ist ungewöhnlich. Saras Großeltern sehen selten fern, mittags schon gar nicht. Flüchtig blickt Sara in Richtung Fernseher: „Irgendeine Feier“, denkt sie und beobachtet eine größere Menschenmenge, die einem Trauerzug folgt. Im Hintergrund hört sie eine Stimme: „Menschenmengen auf dem Weg zur Plaza vor dem israelischen Parlament. „Was guckst du eigentlich, Omi?“, will sie wissen. Doch ihre Großmutter antwortet nicht, bleibt regungslos auf dem Sofa sitzen. In ihren Zügen mischen sich Erstaunen, Erschrecken und Ungläubigkeit. Sara fällt auf, dass der Tisch noch nicht gedeckt ist. Ein Blick in die Küche bestätigt die Vermutung, dass ihre Großmutter auch noch nicht gekocht hat, obwohl sie weiß, dass ihre Enkelin immer um diese Zeit aus der Schule kommt. „Irgendetwas scheint passiert zu sein, hoffentlich nichts mit Mama und Papa“, denkt sie, und ihr wird ganz heiß dabei: „Was ist los? Du bist ja ganz blass, Omi“, fragt sie nun etwas unsicher. Als ihre Großmutter immer noch nicht antwortet, raunt 7

Großvater ihr zu: „Deiner Omi geht’s nicht so gut.“ Das hat sich Sara inzwischen auch schon gedacht. „Ich merke doch, dass irgendwas nicht stimmt. Ihr seht doch sonst um diese Zeit nie fern“, stellt sie etwas ratlos fest. Karl Meyer macht eine unbestimmte Bewegung in Richtung Fernseher: „Die übertragen gerade die Trauerfeier für den ermordeten israelischen Politiker.“ Jetzt fällt es Sara wieder ein. Sie haben in der Schule kurz im Politikunterricht darüber gesprochen. Sicher ist es schlimm, wenn jemand ermordet wird, einfach niedergeschossen von so einem Fanatiker. Aber dass Omi sich das so zu Herzen nehmen muss. Sie hat den Mann doch nicht gekannt! „Ist schon merkwürdig“, murmelt Anna Meyer betroffen und nachdenklich. „Was ist merkwürdig?“ Sara wird ungeduldig, und Hunger hat sie auch. Außerdem macht ihr das Benehmen ihrer Großmutter ein wenig Angst. Nachdenklich, als könne sie ihren eigenen Worten kaum glauben, murmelt Anna Meyer: „Ich glaube, ich habe da eben im Fernsehen eine Frau gesehen, die aussah wie Sara Würzburger.“ Sara ist sich sicher, dass sie diesen Namen noch nie gehört hat. „Sara Würzburger …? Wer ist denn das?“ Fragend sieht sie ihre Großeltern an. „Oma hatte früher eine Freundin, die so hieß“, erläutert Opa. „Du hattest eine Freundin, die auch Sara hieß?! Genau wie ich! Warum hast du mir nie von ihr erzählt?“, wundert sich 8

Sara. Sie hatte immer gedacht, dass Sara eher ein moderner Name sei. Freundinnen ihrer Großmutter, hießen die nicht eher Luise, Katharina, Klara oder Lotte? Aber egal, wie die Freundin geheißen hat. Omi müsste sich doch freuen, eine Freundin von früher wiederzusehen. Glücklich sieht ihre Großmutter im Augenblick wirklich nicht aus. „Ich dachte doch, sie ist tot, Karl“, wendet sie sich mit einem verstörten Blick an ihren Mann. „Du dachtest, sie ist tot? Wieso denn?“, will Sara nun unbedingt wissen. Sie hat das unbestimmte Gefühl, dass es ein Geheimnis gibt, von dem niemand bisher gesprochen hat. „Sara war Jüdin. Und du weißt doch, dass unter Hitler die Juden verfolgt wurden“, beginnt Karl Meyer. Dann stockt er, weiß nicht genau, wie er fortfahren soll, wie er seiner Enkelin erklären kann, was damals wirklich geschehen ist. Auch Sara ist verstummt. Die Lehrerin hat zwar einiges erzählt neulich im Geschichtsunterricht. Aber das war doch schon so lange her, und im Krieg waren viele Menschen gestorben. „War denn diese Sara eine gute Freundin von dir?“, erkundigt sie sich vorsichtig. Die Stimme ihrer Großmutter klingt nun etwas sicherer: „Ja! Sara war meine beste Freundin!“ „Und du warst dir sicher, dass sie nicht mehr lebt?“ Allmählich fängt Sara an, sich für die Geschichte zu interessieren. Doch Anna Meyer ist wieder ganz in Gedanken versunken. „Das hatte man mir damals jedenfalls erzählt“, murmelt sie. Das ist eine lange, traurige Geschichte“, seufzt sie dann. Sara schaut zum Fernseher, der immer noch läuft, obwohl 9

niemand mehr hinguckt. „Kurz nach Mittag wird der Sarg, dem nach Angaben der Polizei Hunderte Menschen folgen, von der Knesset …“ ertönt die Stimme des Berichterstatters. Dann guckt sie wieder ihre Großmutter an. „Und wieso glaubst du, dass das eben im Fernsehen doch deine Freundin gewesen sein könnte?“, forscht sie weiter. Anna Meyer überlegt. Hoffnung und Zweifel spiegeln sich in ihrer Miene wieder. Dann bringt sie tonlos hervor: „Eigentlich kann sie es nicht sein. Denn nach dem Krieg hieß es, die ganze Familie sei tot. Aber diese Frau bei der Trauerfeier … Sie haben sie mehrmals groß im Bild gehabt. Die hatte sehr große Ähnlichkeit mit Sara, so wie ich sie in Erinnerung habe … Aber damals waren wir noch sehr jung. Es ist zu lange her.“ Doch das will Sara nun nicht gelten lassen. „Vielleicht war sie es ja wirklich. Willst du nicht rauskriegen, ob sie vielleicht doch noch lebt?“ Sara ist jetzt richtig aufgeregt. „Jemanden nach so langer Zeit wiederzusehen. Das ist doch eine spannende Sache. Oder?“ Doch ihre Großmutter scheint alles andere als begeistert zu sein. „Ich bin ganz durcheinander. Ich kann jetzt nicht darüber reden.“ Sie fährt sich mit der Hand über die Augen. „Arme Omi!“, murmelt Sara. Sie hat inzwischen begriffen, dass es nicht nur eine aufregende, sondern auch eine traurige Geschichte sein muss, die damals passiert ist. Sonst hätte ihr Omi doch längst einmal unbefangen erzählt, dass sie früher eine Sara gekannt hat – nein, nicht nur gekannt. Diese 10

Sara war Omis beste Freundin gewesen. Und doch hatte Omi sie nie erwähnt, nicht einmal den Namen genannt. Das war mehr als merkwürdig! „Lass Omi sich etwas ausruhen“, flüstert Großvater. „Komm, Sara, wir schauen mal, was wir noch zu essen finden. Ein anderes Mal erzählen wir dir mehr. Aber heute nicht“, sagt er entschieden und zieht seine Enkelin in die Küche.

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Das Projekt Normalerweise mag Sara den Geschichtsunterricht bei Frau Rosenstock. Sie gehört zu den Schülerinnen, die sich oft melden und gut mitarbeiten. Doch heute ist sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache. Daher schreckt sie hoch, als die Lehrerin ihr eine Frage stellt. „Hast du dich entschieden, Sara?“ „Äh, … was?“ Sara stottert und wird rot. Sie musste die ganze Zeit an ihre Oma denken. Zu gern hätte sie mit ihrer Freundin Michaela gesprochen. Doch vor der Schule war keine Zeit gewesen. Als sie gestern Abend von ihrem Vater bei ihren Großeltern abgeholt worden war, wollte sie eigentlich alles erzählen. Doch irgendwie fand sie nicht die richtigen Worte anzufangen. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt mit ihren Eltern reden sollte. Schließlich hatte ihre Großmutter doch auch die vielen Jahre geschwiegen. Vielleicht tat es ihr schon leid, dass ihre Enkelin Sara etwas wusste, was sie ihrer Tochter nie erzählt hatte. Nein – mit Mutti konnte Omi nur selber sprechen. Außerdem hatte sie nicht ganz begriffen, was damals geschehen war, und würde vielleicht nicht alles richtig berichten. Frau Rosenstock wartet noch immer auf eine Antwort. „Klar. Sara macht ein Projekt über Voltigieren in der Antarktis.“ Jens ist ein bisschen schadenfroh, weil Sara einmal nicht aufgepasst hat. Da Sara fast ihre gesamte Freizeit bei den Pferden verbringt, findet er seine Bemerkung witzig. Seine Lehrerin ist da etwas anderer Meinung. Jens’ vorlaute Zwischenrufe 12

stören den Unterricht – vor allem deshalb, weil sie nur selten etwas mit dem Thema zu tun haben. „Nicht schon wieder, Jens!“, seufzt sie genervt. „Also Sara, was ist?“ Inzwischen ist Sara wieder eingefallen, worauf Frau Rosen­stock hinaus will. Schon seit einigen Wochen arbeiten sie an einem Projekt, das sich mit einer Zeit beschäftigt, die 60 bis 80 Jahre zurückliegt. „Geschichte beschäftigt sich mit unserer Vergangenheit“, hatte Frau Rosenstock neulich ihren Schülern erklärt. „Normalerweise müssen wir in Büchern nachlesen, was die Menschen früher getan oder gedacht haben. Aber Geschichte bedeutet nicht nur die Ereignisse, die viele Jahrhunderte zurückliegen. Schon das, was vor wenigen Jahren passiert ist, gehört dazu. Bei der jüngeren Geschichte hat man allerdings den Vorteil, dass es lebende Menschen gibt, die sich erinnern.“ Dann hatte sie der Klasse anschaulich erklärt, dass es interessant und wichtig sei, die eigenen Großeltern nach ihren Erinnerungen zu befragen. „Was für Röcke oder Hosen trug man, als Großmutter noch jung war? Welche Musik war modern? Konnte man damals einfach eine Pizza oder ’nen Döner bestellen?“ Zuerst hatte die Klasse gelacht und das Ganze nicht so ganz ernst genommen. Doch schließlich hatten die meisten Schüler verstanden, worauf Frau Rosenstock hinaus wollte. Eifrig hatten viele Themen vorgeschlagen, die man in Gruppen erarbeiten wollte: Kochrezepte, Mode, Musik, Sport … „Ich glaube, ich mache das mit den Großeltern und …“ Sara stockt. Sie kann sich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern. „Wie unsere Großeltern die Hitlerzeit erlebten“, hilft Frau Rosenstock. Sara nickt. Insgeheim ist die Lehrerin froh, 13

dass sich auch jemand für die politischen Ereignisse dieser problematischen Zeit interessiert. Aber sie wusste auch, dass man sich nicht in allen Familien freimütig über diese schwere Zeit äußern würde. Frau Rosenstock wusste, wie wichtig es war, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Viele hatten aus der Geschichte gelernt. Andere leugneten bis heute, was damals Schreckliches geschehen war. Und da war noch etwas: Kollege Funke hat Erschreckendes aus seinem Politikunterricht berichtet. „Juden kann man nicht trauen“, hatte ein Schüler bemerkt. Ein anderer hatte einen sehr üblen Juden-Witz erzählt. Herrmann Funke war schockiert gewesen und hatte sich mit seinen Kollegen beraten, was man im Geschichts- und Politikunterricht unternehmen könnte, damit junge Menschen die Gefahr von Rassenvorurteilen besser begreifen konnten. Er hatte sich immer für Menschlichkeit als Erziehungsziel eingesetzt. Menschenverachtende Sprüche von einigen seiner Schülerinnen und Schüler schockierten ihn. Wer war dafür verantwortlich: die Eltern, falsche Freunde oder unfähige Lehrer? Frau Rosenstock nickt Sara aufmunternd zu „Schön! Wer noch? … Michaela?“ Saras Freundin muss nicht lange überredet werden. „Geht klar. Ich mache auch mit.“ „Wir brauchen mindestens drei“, überlegt die Lehrerin. Nachdenklich lässt sie ihren Blick über die Klasse schweifen. „Mit Bonnie sind es drei. Ohne die macht Sara sowieso nichts.“ Dieses Mal hat Jens die Lacher auf seiner Seite. „Hunde zählen leider nicht mit“, bemerkt Frau Rosenstock 14

trocken, als das Gelächter verstummt ist. „Wie ist es mit dir, Jana?“ Die Angesprochene zögert: „Ich weiß noch nicht …“ In diesem Augenblick klingelt es zur Pause. Bücher klappen zu. Stühle rücken. Alle reden durcheinander. „Dann überlege es dir bis zur nächsten Stunde.“ Frau Rosenstock erwischt Jana gerade noch, als sie in den Gang zur Pause läuft. In einer Ecke des Schulhofs bleiben Sara und Michaela stehen. Zwei Fünftklässler spielen neben ihnen Tischtennis, angefeuert von mindestens acht Mitschülern. Man muss laut reden, um den Lärm zu übertönen. Michaela beißt in einen Apfel. „Leicht wird das nicht! Mit dem Projekt, meine ich.“ Ihre Freundin gibt ihr Recht. „Sagt ja auch keiner. Aber ich wollte immer schon mehr über damals wissen.“ Das stimmt nicht ganz. Manchmal hatte es sie sogar genervt, wenn Oma darauf hinwies, dass früher jeder essen musste, was auf den Tisch kam und dass man sich sonntags beim Spielen nicht schmutzig machen durfte. Aber seit sie gestern bei ihrer Oma war, lässt sie der Gedanke nicht mehr los, mehr über diese Zeit zu erfahren. Jetzt versteht sie auch besser, was Frau Rosenstock gemeint hatte, als sie sagte, man müsste mit den Großeltern reden, solange es noch möglich ist. Ihre Omi ist schon 91 Jahre alt. Wenn sie und Opa nicht mehr lebten, könnte sie niemanden über diese Zeit fragen. Denn ihre Eltern hatten damals noch gar nicht gelebt oder waren selber ganz klein gewesen. 15

Jana unterbricht ihre Gedanken. „Eigentlich habe ich null Bock. Das alles ist schon so lange her.“ „Wir könnten uns erst einmal ein Video über die Zeit damals angucken“, beschwichtigt sie Michaela. „Aber das macht doch jeder“, widerspricht ihr Sara entrüstet. Kapieren die beiden denn nicht, dass es viel aufregender ist, jemanden zu fragen, der selber dabei war? „Neulich, als Sandra in diesem Konzert war, hast du sie auch ausgequetscht, wie es war. Dabei kommen jeden Tag Videoclips von der Band im Fernsehen!“ Jana wird etwas rot. Natürlich hatte sie Sandra gelöchert. Jeder wusste, dass sie selber gern in dem Konzert gewesen wäre und den Leadsänger total cool findet. „Weißt du was Besseres?“ Sara zögert. „Ich überlege noch.“ Hier in der Schulpause will sie nicht anfangen zu erzählen, was sie seit gestern beschäftigt. „Was ist nun? Machst du mit, Jana?“, fragt sie erneut, um Zeit zu gewinnen. Jana ist immer noch unentschlossen. „Ich weiß nicht recht … Meine Großeltern reden nicht viel über früher.“ „In irgendeinem Projekt musst du aber mitmachen, hat Frau Rosenstock gesagt.“ „Genau!“, pflichtet Michaela ihr bei. „Wir machen nicht die ganze Arbeit für dich.“ „Also gut. Überredet!“, kommt es zögernd von Jana. Die Pause ist zu Ende. „Dann später bei dir, Jana“, ruft Sara, bevor sie in die Turnhalle gehen. „Aber vorher muss ich noch mit Bonnie Gassi gehen.“ Jana lacht: „Ich sehe schon, Bonnie macht doch mit.“ Nun muss auch Sara lachen. „Bestimmt! Bis nachher.“ 16

Der Plan Jana hat die Schultasche in die Ecke gepfeffert. Eigentlich ist sie froh, dass die Freundinnen kommen wollen, um noch einmal über das Projekt zu sprechen. Da lohnt es sich gar nicht, mit den Matheaufgaben anzufangen. Und auf die hat Jana sowieso keinen Bock. Sie setzt die Kopfhörer auf und schaltet ihre Lieblingsmusik ein. Dann lässt sie sich auf das Bett fallen. Einen Moment später klingelt es. Michi steht vor der Tür – etwas atemlos, weil sie mit dem Fahrrad gekommen ist und ein scharfer Wind weht. Es ist Ende September. Bis vor ein paar Tagen war das Wetter spätsommerlich warm gewesen. Doch seit Montag war es mehrere Grad kühler und windig geworden. Michi hatte es gerade noch geschafft, zwischen zwei Schauern halbwegs trocken bei Jana anzukommen. „Puh, ich hatte vielleicht Gegenwind!“, schnauft sie, als sie neben Jana Platz nimmt. „Hi, Michi. Gut, dass du endlich kommst“, begrüßt sie ihre Freundin. Michi schaut sich suchend um. „Ist Sara schon da?“ Jana schüttelt den Kopf. „Nee, die muss noch mit Bonnie raus. Und das kann dauern. Du kennst doch Sara!“ Michaela kennt Sara und weiß, dass sie gern etwas trödelt, wenn sie den Hund ausführt. Und mitbringen will sie ihn nicht wegen Janas Kater. Es klingelt erneut an der Tür. „Das ist Sara“, meint Michi. Die Tür fliegt auf. „Schön, dass du auch noch kommst“, stichelt Jana. „War das ein Wind. Gut, dass Bonnie kein Zwerg17

pinscher ist. Dann hätte es ihn glatt weggeweht. Habt ihr schon angefangen?“ Jana schüttelt den Kopf: „Nee, haben wir nicht.“ „Dann hört mal zu!“ Sara zieht ihre Regenjacke aus. „Stellt euch vor …“ Unbedingt muss sie loswerden, was sie gestern erfahren hat und was sie seitdem so beschäftigt. „Als ich gestern bei meiner Omi war, hat die was Spannendes erzählt. Die hat ihre Freundin im Fernsehen gesehen.“ Jana scheint nicht sehr interessiert. „Ach nee, wirklich. In einer Show?“ Sie hat keine Ahnung, worauf Sara hinaus will. Sara hätte sich eigentlich denken können, dass es gar nicht so leicht sein würde zu erzählen, was gestern passiert war. Aber dass die Freundinnen das Ganze so wenig ernst nehmen, verletzt sie. „Quatsch! Meine Omi hat bei der Trauerfeier von diesem israelischen Politiker ihre Freundin entdeckt, die sie vor über 75 Jahren das letzte Mal gesehen hat.“ „Vor über 75 Jahren?“, fragt Michaela ungläubig. Jana überlegt. Erstaunen und Zweifel spiegeln sich in ihrem Gesicht „Und woher weiß sie dann genau, dass sie es ist – nach dieser langen Zeit …“ „Weiß sie ja auch nicht genau.“ Sara tut es fast schon leid, dass sie mit dem Thema angefangen hat. Sie hatte halt unbedingt mit jemandem über die Sache reden wollen, weil sie selber seit gestern unaufhörlich darüber grübelte, was damals geschehen war und warum ihre Omi nach der langen Zeit so verstört war, als sie von ihrer Freundin Sara sprach. Jetzt kam 18

es ihr wie ein Vertrauensbruch vor, dass sie Jana und Michaela davon erzählt hat. Wie konnten die auch ahnen, wie durcheinander ihre Omi gewesen war und dass es etwas ungeheuer Ernstes und Trauriges gewesen sein musste, was sich damals ereignet hatte. Jana merkt Saras Miene an, wie wichtig ihr die Sache ist. Aber sie kann sich immer noch nicht ganz erklären, war ihre Freundin beunruhigt und warum sie ihr und Michi gerade jetzt davon erzählt. „Und was hat das jetzt mit uns zu tun?“, forscht sie vorsichtig und beobachtet Sara, die ernst und nachdenklich zum Fenster hinaus sieht. Der Regen klatscht gegen die Scheiben. Sara ist froh, dass sie nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs ist und gemütlich bei Jana im Trockenen sitzt. Saras Stimme klingt gedankenverloren und kommt wie von weit her: „Omis Freundin war Jüdin! Und Omi hat bis heute gedacht, dass Sara tot ist.“ „Sara?!“ fragt Michaela überrascht. „Ja, die Freundin meiner Omi hieß auch Sara. Sara Würzburger.“ Auch Jana brennt eine verwunderte Frage auf den Lippen. Aber sie will Sara nicht noch einmal unterbrechen. Stattdessen stellt sie die Musik etwas leiser und wartet. Doch Sara schweigt. Viele Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Wie soll sie beginnen? Wie soll sie ihre Freundinnen zu etwas überreden, was ihr selber phantastisch erscheint? Die Szene gestern bei den Großeltern war sowohl bedrückend als auch unheimlich gewesen. Schließlich blickt sie entschlossen 19

hoch: „Wisst ihr was? Ich habe mir überlegt, wir könnten vielleicht in unserem Projekt herausfinden, ob Sara Würzburger wirklich noch lebt.“ Bevor sie weiterredet, wartet sie auf die Reaktion der Freundinnen. „So’n Blödsinn! Das kriegen wir doch nie raus!“, meint Jana spontan. „Stimmt’s, Michi?“ Michaela ist nachdenklich geworden: „Du meinst, dann wäre unsere Projektarbeit für die Schule wirklich nützlich …“ So ähnlich hat Sara es gemeint. Doch sie will nichts überstürzen. Es war nur so eine Idee gewesen. Letzte Nacht hatte sie sich ausgemalt, wie aufregend es wäre, Detektiv zu spielen, und wie sehr sich Omi freuen würde, wenn sie herausfinden würden, ob ihre Freundin tatsächlich noch lebt. Doch plötzlich ist sie nicht mehr so sicher. Würde sich Omi überhaupt freuen? Gestern war sie vor allem verstört gewesen. „Ich müsste aber vorher noch mal mit meiner Omi reden. Der ging es gestern gar nicht gut, der Armen“, sagt sie leise. Michaela kann sich zwar nicht vorstellen, was es bedeutet, über 75 Jahre zu denken, dass jemand tot ist, und diesen Menschen dann plötzlich wiederzusehen. Aber sie ahnt doch, wie sehr die gestrigen Ereignisse Saras Großmutter beunruhigt haben müssen. „Klar, dass die durcheinander war“, meint sie mitfühlend, „aber wir sollten auch Frau Rosenstock fragen, was die davon hält.“ Das hatte Sara sowieso vor. „Kommst du mit?“, erkundigt sie sich bei ihrer Freundin Michaela. Sie ist froh, dass die Freundinnen nicht sofort nein gesagt haben. 20

Großmutters Erzählung Eigentlich besucht Sara fast jeden Tag ihre Großeltern nach der Schule – ihre Eltern arbeiten in einem großen Verlag und kommen meist beide erst abends nach Hause. Daher sind sie froh, dass ihre Tochter bei Oma und Opa essen kann. Doch dieses Mal klopft ihr Herz, als sie die Stufen zur Wohnung der Großeltern hinauf läuft und klingelt. Ihre Großmutter öffnet. Sie sieht besser aus als gestern, ist aber immer noch etwas blass. Obwohl sie ihre Enkelin mit einem Lächeln begrüßt, merkt Sara sofort, dass sie ernster ist als gewöhnlich. Sara hängt ihre Jacke auf und geht in die Küche. „Das riecht aber gut!“, meint sie und merkt, wie hungrig sie ist. Heute ist der Tisch wie immer schon gedeckt und das Essen so gut wie fertig. Bald sitzen alle drei am Tisch und lassen sich die Spaghetti schmecken. Omi hat Saras Lieblingssauce dazu gekocht. Außerdem gibt es eine große Schüssel Salat. Sara häuft sich eine große Portion auf den Teller, während Opa ihr ein Glas Apfelschorle einschenkt. Eine Weile wartet sie noch, bis sie ihre Frage stellt, die sie seit vorgestern unablässig beschäftigt. „Und diese Sara war damals wirklich deine beste Freundin, Omi?“ Saras Großmutter hat damit gerechnet, dass ihre Enkelin nicht locker lassen würde. Auch sie hat seit zwei Tagen unaufhörlich darüber nachgegrübelt, was sie erzählen darf und worüber sie besser schweigen sollte. „Ja. Sara und ich haben alles zusammen gemacht, uns alle Geheimnisse anvertraut.“ Ihre Stimme ist leise, doch be21

herrscht. Sie denkt mit Wehmut zurück, aber auch mit verhaltener Freude. Denn Sara und sie hatten auch viel Schönes gemeinsam erlebt, hatten Streiche ausgeheckt, waren einfach unzertrennlich gewesen. Auch daran musste sie seit zwei Tagen unaufhörlich denken. „Dann wohnte die auch hier in der Nähe, oder?“, bohrt ihre Enkelin. Sara hat aufgehört zu essen. Ihr Blick hängt an den Lippen ihrer Omi, um sich ja kein Wort entgehen zu lassen. Die Großmutter nickt: „Das Geschäft ihrer Eltern war gleich hier um die Ecke. Herrenbekleidung Würzburger. Wir haben uns oft gesehen und natürlich zum Geburtstag eingeladen.“ „Und ich habe mit ihrem Bruder David Fußball gespielt“, erinnert sich Großvater. Vor Anna Meyers Augen tauchen Bilder von früher auf, Bilder, die sie fast vergessen hatte, die nun aber immer deutlicher werden, je mehr sie an damals zurückdenkt. Zunächst konzentriert sie sich auf die schöneren Bilder. Da fallen die Erinnerungen leichter. „Wir waren damals sogar eingeladen, als David seine BarMizwa-Feier in der Synagoge hatte“, erzählt sie. „Der war ganz aufgeregt, weil er irgendetwas Schweres in hebräischer Sprache vortragen musste.“ Sara stutzt. „Bar-Mizwa?“ „Das ist bei den Juden so etwas Ähnliches wie bei uns die Konfirmation. Auf alle Fälle war es ein sehr schönes Fest. Aber ein paar Jahre später war alles ganz anders.“ Ihre Omi verstummt. Jetzt drängen sich die weniger schönen, die traurigen Bilder auf. 22

„Wir haben auch in der Schule darüber gesprochen“, beginnt Sara zögernd. „Aber ganz verstanden habe ich nicht, was damals war.“ „Du weißt doch, dass Hitler die Juden verfolgt hat“, erklärt der Großvater nun. Dann blickt er Hilfe suchend seine Frau an. „Es gab immer mehr Gesetze, welche die Juden benachteiligten. Und später ist Sara dann weggezogen, als ihre Eltern das Geschäft nicht mehr hatten.“ Anna Meyers Gedanken sind nun an einem Punkt angekommen, über den hinaus sie sich nicht gern erinnert. „Und Sara und David durften plötzlich nicht mehr auf unsere Schule gehen und mussten auf eine jüdische. Alle jüdischen Kinder mussten damals ihre Schulen verlassen.“ Auch Karl Meyer war damals betroffen gewesen, als David nicht mehr in seine Klasse ging. Aber sie waren nicht so enge Freunde wie Anna und Sara gewesen. Dennoch war auch er verwundert über die Ermahnung der Eltern gewesen – vor allem deshalb, weil das Verbot nicht zu den Erziehungsvorstellungen seiner Eltern gepasst hatte. Ihm war sofort klar gewesen, dass ihre Eltern, wenn auch mit etwas schlechtem Gewissen, der allgemeinen Stimmung und der Meinung der Nachbarn nachgegeben hatten. „Die Nationalsozialisten forderten, dass man nicht in jüdischen Geschäften einkaufen sollte. Und unsere Eltern wollten dann auch nicht mehr, dass wir mit jüdischen Kindern befreundet waren.“ In dem Augenblick, als sie den Satz ausspricht, weiß Anna Meyer, dass Sara weitere Fragen stellen, nicht locker lassen wird. Wie erwartet, ist Sara ehrlich entrüstet. „Was! In echt? Ich würde mir das nicht verbieten lassen!“, empört sie sich. Das wäre ja noch schöner, wenn ihre Eltern 23

ihre Freundinnen aussuchen würden. Sicher, Mama war damals nicht begeistert gewesen, als sie öfter mit Julia spielte, weil die viel zu viel Taschengeld bekam und Sendungen im Fernsehen gucken durfte, die Saras Eltern nie erlaubt hätten. Trotzdem hatten Saras Eltern den Kontakt zu Julia nicht verboten. Dennoch waren sie etwas erleichtert gewesen, als Julia in eine andere Stadt verzogen war. „Das waren andere Zeiten, Sara!“, versucht Großvater sie zu beschwichtigen. Ganz wohl ist ihm dabei nicht. Seine Frau unterbricht ihn. „Ich habe sie dann später noch einmal heimlich besucht, in der neuen Wohnung. Es war der 17. Mai, Saras 14. Geburtstag. Dann habe ich sie nie mehr gesehen.“ Sie kämpft mit den Tränen. Plötzlich sind die Erinnerungen wieder da. Die verängstigten Gesichter von Saras Eltern und ihrem Bruder, Saras Freude über ihr Kommen – eine Freude, die aber gleich wieder Furcht Platz machte. Die neue Wohnung, die deutlich kleiner und schäbiger als die alte gewesen war. „Und warum dachtest du, dass sie tot ist?“ Saras Frage unterbricht jäh ihre Gedanken. Anna Meyer überlegt. Warum war sie damals so sicher gewesen? „Nachbarn haben uns erzählt, dass alle Juden aus der Straße abgeholt und ins Lager gebracht worden sind.“ Sara verstummt. Frau Rosenstock hat im Unterricht angedeutet, was in den Lagern passiert war, dass die meisten Menschen nicht überlebt hatten. Im Unterricht hatte das zwar schrecklich geklungen. Doch es war um Menschen gegangen, die sie nicht persönlich gekannt hatte. Hier war plötzlich von 24

einem Mädchen die Rede, das ihrer Omi so nah gestanden hatte, wie Michaela und Jana ihr heute. Plötzlich weiß sie nicht, was sie sagen soll. „Schrecklich“, murmelt sie dann, „… sag’ mal Omi …“ Anna Meyer sieht sie fragend an. „Warum heiße ich eigentlich Sara? Hattest du meinen Eltern von deiner Freundin erzählt?“ Ihre Großmutter ist erleichtert, dass das Gespräch eine neue Wendung nimmt. Sie hätte nicht gewusst, was sie auf weitere Fragen nach dem Lager hätte antworten sollen. Doch diese Antwort ist nicht schwer. „Nein. Ich habe nie davon gesprochen. Dass du auch Sara heißt, ist Zufall. Deinen Eltern hat der Name eben gefallen.“ Sara ist ein bisschen enttäuscht, weiß aber nicht, warum. „Du, Omi“, beginnt sie behutsam. „Hm?“ „Wenn du wüsstest, dass deine Freundin noch lebt, dann würdest du dich doch freuen!?“ Eine Zeitlang sagt Anna Meyer gar nichts, dann ringt sie sich zu einer Antwort durch. „Natürlich würde ich mich freuen“, murmelt sie schließlich. „Aber ich habe auch etwas Angst …“ Sara löffelt schweigend den Nachtisch. Vanillepudding mit heißen Kirschen. Der Pudding ist zubereitet wie immer. Süßspeisen kocht Omi besonders gut. Für sie ist es Ehrensache, keine Fertigprodukte zu kaufen. Vanillepudding wird wie früher gekocht und dann zum Abkühlen in eine Schüssel gefüllt. „Omis Vanillepudding ist ein Gedicht!“, wie Mutti immer sagt. Aber heute schmeckt Sara fast nichts, so sehr ist sie in Gedanken versunken. 25

Beratung mit Frau Rosenstock Als Sara und Michaela Frau Rosenstock aufsuchen, hört sie ihnen eine Weile schweigend zu. Seit sie das Projekt begonnen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie irgendwann auch auf den vergangenen Krieg und die Hitlerzeit zu sprechen kommen würden. Die Geschichte, die sie von Sara zu hören bekam, war zwar ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Trotz der Grausamkeiten hatten manche Menschen doch überlebt. Andererseits ist auch sie skeptisch, ob es möglich ist, jemanden nach so langer Zeit wieder zu erkennen. Aber Sara hatte ja auch gerade berichtet, dass die Großmutter ihre Freundin zum letzen Mal an ihrem vierzehnten Geburtstag gesehen hatte. Mit vierzehn war man schon fast erwachsen. Danach änderte sich ein Gesicht nicht mehr so sehr. Nur älter wurde es – in über 75 Jahren sehr viel älter. „Das ist wirklich spannend, was du mir eben erzählt hast“, wendet sie sich an Sara, als diese ihre Erzählung beendet hat. „Dann würde die Freundin deiner Großmutter heute in Israel leben. Das wäre natürlich möglich.“ „Leben eigentlich die meisten Juden heute in Israel?“, erkundigt sich Michaela. Hier in Deutschland hatte sie noch nie einen Juden kennen gelernt. Frau Rosenstock überlegt, wie sie beginnen soll. „Nein. Passt mal auf. Das ist eine längere Geschichte. Ich habe da eine CD-ROM. Wir gehen mal nebenan in den Computer-Raum.“ Nach kurzem Suchen hat Frau Rosenstock die CD gefunden. Auf dem Bildschirm erscheinen zwei Karten. Nach noch26

maligem Klicken auf ein bestimmtes Feld erscheint ein Text: „Israel“, liest Michaela. „Die beiden Karten zeigen die zwölf Stämme Israel ungefähr 1000 vor Christus und den 1948 gegründeten Staat Israel.“ „Das alte Israel war größer“, beobachtet Sara. „Aber Jerusalem ist beide Male Hauptstadt.“ Ob da irgendwo in der Stadt Sara Würzburger lebte?! Es gab ja auch noch andere Städte. Plötzlich kommt ihr das Ganze wieder völlig unwahrscheinlich vor. „Zweimal in der Geschichte gab es einen eigenen Staat Israel“, fährt Frau Rosenstock mit der Erklärung fort. „König David machte vor rund 3000 Jahren Jerusalem zur Hauptstadt seines Großreiches. Und 1948 wurde der moderne Staat Israel gegründet, ebenfalls mit der Hauptstadt Jerusalem. Klick doch mal Jerusalem an, Michaela!“ Wieder erscheinen Bilder und Texte: Sara beginnt stockend zu lesen: „Davids Sohn Salomo ließ in Jerusalem den ersten Tempel bauen, wo auch die Bundeslade mit den 10 Geboten verwahrt wurde. Als die Römer den Tempel im Jahr 70 n.Chr. zerstörten, wurden die Juden in die Sklaverei nach Rom verschleppt und der Tempelschatz geraubt. Viele Jahrhunderte war es den Juden verboten, nach Jerusalem zurückzukehren. Sie waren dann später auf der ganzen Welt zerstreut. Diese Zerstreuung nennt man Diaspora oder Galut.“ „Diese Zerstreuung der Juden in die ganze Welt nennt man Diaspora oder Galut!“, wiederholt Frau Rosenstock. „Deshalb gab es auch in Deutschland seit vielen Jahrhunderten Juden. Doch nach der Ermordung von Millionen von Juden in der Hitlerzeit gab es fast keine Juden mehr in Deutschland. Aber es gibt immer noch viele Juden in anderen Ländern, sogar hier 27

in Deutschland. Doch wenn Juden ihr Pessachfest feiern …“ Sara unterbricht sie. Darüber haben sie doch gerade im Religionsunterricht gesprochen. „Pessach ist, wenn wir Ostern feiern, oder? Und dann erinnern sich die Juden daran, dass Mose sie aus der Gefangenschaft in Ägypten geführt hat.“ Frau Rosenstock nickt zustimmend. „Richtig. Beim Abschluss des Pessachfestes wünschen sich die Juden gegenseitig: ‚Nächstes Jahr in Jerusalem‘. Denn sie hoffen, dass sie irgendwann einmal dorthin kommen werden. Vielleicht ist das ja auch der Freundin deiner Großmutter gelungen, wenn sie überlebt hat.“ Sie blickt Sara aufmunternd an. „Eben! Deshalb wollten wir ja mit unserem Projekt versuchen, sie zu finden.“ Sara weiß nicht, warum, aber plötzlich hat sie wieder etwas Mut gefasst. Nur ist ihr alles andere als klar, wie man die Suche beginnen soll. Frau Rosenstock dämpft ihren Optimismus. „Leicht wird das nicht.“ Mit einem Mal spürt die Lehrerin, dass sie eine Verantwortung übernommen hat. Und ihr ist nicht wohl dabei. Schließlich wäre es denkbar, dass die Mädchen Dinge herausfinden, über die Saras Großeltern nicht reden wollen. Noch wahrscheinlicher ist aber, dass die Suche erfolglos bleibt und sowohl die Mädchen als auch die Großmutter enttäuscht werden. „Eins musst du mir versprechen!“ Sie schaut ernster als sonst. „Sage deiner Omi erst einmal nicht, was du vorhast. Sonst ist sie noch trauriger als vorher. Und wenn ihr etwas Schlimmes erfahrt, dann kommt sofort zu mir.“ Sie seufzt „Ich mache euch mal ein paar Vorschläge, was ihr so alles unternehmen könntet.“ 28

Kriegsrat Sara wiederholt ihre Aufforderung: „Bonnie, mach Sitz!“ Bonnie jault auf. Dann bewegt er sich schwerfällig von seinem Lieblingsplatz und verzieht sich beleidigt in die Ecke neben der Heizung. Jana setzt sich. „Liegt dein Hund immer auf dem Bett?“ Sara grinst. „Wenn meine Mutter es nicht sieht, schon.“ Jana holt einen Keks vom Teller und beißt genussvoll herein. „Was hat Frau Rosenstock gesagt, Sara?“ Insgeheim hofft sie, dass die Lehrerin abgeraten hat; denn die ganze Geschichte kommt ihr nach wie vor phantastisch vor. Doch Sara hat sich lange mit Michaela beraten und ist zu dem Schluss gekommen, über eventuelle Bedenken der Lehrerin erst einmal nicht zu reden. Schließlich hatte Frau Rosenstock den Mädchen versprochen, ihnen zu helfen. Das war zunächst einmal genug. „Sie findet die Idee gut. Wir müssten nur Leute finden, die über damals Bescheid wissen, meint sie. Zum Beispiel alte Nachbarn meiner Großeltern fragen.“ „Und deine Omi? Was sagt die dazu?“ Jana ist immer noch skeptisch. „Die würde sich bestimmt freuen, wenn Sara noch lebt. Aber sie ist noch ziemlich durcheinander. Sara war schließlich ihre beste Freundin.“ „Sara will ihrer Omi erst einmal nichts sagen. Denn wenn wir nichts herausfinden, hat sie sich umsonst gefreut.“ Sara nickt. „Oder alle ihre traurigen Erinnerungen kommen zurück. Das muss damals schrecklich gewesen sein.“ 29

Michaela muss seit zwei Tagen immer an Saras Omi denken. Ganz vorsichtig hat sie sich bei ihren eigenen Großeltern erkundigt. Doch die waren über zehn Jahre jünger als Saras Oma und Opa. Als der Krieg zu Ende ging, waren sie noch Kinder gewesen. Von vielen schrecklichen Ereignissen hatten sie gar nichts gewusst. Erst später hatten sie aus Büchern und anderen Berichten davon erfahren. „Irgendwie verstehe ich nicht, dass die da alle mitgemacht haben“, grübelt sie. „Die Juden, die verhaftet und eingesperrt wurden, das waren doch Nachbarn und Freunde, oder nicht?“ Sara spricht aus, was ihr seit gestern immer wieder durch den Kopf geht: „Stell dir mal vor, eine von uns würde mit den Eltern eingesperrt, verschwindet plötzlich. Und dann würden wir uns über 75 Jahre nicht sehen.“ Jana muss plötzlich grinsen: „Das möchte ich mir lieber nicht vorstellen, du in 75 Jahren.“ Doch ein tadelnder Blick ihrer Freundin lässt sie verstummen. Sie merkt, wie ernst Sara die Sache ist. „War nicht so gemeint! Entschuldigung“, murmelt sie verlegen. Richtig böse ist Sara gar nicht, nur enttäuscht, dass sie Jana nicht erklären kann, wie traurig ihre Omi gewesen war und wie sehr sie sich nun Vorwürfe machte, dass sie nach dem Krieg nicht selber nachgeforscht hatte, was aus ihrer Freundin geworden war. Michaela spinnt Saras Gedanken weiter. „Stell dir vor, wir dürften nicht mehr zusammen spielen, weil ich katholisch bin und ihr evangelisch seid.“ Diese Vorstellung findet Jana absurd. „Ätzend!“, meint sie nur. 30

Michaela nimmt ein Blatt Papier, holt sich einen Kugelschreiber und schaut Sara erwartungsvoll an. „Komm, wir schreiben noch einmal auf, was wir alles tun können.“ Bald haben sie eine Liste der Vorschläge von Frau Rosenstock fertiggestellt: Historisches Archiv Geschäft, das den Würzburgers früher gehörte. Nachbarn Jüdische Gemeinde Israelische Botschaft Einwohnermeldeamt. „Und wer macht jetzt was?“ Michaela versetzt Jana einen aufmunternden Schubs. „Wie wäre es, wenn du ins Historische Archiv gehst?“ „Ach nee, nicht allein!“ Jana zuckt etwas verlegen mit den Schultern. Nach einiger Diskussion beschließen die Mädchen, zusammen ins Archiv zu gehen. Als sie am nächsten Tag an der verabredeten Haltestelle aus der Straßenbahn steigen, fragen sie zweimal nach dem Weg. Schließlich finden sie das Gebäude. Ohrenbetäubender Lärm empfängt sie. „Wir bauen gerade um, aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen.“ Die Stimme des Archivbeamten ist lauter als gewöhnlich. Die Mädchen schauen sich fragend an, Michaela gibt Sara einen Stoß. „Gibt’s hier im Historischen Archiv etwas über die Juden in der Stadt?“, beginnt sie. 31

Der Archivbeamte kratzt sich am Ohr. Bei dem Lärm kann man schwerhörig werden. „O ja. Da gibt es sehr viel. Schließlich lebten hier schon im Mittelalter Juden.“ „Wir suchen etwas über Juden in der Hitlerzeit. Für ein Projekt in der Schule. Außerdem wollen wir herauskriegen, was aus einem bestimmten jüdischen Mädchen geworden ist.“ Auch Michaela muss schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Der Archivbeamte ist ernst geworden. „Ist dir eigentlich klar, wie viele Juden damals verschleppt wurden?“ „Ungefähr. Gibt es keine Namenslisten?“ Schon während sie die Frage stellt, erkennt Sara, dass die Antwort vermutlich nicht so einfach ist. „Wie hieß denn das Mädchen, das ihr sucht?“, erkundigt sich der Mann. „Sara Würzburger.“ „Das macht die Sache noch schwieriger. Damals mussten alle jüdischen Frauen und Mädchen zu ihrem Namen den Namen Sara zufügen, und alle Männer den Namen Israel.“ Die Mädchen schauen sich verblüfft an. „Das wusste ich nicht.“ Sara hat sich noch nie Gedanken über ihren Namen gemacht. Nur dass er vor zwölf Jahren sehr beliebt war. „In unserer Klasse gibt es drei Saras. Ich heiße auch so!“, meint sie schließlich lahm. „Ich könnte versuchen, etwas herauszufinden.“ Der Archivbeamte möchte die Mädchen nicht enttäuschen. „Aber dann müsstet ihr noch einmal wiederkommen. Sag doch noch mal alles, was ihr über diese Sara wisst.“ Während der Rückfahrt sind die Freundinnen ziemlich einsilbig. 32

Bei Jeans Schmitz Sara hatte angeboten, das frühere Geschäft der Familie Würzburger zu suchen. Sie musste ja ohnehin jeden Tag mit Bonnie Gassi gehen. Die Regenschauer der vergangenen Tage haben aufgehört. Es ist ein kühler, sonniger Herbsttag, als sie um die Ecke biegt und vor einem Bekleidungsgeschäft stehen bleibt. „Ah. Da ist es: ‚Jeans Schmitz‘“, liest sie. „Bonnie, mach Sitz“, fordert sie dann ihren Hund auf. Bonnie bellt einmal kurz auf, setzt sich dann aber gehorsam hin. Jeans gab es bestimmt noch nicht vor 70 Jahren, überlegt sie. Aber nach der Beschreibung ihrer Großmutter muss das Geschäft hier gewesen sein. Bonnie jault noch einmal. Er hatte sich auf einen längeren Spaziergang gefreut. „Du brauchst mich gar nicht so anschauen. Du siehst doch das Schild ‚Wir müssen leider draußen bleiben‘.“ Während Sara überlegt, ob sie einfach in das Geschäft hineingehen soll, hört sie ein Fahrradgeräusch. Sie dreht sich um und stöhnt innerlich auf. Breit grinsend hält Jens neben ihr. Sein neues Rennrad glänzt in der Sonne. „Ich wollte euch Superdetektive einfach mal bei der Arbeit sehen!“ „Hau ab und nerv nicht, Jens!“, faucht Sara. Entschlossen geht sie durch die Lichtschranke. Die gläsernen Schiebetüren öffnen sich. Sara geht an einen Ständer und schaut die Jeans in ihrer Größe an. „Kann ich etwas für dich tun?“ Der Mann ist Ende fünfzig, blond, mit einigen grauen Haaren und mittelgroß. Sara schaut ihn ratlos an. 33

„Hast du dich schon für eine Farbe entschieden? Diese Blackjeans da kann ich zu einem Sonderpreis verkaufen!“ Die Jeans ist wirklich cool. Doch Sara winkt ab. „Nein danke. Ehm. Wir … wir machen in der Schule ein Projekt über die Hitlerzeit und so.“ „Und was hat das mir zu tun?“ Der Mann ist ehrlich überrascht. „Ihr Geschäft gehörte doch früher der Familie Würzburger.“ Nun ist es heraus. Sara atmet tief durch. Hoffentlich wird der jetzt nicht wütend, denkt sie. Doch wütend ist der Mann wirklich nicht, nur verwundert. Er überlegt eine Weile. „Hm … stimmt“, meint er dann nachdenklich. „Mein Vater hat den Namen einmal erwähnt. Aber er sprach nicht gern darüber.“ „Meine Oma, die kannte damals die Würzburgers. Und weil wir dieses Projekt in der Schule machen, wollen wir gern wissen, …“ Das Gespräch verläuft glatter, als sie befürchtet hatte. „… was aus der Familie geworden ist“, vollendet Jupp Schmitz den Satz für sie. „Ja.“ „Hm. Ich fürchte, da weiß ich zu wenig.“ Es tut ihm wirklich leid, das Mädchen zu enttäuschen. „Hat Ihr Vater Ihnen nicht mehr darüber erzählt?“ „Nein. Viele Deutsche haben damals jüdische Geschäfte übernommen.“ Was er Sara nicht erzählen möchte, ist die Tatsache, dass er selber seinen Vater einmal nach der jüdischen Familie gefragt hatte. Doch sofort war ihm deutlich 34

geworden, dass Heinz Schmitz nicht darüber sprechen wollte. Viele Fragen waren unbeantwortet geblieben. Und sie würden wohl auch nie beantwortet werden, weil sein Vater wie auch seine Mutter nicht mehr lebten. „Mein Vater hat das Geschäft damals übernommen, nachdem fast alle jüdischen Geschäfte zerstört worden waren. Damals, im November 1938.“ Herrn Schmitz’, Miene wird zunehmend abweisend. „Haben Sie die Würzburgers denn gekannt?“, unternimmt Sara einen letzten Vorstoß. Dieses Mal antwortet der Ladeninhaber bereitwilliger. „Nein! Ich wurde erst nach dem Krieg geboren.“ „Und Sie wissen auch nicht, wo die hingezogen sind, nachdem sie das Geschäft nicht mehr hatten?“ Wenn sie will, kann Sara sehr hartnäckig sein. Herr Schmitz überlegt. „Ich meine, das war irgendwo im Altbauviertel hinter dem Markt, hat mein Vater gesagt. Aber an den Straßennamen kann ich mich wirklich nicht mehr erinnern.“ „Schönen Dank. Auf Wiedersehen.“ „Komm, Bonnie.“ Sara bindet ihren Hund los und nimmt sich vor, ihn mit einem längeren Spaziergang für die Wartezeit zu entschädigen; denn sie möchte in Ruhe nachdenken. Jens ist immer noch da. „Na, hast Du Dir auch eine Jeans-Jacke gekauft?“, erkundigt er sich. „Die sind total gefragt. Steffen und Lars haben auch so eine.“ Sara möchte mit ihm nicht über das gerade Erlebte reden. „Die Jacke steht Dir wirklich gut“, wendet sie sich daher beschwichtigend an Jens. 35

Ein interessanter Besuch Gedankenverloren blättert Sara im Telefonbuch. Unter ‚Kirche‘ hat sie keinen Hinweis auf eine jüdische Einrichtung gefunden. Auch unter ‚S‘, dem Anfangsbuchstaben für Synagoge, steht nichts. Aus dem Religionsunterricht weiß sie, dass sich Juden zum Gebet in der Synagoge versammeln. Da fällt ihr etwas ein. Sie blättert erneut, sucht … „Warte, ich hab’s. Hier, unter ‚Jüdische Gemeinde‘“, murmelt sie. „Aber da ist nur eine Telefonnummer, keine Adresse. Ich rufe einmal an.“ Etwas beklommen ist ihr doch zumute, als sie sich am nächsten Morgen auf den Weg macht. Eigentlich wollte sie nicht allein gehen. Sie hatte gehofft, dass die anderen nichts vorhätten an diesem schulfreien Morgen. Aber der Lehrerausflug stand schon lange fest. Deshalb hatten Michis und Janas Eltern andere Pläne gemacht. Michaela muss ihre Mutter zu einem Verwandtenbesuch begleiten und Jana hat einen Termin beim Kieferorthopäden. Da der freundliche Mann am Telefon gesagt hatte, dass er heute Vormittag etwas Zeit hätte, ist Sara allein in die U-Bahn gestiegen, um der Jüdischen Gemeinde einen Besuch abzustatten. „Eigentlich komisch!“, denkt sie. „Jetzt wohne ich schon so lange hier und habe nie gewusst, dass es in dieser Stadt auch eine Synagoge gibt.“ Obwohl – Omi hatte doch von so einer Feier erzählt, bei der Saras Bruder etwas aufsagen musste. Vielleicht war das ja in dieser Synagoge gewesen. Das Gebäude sieht in der Tat alt genug aus. Neben dem Haus steht ein Polizeiauto. Einer der Polizisten schaut kurz in Saras Richtung, um sich dann wieder seiner Zeitung zu widmen. Eine Weile steht sie unentschlossen vor der Tür. 36

Aus dem Innenraum dringt Gesang in einer fremden Sprache. Auf ihr zaghaftes Klopfen erscheint ein Mann mit einer schwarzen Kappe auf dem Kopf. „Wir sind noch nicht mit dem Morgengebet fertig. Du bist sicher das Mädchen, von dem unser Rabbiner gesprochen hat.“ Sara blickt an dem Mann vorbei auf die Versammlung. Alle Männer tragen die gleiche Kopfbedeckung. Frauen sind nicht zu sehen. „Brauche ich auch so eine Kappe?“, flüstert Sara, als die Tür hinter ihr leise ins Schloss fällt. „Nein. Nur Männer setzen eine Kippa auf, wenn sie in die Synagoge gehen. Aus Ehrfurcht, um Gott nicht mit bloßem Haupt entgegenzutreten.“ Der Gesang wird nun lauter und der Mann übersetzt bereitwillig im Flüsterton: „Der Herr der Welt, der hat regiert, bevor noch ein Geschöpf ist geschaffen worden. Zur Zeit, als alles ward gemacht nach seinem Willen, ward er der Welten König …“ „Er ist mein Gott mein ewig lebender Erlöser … In seine Hand befehle ich meinen Geist, ob ich schlafe, ob ich wache, und mit dem Geist meinen Leib in seine Hand! Gott mit mir Da fürchte ich nichts!“ Das Gebet scheint zu Ende zu sein. Die Männer erheben sich, strömen zum Ausgang. Ihr Begleiter geht mit Sara nach unten und stellt sie dem Rabbiner vor. „So. Du bist wohl das Mädchen, das angerufen hat“, wendet er sich an Sara. „Jetzt habe ich Zeit für dich!“ „Das klang eben fast wie bei uns im Gottesdienst“, stellt Sara 37

fest. Trotz der fremden Sprache war das Gehörte ihr irgendwie vertraut. „Wir Juden haben ja keinen anderen Gott als ihr. Wir glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat. Dass er mächtig und gütig zu den Menschen ist.“ „Ja, und … wo ist dann der Unterschied?“ Sara ist etwas verblüfft. „Ihr glaubt, dass Jesus der erwartete Messias war. Wir Juden sind überzeugt, dass der Messias noch kommen wird.“ „Ach ja?“, erwidert Sara etwas lahm. Sicher – sie hatte im Religionsunterricht gehört, dass Jesus auch Messias genannt wurde. Aber wie konnte er dann noch kommen? Er hatte doch schon gelebt – vor ungefähr 2000 Jahren. „Dazu gibt es eine hübsche Geschichte!“ Man merkt, dass Aaron Levi häufig Gäste in der Synagoge begrüßt und gerne Geschichten erzählt. Ein frommer Rabbi – ein Religionslehrer also - wurde in seinem Studium der heiligen Bücher unterbrochen. Ein aufgeregter Schüler stürmte in den Raum und rief: „Meister, Meister, der Messias ist gekommen!“ Der Rabbi erhob sich und sah aus dem Fenster. Nach einer Weile murmelte er: „Nichts hat sich geändert“ - und kehrte zu seinem Studium zurück. „Und was sollte sich ändern? Was hat er denn erwartet?“, will Sara nun doch wissen. „Wenn der Messias wirklich kommt, dann müsste alles ganz anders werden. Dann dürfte es keinen Hunger, keinen Krieg mehr geben. Eben eine ganz neue Welt, so wie es sie leider noch nicht gibt. Deshalb warten wir ja auch noch auf den Messias!“ 38

Aaron Levi erinnert sich an das Telefongespräch. „Aber du wolltet doch eigentlich etwas anderes wissen?“ Sara nickt. „Wir machen in der Schule ein Projekt: Was unsere Großeltern in der Hitlerzeit erlebten. Und da wollten wir herausfinden, was aus der Freundin meiner Omi geworden ist. Die hat früher zu dieser Gemeinde gehört, glaube ich. Sie hieß Sara Würzburger.“ „Hm“, überlegt der Rabbiner. Eine Weile sagt er nichts. „Haben Sie vielleicht eine Liste der Gemeindemitglieder aus der Zeit?“, bohrt Sara. Schließlich bricht Aaron Levi das Schweigen. Bedauern spricht aus seiner Stimme. „Das war lange vor meiner Zeit. Da müsstest du noch einmal wiederkommen. Am besten am Freitag. Dann weiß ich mehr. Dann kannst du übrigens eine Bar-Mizwa erleben.“ Gedankenverloren tritt Sara vor die Tür. „Steht immer ein Polizeiauto hier auf der Straße?“, erkundigt sie sich beim Rabbiner. „Das ist leider notwendig! In unserem Land gibt es immer noch Menschen, die Juden nicht mögen. Sie pöbeln unsere Glaubensgeschwister an, machen dumme Judenwitze und beschädigen jüdisches Eigentum.“ Sara ist fassungslos. „Haben die denn nicht verstanden, was damals Furchtbares passiert ist, dass alle Menschen gleich sind, egal welche Religion sie haben?“ „Sicher gibt es viele Menschen, die die Verbrechen der Nazizeit unvorstellbar grausam fanden, die in guter Nachbarschaft mit uns leben und sich dafür einsetzen, dass Juden in 39

Deutschland nie wieder etwas Böses zustößt“, beschwichtigt der Rabbiner. „Aber Judenfeindlichkeit gibt es seit Jahrtausenden und leider heute auch. Es gibt Menschen, die sind überzeugt, dass man Juden nicht trauen kann, dass man mit ihnen keine Geschäfte machen soll und dass sie selber schuld daran sind, dass man sie verfolgt hat.“ Betroffen schaut Sara in Richtung Polizeiauto. „Manchmal gibt es sogar Brandanschläge auf Synagogen. Ich glaube allerdings nicht, dass so etwas hier passieren könnte. Doch …“ Aaron Levi zögert. Was er dem Mädchen nicht erzählt: dass neulich jemand auf dem jüdischen Friedhof willkürlich Gräber beschmiert und eines sogar umgeworfen hat.

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Erinnerungen Seit der Fernsehübertragung hat sich das Leben von Saras Großeltern unmerklich verändert. Frau Meyer ist ernster und nachdenklicher als früher. Immer wieder bringt sie das Gespräch auf ihre Jugendfreundin Sara. Doch spricht sie nur vorsichtig von damals. Manchmal bricht sie ihre Erzählung unvermittelt ab und verlässt das Zimmer. Wenn sie dann nach einer geraumen Weile zurückkommt, sieht man, dass sie geweint hat. Karl und Anna Meyer hören Radio. Die Musik ist eben verstummt. Der Nachrichtensprecher ist nun fast beim Wetter angelangt. Soeben hatte er von Jugendlichen berichtet, die an einer jüdischen Gedenkstätte Unrat abgeladen und anschließend den Stein mit der Inschrift mit üblen Hakenkreuzschmierereien verunstaltet hatten. Frau Meyer seufzt. „Seit der Fernsehsendung neulich geht mir Sara nicht mehr aus dem Kopf.“ Ihr Mann nickt zustimmend. „Mir auch nicht. Vor allem wenn man von solchem Unfug in den Nachrichten hört. Haben die denn nichts dazugelernt?“ „Ich glaube, viele Jugendliche wissen gar nicht, was sie da anrichten.“ „Wie sollten sie auch!“ Anna Meyer reagiert heftiger als beabsichtigt. „Auch wir haben mit Sara nie über die Zeit damals gesprochen. Unsere Enkelin weiß auch viel zu wenig!“ „Ich weiß, dass du dir die Sache sehr zu Herzen nimmst. Aber ich bin mir auch sicher, dass unsere Sara nie so etwas tun würde, selbst wenn sie nichts von früher weiß.“ „Schon. Doch glaube ich, unsere Sara hat trotzdem noch nicht verstanden, wie das damals war.“ 41

„Das ist auch schwer“, gibt Karl Meyer ihr Recht. „Aber du hast ihr doch gesagt, dass sie deine beste Freundin war.“ „Ich hätte ihr mehr erzählen sollen, Dass ich mich immer auf sie verlassen konnte, dass ich ihr alles anvertraut habe.“ „Ich glaube, das hat sie schon verstanden.“ Karl Meyer ist besorgt. Seine Frau schläft schlecht und grübelt zu viel. Erst in den letzten Tagen war ihm klar geworden, dass es vielleicht besser gewesen wäre, nach dem Krieg genauere Nachforschungen anzustellen, was aus Familie Würzburger geworden sei. Aber jetzt war es dazu zu spät. Und ihr Gesundheitszustand ist auch nicht der beste. Erst neulich hatte der Arzt ihn darauf hingewiesen, dass ihr Herz nicht gesund sei und er Aufregung nach Möglichkeit von seiner Frau fernhalten sollte. Unerwartet huscht ein Lächeln über das faltige Gesicht von Anna Meyer. „Damals, als ich den Schwamm auf den Stuhl von Fräulein Kleinke gelegt habe, da hat sie mich nicht verraten. Sie musste sogar für mich nachsitzen.“ Frau Kleinke war die Handarbeitslehrerin gewesen, damals vor vielen Jahren, als Anna und Sara Würzburger noch in dieselbe Klasse gingen, unzertrennlich waren und so manchen Streich ausgeheckt hatten. Das erst verdutzte und dann purpurrot anlaufende Gesicht der Lehrerin, als sie ihren klatschnassen Rock abtastete und sich wütend in der Klasse umsah, hatte bei den Freundinnen prustendes Gelächter hervorgerufen. Das Gelächter war erst verstummt, als Frau Kleinke Saras nassen Ärmel entdeckte und daraus messerscharf schloss, dass sie den Schwamm dorthin gelegt haben musste. Anna hatte 42

die Idee mit dem Schwamm gehabt. Doch Sara hatte auf die Frage, wer noch dabei war, der Lehrerin versichert, dass sie den Streich allein ausgeheckt hatte. Sara musste nachsitzen, und Anna hatte sie später abgeholt. Gemeinsam hatten sie sich auf eine Mauer gesetzt und die Kirschen verspeist, die Anna mitgebracht hatte. Immer wieder hatten sie über Frau Kleinke gekichert. „Wer war das?“, hatte Sara gerufen und dabei die Stimme der Lehrerin täuschend echt nachgeahmt. Die Stimme ihres Mannes reißt sie aus ihren Gedanken: „Dann versuche doch, deine Sara so in Erinnerung zu behalten“, schlägt Karl vorsichtig vor. „Über das, was nachher passiert ist, weißt du doch zu wenig.“ Anna Meyer hat das immer wieder versucht, wenn sie über die Zeit damals grübelte. Sie hatte sich auch an andere lustige Begebenheiten erinnert. Einmal hatten Sara und sie dem Klavierschüler von Annas Tante die Ärmel seines Mantels zugenäht. Von einem Treppenabsatz hatten sie dann beobachtet, wie der junge Mann mit hochrotem Gesicht vergeblich bemühte, sich in den Mantel zu zwängen. Sara und sie hatten auch viel zusammen gespielt: mit Saras Puppenhaus und mit dem Kaufladen, den Anna einmal zu Weihnachten bekommen hatte. Bei gutem Wetter waren sie oft auf der Straße gewesen, hatten Fangen und Verstecken gespielt. Doch gerade in den Morgenstunden, wenn Anna Meyer wach lag, kamen die traurigen Erinnerungen, als Sara nicht mehr auf ihrer Schule bleiben durfte und wegziehen musste. „Aber als sie mich wirklich brauchte, konnte ich ihr nicht helfen.“ Karl kann den traurigen Blick Annas kaum ertragen. 43

„Das war nicht deine Schuld.“ „Aber ich hätte nach ihr suchen sollen nach dem Krieg.“ Diesen Vorwurf kann und will sich Anna Meyer nicht ersparen. „Aber alle dachten doch, dass sie tot ist, wie die vielen anderen auch!“ Plötzlich muss Anna Meyer wieder an ihre Enkelin denken. „Und was ist, wenn Sara wieder Fragen stellt? Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sara wollte unbedingt die Adresse wissen von der Wohnung, wo ich Sara das letzte Mal gesehen habe. An die Nummer kann ich mich noch gut erinnern. Einundachtzig. Aber die Straße fällt mir nicht mehr ein … irgendein Dichter, glaube ich.“ Karl Meyer erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel. Er schaltet das Radio aus. Während der letzten Minuten ist keiner von beiden dem Programm gefolgt. „Wir sollten zu Bett gehen, Anna!“, meint er dann.

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Wichtige Informationen Dieses Mal haben sich die Freundinnen bei Jana getroffen. Sara möchte nicht so gern, dass bei ihr zu Hause von dem Projekt gesprochen wird, damit ihre Mutter der Großmutter nichts erzählen kann. Sara sieht ziemlich zufrieden aus. „Der Mann aus dem Jeansshop sagte, dass sein Vater den Laden von den Würzburgers übernommen hat. Er selber war damals noch ganz klein.“ „Was heißt hier eigentlich übernommen?“, wundert sich Jana. „Denkt ihr, dass die Würzburgers ihr Geschäft freiwillig aufgegeben haben?“ „Keine Ahnung. Das hat er nicht gesagt. Sein Vater sprach wohl nicht so gern über damals.“ Jana und Michaela sehen Sara erwartungsvoll an. Sie sieht aus, als ob sie noch mehr weiß. Ganz bewusst wartet Sara noch einen Moment, um die Spannung zu steigern. „Er – also der Typ aus dem Jeansshop – meint, die Würzburgers sind in das Altbauviertel hinter den Markt gezogen.“ Jana ist hellhörig geworden. „Und meine Omi meint, die Hausnummer war 81. Und der Name der Straße war irgendein berühmter Dichter, so wie Goethe. Aber sie weiß es nicht mehr genau.“ Sara steht auf und läuft in die Garderobe, wo sie Jacke und Tasche abgelegt hat. Einen Moment später kommt sie mit einem Stadtplan zurück. Bald beugen sich drei Köpfe über das Gewirr aus Straßen. Es dauert eine Weile, bis sie sich zurechtfinden. 45

„Schau, das ist der Marktplatz!“ Janas Daumen tippt auf einen Punkt in der Nähe des Südbahnhofs. „Schillerstraße“ entziffert Sara, „und wartet mal, dahinter ist die Goethestraße.“ Michaela dämpft ihre Begeisterung: „Hoffentlich gibt es die Nummer 81 überhaupt.“ Mit einem Mal wird den Mädchen klar, dass sie einen genauen Zeitplan machen müssen. Schulaufgaben sind in letzter Zeit ohnehin fast Nebensache geworden, sehr zum Leidwesen von Janas Eltern. „Dieses Viertel hinter dem Bahnhof mit den Dichterstraßen müssen wir uns unbedingt genauer ansehen.“ Plötzlich fällt Jana etwas ein. „Einer von uns muss auf alle Fälle noch einmal ins Archiv. Wir sollen wiederkommen, hat der Mann gesagt.“ Sara tippt sich an die Stirn „Ach ja. Wiederkommen soll ich übrigens auch, in die Synagoge zu so einer Feier, nächsten Freitag. Kommt ihr mit?“ „Machen wir“, stimmt Jana zu „aber vorher muss ich noch in der israelischen Botschaft anrufen.“ Jana verschwindet im Wohnzimmer, um zu telefonieren. „Sara, in die Synagoge kommst du aber ohne Bonnie!“ „Den binde ich draußen an“, kontert ihre Freundin. Nun muss Jana doch lachen: „Uns bleibt auch nichts erspart“, prustet sie. Die Freundinnen sind froh, dass Jana das Telefongespräch übernommen hat. Sara telefoniert nicht gern mit Leuten, die sie nicht kennt. Doch Janas Vater ist Arzt, und sie hat schon öfter Telefondienst für die Praxis gemacht, wenn die Sprechstundenhilfe krank war. 46

„Worüber lacht ihr?“ Janas Telefongespräch hat nicht lange gedauert. Sie hatte dem Botschaftsangehörigen mitgeteilt, dass sie gern eine Auskunft über eine Frau hätte, die vielleicht in Israel lebt. Doch der hatte geantwortet, dass er so ohne weiteres keine Auskunft am Telefon geben könne. In welcher Stadt sich die Gesuchte wahrscheinlich aufhielte? Darüber konnte Jana natürlich nichts sagen. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie noch lebt. Der Botschaftsmitarbeiter hatte dann noch den Rat gegeben: „Schreibe dein Anliegen in einen Brief. Und den leiten wir dann weiter. Übrigens: du kannst auch versuchen, über das Internet etwas herauszufinden.“ „Und was nun?“ Michaela schaut erwartungsvoll in die Runde. „Ich mache einen schönen Spaziergang zum Archiv!“, verkündet Jana. „Und wir treffen uns alle am Freitag bei der Synagoge.“ Mit diesen Worten verabschiedet sich Sara. Es ist schon ziemlich spät. Die drei hatten ganz die Zeit vergessen.

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Düstere Neuigkeiten Jana verzichtet wirklich auf den Bus, um zum Historischen Archiv zu kommen. Es ist kühl. Der Himmel ist wolkenverhangen. Aber noch regnet es nicht. Jana hat sich Saras Stadtplan ausgeliehen. Inzwischen kann sie auch schon besser damit umgehen. Zwei Mal muss sie fragen. Dann ist sie am Ziel. Sie erkennt das Gebäude sofort wieder. Der Archivbeamte erinnert sich noch: „Ach, da bist du ja wieder. Wo sind denn die anderen?“ Er geht in einen Nebenraum und kommt einen Moment später mit einem Aktenordner zurück. „Ich habe für euch einige Nachforschungen angestellt“, beginnt er. „Und was haben Sie herausgefunden?“ Jana ist etwas ungeduldig, denn sie hat ihren Eltern versprochen, noch etwas für die Schule zu tun. Außerdem hofft sie, dass sie vor dem drohenden Regen nach Hause kommt. Der Mann blättert einen Stapel Papier durch. „Es gab da ein Geschäft Würzburger, das von einer Familie Schmitz übernommen wurde.“ Jana nickt. „Weiß ich. Wieso konnten die das so einfach?“ Der Archivbeamte zögert etwas. Er hatte sich auf das Gespräch vorbereitet. Trotzdem fällt es ihm nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. „Ja, weißt du, Juden lebten ja schon seit vielen Jahrhunderten in Deutschland. Und viele von ihnen waren berühmte Wissenschaftler, Künstler, Bankiers und Geschäftsleute.“ Jana schaut ihn erwartungsvoll an. „Aber immer wenn Menschen erfolgreich sind, dann gibt es 48

andere Menschen, die darauf neidisch sind. Und das haben die Nationalsozialisten ausgenutzt.“ Er macht eine kurze Pause. „Deshalb haben sie die Leute in Deutschland aufgehetzt, dass es den Juden hier zu gut geht, dass sie zu reich sind.“ Jana hört nun gebannt zu: „Aber deshalb kann man ihnen doch nicht einfach ihre Geschäfte wegnehmen!“ Obwohl der Archivbeamte nicht zum ersten Mal darüber spricht, hat er erneut Probleme, das Unfassbare zu formulieren. „Auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris war damals ein Attentat verübt worden. Der Täter war ein Jude. Und das haben die Nationalsozialisten als Vorwand genommen. In einer einzigen Nacht haben sie 91 Juden ermordet. Sie haben viele Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört. Und danach hat man angefangen, die Juden in Lager zu verschleppen und zu töten. Ihre Geschäfte wurden später von Deutschen übernommen.“ Jana hat die Zeit vollkommen vergessen. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Die Geschichte kommt ihr gleichzeitig unwirklich und fürchterlich vor. „Schrecklich“, murmelt sie. „Und was ist aus den Würzburgers geworden?“ „Zuletzt hat die Familie in der Lessingstraße gewohnt. Dann ist sie in ein Lager gekommen. Nathan Israel Würzburger und seine Frau Rahel Sara Würzburger sind höchstwahrscheinlich umgekommen. Heute erinnern in vielen Städten ‚Stolpersteine‘ an verschleppte und umgebrachte Juden“, fügt er hinzu. Der Raum verdunkelt sich plötzlich. Es gießt in Strömen. 49

Die nächste Frage wagt Jana kaum zu stellen. „Und Sara … ist die auch …“ Sie zögert, um das richtige Wort zu finden „… gestorben?“ Der Archivbeamte zuckt bedauernd mit den Schultern. „Ich habe von den Eltern gesprochen. Ob eure Sara dabei war, konnte ich nicht herausfinden.“ Jana steigt langsam die Eingangsstufen herunter. Sie spürt den strömenden Regen kaum, als sie nach Hause eilt. Das Wetter spiegelt ihre Stimmung wider: düster und hoffnungslos. Die Vorwürfe ihrer Mutter, dass sie viel zu spät dran sei, um alle Hausaufgaben gründlich zu erledigen, lassen sie verhältnismäßig ungerührt.

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Kluge Bonnie Dieses Mal haben sich Janas Eltern durchgesetzt. Sie muss zu Hause bleiben und für die Mathearbeit büffeln. Deshalb sind Michaela und Sara allein losgezogen, um nach der Nummer 81 zu fahnden. Bonnie trabt glücklich nebenher. Dann und wann schnüffelt er an einem Baum und untersucht, was seine Vorgänger zurückgelassen haben. „Mist. Schillerstraße 81 gibt es gar nicht.“ Beide Mädchen sehen sich ratlos an. „Und das Haus vorhin in der Goethestraße war ein Neubau“, stellt Michaela mutlos fest. „Bonnie, bleib hier!“ Laut bellend rennt Bonnie los und verschwindet in einer Nebenstraße. „Warum hast du sie nicht an der Leine!“ Michaela ist etwas sauer. Schließlich hat sie Wichtigeres zu tun, als ständig Saras Hund einzufangen. Doch Sara schenkt ihr keine Beachtung. „Die ist hinter der Katze her, links um die Ecke!“, keucht sie. Beide laufen los. Als sie in die Nebenstraße einbiegen, bietet sich ihnen ein komisches Bild. Bonnie steht vor einem Haus mit verwildertem Garten und bellt wie verrückt. Über ihr thront unerreichbar eine Katze mit erhobenem Schwanz und gesträubtem Fell. Sie faucht wütend, macht aber keine Anstalten zu fliehen. Die Mauer ist viel zu hoch. „Die kriegst du doch nicht“, tröstet Sara, als sie nun doch die Leine fest macht. „Hier gibt es wenigstens nicht so viele Neubauten.“ 51

Michaela deutet auf das Straßenschild: „Schau, Lessingstraße. Lessing war doch auch ein berühmter Dichter.“ Nach ein paar Hundert Metern finden sie die Nummer 81. Bevor sie klingeln können, öffnet sich die Haustür. Eine Frau erscheint. „Sucht ihr etwas?“ „Ist das hier Lessingstraße 81?“, fragt Sara, um etwas Zeit zu gewinnen. „Wer seid ihr? Zu wem wollt ihr denn?“ „Wir machen ein Schulprojekt. Wir wollten uns nach Leuten erkundigen, die vielleicht früher hier gewohnt haben. Familie Würzburger.“ Die Hausbewohnerin schüttelt den Kopf. Sie deutet auf das Schild neben der Klingel. „Schulze“ steht da auf einem abgeblassten Schild. „Das muss aber lange her sein.“ Sara nickt. „Ja, vor 75 Jahren ungefähr.“ Die ältere Frau überlegt. „Da war ich noch ganz klein. Jünger, als ihr jetzt seid.“ Sie schweigt einen Moment. Schüttelt dann abermals den Kopf. „Ihr meint doch nicht die jüdische Familie …“ „Doch.“ Sara klopft das Herz bis zum Hals. „Wenn ihr diese Familie meint …“ Die Frau verstummt hilflos. „Die hat nur kurze Zeit hier gewohnt. Dann wurden sie abgeholt.“ „Wie war das genau? Erzählen Sie bitte!“ Michaelas Stimme nimmt einen beschwörenden Ton an. Mit leiser Stimme, und immer wieder stockend, als müsste sie überlegen, ob ihre Erinnerungen sie nicht trügen, beginnt die 52

Frau zu erzählen: „Da ist eines Tages ein Lastwagen vorgefahren. Und dann mussten die armen Leute einsteigen. Jeder durfte nur einen Koffer mitnehmen.“ Die Frau schweigt, in Gedanken versunken. Die Mädchen wagen lange nicht, sie zu unterbrechen. Dann fragt Sara: „Erinnern Sie sich, wer dabei war? War da ein junges Mädchen, ungefähr 14 Jahre alt?“ Sara wagt kaum zu atmen. „Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Es war im Morgengrauen. Ich war gerade erst aufgewacht, als der Lastwagen kam.“ „Können Sie sich nicht an noch mehr erinnern?“, bohrt Michaela nach. Frau Schulze denkt nach. Aus weiter Ferne erscheinen undeutliche Bilder. Sie war damals gerade in die Schule gekommen, also gerade sechs Jahre alt geworden. Nur undeutlich erinnert sie sich, dass sie sich damals sehr gefürchtet hatte. Ihre Mutter war so merkwürdig, so unsicher gewesen. Erst später war ihr klar geworden, dass auch sie Angst hatte. Wenn die Polizei, welche die jüdische Familie abholen wollte, geargwöhnt hätte, dass sie etwas verschweigen, wären sie auch in Schwierigkeiten gekommen. Plötzlich steht ihr die Szene wieder deutlich vor Augen. Sie spürt, wie sie die Hand ihrer Mutter umklammert hat und ängstlich in den Hof späht. Es war kalt gewesen und früh am Morgen, noch nicht ganz hell. Die Scheinwerfer des Lastwagens hatten einen Lichtkegel in den dunklen Vorgarten geworfen und den Hof in ein fahles Licht getaucht, jedoch nicht alle Ecken und Winkel ausgeleuchtet. „Ich weiß nur noch, dass einer der Männer irgendwas gebrüllt 53

hat wie: „Da fehlen doch zwei. Die stehen noch auf meiner Liste.“ „Aber wer gefehlt hat, wissen Sie nicht?“, erkundigt sich Sara angespannt. Ohne genau zu wissen warum, spürt sie, dass sie ganz nah an der Wahrheit ist. Aus Frau Schulzes Blick spricht ehrliches Bedauern. „Leider nein. Aber die haben dann noch bei uns alles durchsucht, doch niemanden gefunden. Meine Mutter hatte große Angst. Und ich auch.“ Die Mädchen schauen sich an. Ohne Worte verständigen sie sich schweigend, dass es besser ist zu gehen und keine weiteren Fragen zu stellen. „Vielen Dank noch!“, murmelt Sara und merkt gleichzeitig, dass sie eigentlich mehr sagen müsste. Aber das schafft sie nicht. Sara streichelt ihren Hund. „Kluge Bonnie!“, wiederholt sie mehrere Male.

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Bar-Mizwa Am nächsten Morgen in der Schule bietet sich keine Gelegenheit, in Ruhe zu reden. Direkt nach der Mathearbeit haben sie Sport. Der Umkleideraum ist voll von Mädchen, die durcheinander quatschen und lachen. Erst am Nachmittag, als sie sich vor der Synagoge treffen, haben sie Zeit, alles Wichtige auszutauschen. Das Polizeiauto steht immer noch da. Jedoch sitzt ein anderer Polizist am Steuer. Weder er noch sein Kollege schenken den Mädchen große Beachtung. „Wir haben wirklich die Wohnung gefunden, in der die Würzburgers zuletzt gewohnt haben“, platzt Michaela heraus. „War das etwa in der Lessingstraße?“ Eigentlich wollte Jana die anderen etwas auf die Folter spannen. Aber das ging jetzt nicht mehr, da Sara und Michi so viel herausgefunden hatten. Sara ist verblüfft. „Stimmt. Woher …“ „Der Mann im Archiv hat gesagt, dass die da zuletzt gewohnt haben“, unterbricht sie Jana. „Die Frau meinte, dass damals nicht alle Würzburgers abgeholt wurden. Da hat jemand gefehlt.“ Sara weiß selber nicht genau, warum sie flüstert. Denn niemand ist auf der Straße zu sehen, und das Polizeiauto ist so weit entfernt, dass selbst die Polizisten ihr Gespräch nicht mithören könnten. „Und wer hat gefehlt?“ Jana ist richtig aufgeregt. Obwohl sie zunächst gegen die Projektarbeit war, findet sie inzwischen die ganze Sache total aufregend. „Das wusste die Frau nicht.“ Sara spricht immer noch sehr leise. „Aber stell dir vor, wenn es Sara gewesen wäre.“ 55

Als Schritte zu hören sind, drehen sich die Mädchen um. „Warum wartet ihr hier draußen?“, begrüßt sie der Rabbiner. „Ich wollte euch noch die Synagoge zeigen, bevor die Feier beginnt.“ Die Mädchen folgen Aaron Levi in den Innenraum. „Seht ihr den Schrank dort drüben? Darin werden die TorahRollen aufbewahrt.“ Er deutet in die rechte Ecke. „Torah. Das sind die fünf Bücher Mose, nicht wahr!“, erinnert sich Michaela. Der Rabbiner nickt. Sara betrachtet die schweren Bücher etwas skeptisch. „Die Torah-Rollen werden doch sicher mal herausgeholt? Aber sie sehen so schwer aus!“ „Ein Helfer trägt sie zum Lesepult. Die Gemeinde steht dann auf und begrüßt die Torah“, erklärt der Rabbiner. „Sie wird noch mit der Hand geschrieben, auf Hebräisch. Übrigens: Die Würzburgers gehörten zur Gemeinde. Ich habe ein altes Foto gefunden.“ Er holt einen Umschlag aus der Tasche. Vorsichtig entnimmt er ihm ein Foto mit den Jungen, die 1938 ihre Bar-Mizwa hatten. David Würzburger war auch dabei. Eine Weile blicken alle schweigend auf das alte Schwarzweißfoto. Jana denkt an das, was der Mann im Archiv erzählt hat. Sie beschleicht das ungute Gefühl, dass die meisten Jungen auf dem Foto nicht mehr leben. Nicht nur das, auch dass sie jung gestorben sind, viel zu jung. „Meine Omi wurde damals zur Bar-Mizwa eingeladen“, fällt es Sara wieder ein. „Das ist so etwas Ähnliches wie unsere Konfirmation, hat sie gesagt.“ „Stimmt.“ Aaron Levi gibt ihr Recht. „Jüdische Jungen werden mit 13 Jahren Bar Mizwa. Das bedeutet Sohn der Pflicht. 56

Bei der Bar-Mizwa-Feier müssen sie dann vor der Gemeinde ein Stück aus der Torah auf Hebräisch vorlesen. Das werdet ihr gleich erleben. Inzwischen hat sich die Synagoge gefüllt. Die Menschen stehen dicht gedrängt. Auf einen Wink des Rabbiners steigen die Mädchen auf die Empore, von wo sie einen guten Überblick haben. „Bei der Kommunion meines Bruders war die Kirche auch so voll!“, flüstert Jana. Ein Junge in ihrem Alter geht nach vorn. Wie die anderen Männer trägt er eine schwarze Kappe. Mit deutlicher Stimme redet er die Versammlung an: „Sehr geehrter Herr Rabbiner, liebe Eltern, werte Gäste. Zuerst gilt mein inniger Dank Gott, der mich in Liebe bis zum heutigen Tag gebracht hat. Der mir dieses Elternhaus gegeben hat und es mir vergönnt hat, im Kreise meiner Großeltern diesen Tag zu feiern …“ Gebannt lauschen die Freundinnen der Feier. Der Junge deutet mit einem silbernen Stab auf die Zeilen, die er in einer fremd klingenden Sprache vorliest. Der Rabbiner hatte ihnen vorher erklärt, dass es hebräisch ist. Der Junge spricht den Text mit lauter Stimme in einer bestimmten Melodie. Nach der Bar-Mizwa müssen sie noch längere Zeit Geduld haben, bis Aaron Levi wieder Zeit für sie hat. „Wir gehen kurz nach draußen“, teilt Aaron Levi den wartenden Mädchen mit. „Hier drinnen sind immer noch zu viele Menschen.“ „Hebräisch ist sicher schwer!“, meint Sara Aaron Levi gibt ihr Recht. „Ja. Deshalb haben die Jungen auch vorher Unterricht, so wie ihr bei der Kommunion oder Konfirmation.“ 57

„Da müssen wir aber Gott sei Dank keine fremde Sprache lernen!“ Noch mehr Büffelei wäre das Letzte, was Jana Spaß machen würde. „Und was ist mit den Mädchen?“ Michaela will immer alles genau wissen. „Die Mädchen werden mit zwölf Jahren Bat-Mizwa, ‚Tochter der Pflicht‘. Aber sie müssen vorher nicht hebräisch lernen, zumindest bei den orthodoxen, das heißt streng gläubigen Juden.“ „Dann haben die es leichter. Finde ich gut!“ Michaela wirft Jana einen leicht tadelnden Blick zu. „Ich nicht. Das klingt ja so, als seien die Mädchen zu blöd dazu, die Torah zu lesen.“ „Dabei sind Mädchen oft besser in Sprachen!“, pflichtet Sara ihr bei. „Das ist richtig! Jüdische Mädchen haben früher die Sprache der Länder, in denen sie lebten, oft besser gekonnt als ihre Brüder.“ Das wundert Michaela nicht. Aaron Levi lächelt beschwichtigend. „Aber trotzdem dürfen nur Jungen und Männer die Torah lesen. Und wenn ein Junge Bar-Mizwa ist, ist er religiös erwachsen und wird beim Minjan dazugezählt. Bei jedem Gottesdienst und anderen wichtigen Dingen müssen wenigstens zehn Männer anwesend sein. Das nennt man Minjan.“ „Nicht auszudenken, wenn das bei uns auch so wäre“, grinst Michaela. „Dann wäre mein Bruder nach der Konfirmation erwachsen und noch eingebildeter, als er sowieso schon ist.“ Alle müssen lachen. 58

„Passt mal auf!“ Der Rabbiner wird wieder ernst. Hier ist das alte Foto mit David Würzburger bei seiner Bar-Mizwa. Und da neben David steht Daniel Kahn. Und da ist mir was eingefallen.“ Das Lachen verstummt. Man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören. „Ja, was denn?“ „In unserer Gemeinde gibt es eine ältere Dame, Lea Kahn. Vielleicht war ja dieser Daniel ein Verwandter von ihr. Und vielleicht kannte sie ja dann Sara Würzburger. Frau Kahn ist nachmittags oft auf dem Friedhof. Ich begleite euch.“ Mit dieser überraschenden Wende hat niemand gerechnet.

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Auf dem Friedhof „Nein. Bonnie, nicht hier.“ Michaela wirft Sara einen tadelnden Blick zu. Dass der Hund ausgerechnet hier ein Häufchen machen muss, stört sie. Schließlich befinden sie sich auf einem Friedhof. „Zu spät.“ Sara wird rot. Ihr ist es auch etwas peinlich. Aber andererseits kann sie wirklich nichts dafür. „Tritt bloß nicht rein.“ Jana rümpft die Nase. Der Friedhof sieht anders aus, als die Mädchen es gewohnt sind. Sie vermissen Blumen und Kränze. Die Steine sehen alt und verwittert aus. Manche sind mit fremden Zeichen versehen. „Ruhig, Bonnie!“ Michaela deutet auf einen Haufen kleiner Steine. „Was ist denn das?“ „Das ist ein alter Brauch“, erklärt Aaron Levi. „Man will mit den Steinen die Seele des Toten beschweren, damit er bis zur Auferstehung in Frieden ruhen kann.“ „Oft wird den Verstorbenen auch ein Säckchen israelische Erde mit ins Grab gelegt.“ „Und die Zeichen auf den Grabsteinen?“ Jana deutet auf einen Stein unmittelbar in ihrer Nähe, auf dem zwei Hände abgebildet sind. „Das sind die Zeichen der zwölf Stämme Israels. Die beiden Hände sind das Zeichen der Cohanim, der Priester, weil sie beim Segen ihre Hände so halten.“ Suchend blickt sich der Rabbiner um. „Frau Kahn scheint heute nicht da zu sein.“ Auch die Mädchen suchen mit ihren Blicken den Friedhof ab. „Bonnie ist weg!“, schreit Sara auf. 60

„Nicht schon wieder!“ Sara ist wirklich genervt. „Bonnie!!!“, ruft Michaela. Doch der Hund ist nirgends zu sehen. Plötzlich ist hinter ihnen eine Stimme zu vernehmen. „Du bist aber ein feiner Hund.“ Eine Frau streichelt Bonnie, die fröhlich wedelt. „Guten Abend, Herr Rabbiner“, sagt die Frau und richtet sich auf. „Guten Abend, Frau Kahn! Ich dachte schon, Sie sind heute nicht hier!“, begrüßt sie Aaron Levi. „Doch, doch. Ich wollte etwas die Hecke schneiden. Und das Unkraut wächst wieder.“ „Ist das das Grab Ihrer Eltern?“, will Jana wissen. „Nein, meiner Großeltern. Meine Eltern sind nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt und daher auch nicht hier begraben.“ „Frau Kahn“, beginnt Herr Levi. „Diese Mädchen beteiligen sich an einem Schulprojekt und würden Sie gern etwas fragen.“ „Und wie haben Sie überlebt?“ Michaelas Frage unterbricht die Stille. „Ich hatte Glück. Mein Vater und meine Schwester sind gerade noch rechtzeitig in die Schweiz gereist. Aber weil ich Scharlach hatte, mussten meine Mutter und ich bleiben. Und dann war es plötzlich zu spät. Als meine Mutter ins Lager musste, haben mich unsere Nachbarn Schulte aufgenommen. Sie haben gesagt, ich sei ihr Kind.“ „Und was ist aus ihrer Mutter geworden?“ Michaela gibt keine Ruhe. „Sie hat Gott sei Dank überlebt. Nach dem Krieg habe ich sie wiedergesehen und später auch meinen Vater und meine Schwester.“ 61

Frau Kahn packt ihre Gartengeräte zusammen und will gehen. „Ich … ich wollte Sie eigentlich nach einer Freundin meiner Omi fragen, Sara Würzburger.“ Frau Kahn bleibt stehen und mustert Sara nachdenklich. „Meine Schwester Esther war mit Sara Würzburger befreundet, glaube ich.“ „Meinen Sie, Ihre Schwester weiß, ob Sara Würzburger noch lebt?“ In Sara keimt die Hoffnung, dass sie jetzt doch etwas erfährt. Aber ihre Hoffnung wird jäh zunichte gemacht. „Vielleicht hat sie es gewusst. Aber sie ist letztes Jahr gestorben.“ Nicht nur Sara seufzt bedauernd. „Oh, das tut mir leid“, murmelt Michaela betroffen. Auch Jana sieht niedergeschlagen aus. Frau Kahn spürt die Enttäuschung der Mädchen. „Ich könnte höchstens meine Nichte Rebekka fragen. Falls ihre Mutter ihr etwas erzählt hat, bevor sie starb. Kommt mich doch einfach in ein paar Tagen besuchen. Bringt Bonnie ruhig mit. Ich mag Hunde.“ Ein Lächeln huscht über Saras Gesicht. „Hast du das gehört, Michi?“ Bonnie bellt zustimmend. Nachdem Frau Kahn gegangen ist, machen sich die Mädchen auf den Heimweg. Es dämmert bereits. Am Friedhof haben sie plötzlich das Gefühl, dass sie nicht mehr allein sind. Michi hört erst ein Knacken, einen Moment später ein Scheppern. Dann ist Stille. Plötzlich bellt Bonnie wie verrückt, kann sich 62

aber nicht von der Leine losreißen. Man hört eilige Schritte auf dem Kiesweg. Zuerst bleiben die Mädchen etwas zögernd stehen, weil sie Angst haben. Dann biegt Jana vorsichtig um die Ecke. Zwei Gestalten laufen weg. Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen. Die Jacken kennt sie. Sie dreht sich zu ihren Freundinnen um. Alle drei gehen vorsichtig weiter und erstarren. „Schaut Euch diese Sauerei an.“ Michaela deutet fassungslos auf einen Grabstein. Er ist widerlich mit roter Farbe beschmiert. Man kann deutlich Hakenkreuze erkennen.

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Ein Besuch am Freitagabend „Was haben die eigentlich in der Botschaft gesagt?“, erkundigt sich Sara. Dieses Mal haben sie sich in Saras Zimmer getroffen. Überall hängen Pferdeposter an der Wand. Auch einige Turnierschleifen sind zu sehen. In der Mitte des Zimmers ist ein altes, gemütliches Sofa, auf dem alle drei Platz finden. Einziges Licht ist eine bläulich schimmernde Lavalampe. Gedankenverloren betrachtet Jana die sich ständig ändernden Leuchtbilder und Farben. Jana befindet sich in einem Dilemma. Die Mädchen hatten Frau Rosenstock von den beschmierten Gräbern erzählt. Diese hatte sofort bei der Polizei angerufen. Kommissar Linde hatte sich mit den Mädchen unterhalten und gefragt, ob sie etwas gesehen hätten. Da hätte Jana eigentlich sagen müssen, dass sie glaubte, die Jungen erkannt zu haben. Sie waren mit ihrem Cousin Alex befreundet. Aber sie hatte aus Angst geschwiegen. Denn die beiden waren deutlich älter und keine sehr angenehmen Typen. Aber sie wusste, dass sie hätte reden müssen. Und das machte ihr zu schaffen. „Wie bitte?“, schreckt Jana hoch. „Was die in der Botschaft gesagt haben“, wiederholt Sara. „Dass sie am Telefon nichts sagen, dass wir ja einen Brief schreiben könnten“, spult Jana das Gespräch noch einmal ab. „Haben die nicht was von Internet gesagt?“, fragt sich Michaela. „Wartet mal. Wir könnten es auch im Internet versuchen.“ „Moment!“ Sara springt wie elektrisiert hoch. 64

Im Arbeitszimmer ihres Vaters stellt Sara den Computer an. Eigentlich müsste sie vorher fragen, ob sie ins Internet darf. Aber ihre Eltern sind nicht da. „Ich habe da so eine Idee“, murmelt Sara. „Ich habe von solchen Newsgroups gehört. Die sollen auch nach verschwundenen Personen suchen.“ Es dauert eine Weile, bis sie das Gesuchte gefunden haben. Sara macht die erforderlichen Angaben: Name und Geburtsdatum der gesuchten Person. „Cool!“, entfährt es Michaela. „So, jetzt müssen wir ein bisschen warten … Mist, Übertragung unterbrochen.“ „Ich probiere es morgen bei uns mal“, bietet sich Jana an. „Mein Bruder kennt sich da aus.“ „Du, das hat auch in der Zeitung gestanden. Das mit dem beschmierten jüdischen Grabstein“, beginnt Jana. „Wissen die denn, wer es war?“, erkundigt sich Michi. „Wir sollten der Polizei erzählen, dass wir neulich auf dem Friedhof etwas gehört haben.“ Die anderen nicken. „Morgen! Erst einmal geht es zu Frau Kahn.“ Es ist schon dämmrig, als sich die drei Mädchen vor dem Haus treffen, in dem Frau Kahn wohnt. Als sie in den zweiten Stock steigen, sehen sie das silberne, glänzende Namensschild sofort: „Lea Kahn“. Aus dem Inneren der Wohnung dringt Musik. Frau Kahn öffnet sofort nach dem Klingeln und begrüßt sie freundlich. Neben der Garderobe am Türrahmen hängt eine längliche runde Hülle. „Die ‚Mesusa‘! Darin ist ein Pergament mit Absätzen aus der 65

Torah. Ich berühre sie, wenn ich die Wohnung verlasse oder nach Hause komme“, sagt sie auf Janas fragenden Blick. „Kommt ruhig herein. Ich höre gerade die Sabbatfeier im Radio.“ „Sabbat heißt doch Samstag. Und das ist doch erst morgen.“ wundert sich Sara. Sie bleibt in der Diele stehen und schaut sich um. „Bei uns Juden beginnen alle Tage mit den Abendstunden des Vortages“, erklärt Frau Kahn bereitwillig. „Ach so. Dann kommen wir aber wirklich ungelegen.“ Michaela sieht etwas schuldbewusst aus. Sie hatten nicht ausdrücklich gesagt, wann sie kommen wollten. Und Frau Kahn hatte sich auch nicht festgelegt, als sie die Mädchen aufgefordert hatte, einfach einmal bei ihr vorbeizuschauen. Doch Frau Kahn zerstreut ihre Bedenken. „Nein. Kommt ruhig herein. Ihr könnt Tee mit mir trinken!“ Die Musik ist deutlicher zu hören, als sie ins Wohnzimmer treten. Frau Kahn deutet auf ein breites Sofa und fordert die Mädchen auf, es sich bequem zu machen. „Das, was der Mann da singt, ist doch sicher auch hebräisch?“ Sara hat Platz genommen und lässt das Zimmer auf sich wirken: etwas altmodisch, aber sehr gemütlich. Frau Kahn nickt. „Der Kantor – das ist der Sänger im Gottesdient – singt gerade den Psalm 105: „Er, der Herr, ist unser Gott. Seine Herrschaft umgreift die Erde. Ewig denkt er an seinen Bund, an das Wort, das er gegeben hat.“ 66

Bei diesen Worten blickt sie die Mädchen freundlich an. „Das ist ganz wichtig für uns Juden, dass Gott mit uns einen Bund, einen Vertrag geschlossen hat. Er hat sich verpflichtet, unser Gott zu sein und unser Volk Israel nie im Stich zu lassen. Wir müssen unseren Teil des Bundes ebenfalls halten und die Gebote achten.“ Sie macht eine Pause. „Ihr wollt sicher wissen, was meine Nichte gesagt hat. Aber trinken wir erst einmal Tee.“ Aus der angrenzenden Küche ist das Klappern von Tassen zu hören. Das Angebot der Mädchen, ihr zu helfen, lehnt Frau Kahn dankend ab. Sie lächelt freundlich. „Wenn ich eine strenggläubige Jüdin wäre, müsste ich euch bitten, den Tee aufzugießen und den Tisch zu decken. Denn man darf eigentlich nach Sabbatbeginn nicht mehr arbeiten. Aber so strenggläubig bin ich nicht.“ Kurze Zeit später kommt sie mit einem Tablett mit einer Kanne, mehreren Tassen und einem Teller Gebäck ins Wohnzimmer. Sara entdeckt auch ein extra Schälchen Wasser und zwei Kekse auf einem kleinen Teller. „So, Bonnie. Für dich habe ich Wasser und Hundekuchen. Lege dich da auf die Decke.“ Bonnie schnappt sich den Hundekuchen und kaut zufrieden. „Warum dürfen Sie denn am Sabbat nichts tun?“, will Jana wissen. „Weil Gott nach der Schöpfung auch am siebten Tag geruht hat?“ Frau Kahn blickt in die Runde, ob alle gut versorgt sind. „Ja. Aber am Sabbat erinnern wir uns auch an die schreck­ liche Sklavenarbeit in Ägypten. Ihr wisst doch aus der Bibel, dass Juden bei den Ägyptern Sklaven waren, bis Mose sie aus 67

der Gefangenschaft geführt hat. Deshalb wollen wir, dass Menschen und Tiere einmal in der Woche ruhen können, nicht wahr, Bonnie?“ Bonnie jault leise. Sein Blick drückt Dankbarkeit und Zufriedenheit aus. Mit einem Lächeln holt Frau Kahn noch einen Keks. „Aber nur, weil Sabbat ist!“, meint sie etwas schuldbewusst. Sara muss unwillkürlich grinsen. Bonnie liegt auf der Decke, die Pfoten ausgestreckt, und sieht aus, als sei sie im Hundeparadies. Doch so sehr sie auch bettelt: Noch einen Keks bekommt sie nicht. „Bonnie guckt, als ob sie alles versteht.“ „Tut sie ja auch.“ Michaela hat da keinen Zweifel, dass Bonnie jedes Wort versteht – fast jedes Wort zumindest … Sara hat das mit dem Sabbat noch nicht ganz begriffen. „Feiert die Familie denn zusammen oder tut jeder für sich alleine nichts?“ „Früher, wenn meine Mutter am Freitagabend die Sabbatlichter anzündete, wusste ich: Bald kommt Vater nach Hause. Gleich wird es gemütlich. Ich weiß nicht, ob das heute auch noch so bei allen ist.“ Frau Kahn unterbricht sich selbst. So höflich die Mädchen auch zuhören, sie weiß genau, dass ihnen eine andere Frage auf der Seele brennt … „Also meine Nichte sagt, dass ihre Mutter, also meine Schwester, ihr früher von Sara Würzburger erzählt hat.“ Drei Augenpaare schauen sie gebannt an. „Wirklich? Und was hat sie erzählt?“ Alle reden plötzlich durcheinander. 68

Sara hebt beschwichtigend die Hand. „Seid doch mal leise und lasst Frau Kahn ausreden.“ „Die Würzburgers wollten Deutschland verlassen. Sie wollten nach England, wo sie Freunde hatten.“ Keiner sagt nun ein Wort. Ganz leise hört man noch das Radio. Frau Kahn fährt fort. „Aber damals wurde es für Juden immer schwieriger zu reisen. Und plötzlich waren sie verschwunden. Meine Mutter hat nie erfahren, ob sie noch sicher nach England gekommen sind oder ob sie in ein Lager gebracht wurden wie viele andere Juden auch.“ Schweigend verharren die Freundinnen. Jeder hängt seinen Gedanken nach. „Also hat sie nie wieder etwas von ihr gehört“, unterbricht schließlich Michaela die Stille. Frau Kahn seufzt. „Ich glaube nein. Leider können wir meine Mutter nicht mehr fragen.“ Die Freundinnen schauen sich ratlos an. Die feierliche Stimmung ist verflogen. Verstohlen schaut Jana auf die Uhr. „Wir müssen los!“, sagt sie dann etwas schuldbewusst. Sara pflichtet ihr bei. Es ist wirklich spät geworden. „Vielen, vielen Dank noch!“ Frau Kahn verabschiedet die Mädchen. „Gebt mir zur Sicherheit eure Adresse und Telefonnummer. Wenn ich Irgendetwas erfahre, rufe ich euch an.“

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Trübe Stimmung Jana hatte die beiden Jungen, die sie auf dem Friedhof glaubte erkannt zu haben, im Jugendtreff wiedergesehen. „Warum macht Ihr dieses blöde Projekt bei der Rosenstock!“, hatte Steffen gelästert. „Um die Juden wird viel zu viel Aufhebens gemacht. Woanders sind auch Menschen im Krieg gestorben, zum Beispiel bei der Bombardierung von Dresden. Davon redet keiner.“ „Juden geht es immer nur ums Geschäft. Die würden ihre eigene Großmutter verkaufen“, hatte Lars hinzugefügt. Jana wusste nicht, was sie sagen sollte. Sicher waren im Krieg überall Menschen umgekommen. Aber der Mord an sechs Millionen Juden konnte nicht einfach mit anderen Todesfällen verglichen werden. Das hatte Frau Rosenstock genau erklärt. Aber mit den beiden wollte sie nicht diskutieren. „Was habt Ihr eigentlich auf dem jüdischen Friedhof gemacht?“, fragt sie mutiger, als sie sich fühlt. Steffen nähert sich drohend. „Ich warne dich. Wenn die Polizei etwas erfährt, dann wissen wir, wer gesungen hat. Und dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken.“ Die nächsten beiden Wochen verstreichen ereignislos. Seit dem Besuch bei Frau Kahn haben die Freundinnen ein wenig den Mut verloren. Das ungemütliche Novemberwetter trägt auch nicht zur Besserung der Stimmung bei. In wenigen Wochen würde die Projektarbeit abgeschlossen sein. Heute Nachmittag ist Sara wieder bei ihren Großeltern. Bisher hat sie ihnen nicht erzählt, was sie vorhaben und was sie mit ihrer Projektarbeit herausfinden wollen. „Das ist auch 70

gut so!“, denkt Sara. Sie hatten sich wohl doch zu viel vorgenommen. Erschrocken fährt sie hoch, als ihre Großmutter ohne Ankündigung selber anfängt, von ihrer verschollenen Freundin zu reden. „Weißt du, Sara, seit wir vor einigen Wochen diese Fernsehsendung gesehen haben, muss ich immer wieder an früher denken!“ Sara durchforscht das Gesicht ihrer Omi. Doch die scheint nicht zu ahnen, was die Freundinnen unternommen haben. „Kann ich verstehen. Wenn das meine Freundin gewesen wäre …“ Ihr fällt beim besten Willen nichts ein, was sie sonst noch sagen könnte. „Vor allem heute am 9. November, wenn an die Zerstörung der jüdischen Geschäfte erinnert wird.“ „Ja natürlich!“ Sara fällt es siedendheiß ein. Heute ist doch dieser traurige Gedenktag. Frau Rosenstock hatte im Geschichtsunterricht daran erinnert. Viel ernster als sonst hatte sie ausgesehen. „Wir waren gestern mit Frau Rosenstock bei diesem Denkmal. Sie hat uns erklärt, dass sechs Millionen Juden in Lager verschleppt und umgebracht wurden“, murmelt Sara. „Sie sprach von Holo…!“ „Holocaust!“, ergänzt ihr Großvater. „Holocaust heißt ‚Ganz­ opfer‘. Damals ist etwas Böses, etwas Grauenvolles passiert, schrecklicher als alles, was je geschehen ist. Juden sprechen von Shoa. Das bedeutet ‚Vernichtung‘“. Sara läuft ein Schauer den Rücken herunter. Ganz beklommen ist ihr zu Mute. So hat Großvater noch nie gesprochen. „Schrecklicher, als man sich vorstellen kann“, wiederholt er. 71

„Ich muss schon den ganzen Morgen daran denken.“ Die Stimme ihrer Großmutter klingt, als ob sie von ganz weit her käme. „Ich kam damals am 9. November am Geschäft der Würzburgers vorbei. Überall lagen Scherben und Kleidungsstücke auf dem Boden. Herr Würzburger sah ganz bleich aus. Er hatte eine Wunde im Gesicht. Und Sara und ihre Mutter weinten.“ „Das muss schrecklich gewesen sein.“ Sara fühlt sich angesichts des überwältigenden Kummers völlig hilflos. „Weißt du, was so schrecklich war?“ Ihre Großmutter schneuzt sich und fährt mit völlig veränderter Stimme fort. „Ich wollte zu meiner Freundin hin und sie trösten. Aber der Mann in Uniform sagte: ‚Geh weiter und kümmere dich nicht um das Judenpack!‘“ „Ganz allein konntest du doch nichts machen“, bemüht sich Sara vergeblich zu trösten. Ihr ist selber klar, wie platt ihre Worte klingen müssen. „Trotzdem, ich hätte sie trösten müssen.“ Anna Meyer klingt nun etwas gefasster. „Sie hat ja auch immer zu mir gehalten, wenn ich Hilfe brauchte.“ „Meinst du nicht, dass Sara trotzdem wusste, wie leid dir das alles tat?“ Anna Meyer seufzt. „Vielleicht … ich weiß es nicht.“ „Doch. Bestimmt!“ Sara blickt ihre Omi beschwörend an. „Ich kam mir schon damals wie eine Verräterin vor. Und jetzt nach der Fernsehsendung kommt das alles wieder hoch.“ „Sei doch nicht so traurig, Omi! Vielleicht lebt sie ja noch.“ Sara spricht gegen ihre eigene Überzeugung. Aber es bricht ihr das Herz, ihre Omi so traurig zu sehen. 72

Anna Meyer wischt sich die Tränen ab. „Wenn ich das genau wüsste, wäre ich wirklich froh!“ ‚Ich auch!‘, denkt Sara. Wenn sie doch nie mit den Nachforschungen begonnen hätten. Doch jetzt hatten die drei Freundinnen doch die Hoffnung gehegt, etwas herauszufinden – leider umsonst. Die Bemerkung des Großvaters macht Sara ein noch schlechteres Gewissen. „Oma macht sich zu viele Sorgen. Dabei hat der Arzt ihr jede Aufregung verboten …“ Saras Stimmung hat sich nicht wesentlich gebessert, als sie sich am nächsten Morgen in der Pause sprechen. Michaela spricht aus, was allen seit Tagen durch den Kopf geht. „Wir waren doch schon so nahe dran. Wenn die Schwester von Frau Kahn nicht gestorben wäre … warst du noch mal im Internet, Jana?“ „Ja! Die haben noch nichts gefunden.“ Michaela ist sich sicher, dass Jana deutlich schweigsamer als sonst ist. Etwas scheint sie zu bedrücken. „Hast du was?“, erkundigt sie sich. Jana schüttelt den Kopf. Auch Sara sieht bedrückt aus. „Was ist los mit dir?“, will Michaela wissen. „Meiner Omi geht es nicht besonders. Und mein Opa macht sich Sorgen.“ „Das tut mir leid.“ „Unsere drei Kriminalkommissare bei der Lagebesprechung!“ Jana fährt herum und stöhnt. „Jens, hau ab! Du nervst!“ Jens grinst und freut sich über den Ärger der Mädchen. „Beachtet ihn einfach nicht!“ Sara zieht einen Brief aus der Tasche und entfaltet ihn. „Den hätte ich fast vergessen.“ 73

Michaela lugt über Saras Schulter und entziffert den Absender. „Der ist ja von Frau Kahn!“ „Nun lies doch.“ Auch Jana zeigt sich interessiert. Sara beginnt zu lesen. „Meine Nichte Rebekka und ihre Tochter Mirjam kommen zu Chanukka. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mich vielleicht am Sonntag besuchen könntet. Chanukka ist ein Lichterfest, so ähnlich wie euer Advent. Meine Nichte hat auch noch etwas herausgefunden, aber das will sie euch selber erzählen.“ „Ja, dann mal los.“ Schlagartig hat sich Janas Laune verbessert. Auch Saras Miene hat sich aufgehellt. „Bis Sonntag“, verabschiedet sich Michaela.

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Es ist ein großes Wunder geschehen Die Wohnung ist ihnen dieses Mal schon vertraut. Der Tisch ist noch festlicher gedeckt als bei ihrem letzten Besuch. Die Gläser funkeln. In der Mitte des Tisches steht ein achtarmiger Leuchter. „Zünde doch schon mal die Kerzen an, Mirjam!“, fordert Frau Kahn ihre Großnichte auf. Bald erhellt ein schwacher Schein das Wohnzimmer. Aus dem Radio klingt Musik, doch dieses Mal ist sie fröhlicher als bei der Sabbatfeier. „Wir zünden jeden Abend eine Kerze mehr an, bis acht Kerzen am Leuchter brennen.“ Frau Kahn hat soeben zwei Karaffen mit Saft auf den Tisch gestellt. Sie bietet auch Tee an. „Und warum gerade acht?“, fragt Jana, die gerade in einen Keks gebissen hat, kauend. „Vor ungefähr 2000 Jahren gab es einen syrischen König, der wollte, dass die Juden in seinem Reich die griechischen Götter verehren. Er verbot die jüdische Religion und machte den Juden auch sonst das Leben schwer. Doch da gab es einen mutigen Mann, Judas Makkabäus. Der suchte sich andere tapfere Männer und machte einen Aufstand.“ „Makkabäus heißt nämlich ‚der wie ein Hammer zuschlägt‘“, unterbricht Mirjam die Erzählung. „So ein jüdischer Rambo also“, entfährt es Michaela. Alle müssen lachen. „Reiche doch bitte die Kekse weiter, Mirjam!“, erinnert sich Frau Kahn an ihre Gastgeberpflichten. 75

„Also, wo war ich stehengeblieben? … Der Aufstand gelang, und wir bekamen unseren Tempel zurück und weihten ihn wieder ein. Chanukka heißt nämlich Einweihung. Dann schmiedete man aus den Waffen einen neuen Leuchter, weil der alte zerstört worden war.“ Sie macht eine Pause. „ Hier ist auch noch Saft. Bedient euch bitte … Dann brauchten sie noch Öl, um den Leuchter anzuzünden. Sie fanden einen kleinen Krug mit Öl, die Menge hätte nur für einen Tag gereicht. Aber wie durch ein Wunder brannte der Leuchter acht Tage lang. Deshalb hat der Chanukka-Leuchter acht Kerzen. Und mit der neunten werden die anderen Kerzen angezündet.“ Nachdem alle fertig sind, räumt Frau Kahn das Geschirr in die Küche. Sara nutzt die Gelegenheit „Sie wollten uns doch etwas über Sara Würzburger sagen“, fragt sie zu Frau Kahns Nichte gewendet. Rebekka Hirsch räuspert sich. „Meine Mutter hat ein Tagebuch geschrieben damals, als sie in die Schweiz kam. Und da habe ich drin gelesen. Moment, ich habe es mir aufgeschrieben.“ Frau Hirsch kramt in ihrer Tasche. Schließlich findet sie den gesuchten Zettel und liest: „Leider mussten wir so schnell abreisen, dass ich Friedrichs Brief mit Saras Adresse nicht mitnehmen konnte. Jetzt werde ich nie erfahren, ob sie sicher in England angekommen ist.“ „Dann hat sie die Adresse gehabt.“ In Saras Miene wechseln Staunen und Enttäuschung einander ab. „Ja.“ Frau Hirsch verstaut den Zettel wieder in ihrer Handtasche. 76

„Verflixt. Wir waren so nah dran.“ Auch Michaela kann ihren Kummer nur schwer verbergen. „Ich hätte so gern gewusst, ob Sara noch lebt. Und meine Oma hätte sich so gefreut. Vor allem jetzt, wo sie so krank ist.“ Sara weiß nicht, was sie denken soll. Soll sie das, was sie erfahren hat, ihrer Omi mitteilen und sie womöglich in noch größere Zweifel stürzen? Gut – sie würde erfahren, dass ihre Freundin fest vorhatte, Deutschland zu verlassen. Aber sie würde weiter grübeln, ob ihr die Flucht gelungen war oder nicht. Das Telefon klingelt. Frau Kahn geht in den Flur. „Für dich, Sara“, ruft sie einen Moment später. Dann wendet sie sich an ihre Gäste. „Zu einem richtigen Chanukka-Abend gehört auch das Spielen mit dem ‚Dreidel‘.“ Frau Kahn stellt einen Karton auf den Tisch und holt einen acht bis zehn Zentimeter großen Gegenstand aus Holz heraus. „Das ist ein Kreisel, der wie ein Würfel aussieht. Da stehen vier hebräische Buchstaben auf den Seiten: Nun (‫)נ‬, Gimmel (‫)ג‬, Heh (‫ )ה‬und Shin (‫)ש‬. Zusammen gelesen und übersetzt bedeuten die vier Buchstaben das: ‚Es ist ein großes Wunder geschehen‘“, erklärt Frau Hirsch. Frau Kahn hält den Dreidel einen Augenblick in der Hand. „Der stammt noch aus einer Kiste, die Familie Schulte für uns aufgehoben hat, als Papa und Esther so schnell abreisen mussten“, erinnert sie sich. Eine Weile schweigt sie. Sie muss an früher denken, an ihre Schwester, als sie noch klein war. Damals hatten sie auch oft mit dem Dreidel und Nüssen um einen Tisch versammelt gesessen. 77

Mirjam erklärt das Spiel: „Bei dem Spiel bekommt jeder 10–15 Cent oder Nüsse. Dreht er an dem Dreidel und das Nun ist oben, bekommt er nichts. Ist das Heh oben, kriegt er die Hälfte, bei Gimmel den ganzen Topf. Bei Shin muss man zwei Nüsse hineintun.“ „Kommt, fangen wir an. Ich verteile die Nüsse.“ Als Sara in diesem Moment in das Wohnzimmer zurückkehrt, ist ihre Stimmung noch düsterer als zuvor. „Ich muss leider früher weg“, bringt sie tonlos hervor. „Meine Oma musste plötzlich ins Krankenhaus. Meine Mutter holt mich gleich ab.“ Die anderen unterbrechen bestürzt ihre Unterhaltung. Auch Mirjam hört auf, die Nüsse weiter zu verteilen. „Das tut uns aber leid!“ Frau Hirschs Stimme drückt ehrliches Bedauern aus. Obwohl sie Saras Großmutter nicht persönlich kennengelernt hat, war sie ihr doch aus Saras Erzählung nahe gekommen. Auch sie hätte der alten Dame gern Näheres über ihre Jugendfreundin berichtet. „Kopf hoch, Sara“, ruft Michaela noch, als Sara im Treppenhaus verschwindet. „Bestelle bitte gute Besserung von uns allen.“ Frau Kahn bringt Sara zur Haustür, wo ihr Vater bereits mit dem Wagen wartet. „Aber ihr bleibt doch noch? Meine Nichte fährt euch auch nach Hause“, wendet sie sich an die beiden Mädchen. Michaela schaut Jana fragend an. „Ja gerne, nicht, Jana?“ Eigentlich findet Jana es sehr gemütlich. Und Sara helfen können sie sowieso nicht, selbst wenn sie auch nach Hause gingen. 78

Als Frau Kahn in ihre Wohnung zurückkehrt, haben die anderen mit dem Spiel begonnen. Der Dreidel rollt über den Tisch. „Also, was steht jetzt oben?“ Jana hat Mirjams Erklärung nicht ganz behalten. „Der Buchstabe Heh. Du bekommst die Hälfte. Das fängt ja gut an. Der Nächste bitte.“ Sie reicht den Dreidel weiter. „Was musst du jetzt tun? Wie heißt das?“ „Shin. Ich muss zwei Nüsse hineintun. Jetzt bist du dran, Michaela.“ „Das macht richtig Spaß!“ Michaela versetzt dem Dreidel einen heftigen Schubs, so dass er quer über den Tisch rollt und herunterfällt. „Oh! Das wollte ich nicht!“ Schuldbewusst bückt sich Michaela. „Ich glaube, er ist kaputt.“ „Das ist aber komisch. Der ist nicht richtig kaputt. Nur in zwei Teile geteilt.“ Mirjam untersucht die beiden Hälften des Holzwürfels. „Als ob ihn vorher jemand zugeklebt hätte“, pflichtet ihre Mutter ihr bei. „Da war irgendwas drin!“ Aufgeregt hebt Michaela ein Stück Papier vom Boden auf. „Lass einmal sehen.“ Stirnrunzelnd betrachtet Frau Kahn die Reste des Dreidels. „Normalerweise sind Dreidel, die aus Holz sind, nicht hohl.“ „Den hat jemand ausgehöhlt und als Versteck benutzt“, flüstert Rebekka Hirsch. „Ja, ein Brief.“ Verdattert beginnt Michaela zu lesen. „‚Liebe Esther …‘ Ein Brief an meine Oma! Und darunter steht ‚Dein Friedrich‘. Ein Liebesbrief wahrscheinlich.“ 79

Ungläubiges Staunen breitet sich auf Frau Hirschs Gesicht aus. „Dann muss meine Mutter den Brief in dem Dreidel versteckt haben.“ Völlig verblüfft und ratlos schaut sie ihre Tante an. Auch Frau Kahn fehlen die Worte. „Warum hat sie den Brief versteckt?“, will Michaela wissen. „Sicher weil ihn keiner sehen sollte. Ich verstecke meine Briefe auch an einem sicheren Ort“, antwortet Jana. „Wegen deinem Bruder?“, mutmaßt Michaela. Jana nickt und grinst dabei. „Ist doch klar, oder?“ Frau Kahn runzelt die Stirn und bückt sich. „Da ist ja noch ein Zettel.“ Verdutzt legt sie das Papier auf den Tisch und sucht ihre Brille. Doch Mirjam ist schneller. „Da stehen Adressen drauf, Tante Lea.“ Mit zitternder Stimme fängt Lea Kahn an zu lesen: „ Judith Weiß, Bern, Unterste Gasse. Und hier Sara Würzburger, bei Familie Gates, Deal, Kent 16 Highstreet.“ Sie bringt kein weiteres Wort hervor, wird abwechselnd blass und dann wieder rot. „Wahnsinn! Das gibt’s doch nicht.“ Auch Michaela ist wie vom Donner gerührt. „Wie heißt es noch …“ Janas Stimme klingt ehrfürchtig: „Es ist ein großes Wunder geschehen.“ Nun findet auch Frau Hirsch ihre Stimme wieder. „Wirklich, ein Wunder …“ Sie wendet sich an ihre Tante. „Mutter muss den Dreidel damals als Geheimversteck benutzt haben und konnte ihn dann nicht mitnehmen.“ „Die Adressen durften auch nicht in falsche Hände fallen.“ Vor Frau Kahns innerem Auge steigen Erinnerungen auf, an 80

die Flucht von Vater und Schwester, an die Ermahnungen ihrer Mutter, niemandem zu sagen, dass sie in die Schweiz gereist waren, absolut niemandem, das hatte sie ihr immer wieder eingeschärft, als sie mit hohem Fieber im Bett lag. „Wahrscheinlich wusste sie aber nicht, dass die Schultens die Kiste aufgehoben hatten.“ Mirjams Stimme schreckt sie jäh aus ihren Gedanken. Da ist sich Lea Kahn auch sicher. Ihre Schwester musste davon ausgegangen sein, dass der Dreidel verloren gegangen war. Sonst hätte sie ihn sich sicher bei einem Besuch mitbringen lassen oder ihn selber abgeholt. „Jetzt kann Sara nach England schreiben und fragen, was aus Sara Würzburger geworden ist“, frohlockt Michaela und strahlt Jana an. Sie kann es gar nicht erwarten, Sara die gute Nachricht zu überbringen. Doch dann stockt ihr der Atem. Was wäre, wenn Saras Omi nicht mehr gesund würde. Sie war doch im Krankenhaus. Vielleicht war der Herzanfall so schwer, dass sich Anna Meyer nicht mehr erholte. Was wäre, wenn sie alles zu spät erfahren hätten!? Das durfte nicht passieren. Bittend schaut sie Frau Kahn an: „Ähm, dürfte ich den Dreidel vielleicht einmal ausleihen?“ Frau Kahn überlegt, aber nur kurz. „Ich denke schon …“ Sie vermutet, was die Mädchen vorhaben, und kann sie gut verstehen. „Wir wollen den Dreidel Sara zeigen, und die will ihn sicher ihrer Omi mitbringen, wenn wir die Geschichte erzählen.“ „Dann müsst ihr ihn unbedingt mitnehmen!“ Nun ist es wirklich spät geworden. Die Mädchen verabschie81

den sich und Frau Hirsch fährt sie, wie verabredet, nach Hause. Obwohl es spät ist, rufen sie bei Sara an. Doch niemand geht ans Telefon und auf den Anrufbeantworter wollen sie nicht sprechen. Am nächsten Morgen erfahren sie, dass Sara noch lange mit ihren Eltern im Krankenhaus war. Triumphierend holt Michaela den Dreidel und den Zettel aus der Tasche. „Das darf nicht wahr sein!“ Sara wird ganz bleich. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. So lange hatten sie gesucht und gehofft. „Ich schreibe sofort dorthin!“ Dann verschleiert sich ihr Blick. „Hoffentlich antworten die bald, denn meiner Omi geht es ziemlich schlecht.“

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Der Brief Michaela und Jana brüten über den Hausaufgaben, als sie ein Geräusch vor der Haustür hören. Die Projektarbeit ist abgeschlossen. Frau Rosenstock hatte die Mädchen gelobt, als sie den ausführlichen Bericht gelesen hatte. Dann hatte sie ihnen noch viele Fragen gestellt und war mehr als überrascht gewesen, was die Freundinnen herausgefunden hatten. Mit ihnen hatte sie gehofft, dass Saras Brief beantwortet würde. Aber bisher hatte sich niemand aus England gemeldet. Michaela hofft, dass das draußen nicht ihre Mutter ist, die früher zurückkommt als erwartet, denn eigentlich hatte sie fest versprochen, ihr Zimmer aufzuräumen. Sie schaut sich um und seufzt. Aufgeräumt ist es nicht gerade. Neben einem Haufen T-Shirts und dreckiger Socken liegen ihr Turnbeutel und mehrere Hefte auf dem Boden, die sie mit dem Fuß in eine Ecke schiebt. Gerade befördert sie die Bananenschale und eine leere Kekspackung in den Papierkorb, als es Sturm klingelt. Michaela läuft erleichtert zur Haustür. Ihre Mutter kann es nicht sein, denn die hätte einen Schlüssel. „Stell dir vor, was ich habe!“ Sara strahlt über das ganze Gesicht und schwenkt einen Brief. „Sag bloß Post“, stellt Michaela nicht gerade geistreich fest. „Du strahlst ja richtig.“ Jana taucht neben Michaela an der Haustür auf, als sie die Stimme der Freundin hört. Sara hat lange nicht so fröhlich ausgesehen. „Meiner Oma geht es auch besser. Sie ist schon wieder zu Hause.“ „Das sind ja mal gute Nachrichten!“ Michaela blickt inte83

ressiert auf den Brief, auf dem sie eine ausländische Marke entdeckt. „Los, lies schon vor!“ Mit knallrotem Gesicht entfaltet Sara den Brief. „‚Dear Miss Meyer‘, warte, ich übersetze gleich.“ Zu Hause hat es etwas länger gedauert, bis sie alles verstanden hatte. Doch jetzt kann sie den Freundinnen problemlos den Inhalt des Briefes wiedergeben. „Sara Würzburger und ihr Bruder lebten mehrere Jahre bei meinen Eltern. Dann sind sie nach Israel gegangen. Meine Mutter schreibt ihnen immer noch Briefe. Hier ist die Adresse.“ „Los, ab zu deinen Großeltern. Oder warst du schon da?“ Michaela reißt ihre Jacke von der Garderobe. „Nee, da sollt ihr schon mitkommen.“ Das hätte Sara den Freundinnen gegenüber wirklich unfair gefunden, allein die gute Nachricht zu überbringen. „Das haben wir doch zusammen herausbekommen.“ „Hast du den Dreidel mit?“, fällt es Jana ein, als sie die Treppe herunter eilen. „Hab’ ich!“ Sara deutet auf ihre ausgebeulte Jackentasche. Karl Meyer ist etwas verwundert, als er den drei Mädchen die Tür aufmacht. Er kennt Saras Freundinnen zwar, doch meistens kommt seine Enkelin allein. „Oma, Opa! Wir haben eine Überraschung für euch!“, sprudelt es aus Sara heraus. „Was ist denn, Kind? Du bist ja ganz aufgeregt!“ Anna Meyer ist aus der Küche gekommen, als sie die Stimmen im Flur vernimmt. „Willst du deinen Freundinnen nichts anbieten, wenn du sie schon mitbringst?“ 84

„Später!“, winkt Sara ab. „Weißt du, was das ist?“ Sie holt den Dreidel aus der Tasche und legt ihn auf den Tisch. „Ein Kreisel oder so was Ähnliches?“, rät ihre Großmutter. „Das ist ein Dreidel. Ein jüdischer Kreisel, mit dem beim Chanukka-Fest gespielt wird“, erklärt Michaela atemlos. „Und darin war die Adresse von Sara Würzburger versteckt.“ Sara kann ihren Stolz nur schwer verbergen. Triumphierend schaut sie abwechselnd auf ihre Omi, dann auf ihren Opa. „Nun mal langsam, ich verstehe absolut nichts.“ Schwerfällig lässt sich Karl Meyer auf einen Stuhl fallen. Dann schaut er besorgt zu seiner Frau. „Keine Aufregung!“, hatte der Arzt sie nach dem Verlassen des Krankenhauses ermahnt. „Wir wissen jetzt, dass Sara Würzburger noch lebt und wo sie wohnt!“, verkündet Jana, und ihr ist ganz feierlich zumute. Immer wieder hatten sich die Freundinnen ausgemalt, wie es wäre, Anna Meyer diese frohe Botschaft zu überbringen. Verstohlen schaut Sara ihre Omi an, die abwechselnd bleich und rot wird. „Wie hast du das denn herausbekommen?“ Ihre Stimme zittert zwar, aber es schwingt auch ungläubige Freude mit. „Das ist eine lange Geschichte!“ Sara zwinkert Michaela und Jana zu. „Wir haben wirklich viel zu erzählen. Aber …“ Sie macht eine Pause. „Möchtest du deiner Freundin jetzt nicht schreiben?“ Wieder streift sie ein besorgter Blick ihres Mannes, ob das nicht alles zu viel für sie sei. Sachte legt sie die Hand auf seinen Arm. ‚Mach’ dir keine Sorgen!‘, will sie damit sagen. „Ja, das möchte ich.“ Dieses Mal ist ihre Stimme erstaunlich fest und bestimmt. 85

Enthüllungen Frau Rosenstock blickt Jana ernst an. „Warum hast du dich mir denn nicht eher anvertraut? Du hättest auch mit deinen Eltern sprechen sollen.“ Jana zuckt mit den Schultern. „Ich weiß“, beginnt sie. „Aber … aber ich hatte Angst. Steffen hat mir gedroht, dass, wenn ich sie verrate, etwas Schreckliches passieren würde.“ Frau Rosenstock gibt sich selber auch etwas Schuld. Sie hatte mit mehreren Kollegen darüber gesprochen, dass einige Schüler der 9a im Politikunterricht antijüdische Witze erzählt und rechte Sprüche geklopft hatten. Sie hatten vorgehabt, die Eltern zu kontaktieren. Aber bisher war es unterlassen worden. Doch dass ihre Schüler für die beschädigten jüdischen Grabsteine verantwortlich sein könnten, das hatte sie doch nicht gedacht. Sie ist froh, dass sie und Kollege Funke schon lange etwas geplant hatten. Die Schulleitung hatte in Absprache mit Kollege Funke und ihr jüdische Jugendliche aus Berlin eingeladen, die von ihren Alltagsproblemen berichteten. Akiva trägt eine Kippa, als er zögernd nach vorne tritt. „Ich wohne in Berlin und fühle mich da auch eigentlich wohl, weil da meine Familie und meine Freunde leben. Aber in manchen Teilen der Stadt traue ich mich gar nicht eine Kippa zu tragen.“ „Ja da wird man oft angemacht und bedroht“, ergänzt Noah. „Viele meinen, dass wir Juden nicht nach Deutschland gehören. Andere werfen uns vor, dass wir dafür verantwortlich sind, wenn die israelische Regierung die Palästinenser ungerecht behandelt und benachteiligt. 86

„Manche behaupten auch, dass wir Juden mit üblen Tricks arbeiten, um unsere Ziele zu erreichen“, bemerkt Samuel. „Für manche ist ‚Jude‘ ein Schimpfwort. Wenn die das auf dem Schulhof hinter mir her rufen, fühle ich mich ganz mies“, ergänzt Ari. Jana ist sehr nachdenklich geworden. Die Judenverfolgungen in der Zeit der Nationalsozialisten fand sie wie Sara und Michi einfach schrecklich. Aber sie hatte sich etwas damit getröstet, dass das alles Vergangenheit war, sehr lange her, und heute bestimmt nicht mehr vorkommen würde. Ganz schlimm fand sie auch, dass es sich um Schüler wie sie selber handelte, die heute dumm angemacht wurden, nur weil sie Juden waren – nicht überall natürlich. Aber es kam vor und das war schlimm genug. Nach der Veranstaltung war Jana sofort zu Frau Rosenstock gekommen und hatte zugegeben, dass sie damals auf dem Friedhof Steffen und Lars erkannt und nur aus Angst geschwiegen hatte. Jetzt war sie bereit, mit Frau Rosenstock zur Polizei zu gehen.

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Langersehntes Wiedersehen Anna Meyers Brief ist nicht unbeantwortet geblieben. Schon bald kam eine Antwort von Sara Würzburger. Mehrere Briefe gingen hin und her. Schließlich hatte Sara Würzburger ihren Besuch angekündet. Allerdings wollte sie nicht allein kommen. Ihr Sohn sollte sie begleiten, wenn sie nach so langer Zeit in ihre alte Heimat zurückkehrte. Stundenlang haben die alten Freundinnen beisammen gesessen und Erinnerungen ausgetauscht. Es gab ja auch so vieles mitzuteilen aus den langen 75 Jahren. Sara Würzburger hatte auch ihre alte Schule besucht und dort Frau Rosenstock getroffen. Selbst der Bürgermeister hatte von der Spurensuche der Mädchen erfahren und alle zu einer Feier ins Rathaus eingeladen. „Pst. Der Bürgermeister!“, flüstert Michaela Jana zu. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse haben in der zweiten und dritten Reihe Platz genommen. In der ersten Reihe sitzen die Ehrengäste wie Familie Meyer und einige Mitglieder des Stadtrates. Die Stadthalle ist brechend voll. Eine Seitentür wird geöffnet. Sara betritt mit einem älteren Paar den Raum. Neben ihr schiebt ein junger Mann von etwa Mitte 20 einen Rollstuhl, in dem eine ältere Dame sitzt. Jana und Michaela erkennen Saras Großeltern. Wer die anderen beiden sind, können sie nur ahnen. Sara setzt sich schnell zu ihren Freundinnen. 88

Der Bürgermeister geht nach vorne. Das allgemeine Gemurmel wird leiser. Einige klatschen jetzt schon. Nach einigen einleitenden Worten wendet er sich an den Ehrengast „… und voller Stolz begrüße ich Frau Sara Würzburger, die nach über 75 Jahren in ihre alte Heimatstadt zurückgekehrt ist …“ Dann spricht er von der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit, von der Jugend, die sich in beispielhafter Weise eingesetzt hat, und von den Herausforderungen der Zukunft. „Der macht sich vielleicht wichtig. Der tut ja so, als ob er selber Sara Würzburger gefunden hätte“, wispert Jana und zupft Sara am Ärmel. „Ihr Superdetektive seid ja wohl die Stars heute Abend. Die Rosenstock platzt gleich vor Stolz.“ Jens’ Stimme ist wie immer zu laut. „Übertreib’ nicht so, Jens!“, weist Michaela ihn zurecht. Doch der lässt nicht locker. „Sei still, sonst verrate ich, dass du Bonnie dabei hast.“ „Bonnie hat uns schließlich auch bei der Suche geholfen.“ Michaela wirft Bonnie einen mahnenden Blick zu und nimmt die Leine etwas fester. Sara hätte den Hund nicht so ohne weiteres in die Stadthalle schmuggeln können. Deshalb hatte Michi das übernommen. „Wirklich toll, dass die Freundin deiner Omi zu uns gekommen ist.“ „Omi war erst ganz nervös. Aber als der Brief kam, hat sie sich total gefreut“, flüstert Sara. Frau Rosenstock schaut vorwurfsvoll in ihre Richtung und weist auf den Bürgermeister, der am Ende seiner Rede angelangt ist. 89

„… und nun hoffen wir, dass Sie, verehrte Frau Würzburger, noch eine Weile in unserem schönen Städtchen bleiben werden.“ Schließlich erhebt sich Hermann Funke, der Geschichtslehrer und stellvertretende Schulleiter. „Seit Jahren ist es mir und meinen Kollegen wichtig, den Schülern Geschichte anschaulich zu vermitteln“, beginnt Studienrat Funke. „Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist leider immer wieder aktuell, weil es immer noch Menschen gibt, welche das Ungeheuerliche leugnen, das damals geschehen ist, und nichts aus der Geschichte gelernt haben. So musste ich auch mit Erschrecken feststellen, dass auch in meiner Klasse Schüler Vorurteile gegen Juden äußerten. Umso wichtiger ist es, dass wir heute eine Zeitzeugin zu Wort kommen lassen können.“ Die ältere Dame im Rollstuhl beginnt mit zitternder Stimme zu sprechen: „Ich bin die einzige meiner Familie, die den Holocaust überlebt hat“, berichtet sie stockend. Man ahnt, dass ihre die deutsche Sprache fast fremd geworden ist. „Seit über 60 Jahren lebe ich in Israel. Ich habe dort geheiratet und Kinder und Enkel bekommen. Mein Enkel Noah begleitet mich heute. Eigentlich müsste ich die Deutschen hassen, weil sie so viel Leid über meine Familie und mich gebracht haben. Aber ich hatte damals als junges Mädchen eine deutsche Freundin, die ich nie vergessen habe. Und ich bin sicher, dass heute in Deutschland eine junge Generation heranwächst, die man nicht für die Taten der Vergangenheit zur Verantwortung ziehen darf. Nein, mehr noch.“ Sie nimmt Sara bei der Hand, der vor Schreck die Farbe aus dem Gesicht weicht. 90

„Ich bin stolz, dass die Enkelin meiner besten Freundin Nachforschungen angestellt und nicht locker gelassen hat, bis man mich gefunden hat.“ Applaus setzt ein. Aufmunternd schaut Frau Rosenstock zu ihrer Schülerin. „So, jetzt bist du dran, Sara“. Etwas unsicher und mit weichen Knien geht Sara nach vorne. Die Gesichter verschwimmen vor ihren Augen. Ihr Blick schweift über die erste Reihe und bleibt bei ihrer Großmutter hängen, die neben ihrer alten Freundin sitzt. Plötzlich ist Saras Unsicherheit verflogen. „Wir haben in unserem Projekt viel über das Judentum gelernt und interessante, aber auch sehr traurige Dinge erfahren“, beginnt sie. „Aber vor allem haben wir die beste Freundin meiner Omi wieder gefunden. Und darüber freuen wir uns.“ Alle klatschen, Bonnie fängt an zu bellen. Sara sieht, wie Michaela mit hochrotem Kopf versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. „Pst, mach Sitz, Bonnie!“, wiederholt sie immer wieder beschwörend. Der Applaus verstummt. Bonnie jault ein letztes Mal auf, um sich dann brav hinzusetzen. In der plötzlich einsetzenden Stille sind Anna Meyers Worte deutlich zu vernehmen. „Darüber freuen wir uns wirklich alle sehr, nicht wahr, Sara!“

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Kleines Lexikon zu „Ist das nicht Sara?“ Bar Mizwa Mit 13 Jahren wird ein jüdischer Junge „Bar Mizwa“. Das bedeutet „Sohn der Pflicht“. Er übernimmt von diesem Zeitpunkt an alle Rechte und Pflichten, die in der Torah stehen. Dann wird der Junge zum ersten Mal in der Synagoge zur Torah-Lesung aufgerufen und er trägt einen Teil des Wochenabschnitts auf Hebräisch vor. Meistens wird ihm zu Ehren ein großes Fest veranstaltet. Er wird beim Minjan mitgezählt und kann als Zeuge bei einer Hochzeit oder vor Gericht auftreten. Bat Mizwa „Bat Mizwa“ bedeutet „Tochter der Pflicht“. Mädchen werden bereits mit 12 Jahren religiös erwachsen. Da Frauen bei der Ausübung des Gottesdienstes keine bestimmten Aufgaben haben, gibt es keine genau festgelegte Feier. Aber in manchen Reformgemeinden lesen Mädchen genau wie die Jungen am Sabbat aus der Torah vor oder sie halten am Freitagabend während des Gottesdienstes eine Rede. Bund Vor ungefähr 4000 Jahren kam Abraham mit seiner Familie in das Land Kanaan. Das ist ein Gebiet, das ungefähr dem heutigen Israel entspricht. Gott schloss mit ihm einen „Bund“, also eine Art Vertrag. Darin hat er sich verpflichtet, der Gott der Juden zu sein. Und die Juden haben sich verpflichtet, seine Gebote zu befolgen. Chanukka Christen feiern Advent, Juden haben ihr Chanukka-Fest. Es ist ein Lichterfest, genauso wie die Adventszeit. Der Reihe nach werden Kerzen angezündet. Aber nicht vier, sondern acht: Acht Tage lang, jeden Abend eine, kurz nach Sonnenuntergang, bis schließlich alle acht Kerzen brennen.

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Der Grund für diesen Brauch ist schon über 2000 Jahre alt: Die Juden wurden damals von dem syrischen König Antiochus IV. Epiphanes unterdrückt. Damals lebte jedoch ein mutiger Mann unter den Juden: Judas „Makkabäus“. Er schaffte es, mit wenigen tapferen Männern eine Widerstandsbewegung aufzubauen, die den Aufstand gegen den syrischen König plante. Der Aufstand war erfolgreich. Die Juden erhielten wieder ihren Tempel zurück, den sie reinigten und neu einweihten, also feierlich in Gebrauch nahmen. Damit sind wir beim Namen dieses Lichterfestes. Chanukka heißt auf Hebräisch „Einweihung“. Als die Juden den zertrümmerten achtarmigen Leuchter im Tempel fanden, schmiedeten sie aus ihren Waffen einen neuen. Doch das Öl, das sie fanden, würde höchstens einen Tag reichen. Doch der wundersame Leuchter brannte ganze acht Tage lang! Zur Erinnerung an dieses Wunder entzünden Juden jeden Abend von Beginn des Festes an eine weitere Kerze am Chanukka-Leuchter. Man benutzt zum Anzünden eine zusätzliche Kerze. Dieser „Diener“ hat seinen besonderen Platz auf dem Leuchter, der insgesamt neun Arme hat. Galut Die Zerstreuung der Juden auf der ganzen Welt nach ihrer Vertreibung aus Israel. Hebräisch Hebräisch ist eine Sprache mit eigenen Buchstaben, die von rechts nach links geschrieben wird. Hebräisch ist für die Juden eine heilige Sprache, weil der Tenach und andere wichtige Schriften in dieser Sprache verfasst wurden. Auch viele jüdische Gottesdienste finden auf Hebräisch statt. In Israel wird heute eine moderne Form des hebräisch gesprochen. Diese Sprache heißt Iwrit.

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Jerusalem Die Stadt Jerusalem hat eine lange Geschichte Für die drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam ist Jerusalem eine heilige Stadt. Abraham sollte hier auf dem Berg Morija auf Befehl Gottes seinen Sohn Isaak opfern. König David eroberte diese Stadt und machte sie zur Hauptstadt seines Königreichs. Deshalb wird sie auch Stadt Davids genannt. König Salomo ließ dort dem ersten Tempel bauen und verwahrte in seinem Allerheiligsten die Bundeslade mit den Gesetzestafeln, die Mose auf dem Berg Sinai gegeben worden waren. Jerusalem war der Mittelpunkt des jüdischen Lebens, bis die Römer den zweiten Tempel im Jahr 70 n.Chr. zerstörten. Auch Jesus lehrte und wirkte in Jerusalem, und Mohammed hat von Jerusalem aus seine berühmte Himmelsreise unternommen. Seit 1948 ist Jerusalem die Hauptstadt des Staates Israel. Jude Ein Jude ist ein Angehöriger des jüdischen Volkes und der jüdischen Religion. Nach dem Gesetz gilt jemand als Jude, der eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist. Messias Juden warten auf die Ankunft des Messias, des Gesandten Gottes, am Ende der Tage. Wenn er gekommen ist, wird auf der Welt immer Frieden herrschen, und es wird keine Ungerechtigkeit mehr geben. Dann gibt es auch keine Armut und keinen Hunger mehr. Mesusa An der Haustür und am rechten Pfosten jedes Zimmers ist in vielen jüdischen Wohnungen die „Mesusah“ angebracht. Das ist ein kleiner Behälter mit einer winzigen Pergamentrolle, auf der Bibeltexte stehen. Sie erinnert an die Befreiung des Volkes aus der Sklaverei (2. Mose 12). Auf der Rückseite und der äußeren Hülle der Pergamentrolle ist der Buchstabe Shin zu sehen, mit dem das Gebet

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„Schma Israel“ und einer der Namen Gottes (Schadej) beginnt. Wenn Juden hinein- oder herausgehen, berühren sie die Mesusa mit der Hand. Minjan Bei wichtigen religiösen Handlungen müssen mindestens zehn erwachsene Männer anwesend sein: zum Beispiel beim Vorlesen der Torah oder beim Totengebet, dem Kaddisch. Ein Junge, der mit 13 Jahren Bar Mizwa wird, wird beim Minjan dazugezählt. Mizwa, (Mehrzahl Mizwot) Das Wort Mizwah bedeutet Pflicht und umfasst alle in der Torah stehenden Gebote und Verbote. Dazu gehören: die Zehn Gebote, die Speisegesetze (Kaschrut), die Reinheitsgebote, die Pflicht, Armen, Waisen und Witwen zu helfen, Kranke zu pflegen, einen Teil des eigenen Einkommens zu spenden, die Kinder in der Torah zu unterrichten und Regeln zur Bestrafung von Verbrechen. Nach der Bar-Mizwah bzw. Bat-Mizwah gilt jeder als religiös erwachsen und somit für seine Taten gegenüber Gott selbst verantwortlich. Mose Nach der biblischen Überlieferung führte Mose sein Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten. Nach dem Zug durch die Wüste verbrachte er 40 Nächte auf dem Berg Sinai und empfing dort zwei Gesetzestafeln mit den 10 Geboten. Damit ist Mose für Juden der Überbringer der Torah und aller Gesetzesvorschriften. Das gelobte Land Kanaan durfte er jedoch nicht mehr betreten. Die fünf Bücher Mose sind nach ihm benannt. Pessach Wenn Christen Ostern feiern, feiern Juden Pessach. Acht Tage dauert dieses große Fest, und es beginnt mit dem Sederabend. Das Pessachfest erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten.

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Rabbi, Rabbiner Der Rabbiner ist ein Gelehrter, der nach seiner Ausbildung Leiter einer jüdischen Gemeinde werden kann. Dort ist er für die Einhaltung der Rechtsvorschriften, der Halachah, zuständig. Er kümmert sich um die religiöse Erziehung, arbeitet als Seelsorger und führt Trauungen durch. Sabbat Der Sabbat ist der siebte Tag der jüdischen Woche und ein besonderer Ruhetag. Er wird eingehalten, weil Gott die Welt an sechs Tagen erschuf und am siebten ruhte. Der Sabbat beginnt wie alle jüdischen Feiertage am Abend des Vortages und endet am Samstag nach Sonnenuntergang. Am Freitagabend zünden die Frauen die Sabbatkerzen an. Dann beginnt die Sabbatruhe mit einem festlichen Essen im Kreis der Familie. Am Sabbat wird nicht gearbeitet. Gläubige Juden gehen in die Synagoge, um einen Abschnitt aus der Torah zu hören. Synagoge Der jüdische Gemeindegottesdienst findet in der Synagoge statt. Wenn Männer in die Synagoge gehen, setzen sie die Kippa auf. Sie gehen zu ihrem Platz und öffnen das kleine Kästchen vor ihnen, in dem sich Gebetbuch und Gebetsschal befinden. Viele Gemeindemitglieder haben ihren Platz in der Synagoge gemietet. Damit ein „richtiger“ Gottesdienst zustande kommt, müssen mindestens 10 erwachsene Männer anwesend sein. Torah Torah ist die Bezeichnung für die fünf Bücher Mose. Der Schrank mit den Torahrollen liegt in jeder Synagoge in östlicher Richtung.

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