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German Pages 345 [352] Year 1996
Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter Internationales Symposium., Roscrea 1994
Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter Internationales Symposium, Roscrea 1994
Herausgegeben von Timothy R. Jackson, Nigel R Palmer und Almut Suerbaum
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Umschlagsabbildung: Kreuz des Muiredach, Monasterboice, Irland, Westseite: PETER HARBISON, The High Crosses of Ireland. An Iconographical and Photographic Survey, 3 Bde., Bonn 1992. Abb. 480 (mit freundlicher Genehmigung des Autors). Von unten: zwei Katzen, Inschrift: OR DO MUIREDACH LASNDERN RO (>Gebet für Muiredach, der das Kreuz errichten ließPsalterium glossatum< von Wilhelm Müncher (1418)
97
Kurt Gärtner (Trier) Die Auslegung der Schöpfungsgeschichte in der >ChristherreChronik
Historia Scholastica< als Quelle biblischer Stoffe im Mittelalter
153
Frank Shaw (Bristol) Chronometrie und Pseudochronometrie in der Weltchronistik des Mittelalters
167
Walter Roll (Trier) Die Bibelübersetzung ins Jiddische im 14. und 15. Jahrhundert .
183
VIII
Inhaltsverzeichnis
John L. Flood (London) Alte Heilige, neue Krankheiten. Wechselbeziehungen zwischen Heiligenverehrung und Heilkunde um 1500
197
Nine Miedema (Münster) Reliquienverehrung und Wallfahrt. Rom als Beispiel und Vorbild
215
Christa Ortmann (Konstanz)/Hedda Ragotzky (Siegen) signißcatio laicalis. Zur Autorrolle in den geistlichen Bispein des Strickers
237
Peter Macardle (Durham) Die Gesänge des >St. Galler Mittelrheinischen PassionsspielsSelige SchererinNibelungenliedRolandsliedes< hat die Fragwürdigkeit sprachlicher und formaler Kriterien für den zeitlichen Ansatz der Denkmäler bestätigt. Man müßte das noch weiterführen: Die Werküberlieferung sowohl des >Rolandsliedes< wie auch der Denkmäler der sog. frühmittelhochdeutschen Literatur in den drei großen Sammelhandschriften (Vorauer, Wiener, Millstätter Sammelhandschrift) zeigt, daß diese Werke bis ins erste Drittel des 13. Jahrhunderts hinein interessierte Auftraggeber für die Handschriften und Hörer/Leser für die Texte gefunden haben.3 Das heißt, daß eine literarhistorische Deskription der Zeit um 1200 auch diese Werke zu berücksichtigen hätte. Auch sie, die Handschriften wie die durch sie überlieferten Texte, gehören zum literarischen Leben innerhalb der höfischen Kultur, sind Zeugnisse zeittypischen literarischen Interesses. Auch für die Datierung der Texte selbst wäre das Kriterium sprachlicher bzw. formaler »Altertümlichkeit« grundsätzlich zu überdenken. Die literarische Produktion Hartmanns oder Gottfrieds hat offenbar in ihrer unmittelbaren zeitlichen Umgebung noch keine verbindliche Normierung des ästhetischen Geschmacks bewirkt. Eine solche scheint erst in den Folgegenerationen (Rudolf von Ems, Konrad von Würzburg) einzusetzen.4 Diese Überlegungen wären weiterzuführen und zu differenzieren. Es scheint insgesamt, als gingen die genannten Kriterien literaturgeschichtlicher Reihung aus von der (im Grunde naturwissenschaftlichen) Vorstellung einer konsequenten Entwicklung von unvollkommenen Anfängen über entwikkeltere Formen zu einem Status ausgebildeter Vollkommenheit. In den Rahmen der hier nur angerissenen Problematik gehört die folgende Untersuchung. Sie gilt religiösen Dichtungen der Zeit um 1200, die, apokryph-biblischen Vorlagen folgend, Geschichten von Maria und Jesus erzählen. Es geht um die >Maria< des Priesters Wernher, um die >Kindheit Jesu< Konrads von Fußesbrunnen und um >Hinvart< und >Urstende< Konrads 3
Für die Handschriftendatierung ziehe ich heran KARIN SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, 2 Bde., Wiesbaden 1987. Zum .Rolandslieds Hs. P (Heidelberg, ÜB, cpg 112): um 1200 (S. 79-81); die fragmentarisch erhaltenen Handschriften liegen etwa gleichzeitig, das Erfurter Bruchstück scheint einige Jahrzehnte jünger zu sein. - Vorauer Sammelhandschrift (Stiftsbibl., Cod. 276): letztes Viertel 12. Jh. mit Nachträgen um 1200 bzw. Anfang 13. Jh. (S. 37-41); Wiener Sammelhandschrift (ÖNB, Cod. 2721): letztes Viertel 12. Jh. (S. 4\—44); Millstätter Sammelhandschrift (Klagenfurt, Geschichtsverein, Cod. 6/19): um 1200, frühes 13-Jh. (S. 85-88). 4 Sichtbar etwa in Rudolfs von Ems Aussage über den Alexanderdichter Lambrecht, dieser habe nach den alten Uten / stumpfliche, niht wol besniten gedichtet (>AlexanderTristanMaria< in die sog. frühmittelhochdeutsche Literatur eingeordnet, gemeinsam mit den Legenden der >KaiserchronikArnsteiner Mariengebets dem >Melker Marienlied* oder den deutschsprachigen Mariensequenzen aus St. Lambrecht/Seckau oder Muri.6 HELMUT DE BOOR hatte Wernhers Dichtung im 1. Band seiner Literaturgeschichte als »bedeutende[s] Werk der ausklingenden religiösen Dichtung des 12. Jahrhunderts« bezeichnet, gleichzeitig sieht er es »an der Spitze der zahlreichen Marienleben, die das 13./l4. Jahrhundert hervorgebracht hat«.7 Diese, die Mariendichtungen des 13. Jahrhunderts, behandelt DE BOOR in einem kleinen Kapitel »Die religiöse Dichtung« in Bd. 2 seiner Literaturgeschichte; zeitlich setzt er sie in die Umgebung Rudolfs von Ems, also um etwa 1230 an.8 Ganz entsprechend ist die Einordnung Wernhers wie auch der Mariendichtungen des 13. Jahrhunderts in den folgenden Literaturgeschichten bis hin zu der von KARTSCHOKE [u. a.] (1990).9 Der zeitliche Zusammenhang der religiösen Erzählungen mit der literarhistorischen Situation um 1200, der von den einschlägigen Literaturgeschichten bislang kaum ansatzweise gewürdigt worden ist, soll hier stärker herausgearbeitet werden. Das Augenmerk wird dabei nicht nur dem in den Editionen bereitgestellten autornahen Text gelten, sondern auch der Textgeschichte. Die unterschiedlichen Redaktionen stellen dabei je eigene Werkzustände dar, die ein jeweils individuelles und historisch zu verortendes Interesse am Text bezeugen und neben dem autornahen Text als Gegenstände von Literaturgeschichte ernstzunehmen und zu interpretieren sind. Dieser Ansatz bewegt sich im Rahmen der in der Forschung unlängst angelaufenen Diskussion des Werkbegriffs mittelalterlicher Literatur. 10 5
Zum Gattungszusammenhang und zu den jeweiligen Vorlagen s. ACHIM MASSKR, Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1969; ders., Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 19), Berlin 1976. Bibliographische Nachweise zu den Quellen der deutschen Dichtungen bietet jetzt die Clavis Apocryphorum Novi Testamenti, hg. von MAURITIUS GF.F.RARD, Turnhout 1992. — Zu grundsätzlichen Problemen der Gattung s. ULRICH WVss, Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (Erlanger Studien 1), Erlangen 1973. 6 Stellvertretend für die älteren Literaturgeschichten nenne ich nur GUSTAV EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Bd. 11,1, München 1922, S. 217-224, für die >Maria< und Bd. 11,2,2 (Schlußband), München 1935, S. 361-365, für Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt. 7 Die deutsche Literatur. Von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung, München 966, S. 214. 8 DE BOOR, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170-1250, bearb. von URSULA HKNNIG, München 101979, S. 357f. ' MAX WKHRI.I, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 174f. und 548-553; KARTSCHOKE [u.a.], Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, 3 Bde., München 1990, hier Bd. l, S. 328-332 und Bd. 2, S. 380-384. 10 Siehe hierzu vor allem die Beiträge von JOACHIM BUMKE, Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbortfragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane, ZfdA 120 (1991), S. 257-302; PKTF.R
4
Nikolaus Henkel
Im ersten Teil meiner Ausführungen gebe ich eine kurze Charakterisierung der Werke und eine Interpretation ihrer Überlieferung, im zweiten werden die Verbindungen der Texte zu Erzählcorpora und die dabei entstehenden Textveränderungen untersucht. I
Der früheste hier zu behandelnde Text ist die >Maria< des Priesters Wernher." Das Werk ist hinsichtlich seiner Entstehungsumstände ungewöhnlich gut bezeugt: Der Epilog bietet sowohl das Abfassungsjahr 1172 wie auch den Namen des Autors und seines Gönners Manegold, in dessen Hause Wernher das Werk geschrieben habe und aus dem er nicht eher entlassen worden sei, als bis er das Werk vollendet habe: do enwart niht vilgelachet bemerkt Wernher dazu (C 2851). Seinen und Manegolds Namen zusammen fand Ulrich Pretzel in einer Urkunde des Bistums Augsburg vom gleichen Jahr 1172.12 In Augsburg hatte man unter Abt Ulrich von Biberach (1169-1174) das Fest Annuntiatio B.M.V. (25. März) installiert, möglicherweise der Anlaß von Wernhers Dichtung. Auf Bezüge einzelner Textstellen zur Augsburger Liturgie hatte schließlich FROMM hingewiesen.13 Wie unsicher die konkreten historischen Zusammenhänge bisher aufgehellt sind, ist freilich mittlerweile deutlich geworden;14 ein Zusammenhang Wernhers und Manegolds mit dem Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra wird überhaupt angezweifelt.15
STROHSCHNEIDER, Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld, ZfdA 120 (1991), S. 419-439; NIKOLAUS HENKEL, Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./l4. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von JOACHIM HEINZI.E (Germanistische Symposien, Berichtsbände 14), Stuttgart/Weimar 1993, S. 39-59. - Methodisch grundlegend ist der Beitrag von KURT RUH: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, hg. von KURT RUH (Texte und Textgeschichte 19), Tübingen 1985, S. 262-272. " Siehe vor allem HANS FROMM, Untersuchungen zum Marienleben des Priesters Wernher, Turku 1955; ders., Priester Wernher, in: Literaturlexikon, hg. von WALTER KILI.Y, Bd. 12, 1992, S. 263f. Den Text zitiere ich nach: Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hg. von CARL WESLE, 2. Aufl. bes. durch HANS FROMM (ATB 16), Tübingen 1969. Für die Bewertung der Überlieferung wird noch die große Ausgabe herangezogen: Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hg. von CARL WESLE, Halle [Saale] 1927. 12 ULRICH PRETZEL, Studien zum Marienleben des Priesters Wernher, ZfdA 75 (1931), S. 65-82. '·' FROMM, Untersuchungen [Anm. 11], S. 43f. Die hier u. a. angeführte Wendung^»«; et origo boni (5680 = A 4694) ist wenig aussagekräftig, da geläufiges Psalmzitat. - Auch für die beiden Werke Konrads von Heimesfurt ist eine ausgesprochen enge Verbindung zur Liturgie angenommen worden, vgl. GARTNER/HOFFMANN [Anm. 50], S. XLVII mit weiteren Nachweisen. 14 JOACHIM BUMKE, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 134f. und S. 364 mit Anm. 369-374. 15 So von NORBERT HÖRBERG, Libri Sanctae Afrae. St. Ulrich und Afra zu Augsburg im 11. und 12. Jahrhundert nach Zeugnissen der Klosterbibliothek (Studien zur Germania Sacra 13), Göttingen 1983, S. 245-247.
Religiöses Erzählen um 1200
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Erstaunlich ist das im Prolog sich äußernde Selbstbewußtsein des Autors, der seine eigene Leistung, die Erschließung des Werks in deutscher Sprache für phaffen, laien, frouwen (144), gleichrangig einstuft neben der des Evangelisten Matthäus als (angenommenem) Verfasser der Quelle und der des Kirchenvaters Hieronymus als deren Übersetzer ins Lateinische. Vor der humanistischen Übersetzergeneration des 15. Jahrhunderts dürfte solch eine kulturgeschichtliche Dimensionierung des Übersetzens in die Volkssprache singular sein. Das Werk erzählt, dem späten, aus dem 5. Jahrhundert stammenden Ps.Matthäusevangelium folgend, in driu liet von den Eltern Marias und von ihrer Geburt, von ihrer Vermählung mit dem greisen Joseph und von der Geburt des Gottessohnes, seiner Darstellung im Tempel, von der Flucht nach Ägypten und der Heimkehr. In einem knapp gefaßten, vielleicht nachträglich zugefügten Schluß von etwa 300 Versen (A 4469^739; C 53895726) werden Wirken und Wundertaten Christi, sein Tod, Himmelfahrt und Jüngstes Gericht erzählt.16 Bemerkenswert ist, daß der Verfasser Wernher seinem Werk eine handfest praktische Bedeutung in der perinatalen Medizin zuweist: Wo dieses Buch im Hause sei, gehe eine Geburt leicht vonstatten; Maria selbst werde sich des Neugeborenen annehmen.17 Ich kenne kein anderes Beispiel für solch im Text selbst formuliertes magisches Verständnis der im Buch sich manifestierenden und im poetischen Text sich präsentierenden Heilswahrheit.18 Schon vom Überlieferungsbefund her ist die Einordnung der >Maria< in den Kreis der frühmittelhochdeutschen geistlichen Literatur problematisch. Deren Werke sind in der Regel unikal überliefert, nur weniges ist in zwei bis drei Fassungen belegt (>GenesisExodusPhysiologusCantilenaMariaMaria< gibt es einige Werke, die hinsichtlich ihres Weiterwirkens in etwa vergleichbar wären: Lambrechts >AlexanderRolandsliedHerzog Ernst< und Eilharts >TristrantMaria< betrachten. Fünf Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (Siglen: BCEFG) überliefern einen relativ autornahen Text, bieten aber wegen ihres fragmentarischen Erhaltungszustands nur knapp die Hälfte des gesamten Werks in dieser Fassung. Nahe am Archetyp stehen nur die beiden Fragmente B und F, aus der 1. Hälfte bzw. aus der Mitte des 13. Jahrhunderts; die übrigen drei Fragmente, C, E und G, rechnet FROMM schon zum Bearbeitungstypus,22 doch bleibt die Tendenz der Änderungen, sieht man von kleineren Modernisierungen ab, unklar. Eine Kontrolle der Handschriften gegeneinander ist kaum möglich, da es nur geringfügig sich überschneidende Textpartien gibt. Innerhalb dieser Gruppe ist das umfangreiche Fragment C bemerkenswert: Es bot den Text offenbar ohne den gesamten Prolog (l— 225).23 Das Faktum an sich ist nicht ungewöhnlich; es zeigt den bewußten Verzicht auf die an dieser Stelle in der Regel vorfindlichen Elemente wie poetologische Prinzipien, Rezipientensteuerung, Autoraussagen etc.24 Außerdem treten in dieser Handschrift Varianten auf, »die an sich richtig sein 19
Siehe hierzu KURT GÄRTNER, Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Willirams von Ebersberg, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von VOLKER HONEMANN/NIGEL F. PALMER, Tübingen 1988, S. 134; HANS ULRICH SCHMID, Eine spätmittelalterliche Übersetzung des Hohen Liedes, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1100—1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von NIKOLAUS HENKF.L/NIGEI. F. PALMER, Tübingen 1992, S. 199-208. 20 Ausnahme: Wien, ÖNB, Cod. 2696 (dazu s. u.). 21 Die nur fragmentarisch erhaltenen Handschriften B, C, E, F, G sowie die Bearbeitungen A und D. Zur Überlieferung s. die Einleitung zu WESLKS Ausgabe [Anm. 11] sowie die Nachträge von FROMM zur Neuausgabe [Anm. 11], S. XIX-XXIII. 22 FROMM, 1969 [Anm. 11], S. XXI: »Durch die Fragmente hindurch, aus denen sich für Wesle das Original ergab, verläuft die Trennlinie.« "WESLE [Anm. 11], S. XVII. 24 Das einschlägige Material zu vergleichbaren Fällen habe ich in dem oben Anm. 10 genannten Beitrag, S. 49, zusammengestellt.
Religiöses Erzählen um 1200
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könnten, aber durch die Übereinstimmung von zwei oder gar drei ändern Zeugen als unrichtig erwiesen werden«.25 Daß solche variablen Lesarten in der Literatur um 1200 nicht selten sind, hat BUMKE unlängst aufgezeigt.26 Deutlicher konturiert ist Fassung D der >MariaEneasroman< anzusiedeln ist.34 Die zweite eigenständige Bearbeitung von Wernhers >Maria< (A) findet sich in einer etwas später, bald nach 1250, entstandenen Sammelhandschrift (16,5 x 10,8 cm), die gleichfalls einspaltig mit durchgeschriebenen Versen angelegt ist.35 Der >Maria< gehen — auf einem etwa gleichzeitigen, aber eigenständigen Faszikel - einige geistliche Kleintexte voraus: Anweisung für Bittgebete; Auslegung der Eigenschaften der Hostie; Anrufung Mariens; ein Reimgebet auf den Tod Christi. Am Schluß der >Maria< folgt unmittelbar die >Kindheit Jesu< Konrads von Fußesbrunnen, als Neueinsatz lediglich gekennzeichnet durch eine sechs Zeilen hohe Initiale. Weder eine Überschrift noch eine Verfasserangabe machen deutlich, daß nach der >Maria< das Werk eines anderen Verfassers beginnt. Ich komme unten auf dieses Corpus zurück. Überblickt man die genannten Überlieferungszeugen von Wernhers >MariaKindheit Jesu< erwähnt knapp, unter Hinweis auf die Bekanntheit der Sache (als ir dicke habt vernomen, 140), die Vermählung Marias mit Joseph (139-194) und erzählt dann die Ereignisse von der Verkündigung über die Beschuldigung Marias bis zur Geburt Christi und die weiteren Ereignisse bis zum bethlehemitischen Kindermord (195— 1324). Ausführlicher werden dann die Flucht nach Ägypten (1325-2530) und die Wundertaten des Jesuskindes (2531-3004) dargestellt.36 Während Priester Wernher den Ort seines eigenen Werks im Zusammenhang seiner Vorlagen (Matthäus, Hieronymus) bestimmte, hat Konrad von Fußesbrunnen darüber hinaus ein Werk deutscher Literatur seiner Zeit im Auge, von dem er sich absetzt, eine Dichtung in der Volkssprache: von unser frouwen ein lief, l da meister Heinrich an beschiet l um ir muoter sant Annen (97-99). Den Inhalt dieses »Liedes«, das inhaltlich die Vorgeschichte der >Kindheit Jesu< darstellt, setzt Konrad bei seinen Hörern/Lesern voraus und will ihn nicht noch einmal bedichten. Der Text Heinrichs ist bis auf das knappe Inhaltsreferat bei Konrad verloren. Am Schluß dieser resümierenden Zusammenfassung bemerkt Konrad: wie ez sit dar zuo quam, daz si Joseben genam, daz verstuige ich durch einen list, want ez vor mir getihtet ist. ich velschet mine chunst dar an, swelch materie ein ander man den Hüten hat gemachet chunt, wolt ich die tihten ander stunt. (127—134)
Und damit meint Konrad zweifellos Heinrichs Dichtung, deren Inhalt er nicht zum zweiten Male bedichten will.37 Wir beobachten hier zum ersten Mal ein bewußtes sich Beziehen der Werke religiöser Erzählliteratur aufeinander, das konstitutiv für die gesamte Textgruppe ist. Von mehreren Autoren wird hier eine Art stofflichen Erzählkontinuums »biblischer Geschichte« von Marien- und Jesus-Begebenheiten erarbeitet, bei dem sich das einzelne Werk als Teil eines umfassenderen Ganzen gibt. Daß das nicht nur die Texte als solche betrifft, sondern auch innerhalb der Textgeschichte bei den eigenständig gestalteten Redaktionen beobachtet werden kann und vom jeweiligen Corpuszusammenhang bestimmt ist, wird sich erweisen. 36
Text: Konrad von Fußesbrunnen, Die Kindheit Jesu, hg. von HANS FROMM/KIAUS GRUBMÜII.ER, Berlin/New York 1973; ergänzend dazu: KURT GÄRTNER, Zur neuen Ausgabe und zu neuen Handschriften der >Kindheit Jesu< Konrads von Fußesbrunnen, ZfdA 105 (1976), S. 11-53; weiterhin: Konrad von Fußesbrunnen, >Die Kindheit JesuKindheit Jesu< auf die Zeit um 1200 ist unstrittig.38 »Wortschatz und Formelgut haben ebenso Verbindung zum höfischen Bereich wie zu den thematisch verwandten geistlichen Epen der früheren (Priester Wernher) und späteren (Konrad von Heimesfurt) Zeit.«39 In der Überlieferung der >Kindheit JesuLibellus de infantia Jesu Christi< ist im Klosterneuburger Cod. 840 zusammen mit dem >Nikodemusevangelium< und dem >Transitus Mariae B< zu einem Erzählzusammenhang lateinischer Prosatexte verbunden, der die Kindheit Jesu, seinen Prozeß, das Leben der Maria nach dem Tod ihres Sohnes und ihren Tod umfaßt. Wir kommen auf solche Corpusbildung noch zurück. Kleinformatige Handschriften, wie wir sie durchgängig bei Wernhers >Maria< beobachtet haben, bilden bei Konrads Werk nur einen Teil der Überlieferung: Der auch die >Maria< überliefernde Codex A (Wien, ÖNB, Cod. 2742*) gehört dazu (s. o.) sowie die Fragmente D (3. Viertel des 13. Jahrhunderts)42 und I (Mitte 14. Jahrhundert), beide einspaltig, aber in abgesetzten Versen, sowie das verschollene Fragment G, wohl aus dem 13. Jahrhundert, zu dem nur die Formatangabe 12° vorliegt.43 Im übrigen liegt Quart- oder kleineres Folioformat vor mit mehrspaltiger Einrichtung und - außer in F und L - in abgesetzten Versen. Unklar ist, ob und wie weit man Einzeltext-Überlieferung (wie bei der >MariaKindheit Jesu< stets mit einem weiteren einschlägigen religiös erzählenden Text einen Zusammenhang bildet: in A mit Wernhers >MariaUrstende< und der gleichfalls um 1200 anzusetzenden Marienlegende des >JüdelHinvartKindheit Jesu< nach Konrad von Fußesbrunnen, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag, hg. von KONRAD KUNZE [u. a.], Tübingen 1989, S. 59-99, hier S. 77-99. Abbildungen daraus bei FROMM [u. a.] [Anm. 36], S. 27f.; 79-82; 100-102; eine Beschreibung der Handschrift findet sich ebd. S. 9. 42
So SCHNEIDER [Anm. 3], S. 202f.
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Solch eine kleinformatige, einspaltig mit abgesetzten Versen eingerichtete Handschrift ist auch Cod. 1242 der Stiftsbibliothek Klosterneuburg, der Bruder Philipps >Marienleben< enthält, in das u. a. aus Konrads >Kindheit Jesu< die Schächerszene inseriert ist; s. GÄRTNER [Anm. 36], S. 13— 19.
Religiöses Erzählen um 1200
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auch das Fragment L, dem sich im ursprünglichen Verbund des St. Galler Cod. 857 gleichfalls die >Hinvart< anschloß. Für die >Kindheit Jesu< wie auch für die >Hinvart< gehören beide Handschriften auch textkritisch eng zusammen. Wie die Handschrift C (Karlsruhe, Badische Landesbibl., cod. Donaueschingen 74, 2. Viertel 14. Jahrhundert 44 ) bezeugt gerade auch das zum St. Galler Cod. 857 gehörende Fragment L (Berlin, SBB-PK, Ms. germ. foi. 1021, nicht später als 2. Viertel 13. Jahrhundert 45 ) den Überlieferungszusammenhang religiöser und weltlicher Erzählliteratur, den FROMM und GRUBMÜLLER schon vor Aufdeckung der kodikologischen Zusammenhänge vermutet hatten.46 Früh sind in der Überlieferung der >Kindheit Jesu< Textredaktionen von eigenem gestalterischem Format zu beobachten. Deutliches Profil hat die Bearbeitungsstufe *CL, die wegen der frühen Datierung von L noch aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts stammen muß. Neben formaler Glättung des Verses fallen an zahlreichen Stellen eigene Textänderungen und vor allem klärende Zusätze des Redaktors auf.47 Sicher läßt sich das Ausmaß dieser frühen Redaktion nur für die Textstrecke erkennen, in der auch L erhalten ist. Ich vermute aber, daß sich auch in dem nur von C vertretenen Bestand dieser eigenständige Umgang mit dem Text fortsetzt, doch ist dessen Ausmaß nicht sicher zu bestimmen. Auf keinen Fall lassen sich die in C zu beobachtenden Zusätze auf den Schreiber dieser Handschrift im H.Jahrhundert zurückführen.48 Sie können, wenn nicht in *CL, so doch ebensogut in *C, der Vorlage der erhaltenen Handschrift, liegen. Die Ausfüllung kleinerer Handlungslücken, so die beiden Verse nach 2802, Neufassungen von Passagen wie 2153-2156 oder 2517-2520, geringere (zwei bis acht Verse) und größere Zudichtungen von zehn bis über 100 Versen Umfang sowie eine Reihe von kleineren Streichungen zeigen den gestaltenden Zugriff des Redaktors. Seine qualitative Bewertung sollte sich nicht auf Formales (Sprache, Versbau, Reim) beschränken, sondern müßte den Vorgang des eigenständigen und in jedem Fall überlegten und motivierten »Umschreibens« als solchen würdigen und absetzen vom simplen Kopieren einer Vorlage. Auf mögliche Tendenzen solcher redaktioneller Gestaltung im Rahmen der Corpusbildung gehe ich weiter unten ein.
44
So die Datierung KARIN SCHNEIDERS, referiert von GÄRTNER/HOFFMANN [Anm. 50], S. XXII. SCHNF.IDKR [Anm. 3], S. 133-142, die den Zusammenhang zwischen dem St. Galler Cod. 857 und dem Berliner Fragment der >Kindheit Jesu< erstmals bemerkte. Siehe auch unten die Ausführungen zu Konrads von Heimesfurt >HinvartKindheit JesuMaria< gestaltet. Auch darauf komme ich noch zurück. III
Konrad von Heimesfurt ist mit seinen beiden Werken bis in die jüngste Vergangenheit in die zeitliche Umgebung Rudolfs von Ems, also in die Zeit um 1225/1230 gesetzt worden, obwohl ein Chuonrat de Heimesfurt in vier Urkunden des Bischofs Hartwig von Eichstätt aus den Jahren 1198, 1204 und 1212 nachgewiesen ist.49 Es überzeugt jedoch das von den Herausgebern der Texte vertretene Plädoyer für die Datierung der Werke im Zusammenhang mit dem urkundlichen Material.50 Damit gehört Konrad von Heimesfurt in die Zeit um bzw. bald nach 1200 und in die gleiche Generation wie Konrad von Fußesbrunnen, und stilistisch zeichnen Konrad von Heimesfurt »sichere Reminiszenzen aus dem >Gregorius< und aus dem >Iwein< aus«, der Einfluß Gottfrieds ist unverkennbar, und einzelne Verse hat er der >Kindheit Jesu< Konrads von Fußesbrunnen entnommen.51 Die >Urstende< (nach der >Hinvart< entstanden) stellt die Ereignisse von Jesu Einzug in Jerusalem, seinen Prozeß, seine Kreuzigung und Auferstehung sowie die Himmelfahrt und das Pfingstgeschehen dar und fügt dem Ganzen ausführliche Zeugenberichte, u. a. über die Höllenfahrt, bei. >Unser vrouwen hinvart< erzählt, dem ps.-melitonischen Transitus Mariae B2< und einigen Nebenquellen folgend,52 Marias Leben nach dem Tod ihres Sohnes, ihren eigenen Tod, Begräbnis und Aufnahme in den Himmel. Wie bei Priester Wernhers >Maria< so sind auch bei >Urstende< und >Hinvart< Bezüge zur Liturgie aufgedeckt worden.53 Es hat den Anschein, als habe Konrad von Heimesfurt bewußt und geplant an einen Stoffkomplex anknüpfen und diesen abschließen wollen, der durch Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen und den durch diesen bezeugten Meister Heinrich in deutsche Verse gebracht vorlag. Das bleibt freilich Vermutung, denn anders als bei Konrad von Fußesbrunnen, bei dem sich ein bewußtes inhaltliches Anknüpfen an seinen Vorgänger Heinrich erweisen läßt, geben die Werke des Heimesfurters keinen expliziten Hinweis 49
So noch WERNER FECHTER, Konrad von Heimesfurt, 2VL V, Sp. 198-202. Bezeichnend ist die Argumentation für die Spätdatierung: »Da der Dichter sich als Geistlichen vorstellt und seine Werke später anzusetzen sind, dürfte er mit ihm [sc. dem urkundlich Bezeugten] nicht identisch, sondern eher sein Sohn oder Neffe sein.« (ebd. Sp. 199). 50 Konrad von Heimesfurt, >Unser vrowen hinvart/ und >Diu urstendeHinvart< hat ausweislich der jeweiligen Schreibsprache ins Mittel- und Niederdeutsche ausgegriffen. Sie umfaßt drei vollständige Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts sowie sechs Fragmente, von denen E, F, G aus dem 13., H und K aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen, ebenso I (fast 1000 Verse inseriert in Bruder Philipps >MarienlebenMarienlebenHinvart< die knappe Passage Philipps ersetzt. Eine Redaktion von besonders ausgeprägter Eigenständigkeit bietet das Fragment H (I.Hälfte 14. Jh.). Es umfaßt die Abschnitte 469-521 und 749-798, d. h. nur gut 100 Verse, doch sind über 25 davon eigenes Produkt des Redaktors. Man wird davon ausgehen können, daß hier eine grundsätzliche Umarbeitung des Werks vorliegt, deren Tendenz aufgrund des geringen Materials nicht zu bestimmen ist. Die >Urstende< ist vollständig nur in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. 2696 (um 130056) erhalten und steht hier im Überlieferungsverbund zwischen der >Kindheit Jesu< und dem gleichfalls wohl um oder bald nach 1200 entstandenen Jüdek Etwa ein Drittel des 2160 Verse umfassenden Textes ist außerdem in fünf Handschriften der >Weltchronik< Heinrichs von München inseriert. IV
Ich beschreibe nun Fälle, in denen die genannten Texte in unterschiedlich zusammengesetzter Corpus-Überlieferung gemeinsam überliefert sind und das Eigenprofil der Redaktionen mit der Überlieferungsgemeinschaft zusammenhängt.
54
Man könnte in diese Konzeption auch das etwa gleichzeitige >Jüdel< einbeziehen, das als Marienlegende an das Wirken der Mutter Jesu anknüpft. Vgl. dazu HANS-pRIKDRICH RoSKNHü.D, >Das JüdelUrstende< bei FROMM [u. a.] [Anm. 36], S. 106. r8 ' Zum »Programm« der Sammlung s. den Beitrag von WKRNKR FKCHTKR, Eine Sammelhandschrift geistlicher Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts (Wien 2696), in: Festgabe für Friedrich Maurer, hg. von WKRNKR BKSOH [u. a.], Düsseldorf 1968, S. 246-261.
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Textzeuge für die >Urstende< und das >JüdelKindheit Jesu< hat GÄRTNER nachweisen können.69 Der Text von B bietet am Ende des Prologs ein weiteres Beispiel dafür, wie die Texte untereinander inhaltlich verknüpft werden. Unmittelbar nach der Passage, in der Konrad die Möglichkeit zurückweist, etwas zu bedichten, das ein anderer vor ihm in Verse gebracht habe, findet sich in B (und im Fragment L) die Bemerkung:
[- -.] Wald ich die tihten ander stunt. Daz wer auch gar ze lenge. Ein buoch heizet daz anegenge, swer dises maeres irre gat der suoch iz dar an wand ez da stat. (BL 134-138)
Solches Verweisen und Verbinden der Texte untereinander scheint im 13. Jahrhundert üblich zu werden. In der Handschrift B gehört das >Anegenge< übrigens zum Programm der Sammlung, mir scheint aber im Gegensatz zur communis opinio keineswegs sicher, daß mit der Bemerkung in B und L auch dieser Text gemeint ist.70 Ob die Vorlagen von B (und L) die 97ff. genannte Dichtung des Meisters Heinrich enthielten oder das 135-138 genannte >AnegengeHinvart< (A) S. 118''-129a.71 Die >Kindheit Jesu< endet mit einem neben die letzte Zeile gesetzten Amen; die >Hinvart< schließt sich in der gleichen Spalte nach einem Freiraum von drei Zeilen für eine Werküberschrift und Platz für eine fünfzeilige Initiale an.72 Beide Texte weisen sich aufgrund des gemeinsamen Layouts (zwei 69
GÄRTNER [Anm. 36], S. 48. Die Tatsache, daß in L ebenfalls auf dieses »Anegenge« verwiesen wird, könnte daraufhindeuten, daß der so benannte Text auch in der Vorlage von L enthalten war. Merkwürdig bleibt der Verweis indes inhaltlich: Der uns unter dem Namen >Anegenge< bekannte Text verfährt nahezu durchgängig theologisch räsonnierend und behandelt Schöpfungs- und Heils-/Erlösungstheologie. Die biblischen Ereignisse des Alten und Neuen Testaments (bis zur Himmelfahrt Jesu) werden nur gerüsthaft »erzählt«. Die Vorgeschichte der »Kindheit Jesus also die Herkunft der Maria, fehlt hier ganz. Erzählt werden in nicht einmal 100 Versen (2423—2514) aus der Vorgeschichte der Geburt Christi lediglich die Verkündigung, danach die Eheschließung mit Joseph und dessen Engelserscheinung. Ich bin unsicher, ob der Redaktor *BL unser >Anegenge< gemeint hat. Immerhin scheint auch Ezzo anegenge als Werkbezeichnung in seiner >Cantilenai verwandt zu haben (ed. WAAG/SCHROOER in S: 1,3; in V: 16). 71 Beschrieben bei FROMM/GRUBMÜI.I.ER [Anm. 36], S. l l f . und GÄRTNER/HOEI-MANN [Anm. 50], S. XXIIf. (mit weiterer Literatur), wo auch die Datierung durch KARIN SCHNEIDER (oben von mir übernommen) referiert wird. 2 Abbildung des Übergangs zwischen beiden Werken bei FROMM [u. a.] [Anm. 36], S. 107. 0
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Spalten, 50-52 Zeilen) als Einheit aus gegenüber den übrigen Texten: Rudolfs von Ems >Willehalm von OrlensSigenot< (L) und >Eckenlied< (L), die in drei Spalten zu 55-69 Zeilen eingerichtet sind. Die Überlieferungsgemeinschaft aller Texte dürfte aber noch aus dem 14. Jahrhundert stammen. Auf die zahlreichen Zusätze, Neuformulierungen und Streichungen im Text der >Kindheit Jesus die in C und L (zum Teil auch in *CL) vorkommen, hatte ich oben bereits verwiesen. Bemerkenswert scheint mir in C ein großer Zusatz von 102 Versen am Anfang zu sein. Konrad von Fußesbrunnen hatte 97ff. den Inhalt von Meister Heinrichs lief über Anna, Marias Geburt, ihre Jugend etc. referiert. Dieses Inhaltsreferat übernimmt der Redaktor C, nicht aber die daran anschließende Aussage Konrads, diesen Gegenstand nicht noch einmal abhandeln zu wollen. Stattdessen fährt der Redaktor C mit der Geschichte Marias fort, erwähnt ihre Schönheit, die Bitte der Juden an sie, doch einen Mann zu nehmen, die weiteren Geschehnisse, darunter das Gertenwunder, das auch in Wernhers >Maria< erzählt wird, und kommt schließlich dazu, daß Joseph Maria bei sich aufnimmt. Damit ist direkt der Anschluß zum Erzählbeginn der »Kindheit Jesu< gegeben. Der Redaktor C nimmt also die Inhaltsangabe von Heinrichs Dichtung, wie Konrad sie einleitend und mit anderer Zielsetzung gebracht hatte, auf und baut sie mit gut 100 eigenen Versen zur kompletten Vorgeschichte aus. Über die Gründe läßt sich nur mutmaßen: Konnte er bei seinem Publikum die Kenntnis oder Verfügbarkeit von Wernhers >Maria< nicht voraussetzen? Oder strebte er lediglich die inhaltliche Komplettierung des Erzähigangs an? In die Handschrift, die Redaktion C überliefert, paßt das gut; sie enthält nämlich die >Maria< nicht, wohl aber mit der >Hinvart< einen an die »Kindheit Jesu< anknüpfbaren Text. Zusammen mit Konrads Einleitung zur »Kindheit Jesu< und dem Zusatz des Redaktors C ergab sich ein Erzählkomplex, der von Marias Mutter Anna über Marias Kindheit, ihre Verbindung mit Joseph, die Geburt Jesu zu dessen Kindheit führte und in der >Hinvart< den Abschluß eines »Marienlebens« gewann. 4. Corpus St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 857: »Kindheit Jesu< (L), >Hinvart< (E)." Einzugehen ist noch auf die Überlieferung der »Kindheit Jesu< im Textzeugen L (Berlin, SBB-PK, Ms. germ. fol. 1021), der bis zum 19. Jahrhundert Teil des St. Galler Cod. 857 war. Es handelt sich um einen großfor73
Zur Anlage und Datierung der Handschrift s. SCHNEIDER [Anm. 3], S. 133-142; NICKI. F. PALMER, Der Codex Sangallensis 857: Zu den Fragen des Buchschmucks und der Datierung, Wolfram-Studien 12 (1992), S. 15-31 (mit einem vorsichtigen Plädoyer zu einer Spätdatierung um 1260). Daß das verschollene Fragment E der >Hinvart< zum St. Galler Komplex gehöre, hatten schon GARTNER/HOFFMANN [Anm. 50], S. XXVIf. vermutet. Es befindet sich jetzt in Karlsruhe, Badische Landesbibl., cod. K 2037. Entdeckt und publiziert hat es KLAUS KLEIN, Der Sangallensis 857, Konrad von Heimesfurt und Kommissar Zufall, ZfdA 123 (1994), S. 76-90; hier findet sich S. 81 f. eine Übersicht über den Inhalt der Handschrift und die Verteilung der Schreiberhände.
Religiöses Erzählen um 1200
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matigen Codex (31 21,5 cm) südbairischer Provenienz. Nach >ParzivaiWillehalmNibelungenlied< mit >KIage< und Strickers >Karl< enthielt diese Handschrift die >Kindheit Jesu< (Fragment L) sowie, ihr folgend, >Von unser vrouwen hinvart< Konrads von Heimesfurt (Fragment E). Die Überlieferungsgemeinschaft der religiös erzählenden Werke mit höfischer Erzählliteratur ist zunächst bemerkenswert. Und neben dem ehemals Donaueschinger cod. 74 ist dies der einzige Überlieferungszeuge der >Kindheit JesuIweinIwein< und >Kindheit Jesu< im Gedächtnis hatte, scheint mir sicher. Für beide Texte dürften diese Federproben übrigens das früheste überlieferte Schriftzeugnis sein.
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Wie Anm. 73. Wie Anm. 73.
FROMM/GRUBMÜI.I.EK [Anm. 36], S. 24. Wigalois. Der Ritter mit dem Rade, hg. von J[OHANNÜS] M[ARIK] [ . ] 1926, S. 5*f. - Zur Datierung der Handschrift s. SCHNKIDKR [Anm. 3], S. 84-86.
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V Damit komme ich zum Schluß. Die Werke Priester Wernhers, des uns nicht greifbaren Meister Heinrich, Konrads von Fußesbrunnen und Konrads von Heimesfurt etablieren in den Jahrzehnten um 1200 eine bis dahin in der Volkssprache unbekannte Welt apokryph-biblischen Erzählens. Der Kern des bekannten Lebens Jesu wird umgeben von Geschichten, die das aus den kanonischen Evangelien Bekannte weiter ausspinnen (Geburt, Prozeß, Tod Jesu) oder das außerhalb des Kanons Überlieferte in der Form höfischen Erzählens in Versen verfügbar machen (Herkunft, Kindheit und Jugend der Maria, Verbindung mit Joseph, Empfängnis; Höllenfahrt Jesu, Marientod etc.). Es scheint, als hätten die Autoren bewußt und aneinander anknüpfend auf die Ausgestaltung, Erweiterung und Kohärenz dieser Erzählwelt hingearbeitet. Besonders deutlich wird das bei Konrad von Fußesbrunnen. Aber nicht nur die Autoren, auch die namenlosen Redaktoren haben an der Bildung der Erzählzusammenhänge mitgewirkt, an Vorhandenes angeknüpft und Verbindungen geschaffen. Die Editionen der Einzeltexte können diesem Sachverhalt nur durch die Bereitstellung des Materials Rechnung tragen. In den Corpusbindungen der Handschriften (und — soweit erkennbar — auch ihrer Vorlagen) tritt er deutlich zutage. Die nicht geringe Zahl eigenständiger Redaktionen, die sich, beginnend mit der Fassung D von Wernhers >MariaWigaloisGregorius< und Veldekes >Servatius< gehören hierher, aber auch der >Oberdeutsche Servatius< (um 1190), Alberts von Augsburg >Ulrichsleben< (Anfang 13. Jahrhundert), Ebernands von Erfurt >Heinrich und Kunigunde< (nach 1202), das >Jüdel< (Anfang 13. Jahrhundert), alles legendarische Texte, dazu auch die kaum beachtete Form des Legendenromans, der sog. >Laubacher Barlaam< Ottos II. von Freising (um 1200). Zusammen mit
Religiöses Erzählen um 1200
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den vier biblisch-apokryphen Erzählungen ist das ein bemerkenswert reicher Textbestand. Er gehört zur Literatursituation, zum literarischen Leben um 1200 ebenso wie die Gattungen profaner Thematik, der höfische Roman und der Minnesang. Und wie diese sind auch die religiös-erbaulichen Erzählungen Teil der literarischen Adelskultur der Zeit gewesen.
Marienkrönungen in Text und Bild1 von
PETER KURMANN und ECKART CONRAD LUTZ (FREIBURG/SCHWEIZ)
Die für hochmittelalterliche Kirchengebäude so bezeichnende Darstellung der Maiestas Domini ist bis in die jüngste Zeit vor allem eschatologisch verstanden worden.2 Dieses Verständnis liegt vor allem dann nahe, wenn man die Bildformel eng definiert, also von der Verbindung des frontal thronenden Christus in der Mandorla mit den Vier apokalyptischen Wesen als den Evangelistensymbolen ausgeht. Bezieht man allerdings die ikonographische Umgebung dieser Darstellungen und ihre Funktion mit ein, wird die Offenheit der Maiestas deutlich: Die Darstellung des verherrlichten Erlösers weist voraus auf seine Wiederkehr und auf das Gericht am Ende der irdischen Zeit, sie verweist aber auch auf die Vollendung der im Diesseits begründeten Kirche, auf das den Gläubigen verheißene ewige Leben in der Anschauung des Herrn, und deutet so Ursprung, Weg und Ziel der Kirche an. Das zeigt die Herkunft der Maiestas-Darstellungen3 ebenso wie ihre allgemeine Verbreitung im Chorraum der Kirchen, also dort, wo in der Eucharistiefeier die Gemeinschaft der diesseitigen und der jenseitigen Kirche je neu sich ereignet; und das zeigen besonders deutlich die deutschen Portale, an denen (anders als an den französischen, aber auch anders als in den deutschen und französischen Apsiden) Konfigurationen weit überwiegen, die den thronenden Christus der Maiestas nicht mit den Vier Wesen, sondern mit den Patronen oder den Stiftern der jeweiligen Kirche verbinden. Ganz ausdrücklich verweist so auf das in der Kirche gegenwärtige Heil die Inschrift am Tympanon des Münsters von Alpirsbach (1120er Jahre), wo die 1
Dieser Beitrag greift Überlegungen auf, die zunächst Gegenstand eines gemeinsamen Seminars im Rahmen des Mediävistischen Instituts unserer Universität waren. Wir haben den beiden fachspezifischen Zugängen ihre Selbständigkeit gelassen und so die Spannung der interdisziplinären Begegnung zu bewahren versucht. 2 Vgl. zuletzt JOCHEN ZINK, Moissac, Beaulieu, Charlieu - zur ikonographischen Kohärenz romanischer Skulpturenprogramme im Südwesten Frankreichs und in Burgund, Aachener Kunstblätter 56/57 (1988/89), S. 73-182, hier 107f. (mit nachdrücklichem Hinweis auf die Arbeiten von YVES CHRISTE), und PETER K. KLEIN, Programmes eschatologiques, fonction et reception historiques des portails du XI s.: Moissac - Beaulieu - Saint-Denis, Cahiers de civilisation medievale 33 (1990), S. 317-349. 3 Zum Zusammenhang zwischen der in karolingischer Zeit sich herausbildenden klassischen Formulierung der Maiestas Domini (mit der Mandorla und den Vier Wesen) und auf der Vierzahl beruhenden, die kosmische Ordnung betonenden Schemata vgl. ANNA C. ESMEIJKR, Divina Quaternitas. A Preliminary Study in the Method and Application of Visual Exegesis, Assen/Amsterdam 1978, S. 47-53.
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Stifterfiguren beiderseits des in der Mandorla thronenden Christus knien: Ego sum ostium, dich Dominus, per me si quis introierit salvabituf (Abb. 1). Seit dem 12. Jahrhundert trat hier und da und immer häufiger an die Stelle dieser das Heil der Kirche umschreibenden Bildlichkeit ein neues Thema - die Darstellung des Todes, der Himmelfahrt und der Krönung Mariae.5 Sie ersetzte die älteren Bilder oder verband sich doch mit ihnen. Daß es sich hier nicht einfach um die Illustration von Episoden des Marienlebens, also nur um ein Zeugnis wachsender Marienverehrung gehandelt haben kann, macht schon das Verhältnis des Themas zu dem ihm vorangegangenen deutlich. Die Marienkrönung scheint vielmehr, schon auf den ersten (oder doch den zweiten) Blick, eine Neuformulierung des MaiestasThemas, eine Formulierung, die dank ihrer großen Prägnanz besonders geeignet war, die Gewißheit des allen Gläubigen verheißenen ewigen Heils anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Für diese Aufwertung des an sich ja zunächst hagiographischen Motivs spricht wohl auch seine ikonographische Entfaltung: Steht am hochmittelalterlichen Anfang die Erzählung von Tod, Himmelfahrt und Krönung, also eine - im Bild gestraffte — Sequenz aus dem Leben Mariae, begnügt sich besonders das spätmittelalterliche Retabel mit der Krönung allein. Es faßt diese allerdings als gemeinsame Handlung der drei göttlichen Personen auf und betont auf die eine oder andere Weise die Bedeutung des Ereignisses für die Kirche (sancta Ecdesia catholicd) als die Gemeinschaft der Gläubigen (sanctorum communiof (Abb. 2). Gerade hier ist wohl eine Auffassung des Themas vorauszusetzen, nach der am Beispiel Mariae die Belohnung des die Kirche konstituierenden Glaubens auf sinnbildliche und sinnfällige Weise vorweggenommen und zugleich jedem Gläubigen neu verheißen wird:7 Der Glaube, so wie er in den Worten des apostolischen Credos an die drei göttlichen Personen und mit ihnen und über sie an die Schöpfung, die Erlösung und die diesseitige wie auch die jenseitige Kirche gebunden ist, erlangt zuallererst in Maria die Krone des ewigen Lebens. In der Tat ist ja sie, die ancilla Domini, mit ihrem fiat mihi 4
Jo 10,9. Vgl. die einschlägigen Artikel verschiedener Verfasser im Marienlexikon (hg. von RF.MIGIUS BÄUMER/LEO SCHEFFC/.YK, St. Ottilien): Aufnahme, I (1988), S. 276-286; Himmelfahrt Mariae, III (1991), S. 199-208, und Krönung Mariens, III (1991), S. 680-683. 6 So heben etwa am Schnitzaltar in Niederrorweil am Kaiserstuhl (um 1525, meist dem Meister H. L. zugeschrieben) die Attribute des Vaters (Weltkugel) und des Sohnes (Wundmale) die Rollen des Schöpfers bzw. des Erlösers hervor, die Taube des Heiligen Geistes verweist auf die dritte göttliche Person, zugleich aber auch auf die Kirche, die in Maria (-Ecclesia), den Aposteln der Predella und den Patronen der Niederrorweiler Kirche bzw. ihrer Besitzer (Michael und Johannes d. T.), die die Krönungsgruppe flankieren, gegenwärtig ist. (Den Patronen sind die Altarflügel gewidmet: Taufe Christi und Tod des Johannes; Wirken Michaels beim Gericht.) Beim Breisacher Gegenstück hat H. L. statt der Apostel in der Predella die Evangelisten dargestellt. Literatur bei ADOLF RF.INI.E, Meister H. L., Lexikon des Minelalters, VI (1993), Sp. 483. 7 Dasselbe Bedürfnis nach Veranschaulichung führt etwa im Geistlichen Spiel zur Bevorzugung des konkreten Höllenbruchs gegenüber der abstrakten Auferstehung. 5
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secunaum verbum tuum (Lc 1,38) die erste Gläubige, die erste Christin; und ihr Glaube ist schon nach Lukas ausdrücklich Voraussetzung dafür, daß die auf das Volk Gottes bezogene Verheißung durch Gabriel sich erfüllen wird et beata, quae credidit, quoniam perficientur ea, quae dicta sunt ei a Domino (Lc 1,45).8 So ist es nur konsequent, wenn Alanus de Insulis in seiner >Expositio super symbolum< erklärt, Maria sei bei der Abfassung des Credos durch die Apostel am ersten Pfingstfest gegenwärtig gewesen.9 Darum werde das >Nicenum simbolumApostolicum< versteht, nur an den Festen der Apostel, Mariae und der anderen, die bei dessen Abfassung anwesend waren, in ecclesia dei gesungen.10 Papst Innozenz III. bestätigt und präzisiert das in seiner Schrift >De sacro altaris mysteriös Das Symbolum werde in der Messe an allen Festen gesungen, die in ihm erwähnt würden, also an allen auf Christi Erlösungswerk bezogenen, an allen Marienfesten, an den Festtagen der Apostel, der Kirchweih und an Allerheiligen (communio sanctorum) (829 B); die Begründung, daß durch die Weihe der (einzelnen) Kirche die catholica Ecclesia geheiligt werde und man deshalb auch an diesem Festtag singend den Glauben bekenne (830 A), macht die enge Verbindung zwischen Credo und Ecclesia, auf die es uns hier ankommt, anschaulich klar: Im festtäglichen Bekenntnis des Glaubens konstituiert sich die lebendige Kirche je neu." In diesem Zusammenhang gesehen ist die Marienkrönung tatsächlich die Neuformulierung der schon in der Maiestas Domini ins Bild gesetzten Aussage, Verheißung der künftigen Verherrlichung der Kirche. Die Krönung Mariae wurde im 12. Jahrhundert mit der lange umstrittenen Entscheidung für die leibliche Aufnahme Mariae in den Himmel möglich und konnte im Zusammenhang der ganz allgemein zunehmenden Marienverehrung besonderes Interesse finden und geradezu zum Inbegriff persönlicher Frömmigkeit werden. Das wird spürbar, wenn sich etwa der (mir besonders vertraute) Weinhändler Heinrich Cristan 1411 das Versprechen der Konstanzer Augustiner ein Vermögen kosten ließ (950 Ib hl), um seines Seelenheils willen über seinem Grab eine ewige tägliche Messe lesen zu lassen vffdem egenanten 8
Vgl. FRAN/. COURTH, Maria/Marienfrömmigkeit. III. Dogmatisch. 2. Katholisch, Theologische Realenzyklopädie XXII (1991), S. 143-148. 9 Neben Maria als der immer schon Gläubigen ist aber auch Maria Magdalena als die vorbildliche Bekehrte anwesend. Siehe NIKOIAUS M. HÄRING, A commentary on the Creed of the Mass by Alan of Lille, Analecta Cisterciensia 30 (1974), S. 281-303, hier cap. 7, S. 289: Apostolicum autem simbolum, scilicet Credo in deum, quod submissa uoce dicitur in ecclesia dei, ab apostolis est editum in Jerusalem antequam dispersi essent in diuersas regiones; cui interfuit beata uirgo et Maria Magdalena. 10 Ebd., cap. 8. Deutlicher noch in Alans Expositio >Svper symbolvm apostolorvmTransitus Mariae< des Pseudo-Melito. Textkritische Ausgabe und Darlegung der Bedeutung dieser ursprünglicheren Fassung für Apokryphenforschung und lateinische und deutsche Dichtung des Mittelalters (Bibliotheca Assumptionis Beatae Virginis Mariae 5), Romae 1962.
Marienkrönungen in Text und Bild
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Bearbeitung in der >Vita rhythmica< (um 1230)17 und der >Legenda aurea< (um 1270)18 - maßgebliche Quelle für die Himmelfahrt in der Mariendichtung, auch in der Volkssprache.19 Es soll nun im folgenden wenigstens angedeutet werden, daß die im >Transitus< ganz im Sinne der Verkündigungsszene bei Lukas entwickelte Auffassung von Mariae Tod und Himmelfahrt nicht nur im 12. Jahrhundert noch da ist und etwa das Portal von Senlis maßgeblich miterklärt, sondern darüber hinaus die kongeniale Entfaltung des Himmelfahrts- und Krönungsthemas in Kunst und Literatur des Spätmittelalters verständlich macht. (Daß das Verkündigungsthema dabei stets mit einbezogen werden müßte, da dort eben die Beziehung Gott - Maria beginnt, die sich hier vollendet, weil ihr Glaube dort hier Belohnung findet usf., sei ausdrücklich, wenn auch nur nebenbei gesagt.20) Eine nur literarhistorische Untersuchung griffe hier zu kurz, weil sie die neue Aktualität des Themas nicht zu fassen vermöchte; eine nur kunstgeschichtliche neigte wohl dazu, die Einführung des AssumptioThemas im 12. Jahrhundert überzubetonen und seine konsequente Weiterentwicklung zu vernachlässigen. Wir wählen daher hier vier Zeugnisse, Pseudo-Melito selbst und die >Rheinfränkische Marien Himmelfahrt« und die Skulpturenprogramme der Münster von Straßburg und Freiburg im Breisgau.
Dem Transitus MariaeRheinfränkische Marien Himmelfahrt« verdichtet diese Gedanken im - über Melito hinausführenden — Bild der Marienkrönung, in dem das liebende Wirken des trinitarischen Gottes in der endelose\n\ selikeit (356) anschaulich zur Ruhe kommt.38 Wenn hier das Krönungsbild immer wieder mit dem Begriff der majestat verbunden wird (227, 555, 1017, 1633) und die Konturen des Erlösers, Richters und Bräutigams im Bekenntnis des dreieinigen Gottes aufgehen, scheint sich hier doch bereits eine Auffassung abzuzeichnen, wie sie in ähn37
Daß dem Autor hier wohl Wolframs >WillehalmCredo< in v. 709-726.
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lieh verdichteter Form den trinitarjschen Marienkrönungen der spätmittelalterlichen Retabeln zugrundeliegen dürfte: Der im apostolischen Credo formulierte Glaube an das dreieinige, die Schöpfung, die Erlösung und das Leben in der Kirche einschließende Wirken Gottes ist Gewähr für die persönliche Teilhabe jedes Christen an der in Maria als erster Christin und Mutter der Kirche verheißungsvoll vorweggenommenen Verherrlichung.
Von Seiten der Kunstgeschichte wurde die Bildformel »Marienkrönung« hauptsächlich mit den Erscheinungen Christi in Parallele gesetzt, ja für PHILIPPE VERDIER, den Autor der bisher einzigen zusammenfassenden Studie über die Geschichte der Marienkrönung in der Gotik, ist dieses Thema ganz im eschatologischen Sinne die »letzte Theophanie der christlichen Kunst«.39 Gewiß ist diese Akzentuierung legitim, aber sie muß, wie oben dargelegt wurde,40 durch eine andere Betrachtungsweise ergänzt werden: Die Marienkrönung verweist auf die Verherrlichung der Kirche und auf deren Auftrag, durch die Verkündigung der Glaubensinhalte und das Spenden der Sakramente die geistliche Wiedergeburt eines jeden Gläubigen zu gewährleisten. Anders als ein fortlaufender Text vermag die visuelle Kunst einen theologischen Gedanken dieses Abstraktionsgrades nicht expressis verbis auszudrükken, sie kann ihn mit anderen Worten nicht direkt ins Bild umsetzen. Dennoch ist sie in der Lage, durch den Stellenwert, den sie einem bestimmten Bildtypus innerhalb eines gesamten Darstellungsgefüges zuweist, eine dem theologischen Gedankengebäude adäquate Illustrationsform zu finden. Genau dieses ist in manchen Fällen mit der Bildformel »Marienkrönung« geschehen. Nicht zuletzt die deutsche Bildkunst des 13. Jahrhunderts hat herausragende Werke geschaffen, in denen eine Marienkrönung derart im Zentrum eines breit angelegten Vermittlungssystems geistlicher Inhalte steht, daß sie geradezu den Schlüssel für dessen Verständnis liefert. Eine Kunstgeschichte, die sich bis anhin vielleicht allzu sehr auf die Darlegung einzelner ikonographischer Inhalte und zu wenig auf das Verständnis ganzer Darstellungssysteme konzentrierte, hat vor allem dort den eminenten Stellenwert der Darstellung einer Marienkrönung nicht richtig eingeschätzt, wo dieses ikonographische Thema innerhalb eines Skulpturenensembles auftritt, dessen Teile im Sinne eines bestimmten räumlichen Bezugssystems sorgfältig aufeinander abgestimmt sind. Zwei solcher Fälle stellen die berühmten Skulpturenzyklen des südlichen Querarms am Straßburger Münster und in der Turmvorhalle am Münster von Freiburg im Breisgau dar. Das ikonoM
»Le couronnement de la Vierge est la theophanie ultime de l'art chretien.« Mit diesem Satz beginnt Pmi.II'PK VkRDIKR, Le couronnement de la Vietge. Les origines et les premiers developpements d'un theme iconographique, Montreal/Paris 1980, S. 9. 4(1 Vgl. hier S. 28ff.
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Peter Kurmann/Eckart Conrad Lutz
graphische System der beiden geographisch und stilgeschichtlich benachbarten Skulpturenzyklen ist keineswegs deckungsgleich - um so interessanter ist die Tatsache, daß bei beiden das Thema »Marienkrönung« die zentrale Stellung einnimmt. Der von den Kunsthistorikern mehr oder weniger einhellig in die 1230er Jahre datierte Eingang an der südlichen Querhausfassade von Straßburg vertritt den seltenen Typus des Doppelportals, der hier der zweiachsigen Fassadenkomposition entspricht. Von der originalen bildhauerischen Ausstattung der beiden von einem breiten Rahmen eingefaßten, stufenförmig angelegten Gewändeportale sind nach den Zerstörungen der französischen Revolution nur noch Reste erhalten: die beiden Bogenfelder sowie die an den äußeren Rahmenleisten stehenden Statuen der Ecclesia und Synagoge, die heute durch Kopien ersetzt sind (die Originale befinden sich im Münstermuseum).41 Der sitzende Salomo in der Mitte sowie die beiden Türstürze sind Ergänzungen, die das 19. Jahrhundert anhand des Stichs von Isaac Brunn aus dem Jahre 1617 anbrachte (Abb. 3). Sie geben im großen und ganzen die Ikonographie der entsprechenden verlorenen Originalskulpturen wieder. Auf immer verschwunden sind hingegen die zwölf Apostel, welche bis 1793 in Dreiergruppen an den Portalgewänden standen. Wie genau der Stich Isaac Brunns ist, kann anhand der noch vorhandenen Skulpturen ermittelt werden. Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, daß die Ikonographie des Doppelportals aufgrund eines einheitlichen Konzepts um 1230 entwickelt worden ist.42 Das Hauptthema dieses Programms sind der Tod und die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Obwohl stilgeschichtlich betrachtet die Formulierung dieser Thematik von der Bauskulptur der nordfranzösischen Kathedralen beeinflußt ist,43 steht sie in ikonographischer Hinsicht nicht in der Tradition des Typus, wie er in Senlis um 1170 zum ersten Mal geschaffen wurde.44 In Straßburg werden nicht wie dort im Sinne einer bedeutungs41
Dazu und zum Folgenden siehe die immer noch jüngste wissenschaftliche Gesamtdarstellung des Straßburger Münsters und seiner Ausstattung von HANS REINHARDT, La cathedrale de Strasbourg, Paris 1972, S. 17f., 47-56, 101-115, sowie WILLIBALD SAUERLÄNDER, Gotische Skulptur in Frankreich 1140-1270, München 1970, Taf. 130-140 und S. 124f. 42 Die Wiedergabe Brunns ist so exakt, daß man sogar Stilunterschiede zwischen den Aposteln und den übrigen Figuren erkennen kann. Die bisherige Forschung hat immer gemeint, die Apostel seien einem älteren Stil verpflichtet gewesen, und einige »spätromanische« Köpfe des Münstermuseums - die nicht mit Sicherheit von den Apostelfiguren des Doppelportals stammen — schienen dies zu bestätigen. Nimmt man indessen den Stich Brunns wirklich ernst, so erweisen sich die Apostel als stilistisch uneinheitlich. Zumindest einer der Jünger, nämlich der zuäußerst am rechten Gewände des linken Portals stehende, dokumentiert mit den tiefen Schüsselfalten seines Mantels einen jüngeren Stil als alle anderen Figuren und Reliefs der Portalanlage. Die Stildiskussion ist in unserem Zusammenhang nicht unwichtig, weil die Apostel ziemlich sicher nicht, wie REINHARDT [Anm. 4l], S. 103-105, und andere meinen, Relikte eines älteren Portalprojekts waren. 43 REINHARDT [Anm. 4l], S. 106-111 (mit Angabe der älteren Literatur). M Vgl. THERKI. [Anm. 13], sowie SAUERLÄNDER [Anm. 4l], Taf. 42-45 und S. 90f.
Marienkrönungen in Text und Bild
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mäßigen Rangfolge Christus und Maria als thronendes Paar — als »synthronoi« - der szenischen Darstellung der Dormitio und der Elevatio animae übergeordnet, sondern die Reliefs schildern die Geschehnisse des Transitus Virginis Mariae in einer kreisförmigen Bewegung. Die Lektüre beginnt oben im Tympanon des linken Portals mit dem Marientod. Sie setzt sich im Türsturz darunter mit dem Tragen der Bahre fort und fährt auf derselben Höhenlage weiter mit der Assumptio im Linteau des rechten Portals. Sie schließt mit der Krönung Mariens, die im Bogenfeld des rechten Portals wiedergegeben ist. Die Zusammenfügung dieser vier Etappen des Transitus Mariae ist im Bereich der Portalplastik einmalig, und ebenso auffällig ist die Tatsache, daß die Straßburger Bildredaktion die aktive Krönung Mariens durch Christus einführt und nicht wie in Senlis, Paris, Chartres und Amiens das feierliche, triumphale Thronen der beiden Figuren betont, welches Maria als bereits Gekrönte, von Christus Gesegnete, darstellt. Der in Straßburg gewählte Typus verbreitet sich ab ca. 1300 sowohl in Italien als auch nördlich der Alpen, wohl im Anschluß an das berühmte Apsismosaik Torritis von Sa. Maria Maggiore. Nach der von PHILIPPE VERDIER publizierten Statistik der Marienkrönungsdarstellungen muß es sich in Straßburg um eines der frühesten Beispiele dieser Art handeln, und es ist wohl dem Einfluß des elsässischen Münsters zuzuschreiben, daß dieser Typus bereits vor 1300 in der Kunst Lothringens und Nordostfrankreichs ebenfalls vorkommt.45 Offenbar war man sich in weitem Umkreis bewußt, daß die Bildhauer des Figurenzyklus am Straßburger Südquerhaus Werke geschaffen hatten, die in ihrer antikisierenden, die Körper betonenden Formensprache ein fast unerreichbares Vorbild blieben. Aber nur das Krönungsbild machte in ikonographischer Hinsicht Schule, nicht die gesamte Zusammenstellung der vier Episoden des Transitus. Diese war situationsbedingt, d. h. sie wurde aus der Anlage des Doppelportals und den architektonischen Dispositionen der Ostteile am Straßburger Münster herausentwickelt. Auch die formalen Motive der einzelnen Reliefkompositionen sind in hohem Maße von diesen speziellen Bedingungen abhängig, so etwa die durch den Rundbogen des Tympanons veranlaßte radiale Anordnung der Apostelköpfe im Marientod. Einerseits wirkt sie sehr altertümlich, andererseits lösen sich die Köpfe deutlich vom Reliefgrund, was zusammen mit der raffinierten Tiefenschichtung der übrigen Figuren die Illusion einer starken Räumlichkeit ergibt. Der Sinn der genannten vier Reliefs erschöpft sich keineswegs in der Darstellung der letzten Momente des Lebens Mariae und ihres Eintritts in den Himmel. Es sind die drei zusätzlich angebrachten Figuren, welche die ganze Dimension des Straßburger Bildsystems eröffnen, nämlich die beiden das Doppelportal rahmenden Statuen der Ecclesia und Synagoge sowie der zwischen den Eingängen sitzende Salomo. Seit langem hat man als Haupt45
VERDIER [Anm. 39], S. I43ff.
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quelle des ikonographischen Programms die allegorische Exegese des Hohenliedes erkannt, wie sie sich im 12. Jahrhundert ausgebildet hatte. Der theologische Topos der Gleichsetzung Mariens mit Ecclesia ist geläufig und braucht hier nicht vorgestellt zu werden. Interessanter ist ein zusätzlicher Aspekt dieses Leitgedankens, auf den vor allem OTTO VON SIMSON hingewiesen hat.46 Einer der Auslegungsstränge des Hohenlieds - er fußt auf Ambrosius und Gregor dem Großen - führte dazu, daß Ecclesia und Synagoge zu einer einzigen allegorischen Figur verschmolzen. Ecclesia und Synagoge (die »Gebräunte« des Canticum Canticorum) figurieren beide als Braut Christi, und es ist Ecclesia-Maria, die bei Christus Fürbitte für die Synagoge leistet. Rupert von Deutz nennt letztere Ecclesia pnoris populi® In dieser Sicht werden Ecclesia und Synagoge gleichberechtigt. Zweifellos verdankt diesem Gedanken die Straßburger Synagoge ihre edle Anmut. Auch in anderen Kunstwerken des 12. und 13. Jahrhunderts findet die Annäherung der Synagoge an die Ecclesia ihren Ausdruck, so z. B. im Medaillon aus dem berühmten, von Suger beschriebenen anagogischen Fenster in St-Denis,48 welches Christus zwischen den beiden allegorischen Figuren darstellt, oder an dem durch eine Zeichnung des 18. Jahrhunderts überlieferten Portal der Ste-Madeleine in Besancon, wo Ecclesia und Synagoge, umgeben von Aposteln beziehungsweise Propheten, jeweils in der Mitte des Gewändes standen.49 Der zwischen den beiden Portalen am Südquerhaus in Straßburg thronende Salomo ist in jeder Hinsicht die zentrale Figur des ikonographischen Programms. Entsprechend der geläufigen Typologie verweist er auf Christus, den Bräutigam von Ecclesia-Maria, der als neuer Salomo seine Kirche mit den Heiden und (vor dem Ende aller Zeiten) auch mit den Juden bildet. Gleichzeitig ist Salomo aber auch der Typus Christi als Richter. Deshalb erscheint er in Straßburg als Sitzender mit Schwert, und die typologische Entsprechung wird durch die Büste Christi verbildlicht, die über dem thronenden König auftaucht. Auch die ursprünglich an den Gewänden stehen46 OTTO VON SIMSON, Le programme sculptural du transept meridional, in: Bulletin de la des amis de la cathedrale de Strasbourg 10 (1972), S. 33-50, vor allem S. 40ff.; wieder abgedruckt als (und im folgenden zitiert nach): Le programme sculptural du transept meridional de la cathedrale de Strasbourg, in: ders., Von der Macht des Bildes im Mittelalter. Gesammelte Aufsätze zur Kunst des Mittelalters, hg. von REINF.R HAUSSHF.RR, Berlin 1993, S. 77-100. Zum gesamten Fragenkomplex der Skulptur des Straßburger Südquerhausarms s. auch: Louis GRODF.CKI/ROIAND RECHT, Le quatrieme colloque international de la Societe Frangaise d'Archeologie. Le bras sud du transept de la cathedrale: architecture et sculpture, in: Bulletin monumental 129 (1971), S. 7-38. 47 SIMSON [Anm. 46], S. 93. 48 Ebd. S. 89; vgl. ferner Louis GRODKCKI, Les vitraux de Saint-Denis, Bd. I (Corpus vitrearum medii aevi. France, itudes II), Paris 1976, S. lOOf., 197-201 sowie passim. 49 SIMSON [Anm. 46], S. 90; SAUF.RIÄNDF.R [Anm. 4l], Taf. 129 und S. 126f. In der Literatur bezieht nur das fragmentarisch erhaltene >Amorbacher Spiel von Mariae Himmelfahrt (hg. von RUDOLF HF.YM, ZfdA 52 (1910), 1-56; vgl. BERND NEUMANN im 2VL I, Sp. 332f.) Ecclesia und Synagoge in die Verherrlichung Mariens mit ein.
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den Apostel gehören in diesen Sinnzusammenhang. Als Beisitzer des Jüngsten Gerichts standen sie entsprechend der neuen Bildredaktion, welche erstmals am Weltgerichtsportal von Notre-Dame in Paris um 1210 eingeführt worden war, an den Portalgewänden, ganz in die Nähe der Gläubigen gerückt, die in der Kirche das Heil suchen.50 An der Straßburger Südportalfront wird das Weltgericht lediglich durch Salomo symbolisiert. Als Typus des himmlischen Bräutigams verweist der sitzende Richter im Hinblick auf die Apostel auf eine zusätzliche Deutung: Die zwölf Jünger gehören natürlich ebenso zum Marientod und zur Marienkrönung wie zum Gerichtsgedanken. Die beiden Inhalte ergänzen einander auf das Sinnvollste: So wie die zwölf Jünger herbeigeeilt waren, um dem Augenblick beizuwohnen, in welchem der himmlische Bräutigam die Seele der Gottesmutter in sein Reich trug, so werden sie beim Gericht anwesend sein, das den Gläubigen, geläutert durch die Gnadenmittel der Kirche, den Zugang ins ewige Paradies gewährt. Auf diese Weise findet in Straßburg die von den Theologen oft vertretene Gleichsetzung der gläubigen Seele mit Maria ihren visuellen Ausdruck. Doch damit erschöpft sich das System der verbildlichten Heilsbotschaft noch nicht.31 Bekanntlich wurde das Jüngste Gericht in plastischer Form auch in Straßburg dargestellt, nämlich im Inneren der Kirche, am sogenannten Engelspfeiler52 (Abb. 4). Es ist gewiß kein Zufall, daß diese das Weltgericht zeigende Stütze inmitten des Südquerhausarms in der Achse aufragt, in welcher außen an der Portalfront die Figur des richtenden Salomo thront. Die Figurenanordnung des Weltgerichts ist ohne Gegenbeispiel, obwohl die Ikonographie in den Hauptzügen jene der gotischen Gerichtsportale Nordfrankreichs widerspiegelt. Zuunterst finden wir wie bei frühgotischen Majestasdarstellungen die vier Evangelisten, in der Mitte vier posaunenblasende Engel und zuoberst drei Engel mit Leidenswerkzeugen, die den thronenden Richter begleiten. Die in der Gotik so beliebte szenisch formulierte Auferstehung der Toten reduziert sich auf drei kleine Gestalten zu Füßen des Weltenrichters. Man könnte dies geradezu als Verlegenheitslösung bezeichnen, wäre nicht die räumliche Situation, in der sich der Gerichtspfeiler befindet. Nicht diese paar wenigen Auferstehenden stellen in Straßburg den Vollzug des Jüngsten Gerichts dar, vielmehr nehmen daran auch die lebenden Gläubigen selber teil, welche den Engelspfeiler betrachtend umschreiten. Man muß in der Tat viel stärker, als dies bisher geschehen ist, nicht nur auf den inhaltlichen, sondern auch auf den räumlichen Zusammenhang hin50
BRUNO BOKRNF.R, Par caricas par meritum. Studien zur Theologie des gotischen Weltgerichtsportals in Frankreich am Beispiel des mittleren Westeingangs von Notre-Dame in Paris (Scrinium Friburgense 7), Freiburg (Schweiz) 1996, Kap. lila und IVe passim. " Siehe REINHARDT [Anm. 4 l ] ; SAUKRLÄNDKR [Anm. 4l]; SIMSON [Anm. 46]. 152 Die bildhauerischen Werke dieses Ensembles vollständig abgebildet in: LUCIF.N HKI.L, Der Engelspfeiler im Straßburger Münster, Freiburg i. Br. 1926.
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weisen, der zwischen dem Südportal und dem Gerichtspfeiler besteht. Entsprechend der im Laufe der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von der Pariser Schule entwickelten Gnadenlehre und Bußtheologie erweist sich Christus im Jüngsten Gericht als der für alle reumütigen Gläubigen barmherzige, milde Richter.53 Nur die Kirche - die Braut des Himmlischen Bräutigams - kann die Gnadenmittel, d. h. die Sakramente verleihen, dank denen der Gläubige auf die Barmherzigkeit Christi beim Weltgericht hoffen kann. Mehr noch als dies an den Portalwänden französischer Kathedralen geschieht, wird in Straßburg der Inhalt dieser Lehre in eine dreidimensionale Bildrealität umgesetzt. Nicht nur die allgemein gültige Allegorie der Kirche wird hier dem Gläubigen anhand einzelner Figuren und Reliefs am Portal vor Augen geführt, sondern es wird ihm auch gezeigt, daß er sein Heil hie et nunc in der Ecclesia Argentinensis, der Mutterkirche der elsässischen Diözese, erwirken kann. Portalwand und Gerichtspfeiler geleiten ihn auf den Heilsweg in einer konkret faßbaren Weise. Betritt der Gläubige das Kirchengebäude durch das Südportal, welches so viele Sinndeutungen mariologischekklesiologischer Art erlaubt, so geschieht dies in Anlehnung an das Wirken der göttlichen Gnade, welche er nur dann für sich beanspruchen darf, wenn er die Lehre der Kirche angenommen hat und ihre Gebote befolgt. Ist er einmal im Inneren des Gebäudes, welches die Ecclesia universalis versinnbildlicht, so darf er als reumütiger Sünder mit Fug und Recht hoffen, daß er in Christus einen milden Richter findet, so wie er am Engelspfeiler dargestellt wird. Keineswegs zufällig wendet die Christusfigur ihren Kopf in die Richtung des Hochaltars, auf dem das eucharistische Opfer gefeiert wird. Die von der sogenannten Ecclesia-Werkstatt54 in Straßburg geschaffene Skulptur vermittelt eine Botschaft, die innerhalb des christlichen Lehrgebäudes von zentraler Bedeutung ist. Nicht allein der Umstand, daß sich in räumlicher Nähe des Südportals die Stätte des bischöflichen Gerichts befand,55 erklärt die Ikonographie des Zyklus. Gewiß mag dies das ikonographische Programm zusätzlich legitimiert haben. Warum aber, so müssen wir fragen, legte man dieses ikonographische Programm in der Querachse und nicht in der Hauptachse des Münsters an? Die Art und Weise, wie man zwischen ca. 1170 und 1275 das frühromanische Münster erneuert hat, gibt die Antwort darauf. Ausgesprochen traditionalistisch gesinnt planten Bischof und Domkapitel einen Neubau, ohne den Grundriß und die Abmessungen der Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert zu verändern. Das Bauprogramm sah ferner vor, das frühromanische Westmassiv beizubehalten, und daran hielt man sich noch während der Errichtung der Osttraveen des hochgotischen Langhauses.56 Es war mit anderen Worten also gar keine neue West53
BOERNER [Anm. 50], Kap. lila und IVa. Unter diesem Namen subsumiert die Forschung den gesamten bildhauerischen Zyklus des Südquerarms. " SlMSON [Anm. 46], S. 81 f. (mit Angabe der entsprechenden Literatur). 56 REINHARDT [Anm. 4l], S. 49-56, 60f., Plan I und II auf S. 241-243. 54
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Fassade mit gotischen Portalen geplant, als man das Programm des Querhauses konzipierte und ausführte. Die neuen Gedanken der französischen Kathedralplastik paßte man den lokalen Gegebenheiten ebenso eigenwillig wie souverän an. Als dann ab 1277 doch eine gotische Westfassade nach französischem Vorbild errichtet wurde,57 entwarf man für sie ein Figurenprogramm, welches den ikonographischen Inhalt der Querhausskulptur in einer anderen Form noch einmal ausdrückte.58 An den Seitenportalen kamen demnach die Themen der entsprechenden Querhausteile erneut zu ihrem Recht. So greift das Tympanon des nördlichen Portals die Anbetung der Könige und die Kindheit Christi wieder auf, also die Epiphanie, welche bereits am spätromanischen Nordportal des Querhauses dargestellt war.59 Das Jüngste Gericht am südlichen Seitenportal wiederholt die eschatologische Komponente des Figurenzyklus am Südquerhaus. Einzig das Mittelportal führt im Westen als neues Element die Passion Christi im Tympanon ein. Dieser Hauptinhalt der Heilsgeschichte wird jedoch mit der ekklesiologisch bestimmten Thematik des Südquerhauses aufs engste verbunden, indem der Wimperg nicht nur Salomo auf dem Löwenthron zwischen Ecclesia und Synagoge,60 sondern darüber auch noch Maria als Sedes sapientiae abbildet. Die Botschaft lautet hier erneut: Nur die Kirche kann die Gnade vermitteln, welche die Passion Christi für jeden einzelnen fruchtbar werden läßt. So fügen sich die älteren und die jüngeren Teile des Straßburger Portalprogramms zu einem kohärenten Ganzen zusammen, dessen Verständnis in erster Linie von den Darstellungen des Marientodes und der Marienkrönung am Südquerhaus sowie von Maria als Thron der Weisheit an der Westfassade aufgeschlüsselt wird.
Immer wieder wurde behauptet, daß das Freiburger Münster dem großen Vorbild in Straßburg verpflichtet sei, obwohl schon vor dreißig Jahren der amerikanische Architekturhistoriker ROBERT BRANNER einen Teil des Freiburger Münsterlanghauses überzeugend von dem 1231 begonnenen Neubau der Abteikirche in St-Denis abgeleitet hat.61 Offensichtlich ließ die durch v
Ebd. S. 20, 71 ff. Ebd. S. 123-128; für eine kurze Übersicht über die Ikonographie aller Portale am Straßburger Münster immer noch: ERNST MEYER-ALTONA, Die Sculpturen des Straßburger Münsters, 1. Teil: Die älteren Sculpturen bis 1789 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 2), o. O. [Straßburg] 1894. VJ RKINHARDT [Anm. 4l], S. 100. 60 MICHAEL ZEHNACKER, La cathedrale de Strasbourg comme un manteau de pierre sur les epaules de Notre-Dame, Paris 1993, Photo eines älteren Zustands (Gipsabguß?) S. 233. Allerdings zeigen die vor den Zerstörungen von 1793 hergestellten Stiche des Mittelportals keine Figuren von Ecclesia und Synagoge. Die Darstellung der Geschichte der Restaurierungen und Ergänzungen am Straßburger Münster anhand der bildlichen und schriftlichen Quellen ist ein dringendes Desiderat. 61 ROBERT BRANNER, St Louis and the Court Style in Gothic Architecture (Studies in Architecture 7), London 1965, S. 121. 18
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Silberbergwerke und Handel reich gewordene Stadr nicht zuletzt hinsichtlich des Baus ihrer Pfarrkirche weiträumige Beziehungen spielen. Auch die bildhauerische Ausstattung des Freiburger Münsters kann nicht einfach als »Schulwerk« der Straßburger Skulptur angesehen werden. Vielmehr kombiniert sie selbständig die verschiedensten deutschen und französischen Anregungen. Dies gilt auch noch für die Zeit von ca. 1255-75, in welcher der untere Teil des Turms errichtet wurde.62 Erst als man im späten 13. Jahrhundert das Innere der bereits vollständig gebauten Turmvorhalle mit einem opulenten Skulpturenzyklus ausstattete,63 wurde in stilistischer Hinsicht die Plastik der neuen Straßburger Westfassade zum bestimmenden Vorbild. Bezüglich der Ikonographie war und blieb Freiburg aber gegenüber der elsässischen Kathedrale völlig selbständig. So geht der Bildtypus der Marienkrönung, welche den Wimperg des ansonsten figurenlosen Eingangs zur Vorhalle schmückt, direkt auf Frankreich und nicht auf Straßburg zurück (Abb. 5). Wie an Notre-Dame in Paris sitzen Christus und Maria feierlich als »synthronoi« einander gegenüber. Wir wissen nicht, wie das zur Zeit der ersten Turmplanung um 1260 konzipierte Figurenprogramm der Vorhalle hätte aussehen sollen. Ziemlich sicher wäre es weniger komplex ausgefallen als der dann kurz vor 1300 tatsächlich entstandene Skulpturenzyklus. Aber auch dieser stellt sich völlig auf das Kennzeichen »Marienkrönung« ein, das den Zeigefinger schon am Außenbau auf die heilsgeschichtliche Rolle der Kirche legt (Abb. 6). Das Bogenfeld des Portals, das im Inneren der Vorhalle zum Münster führt, kombiniert in einmaliger Weise die Geburt (Abb. 7) und die Passion Christi mit dem Jüngsten Gericht.64 Die Kreuzigung in der Mitte des Tympanons erklärt diese merkwürdig selektive Darstellung der Heilsgeschichte: Über den aus ihren Gräbern Auferstehenden ist es nicht Michael, der die Guten von den Bösen scheidet, sondern der Gekreuzigte selber. Die Botschaft heißt: Nicht die in der Waagschale des Erzengels ruhenden guten Werke sind die eigentliche Ursache für die Rettung der Seelen, sondern die sich in der Passion Christi manifestierende Barmherzigkeit Gottes (auf die der Pelikan über dem Gekreuzigten zusätzlich hinweist) erlöst die Menschen, und nur deswegen können sie hoffen, im Jüngsten Gericht unter den 62
Die Chronologie gerade der Westteile des Freiburger Münsters ist immer noch kontrovers. Ich folge in etwa der von ERNST ADAM, Das Freiburger Münster (Große Bauten Europas Bd. 1), Stuttgart 1968, S. 16ff. vorgeschlagenen Baugeschichte. 63 Diese stilgeschichtlich begründete Meinung müßte bauarchäologisch einwandfrei »untermauert« werden; vgl. FRIEDRICH KOBI.F.R, Der Jungfrauenzvklus der Freiburger Münstervorhalle (Diss. FU Berlin 1966), Bamberg 1970, S. 17ff., sowie ACHIM HUBEL, Das ursprüngliche Programm der Skulpturen in der Vorhalle des Freiburger Münsters, in: Jahrbuch der Staatlichen Sammlungen in Baden-Württemberg 11 (1974), S. 21-46, hier S. 24. 64 Zur Ikonographie insgesamt: GUSTAV MÜN/.EL, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters, Freiburg i. Br. 1959.
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Augen der beisitzenden Apostel vom gütigen Richter milde beurteilt zu werden. Diese Aussage war schon in den ersten Redaktionen des gotischen Gerichtsportals ein Kerngedanke, doch nirgends kommt er so klar zum Tragen wie im Tympanon des Freiburger Münsters. Indem der Tod Christi am Kreuz als Ausgangspunkt aller Erlösung ins Bild gebracht ist, erhält der zum Meßopfer eintretende Gläubige schon am Eingang des Gotteshauses einen ersten Hinweis auf Sinn und Zweck des eucharistischen Gedenkens. Spenderin des Sakraments indes ist die Kirche, und nur als ihr Glied kann der Gläubige das Heil erwirken. Das ist die Aussage der Geburt Christi im Kontext von Passion und Jüngstem Gericht. GUSTAV MÜNZEL hat vor über dreißig Jahren das Rätsel der kerzentragenden Figur gelöst, die sich zu Häupten des Kindbetts von Maria befindet,65 aber er ließ die theologische Begründung vermissen. Es ist zweifellos die Kirche, die hier dargestellt ist. Die Argumentation, die sich seit Augustinus durch das ganze Mittelalter verfolgen läßt, stellt klar: Da Maria die Mutter Christi ist, ist auch die Kirche unsere Mutter. In der erstmals von Ambrosius Autpertus im 8. Jahrhundert vorgebrachten, dann im 12. Jahrhundert durch Fulbert von Chartres und Alanus von Lilie wieder aufgegriffenen Formulierung kann dies umgekehrt lauten: Da Ecclesia und Maria eine Person sind, ist auch Ecclesia die Mutter Christi.66 Genau diese Interpretation wird in Freiburg illustriert: Es ist die gekrönte Ecclesia, die sich sowohl als Sponsa als auch als Mutter dem Christuskind in der Krippe nähert. Die zeitgenössische Theologie liefert auch Hinweise dafür, warum ihr als Attribut eine Kerze beigegeben wurde. Während man Maria als die leibliche Gebärerin verehrt, wird der Kirche die geistige Mutterschaft Christi zuerkannt. Sie nämlich gebiert den Erlöser in den Seelen der Menschen.67 Damit ist diesen die Erleuchtung gegeben, die sie auf den Pfad des ewigen Lebens führt. So verdeutlicht die Geburtsszene die Thematik, welche die Marienkrönung über dem figurenlosen mächtigen Turmportal vor Augen führt. Über die Figuren an den Längswänden der Vorhalle ist viel Tinte geflossen.68 Dennoch hat man sich bisher nie über den Sinn des Zyklus einigen können. Betrachtet man ihn jedoch unter ekklesiologischem Vorzeichen, so stellt er ein vollkommen schlüssiges Programm dar. Auf der Nordseite folgen auf einige alttestamentliche Typen die von Christus angeführten Klugen und Törichten Jungfrauen (Abb. 8). Sie leiten den Blick über die Figur der Ecclesia zur ersten Erscheinung Christi, der Anbetung der Könige am linken Portalgewände. Gelenkstelle zwischen dem Alten Testament und der neuM
Ebd. S. 240-245. R. P. H. BARRH, Marie et l'Eglise du Venerable Bede a saint Albert le Grand, in: Bulletin de la Societe Fran^aise d'Etudes Mariales 8 (1951), S. 59-143, hier S. 73f. 67 Ebd. S. 75. 68 Vgl. KOBLKR [Anm. 63], HUBKI. [Anm. 63] und MÜN/, . [Anm. 64], wo auch auf die älteren Arbeiten hingewiesen wird. 66
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testamentlichen Parabel der Klugen und Törichten ist die Figur der hl. Maria Magdalena mit dem Salbgefäß. Daß sie in der Mitte der Vorhallennordwand steht, hat nicht nur seinen Grund in der visuellen »Alliteration«, die zwischen ihrem Salbgefäß und den Lampen der Jungfrauen vorgegeben ist, sondern vor allem in der Eigenschaft der Heiligen als Pendant zu Maria.69 So hob Odo von Cluny die Beziehung hervor, die zwischen Eva, Maria und Magdalena herrscht: Durch die erste kam die Sünde in die Welt, durch die zweite die Erlösung, und die dritte zeichnet den Weg der Reue und Buße vor.70 Auf diese Weise erklärt sich, warum in einem Fenster von Chartres das Noli me tangere unter der Marienfigur erscheint.71 Auch die Artes liberales, die an der südlichen Vorhallenwand auf die Törichten Jungfrauen folgen, stehen im mariologischen Kontext (Abb. 9). Schon Boethius betrachtete die Wissenschaften als Abglanz der göttlichen Weisheit, die sich ganz besonders in Maria manifestiert,72 und so umrahmen in Chartres die Artes liberales mit Fug und Recht die Sedes Sapientiae.73 Verficht man die Kohärenz des Freiburger Programms, so muß man die Tatsache erklären, daß sich die Törichten Jungfrauen, angeführt von der Synagoge im rechten Portalgewände, zusammen mit den Artes liberales auf derselben Seite befinden. Es genügt wohl nicht, auf den symmetrischen Kontrast zwischen Torheit und Weisheit hinzuweisen.74 Vielmehr führt diese merkwürdige Figurenanordnung zur Interpretation, die sich uns bereits bei der Betrachtung des südlichen Querhausarms von Straßburg aufdrängte. Wie in Straßburg kann der Betrachter in der Freiburger Vorhalle die vor seinen Augen ausgebreitete Heilsgeschichte räumlich durchschreiten. Es gibt in der Zeit vor dem Jüngsten Gericht keine definitiv festgelegte »gute« und »böse« Seite, denn Reue und Buße sind immer noch möglich. Diesen Zustand sub gratia bildet der Figurenzyklus der Freiburger Vorhalle äußerst anschaulich ab. Der in der Vorhalle weilende Betrachter befindet sich im Spannungsfeld zwischen Sünde und Erlösung. Die an der nördlichen inneren Westwand auftretenden Figuren des Teufels (hier als Fürst der Welt verkleidet) und der Luxuria stehen nicht zufällig der am südlichen Portalgewände erscheinenden Synagoge diagonal gegenüber. Symmetrisch entsprechend sind Margaretha und Katharina, die beiden gekrönten Jungfrauen an der südlichen inneren Westwand, mit der Ecclesia am nördlichen Portalgewände diagonal verbunden. Im Schnittpunkt dieser Diagonalen hält sich 59
Vgl. hier Anm. 9. CoLE'iTF. MANHES-DEREMBLE, Les vitraux narratifs de la cathedrale de Chartres, etude iconographique (Corpus vitrearum medii aevi. France, etudes II), Paris 1993, S. 44. 71 Abgebildet in YVF.S DEIAIORTK/ETIENNE HOUVET, Les vitraux de la cathedrale de Chartres. Histoire et description, Chartres 1926, S. 4l6f., Taf. 186. 72 ADOLF KAT/.KNELLENBOGF.N, The Sculptural Programs of Chartres Cathedral. Christ, Mary, Ecclesia, New York 21964, S. 17. 70
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Ebd. S. 15ff.; SAUERIANDER [Anm. 41], Taf. 6, S. 68f. Vgl. hier Anm. 32.
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der Betrachter auf, der wie jeder Gläubige stets zwischen Gut und Böse hin und hergerissen wird. Wie wir in Straßburg gesehen haben, muß die Synagoge nicht nur in negativem Sinne betrachtet werden, denn auch sie ist die Braut, die sich vor dem Ende der Zeit dem himmlischen Bräutigam zuwenden wird. So gesehen bildet sie wie in Straßburg zu Recht das symmetrische Gegenstück der Ecclesia am Portalgewände und rahmt mit dieser zusammmen die Madonna am Trumeau ein. Auch die Freiburger Turmvorhalle führt somit die heilsgeschichtliche Rolle von Maria-Ecclesia anhand eines räumlich konzipierten Bildsystems vor. Es ist in erster Linie die bisher nie im Zusammenhang mit den Vorhallenfiguren betrachtete, am Wimperg des Außenportals angebrachte Marienkrönung, die uns diese Leseart nahelegt. Sie erklärt alle Eigenheiten des Skulpturenprogramms. Nimmt man in Freiburg die Allegorie des Kirchengebäudes als Himmlisches Jerusalem ernst, so stellt die Vorhalle die Kirche in ihrem Zustand sub gratia dar. Als Zeichen der bereits vollzogenen Erlösung durch Christus figuriert am Außenportal die Marienkrönung. Sie verkörpert das Tor, welches das Heilsgeschehen eröffnet (und das in Freiburg ansonsten ja keine figürlichen Darstellungen aufweist). Sie nimmt genau die gleiche Funktion wahr, welche am Hauptportal der Klosterkirche von Alpirsbach die hundertfünfzig Jahre ältere Darstellung des thronenden Christus in der Mandorla (Abb. 1) innehat.73 Hat man aber die Vorhalle des Freiburger Münsters - gleichsam sub gratia — durchschritten, so betritt man das Innere des Münsters erst, nachdem man unter dem Jüngsten Gericht am inneren Portal hindurchgegangen ist, mit anderen Worten das Spannungsfeld zwischen Gut und Böse hinter sich gelassen hat. Daß die Marienkrönung den Leitgedanken des Vorhallenprogramms verkörpert, beweisen zusätzlich die bisher ungedeuteten beiden weiblichen Figuren,76 welche am Wimperg des Außenportals die von Engeln umgebenen Figuren der »synthronoi« einrahmen. Gekrönte Jungfrauen gibt es in der christlichen Ikonographie nicht viele, und so wird man vorschlagen dürfen, daß es sich trotz fehlender spezifischer Attribute um Margaretha und Katharina handelt, also um die gleichen Heiligen, die an der inneren Westwand der Vorhalle als Gegenspielerinnen des Teufels und der Unzucht auftreten. Am Wimperg begleiten die beiden Jungfrauen mit Fug und Recht das zentrale Bildmotiv der Marienkrönung.77 Als Märtyrerinnen sind sie nach Maria 75 76
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Siehe oben S. 23f. Für OTTO SCHMITI, Gotische Skulpturen des Freiburger Münsters, Bd. l, Frankfurt a. M. 1926, der sich als einziger ganz kurz mit ihnen auseinandersetzte, besteht »überhaupt kein innerer Zusammenhang mit dem Hauptthema« (S. 24). In einem nur wenig älteren Hauptwerk der deutschen Monumentalmalerei, der Ausmalung der nördlichen Seitenapsis von St. Maria zur Höhe in Soest, wird die Marienkrönung von den hli. Katharina und Maria Magdalena eingerahmt (s. LKGNER, Deutsche Kunst der Romanik, München 1982, Taf. 147 und S. 161). Auf der Mitteltafel des Graudenzer Altars, eines der hervorragendsten Werke ostmitteleuropäischer Kunst des späten 14. Jh.s, umstehen die Marien-
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die vollendetsten Nachahmerinnen Christi, und da das Martyrium als Quelle der Reinigung die Sünde aufhebt und das ewige Leben garantiert, schlagen sie mit aller wünschbaren Deutlichkeit den Bogen zur Vorhalle, an deren Eingang sie der Betrachter wiederfindet. Hier bewachen sie den Schauplatz, der dem Gläubigen eindringlich vor Augen führt, daß er zwischen Gut und Böse zu wählen hat.
krönung die hll. Barbara und Katharina. Zu diesem Werk jüngst ADAM S. LABUDA, Die Spiritualität des Deutschen Ordens und die Kunst. Der Graudenzer Altar als Paradigma, in: Ordines militares. Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter (Colloquia Torunensia historica VII), Torun 1993, S. 45-73.
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Goldene Schmiede< (Nr. l, 1950 w.), >Die Heidin B< (Nr. 48, 1902 w.), Strickers >Frauenehre< (Nr. 159, 1902 w.) und Hartmanns >Armer Heinrich< (Nr. 133, 1512 w.). Das mag einen ersten Hinweis auf die Gebrauchssituation dieser Hs. geben. Man konnte, und die Überschriften machten dies möglich, sich eine Auswahl für bestimmte Anlässe zurechtlegen, die Kalocsaer-Hs. hat zu diesem Zweck ein, allerdings nur leidlich brauchbares, später eingefügtes Register;6 die Stücke sollten jedenfalls vermutlich nicht länger sein, als daß ihre Lektüre etwa eineinhalb bis zwei Stunden beanspruchte. Die Offenheit der Sammlung für thematisch Verschiedenes, wie sie dieser flüchtige Überblick suggeriert, gilt freilich nur bedingt für den Eingangsteil der Handschrift, der die ersten 42 Stücke umfaßt. Hier dominieren Texte, die die Figur der Maria ins Zentrum stellen; von den 42 genannten sind es allein 32, die sich der Gottesmutter in unterschiedlichen literarischen Formen wie Leich, Klage und Mirakel (der größten Gruppe) widmen. Dennoch kann nicht eigentlich von einem »Marienteil« gesprochen werden, denn der Status dieser Mariendichtungen bestimmt sich nicht unabhängig von dem anderer Texte. Weder die Mariendichtungen insgesamt, noch eines ihrer Genera allein geben der Sammlung des Cpg 341 das Profil. Vielmehr entsteht Anfang des 14. Jahrhunderts mit dessen »entschieden und breit durchgebrochene[m] Zwang zur Schriftlichkeit der Laiensprache, zu einer allgemeinen Schriftkultur auf deutsch«7 ein Repertoire aufeinander bezogener Texte. Obwohl sie in unterschiedlichen Zeiten - ein Jahrhundert oder un4
Vgl. HANS-JOACHIM ZIK;KLKR, Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, hg. von VOI.KKR HONKMANN/NIC.KI. F. PALMKR, Tübingen 1988, S. 469-526, hier S. 486-496. 5 Der Stricker, Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 34l (Reclams Universal-Bibliothek 658), hg. [. . .] von MICHAEL SCHILLING, Stuttgart 1994; die Angaben in: Des Strickers >Pfaffe Amiss hg. von K. KAMIHARA (GAG 233), 2. Aufl., Göppingen 1990, S. 5, 20 u. im App. an entsprechender Stelle stimmen z. T. nicht überein. 6 Vollständig, wenn auch fehlerhaft, gedruckt bei: JOHANN N KP. MAIIÄTH/JOHANN PAUL KoHFINGKR, Koloczaer Codex altdeutscher Gedichte, Pesth 1817, S. XI-XX. 7 HUGO KÜHN, Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jahrhunderts, in: H. K., Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen 1980, S. 57-75, hier S. 59, zum Cpg 341 S. 60.
Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen
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mittelbar zuvor - entstanden, aus unterschiedlichen Genera gesammelt und im einzelnen unterschiedlichen Intentionen verpflichtet sind, werden sie sukzessive zu einer Art »Summe« gefügt, deren theologischer Gehalt sich bestimmten offiziellen Tendenzen durchaus verschließt, anderen hingegen nachkommt und insgesamt eine entschieden laikale Position vertritt. Die Handschrift hat ursprünglich mit der Marienklage >Unser vrouwen klage< (Nr. 5)8 begonnen, wie eine besonders aufwendig mit Drolerien versehene Initiale, ein großes, den Schriftspiegel überschreitendes, bis an die Blattränder reichendes / (oder /) und die Gebrauchsspuren des Blattes (22r) zeigen, das am Beginn der jetzigen 5. Lage, der ersten von ursprünglich 42 regelmäßigen Quaternionen,9 steht. Die Marienklage wird ergänzt durch die jetzige Nr. 6 der Sammlung >Vom Jüngsten TageUnser vrouwen klage< hatte das Mitleiden der Gottesmutter mit dem Menschensohn in seiner Passion vorgeführt und am Ende zur Compassio und zur 8
Herausgegeben von: GUSTAV MILCHSACK, Unser vrouwen klage, PBB 5 (1878), S. 193-357, hier S. 193-281 (Redaktion I, Hs. B); dazu: Roi.H BERGMANN, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters, München 1986 (M 12, M 8 u. a.) sowie den Artikel von GISELA KORNRUMPH, Unser vrouwen klage, in: Literaturlexikon, hg. von WALTHER KII.I.Y, Bd. 11, Gütersloh 1991, S. 492f. ' Jetzt Lage 5^6; von Lage 13 (fol. 86-92) und 14 (fol. 93-99) fehlt jeweils ein Blatt, von Lage 33 (fol. 244—247) fehlen vier Blätter des ursprünglichen Bestandes. Vgl.: Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte III. Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341, hg. von GUSTAV ROSENHAGKN (DTM 17), Berlin 1909, Nachdr. Dublin/Zürich 1970, S. V-VI. Ich schließe mich in der Zählung der Lagen ROSKNHAGEN an, der sich an der gegenwärtigen Bindung der Hs. orientiert, dies trotz des berechtigten Einwands von ZWIER/.INA [Anm. 3], S. 213 Anm. l, dessen Lagenzählung durchgängig um eins niedriger ist als bei ROSKNHAGKN. 10 ROSENHAGEN [Anm. 9], S. 1-18, danach zitiert; krit. Ed.: Von dem Jungesten Tage, hg. von L. A. WILLOUGHBY, Oxford 1918, S. 49-81; dazu ANDREAS WANG, >Von dem Jungesten tages 2 VLIV, Sp. 929-931.
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Abkehr von der Welt aufgefordert.11 Dieser Mahnung entsprechen in >Vom Jüngsten Tage< die Sequenzen vom bösen, der eben dies nicht getan hat, und vom guten, der sich zu Christus in seiner Passion und in der Gestalt des armen bekannt hat. Das Leben des Guten, das Christi Leidens- und Erlösungstat entsprochen hat, wird durch den Anblick Mariens in der Glorie belohnt. Die Rolle der Maria als Mittlerin und Helferin erscheint nicht explizit, präsentiert sich aber für den Leser als Konsequenz aus der Lektüre und der Reflexion der eng aufeinander bezogenen zwei Texte. Diesen beiden Stücken folgen 27 Marienmirakel. Sie werden im Cpg 34l und in der Kalocsaer Hs. als eigener Komplex erkannt und erfaßt. Vor dem ersten Mirakel ist als Überschrift vom Rubrikator eingetragen: Hie hebent sich an groz wunder / Von vnser vrowen besvnder.n Und die Überschrift des im Anschluß an diese Mirakel-Reihe aufgezeichneten 34. Stücks >Der Heller der armen Frau< lautet: Hie endent sich unser vrowen wunder: l so zeiget Got ein anders dar under, l wie eines kunges munster volquam l von einer armen spinnenn helbelinc san, l mit dem si alle ir not über quam.^ Mit Ausnahme der vier letzten Mirakel enden alle auch mit dem Vers des si gelobet di kunigin, und einleitende Verse weisen darauf hin, daß jetzt ein anderes Beispiel für Mariens Barmherzigkeit folge. Von diesen 27 Mirakeln stammen die ersten 23 (I-XX, XXII-XXIV) aus dem >PassionalMarien Rosenkranz* wurde wohl deswegen nicht aus dem >Passional< in den Cpg 34l (oder seine Vorlage) übernommen, weil mit der Nr. 32 des Cpg 341 eine andere Version dieses Mirakels vorlag, die Auftraggeber oder Schreiber vorzogen.15 Ebenfalls nicht übernommen wurden >Der Judenknabe< (Nr. XXV) und die sog. >Paränese zum Mariengruß< (nach Nr. XXV),16 was vielleicht durch deren Endstellung in der Vorlage verursacht sein wird. Ergänzt werden die verbliebenen 23 Mirakel um vier weitere Mirakel, Nr. 30—33, die sich dadurch auszeichnen, daß drei von ihnen (Nr. 30, 31, 33) bereits im Text vom 11
Vgl. MILCHSACK [Anm. 8], v. 1110-1137, dazu vgl. GEORG SATZINGER/HANS-JOACHIM ZIEGF.I.ER, Marienklagen und Pietä, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER (Fortuna vitrea 12), Tübingen 1993, S. 241-276, hier S. 258f. 12 Marienlegenden aus dem Alten Passional, hg. von HANS-GEORG RICHERT (ATB 64), Tübingen 1965, S. l (App.). 13 ROSENHAGEN [Anm. 9], S. 19; vgl. RICHERT [Anm. 1], S. 65. 14 Vgl. die >PassionalPassionalPassionalGoldener SchmiedeGoldenen Schmiede< (7/8 alt; 14/2 neu). Umfangsberechnungen zeigten danach wohl, daß man mit den zwei weiteren Trinionen für den Umfang der eingeplanten Texte noch immer nicht auskam, und so wurde ein Einzelblatt vor dem nächsten Trinio eingefügt (9 alt; 15 neu). Dieser Trinio wurde dann weiter, ein weniges über die Mitte hinaus, mit den 1950 Versen, die die >Goldene Schmiede< in dieser Hs. zählt, beschrieben (10r-13v alt; 3r—6V neu). Sie endet in der linken Spalte der zweiten VersoSeite des inneren Doppelblattes (13va alt, 6va neu), und nach zwei freigelassenen Zeilen beginnt dann, ohne Überschrift, Walthers Leich. Möglich also, daß der Schreiber sowohl die >Goldene Schmiede« als auch die beiden folgenden Leichs Walthers und Reinmars von Zweter als lop und als zusammengehörig begriff, wie auch der Rubrikator, der nur über der >Goldenen Schmiede< die Überschrift Ditz heizet dazgvldin lop vnss vrowe I Got helfdaz wir si mvzen schowen nachgetragen hat (dies offenbar, nachdem die Kalocsaer Hs. bereits geschrieben war).21 Daß mit Walthers Leich allerdings etwas 17
Gesammtabenteuer, hg. von FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, 3 Bde., Stuttgart/Tübingen 1850, Nachdr. Darmstadt 1961, hier Bd. 3, S. 433-450; zu diesem Mirakel vgl.: KONRAD KUNZE, Siegfried der Dörfer, 2VL VIII, Sp. 1204f. 18 Vgl. ROSENHAGHN [Anm. 9], S. V-VII. 19 Vgl. ROSENHAGEN [Anm. 9], S. VI-VIII. 20 Es fehlen v. 195-250; v. 138a,b sind Zusatzverse. Vgl. KARL BERTAU, Vorläufiges kurzes Verzeichnis der Handschriften der »Goldenen Schmiede« des Konrad von Würzburg, in: Germanistik in Erlangen, hg. von DIETMAR PESCHEI., Erlangen 1983, S. 115-126, hier S. 116. 21 Vgl. ZWIERZINA [Anm. 3], S. 220f.
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anderes begann als mit den üblichen Reimpaarversen, von denen Schreiber b vermutlich schon einige 10000 hinter sich hatte, als er diesen neuen Einleitungsfaszikel zu Ende schrieb, ist ihm wohl deutlich gewesen - man sieht es an den Schwierigkeiten, die es ihm bereitete, die nicht paarweise gereimten Kurz- und Langzeilen der einzelnen Versikel in seinen 40er-Spalten unterzubringen. Noch deutlicher wurde es womöglich Schreiber e ( bei ZWIERZINA) der Handschrift, der, als er den Kalocsaer Codex schrieb, nicht die >Goldene Schmiedes sondern nur Walthers (und Reinmars) Leich mit der Überschrift versah Hie sulle wir lesen ein lop unde einen leich suzen von unser vrowen. Diese Überschrift erklärt sich aus der Umstellung der zwei Teile von Walthers Leich in beiden Handschriften und auch im Wiener Codex 2677 LACHMANNS bzw. CARL VON KRAUS' k, k2 und 1; Walthers Leich beginnt hier nicht mit dem Versikel von C: Got, diner Trinitäte, I die beslozzen hate I din fürgedanc mit rate, l der jehen wir, mit driunge I din drie ist ein einunge (3,1-5), sondern mit dem Preis der Jungfrau Maria, den ich nach der Hs, mit allen »Fehlern«, besser: mit allen Neuakzentuierungen zitiere, die statt des Wunders der Empfängnis durch Gottes Wort die Rolle Mariens als Mittlerin zwischen den Menschen und Gott und ihre Nähe zum Mensch gewordenen Gott herauszustellen suchen (LACHMANN 5,19-26): Maget vil vnbewollen Der Gedeones wollen Glichest dv den vollen Die got begoz mit himel towe Din [nicht ein!] wort ob allen warten Entslozzen diner oren f horten Daz ist svze in allen orten Dich hat gesvzet die svze himel vswe.22
Es folgen der Preis des Gotteskindes (5,27—38), Bitte an Maria und ihr Kind (5,39-6,6), dann der sog. Hauptteil II,23 also Ermahnung zur Reue, Gebet um Reue, Lob Gottes für den Geist der Reue und die Bitte um diesen Geist für das beklagte Kristentuom, das ze siechhüs liege (6,7-7,20). Mit dem Lobpreis der Jungfrau und dem - eigentlichen - Schlußgebet (7,21—8,3) lenkt diese Version von Walthers Leich an den - eigentlichen - Beginn mit dem Preis der Trinität (3,1-9) zurück. Diesem folgt der sog. Hauptteil I, mit Sündenbekenntnis, Gebet, Lob Gottes, Verachtung des Teufels, Lob Gottes, 22
Ich nehme an, daß 5>23—26 so verstanden worden ist: >Dein [Mariens] Wort [hat] vor allen [anderen] Worten deiner [Gottes] Ohren Pforte aufgeschlossen, [dein Wort], das heilig an allen Enden ist. Dich [Gott] hat erquickt [?] die heilige Himmelskönigin.< 23 Diese Gliederung des Leichs gilt mit, z. T. umstrittenen, Modifikationen seit CARI. VON KRAUS, Walther von der Vogelweide. Untersuchungen, Berlin 1935, Berlin 21966, S. 1-18; »Themenwechsel« und »inhaltliche Enjambements« stellt stärker heraus HUGO KÜHN, Minnesangs Wende, Tübingen 21967, S. 137-139; der für das Lesen eingerichteten Überlieferung in den hier behandelten Hss. widmet sich HERMANN APFELBÖCK, Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich (Hermaea N.F. 62), Tübingen 1991, S. 124f.
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Lob der Jungfrau (3,10^4,1) und mit der Reihe der bekannten »Sinnbilder und Beiworte« zum Preis Mariens, die jungfräulich empfing und jungfräulich das Lamm, den wahren Christus, gebar - dv bit in daz er vns gewer l durch dich des unser dürfte ger l des win din lop gemeret (4,2-5,18). Damit ist, durch die schlichte Umstellung der beiden Teile von Walthers Leich, ein Marienpreis entstanden, der mit der Reihung der typologischen Entsprechungen des Wunders der jungfräulichen Geburt beginnt und eben dahin wieder zurückführt. Freilich endet damit der Text im Verständnis dieser und der beiden anderen Hss. nicht, sondern ohne freie Zeile oder Überschrift schließt sich an die zuletzt zitierten Verse der Leich Reinmars von Zweter an,24 der aus dem Wunder der alles umfassenden waren minne, die Got zuo dirre liebe twanc (75f), den Preis Mariens und der Menschwerdung Gottes entwickelt und zur Schlußbitte hinleitet (v. 229-233, fol. I6 rab ): Nv helfvns die nie mvde wart Ze biten vmb vnser misse tat Die ist die in true verspan Den der vns erarnet hat AI vnser heil an evh [in CW] zwen stat.
Der charakteristische und den Umformulierungen in Walthers Leich entsprechende Wechsel im Schlußvers vom indirekten Sprechen zur Apostrophe, die Gott und Maria gleichstellt, wird ergänzt durch zwei Zusatzverse: Nv sol vnser werden rat l Vor aller hande missetat. Unmittelbar vorgebrachte Bitte wird hier verschränkt mit geglaubtem Wissen um Hilfe, um Hilfe nicht nur begangener Sünden wegen (unser missetat, 230), sondern auch um Schutz vor gegenwärtig-irdischer aller hande missetat (233b).25 Das eng geführte Miteinander beider Aspekte der Maria als Helferin und Mittlerin zeigt sich nicht nur im kleinen, sondern auch im weiteren im Wechsel verschiedener literarischer Formen. Auffällig ist, daß die literarischen Ambitionen, die sich zu Beginn mit Konrads >Goldener Schmiede< und den zu einem vergleichbaren >Guldinen lop< verschmolzenen Leichs bieten, mit den >Mariengrüßen< (Nr. 4), die nun folgen, nicht aufgegeben werden. Sie sind betitelt mit dem Zweizeiler: Hie hebent sich vnser vrowe grvze an. anderhalb hund't wol getä.26 Deren Rang ist stets daran gemessen worden, daß sie eine Reihe von Anklängen an das >Marienlob< zu enthalten
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Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. von GUSTAV RoHTHE, Leipzig 1887, Nachdr. Amsterdam 1967, S. 401^10; zur Gruppe der Hss., die Reinmars Leich überliefern, S. 148-152: Cpg 341 und Kalocsaer Hs. (Sigle: k), Wien, NB, cod. 2677 (Sigle: 1). 25 Zum Verhältnis von Text und Melodie in der Überlieferung von Reinmars Leich vgl. jetzt MARTIN J. SCHUBERT, Die Form von Reinmars Leich, ABäG 4l (1995), S. 85-141. 26 Nach (einer Abschrift) der Kalocsaer Hs. herausgegeben von FRANZ PFEIFFER, Mariengrüsse, ZfdAS (1851), S. 274-298.
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scheinen, das allein in dem Hss.-Zweig II von Albrechts Jüngerem Titurel< überliefert ist.27 Die Abhängigkeit des >Marienlob< im Jüngeren Titurel< von den >Mariengrüßen< ist behauptet worden von FRIEDRICH ZARNCKE: »Diese [die Mariengrüße] hat er [Aibrecht] fast wörtlich ausgebeutet.«28 Dies konnte, wie schon ZARNCKE konzedierte, nur für die ersten 50 Strophen der >Mariengrüße< gelten, von denen ZARNCKE fälschlicherweise annahm, daß der Wiener Codex 2677 eine Redaktion überliefere, in der nur sie enthalten seien. Das «Abhängigkeitsverhältnis« beider Dichtungen kehrte sich um, als EDWARD SCHRÖDER zeigte, daß die >Mariengrüße< »in Baiern«, und zwar nicht viel früher als zur Zeit Hadamars von Laber (ca. 1300 — nach 1354) entstanden sind.29 Von den insgesamt 25 Parallelen, die ZARNCKE a.a.O. anführt, scheinen mir allenfalls die Reimbindungen in >MariengrüßeMarienlob< des Jüngeren Titurel· 12,3/4; I6,la/2a; 16,lb/2b; 13,3/4; 23,3/4; 4l,lb/2b beweiskräftig für eine Abhängigkeit der >Mariengrüße< vom >Marienlob< des Jüngeren Titurel< zu sein.30 Über die gedankliche Selbständigkeit der >Mariengrüße< gegenüber dem >Marienlob< ist damit nichts gesagt.
Sie äußert sich in der, nicht ohne augenzwinkernde Ironie vorgebrachten, Reflexion dichterischer Techniken, vor allem aber in der Anlage des Gedichts, die sich auch in der optischen Darbietung der Handschrift für den leser (v. 791, 821) spiegelt. Das Gedicht beginnt mit einem Prolog (v. 1-68) mit Invocatio der Trinität (v. 1—28) und der Bitte um Hilfe beim Dichten an die Trinität (v. l, 28) und an Maria (v. 29-68) samt Bescheidenheitsgeste des Autors, der sich sündic Alman (v. 36) und Mariens armer kapelän (v. 57) nennt, der Mariens lop aham ein han krähe (v. 37). Der Prolog umfaßt ausschließlich männliche Reime, von denen die 40 Verse des zweiten Teils auf -an ausgehen, was der Autor mit der Bemerkung quittiert: da endet sich der nme ian l und hebt das erste fünfzic an. Damit sind die ersten 50 Mariengrüße angekündigt, 50 Strophen zu je vier paarweise gereimten, auftaktlosen Versen (v. 69-280) mit anaphorischem Wis gegrüezet und durchgängig weiblichem Reim, in denen Präfigurationen und preisende Metaphern Mariens überwiegen; drei zusätzliche Strophen lassen darauf schließen, daß das Gedicht kaum erst für diese Handschrift geschaffen worden ist.31 Auffällig ist, 27
Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, Bd. 1: Str. 1-1957, hg. von WERNER WOLF (DTM 45), Berlin 1955, S. 111-117, nach Str. 439. 28 FRIEDRICH ZARNCKE, Der Graltempel, Leipzig 1876 (= Abhh. d. Philol.-Hist. Cl. d. Kgl.-Sächs. Ges. d. Wissenschaften, Bd. 7, Nr. 5, 1876, S. 375-553), S. 499, vgl. die entsprechenden Anmerkungen S. 515-522. EDWARD SCHRÖDER, Zur Marienlyrik, ZfdA 28 (1884), S. 20-22, hier S. 2l£; vgl. DIETRICH HUSCHENBETT, Albrechts »Jüngerer Titurel< (Medium Aevum 35), München 1979, S. 193f. 30 Zum Problem vgl. auch WALTER ROLL, Studien zu Text und Überlieferung des sogenannten Jüngeren Titurel (Germanische Bibliothek. Dritte Reihe), Heidelberg 1964, S. 125f.; zusammenfassend: BURGHART WACHINGER, Mariengrüße, 2VL VI, Sp. 1-7, hier Sp. 5f. " Zusätze sind die Strophen 25 (v. 165-168), 38 (v. 217-220) und 48 (v. 257-260), dies nach
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daß in zwei der interpolierten Strophen ausdrücklich der Autor zu Wort kommt, der darum bittet, im Buch des Lebens genannt zu werden, und erklärt, warum in diesen ersten 50 Strophen der Name Maria nur selten, nämlich dreimal (v. 136, 209, 276), genannt wird: daz kumt von der rime rihte (v. 260) - »klingende reime auf Märjä oder Marje waren eben schwer zu finden«.32 Ein erster Zwischentext (v. 281-320) präsentiert Maria und den Propheten Elias, die beiden Leitfiguren der 1286 endgültig bestätigten Karmeliter; er verkürzt die Erzählung vom Regenwunder des Elias auf dem Berge Karmel (3. Rg, 17-18) analog lac 5,17-1833 zum Exempel für die Kraft des Gebets (lac 5,16). Möglicherweise singular wird das kleine wolkelin des Elias, das eines menschen schin hat und üfrehte von dem mer geht (v. 301303; vgl. 3. Rg, 18,44 nubicula parva quasi vestigium hominis ascendebat de mart), allegorisch gedeutet als Maria, diu den regen truoc l in unser gar unberndez lant (v. 306f.).34 Der Autor bittet, offensichtlich so, wie Elias Gott gebeten hat, nun die Mutter Gottes, daß sie ihm ihr Ohr neige, denn um ihres unerschöpflichen Erbarmens willen habe ihr diu helle (v. 318) sogar den Theophilus lassen müssen (v. 316—318). Damit wird nicht nur ein Verweis auf das auch im Cpg 34l aufgezeichnete Exempel des Theophilus aus dem >Passional< (Nr. XXIII) geboten; der Verfasser läßt mit der Formulierung der w. 316-318 auch offen, ob er der Hilfe Mariens im allgemeinen Sinne wie jeder Mensch oder im besonderen als Autor bedürfe; der Unfähigkeitstopos hat hier, so scheint es, besonders raffinierten Ausdruck gefunden. Darauf folgt die zweite Gruppe von 50 Gruß-Strophen mit anaphorischem Vrewe dich oder Vrewe dich, vrowe im Wechsel (v. 321—520), die die Freuden Mariens, z. T. gewagt (v. 409^412), auf Christi Heilstat beziehen. Es folgt ein zweiter Zwischentext (v. 521-590), der nach dem Elias-Exempel und der selbstironischen Bescheidenheitsformel des ersten Zwischentextes ein weiteres Exempel, nun mit einer ironischen Quellenangabe, folgen läßt. Das Exempel (maere) habe der Autor an einem buoche gefunden, das unser frouwen judenbuoch (v. 526) heiße. Die merkwürdige Quellenberufung PFEIFFER [Anm. 26] hielt sie, ohne wie sonst von HAUPT korrigiert zu werden, für einen Schreibfehler (Anm. zu v. 526) — wird mit dem Gewinn, den Zinsen, dem Wucher, mhd. gesuoch (v. 525) erklärt, mit dem dieses buoch EDWARD SCHRÖDER, Zur Marienlyrik, ZfdA 25 (1881), S. 127-130, hier S. 129f., bis auf Str. 38 in Übereinstimmung mit ELIAS VON STEINMF.YER, Zu den Mariengrüssen, ZfdA 18 (1875), S. 13-16, hier S. 15. 32 SCHRÖDER [Anm. 31], S. 130. " Daß Elias Gott gebeten habe, es drei Jahre und sechs Monate nicht regnen zu lassen (v. 283286), erscheint nur bei lac, die Zeitangabe auch in Lc 4,25f. 34 Keine Parallelen sind verzeichnet bei ANSEI.M SAI.ZER, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters, Progr. Seitenstetten 1886-94, Nachdr. Darmstadt 1967, S. 42, 342, 552.
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mit seinem hört an Wundertätigkeit Mariens (v. 527) den Ionen könne (v. 528), der ihr zu dienen bereit sei (v. 529).35 Das maere selbst ist die Geschichte vom armen priester (v. 531), der vom Bischof aus Pfründen und Rechten (v. 565) vertrieben wird, weil er, seiner Ungelehrtheit wegen (v. 531-534), nur eine einzige Messe liest, die aus dem Introitus zur Messe an Mariae Geburt entstandene Votivmesse salve sancta parens (v. 546).36 Maria zwingt den Bischof, ihren kanzelaer (v. 573, 577) wieder einzusetzen. Auch dieses Mirakel erscheint in den aus dem >Passional< übernommenen Mirakeln (Nr. VIII). Es zeigt den armen priester in der Rolle, in der sich der Autor präsentiert: ungelehrt, aber Maria ergeben, mit einem dezenten Hinweis auf die tatsächliche Schriftgelehrtheit (kanzeL·er)·, in der Version des >Passional< handelt es sich um einen pfaffen, den Maria als ihren capellan (v. 55) bezeichnet. Es folgt die dritte Gruppe von 50 Gruß-Strophen, wiederum mit Wechsel von anaphorischem Hilf uns und Hilf uns, vrouwe (v. 591-790), die um Beichte, Reue und Buße flehen (v. 591—622) und um Christi Leben (v. 623— 674), Passion (v. 675-758), Auferstehung, Himmelfahrt und Ausgießung des Heiligen Geistes (v. 759-778) willen Marias Hilfe erbitten. Am Ende wird dem leser (v. 791, 821) erläutert, daß er äaz erste und daz ander fünfeic mit je funfeic venjen, daz dritte ßinfzic mit fünfmal neun venjen, die fünf zehnten Bitten aber mit Prostration enkriuzestal (v. 815) in ere der fünf wunden sin (v. 817) vorbringen solle. Der Leser solle leisten, was er vermöge, aber eine Stunde des Tages von den sieben Tagen und sieben Nächten der Woche zu je zwölf Stunden schütze vor vinden und dem Teufel. Fast alle sinntragenden Abschnitte jener Textpartien, die die 150 Grüße umrahmen, enden mit einem Vierreim (v. 21-24, 25—28; 587-590, 797— 800, 805-808, 817-820, 833-836). Jeder der einzelnen Grüße ist in der Handschrift mit einer eigenen farbigen Initiale versehen; wie auf allen Blättern reichen die W der ersten 50 Grüße und die darüber hinaus regelmäßig zwischen U und K wechselnden Initialen der zweiten 50 Grüße über je zwei, die //der dritten Gruppe über je drei Zeilen. Die Grüße sind also nicht nur für das meditierende Lesen, sondern auch für den praktischen Nachvollzug des lesers eingerichtet.37 Um so erstaunlicher ist, daß der Schreiber das Akrostichon der ersten 83 Verse des unmittelbar an die >Mariengrüße< anschlie35
gesuoch erscheint nach ROSENHAGEN [Anm. 9] in der angegebenen Bedeutung im Cpg 34l und den mit ihm verwandten Hss. auch in >Vom jüngsten TageMarienmessei, 2VL VI, Sp. I4f., und ders., Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter (MTU 23), München 1968, S. 38 Anm. 45 u. S. 82f. Anm. 329. 37 Vgl. PETER APPF.LHANS, Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Mariendichtung. Die rhythmischen mittelhochdeutschen Mariengrüße (Germanische Bibliothek. Dritte Reihe), Heidelberg 1970, S. 126f., der jedoch »Leser« von »Betern« unterscheidet; zum Text vgl. noch ebda. S. 36f., 107f., 124.
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ßenden >Frauengebet zu MariaGebet< präsentiert die Ich-Rolle einer Frau (v. 46-58), einer Ehefrau (v. 48), die nach vorgegebenem Muster, wohl einem Beichtformular, ihre Sünden bekennt und Maria bittet, für sie zu bitten und gotes zorn (v. 38) abzuwenden. Diese Sündenklage ist ergänzt um weitere 39 Verse, in denen statt des ich ein allgemeines wir sünder (v. 91) erscheint. Für diese Verse hat SCHRÖDER den Interpolator der drei Strophen in den >Mariengrüßen< verantwortlich gemacht.40 Auch in diesem Gebet können Leserin oder Leser die angebotene Rolle für sich übernehmen. Zusammen mit diesem nicht eigens abgesetzten >Gebet< füllen die >Mariengrüße< fast den ganzen zweiten Trinio; dies ist aber nur gelungen, weil der Schreiber die üblichen 40er-Spalten mehrfach auf 42 Zeilen ausgedehnt und die ersten sieben Grüße (v. 69-96) auch in je drei Zeilen gezwängt hat. Schließlich hat er mit einem dreifachen Amen (und durch Streichen der w. 117-120?) die letzte Zeile des letzten Blattes dieses Trinios erreicht und damit den Anschluß zur Marienklage >Unser vrouwen klage< hergestellt. Auf diese Weise ist der einleitende Teil der ganzen Handschrift entstanden. Die Art der Aufzeichnung läßt darauf schließen, daß >Goldene Schmiedes Leichs, >Mariengrüße< und >Gebet< nach Vorlagen, aber zuerst und in dieser Reihenfolge für diese Handschrift zusammengestellt worden sind und für leser·, für laikale leser gedacht waren, denen der Gedanke nicht fremd war, das Lesen von Büchern und die Zeit als Investitionen zu rechtfertigen, die nach Kosten und Nutzen gegeneinander aufgerechnet werden können. Preisgedicht, Leichs und Gebete sollten, so scheint es, auch in dieser Abfolge gelesen werden; sie boten dem leser außer dem Bild Mariens, das in der nun folgenden Marienklage (Nr. 5), in >Vom Jüngsten Tage< (Nr. 6) und in den Mirakeln (Nr. 7—33) erscheint, die Möglichkeit, Maria im Preis und im Gebet lesend zu begegnen. Die Texte in den nachträglich ergänzten ersten drei Lagen der Handschrift sollten, so scheint es, die Rolle der Mittlerin und Helferin, in der Maria im Nacheinander von Marienklage, eschatologischem Gedicht und Mirakel erscheint, ergänzen um eine Maria, die zu preisen ist um der Wunder willen, die an ihr und durch sie geschehen sind und um derentwillen man sich auch mit dem Rosenkranz der 150 Grüße eines Marienpsalters und mit dem >Ave Maria< selbst an sie wenden kann. Aus der Perspektive der Leserin und des Lesers formuliert - die Rolle des (oder der) Mitleidenden und Bekennenden, des Hilfe für die Nöte des Alltags und beim Jüngsten Gericht Erwartenden wird ergänzt um die des Preisenden und Betenden. 38
Hg. von PFEIFFER [Anm. 26], S. 298-302. •w Zuerst entdeckt von FEDOR BECH, Kleine Mittheilungen, Germania 6 (1861), S. 222-224, hier S. 222, danach von EDWARD SCHRÖDER [Anm. 29], S. 20. 40 SCHRÖDER [Anm. 29], S. 21.
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Auf das letzte Marienmirakel >Frauentrost< von Siegfried dem Dorfer (Nr. 33) folgt nun eine Gruppe von neun Texten (Nr. 34—42), deren thematisches Zentrum nicht mehr die Marienfigur ist; im übrigen aber schließen sich diese Texte durchaus Positionen an, die auch zuvor vertreten sind. In den beiden vom Cpg 34l (H) abhängigen Hss., dem Kalocsaer Codex (K) und dem Wiener Codex 2677 (k), sind diese Texte sogar unter die Mariendichtungen selbst gestellt. Das ist um so bemerkenswerter, als »ZwiERZiNA [. . .] zwingend dargetan [hat], daß die Partie der Kaloczaer Handschrift, die den Leich [Walthers] enthält, eine unmittelbare Abschrift von [H . . .] ist, und daß aus [K], wiederum unmittelbar, der Text in der Wiener Handschrift 2677 [k] geflossen ist.«41 In K sind sowohl >CatoDer Magezoge« und >Der Seele Kranz< (H, Nr. 35-37) als auch Warum Gott sein Haupt neigt< und >Mönch Felix< (H, Nr. 4l u. 42, in H auf Rasur) vorgezogen und nach >Vom jüngsten Tage« (H 6) und vor der Mirakelreihe eingefügt worden (K, Nr. 8-12, vgl. Tabelle 1). Der Wiener Codex 2677 wiederum beginnt mit den Mirakeln, läßt ihnen >Der Seele Kranz< (H 37) und >Vbm jüngsten Tage< (H 6) folgen und bietet erst darauf >Goldene Schmiedes Leichs, >Mariengrüße< und >Unser Frauen Klage< (H 1-5). Vor »Warum Gott sein Haupt neigt< (H 4l, k 38) werden Konrads von Würzburg >Der Welt Lohn< (H 130, K 133) und >Der Sünden Widerstreit^2 sowie eine Predigt Bertholds von Regensburg, >Von den Zeichen der Messe< (Prosa!) eingefügt; die beiden letzten Stücke erscheinen nicht in HK.43 Schon im Cpg 34l ist durch Rasur und Reskribierung dafür gesorgt worden, daß in der beschriebenen Textreihe nichts enthalten war, das allzu »frech«44 erscheinen konnte. Warum Gott sein Haupt neigt< und >Mönch Felix< stehen nun auf Blättern, auf denen zuvor >Der HerrgottschnitzerVon der Barmherzig41
VON KRAUS [Anm. 23], S. l, bezieht sich auf ZWIER/.INA [Anm. 3]; zu früheren Einwänden RICHKRTS, wiederholt bei RiCHERT [Anm. 1], S. 66 u. 145, vgl. MIHM [Anm. 1], S. 54 Anm. 27. 42 Vgl. DIETRICH SCHMIDTKK, »Der Sünden Widerstreit«, 2VL IX, Sp. 527-530. 43 HERMANN MENHARDT, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. Bd. l, Berlin 1960, S. 89—102; zu Fehlern dieser Beschreibung vgl. RIOHERT [Anm. 1], S. 146. Zu Bertholds Predigt, vermutlich Version A, vgl. DIETER RICHTER, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg (MTU 21), München 1969, S. 170-173. 44 ZWIKR/INA [Anm. 3], S. 216 Anm. 1. 45 HANNS FISCHER, Studien zur deutschen Märendichtung. 2. Aufl. bes. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1983, Nr.B 62, S. 353f. 46 MIHM [Anm. 1], S. 50; FISCHER [Anm. 45], Nr.B 150a, S. 432.
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keit< (oder >Streit der vier Töchter GottesHerrgottschnitzer< zu ersetzen. Das Märe erzählt »von einem am Rhein lebenden Bildschnitzer, um dessen schöne Frau sich der Pfarrer, ein abtrünnig gewordener Mönch [von einem swarzen orden, v. 20], durch Geldangebote bewirbt. Gemeinsam mit ihrem Mann arrangiert die Frau zum Schein ein Rendezvous im Atelier und stellt hier den entblößten Pfarrer, um ihn vor dem Ehemann zu >verbergenEinfallMönch Felix< (H 42) erfährt der Zisterzienser (aus einem grawen lebene) Felix in seiner einhundertjährigen, ihm unbewußten Abwesenheit vom Kloster den Vorschein des Paradieses, - auch dies ein Motiv, das in den Texten zuvor stets von der Himmelskönigin erbeten wird. Im Prolog bittet der Autor Maria um Hilfe bei einer rede vom himelischen palas (16), in dem sie vrouwe sei (v. 1-17). Er führt dann am Mönch Felix selbst vor, auf was die anderen Texte mit unterschiedlichen Akzentuierungen zielen (v. 18-42): 47
Die Erlösung mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen, hg. von KARL BARTSCH (Bibl. d. ges. dt, Nat.-Lit. 37), Quedlinburg/Leipzig 1858, Nachdr. Amsterdam 1966, S. 1X-XX, vgl. WALTRAUD TIMMERMANN, >Streit der vier Töchter Gottes-, 2VL IX, Sp. 396-402, hier Sp. 398 (B I 2). 48 ROSKNHAGKN [Anm. 9], S. 31-35. 49
KARI.-HF.IN/. SCHIRMER, >Der Herrgottschnitzen, 2VL III, Sp. 1147F.
68
Hans-Joachim Ziegeler In einem graben lebene Ein heiliger mvnch was, Der gerne von got las, Swaz er geschriben vant, Der waz felix genant; Er was demvtick, alz Job; Der himel kvniginnen lob Vz sinem herzen nie enqvam. Keinem mvnche waz er gram Sin rewe die waz manicfalt, Des wart sin lip dicke kalt, Do er an siner venie lack Vnde rechter rewe phlak, An dem libe lait er not; An den grimmigen tot Gedacht er vil dicke, Wie er des tevfels stricke Mit eren mochte engen. Des begonde er gote vlen; Dirre werlt ere Waz im gar vnmere, Er weinte dicke sere, Got vnser herre Such sine trene wol, Als er gutes mannes W.50
In dieser summa vitae des Mönches Felix ist so gut wie all das versammelt, was auch in den zuvor besprochenen Texten herausgestellt wird. - Den Preis der himelkünigin haben alle anderen Texte ohne Ausnahme. Ware riuwe zeigen Protagonisten der Mirakel; wäre riuwe und dirre werlt ere abzusagen, fordern >Vom Jüngsten Tage< (H 5) und Warum Gott sein Haupt neigt< (H 4l). Eine ausführliche Erörterung von Reue, Beichte und Buße bietet in diesem gedanklichen Zusammenhang »Der Seele Kranz< (H 37):51 Wäre riuwe wird als Vorbedingung für die Beichte beim Priester und die Buße genannt; Buße kann man erlangen durch Tränen wahrer Reue (Christus hat nie gelacht und oft geweint, v. 35-78), durch die Orientierung an Marias Leiden unter Christi Kreuz (dabei wird an >Unser vrouwen klage< [H 5] erinnert, v. 79—118) und durch die Furcht vor dem Jüngsten Tage, an dem Christus den Sünder seine Wunden sehen läßt (v. 119-130). Wer aber dise wort unt dise dinc, l die hie nü geschriben sint, l dicke in dem munde treit l und in sime herzen uberleit, l daz ist der seien groz heil l unt leschet sunden ein teil (v. 131-136). Wer darüber hinaus einen Kranz von Tugendblumen pflückt, die von küscher lip (165) bis hoffnunge, geloube und wäre minne an der 50 51
>Mönch Felix«, nach H hg. in: Mittelhochdeutsche Übungsstücke, hg. von HEINRICH MEYERBENFEY, Halle 1909, S. 96-108. GUSTAV MILCHSACK, Der Sele Cranz, PBB 5 (1878), S. 548-569, hier S. 548-563; vgl. WERNER FECHTER, »Der Seele Kranz«, 2VL VIII, Sp. 1017-1022, und WERNER WEGSTEIN, >Die Himmelstraßei II, 2VL IV, Sp. 35 (entspricht Teil II von >Der Seele Kranz«).
Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen
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himeiischen sträze wachsen, wird vor Christus bestehen und die muter sin im Himmel schauen; daß dies geschehe und man nicht wegen werltiicher ere in der Hölle brenne, dazu möge uns Gates muter, der sunder trost (v. 335), helfen. Und auch die sog. höfische Tugendlehre »Der Tugendspiegel oder Magezoge< (H 36)52 ist fundiert im Hinblick nicht nur auf der werlte lop, sondern vor allem auf der sele heil (v. 7, 407ff). Denn wer alle die ohne erkennbare Gliederung ausgebreiteten Tugend- und Verhaltensregeln bewahre, sei, so heißt es, weiser als Salomon und stärker als Samson (v. 471 f., vgl. v. 167), überbiete also noch jene Typen, für die Christus - als ein ander Salomon, ein ander Samson - Antitypus ist. Da stellt sich denn doch der Verdacht ein, hier könne unter der Hand der Versuch einer satirischen Transzendierung dieses Tugendkatalogs geleistet werden. Etwas Ähnliches begegnet jedoch nicht in >Cato< (H 35), der unmittelbar anschließenden, ebenfalls als Vater-SohnLehrgespräch inszenierten Rede. Angesichts der massiven Darbietung von Verhaltensentwürfen in dieser werlde in den zuletzt besprochenen Texten können die folgenden drei Texte >Der Wiener Meerfahrt< vom Freudenleeren (H 38; FISCHER [Anm. 45], B 4l), >Das Frauenturnier< (H 39; FISCHER [Anm. 45], B 39) und >Der Hauskummen (H 40)53 als satirisches Kontrastprogramm verkehrter Welt verstanden werden. Denn auch das letztgenannte kleine Werk mit dem Titel Ditz buch ist der kumber genant l und bringet manchen in sorgen bant hat mit dem folgenden Warum Gott sein Haupt neigt< (H 4l, s. o.) nur wenig zu tun es ist die Klage eines geplagten Ehemanns über die armuot in der e. In dem vom Cpg 34l abhängigen Kalocsaer Codex erscheint >Der Hauskummer< entsprechend unter den Mären, bezeichnenderweise zwischen >Frauenturnien (H 39, K 42) und >Frauenlist< (H 43, K 44); in den Wiener Codex 2677, die Abschrift des Kalocsaer Codex, ist >Der Hauskummen ebensowenig übernommen worden wie die anderen Texte dieses Bereichs, vom >Heller der armen Frau< bis >FrauenlistDer Seele Kranz< und Warum Gott sein Haupt neigt< (H 37, 4l; K 10, 11) hingegen sind beibehalten und um Texte ergänzt worden, die in HK an anderer Stelle Welt-Absagen, wie Konrads >Der Welt Lohn< (H 130, K 133, k 35), oder den Kontrast von WeltVerhängnis und Heilsgeschichte, wie im >Streit der vier Töchter Gottes< (H 132, K 135, k 4l), vorführen (vgl. Tabelle 1). Ausgeprägter noch als im Cpg 34l hat man in diesen beiden Codices die Texte übergreifenden Zusammenhängen zugeordnet, die sich in Thema und Aussage ergänzen. Für die Mariendichtungen des Cpg 34l bedeutet dies, daß auch ihre literarhistorische Position erst im Kontext der anderen kleineren Werke bestimmt werden kann. Die gelegentlichen Hinweise auf sukzessive Lektüre 52
ROSENHAGEN [Anm. 9], S. 21-29; vgl. dazu KURT GÄRTNER, >Der Magezoge< (»Spiegel der TugendDer HauskummerMariengrüße< und das >Frauengebet zu Maria< schließen hier an, präsentieren aber im Kranz der >Grüße< und im >Ave Maria< selbst jene ritualisierten Formen der Annäherung an die Helferin und Mittlerin, für deren Verbreitung unter den Laien seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts verstärkt gesorgt wurde.56 Ihr spezifisches Gewicht gewinnt diese Frömmigkeitshaltung durch die Rolle, die Maria für den in Sünde gefallenen Menschen zugeschrieben wird angesichts des Jüngsten Gerichts und angesichts der aufopfernden Liebe Gottes in Christi Marter und Tod. Eine adäquate Antwort auf Christi Leiden begegnet in >Unser vrouwen klageMariengrüßen< zweimal auf (v. 151, 718), ist aber gleichbedeutend mit ivize (v. 418, 468) und von den Höllenstrafen nicht signifikant unterschieden. Der Fixierung auf das ebenso gerechte wie unerbittliche Gericht am Ende der Zeiten korrespondiert nicht die Hoffnung auf die reinigende, trotz aller Qual zeitlich begrenzte Kraft des Fegfeuers, dessen Lehre 1274 auf dem zweiten Konzil von Lyon verbindlich definiert wurde,57 sondern die Hoffnung auf die unerschöpfliche Barmherzigkeit Marias. Freilich sind Gnade und Hilfe der Gottesmutter gebunden an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, zumindest an die überzeugte und überzeugende Wendung an Maria in dem ihr eigenen Gruß. >Mariengrüße< und >Frauengebet zu Maria< führen dies für den Nachvollzug vor. Die Mirakel demonstrieren die Wirksamkeit eines unbeirrten Vertrauens in Maria an 54
Vgl. HANS FROMM, Mariendichtung, 2RL II, S. 271-291; zum Allgemeinen auch die entsprechenden Artikel in der TRE und WALTER DELIUS, Geschichte der Marienverehrung, München/Basel 1963, S. 149-190. " Zu Konrads Werk vgl. PETKR GANZ, >Nur eine schöne Kunstfigun. Zur >Goldenen Schmiede< Konrads von Würzburg, GRM 60 (1979), S. 27-45. 56 Vgl. APPEI.HANS [Anm. 37], S. 80-91. 57 JACQUES I.E GOHE, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984, S. 287-406.
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singulären Akten ihrer Verehrung, vor allem am Gebrauch des >Ave Marias wie ein Vergleich mit ihren Vorlagen in der >Legenda AureaAve Marias der Bilderverehrung mit ihrer Inszenierung des »privaten Blicks auf die Bilder«,61 der innig-innerlichen Beteiligung am Marienkult wird markiert durch die Bindung an Figuren, die mit Eigenschaften versehen worden sind, welche das Eingreifen Marias zu ihren Gunsten allein auf ihre Form der Marienverehrung einzugrenzen erlaubt. Keineswegs handelt es sich also immer um Sünder,62 sondern auch um solche, die Maria mehr als andere (z.B. andere Heilige, Nr. XII, H 18) verehren oder materiell oder geistig arm sind. Daher die Reihe der Teufelsbündler, die zwar von Gott, nicht aber von Maria lassen wollen (Nr. XX, XXIII, XXIV; H 26, 28, 29), daher aber auch die Reihe derer, denen außer einem >Ave Marias >Salve sancta parens< oder einer venie vor einem Marienbild nichts beizubringen ist. Aus den Bedingungen exemplarischen Erzählens entwickelt diese Mirakelreihe ihre Wendung gegen Reichtum an Eigentum oder Gelehrsamkeit. Oder, anders formuliert, der Versuch, mit dem Marienmirakel die Eigenständigkeit und den Eigenwert laikaler Glaubenserfahrung und Frömmigkeit zu entwickeln, gewinnt an polemischer Schärfe, - damit vermutlich auch gerade gegen jene Kleriker, denen die Verfasser dieser Texte nahestanden, gegen Zisterzienser, Karmeliten und die beiden großen Bettelund Predigerorden. In dieser Hinsicht auch treffen sich die Mirakel mit solchen Texten wie >Vom Jüngsten Tages >CatoTugendspiegel< (>MagezogeDer Seele Kranz< oder Warum Gott sein Haupt neigt2
Vgl. dazu Si'ANGKNBERG [Anm. 59], S. 130ff.
72
Hans-Joachim Ziegeler
Von einzelnen Gattungen oder gar einzelnen Texten aus auf bestimmte Frömmigkeitshaltungen zu schließen, verbietet sich angesichts der literarhistorischen Situation zu Beginn des 14. Jahrhunderts, wie sie sich in einem bestimmten Ausschnitt am Beginn des Cpg 34l präsentiert. Die »Summe« der überwiegend im späten 13. Jahrhundert entstandenen Texte kann im einzelnen durchaus widersprüchlich erscheinen, versucht aber insgesamt die Marienverehrung und ihre Äußerungsformen in Gebet und Rosenkranz in ein System spezifisch laikaler Frömmigkeit zu integrieren, ein System, das nicht umfassend entwickelt, sondern aus einzelnen Kasus mit der ihnen je eigenen Perspektive zusammengesetzt ist.
Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen
73
ANHANG Tabelle l Cpg Cod. Wien Melk Mgf Wien Cpg Wien 341 B 72 2677 R 18 778 2694 352 2779 Konrad von W rzburg: Die Goldene Schmiede
1
1
29
—
Walther von der Vogelweide: Leich
2
2
30
—
Reinmar von Zweier: Leich
3
3
30a
—
—
—
—
—
Mariengr
4a
4
31 32 33a
—
—
—
—
—
Frauengebet zu Maria
4b
5
33b
—
—
—
—
—
Unser Frauen Klage (I)
5
6
34
—
—
—
—
—
Vorn J ngsten Tage
6
7
28
—
—
—
—
—
Vom Geburtsfest Marias
7
13
1
—
χ
2,1
χ
—
Erscheinung am Lichtme tage
8
14
2
—
χ
2,2
χ
—
>Gaude Maria virgo
Salve sancta parens
Goldene SchmiedeMillstätter Handschrift«, 2VL VI, Sp. 531^34. 2 Neben der eng mit M verwandten Wiener Sammelhandschrift W {Faksimile hg. von EDGAR PAPP, Codex Vindobonensis 2721. Frühmittelhochdeutsche Sammelhandschrift der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. >Genesis< - >Physiologus< - >Exodus< [Litterae 79], Göppingen 1980) dürfen diesem Überlieferungstyp wahrscheinlich auch die folgenden Fragmente zweier deutschsprachiger Textsammlungen zugerechnet werden: Colmar, Archives departementales du Haut-Rhin, Fragments de Ms nos 559-560 (früher: Serie F, Varia 108); St. Paul im Lavanttal, Stiftsbibl., cod. 25/8 und cod. 26/8. Neben diesen Sammlungen religiöser Dichtungen sind aus dem 12. Jh. auch mehrere deutschsprachige Sammelhandschriften überliefert, die geistliche und weltliche Dichtungen miteinander vereinen. Als wichtigste Beispiele sind die Vorauer Sammelhandschrift V (Vollständiges Faksimile des deutschen Teils der Handschrift in zwei Bänden: Die Kaiserchronik des regulierten Chorherrenstiftes Vorau in der Steiermark [Handschrift 276/1]. Vollständige Faksimile-Ausgabe der Steiermärkischen Landesbibliothek, Einleitung von Pius FANK, Graz 1953; Die deutschen Gedichte der Vorauer Handschrift, Kodex 276. Faksimileausgabe des Chorherrenstiftes Vorau unter Mitwirkung von KARL KONRAD POLHEIM, Graz 1958) und die bald nach 1187 entstandene und 1870 in Straßburg verbrannte Straßburg-Molsheimer Sammelhandschrift (ehemals Bibliotheque de la ville, cod. C. V. 16. b. 4°) zu nennen. Zu weiteten deutschsprachigen Sammelhandschriften des 12. Jh.s vgl. ERNST HELI.GARDT, Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. Bestand und Charakteristik im chronologischen Aufriß, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Colloquium 1985, hg. von VOLKER HONEMANN/NIGKL F. PALMER, Tübingen 1988, S. 35-81, hier S. 48-50.
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Barbara Gutfleisch-Ziche
deutschsprachigen Handschriften3 besondere Beachtung verdient, wenn der Frage nachgegangen werden soll, welche Rückschlüsse spezifische Formen der handschriftlichen Überlieferung von volkssprachlichen religiösen Dichtungen auf deren Gebrauchszusammenhang zulassen. Die Millstätter Handschrift verdankt ihren Namen dem Umstand, daß sie sich nachweislich im 17. Jahrhundert im Besitz der Millstätter Societas Jesu befand, die 1598 das vor 1088 gegründete Millstätter Benediktinerkloster übernommen hatte.4 Paläographische Kriterien lassen eine Datierung der Handschrift um 1200 und eine Lokalisierung im südbairisch-österreichischen Raum zu, die durch die Datierung der Zeichnungen zwischen 1180 und 1210 und ihre stilistische Zuordnung zur Salzburger Malschule bestätigt wird.5 Die Handschrift überliefert acht Einzelwerke: Als ersten Text enthält sie eine Genesisdichtung, an die sich eine deutsche Bearbeitung des griechisch-lateinischen >Physiologus< anschließt. Es folgen eine dichterische Bearbeitung der biblischen Exodus und eine Reihe von kürzeren, mit modernen Titeln versehenen Gedichten, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als Übertragungen lateinischer Vorlagen entstanden sind, sondern genuin volkssprachliche Schöpfungen darstellen. Das Gedicht >Vom Rechte< thematisiert die Pflichten, die sich für den einzelnen aus der göttlichen Rechtsordnung innerhalb der ständisch gegliederten Gesellschaft ergeben. Die sog. >Hochzeit< stellt eine allegorische religiöse Dichtung von der my3
Zur Bildausstattung der Handschrift vgl. die Beschreibung und die bibliographischen Angaben im Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters [i. F. KDIHM], hg. von der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. II/3, München 1993, S. 213-216 (15.1.1). 4 Ein aus dem Anfang des 17. Jh.s stammender Besitzeintrag des 1773 aufgelösten Millstätter Jesuitenkollegs auf fol. l' oben (Residentiae Societatis Jesu Millestadii inscriptus] ist der älteste sichere Anhaltspunkt für die Provenienz der Handschrift. Vgl. RADI .E [Anm. 1], Sp. 531f. Zur weiteren Besitzgeschichte vgl. NlKOIAUS HENKEL, Eine verschollene Handschrift aus St. Paul, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), hg. von PETER KRÄMER, Wien 1982, S. 67-85, hier S. 77 sowie Anm. 65. Bisher konnte nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob in Millstatt im 12. Jh. neben einer Schreibauch eine Malschule existierte. Lediglich für das sog. >Millstätter Totenbuch< (Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, cod. GV 6/36) läßt sich eine Entstehung in Millstatt nachweisen. Zu dieser und zu weiteren Handschriften, die mit Millstatt in Verbindung gebracht werden, vgl. HERMANN MENHARDT, Die Millstätter Handschriften, ZfB 40 (1923), S. 129-142; PETER WIND, Zur Lokalisierung und Datierung des »Millstätter Psalters«. Cod. 2682 der Österreichischen Nationalbibliothek, Codices manuscripti 8 (1982), S. 115-134; REGINA D. SCHIEWER, Die Kuppitzsch'sche Sammlung im Kontext der frühmittelalterlichen Predigt nach Überlieferung, Inhalt und Form, Staatsexamensarbeit FU Berlin 1994. 5 Vgl. die paläographische Untersuchung von KARIN SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. 1: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Wiesbaden 1987, S. 85-88 sowie Abb. 37. Zur kunsthistorischen Einordnung der Zeichnungen vgl. HELLA Voss, Studien zur illustrierten Millstätter Genesis (MTU 4), München 1962, bes. S. 80-116. Eine ausführliche schreibsprachliche Untersuchung von M fehlt; sie müßte insbesondere auf die sprachliche Gestalt der die >Genesis< gliedernden Rubriken eingehen, die vom Schreiber von M vermutlich nicht wörtlich aus det Vorlage übernommen, sondern selbständig redigiert wurden; vgl. KATHRYN SMITS (Hg.), Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe mit einem Kommentar zur Überlieferung (Philologische Studien und Quellen 59), Berlin 1972, S. 9.
Die Milhtätter Sammelhandschrifi
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stischen Hochzeit dar. Es folgt die >Millstätter Sündenklages deren Wurzein in den Sündenkatalogen der althochdeutschen Beichten und damit in volkssprachlichen kirchlichen Gebrauchstexten liegen. Anschließend überliefert die Handschrift eine zahlensymbolisch organisierte, strophische Dichtung, die >Auslegung des VaterunsersHimmlische Jerusalems eine allegorische religiöse Dichtung, die mit der lateinischen exegetischen Literatur zum himmlischen Jerusalem in einem Traditionszusammenhang steht.6
I. Stand der Forschung Obwohl die Millstätter Handschrift im Jahre 1967 vollständig faksimiliert wurde, stand sie in der germanistischen Forschung zumeist im Schatten der heute in Wien und Vorau aufbewahrten Sammelhandschriften W und V, die beide im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts gleichfalls im bairisch-österreichischen Sprachgebiet entstanden sind7 und sich inhaltlich teilweise mit M überschneiden: W enthält als einzige Texte die Dichtungen >GenesisPhysiologus< und >Exodus< in der gleichen Reihenfolge wie M, und in V sind neben zahlreichen weiteren Gedichten der Joseph-Teil der >Genesis< und das >Himmlische Jerusalem< überliefert. Das Schattendasein von M ist im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die Handschrift als Überlieferungsträger für eine Editionsphilologie, die sich um die möglichst genaue Wiedergabe des originalen Wortlauts einer Dichtung bemüht, nur partiell von Interesse ist. Für das Gros ihres Textbestands wurde M in der Editionspraxis lediglich als »Träger von Varianten im textkritischen Sinne« 8 konsultiert: Sie enthält nur zwei Unica und überliefert sonst entweder modernisierende Bearbeitungen oder, infolge der starken Beschädigung der Handschrift, nur noch fragmentarisch erhaltene Texte. Die jüngeren Editionen der Dichtungen >Genesis< und >Exodus< geben ihrer Parallelüberlieferung in der Wiener Sammelhandschrift als der originalgetreueren den Vorzug; bei der >Millstätter Genesis< handelt es sich um 6
Die wichtigsten Informationen zu den einzelnen Werken bieten jeweils die Artikel im :VL: URSUIA ,, >Altdeutsche Genesis-, I, Sp. 279-284; CHRISTIAN SCHRÖDER, >PhysioIogusDas Himmlische Jerusalem-, IV, Sp. 36-41. 7 Zur Datierung und Lokalisierung der beiden Handschriften vgl. SCHNEIDER [Anm. 5], S. 37—44 (mit weiterführenden Literaturhinweisen). 8 NK;EI. F. PALMER, Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft. Anläßlich von Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, Bd. I, PBB 113 (1991), S. 212-250, hier S. 212.
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eine sprachlich und metrisch stark überarbeitete Fassung, und auch die >Exodus< weist im Vergleich zu W eine Reihe von Veränderungen auf, die das Streben nach einer Verbesserung des Versbaus erkennen lassen.9 Beide Texte liegen bis heute nur in einer 1862 erschienenen Ausgabe von JOSEPH DlEMER10 vor, obwohl auf die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung der Millstätter >Genesis< als modernisierende Bearbeitung hingewiesen wurde.11 Letztlich ist es FRIEDRICH MAURERS Interesse an der Reim- und Initialentechnik der frühmittelhochdeutschen Dichtung zu verdanken, daß die Millstätter Fassung des >Physiologus< trotz ihrer vielgescholtenen Reimtechnik12 neben der Wiener Fassung vollständig neu herausgegeben wurde.13 Größere Beachtung wurde den beiden sich anschließenden Gedichten >Vom Rechte< und >Hochzeit< zuteil, die als Unica Eingang in mehrere Ausgaben fanden.14 Dagegen sind die drei im stark beschädigten letzten Teil von M überlieferten Dichtungen so lückenhaft erhalten, daß MAURER und WERNER SCHRÖDER in ihren Editionen jeweils auf glücklicherweise vorhandene Parallelüberlieferungen zurückgreifen mußten. Die >Millstätter SündenklageRheinauer PaulusAuslegung des 9
Vgl. SMITS [Anm. 5], S. 76f„ und EDGAR PAPP (Hg.), Die altdeutsche Exodus (Medium aevum 16), München 1968, S. 17-20. 10 JOSEPH DIEMER (Hg.), Genesis und Exodus nach der Milstäter Handschrift, 1. Bd.: Einleitung und Text; 2. Bd.: Anmerkungen und Wörterbuch, Wien 1862, Nachdr. Vaduz 1984. In den Besprechungen zu dieser Edition, nach der ich >Genesis< und >Exodus< im folgenden zitiere, wurden zahlreiche Druck- und Lesefehler angemahnt, vgl. KARL BARTSCH, Germania 8 (1863), S. 247-252; Germania 9 (1864), S. 213-217; FKDOR BECH, Germania 8 (1863), S. 466-482; PAUL PIPER, Nachträge zur älteren deutschen Litteratur, in: Deutsche National-Litteratur, hist.krit. Ausgabe, hg. von JOSEPH KÜRSCHNER, Bd. 162, Berlin/Stuttgart o. J., S. 253-258. '' SMITS vertritt in ihrer Ausgabe der Wiener Genesis< [Anm. 5] die Ansicht, daß die Millstätter Version der Dichtung eine »Neufassung eigener Prägung« darstelle und »als selbständiges Werk betrachtet und herausgegeben werden« sollte (S. 76). AOHIM MASSER, Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 19), Berlin 1976, bezeichnet die Fassung treffend als »»überarbeitete und vielfach verbesserte! Neuauflage« (S. 54). 12 CARL WESLK, Frühmittelhochdeutsche Reimstudien (Jenaer Germanistische Forschungen 9), Jena 1925, bezeichnet den Millstätter >Physiologus< als »überaus unbeholfene Reimerei, in mancher Hinsicht das unkultivierteste, was aus frühmhd. Zeit überliefert ist« (S. 144). 13 Erstausgabe von THEODOR GEORG VON KARAJAN (Hg.), Deutsche Sprachdenkmale des 12. Jahrhunderts, Wien 1846, S. 73-106 (mit einer Reproduktion der Federzeichnungen im Anhang); Teilabdruck durch PETER F. GANZ. (Hg.), Geistliche Dichtung des 12. Jahrhunderts, Berlin 1960, S. 47-58; Neuedition durch FRIEDRICH MAURER (Hg.), Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. I, Tübingen 1964, S. 169-245, sowie ders. (Hg.), Der altdeutsche Physiologus (ATB 67), Tübingen 1967 (von mir zitierte Ausgabe). 14 Zuletzt mit Übersetzung und Kommentar ediert von WALTER HAUG/BENF.DIKT VOI.LMANN (Hgg.), Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800-1150 (Bibl. d. Mittelalters 1), Frankfurt a. M. 1991 (>Vom Rechte< S. 752-783; >Die Hochzeit< S. 784-849). Ich zitiere die Texte nach der Ausgabe von ALBERT WAAG/WERNER SCHRÖDER (Hgg.), Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. II (ATB 71), Tübingen 1972, S. 112-131, S. 132-170. 15 FRIEDRICH MAURER (Hg.), Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. II, Tübingen 1965, S. 64-101. 15 Zürich, Zentralbibl., cod. Rh 77, fol. l r und 53V. Vgl. WERNER SCHRÖDER, Vom .Rheinauer
Die Millstätter Sammelhandschrift
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Vaterunsers< ist vollständig nur in einer Innsbrucker Sammelhandschrift aus dem 12. Jahrhundert überliefert,17 und von der Dichtung >Das Himmlische Jerusalem^18 die wir vollständig aus der Vorauer Sammelhandschrift kennen, enthält M aufgrund von Blattverlust19 gerade die bescheidenen Reste der ersten acht Verse. - Die Revue der Editionen ergibt somit eine weitgehende Zerlegung der Handschrift in ihre Einzeltexte; der Textverbund der Handschrift wird - anders als dies etwa für die kürzeren Dichtungen von V der Fall ist20 - in keiner Edition dokumentiert. Dennoch wurde verschiedentlich die Frage gestellt, ob sich der Überlieferungsverbund von acht heterogenen frühmittelhochdeutschen religiösen Gedichten als planvoll organisiertes Ganzes interpretieren läßt. Eine wichtige Anregung für die Suche nach Organisations- und Auswahlprinzipien, die der Textsammlung zugrundeliegen, lieferte die von HUGO KÜHN aufgestellte These, daß im Aufbau der Wiener Sammelhandschrift der »Plan einer Art >Bible moraliseeMilIstätter Sündenklage«. Aspekte der Poetisierung volkssprachiger kirchlicher Gebrauchstexte im frühen 12. Jahrhundert (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- u. Sozialwiss. Kl. 1986 Nr. 3), Stuttgart 1986, bes. S. 49-63. Die von ScHRÖDKR vorgeschlagene Datierung der Züricher Handschrift in das erste Drittel des 12. Jh.s (vgl. ebd., S. 7) ließ sich anhand der Reproduktionen, für deren Überlassung ich Herrn Dr. Martin Germann von der Zentralbibliothek Zürich herzlich danke, nicht eindeutig bestätigen und bedürfte einer Überprüfung am Original. 17 Innsbruck, ÜB, cod. 652, fol. 72r-74T. Zuletzt hg. von WAAG/SCHRÖHER [Anm. 14], Bd. I, S. 68-85. 18 Zuletzt hg. von WAAG/ScHRöDKR [Anm. 14], Bd. I, S. 96-111. 19 KRACH ER [Anm. 1], S. 9, vermutet, daß mehr als lediglich das letzte Blatt der 21. Lage verloren ging, weil anzunehmen sei, daß die Handschrift zumindest noch das «Himmlische Jerusalem« vollständig enthielt. 2(1 ERICH HENSCHEL/UI.RICH PRETZEL (Hgg.), Die kleinen Denkmäler der Vorauer Handschrift, Tübingen 1963. 21 HUGO KÜHN, Frühmittelhochdeutsche Literatur, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. l, 21958, S. 494-507, hier S. 497. 22 DIETER KARTSCHOKE, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter (Deutsche Literatur im Mittelalter 1: dtv 4551), München 1990, vertritt die Vorstellung, die drei Sammeihandschriften seien »in ihrer chronologischen Abfolge und hinsichtlich des kontinuierlich erweiterten Programms miteinander verbunden«« (S. 221).
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sich »durch eine mögliche heilsgeschichtliche Zuordnung der Dichtungen >Vom Recht< und >Hochzeit< [. . .] zur Zeit sub lege, der nachfolgenden drei Dichtungen zur Zeit sub gratia« erweitern lasse.23 Zu der von FREYTAG vorgetragenen Kritik an der KuHNschen These ist ergänzend hinzuzufügen, daß die Annahme einer von W über M zu V hinführenden Entwicklungslinie, nach welcher V »das Programm der >Bible moralisees in W nur Alten Testaments, in M moralisch-allegorisch u. heilsgeschichtlich ausgebreitet, zur umfassenden Heilsgeschichts-Erzählung« erweitere,24 auch daran scheitert, daß V ebenso wie W ins letzte Viertel des 12. Jahrhunderts zu datieren ist und deshalb keine Fortsetzung des Programms der um 1200 entstandenen Millstätter Handschrift darstellen kann. Überdies erscheint der von KÜHN etablierte Vergleich der drei frühmittelhochdeutschen Sammelhandschriften mit dem um 1220-30 im Auftrag des französischen Königshofes in Paris entstandenen typologischen Bild-Text-Werk der >Bible moralisee< wegen der zeitlichen Differenz und der fundamentalen Unterschiedlichkeit der Vergleichsobjekte grundsätzlich problematisch und bedürfte einer eingehenderen Begründung, die KÜHN nicht geliefert hat. - Unabhängig von den gemachten Einschränkungen behält KUHNS Hinweis auf das dem Aufbau der Sammelhandschriften zugrundeliegende heilsgeschichtliche Konzept seine Gültigkeit, wie MICHAEL CURSCHMANN durch den Nachweis von wichtigen Gemeinsamkeiten zwischen diesen Handschriften und dem >Hortus deliciarumgeistigen Sinn< der Einzeldichtungen her könne ebensowenig ein >Programm< für ihre Zusammenstellung in der Hs. glaubhaft gemacht werden [. . .], wie dies nach formalen, gattungsmäßigen oder sprachlichen Gesichtspunkten möglich wäre« (S. 11). 24 KÜHN [Anm. 21], S. 498. 25 Herrad of Hohenbourg: Hortus deliciarum, hg. von ROSALIE GREEN [u. a.], Reconstruction and Commentary (Studies of the Warburg Institute 36), London/Leiden 1979. Weiter vgl. MICHAEL CURSCHMANN, Herrad von Hohenburg (Landsberg), 2VL III, Sp. 1138-1144. 26 MICHAEL CURSCHMANN, Texte - Bilder - Strukturen. Der >Hortus deliciarum< und die frühmittelhochdeutsche Geistlichendichtung, DVjs 55 (1981), S. 379-418, hier S. 379. 27
CURSCHMANN [Anm. 26], S. 391.
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plikationen, die sich aus der Organisation der Handschrift für deren Funktion als Medium der Vermittlung geistlicher Inhalte ergeben, wird an späterer Stelle einzugehen sein. Neben dem Textbestand fand auch die reiche Bebilderung der >Genesis< und des >Physiologus< in der Millstätter Handschrift einiges Interesse in der Forschung.28 Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Text und Bild wurde allerdings für abgeschlossen gehalten, nachdem mittels kunsthistorischer Vergleiche nachgewiesen werden konnte, daß die 87 in den Text der >Genesis< eingefügten Illustrationen nicht eigens für die Bebilderung des deutschen Gedichts neu geschaffen wurden, sondern in einer jahrhundertealten ikonographischen Tradition stehen;29 auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Text des >Physiologus< und den 32 in ihn integrierten Tierzeichnungen wurde nicht weiter verfolgt, nachdem registriert worden war, daß zwischen Bild- und Textinhalt Abweichungen bestehen.30 Es handelte sich daher um eine überraschende Neubewertung, als CURSCHMANN die These aufstellte, daß die Illustration ebenso wie im >Hortus deliciarum< zum Konzept der Sammelhandschriften aus Millstatt, Wien und Vorau gehöre und daß es lediglich auf soziale und ökonomische Verhältnisse zurückzuführen sei, wenn eine vollständige Bebilderung der drei Handschriften unterblieben ist.31 II. Einrichtung und Ausstattung der Handschrift Im folgenden soll am bisherigen Stand der Erforschung der Millstätter Sammelhandschrift angeknüpft und untersucht werden, ob Einrichtung, Ausstattung und Inhalt der Handschrift weitere Rückschlüsse auf die Funktion erlauben, die ihr im Prozeß der Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter zukam. Die kleinformatige Handschrift (122x199 mm), die vor ihrer Restaurierung im Jahre 1935 ohne Einband in einem Pappkasten aufbewahrt wurde, besteht heute aus 21 Lagen zu je vier Pergament-Doppelblättern, von denen das letzte Blatt der 21. Lage ganz fehlt und die Blätter 135—167 aufgrund 28
Vgl. den Überblick über die Forschungsliteratur im KDIHM [Anm. 3], S. 216. Vgl. HERMANN MF.NHARDT, Die Bilder der Millstätter Genesis und ihre Verwandten, in: Fs. für Rudolf Egger. Beiträge zur europäischen Kulturgeschichte, Bd. III, Klagenfurt 1954, S. 248-371, sowie Voss [Anm. 5], bes. S. 52-80. 30 Vgl. ROBERT EISLER, Die illuminierten Handschriften in Kärnten, Leipzig 1907, S. 50, und HERMANN MENHARDT, Der Millstätter Physiologus und seine Verwandten (Kärntner Museumsschriften XIV), Klagenfurt 1956, S. 29-31. NIKOIAUS HENKEL, Studien zum Physiologus im Mittelalter (Hermaea N.F. 38), Tübingen 1976, vermutet, daß man eine »enge Verbindung zwischen Text und Bild [. . .] ganz gewiß nicht erwarten« dürfe, sondern mit weitgehend getrennten Traditionen rechnen müsse. Die Frage, ob »die verschiedenen Textversionen auch von unterschiedlichen Ausformungen der Bildinhalte oder eigenen Zyklen begleitet wurden«, sei jedoch noch nicht untersucht (S. 78). 31 Vgl. CURSCHMANN [Anm. 26], S. 387. 29
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von Wasserschäden, Moder, vermutlich auch Wurm- und Mäusefraß nur noch bruchstückhaft vorhanden sind.32 Die Handschrift wurde von einem einzigen Schreiber geschrieben und rubriziert. Sie besteht aus zwei Teilen, die durch eine Leerseite innerhalb der 13. Lage (fol. 10 ) voneinander getrennt sind. Der erste Teil umfaßt die beiden Werke >Genesis< und >PhysiologusGenesis< und eine dreizeilige rote Initiale zu Beginn des >Physiologus< voneinander abgesetzt sind. Den zweiten Teil eröffnet die >ExodusGenesis< und >Physiologus< sind durch rote Initialen in Abschnitte untergliedert und außerdem mit insgesamt 119 thematisch auf die Dichtungen bezogenen Federzeichnungen illustriert, die an inhaltlich passender Stelle in den fortlaufenden Text eingefügt wurden. Darüber hinaus enthält die >Genesis< 135 rote Zwischenüberschriften, die teilweise in Verbindung mit einem Bild, teilweise allein Textabschnitte von unterschiedlicher Länge einleiten. Die Texte im zweiten Teil der Handschrift weisen hingegen ausschließlich rote Initialen als optische Gliederungsmittel auf. In W war wie in M nur die Bebilderung von >Genesis< und >Physiologus< geplant, die dort aber aus unbekannten Gründen nach den ersten sieben Zeichnungen abbricht. - Die Gründe für die Teilillustrierung von W und M liegen weitgehend im Dunkeln. Eventuell ist die unterschiedliche Ausstattung der beiden Teile der Handschrift durch die Überlieferungsgeschichte der einzelnen Texte mit bedingt: Der Umstand, daß die >Exodus< in W auf fol. 159r auf einer neuen Lage mit eigener Lagenzählung beginnt, deutet ebenso wie die Leerseite zwischen >Physiologus< und >Exodus< in M darauf hin, daß die Dichtungen >Genesis< und >Physiologus< einen primären Überlieferungsverbund bildeten und erst später mit der >Exodus< und mit weiteren Gedichten in einer Handschrift vereint wurden. Aus der Anzahl und Anordnung der Bildlücken in W und M geht hervor, daß für >Genesis< und >Physiologus< in beiden Handschriften eine weitgehend identische Bebilderung vorgesehen war, weshalb davon auszugehen ist, daß beide Werke bereits in einer gemeinsamen Vorlage *WM illustriert waren. Für die >Exodus< und für die übrigen in M überlieferten Texte fehlen hingegen alle Anhaltspunkte, die auf eine geplante Illustrierung hindeuten. Auch für die umfangreichste und repräsentativste der drei Sammelhandschriften, die großformatige Vorauer Handschrift, war keine Ausstattung mit Bildern vorgesehen, weshalb 32
Vgl. KRACHKR [Anm. 1], S. 8-10.
Die Milbt tter Sammelhanaschrifi
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die ausführliche Illustrierung von >Genesis< und >Physiologus< in W und M nicht ohne weiteres als Bestätigung der von CURSCHMANN aufgestellten These gewertet werden kann, daß zum Konzept der drei Sammelhandschriften die vollständige Illustrierung gehöre. Ungewöhnlich erscheint nicht nur die ausführliche Illustrierung der beiden volkssprachlichen Dichtungen bereits im 12. Jahrhundert,33 sondern auch die überaus enge Verbindung, die die Bilder in der Millstätter Handschrift mit den Texten eingehen. Die nach kunstgeschichtlichem Urteil recht bescheidenen und unaufwendigen Federzeichnungen34 waren nicht in erster Linie als repräsentativer Schmuck gedacht, sondern sind sowohl aufgrund der dargestellten Themen als auch durch ihre inhaltlich motivierte Stellung im fortlaufenden Text eng auf diesen bezogen: Die Bilder gehen i. d. R. dem inhaltlich korrespondierenden Textabschnitt voraus und erhalten so die Funktion von Zwischenüberschriften, die sie in der >Genesis< zusammen mit den Rubriken wahrnehmen. Die Abbildung von fol. 12r (Abb. 1) kann die Anordnung von Überschrift, Bild und Text in der >Genesis< veranschaulichen. Die zweieinhalb Zeilen, die dem Bild unmittelbar vorausgehen, enthalten die in roter Tinte geschriebene Überschrift: Wie nach der nonzit got umb daz ubirvertigit [= übertretene] gebot reßit Adamen und Evam sine gemahelen (15,8f.). Die Überschrift bietet eine Hilfe für das Verständnis der Zeichnung, indem sie die drei wichtigsten der vier dargestellten Figuren und das zwischen ihnen stattfindende Gespräch kurz ansagt.35 Zusätzlich bereitet sie den Leser und Betrachter gemeinsam mit dem Bild auf den Inhalt des nachfolgenden Textabschnitts vor, in dem die Zurechtweisung von Adam und Eva durch Gott nach dem Sündenfall breiter ausgestaltet wird. Im Falle des >Physiologus< wird im Text zweimal sogar ausdrücklich auf das voranstehende Bild verwiesen. In der zweiten Zeile auf fol. 9 (Abb. 2) kürzt der Dichter die Beschreibung des Meergetiers Serra, mit dem wahrscheinlich der Delphin gemeint ist,36 durch den Hinweis auf das Bild ab: ez ist getan, als hie 33
Im Bereich der deutschsprachigen Literatur sind neben den Sammelhandschriften W und M aus dem 12. Jh. lediglich die >RoIandslied«-Handschriften A (ehem. Straßburg, Stadt. Bibl., 1870 verbrannt), P (Heidelberg, ÜB, cpg 112) und S (Schwerin, Mecklenburgische Landesbibliothek, ohne Signatur; eine Bebilderung war geplant, gelangte jedoch nicht zur Ausführung) und eine Berliner Williram-Handschrift (Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. 4" 140) mit Bildern überliefert. 34 Voss [Anm. 5] charakterisiert die Zeichnungen von M als »kleine, flüchtig ausgeführte Federzeichnungen«, deren künstlerische Qualität »vergleichsweise ziemlich gering« anzusetzen sei (S. 11). Vgl. auch KDIHM [Anm. 3], S. 2l4f. 31 Bei der weinenden Figur ganz links im Bild handelt es sich nach HERBERT SCHADE um eine allegorische Figur, der die Funktion zukomme, den Betrachter »zu einem sehr bedeutenden sakramentalen Akt, nämlich zur Reue und Buße« aufzufordern. - Vgl. ders., Das Paradies und die Imago Dei (Eine Studie über die frühmittelalterlichen Darstellungen von der Erschaffung des Menschen als Beispiele einer sakramentalen Kunst), in: Wandlungen des Paradiesischen und Utopischen. Studien zum Bild eines Ideals (Probleme der Kunstwissenschaft 2), hg. von HERMANN BAUER [u. a.], Berlin 1966, S. 79-182, hier bes. S. 115-11730 Vgl. OITO SEEL (Hg.), Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik, München/Zürich 51987, S. 58 sowie Anm. 172.
Die Milktätter Sammelhandschrift
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gemalet ist (538).37 Auch der Anfang des Kapitels über den Vogel Strauß enthält einen deiktischen Verweis auf das voranstehende Bild: Dizze tier heizzet struz (1103, identische Formulierung in W, fol. 154V). Man darf deshalb vermuten, daß bereits der Verfasser dieser deutschsprachigen >PhysiologusPhysiologus< bezieht sich bei der Deutung des Löwen auf den am Ende der >Genesis< erzählten Judasegen, ohne den Kontext, in dem dieser steht, näher auszuführen: Do der guote Jacob sine sune gesegenot unde si gewihte von der gates bihte, do sprach er vil hewen: »weif des lewen bistu Juda reche, nu wer sol erwecken von dinem gesiebte einen man? ane got nieman.« (15-24). Diese knappe Anspielung ist nur ein Beispiel dafür, wie im >Physiologus< die Vertrautheit des Lesers/Hörers mit biblischen Stoffen vorausgesetzt wird. Die Dichtungen >Vom Rechte< und >Hochzeit< enthalten einige nahezu identische Formulierungen, die allerdings so formelhaft sind, daß sie nicht ausreichen, um die schon von CARL VON KRAUS angenommene Identität der Verfasser mit Sicherheit nachzuweisen.51 Darüber hinaus finden sich in der >Hochzeit< mehrere Anklänge an Themen, die ausführlich in der Dichtung Vom Rechte< zur Sprache kommen, insbesondere an die dort im Zentrum stehende Erörterung der gottgegebenen christlichen Rechtsordnung (vgl. besonders 91-235), weshalb die Möglichkeit besteht, daß die inhaltlichen Bezüge zwischen diesen beiden Werken bereits von ihrem oder ihren Autoren angelegt worden sind. In der >Hochzeit< werden außerdem aus der >PhysiologusGenesis< (M 2, l Off.) erzählt wird. In der >Millstätter Sündenklage« sind die Verse Da rihtet got mit rehte dem herren joch dem chnehte, der vrouwen joch der diwe (163-165) identisch mit den Versen 735-737 in der >HochzeitHochzeit< ausgeführte Unterscheidung von dreierlei Beichten (618-708) in abgewandelter Form im >Himmlischen Jerusalem< wieder. Dort finden die Gläubigen jeweils nur an ganz bestimmten Toren, die nach einer der vier Himmelsrichtungen gehen, Einlaß in die himmlische Stadt; die Westtore sind beispielsweise demjenigen vorbehalten, der sine sunde span an den ente, daz er nemach leben mere (89-91). Die Beispiele zeigen, daß durch den in M hergestellten volkssprachlichen literarischen Kontext eine neue Beziehbarkeit der Werke aufeinander erzeugt wurde, die diese de facto eng miteinander verzahnt. Außerdem belegt der Vgl. CARL VON KRAUS, .Vom Rechte« und >Die Hochzeit-, WSB 123 (1891), Nr. IV.
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Überlieferungsverbund in M beispielhaft, wie durch die gemeinsame Überlieferung mehrerer religiöser Gedichte in rein volkssprachlichen Sammelhandschriften diese vom lateinisch-gelehrten Bildungshintergrund, aus dem sie entwachsen sind, weitgehend emanzipiert werden. Die Sammelhandschriften ermöglichen einem semilitteraten Publikum die Partizipation an einem über die elementare christliche Unterweisung hinausreichenden geistlichen Wissen und vermitteln so zwischen der gelehrten lateinischen Schriftkultur der Kleriker und der volkssprachlichen mündlichen Laienkultur. Schließlich dokumentieren die drei Sammelhandschriften W, V und M durch ihre Anlage als umfangreiche Textsammlungen ebenso wie durch ihre Verwandtschaft miteinander erstmals eine zusammenhängende religiöse Literaturtradition in deutscher Sprache und weisen so den bairisch-österreichischen Raum im Bereich der religiösen Dichtung als ausgesprochen innovativ und produktiv aus.52 Die Millstätter Handschrift erscheint somit nicht nur als geeignetes Medium der Vermittlung geistlicher Inhalte an ein semilitterates Publikum, sondern sie erweist sich zugleich als Produkt dieses Vermittlungsprozesses, indem sie ein bereits bestehendes Interesse an den Texten und damit einen gewissen Bekanntheitsgrad der volkssprachlichen religiösen Dichtung im bairischösterreichischen Raum voraussetzt. Die Frage, aus welchen historischen Persönlichkeiten das von den Herstellern der Millstätter Handschrift anvisierte Publikum zusammengesetzt war und wo dieses zu lokalisieren ist, läßt sich aufgrund der gewonnenen Ergebnisse allerdings nach wie vor nicht beantworten. Die für die Herstellung einer derartigen Handschrift erforderlichen technischen Mittel und Bildungsvoraussetzungen sind nach heutigem Wissensstand um 1200 nur in Klöstern gegeben. Dies schließt jedoch nicht aus, daß die Handschrift von einem finanzkräftigen, religiös interessierten Mitglied der Adelsschicht in Auftrag gegeben wurde, das selbst nicht im Kloster gelebt hat. Mehrere der in M überlieferten Gedichte scheinen ausschließlich für adelige Adressaten verfaßt worden zu sein. Die in der >Exodus< bezeugte Anrede an mine herren darf als Identifikationsangebot an ein adeliges Publikum verstanden werden, ebenso wie die Stilisierung der Plagen zu feindlichen kriegerischen Einfallen und die Charakterisierung des jüdischen Volkes als adelige Kriegerkaste, die sich im Kampf mit den militärisch beeindruckenden, aber diabolischen Heiden befindet.53 Besonderheiten in anderen Texten !
Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt CURSCHMANN [Anm. 26], S. 381. Dagegen vertritt HKNKKI. [Anm. 30] die Vorstellung, M sei lediglich eine Sammlung bereits veralteter Werke, die aus einem antiquarischen Interesse heraus in einem literarisch rückständigen Raum angefertigt worden sei (S. 66, 86, 96). Im 12. und 13. Jh. erscheint ein rein antiquarisches Interesse an der gerade erst im Werden begriffenen deutschsprachigen Literatur allerdings nicht gut vorstellbar. 1 Die Handlung der biblischen Exodus wird in dieser Dichtung zu einer mit dem >Rolandslied
PhysiologusHochzeitPsalterium glossatum< von Wilhelm Mancher (1418)* von
MICHAEL STOLZ (BERN) Die Vermittlung geistlicher Inhalte im Mittelalter ist - wie jede Übertragung von Botschaften - an spezifische Ausdrucksmittel gebunden, an Ausdrucksmittel, die ihrerseits in Zusammenhang mit bestimmten Kommunikationsformen stehen und als solche die mentalen Strukturen einer Gesellschaft prägen. Für die Kommunikationssituation der mittelalterlichen Klerikerkultur ist die Handhabung des Mediums Schrift von entscheidender Bedeutung. Die Schrift erlaubt es, Botschaften von der räumlich-zeitlichen Präsenz der am Übermittlungsvorgang beteiligten Sender und Empfänger zu entbinden; sie ermöglicht die Konservierung gesellschaftsrelevanter Inhalte in einer den individuellen Gedächtnisspeicher entlastenden Weise; sie befördert die Ausbildung einer eigentlichen Schriftsprache (deren Abstraktionsfähigkeit der mündlichen Sprache weit überlegen ist); und sie bedingt die Kodifizierung sakrosankter Texte als normgebende »Heilige Schrift«, als Sacra Scriptura. Nun ist allerdings die mittelalterliche Schriftlichkeit stets von nichtschriftlichen Kommunikationsweisen umgeben, begleitet, ja durchdrungen. Während das Zeitalter des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, also jene Epoche, die man üblicherweise »Neuzeit« nennt, einer vom menschlichen Körper losgelösten Textvermittlung Vorschub leistet, lebt die mittelalterliche Schriftlichkeit gerade in enger Symbiose mit dem menschlichen Körper: Die Handschriften tragen die manuellen Züge von Schreibern, deren körperliche Befindlichkeit nicht selten an den Seitenrändern Ausdruck findet. Die Textvermittlung ist an Aufführungssituationen, mithin an die Kopräsenz von körperlich Anwesenden, von Vortragenden und Publikum, gebunden; akustische und visuelle Signale haben einen wesentlichen Anteil am kommunikativen Vorgang.1 Hierzu gehört der kultische Vollzug der Liturgie ebenso wie der mündliche Vortrag (etwa bei Predigt und klösterlicher * Die Farbabbildungen zu diesem Beitrag wurden ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern, ihr Abdruck erfolgte mit der freundlichen Genehmigung der Universitätsbibliothek Eichstätt. 1 Der Romanist PAUL ZUMTHOR bezeichnet diese von spezifischen Momenten der Darbietung und Wahrnehmung abhängige Textvermittlung als »performance«. Vgl. PAUI. ZUMTHOR, La poesie et la voix dans la civilisation medievale (College de France. Essais et conferences), Paris 1984, S. 37-66; ders., La lettre et la voix. De la »litterature« medievale, Paris 1987, S. 245-295; ders., Körper und Performanz, in: Materialität der Kommunikation, hg. von HANS Ul.RJCH GUMBRKCHT/K. LUDWIG PFEIFFER (stw 750), Frankfurt a. M. 1988, S. 703-713.
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Tischlesung, bei der schulischen - später universitären - Wissensvermittlung, beim höfischen Fest). Man hat diesen nicht-schriftlichen Bestandteil der mittelalterlichen Kommunikation »Mündlichkeit« oder (zur Unterscheidung von vorliterarischen Gesellschaften ohne Schriftbezug) »gemischte« bzw. »sekundäre Mündlichkeit« genannt.2 Im Anschluß an Forschungen der Historischen Anthropologie wird neuerdings auch der übergreifende Terminus »Körperlichkeit« vorgeschlagen.3 Er scheint als Gegenbegriff zur Schriftlichkeit besser geeignet, da er neben der stimmlichen Artikulation auch menschliche Ausdrucksformen wie Mimik und Gestik einschließt. Zugleich lassen sich unter »Körperlichkeit« ikonische Konkretisationen eines nichtschriftlichen (d. h. weder laut- noch buchstabengebundenen) Zeichengebrauchs subsumieren, wie er in bildlichen Darstellungsweisen begegnet, die auf anthropomorphe oder anthropogene Formen (etwa bei der personifizierenden Allegorie oder bei architektonischer Räumlichkeit) zurückgreifen. Das Zusammenwirken der so verstandenen »Körperlichkeit« mit »Schriftlichkeit« soll im folgenden an einem Beispiel überprüft werden. Als Textsorte bietet sich hierbei die Gattung der Psalmenliteratur an, da sich in deren mittelalterlichem Gebrauch das Miteinander von Schrift und Körper exemplarisch zeigt.4 Zum einen ist Lesen- und Schreibenlernen vom frühen bis 2
Die jüngere Forschungsliteratur zum Thema Mündlichkeit-Schriftlichkeit steht im Gefolge richtungsweisender Arbeiten aus dem angelsächsischen Raum (ERIC A. HAVELOCK, WALTER J. ,, JACK GOODY, BRIAN STOCK, MICHAKI. CAMII.LE). Anstelle einer umfänglichen Auflistung und Diskussion sei auf folgende Forschungsberichte verwiesen: , u. JAN ASSMANN, Schrift Kognition — Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation, in: ERIC A. HAVELOCK (Hg.), Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, dt. Übers, von GABRIELE HERBST, Weinheim 1990, S. 1-35; DENNIS H. GREEN, Orality and reading. The state of research in medieval studies, Speculum 65 (1990), S. 267-280; URSULA SCHAEEER, Zum Problem der Mündlichkeit, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 357-375. Grundlegend für den Bereich der Altgermanistik sind die Arbeiten von MICHAEL CURSCHMANN, Hören - Lesen - Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200, PBB 106 (1984), S. 218-257; DENNIS H. GREEN, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800-1300, Cambridge 1994. - Die Einführung der Termini »gemischte« und »sekundäre Mündlichkeit« (»oralite mixte« - »oralite seconde«) stammt von PAUL ZUMTHOR, der sie im Hinblick auf das von Schriftlichkeit geprägte Mittelalter und damit in Abgrenzung von schriftlosen Kulturen mit »primary orality« (HAVELOCK, ONC) gebraucht. Vgl. ZUMTHOR, La poesie et la voix [Anm. 1], S. 49: »l'oralite mixte procede de l'existence d'une culture >ecrite< (au sens de >possedant une ecriturelettree< (ou toute expression est marquee plus ou moins par la presence de l'ecrit)«. Wenn im folgenden von »Mündlichkeit« oder »Oralität« die Rede ist, so ist die »oralite seconde« im Sinne ZuMTHORs gemeint. 3 Tendenziell ZUMTHOR, Körper und Performanz [Anm. 1], und HANS ULRICH GUMBRECHT, Beginn von >LiteraturPsalterium glossatum
Psalterium glossatum< aus den Handschriftenbeständen der Universitätsbibliothek Eichstätt (Cod. st 213).6 Der in einem Papiercodex überlieferte, lateinische Psalmenkommentar ist mit kolorierten Federzeichnungen geschmückt und stammt ursprünglich aus dem Eichstätter Dominikanerkloster. Er wurde verfaßt im Jahr 1418 von Wilhelm Müncher, Pfarrer in Engelmairszell, einem kleinen Ort bei Pfaffenhofen an der Um in Oberbayern. Mit seiner Glossierung der Psalmen folgt Müncher über weite Strecken dem Nikolaus von Lyra, dessen Psalmenkommentar er in einer kürzenden Bearbeitung überliefert. Am Beginn der Handschrift, auf den Blättern l bis 7, findet sich ein kleiner Traktat über das mittelalterliche Wissenschaftssystem, das gemäß zeitgenössischer Anschauung die Voraussetzungen zum Verständnis der Bibel schafft: Im Rückgriff auf biblische Weisheitstexte, auf antike und mittelalterliche Autoritäten behandelt der enzyklopädische Abriß Themen wie die Einteilung der Wissenschaften, das Lob der Sapientia, die Aufgaben von Theologie, Philosophie und Artes liberales.7 Ecoles et enseignement dans le Haut Moyen Age. Fin du Vc siecle - milieu du ' siecle, Paris 1979, 21989, S. 222-224, 303E; ders., Le röle de la memoire dans 1'enseignement medieval, in: Jeux de memoire. Aspects de la mnemotechnique medievale, hg. von BRUNO R.OY/PAUL ZUMTHOR (Etudes medievales), Montreal/Paris 1985, S. 133-148, hier S. 135-137. 5 Vgl. RICHF., Ecoles et enseignement [Anm. 4], S. 224. Zur ruminatio als Meditations- und Rezitationsweise geistlicher Texte im Mictelalter vgl JEAN LF.CI.ERC:Q, L'amour des lettres et le desir de Dieu. Initiation aux auteurs monastiques du Moyen Age, Paris 1957, S. 72f. 6 Vgl. die Handschriftenbeschreibung von HARDO HILC;, Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Eichstätt. Bd. 1: Aus Cod. st l - Cod. st 275 (Kataloge der Universitätsbibliothek Eichstätt 1,1), Wiesbaden 1994, S. 129-131, mit Hinweisen auf die spärliche Forschungsliteratur. - Bei den nachfolgenden Zitaten löse ich die handschriftlichen Abkürzungen auf und nehme eine behutsame Normalisierung von Orthographie und Interpunktion vor. Ekkige Klammern bezeichnen Ergänzungen, spitze Klammern Tilgungen zum überlieferten Text. 7 Der Traktat-Text ist durch Initialen und Überschriften in folgende Abschnitte gegliedert: Phy-
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Bemerkenswert ist eine Gruppe ikonographischer Darstellungen auf einer Pergamenteinlage in der Mitte des Traktats. Ergänzend zu den gelehrten Ausführungen findet sich hier auf vier Seiten eine Allegorie des Wissens im Medium von Schrift und Bild: Umgeben von Salomon und Adam residiert die personifizierte Weisheit in der domus Sapientiae (fol. 3r; Farbabb. 1). Theologia und Philosophia thronen zwischen prominenten Gelehrten; in der Tradition des Martianus Capella treten die Artes liberales als Frauengestalten auf (fol. 3v/4r; Farbabb. 2/3). Eine Allegorie des Blutopfers Christi mit Ecclesia und Synagoge sowie Szenen aus der Apokalypse - Menschensohn und Maria als apokalyptische Frau - vervollständigen das ikonographische Programm, in das sich auch der entwerfende Verfasser selbst mit Bild, Angaben zu Person und Entstehung des Werks einbringt (fol. 4V; Farbabb. 4).8 Die Darstellung von Wissen auf der Pergamenteinlage soll im folgenden vor dem Horizont des eingangs skizzierten Spannungsfeldes von »Schriftlichkeit« und »Körperlichkeit« betrachtet werden. Im Verbund mit Fragen nach dem Quellenhorizont ist hierbei das Zusammenwirken von Schrift und nicht-schriftlichen Ausdrucksmitteln zu erörtern. Beachtung verdient außerdem die Beziehung der Pergament-Ikonographie zum enzyklopädischen Traktat-Text selbst. Zu fragen ist ferner nach dem Aufführungscharakter des ikonographischen Programms: nach Spuren einer auf Mündlichkeit und körperlicher Präsenz beruhenden Inszenierung von Wissen. In diesem Zusammenhang sind schließlich unterschiedliche Allegorie-Konzepte von Interesse, auf die Müncher in Text und Bild rekurriert. Auf der ersten Pergamentseite (fol. 3r; Farbabb. 1) ist gemäß dem alttestamentlichen Buch der Sprüche das Haus der göttlichen Weisheit abgebildet: Sapientia aedificavit sibi domum, excidit columnas septem, lautet die biblische Vorgabe (Prv 9,1). Müncher übersetzt diese Tektonik einigermaßen konsequent ins Bild: Deutlich ist ein mehrstöckiges, mit Giebeln, Zinnen, losophya (Wissenschaftseinteilung, fol. l ra/va ), De Sapiencia et diffinicione et effectibus eius (fol. 2ra/b), De Theologia (fol. 2va/b), Descripcio inter Synagogam et ecclesiam (fol. 5ra), Descripcio xij stellarum (fol. 5rb/va), De Racione et de Ethimologia (fol. 5va/b), De quinque clauibus Sapiencie (fol. 5vb-6'a), Ethymologia 7 arcium liberalium (fol. 6rl/b), Subiectwn in Gramatica (etc.) (fol. 6rb/va), Septem artes sunt moraliter addiscende (fol. 6va-7ra). Eine Edition des Traktats ist geplant im Rahmen meines Habilitationsprojekts über Artes-liberales-Zyklen im deutschen Mittelalter. ' Ob Wilhelm Müncher die Miniaturen der Pergamenteinlage auch selbst ausgeführt hat, läßt sich der Beischrift zum Schreiberbild von fol. 4V nicht entnehmen: Anno dominice incamacionis m°. c°c°c°c°. xviij° Ecclesie Romane papa Martina iij° [sc.: Martin V. (Oddo Colonna), 14171431] presidente scriptum est hoc psalterium glozatum per Wilhelmum Mancher oriundum de Sfyers Rectorem ecclesie In czell Sancti Johannis baptiste. Insuper fecit formam picture. Das auf das Selbstbildnis bezogene fecit könnte sowohl auf Münchers eigene Anfertigung als auch auf eine von ihm in Auftrag gegebene Arbeit verweisen. Zweifellos aber hat Wilhelm Müncher als »Entwerfer« bzw. »Concepteur« des gesamten ikonographischen Programms zu gelten. Vgl. BEAT BRENK, Der Concepteur und sein Adressat oder: Von der Verhüllung der Botschaft, in: Modernes Mittelalter [Anm. 2], S. 431—450, hier S. 433: »der Entwerfer heckt das Konzept aus, er wählt die Themen, er wählt wohl auch die Vorbilder aus und manchmal vielleicht sogar den Stil. [. . .] Der Concepteur verwendet die Kunst auch als Medium seiner eigenen Legitimation.«
Wissensvermittlung im »Psalterium glossatum
AnticlaudianusPsalterium glossatum
Compendium AnticlaudianiDer Meide KranzDer Meide Kranz« by Heinrich von Mügeln, Diss. Oxford 1993 (Druckfassung demnächst bei MTU). 28 Vgl. HUBKR [Anm. 18], zusammenfassend S. 304-313, 391-393; VOLHNG [Anm. 27], passim. 2Der Meide Kranz< (ed. JAHR) 771-784: Der keiser sprach: >von Mögelin l Heinrich, was dunkel dich gesin? / weLh undr in hab die wirdikeit?< l er sprach: >min sin zu enge schreit, l das er die wisheit nie erlif. I din wirde hoch, breit, unde tifl die sal von schulden das verstan, / weich undr in sal die wirde han. < l er sprach: >du sah nicht ledik sin: l ich wil vernunst nu hören din. < l der ersten wold er gen den sik: l da winkt im sines herzen blik, l das wird und er und lobes an l der letzten von dem keiser wart. Die Personalpronomen er und im (781 f.) beziehen sich m. E. auf den Dichter Mögelin; weitere Deutungsmöglichkeiten verzeichnet VOI.FINC; [Anm. 27], S. 237-241. Zum Kontext der kaiserlichen Entscheidung im Kreise der Prager Hofgesellschaft vgl. HUBERT HERKOMMER, Kritik und Panegyrik. Zum literarischen Bild Karls IV. (1346-1378), Rheinische
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Die Forschung hat wiederholt erwogen, ob Mügelns Gedicht >Der Meide Kranz< nicht eine szenisch realisierte Aufführung am Prager Hof abbilde, die im Zusammenhang mit der jungen Prager Universität und Karls Kaiserkrönung stehen könnte. Denkbar wäre etwa die Einbindung der Dichtung in das Hofzeremoniell anläßlich der Empfangsfeierlichkeiten bei Karls Rückkehr aus Rom.30 Vorerst freilich schweigen diesbezüglich die Quellen. Die Illustrationen der Pergamenteinlage in Münchers Psalmenkommentar könnten hier nun ein Analogiebeispiel liefern, das die Bedingungen einer szenischen Vergegenwärtigung nachvollziehbar macht. Damit soll nicht behauptet werden, daß sich Müncher bei der Bebilderung durch eigentliche Spielszenarien anregen ließ.31 Es geht hier vielmehr um gemeinsame Prinzipien bei der allegorischen Repräsentation. So bestehen zwischen Münchers Bildregie und Mügelns Artes-Wettstreit Parallelen, die im folgenden anhand zweier Details aufzuzeigen sind. Das eine betrifft die (fingierte) körperliche Präsenz des Autors innerhalb des szenischen Programms. Der Dichter Heinrich von Mügeln tritt in >Der Meide KranzPsalterium glos$atum
Der Meide Kranz< gegenwärtigen Heinrich von Mügeln, der für einen kurzen Augenblick der Philosophie den Sieg zuerkennen will, ehe der Monarch sein Urteil zugunsten der Theologie fällt. Das Bild fungiert hier folglich keineswegs als bloße Illustration von Schrift und Text, sondern reicht über beide hinaus. Auf diese Weise entwickelt sich eine dynamische Beziehung zwischen Bild, Schrift und Traktat-Text, deren Eigenart es abschließend aufzuzeigen gilt. Dazu ist vorab nochmals auf die erste Pergamentseite zurückzublicken (Haus der Weisheit, fol. 3r; Farbabb. 1). Die Allegorie der Heidenbezwingung bringt hier im Grunde nichts anderes zur Anschauung als die - in ihrem Kern widersprüchliche - Aneignung antiker Wissenschaft und Kulturtradition durch das Christentum.33 Offensichtlich setzt Müncher dabei eine vertikal verlaufende Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ins Bild: Die Mündlichkeit signalisierenden Spruchbänder zum Lobe der Weisheit, wie sie die SapientiaPersonifikation, Salomon und Adam in der oberen Bildhälfte tragen, kontrastieren mit dem Schrift-Block unterhalb der niedergestreckten Heiden.34 13
Die für das Mittelalter maßgebliche Legitimation der Übernahme heidnisch-antiken Erbes erbringt Augustinus in >De doctrina christiana< (ed. J. MARTIN 1962, CCSL 32). Hinsichtlich der Bibelexegese rechtfertigt er den Rückgriff auf wissenschaftliche Errungenschaften (Buch II, XXXIXf., 58-61, S. 72-75), hinsichtlich der Predigt den Gebrauch rhetorisch-stilistischer Praktiken (Buch IV, II, 3, S. 117). Vgl. FRANZ XAVER EGGERSDOREER, Der heilige Augustinus als Pädagoge und seine Bedeutung für die Geschichte der Bildung (Straßburger Theologische Studien 8,3/4), Freiburg 1907, S. 117-130; HENRI-IRKNEF. MARROU, Saint Augustin et la fin de la culture antique (Bibliotheque des Ecoles Francaises d'Athenes et de Rome 145), Paris 1938, passim, bes. S. 387—413; ERICH AUERBACH, Sermo humilis, in: ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, S. 25-53, bes. S. 28-34; RICHE, Ecoles et enseignement [Anm. 4], S. 27f. Zur mittelalterlichen Rechtfertigung der Indienstnahme paganer Wissenschaft prägnant PETER VON Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im >Policraticus< Johanns von Salisbury (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2), Hildesheim [u. a.] 1988, S. 490, Anm. 966: »Die antiken Autoren werden [. . .] als eine Art >Experten< auf Gebieten, auf denen die heiligen Quellen des Christentums versiegen (Naturwissenschaft, Politik, Ethik), um Information angegangen. Gleichzeitig werden [. . .] biblische Autoren, namentlich diejenigen der Weisheitsbücher< so gelesen, als wären auch sie in gleicher Weise Spezialisten für gelehrte Sachfragen, was eine gegenseitige Unterstützung heidnischer und christlicher Autoritäten außerhalb der Glaubenslehre, auf dem Sektor der natürlichen Vernunft erleichtert.« Quellenbelege zu dieser Haltung bei EDUARD NORDEN, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Leipzig/Berlin 21909, Darmstadt 71974, Bd. 2, S. 679-684. 34 Die Banderolen tragen Textabschnitte aus der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (Buch der
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Dieses Spannungsverhältnis von Oralität und Literalität scheint eine Entsprechung in der horizontalen Abfolge der Allegorien von Sapientia, Theologia und Philosophia zu finden. Bei Theologia und Philosophia sowie bei den jeweils dazugehörigen Gelehrten (fol. 3v/4r; Farbabb. 2/3) sind die Spruchbänder durch Codices ersetzt. Auch hier deutet sich also der Gegensatz von mündlicher und schriftlicher Kultur an. Die in den Spruchbändern der Sapientia-Darstellung zum Ausdruck kommende Oralität ist dabei in den nachfolgenden Allegorien nicht einfach preisgegeben; sie findet vielmehr eine Fortsetzung in der lebhaften, ihrerseits Mündlichkeit signalisierenden Gestikulation von Theologia und Thomas von Aquin, von Aristoteles und Seneca. Trotz dieser Kontinuität läßt sich innerhalb des ikonographischen Programms eine Polarisierung erkennen. Sapientia und Philosophia nehmen die Eckplätze ein, während Theologia die Mittelposition besetzt und sich damit gleichsam als Mischwesen aus Sapientia und Philosophia präsentiert: In Herrscherpose (Krone, Thron, Frontalansicht) und Farbgebung der Kleidung (Schleier, Robe, Mantel) stimmt sie mit der Sapientia überein; auch in der Armhaltung bestehen - jeweils seitenverkehrt — Ähnlichkeiten. Mit Sicherheit leistet die kongruente Plazierung auf der Vorder- bzw. Rückseite von Blatt 3 solchen Isomorphien Vorschub. Allerdings trägt die Theologie im Unterschied zur gekrönten Weisheit eine Kopfbedeckung, die einer Tiara ähnelt. In ihrer Linken nun hält Theologia ein geöffnetes Buch - zweifellos Sprüche, Buch der Weisheit, Buch Jesus Sirach), die ihrerseits im Offizium der Augustsonntage Verwendung finden. - Spruchbänder verweisen in der mittelalterlichen Buchmalerei häufig auf mündliche Äußerungen. Vgl. bereits FREY [Anm. 9], S. 50: »Vor allem aber sind die Spruchbänder graphische Darstellung des gesprochenen Wortes.« Die Implikation von Mündlichkeit scheint besonders dann nahezuliegen, wenn Banderolen in Kontrast zu einer Verbildlichung schriftlich fixierter Texte treten, etwa bei folgenden Oppositionstypen: Rolle vs. Buch (so bei der Gegenüberstellung von Propheten und Aposteln), Schriftrolle bzw. Spruchband vs. Codex (signifikant im Verfasserbild Rudolfs von Ems, München, BSB, Cgm 8345, fol. : Rudolf mit Schriftrolle diktiert einem Schreiber die Weltchronik), gewundenes Spruchband mit einzeiligem Text vs. kurzes, gerades Briefband mit zweizeiligem Text (z. B. in der >EneitBible moralise«, Word and Image 5 (1989), S. 111-130, hier S. I l l ; MICHAKI. CURSCHMANN, Pictura laicorum lineratura*. Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. von HAGKN KKI.I.ER [u. a.] (Münstersche Mittelalterschriften 65), München 1992, S. 211-229, hier S. 221-224 (sowie Abb. 5 u. 11). Vgl. zur Entwicklung und Funktion des Spruchbands in der mittelalterlichen Handschriftenillustration außerdem NlKOlAUS HF.NKKI., Bildtexte. Die Spruchbänder in der Berliner Handschrift von Heinrichs von Veldeke Eneasroman, in: Poesis et pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. von STEPHAN FÜSSKI./JOACHIM KNAPE (Saecula spiritalia, Sonderband), Baden-Baden 1989, S. 1—47; KARL CLAU.SBERG, Spruchbandaussagen zum Stilcharakter. Malende und gemalte Gebärden, direkte und indirekte Rede in den Bildern der Veldeke-Äne'ide sowie Wernhers Marienliedern, Stadel-Jahrbuch N.F. 13 (1991), S. 81-110, bes. S. 84-88.
Wissensvermittlung im tPsalterium glossatum
Compendium Anticlaudiani< herausgelöstes Bruchstück, das Müncher mit De Racione et de Ethimologia betitelt (fol. 5V). Nach dem Vorbild von Alans >Anticlaudianus< schaut die personifizierte Ratio im >Compendium< drei Spiegel: Ein gläserner Spiegel zeigt die Verbindung von Form und Subjekt, ein silberner die vom Subjekt gelöste Form, ein goldener den Ursprung allen Seins aus der prima causal Für weniger gebildete Hörer (simplices) fügt das >Compendium< eine Erklärung bei,36 die Müncher in den Traktat-Text übernimmt. Sie kehrt innerhalb des Bildprogramms in Gestalt folgender Beischriften wieder: Philosophia sieht im gläsernen Spiegel den status rerum corporalium, im silbernen Spiegel den status rerum spiritualium, im goldenen Spiegel, qualiter omnia exeunt a prima causa!"7 Im Blick auf den Traktat-Text (fol. ; 5V) erweist sich diese Stufung als Illustration einer hierarchischen Wissenschaftseinteilung mit der Abfolge Physik, Mathematik und Metaphysik. Sie ist in ihren Grundzügen von Aristoteles' >Metaphysik< (6. Buch) geprägt. Mit den oberhalb des Aristoteles plazierten Spiegeln liefert das Bildprogramm also eine Spezifizierung zu Senecas Einteilung der Philosophie, die unmittelbar daneben beschrieben wird.38 Die szenische Darstellung der Theologia bringt nun ihrerseits das Spiegelmotiv ein, allerdings nicht im Bild, sondern allein in der Beischrift. Es heißt dort, die Theologie wähle aus den ihr untergeordneten Wissenschaften nur jene Bauteile, die zur Verfertigung eines Spiegels taugten, in dem sie niemand anderen als den göttlichen Schöpfer selbst betrachte: speculum . . . in quo conspicit creatorem (fol. 3V; Farbabb. 2). 35
>Compendium Anticlaudianii [Anm. 18], S. 97, Z. 98-101: ista [= Ratio] in manu tria gestabat specula, primum fuit vitreum, secundum argenteum, tercium aureum. in specula vitreo contemplabatur rerum formam cum subiecto, in argenteo specuL·batur formam abstractam a subiecto, in aureo vidit, quomodo omnia exeunt a prima causa. 16 Ebd., S. 97E, Z. 101-104. 37 Anders das »Compendium Ancidaudiani< und danach der Traktat-Text (fol. 5vb): qualiter omnia prodeunt a Creatore. 38 Vgl. oben S. 104 mit Anm, 17. - Im Anschluß an die Einteilung nach Aristoteles/Boethius bezieht der Abschnitt De Racione et de Ethimologia die speculatio der drei Spiegel auf naturales, dyalectici und metaphisici (fol. 5 vb ). Die Ersetzung der Mathematiker durch dyaiectici verweist auf Überschneidungen der Mathematik (als Wissenschaft von den Formen) mit Platonischer IdeenDialektik; die Abgrenzung war bereits in der Antike problematisch. Vgl. HADOT [Anm. 17], S. 425-427.
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Das Motiv der Spiegelschau ist folglich der Theologie und der Philosophie gemeinsam. Die Philosophie gelangt über die Staffelung der drei Spiegel — Physik, Mathematik, Metaphysik - zur Erstursache, der prima causa; hingegen offenbart sich allein im Spiegel der Theologie der göttliche Schöpfer selbst. Der Unterschied, den das ikonographische Programm hier in Abweichung vom Traktat-Text (vgl Anm. 37) formuliert, ist minim und doch gewichtig: Die Philosophie findet von den geschaffenen Dingen zur Erstursache, doch allein die von göttlicher Weisheit inspirierte Theologie vermag die Erstursache als den christlichen Schöpfergott und Erlöser zu erkennen. Das Bildprogramm führt hier mithin einen Rangstreit vor, der - auch wenn er im offiziellen Verständnis der mittelalterlichen Kirche vorentschieden ist - in der subtilen Wechselwirkung von Bild, Beischrift und TraktatText lebt. In einem >De Theologia< betitelten Abschnitt plädiert der TraktatText unmißverständlich für den Vorrang der Theologie. So heißt es im Anschluß an einschlägige Bibelstellen: Omnis scriptura diuinitus inspirata vtilis est ad arguendum, ad docendum et ad corrigendum. Vani enim sunt (senstts hominis) omnes homines, in quibus non est sciencia dei, per quam suum creatorem cognoscerent (fol. 2vb).39 Ebenso tritt die Beischrift mit ihrer Rangbestimmung (Theologya . . . super omnem philosophyam extollitur) und ihren Angaben zu den philosophischen Lehrinhalten für den Primat der Theologie ein. Allein in der bildlichen Anordnung manifestiert sich dagegen eine Gleichstellung von Philosophie und Theologie, die es wert ist, bedacht zu werden. Offenbar findet das Bekenntnis zur Bevorzugung einer profanen, mithin nicht genuin christlichen Wissenschaft gerade außerhalb der vom Christentum in den Dienst genommenen Schriftlichkeit Ausdruck, also in jener Gegensphäre, die sich unter den Begriffen von »Körperlichkeit« und »Aufführung« fassen läßt. Mügelns >Der Meide Kranz< bringt die Präferenz der Philosophie über die (fingierte) Gegenwart des Dichters in die allegorische Handlung ein. Bemerkenswert ist hier außerdem, daß die Neigung zur Philosophie in der Volkssprache und nicht im von der Schriftlichkeit geprägten Latein mitgeteilt wird. Anders als bei Mügeln befördern dagegen in Münchers Bildprogramm piktorale Elemente das Argument einer Gleichstellung von Theologie und Philosophie (wenn auch nicht deren Priorität). Es sind also jeweils die Mittel einer außerhalb oder zumindest am Rande der Schriftlichkeit angesiedelten Inszenierung, die der Philosophie einen bevorzugten Rang zubilligen wollen. In impliziten und expliziten Aussagen von Münchers Bildprogramm läßt sich damit das Zusammenwirken von schriftlichen und nicht-schriftlichen Elementen in der mittelalterlichen Klerikerkultur ablesen. Beide Ausdrucks39
Nach II Tim 3,16; Sap 13,1. Vgl. auch Augustinus, >ConfessionesPsalterium glossatum
De Theologian sacra scriptura est lata, longa, aha, profitnda. Est lata in multitudine librorum quia continet libros veteris et noui testamenti. Est longa in descripcione etatum et temporum quia incipit ab exordia mundi vsque in finem mundi. Est alta in descripcione Jerarchiarum. Est profiinda in cognicione multiplici sensus de sacra scriptura (fol. 2va). Mit den räumlichen Eigenschaften der Breite, Länge, Höhe und Tiefe wird die Heilige Schrift körperlich faßbar. Über die Tiefendimension mehrfacher Sinnschichtung (profiinda in cognicione multiplici sensus) ergibt 40
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Vgl. zu dieser Symbiose die Arbeit des Religionswissenschaftlers WILLIAM A. GRAHAM, Beyond the Written Word. Oral Aspects of Scripture in the History of Religion, Cambridge [u. a.] 1987. Vgl. Corpus antiphonalium officii [Anm. 10], Bd. 1: Manuscripti »Cursus Romanus«, Nr. I6a, S. 28f.; Bd. 2: Manuscripti »Cursus Monasticus«, Nr. 7-9a, 16, S. 40f, 44, 56f.; Bd. 3: Invitatoria et Antiphonae, Nr. 4081, S. 376 (Text).
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sich zudem nahtlos der Übergang zu einer Theorie des allegorischen Verfahrens. Münchers Allegorie des Wissens im Medium von Körper und Schrift steht hier mithin eine gelehrte Allegorisierung der Schrift selbst gegenüber, eine Allegorisierung der Sacra Scriptura, die ihrerseits mit Körpermetaphern operiert. Mit dieser Konfrontation ist zugleich ein Problemfeld tangiert, das die mediävistische Forschung wiederholt beschäftigt hat: die Abgrenzung von personifizierender Allegorie (hier des Wissens) und exegetischer Allegorie (von Bibel und Natur, die im Mittelalter beide »Buch«-Charakter tragen).42 Auf theoretischer Ebene behandelt der Traktat-Text die letztere, indem er bei seinen Ausführungen zur Theologie die vier Schriftsinne erwähnt und den allenthalben zitierten Merkvers anführt: Littera gesta docet, quod credis allegoria, dicetque [!] moralis quid agis, quo tendis anagogya (fol. 2va). Auf praktischer Ebene werden beide Allegorie-Konzepte miteinander kombiniert, dies in Zusammenhang mit den Artes liberales: Im Bildprogramm wie im Traktat-Text sind diese personifiziert als Jungfrauen nach dem Vorbild des »Compendium Anticlaudiank Im Traktat-Text schließt sich ferner eine monz//'ter-Auslegung der Artes an, dies nach dem Muster: Christus ist der wahre Lehrmeister, der verus loycus, verus rethor, verus musicus usf. (fol. 6va-7ra)·43 Die Inszenierung des Wissens präsentiert sich mithin als mehrsinnig in zweierlei Hinsicht: Sie ist multisensorielles Ereignis, indem sie mit ihrer mündlich fundierten Verfaßtheit und ihrer Nähe zu szenischen Aufführungsformen auf auditive wie visuelle Rezeptionsweisen gleichermaßen abzielt. Zudem dürfte die materielle Beschaffenheit der in die Papierhandschrift 42
Das Problem der Abgrenzung wird in der Mediävistik diskutiert seit C. S. LEWIS, der die exegetische Allegorie aus seiner Untersuchung der Personifikationsallegorie ausschloß. Vgl. CI.IVK S. LKWIS, The Allegory of Love. A Study in Medieval Tradition, Oxford 1936, "1948, S. 48, Anm. 2: »my subject is secular and creative allegory, not religious and exegetical allegory«. Dazu FRIEDRICH OHI.Y, Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, 21983, S. 1-31, hier S. 12f.; WALTER BLANK, Die deutsche Minneallegorie. Gestaltung und Funktion einer spätmittelalterlichen Dichtungsform (Germanistische Abhandlungen 34), Stuttgart 1970, S. 28-36, 73-78, 89-91, 101104; CHRISTEL MEIER, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 1—69, hier S. 2, 7, 25, 45f., 58-64; ferner CHRISTIAN KIENING, Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von HELMUT BRALI. [u. a.] (Studia humaniora 25), Düsseldorf 1994, S. 347-387, hier S. 350f. mit Anm. 11 (weiterführende Literatur). — Zum »Buche-Charakter von Bibel und Natur vgl. HUBERT HERKOMMER, Buch der Schrift und Buch der Natur. Zur Spiritualität der Welterfahrung im Mittelalter, mit einem Ausblick auf ihren Wandel in der Neuzeit, in: »Nobile claret opus«. Festgabe für Frau Prof. Dr. Ellen Judith Beer zum 60. Geburtstag (= Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 43,1, 1986), S. 167-178. 41 Demselben Auslegungsmuster folgt das >Magisterium Christi< eines Henricus (Honofer?), von dem folgende Handschriften bekannt sind: Praha, Knihovna prazske kapituly, Cod. O. XXXVIII (1622), fol. lr-52v; Praha, Narodni knihovna, Cod. IX. A. 4 (1669), fol. 196r (Fragment); Wroclaw, Biblioteka uniwersytecka, Cod. I. F. 530, fol. 213'-242V. Vgl. die Angaben und Auszüge bei JOSEF TRISKA, Literärni cinnost predhusitske university (Sbirka pramenu a prirucek k dejinäm university Karlovy 5), Prag 1967, S. 28f.
Wissensvermittlung im »Psalterium glossatum
Christherre-Chronik< von
KURT GÄRTNER (TRIER)
I Die Schöpfungsgeschichte, wie sie im 1. Kapitel der Genesis erzählt wird, gehört zu den bekanntesten Texten der Bibel. Mit der Geschichte von der Erschaffung der Welt beginnt die Bibel, und ihr erster Satz, »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Gn 1,1), ist auch heute noch jedem Gebildeten vertraut. Der Schöpfungsbericht ist deutlich gegliedert dadurch, daß nach der Erschaffung von Himmel und Erde das weitere Tun Gottes auf einzelne Tage verteilt erscheint, die ausdrücklich angegeben und gezählt werden: dies unus, dies secundus bis dies sextus; nachdem die Schöpfung vollendet ist, ruht Gott septimo die, am siebten Tage. Die Schöpfungsgeschichte ist seit den Kirchenvätern immer wieder ausgelegt worden; von der reichen Auslegungstradition zeugen die sogenannten Hexaemeron-Kommentare, die das Sechstagewerk Gottes zum Gegenstand haben. Am Anfang der lateinischen Auslegungstradition steht das umfangreiche >Hexaemeron< des Ambrosius (t 373).' Die weitere Auslegungsgeschichte wird vor allem durch die Kommentare zu Gn l, l ff. von Augustinus (t 430) bestimmt.2 In einem davon werden ausführlich die sieben Tage der Schöpfungswoche auf die sieben Weltalter gedeutet.3 Diese Deutung, mit der Augustinus auch >De civitate Dei< (22,30) abschließt, ist für den Aufbau der mittelalterlichen Universalchroniken vorbildlich geworden. Die allegorische Auslegung der Schöpfungsgeschichte erfreute sich auch in der mittelalterlichen Exegese nach Beda (t 735), dem »größten Schriftausleger der abendländischen Kirche seit der Väterzeit«,4 besonderer Beliebtheit. Die Deutung der sieben Tage der Schöpfungswoche auf die sieben Weltalter 1
CSEL 32 A, S. 1-261; PL 14, Sp. 123-274. U. a. De Genesi ad litteram, PL 34, Sp. 245—486. Eine Zusammenstellung der Genesiskommentare gibt JOHANNKS ZAHLTEN, Creatio mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 13), Stuttgart 1979, S. 284-297. 3 De Genesi contra Manichaeos, PL 34, Sp. 173-220, hier Sp. 190-193: Lib. I, Cap. XXIII Septem dies, et septem aetates mundi. 4 FRAN?. BRUNHÖI./.I., Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, 1. Band: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, München 1975, S. 220, zum exegetischen Werk S. 220ff. 2
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findet sich wieder in Bedas >Hexaemeron< und anderen Genesis-Kommentaren nach ihm.5 Beim Schöpfungswerk war nach der traditionellen Genesisexegese Christus gegenwärtig; die Anfangsworte der Bibel In prtncipio creavit Deus coelum et terram werden vom Anfang des Johannesevangeliums In principio erat Verbum et Verbum erat apud Deum, et Deus erat Verbum her christologisch gedeutet.6 Erst durch die typologischen Bezüge auf das Neue Testament findet die Schöpfungsgeschichte auch ihre für die christliche Kunst gültige Interpretation, sie wird durch die christozentrische Deutung der erschaffenen Welt zum Beginn der Heilsgeschichte.7 In einem Beda zugeschriebenen Kommentar zum Sechstagewerk finden sich auch Ansätze zur moralischen Deutung: Die sieben Tage werden auf die sieben Gaben des Heiligen Geistes (nach Is 11,2) ausgelegt, die als Richtschnur menschlichen Handelns gelten sollen.8 Mittelalterliche Schöpfungstageallegorien in deutscher Sprache sind aus der Predigtliteratur bekannt.9 Eine Klosterpredigt Bertholds von Regensburg enthält die Deutung der sieben Tage der Schöpfungswoche auf die sieben Tugenden des Menschen: senfimvticheit, wishait, diemvticheit, schäm, mazzechait, chevsch und rvbecheit; sie geht zurück auf eine lateinische Religiosen5
Beda, Hexaemeron, PL 91, Sp. 9-190, hier Sp. 36-38; ferner Bedas Gedicht >De opere sex dierum primordiaJium et de sex aetatibus mundis vgl. dazu BRUNHÖLZL [Anm. 4], S. 224 (Ausgabe genannt S. 542), und DIETER RICHTER (Hg.), Berthold von Regensburg, Deutsche Predigten (Überlieferungsgruppe 'Z) (WPM 5), München 1968, S. 73, mit weiteren HexaemeronKommentaren. 6 Z. B. Augustinus [Anm. 2], PL 34, Sp. 248; Beda [Anm. 5], PL 91, Sp. 207A; vgl. ferner C. STEPHEN JAEGER, Der Schöpfer der Welt und das Schöpfungswerk als Prologmotiv in der mhd. Dichtung, ZfdA 107 (1978), S. 1-18, hier S. 3 und vgl. S. 5, Anm. 20, zur Tradition der christologischen Deutung mit Lit.; auch die >Historia scholastica< [s. u. und Anm. 28], PL 198, Sp. 1055A beginnt mit der Zitierung von Jh 1,1. 7 Vgl. JAN VAN DER MEULEN, Schöpfer, Schöpfung, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. IV, hg. von ENGELBERT KIRSCHBAUM, Rom [u. a.] 1972, Sp. 99-123, hier Sp. 100. Im berühmten Evangeliar Heinrichs des Löwen (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 102 Noviss. 2°, zugleich München, BSB, Clm 30055) ist vor dem Beginn des Johannesevangeliums (fol. 172V) auf fol. 172r gegenüber dem Krönungsbild fol. 171V der Schöpfer mit dem Sechstagewerk dargestellt: Die Werke der einzelnen Tage sind um Christus in der Mandorla herum angeordnet und mit Umschriften versehen, in welchen die sechs Tagewerke mit den sechs Weltaltern verbunden werden. In der oberen linken Bildecke ist Moses dargestellt mit einem Schriftband, das den Anfang der Genesis zitiert, daneben in der Mitte auf der oberen Rahmenleiste der Adler als Symbol für den Evangelisten Johannes mit dem Anfang seines Evangeliums. Vgl. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen, erläutert von ELISABETH KLEMM, mit farbigen Bildtafeln (Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellungskataloge 47), Frankfurt 1988, S. 124f. zu Tafel 35. 8 De sex dierum creatione, PL 93, Sp. 207-234, hier Sp. 221B-222A; vgl. FRIEDRICH STEGMÜLLER, Repertorium biblicum Medii Aevi II, Madrid 1981, Nr. 1652. Weitere Kommentare bei RICHTER [Anm. 5], ebda. 9 Eine kurze Weltgeschichte nach Weltaltern geordnet, die auf die Tage der Schöpfungswoche bezogen werden, findet sich auch in einem spätmittelalterlichen deutschen Text: Von den fünf Zeiten vor Christi Geburt. Ein spätmittelalterlicher Grundriß der alten Geschichte nach Johannes de Marignolis und Otto von Freising, hg. von HERIBERT A. HILGERS (WPM 15), München 1980, vgl. S. 25,74-77.
Die Auslegung der Schöpfungsgeschichte
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Predigt Bertholds.10 DIETER RICHTER hat die lateinische Grundlage identifiziert11 und die volkssprachige Version in seiner Edition der Klosterpredigten Bertholds mit einem kurzen Kommentar herausgegeben.12 Noch eine weitere, thematisch eng verwandte, aber textlich unabhängige Predigt findet sich in dem Umkreis der Berthold-Überlieferung, die in einer Handschrift einem Bruder Peter zugeschrieben wird.13 Eine dritte volkssprachige Schöpfungstageallegorie, wieder in Form einer Lesepredigt, findet sich bei Nikolaus von Straßburg (t nach 1331), einem Zeitgenossen und zeitweiligen Kölner Mitarbeiter Meister Eckharts.14 Nikolaus faßt den Schöpfergott zunächst trinitarisch nach den drei göttlichen Appropriationen (297,26-32): Der Vater ist die gewalt, mit der er alliu dinc von niute mähte; der Sohn ist die wisheit, der si [= alliu dinc} aber wider mähte do si zerbrochen wären; der Heilige Geist ist die güeti, denn er bewahrt auch allez daz er ie geschuof güetlich. Jede Person der Trinität hat sechs bzw. sieben Tage gewirket, doch die Werke des Vaters werden nicht weiter differenziert, denn er mähte alliu dinc von niute in sehs tagen (298,7f.). Die sechs Tage des Sohnes werden typologisch auf die Passion gedeutet (298,8ff.): Sein "Werk beginnt mit dem Einzug in Jerusalem am Palmsonntag, dem l. Tag, und endet mit dem Kreuzestod am Karfreitag, dem 6. Tag. Auch der Heilige Geist wirkt sechs Tage; diese werden moraliter gedeutet (299,3ff.): Der I.Tag bedeutet die Sündenerkenntnis des Menschen, der 2. Tag den Willen zur Buße usw.; der 7. Tag schließlich wird auf den durch Tugendübung vollkommen gewordenen Menschen gedeutet, dessen Wille mit dem Willen Gottes eins geworden ist. Die Predigt des Nikolaus von Straßburg wird durch eine überlieferte, bei PFEIFFER im Text allerdings nicht abgedruckte Rubrik auch in ihren liturgischen Zusammenhang eingebettet; die Rubrik lautet: An dem osterabende. Die Schöpfungsgeschichte ist der Gegenstand der ersten von den vier Lesungen der Ostervigil, der liturgisch besonders ausgezeichneten Feier der Osternacht. Die Schöpfungsgeschichte wird also schon durch ihre besondere Einbettung in die Liturgie als Heilswerk Gottes verstanden. Nach Ausweis der Predigtbibliographie von KARIN MORVAY und DAGMAR GRUBE sind außer den genannten volkssprachigen Schöpfungstageal10
Sermones ad Religiöses 21; Edition bei G. JAKOB, Die lateinischen Reden des seligen Berthold von Regensburg, Regensburg 1880, S. 89. 11 DIETER RICHTER, Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg (MTU 21), München 1969, S. 148. 12 RICHTER [Anm. 5], S. 49f. und S. 73f. " RICHTER, ebda., S. 73; vgl. jetzt KURT RUH, Bruder Peter, 2VL VII, Sp. 4l9f., mit Lit. 14 Vgl. EUGEN HILLENBRAND/KURT RUH, Nikolaus von Straßburg, 2VL VI, Sp. 1153-1162; die Predigt über die Schöpfungstage, deren Kenntnis ich Christoph Gerhardt verdanke, ist ediert bei FRAN/. PHEIFHER (Hg.), Deutsche Mystiker des H.Jahrhunderts, 1. Bd.: Hermann von Fritslar, Nicolaus von Strassburg, David von Augsburg, Leipzig 1845, S. 297-301.
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legorien keine weiteren publizierten deutschen Predigten über das Thema bekannt.15 II
Eine umfangreiche allegorische Auslegung der Schöpfungsgeschichte findet sich in der >Christherre-ChronikChristherre-Chronik< gehört zu den am reichsten überlieferten Werken des 13. Jahrhunderts, ist aber - weil noch nie vollständig ediert — für die Kenner der deutschen Literaturgeschichte des Mittelalters und die Verfasser von Handbuchartikeln keine feste Größe und oft nicht mehr als ein bloßer Name. Ich will daher zunächst noch etwas näher auf dieses Werk eingehen, das in absehbarer Zeit erstmals in einer vollständigen Edition vorliegen wird.16 Aus dieser stammt die Probe im Anhang 2. Der Anfangsteil der Chronik, der die im Anhang 2 abgedruckte Schöpfungstageallegorie umfaßt, ist bereits früher durch MASSMANN im Materialienband seiner Kaiserchronikausgabe ediert worden,17 aber bisher ist weder die eigentümliche Ausle15
Vgl. KARIN MORVAY/DAGMAR GRUBE, Bibliographie der deutschen Predigten des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten (MTU 47), München 1974, Register S. 250, S. 46 (T 52 Bruder Peter, s. o.), S. 111 (T 106 Nikolaus von Straßburg). 16 Vgl. KURT GÄRTNER [u. a.], Zur Ausgabe der >Christherre-Chronik< nach der Göttinger Handschrift, SuUB, Cod. 2" 188/10 (olim Gotha, Membr. I 88), in: Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge zur Bamberger Fachtagung »Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte«. 26.-30. Juni 1991, hg. von ANTON SCHWOB (Litterae 117), Göppingen 1994, S. 43-56. Auf die Neuausgabe beziehen sich die Verszahlangaben in diesem Beitrag. 17 HANS FERDINAND MASSMANN (Hg.), Der keiser und der kunige buoch oder die sogenannte Kaiserchronik [...], Bd. 3 (Bibl. d. ges. dt. Nat.-Lit. 4,3), Quedlinburg/Leipzig 1854, S. 118-150.
Die Auslegung der Schöpfiingsgeschichte
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gung der Schöpfungsgeschichte in diesem Teilabdruck noch der edierte Anfangsteil der Chronik selbst recht gewürdigt worden, obwohl gerade der Anfangsteil der Chronik aufgrund seiner bevorzugten Überlieferung und Wirkung eine beachtliche Rolle bei der Vermittlung geistlicher Inhalte in der deutschen Literatur des Mittelalters gespielt haben dürfte. Wahrscheinlich als Konkurrenzwerk zur >Weltchronik< Rudolfs von Ems18 ist die >Christherre-Chronik< kurz nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, zwischen 1254 und 1263, im Auftrag des Landgrafen Heinrich von Thüringen entstanden.19 Sie ist ebenso ein Torso geblieben wie Rudolfs >WeltchronikWeltchronik< von Jans Enikel,21 die einzige unter den drei großen Weltchroniken des 13. Jahrhunderts, die abgeschlossen wurde. Aus diesen drei Werken und anderen wurden im 14. Jahrhundert die heute unter dem Namen »Heinrich von München« subsumierten Weltchroniken kompiliert.22 Diese enthalten in ihrem Anfangsteil als Grundstock überwiegend den Text der >ChristherreChronik< und sind oft reich illustriert.23 Der Teil mit der Schöpfungstageallegorie fehlt in fast keiner der vollständigen Handschriften der >Christherre-ChronikChristherre-Chronik< weitergewirkt, nachdem die Weltchroniken um 1400 in Prolfl
Rudolfs von Ems Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift hg. von GUSTAV EHRISMANN (DTM 20), Berlin 1915, 2., unver. Aufl. Dublin/Zürich 1967. 19 Wohl Heinrich der Erlauchte (1218-1288), Markgraf von Meißen, der in seinen Urkunden 1248-1263 auch als Landgraf von Thüringen erscheint; vgl. KURT GÄRTNER, Der Landgraf Heinrich von Thüringen in den Gönnerzeugnissen der >Christherre-Chronik 1273 der/ M2W. des] der Ny Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. 1274 / H. Die sein g. M2W. gescheffede KP. 1279 div reine er. PHL 1281 Vn KM2P. 1283 Waz M1KM2HL] Wan GNy, Zvar P. 1284 sol ... werden PHL. uch / M2W. noch (wol W) schein M2W. 1286 geschaft M2, Schaft W. wol uern. PHL 1263-67 Prv 9,1 Sapientia aedificavit sibi domum, excidit columnas septem.
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[i]N nomine domini, gotis lere du sis mir bi mit des heilegen geistis minnen. nu wil ich der rede beginnen zu tichtene nach der warheit, als di heilege schrift uns seit. in dem ersten anegenge,2 — ich meine nach der lenge di anegenge ni gewan e daz Got der zit began, daz anegenge solde werden · als Got wolde, geschuf Got himel und erde. ler, bloz · unde in unwerde3 lac di erde, und unvruchtic, allir gescheite ungenuchtic und ir gezirde enic gar, toub, unnutze · und bar, uncreftic, sundir bernde macht. mit trubir vinstir was bedacht4 von gründe uf daz abgrunde. und uf des wazzeris unde5 de heilige geist wart bracht, als iz von Gote was gedacht. daz was di Gotis willekur, di sinen witzen leite vur wi und in welchen Sachen er di dinc wolde machen.
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1287-1322 in Ml ersetzt durch Enikel 139-342. 1287-92 in P mit roter Tinte geschrieben. 1287 \-lnitiale in G vorgesehen, die ohne Einzug am linken Spaltenrand heruntergezogen werden sollte. Amen hinzugefügt P. 1288 Nu si mir g. 1. bi PL. du piz mir Ny, si mir KW, sey vnz M2. 1289/90 minn : beginn M2. 1290 Zeh (lies Ich wie HL) wil PHL So M2W. 1292 geschrift M2W. 1293 Initiale in PHL 1295 noch nie K. 1299 Beschüf M2, Es schuefU^ got KM2P, f. GNy. 1300 \nf.M2. 1301 Nach der erd M2. erde| G. und/ KP. 1302 gescheffede KP. vnd vng. Ny, vnnuchtic K, vnd vnnuchtich M2W. 1303 eniht Ny, ainig M2W, ane PL 1304 und unnutze PH. 1305 pern /2, wernd* W, berne P, bnder HL 1306 trüb M2W. 1307-10 umgestellt nach 1320 in GNy Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. 1308 Und// 3 /.. 1310 '\if.M2W. 1311 di] dez M2W. 1313 le M2. 2
1293.99 Gn 1,1 In principio creavit Deus caelum et terram. 1300/1 Gn 1,2 Terra autem erat inanis et vacua; Hist, schol, Gn Cap. 2 (PL 198, 1056B): machina mundialis adhuc erat inutilis, et infructuosa, et vacua ornatu suo. 4 1306/7 Gn l,2b et tenebrae erant super faciem abyssi. ' 1308-14 Hist, schol., ebda (1056C-1057A): Et Spiritus Domini, id est Spiritus Sanctus Domini, vel Domini voluntas, ferebatur super aquas, sicut voluntas artificis habentis prae oculis omnem materiam domus faciendae, super illam fertur, dum quid de quo facturus est disposuit. 3
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als ein vogil der da brütet6 sin ey · und iz wol hütet dar uf daz di nature sin im drinne gebe ein vogelin, rechte also brüte sin geschaft Got mit des geistes craft, da er was uberz wazzir kumen, als ir hat alhi virnumen. Got sprach: 'iz werde ein licht!'7 daz wart gesumet nicht, e daz sin gebot geschach. do Got daz licht so gut gesach,8 daz licht er von der vinstere schrit, vinster und licht er schit. daz lichter licht hiz er den tac.9 di zit in der di vinstere lac wart nacht von im genant. zu hant wart ein tac irkant und obint nach dem morgen. daz e was i vorborgen, daz wart do geoffenberit. glichit und [in] geinberit und gebenmazit ist der tac dem tage, in dem di zit lac und di seldenbernde stunt, daz Sente Gabriel tet kunt unser vrouwen daz si solde werden swangir · und i r wolde
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1315 AlsamPL da/ÄM2P. 1316 behütet K. 1318 darvmme KM2. 1319 prutter Ny. 1320 heilige (heiliges P') geistez P2L 1321 Da P, Do KM2, Daz GNy; vgl. zu 1307-10. vber wazzer K. 1322 hie M2. 1323 Ml wieder vorhanden. 1323-1978 in M2 durch Enikd 327-472 ersetzt. 1323 DO sprach got PL. 1324 werde KW. 1325 Alzvhant K. 1326 liecht vö liecht gesach W. 1327 dem vinstse K. schiet M l KW. 1328 licht] G. 1329 lihte · liht PL. licht/ K. 1330 di 2 / W. 1331 div naht PL 1332 do wart PL 1334 e] ye W. if KW. 1335 ward offen geberet W. 1336 Geleichet NyMIP, Geglichet K, Soleich W. in oder ni G, nie Ny Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. geinberit G, geeinwaeret Ny, genieret Ml, geeinberet KP1L, embaret P2, gevnberet W. 1337 geebenmzret Ny. 1338 der in der zeit W. gelac KP. 1339 die szldenpaernd M l PH, seiden di bernde GNy, die seldenriche K, dieselbn wden W. 1342 als er wold W. 6
1315-18 Hist, schol., ebda (1057A): Hebrzus habet pro super ferebatur, incubabat, vel Syra lingua, fovebat, sicut avis ova. 7 1323—25 Gn 1,3 Dixitque Deus: Fiat lux. Et facta est lux. 8 1326-28 Gn 1,4 Et vidit Deus lucem quod esset bona et divisit lucem a tenebris. 9 1329—33 Gn 1,5 Appellavitque lucem diem et tenebras noctem. Factumque est vespere et mane, dies unus.
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der Gotis sun zu muter gern, und daz si in solde gebern durch des hostin geistis gebot ir sun wor mensche und Got. do schit di gotliche macht von des ungelouben nacht des ewiclichen lichtes schin, do er durch di gnade sin uns tröste: er wolde kumen zuns in der menscheit des suns und von dem tode in daz lebin uns laden · und wider gebin. diz ist ein sule der wisheit, der di wisheit siben sneit mit ir gotlichem snite und ir hus undersazte mite. DO di geschefte geschach, Got unser schephere do sprach10 gebitende, nu höret wi: 'ein firmamente werde hi zwischen den wazzerin beiden. di wazzir sullen sich scheiden.' daz wart als sin gebot gerit.11 di wazzir er von wazzere schit. di obe dem firmamente do waren, di schit er also daz di drobe und drunder sich schiden al besunder. daz geschach alda zu hant. daz firmamente wart genant12 der himel. also daz irgie,
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1344 in / KWP. 1345 hohen W. 1346 vor Ny, warr Ml, war K, wer W, daz PL. 1347 Vnd W. 1349 ewigen K. 1351 Vnd W. 1352 des vns W. 1353 tode] got W. 1353/54 uns in daz 1. / Laden · und uns daz w. g. PL 1354 Vns lait W. 1358 do vnd'stat W. 1359 gescheffede KP. 1360 her5 W. 1362 werden lie Ny, er werden lie Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. 1364 t a u e n W. 1365/66 / W. 1365 wart KP, wazzir G\ 1366 uon ein ands KP. 10
1360.62—64 Gn l,6Olx\t quoque Deus: Fiat firmamentum in medio aquarum et dividat aquas ab aquis. 11 1365-71 Gn 1,7 Et fecit Deus firmamentum, divisit aquas, quae erant sub firmamento, ab his quae erant super firmamentum. Et factum est ita. 12 1372-76 Gn 1,8 Vocavitque Deus firmamentum caelum. Et factum est vespere et mane, dies secundus.
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do wart morgen und abint hie. da mite quam der andir tac, dem Got sundern namen wac. mit dem tage bezeichent ist der tac, daz unser herre Crist von der magit wart geborn di er zu mutir hat irkorn. daz sich wazzir von wazzere schit und daz Got di wazzer schrit und er di wolde sundern, di obern von den undern, da merkit an di Gotis craft und ouch di irdischin geschaft, in der Got uf di erde quam und di menscheit an sich nam; durch uns di brodecheit und mit wesinde nicht virmeit der hoen gotheite phlicht. di ander sul · ist ufgericht, mit der der wisheite hoer rat ir hus wol undersetzit hat. Unser herre Got sprach do:13 'di andir geschaft werde also: swaz so under dem himele si wazzere verre, nahen odir bi, di samen sich zusamene gar unde werd ein trocken dürre bar.' daz geschach do · unde ergienc: der wazzer vluz sich zu samne vienc. di dürre stat wart do zu hant14
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1376 auch name W, ouch sunder namen (+ do P) wac PHL. 1377 Initiale Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. 1378 daz] do W. 1380 er im K. 1381 wazzer sich KWP'. 1381/82 schriet : schier PHL; die Verse umgestellt H. 1383 Vnd daz er wolde PHL. sie KW. 1384 obersten K. vnd die W. 1385 Da M1KWP, Daz GNy. an der Ml. 1386 ouch/ KWP. 1388 Do er KWP. 1388/89 sich de m. an nam / Durch vns vn vnse br. L. nam (genam PH) l An sich KPff. 1389 durch vnser br. KWP. 1390 Vnd doch (doch P2 vor getilgtem mitte P' übergeschrieben) P. in vor nicht KWP. 1392 Vers in G am Spaltenende mit Verweiszeichen nachgetragen. 1393 der · attGMIP. 1396 geschephede PL 1397 so f KWP. 1398 nahen | G, f. M2. oder nahen (+ da H) pey NyPHL. 1400 werden WP. ein (getilgt P2) truken (+ vnd P2) P. I400a/b KWPHL f G* Linz 472 (=EC) und HvM-Hss. l400b vluz KWH, flut PL. lie W. 1401/2 do zehant/ Ward W. 13
1395-1400 Gn 1,9 Dixit vero Deus: Congregantur aquae, quae sub caelo sum, in locum unum, et appareat arida. Et factum est ita. 14 1401—4 Gn l, 10 Ei vocavit Deus aridam terram congregationesque aquarum appellavit maria. Et vidit Deus quod esset bonum.
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von Gote di erde genant. daz mer hiz er der wazzere vlut. Got sach daz di geschaft was gut. zu hant sprach er: 'iz werde15 ein berhaftige erde, di grüne crut mit samin her und holtz, daz sinis wuchers wer ein iclich in sin selbes vrucht, und daz in berender genucht iclich samen in im selben wer, der berhaftige vrucht geber.' daz geschach. di erde wart16 vruchtic, berhaft, nach ir art. iclich crut wart wucherhaft und daz holtz in sinir geschart und in sinir genaturten art. morgen abir und abint wart.17 der dritte tac mit lichte quam, sin kumender schin urhab nam. DEr tac des reinen tages zit beschaft und ebinmaze git der vil seliclichen vrist, daz Got unser herre Crist an dem cruce durch uns leit den tot nach der menscheit und in dem tode, in dem er starp, uns immir lebinde lebin irwarp. di dürre erde, di edes gar was bloz, und allir vruchte bar und an dem dritten tage wart
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1402 In Linz 472 (=EC) und den HvM-Hss. folgt Enikel 375f, 1403 Mer KW, Div mer PH. des wazzers PHL. 1405 Er sprach ze hant PHL. 1407 grünende KP, do W. mir P', ir P2, in H. 1407/8 perde : wde W. 1409-11 f W. 1409 legliches KP. in siner fruht PHL. 1414-18 / H. 1414 Vruchtig vn KWP. 1415 Und PL. 1417 Vnd in der P, Inder L naturten Ml. 1418 vn abenc aber K. 1420 den (ds L) urhab PHL 1423 Vnd der sei. vr. PHL 1427 Vnd mit PHL 1428 lebendes KP, wdes lies werndes W. 1429 -e- PHL. 1430 Schein KWP. 15
1405—13 Gn 1,11 Et ait: Germinet terra herbam virentem et facientem semen et lignum pomiferum faciens fructum iuxta genus suum, cuius semen in semetipso sit super terram. Et factum est ita. 16 1413—17 Gn 1,12 Et protulit terra herbam virentem et facientem semen iuxta genus suum lignumque faciens fructum et habens unum quodque sementem secundum speciem suam. Et vidit Deus quod esset bonum. 17 1418-20 Gn 1,13 Et factum est vespere et mane, dies tertius.
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berhaft · nach eigenlicher art, bedutet, daz di menscheit nach des bitterin todes arbeit wolde darinne ruwe han; und ir der segin wart getan, do von si seldinbernde vrucht gewan · und berhaftige genucht an cristenlichem gelouben gar. daz si vor des was dur und bar, e daz unser here Got durch siner demute gebot uf der erden vollinbrachte des er durch uns gedachte zu liden in der menscheit, in der er den tot ouch leit, daz er uns da mite irloste von der bittern helle roste dar in uns Adamis missetat virworchte · und der slangen rat, daz wir der schult wurden vri. di ist ouch ein sul. nu ist ir dri, dar uf ir hus di wisheit hat gebuwet · unde geleit. GOt unser herre sprach do sa:18 'fiant luminaria! zwei licht werden, der schin sal an dem firmamente sin des himelis. mit den beiden sal werden underscheiden zeichen, tac, zit · und jar. ir schin si luter und clar,
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1433/34 f. H. 1433 Daz KWP. tivtet · PL 1434 bicterin/ KWP. 1435 Drinne wolde KWP. 1437 saldenriche K. 1438 Brehte · P(H)L. 1440 Ergänze Bedutet Des sie vor (/ PHL) was KPHL, Der was vor so W. 1445 zu/ K. in] nach PHL 1446 der · er GM1. ouch/ KWP. erleitPZ. 1447 Do er vns mit W. 1448 bittern/ PHL. 1449 Dar vns K(W)P. 1450 Woricht W. und] durch PHL des slangen KWP. 1452 Daz KWP. ein/ W. nv sint KWP. 1453/54 daz hus · der wisheic / Gemachet · ist PHL. 1454 gemachet KW. 1455 do sprach ohne s* W. 1457 der ithte schin PH. 1461 Tage|zeichen · tac|zit · PHL. zeit tag W; vgl. Gn l, 15 tempora et dies. 1462 Der KWP. 1462/63 sol lautter vnd clar / Vnd lawtt5 i. wden (: erden) W. 18
1456-65 Gn l,14f. Dixit autem Deus: Fiant luminaria in firmamento caeli, et dividant diem ac noctem, et sint in signa et tempora et dies et annos, (15) ut luceant in firmamento caeli et illuminent terram. Et factum est ita.
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und ir lachten immir werde von dem himel uf di erde.' (1440) daz irginc und wart also. zwei licht schuf unser herre do:19 ein meriz daz der schone phlit, daz sin licht dem tage git und der da mite irluchtet ist. ein minnerz schuf do Gods list, daz schinen sal der nacht. di zwei licht hat er gestacht20 an den himel in ir zil und bi den lichter Sterne vil (1450) di ouch des nachtes geben schin. do sach Got di gescherte sin21 daz si gut was. san zu stunt tet sich der morgen kunt und der abint. do wart gach dem virden tage, und quam dor nach. Der tac glichit sich her abe dem tage, daz Got vomme grabe irstunt, war mensche und got, unde durch der gotheite gebot (1460) von der leiden hellepine irloste dannen di sine, di vor mangin jaren do in dem tode waren und hattin do trostis nicht. daz mere und daz minner licht, di Got di erde irluchten hiz
1463 i r / KP. 1466 beschuef W. 1467/68 pfligec : wiget PHL. 1468 Daz ez KWP. 1469 er K, es W. 1471 beschinen K. solt W. die (+ trüben PHL) nacht KPHL 1472 Das liecht zwar W. 1473 in G*] an KWP. 1474 lihten sterne (sternen P!H, f. L) PHL(W). In Linz 472 (=EC) und den HvM-Hss. folgen Enikel 393-398. 1475 des nachtes] da P. 1476 die NyKWP, daz GM1. gescheffede KP. 1478 Do W. mit kunft · der morgen kunt PH, taten kunt auf Rasur L2. 1480 wden tag WL. vnd quam G*, d' schein KW, er (ds L) quam PHL. 1482 daz] do W. 1483 warer NyMI, f. KWP. 1485 laidegen W. i486 Loste PH(L). dannen G', gar KP, got W. 1487 Die da K. 1488 do / KWP. 1489 al da PH(L). 1491 zvr erden luchten K. 19
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1466—71 Gn 1,16 Fecitque Deus duo luminaria magna: luminare maius, ut praeesset diei, et luminare minus, ut praeesset nocti, et Stellas. 1472-75 Gn 1,17 Et posuit eas in firmamento caeli, ut lucerent super terram. Hist, schol., Gn Cap. 6 (1060B): Lunam et Stellas voluit illuminare noctem, . . . 1476-80 Gn I,18b—l9 Et vidit Deus quod esset bonum. Et factum est vespere et mane, dies quartus.
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und in durch daz di craft liz daz sie beluchten mit ir craft di werk und allir geschaft, mit dem schine als sie tunt ist bezeichent daz Got irstunt geware mensche, rechtir got, als iz wolde sin gebot, nach dem tode den er leit; und daz er nach der menscheit und der gotheit, disen zwein lichten, uf der erden irschein den sinen · und des waren wert und es mit dinste hatten gegert, daz in daz heil solde gesehen daz sin musten und solden sen mit vleischlichen ougen. hi ist nu sunder lougen di virde sul der wisheit uf gericht und druf geleit daz hus, daz di wisheit hat mit ir witze bereit. GOt sprach do: 'der wazzer unde22 di bringin in ir künde mit lebendem geiste wesinde beide vligende und cresinde, swimmende und vlizende und vligende, di nizinde nach ir naturen sin ir nar.' minnere unde mere gevugele gar,23 als iz in dem wazzere swebit und vligende in der lüfte lebit
(1470)
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1495 als] den KWP. 1496 Bezeichent (+· is L) PHL. 1497 Gewahrer NyMlWP, War K. vn rechter g. KW. 1500 got nach der gotheit PHL. 1501 Vnd in der mescheit · (menschait HL) den zwein PHL 1502 Luten KW. 1503 Ich meine K. und G'} die KWP. sein W, 1504 es GM1K, dez NyP, sein W. begert NyMiK, gen WP. 1506 si in NyMIKP, si W. solden an sehen PH(L). 1508 nu / KWP. 1510 uf KW. 1512 hat bereit PHL. 1513 Keine Initiale W. do / KWP. der] des PHL. 1514 dif KWP. in vrchvnd Ny. 1516 beide f. KWP. 1518 Vers f. H. und/ L di GM1] vnd NyWL, f. K In Linz 472 (=EC) und den HvM-Hss. folgt Enikel I4l5f 1519 namen KWP. sey NyW. it f K, in P. 1520 Minnere| G, Ummer Ny, Nimmer Ml. 1522 inder lüfte GM1L, in den lüften NyKW, in dem lüfte PH. 22
1513—19 Gn 1,20 Dixit etiam Deus: Producant aquae reptile animae viventis, et volatile super terram sub firmamento caeli. 23 1520-25 Gn 1,21 Creavitque Deus cete grandia et omnem animam viventem atque motabilem, quam produxerant aquae in species suas, et omne volatile secundum genus suum.
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nach der art als iz sal wesin, man sehiz vligen odir cresin, daz hiz Got werden, und sprach,24 do erz so gut nach wünsche sach: 'wachsit, und uwir werde vil unde me danne vil, irvullit uwir zil merwazzer, und ouch di erde, daz di erde uwir werde vol · und alle wazzeris trän.' daz geschach und muste irgan als er wolde, iz wart also. morgen und abint wurden do.2' da mit der vumfte tac irschein, do des virden licht virswein. Den tac muge wir genozin dem hoen tage, dem grozin, daz Got nicht lengir wolde sparn, ern wolde zu himele varn und in gütlichen wiföen zu sinis vatir zeswin sitzen, dem er an anegengis vrist i was · und immir ebengewaldic ist. di vil reine Gotis ufvart bezeichent mit gotlicher art, daz Got an dem vumften tage hiz werden, nach warir sage, di vögele di so hoe swebin in der lüfte · und drinne lebin • und mit ringir lichtir craft swebint ob allir erden geschaft. als Got in glicher maze durchwolt der lüfte straze,
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(1500)
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1525 werden| GK. 1527 werde uwer KW. 1528 Vfi ervullet uwer zil K(W)H. Vnd uil · ir füllet ivwer zil P, Vil vn uullet vwer zil L. 1529 ouch di/ KW. 1530/31 Eur volle werde W. 1531 Vnd/ W. al des P(H)L 1532 und] ez PH(L). 1535 Mit den PHL. 1537 suln PHL 1540 hin zv KP. 1541 und/ W. wiztzen G. 1542 Zv des KWP. zwesini G, zesin Ny, zesemMlW, ceswen Ä73. 1544 immir/PHL eben-/ W. 1545 vil/KWP. 1546 glicher PHL 1547 virczigiste W. 1548 gewerer PH. 1549 so/ KW. 1550 den lüften NyKW, dem lüfte · PH. 1551 Da sie mit geringer craft K. 1552 al der PH. 1554 Durch wolc G", Durch vlouch KWP. des luftes KWP. 24
25
1525-31 Gn l,21c-22 Et vidit Deus quod esset bonum, benedixit eis dicens: Crescite et multiplicamini et replete aquas maris, avesque multiplicentur super terram. 1534/35 Gn 1,23 Et factum est vespere et mane, dies quintus.
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do er so gewaldecliche vur hin zume himelriche und hiz den sinen her nider daz sagin von himele wider, als er da vur, also wolde er uf di erde wider her kumen · durch rechtiz gerichte und nach redelicher slichte irteilin ubir allir menschen kint, di dan tot odir lebende sin t, mit vil eislicher kumfte. diz ist der sule di vumfte, di «z'mannes craft kan irgrabin, di ouch daz hus sal inthabin daz di wisheit gebuwet hat und ir durchwislicher rat. IN allin disen dingen26 sprach Got: 'di erde sol bringen in lebendem geiste schire mit mangirhande tyre vie zam und ouch wilde in ir vrucht · und in ir bilde.' daz irginc durch sin gebot. wilt und zam geschuf do got,27 wurme · und allirhande slangen. der namen hat untphangen geschaft, sin vrucht, sin lebin, als iz der erden ist gegebin wachsinde uf ertriche, iz ge, iz criche, odir iz sliche in getat als iz ie tut.
(1540)
(1550)
(1560)
1555 so/ KWP. 1556 hin zume] zv K, in das W. 1557 den sinen hiez K(W)P, 1558 sagen wider KWP. 1560 Wider uf die erden her K. 1561 uf recht g. KWP. 1562 und/ PHL 1563 Zv KWP. 1564 lebendg NyMIW. 1565 vil engestlicher K, eigenlicher PHL 1566 die sule K. der/ W. 1567 Di mannes GW, Die niemannes KP. und 5 grabe PHL. 1568 hus/ W. ssif K. uf haben KWP. 1569 gepawen NyPH. 1570 durch-G* vil KWP. weiser W. 1571/72 An K. alle (allem PH) diseme (disen HL) d i n g e : b r i n g e KPHL. 1572 sol NyMl.f.GKWP. 1573 in/ W. lebentigem NyW. 1575 ouch/ PHL. 1578 beschuefW: 1581 It KWP. sin1·2] tr KWP. 1584 Ez · ge · crese · (criege L) oder sliche PHL. 1585/86 / HvM-Hss. 1585 In der KWP. 2L siben KWP. 35
1725—28 Vgl. Pantheon, S. 53a, das Kapitel: Quod humanum corpus dicitur Microcosmus, id est minor mundus. Vgl. ferner Hist, schol., Gn Cap. l (PL 198, 1055AB): . . . homo mundus dicitur, quia in se totius mundi imaginem repraesentat. Unde a Domino homo omnis creatura dictus est, et Graecus hominem Microcosmum, id est minorem mundum vocat.
Die >Historia Scholastica< als Quelle biblischer Stoffe im Mittelalter von
MARIA SHERWOOD-SMITH (OXFORD)
Die Bibel im Mittelalter, ähnlich wie die Bibel heute, bestand für Laien nicht aus einer Reihe von Texten innerhalb eines Kanons, sondern aus den Geschichten, die, teilweise wegen ihrer liturgischen Bedeutung und teilweise wegen ihrer Bildhaftigkeit, eine provisorische »Bibel« im Volksdenken bildeten. So formuliert JAMES H. MOREY, der die Rolle der >Historia Scholastica< in der Vermittlung biblischer Stoffe und in der Gestaltung dieser »Volksbibel« und deren Niederschlag in der mittelenglischen Literatur untersucht.1 Er fährt fort: »Prior to and even after full-scale Reformation translations, biblical material was disseminated in the vernaculars through sermons, homilies, commentaries, universal histories, picture Bibles, the drama, and a large corpus of biblical paraphrases. Each of these literary forms owes debts to the others, but a significant influence on them all, and especially those produced in thirteenth- and fourteenth-century France and England, is Peter Comestor's >Historia ScholasticaHistoria Scholastica* von den mittelalterlichen Autoren, die sie benutzt haben, in Deutschland und den Niederlanden wahrgenommen wurde. Es geht also um die folgenden Fragen: - Was hat man aus der >Historia Scholastica< übernommen? - Wie hat man sie angewandt? - Warum hat man sich gerade ihr zugewandt? - Wie hat man die eigene Rolle im Vermittlungsprozeß verstanden? Diese Fragen setzen einander natürlich wesentlich voraus und sind eng miteinander verbunden. Weil sie sich vielfach decken, werden sie nicht immer streng getrennt behandelt; das Schwergewicht liegt auf der ersten Frage. Diesen Fragen vorausgeschickt sei ein kurzer Abriß vom Leben und Werk Petrus Comestors, um in groben Zügen anzudeuten, was man überhaupt aus diesem Werk hätte schöpfen können. Petrus von Troyes, besser bekannt als Petrus »Comestor« oder »Manducator«, der Verschlinger, war von 1164 bis 1178 Kanzler von Notre Dame in ' JAMKS H. MORKY, Peter Comestor, biblical paraphrase, and the medieval popular bible, Speculum 68 (1993), S. 6-35, hier S. 6. ~ Morey [Anm. 1], S. 6.
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Maria Sherwood-Smith
Paris und lehrte dort bis 1169 Theologie. 1178 zog er sich ins Kloster Saint-Victor zurück, wo er kurz danach, am 22. Oktober jenes Jahres, verstarb. Um 1170, jedenfalls vor 1173, schrieb Petrus Comestor auf Verlangen seiner Kollegen das Werk, das heute als >Historia Scholastica< bekannt ist. Hierzu dienten ihm wahrscheinlich seine Vorlesungen als Basis, mindestens für seine Evangelienharmonie: Seine Vorlesungen zu den Evangelien sind in Form von reportationes teilweise überliefert und bieten einen wichtigen Blick in die Entstehungsgeschichte des neutestamentlichen Teils der >HistoriaHistoria Scholastica< wurde von Comestors Nachfolger im Kanzleramt, Petrus von Poitiers, durch das Hinzufügen der Apostelgeschichte ergänzt und ist immer mit ihr zusammen überliefert. Anders als in den schon existierenden Glossen lag der Schwerpunkt des Kommentars beim buchstäblichen Sinn der Schrift, mit dem Ziel, die historische Grundlage an Studenten zu vermitteln, so daß sie später möglicherweise zu den höheren Graden der geistlichen Bibeldeutung gelangen könnten. Hieran erkennt man den Einfluß der früheren Meister von SaintVictor, Hugo und Andreas, deren Werke zu Comestors Quellen zählten. Daß Petrus' Beiname als Verschlinger von gelehrten Werken reichlich verdient war, erkennt man erst recht, wenn man seinen Quellen nachzuspüren versucht. Die Lage ist noch unzureichend erforscht, aber schon beim heutigen Wissensstand ist es klar, daß Comestor eine beeindruckende Reihe von Autoritäten herangezogen hat. Da diese von Buch zu Buch verschieden und nur im Falle von Genesis und Exodus detailliert untersucht worden sind, können hier nur die Hauptquellen erwähnt werden, aus denen er durchgängig geschöpft hat. Die Hauptvorlage ist selbstverständlich die Vulgata, die weitgehend wörtlich, aber immer stillschweigend zitiert wird. Danach kommen als Hauptquelle die >Antiquitates< des jüdischen Geschichtsschreibers Flavius Josephus in Betracht, der im Gegensatz zur Vulgata öfters erwähnt wird. HEINZ SCHRECKENBERG spricht von Gleichrangigkeit unter diesen Quellen: »Josephus steht für Petrus als authentische Geschichtsquelle gleichrangig neben der Bibel und den bedeutendsten Kirchenvätern und wird von ihm für seine Darstellung fast synoptisch herangezogen.«3 Soweit sind sich alle bisherigen Forscher einig. Problematischer ist dagegen die unmittelbare Herkunft der apokryphen Legenden und Details aus 3
HEIM/. SCHRECKENBERG, Die Josephus-Flavius-Tradition in Antike und Mittelalter, Leiden 1972, S. 147.
Die >Historia Scholastics
155
der jüdischen exegetischen Tradition, die wesentlich zum Charakter der >Historia Scholastica< beitragen und einen großen Anteil an ihrem Reiz für ihre mittelalterlichen Rezipienten hatten. Die meisten dieser Stellen - Informationen über Schreibweisen, Bedeutungen, Etymologien, Grammatik, Textüberlieferung und Haggadah - sind in den Werken von Hieronymus nachweisbar, obwohl dieser nur selten von Comestor genannt wird; weitere entstammen den Werken von Hugo und besonders Andreas von Saint-Victor. Manche jüdischen Traditionen sind aber bei den uns überlieferten christlichen Schriftstellern vor Comestor nicht nachzuweisen, und man unterstellt - mit unterschiedlichem Maße an Überzeugung, — daß er vielleicht persönlich mit jüdischen Exegeten bekannt gewesen sei und diese Informationen mündlich übernommen haben könnte.4 Ebenfalls herangezogen worden sind - entweder direkt oder vermittelt durch die >Glossa Ordinaria< oder andere Werke — patristische Autoritäten wie Augustinus, Beda, Isidor von Sevilla und andere, die im Lehrplan der Artes liberales an den Schulen standen.5 Die >Historia Scholastica< wurde eines der beliebtesten Bücher des Mittelalters. Schon bei STEGMÜLLER sind mehr als zweihundertdreißig Handschriften in Bibliotheken überall in Europa, neun Inkunabeln, acht Drucke aus dem 16. Jahrhundert und drei weitere Drucke bis 1729 nachgewiesen.6 Sie wurde vielfach übersetzt und bearbeitet und auch von Autoren verschiedenartiger Werke als Quelle der biblischen Geschichte benutzt. Diese Feststellung führt zurück zum eigentlichen Thema, zur Rolle der >Historia Scholastica< in der Vermittlung von Bibelwissen, d. h. biblischen und apokryphen Geschichten und Hintergrundinformationen, an Laien. Wie hat sie die Vorstellung von der Bibel im Volksdenken geprägt? Erstens zur Frage, was man aus der >Historia Scholastica< übernommen hat. Dies ist natürlich von Gattung zu Gattung und von Werk zu Werk verschieden, aber es lassen sich doch einige allgemeine Tendenzen feststellen. Im folgenden werden vier Werke behandelt, Vertreter vier verschiedener Gattungen, vier verschiedene Möglichkeiten für Laien, an den biblischen Stoff zu kommen: Die sogenannten >Schwarzwälder PredigtenWeltchronik< Rudolfs von Ems, eine Verschronik der Heils- und Profangeschichte von einem bedeutenden literarischen Autor, die eine sehr große Nachwirkung in der mit4
Louis H. FEL.DMANN, The Jewish sources of Peter Comestor's commentary on Genesis in his Historia Scholastica, in: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg, hg. von DiKTRICH-At.EX KocH/HKRMANN LlCHTKNBKRGER, Göttingen 1993, S. 93-121. 5 SANDRA R. KARP, The >Histories< of Peter Comestor. A Study of Literal Scriptural Exegesis, (unveröffentlichte Dissertation, Tulane University, 1978. UMI), S. 129—224. 6 FRIF.DRICH STKGMÜLI.KR, Repertorium biblicum medii aevi, 11 Bde., Madrid 1950-1980, hier Bd. 4 (1954), S. 280-300.
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telhochdeutschen Literatur hatte; die >Scolastica< oder >Rijmbijbel< von Jacob van Maerlant, eine mittelniederländische Versbearbeitung der >Historia ScholasticaHistoriebijbel van 1360Bible historiale completeeHistoria Scholastica< handelt. Allerdings muß man bei diesen Werken sowie bei der >Historia Scholastica< selbst bedenken, daß die am leichtesten zugänglichen Ausgaben nicht immer Rücksicht nehmen auf die Änderungen und Entwicklungen, die die Werke im Laufe ihrer handschriftlichen Tradition erfahren haben.7 Die Verfasser der >Schwarzwälder Predigten< haben gelegentlich aus der >Historia Scholastica< geschöpft. Die Hauptquelle des Predigtjahrgangs sind die >Sermones de tempore< von Konrad von Sachsen, und das daraus entnommene Gerippe wird angefüllt mit biblischen Geschichten, deren Quelle meistens die vielleicht aus einem Lektionar exzerpierte Vulgata ist, manchmal aber auch die >Historia Scholastica< oder die >Aurora< des Petrus Riga, die auf der Grundlage der >Historia Scholastica< gedichtet wurde. Angesichts des Vorhergehenden würde man wahrscheinlich erwarten, daß es sich bei den Stellen aus der >Historia< vorwiegend um Erläuterungen oder Ergänzungen zur Bibel handeln würde, aber hierin wird man enttäuscht: In weitaus den meisten Fällen erkennt man den Einfluß Comestors nur in den Einzelheiten des Wortlauts; der Stoff selbst ist rein biblisch. Ein Beispiel davon findet man in der Geschichte von Jakob und Laban in der Predigt zum zweiten Sonntag nach Ostern:8 Dom. II post Pascha da lesen wir. de herre Jacob dem herren Laban vierzehen iar hat gedienet durch siner tochtero willen, de er aines tages sprach zem herren Laban. Da mihi uxores meas et liberos meos ut revertar ad terram meam. Er sprach gib mir min wirtinna. un miniu kint. de ich hain var in mines vater lant. Also bater in. de er im dannoch süben iar dienete. so woher im ze lone geben swaz er selbe wolti. un sprach, ich waiz wol. de mir got sinen segen durch dinen wille hat gegeben.
7
Ausgaben: Petrus Comestor, Historia Scholastica, PL 198, Sp. 1053—1644; >Schwarzwälder Predigteno FRAN/. KARI. GRIESHABER (Hg.), Deutsche Predigten des XIII. Jahrhunderts, 2 Bde., Stuttgart 1844-1846, Nachdr. Hildesheim/New York 1978; Rudolfs von Ems Weltchronik. Aus der Wernigeroder Handschrift hg. von GUSTAV EHRISMANN (DTM 20), Berlin 1915; >Scolasticac De Rijmbijbel van Jacob van Maerlanc, hg. von MAURITS GYSSP.I.ING (Corpus Middelnederlandse Teksten II, 3—4), Leiden 1983; >Historiebijbel van 1360c (ungedruckt): London, BL, Mss. Add. 15310-15311, in Auszügen hg. von CEBUS C. DE BRUIN, Her Oude Testament (Corpus Sacrae Scripturae Neerlandicae, Series Maior, Bde. 1—3), Leiden 1977-1978. 8 T30 »Ego sum pastor bonusHistoria Scholastics
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»Historia Scholastica< Cap. LXXVHI. De diversicoloribus virgis et fetibus. Finitis ergo annis quatuordecim servitii pro uxoribus, Jacob dixit socero suo: Da mihi uxores, et liberos meos, ut revertar ad terram meam. Et ait Laban: Inveniam gratiam in conspe(c}tu tuo, ut adhuc servias mihi septem annis, et constitue mercedem, quam dem tibi. Scio enim, quia propter te benedixit mihi Deus (Gen. XXX). Genesis 30 nato autem loseph dixit lacob socero suo dimitte me ut revertar in patriam et ad terram meam 2 ' da mihi uxores et liberos meos pro quibus servivi tibi ut abeam tu nosti servitutem qua servivi tibi 27 ait ei Laban inveniam gratiam in conspectu tuo experimento didici quod benedixerit mihi Deus propter te 28 constitue mercedem tuam quam dem tibi 29 at ille respondit tu nosti quomodo servierim tibi et quanta in manibus meis fuerit possessio tua 30 modicum habuisti antequam venirem et nunc dives effectus es benedixitque tibi Dominus [. . .]
25
Die deutsche Version mit ihrem »Bibelzitat« und die >Historia Scholastica< stehen näher zusammen; die Vulgata weicht in Einzelheiten ab. Aber im darauf folgenden Bericht darüber, wie Jakob aus den einfarbigen Schafen gesprenkelte züchtet, um auf diese Weise seinen Schwiegervater zu betrügen, übernimmt der Autor der Predigt nichts von Comestors ausführlichen Erklärungen zu dieser schwer verständlichen Schriftstelle. Im Predigtjahrgang kommt dieser Gebrauch der >Historia Scholastica< als leicht verkürzende, prägnante Wiedergabe der Schrift am häufigsten vor. Doch gibt es einige Fälle, wo sie anders eingesetzt wird. In der Erzählung der Geschichte Balaams in der Predigt zum Palmsonntag zum Beispiel übernimmt der Autor eine Deutung Comestors:9 Dom. in Palmis [. . .] Enmomon do sateloter sine eselinon unfur mit in. un do er also für üfdem wege. sich do hater sinen munt ferkeret. von der gäbe un von dez kunegez gehaizen. un trahtot wider sich selber wie er de volk mohte ferflachen. swie de were de ims got hete ferboten. Un do got den gedanch sach in sinem herzen, do sanier ainen engel. un der stunt für in in den weck mit ainem bldzen swerte. »Historia Scholastica< Cap. XXXII. De innere Balaam, et quod ei locuta est asina. [. . .] Mane strata asina profectus est cum eis: Et iratus est Dominus ei, stetitque angelus Domini, gladio evaginato, in via contra Balaam. Mutaverat enim propositum, et captus cupiditate promissorum, disponebat quomodo populo malediceret, licet prohibuisset Dominus. Josephus videtur velle quod Dominus iratus, quasi ironice dixerit ei: Vade cum eis. Quod quia non intellexit obstetit ei angelus.
9
T24 >Cum appropinquarets GRIESHABER II [Anm. 7], S. 130; Hist. Schol., Sp. 1237.
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Numeri 22 surrexit Balaam mane et strata asina profectus est cum eis 22 et iratus est Deus stetitque angelus Domini in via contra Balaam qui sedebat asinae et duos pueros habebat secum
21
Diese Stelle in der Vulgata ist erklärungsbedürftig, weil Gott Balaam befohlen hatte zu gehen und weil der Grund seines plötzlichen Zorns in der Bibel nicht deutlich ausgesprochen wird. Das Problem wird in der Predigt erklärt durch das Hinzufügen von Kommentarpassagen aus der >Historia ScholasticaHistoria Scholastica< recht genau:15 >Weltchronik< nu was in Sabareia 9225 der Moere kunegis tohter da besezzen, du hiez Tarbis. du gesach den degin wis Moysesin den werden man. ah in gesach mit ougin an, 9230 si begunde insinin minnin so hitzzen unde brinnen das si mit dem wisin man getrüg das mit ir botschaft an: wolter si ze wibe han, 9235 si wolte im machin undirtan beidu die stat unde das lant. das wart gelopt. >Historia Scholastica< Cap. VI De uxore Moysi Aethiopissa. [. . .] Quam cum, quia inexpugnabilis erat, diutius obsedisset, oculos suos injecit in eum Tarbis filia regis Aethiopum, et ex condicto tradidit ei civitatem, si duceret earn uxorem, et ita factum est. Inde est quod Maria et Aaron jurgati sunt adversus Moysen pro uxore ejus Aethiopissa (Num. XII).
Comestors an dieser Stelle unbenannte Quelle für den ersten Teil der Geschichte sind die >Antiquitates< des Josephus Flavius. Rudolf zitiert Josephus achtzehnmal namentlich, aber meistens ist nicht dieser, sondern Comestor die direkte Quelle. Er zitiert auch andere Quellenverweise Comestors, wie zum Beispiel auf Pseudo-Methodius oder Pseudo-Philon. In diesen Fällen fungiert die >Historia Scholastica« also als Vermittler nicht nur von Information, sondern auch von Autorität. Sie hat hier eine Beglaubigungsfunktion. Die Fortsetzung der Geschichte gehört zu den Stellen, die man weder bei Josephus noch bei früheren christlichen Autoren hat nachweisen können. Das Beispiel zeigt, wie verschiedene Quellen durch Comestor vereinigt und in dieser Synthese weitervermittelt werden an die späteren Autoren, die aus seinem Werk schöpfen. Tharbis will ihren Gatten nicht nach Ägypten zurückkehren lassen, und er muß sie mit einer Zauberlist zwingen, ihre Liebe zu ihm zu vergessen, so daß er nach Hause fahren kann: >Weltchronik< nu hater alse wisen sin das er wol mit den listen sin 9255 meistern künde ein vingerlin mit solichir meistirschaft 'Hist. Schol., Sp. 1144.
Die >Historia Scholastica
Historia Scholastica< Proinde Moyses tanquam vir peritus astrorum duas imagines sculpsit in gemmis hujus efficaciae, ut altera memoriam, altera oblivionem conferred Cumque paribus annulis eas inseruisset, alterum, scilicet oblivionis annulum, uxori praebuit; alterum ipse tulit, ut sic pari amore, sic paribus annulis insignirentur. Coepit ergo mulier amoris viri oblivisci, et tandem libere in Aegyptum regressus est.
Die >Historia Scholastica< ist für Rudolf nicht nur Quelle jüdischer Traditionen, sondern auch Verweis auf die heidnische Geschichte. Dies tritt besonders deutlich hervor in der Erzählung der Ereignisse aus dem Buch der Richter und den Büchern der Könige, die bei Comestor durch eine Häufung der als Incidentia bezeichneten Andeutungen vor allem auf die griechische Geschichte (bzw. Mythen) gekennzeichnet sind. Hier schreibt Rudolf viel ausführlicher als Comestor, aber er berichtet meistens über die gleichen Tatsachen, so daß man annehmen kann, daß ihm die >Historia Scholastica< hier den Anstoß gegeben hat, um die Geschichten aus anderen, noch unbekannten Quellen vollständig zu erzählen. Bei den >Schwarzwälder Predigten< war die >Historia Scholastica< nur gelegentlich eine Quelle, bei der >Weltchronik< Rudolfs von Ems ist sie sogar zu den Hauptquellen zu rechnen; für die >Scolastica< des Jacob van Maerlant ist sie, wie man dem Titel entnehmen kann, gar die Hauptquelle. Die >Scolastica< oder >Rijmbijbel< ist eine im Jahre 1271 vollendete Versbearbeitung der >Historia Scholastica< auf Mittelniederländisch. Sie ist die einzige volkssprachliche Bearbeitung, die die ganze >Historia Scholastica< von Genesis bis Christi Himmelfahrt wiedergibt, die den Schluß von Comestors Originaltext bildete.16 Man hat nachgerechnet, daß durchschnittlich 79% der >Historia< in Maerlants Werk aufgenommen wurde.17 In diesem Fall gilt es also eher zu fragen, was nicht übernommen wurde. Allgemein kann man sagen, daß Maerlant sich auf die Erzählung konzentriert und den gelehrten Kommentar wegläßt. Meistens übergeht er die technischen Anmerkungen und Quellen16
JAAP VAN MOOI.KNBROEK, Maerlants Scolastica: een Waagstuk?, in: Scolastica willic entbinden. Over de Rijmbijbel van Jacob van Maerlant, hg. von J. VAN MOOI.ENBROEK/MAAIKE MULDER, Hilversum 1991, S. 13-34, hier S. 19. 17 PETRA BERENDRECHT, Maerlants »Scolastica« (c.q. »Rijmbijbel«) in relatie tot zijn directe bron. Een verkenning, TNTL 108 (1992), S. 2-31, hier S. 7.
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Maria Sherwood-Smith
verweise, die Comestor über den ganzen Text verstreut, ebenso wie seine Polemiken zu theologischen Streitfragen. Wo mehrere Interpretationen einer Stelle zur Auswahl vorliegen, hält er sich konsequent an eine. Öfters bewahrt er aber die etymologischen Ausführungen und transponiert sie sogar zusätzlich ins Mittelniederländische. Ein Beispiel für dieses Verfahren ist die Deutung des Wortes firmament im Schöpfungsbericht:18 >Scolastica< 175 Firmament hetet bi namen, omme dat hem vaste haut te samen, ende het die watre ahoe hout, die bauen hem siin met ghewoud, dat sit niet ne commen needer. 180 wat sii daer doen? — antwordic weeder: dat ne weet niemene dan god ons here; sonder dat sulc in sine leere seghet dat die dau danen coemt. Dit firmament hevet hi ghenoemt, 185 spreket die boec, »hemel« bi namen, omme dat beaect al te samen, ende verhemelt die weerelt al: water, vier, berch ende dal. >Historia Scholastica< Cap. IV. De opere secundae diet. [. . .] Et dicitur firmamentum, non tantum propter sui soliditatem, sed quia terminus est aquarum, quae super ipsum sunt, firmus et intransgressibilis. Dicitur etiam coelum, quia celat, id est tegit omnia invmbilia. [. . .] Cur vero ibi sint Deus novit, nisi quod quidam autumant inde rorem descendere in aestate.
Maerlant erwähnt jüdische Gebräuche meistens nur, wenn sie die christliche Lebensweise beeinflußt haben. Am Anfang von Leviticus gibt er seine Gründe an, warum er die Opferriten, die für Laien schwer verständlich wären, prinzipiell nicht beschreiben möchte: >Scolastica< Hier gaet an Leuiticus, dats Moyses derde boec. Maer weet wel dat mine roec 5215 de sacrificien te bescriuene; het wäre mi pijnlijc te bedriuene, ende leec volc soud qualic verstaen: ter ystörten willic gaen.
Comestors Prologe zu den verschiedenen Bibelbüchern läßt er fast immer ganz aus. Wie Rudolf von Ems konzentriert er sich öfters auf andere Aspekte der Profangeschichte als Comestor, besonders wo er den Stoff in seinen 18
>Scolastica< zitiert nach der Ausgabe von GYSSEUNG [Anm. 7], aber mit Ergänzung der Interpunktion; Hist. Schol., Sp. 1058. KOKN GOUDRIAAN, Maerlants brennen in de Scolastica: Comestor en de anderen, in: MoOLENBROF.K/Mui.DKR [Anm. 16], S. 35-51, hier S. 40.
Die >Historia Scholastics
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eigenen früheren Werken, d. h. seinem Troja- oder Alexanderroman, schon behandelt hat. Er interessiert sich wie Rudolf sehr für den primus inventor. Auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Ansatz der beiden Autoren komme ich im folgenden noch zurück. Die mittelniederländische >Historiebijbel van 1360< besteht aus einer genauen Übersetzung des alten Testaments in der Fassung der Vulgata mit Einfügung einer ziemlich freien Übersetzung der >Historia Scholastica1360 HBSächsische WeltchronikSächsische Weltchronik< zwischen Werken der lateinischen chronistischen Tradition, auf die ich jetzt zu sprechen komme, und HvM gespielt haben muß.36 4. Frutolf-Ekkehard, Petrus Comestor und Gottfried von Viterbo Die Chronik des Frutolf von Michelsberg, fortgesetzt von Ekkehard von Aura (vor 1125),37 fußt auf Eusebius und hat der >Sächsischen Weltchronik< 35 36
WKIIAND [Anm. 33], Anm. zur Stelle, korrigiert diese Zahl in 2656 und gibt Ekkehard [Anm. 37] als Quelle an.
Auch die übermäßig genauen Zeitangaben mit Monaten und Tagen für Ereignisse, die auf den Tempelbau hin kalibriert werden, wie wir sie bereits bei HvM gesehen haben, haben in der >Sächsischen Weltchronik« ihre Quelle. BODMANN [Anm. 4], S. 68, nennt die >Antiquitates Judaicae< des Flavius Josephus als Ausgangspunkt für diese Tradition. 37 Ekkehard von Aura, Chronicon universale (MGH SS 6), Hannover 1844, S. 33-265. Siehe 2VL II, Sp. 445.
176
Frank Shaw
eindeutig als Quelle gedient. Ein fünfgliedriges Weltalterschema läßt sich aus ihm herauslösen: Weltalterzahl 1. 2. 3.
4.
5.
Zeitspanne
Von Adam bis zur Sintflut Von der Sintflut bis Abraham Von Abraham bis David
Von David bis zur babylon. Gefangenschaft Von der babylon. Gefangenschaft bis Christi Geburt Summe
Dauer nach LXX
Seitenangabe nach MGH
2262
35
922 (zu eruieren aus der Subtraktion 3184-2262) 940 (zu eruieren aus der Subtraktion 2888-1948, letzteres die Summe von l und 2 iuxttt Hebraicam veritatem) 486 (zu eruieren aus der Subtraktion 3374-2888)
36 45
54
588 (zu eruieren aus der Subtraktion 3962-3374)
95
5201
95
Frutolf-Ekkehard ist sicherlich - wenn auch auf indirekte Weise — für HsvM Chronometrie viel einflußreicher gewesen als die zwei lateinischen Chroniken, die HvM-Hss. selber als Quellen anführen, nämlich die >Historia scholastica< des Petrus Comestor (vollendet 1169-73)38 und Gottfrieds von Viterbo >Pantheon< (l 187-90).39 Obwohl von HvM »mehrmals als Quelle genannt«,40 hat die >Historia scholastica< Heinrich nur wenig Material für sein Zeitgerüst geliefert. Sie kennt nur zwei Weltalter, das erste von Adam bis Noah41 und ein zweites, das mit Thare endet.42 Von hier an werden keine Weltalter mehr aufgezählt. Das nächste wichtige Ereignis ist Salomos Tempelbau.43 Das >Pantheon< Gottfrieds von Viterbo, ebenfalls häufig als Quelle angeführt,44 bleibt ein chronometrisches Ärgernis. Es zählt nur das erste 38
Petrus Comestor, Historia scholastica, PL 198, Sp. 1053-1644. Gottfried von Viterbo, Pantheon, hg. von BUKCAKOUS GOITHKI.HFUS S I'RUVIUS, Regensburg 1726. 40 GICHTKI. [Anm. 16], S. 284, führt den Anfang von II Esr (167vb in seiner Hs., nämlich H8) als Beleg an. An der gleichen Stelle (II Esr) führen auch H3 (243"), H4 (346vb), H15 (163vb) und H17 (260rb) die >Historia scholastica< als Quelle an. Ein weiterer Hinweis steht am Anfang des dritten Weltalters bei H17 (55 vb ) und möglicherweise bei H l 5 (20rb - abgerissene Ecke). Ich konnte auf diese Frage hin nur die vier Hss. H3, H4, Hl 5 und H17 eingehender untersuchen. 41 Genesis, Kap. xxx, Sp. 1081. 42 Genesis, Kap. xli, Sp. 1091. 43 III Regum, Kap. ix, Sp. 1354. 44 H2 ( , H3 (l v a ), H4 (2vb), H9 (2rc), H12 ( ), H17 (7va) und H18 = Ms. germ. 2" 1107 (6vb). H8 fehlt der Anfang; H 5 noch unklar; H13 = Cgm 279 nicht.
39
Chronometrie und Pseudochronometrie
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Weltalter (implizit) und das zweite auf (S. 63) und bringt wiederholt Zeitrechnungen zur zeitlichen Präzisierung fast jedes Ereignisses (Adam, Noah, Turmbau zu Babel, Ninus, Abraham, Moses, die Zerstörung Trojas, die Gründung Roms, Alexander der Große, Christi Geburt), die aber ein heilloses Durcheinander ergeben, wenn man sie aufeinander abzustimmen versucht.45 IV
Immer latent vorhanden in diesen Weltalterschemata (und in meinen Überlegungen dazu) ist das Phänomen der Synchronismen. Die Koordinierung der biblischen Geschichte mit der heidnischen geht zurück auf Eusebius und wird für das hohe Mittelalter durch Ekkehards >Chronicon universale« transportiert.46 Diese synchronistische Koordinierung gibt Anlaß zu den Inzidentien bei HvM, die das ganze Werk durchziehen und ihr genaues Vorbild in der >Historia scholastica< haben. Sie spielen sogar eine wichtige Rolle in allen mittelalterlichen Chronologien, denn sie sind »zur Berechnung der Zeiten unabdingbar nötig, wenn man keine Jahreszahlen kennt«. 47 Ich gehe aber an dieser Stelle auf dieses weite Thema nicht ein und beschränke mich statt dessen auf zwei synchronistische Einzelheiten, die für HvM von Belang sind, nämlich die aus der auf Eusebius-Hieronymus fußenden Tabelle (S. 174) ersichtlichen zeitlichen Gleichsetzungen erstens der Geburt Abrahams mit der Regierungszeit des Assyrerkönigs Ninus und zweitens der Neueinweihung des Tempels in Jerusalem mit der Herrschaft des Perserkönigs Darius. Diese beiden Synchronismen sind deshalb von Interesse, weil die jeweiligen Heidenkönige (Ninus und Darius) eine wichtige Rolle in der Vier-Monarchien-Lehre spielen, Ninus als Repräsentant des ersten Weltreiches (des assyro-babylonischen), Darius als Repräsentant des zweiten (des medo-persischen).48 Letzterer (Darius) hat biblische Autorität: Aus II Esr 4:24 geht hervor, daß die Grundsteinlegung zum Wiederaufbau des von Nebukadnezar zerstörten Tempels im zweiten Regierungsjahr des Darius stattfand.49 Ninus hat eine einmalige Funktion z. B. in Gottfrieds >Pantheon< als der einzige Heidenkönig, der konsequent als Fixpunkt bei der zeitlichen Einordnung eines Weltalters oder eines sonstigen Ereignisses herangezogen wird. 4
' Nur zum Teil durch die Annahme zu beheben, daß Gottfried für die beiden ersten Weltalter etwas wahllos zwischen Septuagintzahlen und Zahlen nach Hieronymus hin- und herwechseh. 46 Ekkehard selbst bezeichnet seine Chronik als Epythome (id est abbreviated) Eusebii de sequent! opere (S. 33 der zitierten Ausgabe [Anm. 37]). 47 BODMANN [Anm. 4], S. 109. 48 Es geht hier um die in ihren Ursprüngen von der Weltalterlehre ganz unabhängige mittelalterliche Geschichtsauffassung, die, auf den zwei Danielschen Träumen (Dn 4 und 7) fußend, den Hergang der Geschichte in vier zeitlich aufeinanderfolgende Weltreiche, das assyrisch-babylonische, das medo-persische, das griechische und das römische, teilte. ''' Die >Historia scholastica< berichtet dies in Judith, Kap. iii, Sp. 1492.
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Frank Shaw
Der Grund für diese Auszeichnung ist bei Frutolf-Ekkehard nachzulesen: Für die Zeit zwischen Adam und der Sintflut und zwischen dieser und Abraham findet man nulla penitus nee Greca nee barbara, et ut in commune loquar, nulla gentilis (. . .) historia, mit dem Ergebnis, daß alle vorchristlichen Autoren darauf angewiesen waren, ihre Geschichtsschreibung mit Ninus beginnen zu lassen. Die Christen aber konnten diese »Lücke« mit der hebräischen Geschichte ausfüllen.50 Darüber hinaus hatte es mit Ninus eine ganz besondere Bewandtnis. Die zeitliche Einordnung seiner Geburt stand in einem eigenartigen Verhältnis zur Geburt Christi. Denn nach Eusebius fielen die Geburt Abrahams ins 43. Jahr des Assyrerkönigs Ninus und die Geburt Christi ins 45. Jahr des Kaisers Augustus51 — ein Synchronismus, der es erlaubt, nicht nur zwischen dem Anfang des letzten Weltreiches (des römischen) und dem Anfang des letzten Weltalters (des christlichen), sondern auch zwischen dem Anfang des dritten Weltalters (Abraham) und dem Anfang des ersten Weltreiches (Ninus) eine Beziehung herzustellen.52 Dem Parallelismus zwischen diesen beiden Synchronismen kam die Ähnlichkeit zwischen den Regierungsjahren des jeweiligen Herrschers (43 im Falle von Ninus, 45 im Falle von Augustus) zugute. Umso erstaunlicher also, daß dieser Ninus in den Weltalter-Zählungen einiger HvM-Hss. verlorengegangen ist. Während in der >Christherre-Chronik< die Geburt Abrahams mit dem zu erwartenden Zeitkorrelat Do Ninus vumf vn(d) vumfzic iar l Sin crone hatte getragen (v. 4724f.) eingeleitet wird, ist die Stelle in einigen HvM-Hss. zu dem unsinnigen Satz Daz waz pey der zeit für war I do domin(us) fünf wunden gar l Sein chron het getragen entstellt worden.53 Auf diese Weise ist einigen HvM-Hss. ein wichtiger Synchronismus verlorengegangen.54
V Abschließend wende ich mich der Neuen Ee zu und untersuche kurz das in diesem Teil anzutreffende Zeitgerüst, das schlichtweg auf einer Aufzählung der römischen Kaiser und Päpste beruht. 55 Die Tradition, eine kontinuier50
Ekkehard [Anm. 37], 34. l Off. Nach Lc 3:1 und 23 fing die Predigertätigkeit Christi im 15. Regierungsjahr des Tiberius an, als er selbst 30 Jahre alt war. Somit wurde Christus im 45. Regierungsjahr des Augustus geboren. Eigentlich wurde Augustus erst 27 v. Chr. Kaiser. Aber man rechnete gemeinhin von der Ermordung Cäsars (44 v. Chr.) an. 52 BOOMANN [Anm. 4], S. 109 und 14l, mit etwas abweichenden Zahlen. 53 So H3 (37va). Den Wortlaut der >Christherre-Chronik< behalten Hl5 (19 VC ) und H17 (55vb56ra) fast unverändert bei. H4 (53vb) verliert die Zeitangabe, behält aber Ninus bei. Meine Auswahl von H3, H4, H l 5 und H17 ist willkürlich. 54 In einer Hs. aus Linz, die GISELA KORNRUMPF [Anm. 3], S. 499, den »älteste(n) Repräsentant(en) der sog. Erweiterten Christeherre-Chronik«« nennt, also eine Art Vorstufe zu HvM, ist die Stelle auf ähnliche Weise wie in H3 verstümmelt worden. Einige >Christherre-ChronikKaiserchronikKaiserchronik< jedoch im Grunde sehr unhistorisch verfährt und unter den römischen Kaisern eine sehr willkürliche Auswahl trifft, strebt HvM Vollständigkeit an, wofür ihm die lateinische chronistische Tradition (Gottfrieds >PantheonPantheon< als Beispiel. Dieses teilt die Kaisergeschichte in Kapitel. Das erste Kapitel führt die römischen Kaiser von Augustus, dem ersten, bis Maxentius, implizit dem 33., auf, das zweite die griechischen von Konstantin I. (dem 34.) bis Konstantin V. (dem 65.) und das dritte die fränkischen, unerklärlicherweise mit Leo IV. (dem 66.) anfangend, bis hin zu Heinrich VI. (dem 89.).57 Diese Kapiteleinteilung spiegelt offensichtlich den translatio-Gedanken wider (Römer - Griechen - Franken), wobei sowohl Gottfried als auch HvM zwischen Konstantin dem Großen und Karl dem Großen fast ausschließlich oströmische Kaiser aufzählt und die weströmischen so gut wie völlig unberücksichtigt läßt. Es besteht keine Einigkeit darüber, ob Cäsar oder Augustus der erste Kaiser war. Mit anderen Worten, nicht alle späteren volkssprachigen Chronisten sind dem >KaiserchronikHistoria scholasticaSächsischen Weltchronik< wird Cäsar zwar Kaiser genannt (87.28), aus dem Fortgang der Erzählung jedoch ist eindeutig darauf zu schließen, daß Augustus trotzdem an erster Stelle rangiert. Wie zu erwarten, gehen die einzelnen HvM-Hss. auseinander in der Behandlung dieser Prioritätsfrage.59 An einer Stelle, nämlich in der Rubrik zum Kapitel über die drei Kaiser Justinian, Leontius und Tiberius II., wird die Zählung >78. Kaiser von Augusto< mißverstanden, als sei Augustus einer von vier (statt drei) Kaisern, um die es in dieser Rubrik ginge, mit dem Ergebnis, daß er mitgezählt wird.60 Da die ersten römischen Kaiser Augustus und Tiberius Zeitgenossen Christi sind und sogar im Neuen Testament erwähnt werden (s. o.), finden sie sich bei HvM in die Geschichte des Lebens Christi eingebettet, mit der %
Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von EDWARD SCHRÖDER (MGH, Deutsche Chroniken, Bd. 1), Hannover 1895 [Neudruck 1964]. 1)1 Die Zahlen bei Gottfried sind relativ konsistent. Ich habe sie mit denjenigen in H3 und H l 5 verglichen, wo sehr willkürlich mit ihnen umgesprungen wird (Sprung von 44 auf 55 zwischen Konstantin I. und seinem Vorgänger Constantius Chlorus, wieder ein Sprung von 46 auf 57 zwischen Honorius und Theodosius II.). 58 BODMANN [Anm. 4], S. 136. "Augustus: Hl, H2, H3 und H4; Cäsar: H8, H9, H10, H12, H15 und H17. 60 H4 (42 3) und H9 (297VC). Besonders interessant, da H9 eine »Cäsar«-Hs. ist; s. Anm. 61.
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die Neue Ee anfängt. In Rubriken eigens erwähnte und zeitlich lokalisierte Kaiser fangen erst mit Caligula (durchweg Gaius genannt) an. Eine durchgehende Zählung von da an bis zu Friedrich II. erreichen nur zwei Hss., H9, wo Friedrich als 97. Kaiser, und H15> wo er als der 105. numeriert wird. Keine andere Hs. erreicht diese Vollständigkeit.61 Es ist vielleicht als Folge dieses Ineinandergreifens der römischen und neutestamentlichen Geschichte zu werten, daß gerade die Geburt Christi nicht nur, wie zu erwarten wäre, auf die vorhergehenden alttestamentlichen Weltalter hin kalibriert wird, sondern auch mit einer einmaligen Datierung ab urbe condita versehen wird (auf diese Diskrepanz wies ich bereits oben, S. 169, hin). Allerdings muß hier eingeräumt werden, daß die lateinische Chronistik, vielleicht aus Gründen der Emphase, gern eine ganze Reihe von Zeitbestimmungen zur Geburt Christi aufführt, darunter ab urbe condita und eine Zählung nach Olympiaden, so etwa Frutolf-Ekkehard (S. 95) und Gottfried von Viterbo (S. 250). Auch darf nicht übersehen werden, daß viele Chroniken ab urbe conditaneben anno nfomz'wz-Datierungen bis weit in die Neuzeit hinein beibehalten, z. B. die >Sächsische Weltchronikmacht sie irren< auf. Hier ist die Konstruktion dem Hebräischen nachgeformt, wo das Verb kausativ ist. Überhaupt sind mit vorgebildete Verben in dieser Übersetzungssprache sehr häufig. Bei den Substantiven ist die Zahl der Feminin-Abstrakta auf -nis und -ung groß, z. B. von brüchnis2* >vor dem Verderbens ir vor-giftnisu >ihr Gifts miin lernung1'' >meine Rededer (fliegenden) Engel· (H96, P, wobei >fliegend< aus dem folgenden Wort gezogen ist). Interpretierendem Übersetzen liegt oft die Aussage einer rabbinischen Autorität des Mittelalters zugrunde. Das überraschendste Beispiel dafür im lob ist die Wiedergabe der Wendung " , wörtlich >Steine des Feldes< in 5,23: In der jiddischen Tradition ist dafür die Angabe >Werwölfe< fest27 den wer-wölvin K7, dän wärwolwen K6, wer-wolch* des weit B, ber-bolf Lo, wer-wolef H96,
Die Bibelübersetzung ins Jiddische
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deutlich eine Vorstellung, die nur in Frankreich oder Deutschland zustande gekommen sein kann. Für das Einwirken des Thalmud liefert der Satz über den Aufbruch der Freunde lobs Hi 2,11 ein gutes Beispiel. Woher wußten die Freunde von lobs Unglück? Im Thalmud ist eine Erklärung, daß sie (magische) Kronen hatten, auf denen jeder der drei Freunde lob sehen konnte.28 Das Berliner Glossar hat nun an dieser Stelle das hebräische Lemma X'H'jpDO^XD bispaklaria, das auf lateinischem specularia Spiegelartiges; Fensterscheibe< beruht, und dafür die jiddische Glosse in ain sbigd. 3.2 Eine naheliegende Frage ist die nach der Leistung der einzelnen Übersetzer, denen wir in den Glossaren und Übersetzungen begegnen. Vorläufig fehlen leider noch alle Voraussetzungen für eine angemessene Beurteilung der Übersetzungsleistung. Zunächst müssen die einzelnen Texte und Glossare auf die zugrunde liegenden Regeln und deren Umsetzung in der Praxis untersucht werden. Daß dabei der funktionale Aspekt von großer Bedeutung ist, versteht sich: Ist eine Übersetzung, wie bei den Glossaren selbstverständlich, nur als Hilfe beim Verstehen des Urtextes Wort für Wort gedacht, oder ist ein für sich lesbarer Text angestrebt? Geht es nur um eine philologische Umsetzung oder auch um die Auslegung? Erst wenn diese Untersuchungen der Übersetzungsweise erfolgt sind, kann über die Leistung sachkundig geurteilt werden.
28
ber-welf H109, wen-wolf P. Die Schreibungen lassen vermuten, daß die Vokabel schon frühzeitig nicht mehr verstanden worden ist. Baba Bathra I6a.
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Walter Roll
ANHANG Übersicht über die Überlieferung I: Thora
II: Propheten
III: Schriften
K7 K6 Le
B K7 K6 Le
1. Alte Glossare
K7 K6 Le
2. Übersetzungen Handschriften, 15. Jh.: Add. 18694
Bin 310A: PS K8: PS, Hi, Prv
Handschriften, 16. Jh.. Add. 18694
Chm 152 Parma l
Bin 691 Opp 19
Bin 691: Hph
Parma: PS Parma 1: 5Meg Paris: Cant H181: PS, Prv Add. 27071: 5Meg Basel: Hi, Prov Chm 306: Hi
Drucke, 16. Jh.: Konst. 1544 Augsb. 1544 Prag 1553: Ex Crem. 1560 Basel 1583
Konst. 1544: Hph Augsb. 1544: Hph Prag 1553: Ez Crem. 1560: Hph Basel 1583: Hph
Krakau 1586: Jes
Konst. 1544: 5Meg Augsb. 1544: 5Meg Prag 1553: Cant Crem. 1560: 5Meg Basel 1583: 5Meg Elia Lev. 1545: PS Elia Lev. 1558: PS Elia Lev. 1562: PS Krakau 1579: Cant Krakau 1582: Prv Prag 1597: Hi
Die Bibelübersetzung ins Jiddische
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Liste der Abkürzungen Add. 18694 Add. 27071 B
London, BL, Ms. Add. 18694 London, BL, Ms. Add. 27071 Berlin, SBB-PK, Ms. or. qu. 701, Ende des 14. Jh.s, ca. 1750 >IobIobIobIobIobIobIobIobIobIobIobNarrenschiff< (London 1509) von hote ylles (a. h. »heißen KrankheitenCongratulaminiHeiligenleben< (Straßburg 1510) heißt es nämlich: Der heilig Herr sant Fiacrius ist genedig zu mörchingen im westerich (des leben und heiligkeit haben wir zu diesemmal nit eigentlich mügen beschryben, wie er gestorben oder gemartert ist, wiewol glaublich und auch erschyenen ist, das er ein heilig leben hat gefiirt, und wunderlich umb got verdienet), welcher mensch der in eret jnniclich, das er in wöl behüten vor der schweren kranckheit der blatern und wartzen, die leider zu dieser Zeit fast regierent. Nun bitten wir den lieben heiligen Fiacrium, daß er unser sey gegen got eingedenck, und uns helffum got den almechtigen erwerben, daß wir auch besitzen nach disem das ewig lebend
Schon einige Jahre früher, 1503, stand in der von Brant korrigierten deutschen Fassung des vielgebrauchten Gebetbuches >Ortulus animae< ein Gebet mit der Überschrift Ein Gebet von sant Fyaksen der gnedig ist zu mörchingen Im Westerych. Es lautet: Den engel vor dem bösen ding Wöll vns gott senden gar gering Das er vns zu und by sol ston Das vns gott nimmer wall verlon. Herr Gott der durch dein miltikeit Deinen dienern nie nüt hast verseif Sunder sy höreßgendiclich [d. h. gnedidich] Bermhertziger gott wir bitten dich Du wollest durch sant Fyacks willen Die grüsentlich blatern stillen Das wir auch hie uffdiser erden Vor zyt nit hingenummen werden Ee wir wolenden iares zal In disem armen iomertal Behüt vns herr in sant Fiacks namen Vor den blatern vnd dein zorn Versi. Eer u. Würdigkeit, Lob und Danckbarkeit sy dir bereit. Coll. O almechtige dryualtikeit für die gnad und Seligkeit in welcher der heilig bychtiger sant Fiacks würt erfröwet: der da durch sein groß verdienen von dir hat erworben sunder gnad zu bitte für vnsere pestilentzige krankheit der blatern und wartzen. Wer in anrüfft mit oppfer und innikeit dem wil er erlangen hie in zyt lybliche gesuntheit vnnd ewige Seligkeit Amen.40 38 39 40
PFI.KGKR [Anm. 13], S. 170. Zit. nach PH.KGKR [Anm. 13], S. 170. Zit. nach PH.KGKR [Anm. 13], S. 170f. PH.KGKR weist daraufhin, daß eine spätere Ausgabe, Ortulus anime, denuo repurgatum, Lyon 1549, fol. 154', ebenfalls eine >Oratio de S. Fiacrio< enthält.
Alte Heilige, neue Krankheiten
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Wie lange sich der Fiakrius-Kult in Mörchingen hielt, ist nicht bekannt. PFLEGER jedenfalls sagt, er habe in der lokalgeschichtlichen Literatur über Mörchingen keine späteren Zeugnisse einer Fiakrius-Verehrung dort finden können. Dennoch sei der Kult offenbar auch im Bistum Konstanz bekannt gewesen, denn am 15. September 1513 teile der Abt des ehemaligen Zisterzienserklosters Tennenbach in einem Visitationsbericht über die Abtei Baumgarten bei Schlettstadt beiläufig mit, der hl. Fiakrius werde in seinem Vaterlande allgemein um Beseitigung der Blattern angerufen: Sanctus enim Fiacrius in patria nostra fro pustularum morbo amovendo est intercessor vulgo invocatus.4] Ein letztes Zeugnis zum Fiakrius-Kult leitet zu einem weiteren Nothelfer über. In einem handschriftlichen Gebetbuch wohl aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, das sich laut PFLEGER (S. 171) im Museum für elsässischc Altertumskunde in Straßburg befand, findet sich ein gut gebet ßir die bösen blaterenn. Es lautet: Allmechtiger Ewiger gott Ein herr des hymels vnd enrichs, der du den gütigen Job durch den feind des menschlichen geschlecktes mit aller Schweresten vnd grusamesten geschweren, mit welchen kein mensch me gestrafft ward, gepinniget zu werden verhengt hast vnd mit solcher siner glider Verletzung Verbindung vnd zusamenzwingung dz er von den solen siner ßis bis in die scheitet verseert was, SoLhen schmertzen die von Im von siner grossen gedult wegen widerumb genomen hast, Darumb o schopfer hymels vnd der erden Ich bitt dich du wellest von mir dise geschwere der blateren nemen und laus mich armen vnwürdigen sünder mit demselben nit vermeyliget werden, Sunder auch vmb die verdienst vnd bitt des lieben heiligen Sancti Fiacrji wollest mich durch din unussprechenlich barmhertzikeit von gemelter diser aller grusamester plag erlösen. O heiliger herr Sant Fiacrius Erwürbe mir mit dinem guten gebett gegen gott dem allmechtigen vatter und behüt mich vnder diner beschirmung vor dem Engel der mit genanter plag thut straffen. Der du mit got dem vatter dem sun vnd dem heiligen geist lebtest vnd regierest in Ewigkeit on end Amen.,42
Hiob Dieses Gebet verbindet den Namen des Fiakrius mit dem des frommen Hiob. Hiobs Name findet sich in vielen Martyrologien, und im Osten wie im Westen wurden ihm mehrere Kirchen geweiht. Ein deutsches Beispiel dafür ist die Kapelle zu St. Jobs bei Weiden in der Erzdiözese Köln.43 Um 1500 wird Hiob als christlicher Heiliger und hilfreicher Patron gesehen, und in späterer Zeit galt er auch in den Südostalpenländern als Schutzherr gegen Furunkulose, Blattern, Geschwüre, Syphilis wie auch Hautkrankheiten überhaupt.44 In französischen Quellen aus den Jahren 1498 und 1499 wird 41
PFLEGER [Anm. 13], S. 172. Zit. nach PFLEGER [Anm. 13], S. 171f. 43 SAMSON [Anm. 21], S. 227f. 44 Siehe ELFRIEDE GRABNH.R, Grundzüge einer ostalpinen Volksmedizin, WSB 457 (= Mitteilungen des Instituts für Gegenwartskunde 16), Wien 1985, S. 253. Zu sonstigen Belegen s. HANNS BÄCHTOLD-STÄUBLI (Hg.), Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin/Leipzig 192742, IV, Sp. 68. 42
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die Syphilis mal Monseigneur saint Job bezeichnet.45 Schon in einem um 1497 bei Johann Winterburger in Wien gedruckten Gebet gegen die Syphilis wird seiner gedacht, und zwar mit Bezug auf Frankreich. Der Text, der an einigen Stellen leider stark beschädigt ist, lautet: O Herr hymels vnd der erden der du den gdultigen tob durch verhengnuß liesest slahen Durch den veint des menschen mit den hastigen platern So die kain mensch nie gewan mit so grosser leng der glider von fueß'piß'auf die schaitln verletzt ward. Soliche plag widerumb von Jm auf gehaben ward Durch [se]in grase gedult erman ich dich sch\öpf\er hymels vnd der er[de]n: des frids mit Noe. Der verheissung Abrahe Des Jura[m\entzs nach Ordnung Melchisedech Der erhebung Simons: den du allen des alten Testamentzs gelaist hast. Das du \d~i\enen beyden heiligen namen geschworen hast ain ewigkait. Heb auff disse plag der platern Mala franczosa genant, und faß mich armen sunder darmit nit vermakeln. Gedenck der [he] iligen versonung mit Noe zwissen dein vnd dem menschen dit sintfluß nymer zugestatten. Gedenck Abrahams pittung gegen Sodoma vnnd Gemorra vnd erloss mich vor solicher genierlicher grusamlicher plag. Durch diese heilige ermanung vnd vnzuerbruchenliche Parmhertzigkait behuet vnd beschierm mich vnter deim schierm vor den schlackenden engein diser plag. Der du fist [. . .] der Uatter vnd der Sun vnd mit dem heiligen Geist herschen von weit zu weit. Amen. Ditz gepet ist guet vnd bewert für die platern Malafrantzosa genant Und ist nemlich gefunden worden Jn einem zuerstorten [= zerstörten] Kloster in Franckreich Maliers genant ] n einer steinein seyll Des datum gestanden ist. ciiij. iar. Do man nannt dise plag die platern Job. Wer ditz Gepet bey ym tregt: oder petet der ist sicher vor den platern.
Die Pockennarben waren äußeres Zeichen der inneren Sündhaftigkeit. Der leidende Hiob wird dargestellt im kleinen Holzschnitt, der dem Gebet beigegeben ist. Ein ähnliches Bild steht zu Beginn des Kapitels über den Aussatz in Hans von Gersdorffs >Feldtbuch der wundtartzney< (Straßburg: J. Schott, 1540), zwei weitere in einem Druck des Züricher Hiobspiels,46 und die Narben sind unübersehbar in Lukas Cranachs ganzseitigem Holzschnitt zu Hiob im 3. Teil des Alten Testaments in Luthers Übersetzung (Wittenberg 1524).47 ALFRED MARTIN zufolge zeigt ein Bild in der Marienkirche zu Frankfurt an der Oder »Hiob als Syphilitiker von Frau und Freunden verspottet«.48 Auch Ulrich von Hütten kennt die Gleichsetzung von Hiobs Pocken mit der Syphilis,49 und ein Hiobbild ziert das Titelblatt einer der 45 46
Du BROC DE SEGANGE [Anm. 1], I, S. 349, Anm. 1.
Die beschrybung Jobs deß frommen gottsförchtigen vnd gedultigen manns Gottes / in rymen wyß gesteh mit vil schönen Figuren nüwlich darzu gemacht. Zu Zürich durch ein lobliche Burgerschafft gespilt worden, Zürich: Augustin Frieß, o. J. [um 1550], fol. C2V und C4V (Exemplare der BL: 11515.a.7 bzw. 11515.aa.15). Im Text werden die Blattern nicht erwähnt; es ist nur von bösen gschwären l Von fassen biß an die Scheitel die Rede (fol. C2r). 47 Abgebildet in: JOHANNES JAHN, Lucas Cranach d. A. 1472-1553. Das gesamte graphische Werk, München o.J. [um 1980], S. 775. 48 ALFRED MARTIN, Beiträge zur Geschichte der Syphilis in deutschen Landen im 15. und 16. Jahrhundert, Leipzig 1920 (Sonderabdruck aus: Dermatologische Wochenschrift 70 (1920)), S. 24— 26 und Abb. 2. Dazu s. auch WILHELM JUNO/FRIEDRICH SOLGER, Die Kunstdenkmäler der Stadt Frankfurt a. O., Berlin 1912, Abb. XXIV. Nach MARTIN ist das Bild »wenn auch nicht aus der Werkstatt des älteren Kranach selbst stammend, doch von seiner Schule beeinflußt« (S. 25). MARTIN verweist auf H. FIEI.IX, Hiob als Schutzheiliger der venerischen Brüder, in: Baldingers Neues Magazin für Ärzte 11 (Leipzig 1789). 49 Ulrich von Hütten, De Guaiaci medicina et morbo Gallico liber unus, in: EDUARDUS BöCKING
Alte Heilige, neue Krankheiten
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französischen Ausgaben von Huttens Syphilisschrift (Lyon, um 1527). Maternus Berler schreibt 1510 in der Rufacher Chronik über die Syphilis: Mit dieser kranckheitt vermeinten edliche menschen durch verhenckung gottes hetten die tuffel gestrafft den geduldigen Job™ Hiob wurde in den Augen einiger Zeitgenossen der Schutzpatron der Syphilitiker schlechthin. So behauptete Cornelius Agrippa (Heinrich von Nettesheim, 1486-1535), die Lues venerea habe Hiob unter die Heiligen versetzt, und im >Medicorum ecclesiasticum diarium< des Löwener Theologen Johannes Molanus heißt es: Volunt nonnulii sanctum lob peculiarum patronem esse eorum, qui lue venerea laborant, aut earn curant.^ In der >Geuchmatt< (Basel 1519) läßt Thomas Murner Hiobs Frau sagen: Die blattren er auch überkam vnd ward an allen glydern lam - die Blattern war eben eine andere zeitgenössische Bezeichnung der Syphilis. Gerade der Umstand, daß die landläufige Bezeichnung der Syphilis, die blatern, auch für andere Hautkrankheiten, die ekelerregende Pusteln erzeugten, verwendet wurde, gab zeitgenössischen Kommentatoren die Möglichkeit, Hiobs Leiden und die neue Krankheit miteinander in Verbindung zu setzen. Blattern war eben eine vieldeutige Bezeichnung,52 mit der mal die Pest, mal der Grind,53 mal andere Hautausschläge, mal der Aussatz und oft (Hg.), Vlrichi Hutteni equitis Germani opera, Leipzig 1859, Bd. 5, S. 400: Mira eum staunt superstitio excepit, quibusdam divi nescio cuius a nomine Menium vocantibus, aliis ab lobbi scabie originem eins repetentibus, quem credo in divos retulit haec lues. '" Chronik von Maternus Berler. Code historique et diplomatique de la ville de Strasbourg, Straßburg 1842, Bd. l, 2. Tl. Zit. nach MARTIN [Anm. 48], S. 5. Berler schreibt über die Verhältnisse in Rufach: Es lagen dieser armen menschen wol allenhalb alle feldcapellen, wan su nyemants hussen nach herbergen wolt. Zu Ruffach underschlug man der feldsyechen stub und vermeint, es war ein geschieht der maltzey [d. h. Leprakranke] und selten also bei einander wohnen. Das walten die maltzer nitt thun und vermeinten etwas gesunder seyn (Rufacher Chronik II, 106). Das will heißen, die Leprakranken wollten die Syphilitiker nicht aufnehmen, weil sie sich für vergleichsweise gesund hielten. " Johannes Molanus, Medicorum ecclesiasticum diarium, Louvain 1595, S. 68 (Exemplar der Bodleian Library, Oxford: 8° M.21(2) Th.Seid.). Der Hinweis auf Cornelius Agrippa findet sich ebenfalls bei Molanus; es heißt, dieser schreibe vane . . . luem Veneream lob in diuos retulisse (S. 69). Als »Dulder aller Dulder« ist Hiob ein positives Leitbild, und gerade dieser Aspekt ist in seiner Verbindung mit der Syphilis noch ausschlaggebend; erst mit der Reformation wird die Erkrankung daran als moralisch verwerflich angesehen. 52 Auch Malfranzos ist nicht eindeutig, ist doch selbst SUDHOI-T'S Nachweis, daß diese Bezeichnung bereits spätestens seit Mitte des 15. Jh.s belegt ist, lange noch kein Beweis dafür, daß die Syphilis damit gemeint war. Siehe KARL SUDHOI-T, Mal franzoso in Italien in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Zur historischen Biologie der Krankheitserreger. Materialien, Studien und Abhandlungen 5), Gießen 1912. Kritisch dazu: MARTIN [Anm. 48], S. 16-19. Die Literatur zur Frage nach dem Ursprung der Syphilis ist mittlerweile unübersichtlich geworden. 13 In Thomas Murners >Von dem grossen Lutherischen Narren< heiratet Murner Luthers Tochter, die ihm in der Hochzeitsnacht eröffnet, sie habe den Grind, also einen ekelerregenden Hautausschlag (Eiterflechte) - offenbar am Kopf, doch vielleicht auch eine unterschwellige Anspielung auf die damals wütende Syphilis, ein Thema, das Murner interessierte: Er hatte ja bereits im August 1519 seine Übersetzung von Huttens bahnbrechender Syphilisschrift veröffentlicht. Daß der Kopf in Mitleidenschaft gezogen wird, erhellt schon aus der Definitio morbi Gallici des berühmten Arztes Giovanni Manardi in Ferrara; s. dessen Epistolarum Medicinalium libri duodeuiginti, Basel: J. Bebel, 1535, S. 118.
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auch eben die Syphilis gemeint war. Sicher ist die Syphilis damit gemeint, wenn Geiler von Kaysersberg in den >21 Artikeln< von 1501, die er dem Straßburger Rat vorgetragen hat, den Vorstehern von Spitälern vorschreibt, je kranker die Menschen seien, desto eher sei man verpflichtet, ihnen zu helfen: [. . .] so vijll sie eilender sindt l so vijll ist man in me pflichtig und haben die selben me rechts im Spital Darumb sollen die blotterechten nit ußgeschlossen werden und also verlassen das sie nachts uff den gassen zu todt mochten erfrieren l deshalb das sie nackend hungerig und dar zu todtsich seind/ also das sie nit wissen ob sie me klagen sollen kelte hunger oder smertzen ihres siechtagen Sie werdent nit als ich höre sagen auch angenomen in die eilend herberg l So haltet man sie nit anders wo l ah versehlich ist I Darumb so ist es ein grosse hertikeit die weder vor got noch der weit verantwurtdet mag werden l ich höre das es in anderen stetten nit geschehe?
Die eilend herberg war, wie der Name besagt, eine Herberge für fremde Unglückliche, die bereits 1360 von Oettelin, einem Pfründner des Münsters, gegründet wurde. 1503 wurde, um der grassierenden Syphilis zu begegnen, ein sogenanntes Blatterhaus in Finckweiler gestiftet.55 Uns Mediävisten interessiert natürlich besonders die Quasi-Gleichsetzung der Syphilis mit Hiobs Leiden, von dem auch Hartmann von Aue spricht: in [Heinrich] ergreif diu miselsuht [. . .] und wart als unmutre, daz in niemen gerne ane sach: als auch Jobe geschach, dem edeln und dem riehen, der vil jDer arme Heinrich«, 119, 126—32)
Schon Paracelsus in seiner Schrift >Vom Ursprung und Herkommen der franzosen< stellt die Verbindung zwischen diesen Krankheiten her.56 Er schreibt: wisset, daß sich die Franzosen nicht sehr von der lepra unterscheiden, denn lepra stimuliert den luxum, darnach werden, und das durch venus, die Franzosen nachfolgen, denn venus regiert die lepra.
Und gerade diese angeblich nahe Verwandtschaft der beiden Krankheiten spielt Conrad Ferdinand Meyer genial aus, wenn er in seiner Verserzählung 54
Zit. nach: Johannes Geiler von Kaysersberg, Sämtliche Werke, hg. von GERHARD BAUER, 1. Tl.: Die deutschen Schriften, Bd. l, Berlin/New York 1989, S. 182f. 55 Dazu s. L. DACHEUX, Die aeltesten Schriften Geilers von Kaysersberg, Freiburg i. Br. 1882, Nachdruck Amsterdam 1965, S. 65; WINCKEI.MANN, Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 5), Leipzig 1922. v ' Über die damalige Unsicherheit über die richtige Anwendung der Bezeichnungen morbus Gallicus, lepra und impetigo (vgl. Brants >De pestilential! scorra sive ImpetigineHuttens letzte Tage< den kranken Ulrich von Hütten, dem ein qualvoller Syphilistod ohne Aussicht auf eine wunderbare Rettung bevorsteht, beim Lesen von Hartmanns >Armem Heinrich< darstellt: Heut saß ich armer Ulrich still daheim Und las den armen Heinrich, Reim an Reim. Des siechen Ritters Abenteuer las Ich gerne, der durch Wunderwerk genas. Ihr braven Heiigen, könntet -frag' ich nun Am Hütten ihr ein schließlich Wunder tun? Am Hütten? Nein. Da fühlt er selber, wißt, Wie das von euch zuviel gefordert ist.
So unwahrscheinlich es auch ist, daß Hütten den >Armen Heinriche kannte, ist der Gedanke dennoch reizend. Meyer kontrastiert die wunderbare Rettung des scheinbar vorbildlichen mittelalterlichen Ritters Heinrich, der am Aussatz erkrankt war, mit dem hoffnungslosen Schicksal des todgeweihten Edelmanns der Reformationszeit.57 Menn (Meen, Mewan, Mevenno) Ein weiterer Heiliger, der im Zusammenhang mit der Syphilis genannt wird, ist Sankt Menn bzw. Meen. In Hartmann Schedels Rezeptsammlung, jetzt in der Bayerischen Staatsbibliothek (Clm 963, fol. 128V), findet sich ein >Regiment vnd Ertznej für die platern genant kranckheit sant Menns oder contrackt mall di franztzosaTractatus de pustulis< (Straßburg: Johann Grüninger, 1497) schrieb, es sei wichtig, keinen Kontakt mit Frauen zu haben, die Pusteln hätten. Aber auch Jakob Wimpheling warnt in seinem >Libellus de integritateIndulgentiaes fol. 30V), tin gros stuck vom heiligen crutz (ebd.), ein gros stucke von dem crutz des schechers, der zu der rechten siten hing, da Cristus, vnser Herr, gecruziget wart (ebd.). An anderen Stellen im Text der »Indulgentiae< wird betont, daß bestimmte Kirchen ganze Heiligenleiber besaßen: S. Adriano (vnd ist da vil gantzer vnd halber lichnam, fol. 4 ), S. Silvestro (vil ander heiligen lichnam, die noch gantz sint, fol. 43')·
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durch die Reliquienteilungen manche Reliquien in mehreren Kirchen vorzukommen scheinen, führen die >Indulgentiae< aus: [M]er ist zu wissen, wan man hat ein stuck heiltum in einer kirchen, ist das stuck von dem hobt des heiligen, so nennet man das hobt gar. Ist aber ein stuck von einem arm, so nennet man ein arm. Ist aber ein glid von einem finger, so nennet man ein finger. Also tut man allen glidern: Wiewol oft ein glid nit gantz da ist, so nennet man doch das gantz glid. Darvmb so sol niemants zwiueln, ob man ein glid eins heiligen öfter oder by mer kirchen zu Rom oder in anderen landen nennet. Es ist zu gelicher wiß, wan einer über land ryt oder get vnd sieht einen turn oder die mur von einer stat, so sprichet er: »Ich sihe die stat!« Abo ist es och mit dem heiltum. (fol. 53r/v)
In dieser Textstelle wird ein »pars pro toto«-Gedanke ausgedrückt, der allgemein verbreitet war: übt est aliquid, ibi totum est.24 Als römisches Beispiel dafür, daß man sich einerseits der Besonderheit eines unzerteilten Leibes bewußt war, andererseits den einzelnen Teilen des Leibes und den Berührungsreliquien den gleichen Status zuwies wie den ganzen Leibern, können die Reliquien der Apostel Petrus und Paulus angeführt werden: Die Päpste in Rom lehnten es mehrfach ab, Teile der Apostelreliquien zu verschenken25 - außer in der eigenen Stadt: S. Pietro in Vaticano und S. Paolo fuori le mura besaßen je eine Hälfte der Apostelleiber,26 während sich ihre Häupter in S. Giovanni in Laterano befanden. Die beiden Apostel wirkten an dem Ort, an dem sie gefunden wurden (S. Sebastiane), ebenso fort wie an den Stellen, an denen sie später aufbewahrt wurden.27 Außerdem wurde in S. Pietro in Rom auch der Stein verehrt, auf dem die Leiber des Petrus und Paulus geteilt worden waren.28 24
Zitat von Victricius von Rouen, gestorben im Jahre 407, nach ANGENENDT, Heilige und Reliquien [Anm. 11], S. 154. 25 Ein prominentes Beispiel dafür nennt ENGELBERT KIRSCHBAUM, Die Gräber der Apostelfürsten, Frankfurt am Main 1957, S. 20f.: Die Kaiserin Konstantina bat Gregor den Großen, ihr das Haupt des Paulus zu schenken, was Gregor jedoch ablehnte. - Die römischen Verhältnisse sind in diesem Punkt allerdings grundsätzlich verschieden von denen in anderen Städten: In der Spätantike und dem frühen Christentum war man in Rom generell bemüht, die Gräber nicht zu öffnen und die Reliquien ungeteilt zu lassen. Siehe BKRNHARD KOTI'ING, Peregrinatio religiosa. Wallfahrten in der Antike und das Pilgerwesen in der alten Kirche (Forschungen zur Volkskunde 33-35), Münster 21980, S. 335, S. 338-340; ANGKNENDT, Der »ganze« und »unverweste« Leib [Anm. 21], S. 34. 26 Nach KIRSCHBAUM [Anm. 25] beruht jedoch die Angabe, daß beide Kirchen je die H ä l f t e der Reliquien besäßen, auf einer »seltsamen Tradition«, da die Kirche S. Pietro im Mittelalter nur Berührungsreliquien der beiden Heiligen besessen habe (S. 213). 27 Für S. Sebastiano: Item hinder der kirchen ist ein gruffi, heist cathecumbis. Darin ist ein brun, darin sint gefunden worden die heiligen lichnam sant Peters vnd sant Pauls, vnd haben da gelegen, bys man zalt nach Crist gepun CCC vndXIX iar. Die haben gezeug[ [= gezeigt] die siben schleffer dem pabst, vnd da sie die lichnam gezeignet, da vilen sie zu puluer vor dem pabst Vrban. Der heilig pabst Vrbanus tet das puluer in ein sarck, das ist in der kirchen. Es ist in der grüß cathecumbis alle tag so vil ablas vnd gnad als in sant Peters kirch Vaticano (fol. 32r'v). 28 In S. Pietro (fol. 25V): Item neben dem hohen altar ist ein altarstein von rottem marmel, darvf hat man sant Peter vnd sant Paul geteilt ir heilig lichnam vnd iden halb gelassen zu sant Peter, den anderen teil in sant Pauls kirchen getragen. Abbildung des Steins mit Inschrift des Hochmittelalters, die auf die Teilung Bezug nimmt, bei KIRSCHBAUM [Anm. 25], Abb. 36b.
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Neben der besonderen Stellung des corpus integrum/incorruptum ist in Rom wie auch andernorts die H ä u f u n g von Reliquien von großer Wichtigkeit.29 Man verläßt sich nicht auf die Fürsprache eines einzelnen Heiligen, sondern erhofft sich von mehr Heiligen mehr Hilfe. Die Anhäufung von möglichst vielen Reliquien ist kein spezifisch spätmittelalterliches Phänomen: Bereits die frühesten Reliquienverzeichnisse für Rom, die ab dem 6. Jahrhundert als Inschriften in Stein überliefert sind, verzeichnen ganze Listen von Heiligen; auch im 12. und 13. Jahrhundert gibt es viele Weiheinschriften, die ähnlich lange Listen von Reliquien enthalten.30 Die Tendenz zur Betonung der Vielzahl der Heiligen wird allerdings im Spätmittelalter stärker; im Zuge dieser Entwicklung werden die Inschriften im 14. und 15. Jahrhundert wieder aufgegriffen und bilden die Quelle für viele Angaben in den >IndulgentiaeIndulgentiae< ist, daß eine Visualisierung vorgenommen wird, die dazu führt, daß man sich nicht in die abstrakte Idee des Heiligen oder der Reliquien vertieft, sondern die Reliquien als konkrete Gegenstände verehrt; da diesen wiederum menschliche Gestalt gegeben wird, scheint der Vorwurf der Idolatrie hier nicht ganz unberechtigt. Es ist allerdings zu betonen, daß die Fülle von schriftlichen und nichtschriftlichen Zeugnissen über Reliquienverehrung und Wallfahrt überraschende Leerstellen enthält. Aus ihnen erfährt man wenig über die Devotionsformen, obwohl doch die Heiligenverehrung das eigentliche Ziel der Wallfahrten war. FRIEDERIKE HASSAUER hat festgestellt, daß der »Vollzug« der Pilgerfahrt nach Santiago nicht verschriftlicht wurde,41 und dies gilt im wesentlichen auch für Rom und andere Städte. Offensichtlich war es für die Pilger wichtig zu wissen, welche Reliquien sich vor Ort befanden, welche Wunder sich dort ereignet hatten und wieviel Ablaß bei den einzelnen Reliquien erworben werden konnte;42 in welcher Weise man den Heiligen seine Ehrerbietung darbot bzw. in welcher Weise man durch sie Ablaß gewinnen konnte, wird in den Texten nicht vermittelt. Dies ist etwa am oben zitierten Frankfurter Bücherfreund. Mitteilungen aus dem Antiquariate von Joseph Baer & Co. 5,2 (1907), S. 33-35. Es gibt außerdem einen Einblattdruck mit Angaben über die Privilegien der Bruderschaft von S. Spirito in Sassia, der von Gerard von Thienen 1992 auf den »Groningse Codicologendagen« vorgestellt wurde. Beide Blätter nennen zwar Ablässe und Reliquien, ihre Abbildungen nehmen jedoch auf die Reliquiare keinen Bezug. 41 Nach HASSAUER [Anm. 7], S. 172, bietet die Literatur kein ausreichendes Material, um die »Vollzugssituationen [der Pilgerfahrt] zu rekonstruieren«. Vgl. HARRY KüHNEL, Integrative Aspekte der Pilgerfahrten, in: Europa um 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Regionen, Personenverbände, Christenheit, hg. von FERDINAND SEIBT/WINFRIED EBERHARD, Stuttgart 1986, S. 496-509, hier S. 508: »Wesentlich für das Verständnis des Systems der PilgerInformation war die mündliche Mitteilung. Die Reiseberichte und -führer spielten bis zum Ende des 15. Jh.s als Druckwerke eine eher geringe Rolle. Immerhin, auch sie waren vielfach zum Vorlesen konzipiert worden.« Diese Bemerkung läßt sich auf Rom nicht ohne weiteres übertragen; hier ist der Text stärker das »document roi« (HASSAUER [Anm. 7], S. 22f). 42 Wenn bereits etablierte Heilige Wunder verrichten, wird diesen Wundern besonderes Gewicht zugemessen; neue Heilige bzw. neue Wallfahrtsorte können sich nur durch Wunder und durch eine darauffolgende durchorganisierte Propaganda etablieren. Der Erwerb neuer Reliquien kann einem Wallfahrtsort weiteren Aufschwung verleihen. Siehe dazu ausführlicher HARRY KÜHNEI, »Werbung«, Wunder und Wallfahrt, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit, Wien 1992, S. 95-113. Ein deutliches »Konkurrenzdenken« (ebd. S. 109) macht sich auch unter den Orten der peregrinationes maiores kenntlich: In den Handschriften der >Indulgentiae< wird betont, daß die in manchen römischen Kirchen zu erwerbenden Ablässe genauso groß seien wie die in Santiago oder Jerusalem; dies betrifft die Kirchen S. Croce, S. Giovanni in Laterano und S. Paolo. Siehe etwa WEISSTHANNER [Anm. 2], S. 60, für S. Paolo: Item in dicta ecclesia devote continuatis omnibus dominicis anni habet tantam indulgentiam ac si iret et rediret de Sancto Jacobo in Galitia (»In der erwähnten Kirche hat man, wenn man sie in Andacht alle Sonntage eines Jahres besucht, so viel Ablaß, als wenn man nach Santiago ginge und zurück«). Die deutschsprachige Druckfassung der >Indulgentiae< übernimmt diese Angaben nicht.
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Beispiel für S. Maria Scala Celi ersichtlich: Die Reliquien und die Ablässe werden zwar genannt, es wird jedoch nicht beschrieben, auf welche Weise die erwähnten Ablässe erworben werden können. Nur an wenigen Stellen gibt die gedruckte Fassung der >Indulgentiae< konkrete Anweisungen, etwa zur Scala Santa: Vnd wer die Stege in andacht vffader ahe get, der hat als offi er das thut von yder Staffel IX iar ablas . . . Wer die Stege knien vfget, der erlost damit ein sele, für die er bidt. Solt die selepis an den tungsten tag imfegfeur sin, so oft ein Staffel, so oft ein Pater Noster vnd ein Aue Maria gesprochen (fol. 20V). Möglicherweise wurde vom Beichtvater festgelegt, aufweiche Art und Weise der Pilger sich zu verhalten habe; die Bußbücher legen zwar die Höhe des Ablasses fest, der zur Buße erworben werden mußte, nicht jedoch die Art und Weise, wie dieser Ablaß zu erwerben sei.43 Mit Hilfe von anderen schriftlichen und nichtschriftlichen Zeugnissen ist es heute möglich, einige weitere Informationen über die Brauchtümer der Wallfahrten zu ermitteln. Die Pilgerberichte über Rom kopieren die Pilgerführer, ergänzen jedoch manchmal eigene Beobachtungen oder Erlebnisse (zu denken ist hier an Arnold von Harff, Ulrich Brunner, Dietrich von Schachten u. v. a.).44 Der Lüneburger Ratsmann Albert van der Molen führte sehr genau Buch über seine Ausgaben, auch die für Kerzen und Almosen; er war jedoch nicht dazu verpflichtet, über seine Gebete oder über den von ihm erworbenen Ablaß Buch zu führen.45 4i
Siehe etwa die von HÖRMANN edierten Texte aus dem 9. Jh.: WAI.THKR VON HöRMANN, Bußbücherstudien, Zeitschrift für Rechtsgeschichte 32 (= K 1) (1911), S. 195-250; 33 (= K 2) (1912), S. 111-181; 34 (= K 3) (1913), S. 413-492; 35 (= K 4) (1914), S. 358-483. Solche frühmittelalterlichen Bußbücher legen die Zeit, die man für ein bestimmtes Vergehen büßen soll, fest; die Umsetzung von Buße in zu erwerbenden Ablaß findet erst in späteren Jahrhunderten statt. In der >Rechtssumme< des Bruder Berthold (14. Jh.) finden sich differenzierte Angaben zu Ablaß (I, S. 134-219) und Buße (I, S. 492-509). Berthold gibt an, daß Buße durch Gebet, Fasten und Almosen getan werden kann; auch er gibt jedoch keine Richtlinien für die Gestaltung der Buße, sondern betont im Gegenteil, daß man je nach Vermögen Almosen spenden oder andere Formen der Buße wählen solle. Bei besonders schweren Verbrechen können die erforderlichen Bußleistungen durch Christi Leiden oder durch den Ablaß des thesaurus ecclesiae vermindert werden, auf daß der Sünder nicht verzweifele (I, S. 504—506). Für den Ablaß wird betont, daß er je nach Anlaß unterschiedlich gestaltet sein kann (für kurze oder lange Zeit, nur für den Betenden gültig oder auch für andere Personen, etc.). Siehe GKORC; STEER [u. a.] (Hgg.), Die >Rechtssumme< Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der >Summa confessorum« des Johannes von Freiburg I (TTG 11), Tübingen 1987. 44 EBERHARD VON GROOTE (Hg.), Die Pilgerfahrt des Ritters Arnold von Harff, Köln 1860. Eine neue Ausgabe des Textes wird von V. Honemann und H. Beckers in Münster vorbereitet. RF.INHOI.O RÖHRICHT, Die Jerusalemfahrt des Kanonikus Ulrich Brunner vom Haugstift Würzburg, Zeitschrift des deutschen Palästinavereins 29 (1906), S. 1-50. Für Dietrich Schachten s. REINHOLD RÖHRICHT/HEINRICH MEISNER, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande, Berlin 1880, S. 162-245. 45 Siehe G. VON DER Roi'P, Unkosten einer Lüneburger Romfahrt im Jahre 1454, Hansische Geschichtsblätter [16] (1887) (Leipzig 1889), S. 29-60. Albert van der Molen vermerkt Almosen oder Opfer urmne Codes willen (S. 35 u. ö.) bzw. propter Deum (S. 39 u. ö.), deme heren to offerende (S. 36 u. ö.), den armen luden (S. 35 u. ö.). An einigen Stellen gibt van der Molen genauer an, wo und wofür er das Geld ausgegeben hat, etwa in Padua: umme Codes willen und vor licht ad sanctum Antonium (S. 35), in Florenz: dem kostere vor dat ornat des altaris (S. 40), in Rom:
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Daneben tragen auch nicht- (oder: nicht vorwiegend) schriftliche Zeugnisse zum Verständnis der Formen der Reliquienverehrung bei. Neben den Reliquiaren selbst, die durch ihre Gestaltung und Beschriftung auf ihre Verwendung im Gottesdienst verweisen, sind die Devotionalien zu nennen, die der Pilger vor Ort erwerben konnte, wie z. B. die im ganzen westeuropäischen Raum verbreiteten Pilgerabzeichen, die als Andenken gekauft und auf die Kleidung genäht wurden. Undeutlich ist, ob diese auch als Bestätigung der Durchführung einer Wallfahrt gegolten haben. Von großer Wichtigkeit ist die Edition einer niederländischen Privatsammlung von ca. 1000 Pilger- und anderen Abzeichen.46 Die meisten der hier publizierten Pilgerabzeichen bilden den Heiligen (mit seinen Attributen) ab, es gibt jedoch auch einige, die eine Reliquie oder deren Behälter abbilden: Aachen (Kleid der Maria), Goslar (verschiedene Reliquiare), Waver (Reliquienschrein), Rom (Veronika). Eine eigene Gruppe bilden die Kopf- bzw. Büstenreliquiare auf Pilgerabzeichen: Karl der Große (Aachen), Petrus/Paulus (Rom; auf manchen Abzeichen scheinen hier allerdings eher Halbfiguren als Reliquiare abgebildet zu sein), Servatius (Maastricht; diese Abzeichen zeigen große Übereinstimmungen mit dem Servatius-Reliquiar auf dem oben besprochenen Einblattdruck für Aachen, Maastricht und Kornelimünster), Thomas Becket (Canterbury). Die Sakraments-Wunder (Hostien) sind eine eigene Kategorie, da es sich hier nicht im strengen Sinne um Reliquien handelt; sie werden erst durch Wunder, die meistens durch Frevel hervorgerufen werden, zu verehrungswürdigen Gegenständen. Auch die Abbildung der Folterwerkzeuge Christi steht in einem anderen Zusammenhang; zwar befinden sich einzelne dieser Werkzeuge verstreut über die ganze christliche Welt, wenn sie jedoch abgebildet werden, beziehen sie sich meistens auf den Typus der Gregors-Messe bzw. der Arma Christi, bei dem sie komplett (und nicht auf einen Ort bezogen) dargestellt werden. Soweit die Pilgerabzeichen mit Texten versehen sind, benennen diese den dargestellten Heiligen, eventuell auch den Wallfahrtsort. Selten wird ein Gebet aufgenommen, etwa Ora pro nobis (Abb. 68a, 468, ndl. Abb. 240b, Ora Abb. 302) oder O mater dei memento mei (Abb. 68b, ähnlich Abb. 431), Ave Maria gracia plena Dominus te(cum) (Abb. 91, 512a, ähnlich Abb. 522).47 Wichtig für die religiösen Vorstellungen, die zur Herstellung von Pilgerabzeichen führten, sind die Abzeichen, die einen kleinen Spiegel, d. h. ein Stückchen geschliffenes Glas oder poliertes Metall, enthalten, wie dies vor allem für Aachen belegt ist.48 Mit Hilfe dieser Spiegel wurde ein Abbild der Reliquien in dem Abzeichen aufgefangen tor stacien to offerenäe (S. 4l u. ö.), missen to lesende (S. 37 u. ö.), waslichte, alse wii to den 7kerken reden (S. 45), her Alberdes bichtvadere (S. 45) etc. - Der Katalog: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter, hg. von PETER JK/.I.KR, München 21994, enthält ein lateinisches Exemplar der >IndulgentiaeTristan< des Gottfried von Straßburg, in der die Pilger beschrieben werden: Sie tragen uzen an ir waete l mermuscheln genaete [als Wahrzeichen für Santiago de Compostela] / und vremeder zeichen
Neben den Pilgerabzeichen gehören die Ex-voto-Gaben zu den materiellen Zeugnissen für die Heiligenverehrung: Vor allem für die Heilung von Krankheiten dankte man dem jeweiligen Heiligen durch die Spende einer Nachbildung der geheilten Gliedmaßen.51 II
Trotz der großen Bedeutung, die Heiligenverehrung und Wallfahrt erlangen, werden sie von Zeitgenossen nicht uneingeschränkt positiv beurteilt. Der eingangs zitierte Ausspruch des Thomas von Kempen formuliert solche Vorbehalte gegen die Wallfahrtspraxis, und man könnte sogar konstatieren, daß sich die Menschen, während sie die Heiligen immer mehr an Wichtigkeit gewinnen lassen, immer weiter von Gott entfernen. 52 Es gibt deswegen schon früh kritische Stimmen, die die Verehrung der H e i l i g e n an sich in Frage stellen: Man möchte, daß zwischen adoratio (Gottes) und veneratio (der Heiligen) unterschieden wird.53 Kritik an der Verehrung der R e l i q u i e n ist seit dem frühen Mittelalter belegbar; sie ist meistens an Kritik an Wallfahrten gekoppelt und betrifft die folgenden Punkte:54 Die Omnipräsenz der Heiligen bzw. Gottes mache es überflüssig, an weit entfernte Orte zu reisen und dort bestimmte (einzelne) Heilige zu verehren.51 49
Ebd. Abb. 77 ff. >Tristan< 2633-35, zitiert nach CHRISTIANE HIPPLER, Die Reise nach Jerusalem. Untersuchungen zu den Quellen, zum Inhalt und zur literarischen Struktur der Pilgerberichte des Spätmittelalters (Europäische Hochschulschriften, Reihe l, 968), Frankfurt a. M. [u. a.] 1987, S. 55. 51 Zahlreiche Beispiele können LEANDER /, , , Bibliographie zur Ikonographie und materiellen Kultur des Wallfahrtswesens, Freiburg i. Br. 1972, entnommen werden. 52 Nach ANGENENDT, Heilige und Reliquien [Anm. 11], S. 82, kann diese Beobachtung noch weiter differenziert werden: Zunächst findet eine Entfernung von Gott und eine Zuwendung zu Christus statt, in einem zweiten Schritt treten die Heiligen vor Christus. 53 2. Konzil von Nicäa, 787, HAUSBKRGKR [Anm. 29], S. 651. Entsprechende Äußerungen finden sich bereits bei den Kirchenvätern, z. B. bei Augustin: Nos martyres nostros . . . fro diis non habemus, non tamquam deos colimus . . . Videtis quomodo sancti horruerunt coli se fro diis (»Wir halten unsere Märtyrer nicht für Götter und verehren sie nicht wie Götter. Ihr seht, wie sehr es die Heiligen verabscheut haben, wenn sie wie Götter verehrt würden«); Sermo 273.7-8, in: PL 38, Sp. 1247-1252. 54 SUMPTIONS Angabe, »opposition to the cult of relics as such was extremely rare« ([Anm. 15], S. 41), ist nicht ganz zufriedenstellend: Neben dem von ihm auf S. 42—44 genannten Beispiel des Guibert von Nogent (gestorben ca. 1125) gibt es viele weitere: s. KiAUS SCHREINER, Discrimen veri ac falsi. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, Archiv für Kulturgeschichte 48 (1966), S. 1-53; GILES CONSTABLE, Opposition to pilgrimage in the Middle Ages, Studia Gratiana 19 (1976), S. 123-146. " HASSAUER [Anm. 7], S. 138f. 50
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Zudem bestehe die Gefahr, daß nicht die Heiligen verehrt werden, sondern nur ihre Abbilder. In den Worten des Bernhard von Clairvaux: Ostenditur pukherrima forma sancti vel sanctae alicujus, et eo creditur sanctior, quo coloratior. Currunt homines ad osculandum, invitantur ad donandum; et magis mirantur pulchra, quam venerantur sacra . . . Quid, putas, in his omnibus quaeritur? poenitentium compunctio, an intuentium admiratio? O vanitas vanitatum, sed non vanior quam insanior! Fulget ecclesia in parietibus, et in pauperibus
Der Idolatrie- Vorwurf wird mit der Warnung, daß die Heiligen nicht für wichtiger zu halten seien als Gott, verwoben. Ein frühes deutschsprachiges Beispiel dafür bietet Berthold von Regensburg: Als vil der sunnen durch ein naldenoere geschtnen mac und alse unhohe der schin wiget der durch daz naldenoere get wider allem dem schine den diu sunne hat über alle die werlt, als unhohe wiget und übertriffst santjäcobes heilikeit unde der zweifboten samt und aller der heiligen die in dem himel sint und aller engele heilikeit unde miner frouwen sant Marien wider der heilikeit, die got selber hat.57
Wallfahrt muß nicht an Devotion gekoppelt sein.58 Am bündigsten ist dies im anfangs zitierten Spruch des Thomas von Kempen zusammengefaßt. Ähnliches führt Berthold von Regensburg aus: Wazfunde du ze Kumpustelle, do du dar k&me? »Sant Jacobes houbet.« Daz ist gar guot; daz ist ein tötez bein und ein toter schedel: daz bezzer teil ist da ze himele. Sage an, waz vindest du hie heime an dime hovezüne, so ein priester messe in der kirchen singet? Da
%
»Es wird die schönste Form irgendeines oder irgendeiner Heiligen gezeigt, und was farbiger ist, wird für heiliger gehalten. Die Menschen strömen hinzu, um sie zu küssen, sie werden aufgefordert, (Almosen) zu geben; und das Schöne wird mehr bewundert, als daß das Heilige verehrt wird. Was, meinst du, wird in diesem Ganzen gesucht? die Durchdringung der Büßer, oder die Bewunderung der Ehrwürdigen? O Eitelkeit der Eitelkeiten, doch weniger eitel als unsinnig! Die Kirche erstrahlt in ihren Wänden, aber es mangelt ihr an Armen.« — Bernhard von Clairvaux [12. Jh.], »Apologia ad Guillelmum., in: PL 182, Sp. 915. " FRANZ PHKIEFER/JOSKF STROBI, (Hgg.), Berthold von Regensburg [13. Jh.], vollständige Ausgabe seiner Predigten I, Wien 1862, S. 460. Ein beliebiges weiteres Beispiel, ca. 1518-1520, bei GÜNTHER REITER, Heiligenverehrung und Wallfahrtswesen im Schrifttum von Reformation und katholischer Restauration, Diss. Würzburg 1970, S. 32f.: wer die heiligen thut eren / und nit anbetet got den herren, l der thut wider das erst gebot l «du solt anbeten und eren einen Got.« l wer in die heiligen sezt sein vertrauen, l verlaßt den alten got und sucht ein neuen. / wer zu den heiligen reit oder gat, l der selb kein rechten glauben hat: l er meint, der heilig sol im helfen auß not, l als ob unser rechter got sei tot. Die Kritik der Reformation wiederholt Argumente, die bereits weit vor dieser Zeit zu finden sind. 58 EGON MIELENBRINK, Beten mit den Füßen. Über Geschichte, Frömmigkeit und Praxis von Wallfahrten, Kevelaer/Düsseldorf 1993, bezeichnet das Wallfahrten als ein »Beten mit den Füßen«, womit er Wallfahrt und Devotion gleichsetzt - auf der anderen Seite bedeutet das im Spätmittelalter aufkommende berufsmäßige Pilgern, das man stellvertretend für einen anderen Menschen vornimmt und für das man bezahlt wird, die größtmögliche Entfernung zwischen Wallfahrt und Devotion. — FRANCIS RAPP, Neue Formen der Spiritualität im Spätmittelalter, in: Spiritualität des Pilgerns, hg. von KLAUS HERBERS/ROBERT PLÖTZ (Jakobus-Studien 5), Tübingen 1993, S. 39-58, hier S. 50, nennt Beispiele von Pilgerberichten, in denen sich eine Vermischung von »Anekdoten, die für eine Kavalierstour passen würden, mit Begebenheiten, die das Religiöse betreffen«, findet.
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vindest du wären got unde wären menschen mit dem gewalte unde mit der kraft als er in dem himel ist, unde des heilikeit ist über alle heiligen und über alle engele.^
Die Charakterisierung der Reliquien als tötez bein mag zunächst erstaunen, jedoch hat bereits Hieronymus die Reliquien als Staub und Asche gekennzeichnet, die man nicht in Gold einfassen solle.60 Berthold kritisiert weiterhin, daß viele Haus und Hof verlassen oder sich hoch verschulden, um wallfahrten zu können.61 Von anderen Autoren wird außerdem die Gefährdung vor allem weiblicher Pilger angesprochen.62 Daß die imitatio der Heiligen hinter ihrer invocatio zurücktrete, ist ein weiteres häufig bemängeltes Phänomen.63 Des weiteren wächst im Spätmittelalter der Zweifel an der Echtheit der Reliquien und damit am Sinn der Pilgerfahrt. Ein zeitgenössischer handschriftlicher Eintrag in einem 1525 in Rom gedruckten Exemplar der >Indulgentiae< vermerkt: Ditts püch ist nach dem pfündt kaufft vnnd nach dem cennttner gelogenn.M Zu untersuchen wären die detaillierteren Randbemerkungen in den (reformatorischen) polemischen Nachdrucken der JndulgentiaeAblas büchlein. Erzelunge des heilthumbs, gnade vnd ablaß aller kirchen in Rom . . .l Siehe etwa Berthold von Regensburg: h laufet da gein sant Jacobe unde verkaufet da keime daz iuwer kinder und iuwer hüsfrouwen etelichez iemer mer deste armer müezent sin oder du selber iemer mer nothaft unde gultehaft ([Anm. 57] I, S. 459). 62 HASSAUER [Anm. 7], S. 138f.; CONSTABLE [Anm. 54]. Die Provinzialsynode von Friaul (796/7) verbot es Klosterfrauen, eine Wallfahrt zu unternehmen, s. WILFRIED HARTMANN, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien, Paderborn [u. a.] 1989, S. 117-119. 63 HAUSBERGER [Anm. 29], S. 653. 64 Rom: Antonius Bladus de Asula, 1525; Wolfenbüttel, HAB, 596.2 Hist. 8°, fol. 3r. 65 Mühlhausen: Georg Hantzsch, 1571, s. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, Nr. I 182. 66 Zitiert nach dem Exemplar in München, BSB, Res. Polem. 991d/2, fol. A4r. 67 Dazu kurz ANGF.NF.NDT, Der Kult der Reliquien [Anm. 11], S. 19f. 60
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ohne Reue und nicht ohne das Sakrament der Beichte erworben werden kann, muß es häufig vorgekommen sein, daß man sich die Ablässe erkaufte, ohne die Sünden innerlich bereut zu haben. Die Texte über Rom betonen, offensichtlich als Reaktion auf Skepsis: Item es sal auch niemandes an dem ablas zwifelen, der by der kirchen ist, vnd wer daran zwifelt, der sundet gröblich vnd sere (>IndulgentiaeIndulgentiaeIndulgentiae< fehlt diese Angabe.
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Kapitelsaal aufgehängt waren, wurden die sieben Hauptkirchen Roms dargestellt.76 Im Gegensatz zum Villinger Beispiel sind für diese Gemälde keine Schrifttafeln überliefert; auch fehlt hier der Bezug zu den heiligen Stätten in Jerusalem. Die »Pilgerfahrt im Geist« konnte jedoch nicht nur anhand von räumlich verteilten »Gedenktafeln« unternommen werden. Der mittelniederländische Text der >Figuren van den zeven kerken van Romen< enthält sieben Holzschnitte mit stilisierten Darstellungen der sieben Hauptkirchen Roms.77 Die letzte Kirche etwa (S. Croce in Gerusalemme) zeigt einen Holzschnitt mit einer Kirche, die mit dem Buchstaben »G« versehen ist. In der Kirche sind zwei Bildfelder ausgespart; im linken Bildfeld sind die Arma Christi dargestellt, im rechten die Kreuzigung (für die anderen Kirchen ist im rechten Bildfeld jeweils der Schutzheilige der Kirche abgebildet). Auf der dem Holzschnitt gegenüberliegenden rechten Seite wird zunächst der Name der dargestellten Kirche angegeben: Tot dat Heilighe Cruys. Der weitere Text enthält zwei Gebete. Das erste richtet sich gegen eine der Todsünden, hier gegen den Neid: Teghen die sende des nidicheits. O alre goedertierenste ende minlike behouder des werelts, ic bid v doer dijn heilighe doot ende dat dijn heilige hart doersteken wort, dat ghi mi wilt vergeuen alle nidycheyt, daer ic v dicwijl me vertoernt heb. Amen.7& Das zweite Gebet richtet sich an den Heiligen, dem die Kirche geweiht ist, in diesem Fall also an Christus (bzw. Gottvater): Ghebet. O almachtighe ewighe God, wi bidden v oetmoedelick, behoet ans mit den ewighen vrede, ghi, die v verwaerdicht hebt, ons te verlassen doer dat hout des heiligen cruys. Amen.7Figuren< führt aus, was die »Pilger« machen sollen, wenn sie die geistige Pilgerfahrt vornehmen wollen: . . . si [seilen] voer ekke kerc. . . lesen een van den seuen psalmen mit een gebet van den heilighen, daer die kercken nae genoemt sijn, ende een artikelken der passien ons Heren, ouer te denken voer elcke kerck. Ende die niet lesen enkan, seldrie Pater Noster ende drie Aue Maria lesen voer elcke kerck mit een puntgen der passien ons Heren ouer te dencken. Item in ghehoechenisse der seuen bloetstortinghe ons Heren, als die figuren deser kercken wtwisen, mach men lesen die gebeden, die bi elcke figuer deser kercken staen teghen die seuen dootsonden.80 76
Altdeutsche Gemälde (Staatsgalerie Augsburg. Städtische Kunstsammlungen 1), Augsburg 1967, S. 88-108. 77 Siehe Abb. am Ende dieses Beitrags. Das kleinformatige achtblättrige Buch ist im späten 15. Jh. entstanden. Ich benutze im folgenden ein Exemplar, das sich in einer niederländischen Privatsammlung befindet, s. WOUTKR NIJHOFF/MARIA EL.I/, KRONENBERG, Nederlandsche bibliographic van 1500-1540, Den Haag 1923-1976, Nr. 4249. Den Besitzern der Sammlung danke ich dafür, daß ich den Druck einsehen durfte. — Ähnliche Texte gibt es auch im deutschsprachigen Raum; es handelt sich hier nicht um eine spezifisch niederländische (oder durch die »Devotio moderna« geprägte) Andachtsform. 78 »Gegen die Sünde des Neides. O allermildester und lieblicher Erlöser der Welt, ich bitte dich wegen deines heiligen Todes und weil dein heiliges Herz durchstochen wurde, daß du mir allen Neid, durch den ich dich häufig erbost habe, vergeben wollest. Amen.« 79 »Gebet. O allmächtiger ewiger Gott, wir bitten dich demütig, beschütze uns mit dem ewigen Frieden, du, der du dich herabgelassen hast, uns durch das Holz des heiligen Kreuzes zu erlösen. Amen.« 8C »Sie sollen vor jeder Kirche einen der sieben [Buß-]Psalmen lesen und ein Gebet für den Heiligen, nach dem die Kirche benannt ist, und ein Stückchen aus der Passion unseres Herrn sollen sie vor jeder Kirche betrachten. Und wer nicht lesen kann, soll drei Pater Noster und drei Ave Maria vor jeder Kirche sprechen und ein Stückchen aus der Passion unseres Herrn betrachten. Und in Erinnerung an die sieben Stationen im Leben unseres Herrn, an denen er Blut vergoß,
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Diese Andachtsform scheint von durch Tafeln oder Gemälde gekennzeichneten Stellen losgelöst zu sein: Durch das kleine Format des Buches sind die sieben Kirchen »tragbar« und damit allgegenwärtig geworden.
Auffällig sind hier die unterschiedlichen Möglichkeiten, die den Pilgern je nach ihren Fähigkeiten geboten werden: Man soll die Psalmen lesen oder, wenn man das nicht kann, die genannten Gebete sprechen; vor allem sollen die Bilder durch ihre Darstellungen aus dem Leben Jesu zur je individuellen Betrachtung anleiten. Durch die Siebenzahl der Kirchen, der Todsünden und der Wochentage sind weitere Betrachtungsmöglichkeiten gegeben, etwa durch die Verbindung mit den sieben Bitten des Pater Noster etc. Es ist nicht sicher, ob sich die Vollzugsformen der »Pilgerfahrt im Geist« direkt auf die realen Pilgerfahrten und auf die damit verbundene Verehrung der Heiligen übertragen lassen. Ergänzend zu FRIEDERIKE HASSAUERS Annahme, daß die mündliche Tradierung im Bereich des Vollzugs der Wallfahrt eine große Rolle gespielt haben könnte, ist jedoch zu vermuten, daß auch bei den realen Pilgerfahrten eine je individuelle Form der Andacht gewählt wurde, die nicht normativ festgelegt war und deswegen auch nicht verschriftlicht wurde. IV
Ich fasse zum Schluß die Ergebnisse und Thesen kurz zusammen. Die Verehrung der Heiligen als Nothelfer und Fürbitter führt bereits früh zur Verehrung der Gebeine der Heiligen; daraus entstehen die Wallfahrten zu den Gräbern der Heiligen. Auch nachdem es üblich geworden ist, Heiligenleiber zu zerteilen, wird noch gewallfahrtet; dahinter steht die Vorstellung, daß die Heiligen nicht nur am Ort ihres Grabes, sondern auch am Ort der Aufbewahrung ihrer Gebeine besonders wirkungsmächtig sind. Die spätmittelalterliche Frömmigkeit tendiert dazu, die Heiligen Gott vorzuziehen und die Reliquiare zu verehren, als wären sie die Heiligen; dies ist der Angelpunkt, an dem die Kritik vieler Theologen ansetzt. Die »Pilgerfahrt im Geist« versucht dagegen, der Veräußerlichung der Verehrung der Heiligen durch stärkere Verinnerlichung entgegenzutreten. Rom zeigt als Beispiel alle für das Mittelalter typischen Formen der Reliquienverehrung, sowohl die Verehrung des corpus incorruptum/integrum als auch die Zerteilung der Reliquien, außerdem die Anhäufung von Reliquien, die Verehrung der Reliquien bzw. der Reliquiare anstelle der Heiligen, etc. Als Vorbild hat Rom vor allem für die Orte der peregrinationes minores (wie für Köln gezeigt) und der »Pilgerfahrt im Geist« (etwa Villingen, Augsburg) gedient. wie es die Abbildungen der Kirchen zeigen, kann man die Gebete lesen, die bei jeder Abbildung dieser Kirche stehen, gegen die sieben Todsünden.«
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Nine Miedema
Die primären Quellen für Informationen über Reliquienverehrung und Wallfahrt sind die Pilgerführer für die jeweiligen Orte. Die wichtigsten weiteren Quellen sind die Pilgerberichte und die Heiligenlegenden. Die Leerstellen, die in diesen Texten zu finden sind, lassen sich z. T. durch anderes Schrifttum (Predigten, Chroniken), z. T. durch materielle Zeugnisse (Pilgerabzeichen) ergänzen. In allen schriftlichen Zeugnissen über Wallfahrt und Reliquienverehrung finden sich jedoch deutliche Leerstellen im Bereich des »Vollzugs« der Wallfahrt und der Reliquienverehrung, vor allem im Bereich der Devotionsformen, die die einzelnen Menschen zur Verehrung der Reliquien wählten. In diesem Bereich muß deswegen zusätzlich von einer mündlichen Vermittlung ausgegangen werden, die zu einer je individuellen Form der Verehrung geführt haben kann.
Reliquienverehrung und Wallfahrt
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*SJ C ^ V ^«*» 4α Herrenlob und GotteslobDer ungetreue KnechtDer Pfaffen Leben< - die Verführbarkeit der Frau mitgedacht. Sie kommt aber nur zum Tragen, weil der Bote sein Amt mißbraucht; d. h. auch, daß das Bispel bei aller ß/affen-Krmk die Unverzichtbarkeit des Gottesboten betont und sein richtiges Handeln im Interesse des Ganzen einfordert. Damit sind wir bei dem für uns wichtigsten Merkmal der Autorrolle, seiner problematischen und in einigen Texten auch explizit problematisierten »Zwischenposition«. Die heikle Balance dieses Laienstandortes zwischen Gehorsamspflicht und kritischer Abgrenzung, institutioneller Angewiesenheit und eigenverantwortlicher Sorge um das Seelenheil, ständischer Begrenztheit und umfassender Zuständigkeit scheint uns die eigentliche Leistung zu sein, die dieser Laiensprecher sich abverlangt und die er auch seinem Laienpublikum zumutet. Insofern stellt das Faktum des falschen/j/a/ fen eine besondere Herausforderung für das laikale Selbstverständnis dar und eine Bewährungsprobe für die wisheit des Laien, und insofern ist es vielleicht 18 19
>Die Pfaffendirnes hg. von MOKU.KKEN [Anm. 17], Bd. IV, Nr. 109, S. 41-43. Hg. von SCHWAB, Unveröffentlichte geistliche Bispelreden [Anm. 17], Nr. 104, S. 150f.
signißcatio laicalis
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berechtigt, die Einübung in diese wisheit als pragmatische Intention des geistlichen Bispels zu bezeichnen. Dazu zwei Textbeispiele: Das sehr komprimierte Bispel >Der blinde Führen20 stellt als Exemplum die überaus prononcierte Selbstdarstellung eines Ich-Sprechers an den Anfang, der mit selbstbewußtem Hinweis auf sein eigenes Sehvermögen (lf.) bereit ist, einem blinden Führer zu folgen. Sollte dieser den Sehenden allerdings vom Weg abführen, ist es Zeit »still zu stehen« (11), damit nicht beide den Tod finden (13). Die intendierte Lehre, einem Blinden nur solange zu folgen, wie er auf dem rechten Weg bleibt, setzt voraus, daß man selbst Augen hat, um zu sehen, und den Weg kennt. Daran soll jeder, der seine fünf Sinne und Verstand besitzt (ein ieslich versunnen man 15), gedenken (14); er möge dem blinden Lehrer - dem pfaffen also, den das guot blind gemacht hat, - nicht folgen, wenn dieser ihm gegen Entgelt erlauben will zu sündigen und ihn so vom rechten Weg abführt. Denn er verfügt selbst über die Fähigkeit zu sehen: wan er selbe wol gesihtl (23). Selbst sehen, den Weg kennen (d. h. über laikale und geistlich theologische Bildung verfügen und dies nutzen können), dennoch dem blinden Führer folgen (d. h. sich dem unantastbaren Amt wissend und freiwillig unterstellen) und in der konkreten Situation der Verführung durch den geldgierigen pfaffen nur »still stehen« (d. h. eigenverantwortlich, innerhalb der eigenen Standesgrenzen und doch zuständig für das Ganze auf dem rechten Weg beharren, damit nicht beide untergehen) - präziser läßt sich die Brisanz und auch das Dilemmatische dieses laienethischen Balanceakts kaum ins Bild setzen. In unserem nächsten Textbeispiel wird diese Brisanz bezogen auf den Standort des Autors selbst explizit gemacht, der diese Ethik vermittelt. Die Unterscheidung von Amt und Person, der dogmatisch normative Ansatzpunkt der pfajfen-Knnk, wird in >Die törichten Pfaffen« 21 mit besonderer theologischer Subtilität dargelegt, und das scharfe Urteil über die verschämten pfaffen (l47) wird ausdrücklich an die theologische Kompetenz des Kritikers gebunden. Es kulminiert in einem besonders krassen exemplum, das die pfaffen als träge Wachhunde vorführt, die gierig an den guten Bissen kauen, die ihnen die Diebe listig in den Rachen geworfen haben, um sie zum Schweigen zu bringen. Da meldet sich ein Kritiker des ^/a^w-Kritikers zu Wort: sumlicher denchet öde giht, ich si der pfaffen meister niht, ich sul niht sprechen in ir dinc. (289-291)
Herausgefordert ist damit, gerade angesichts der selbstherrlich erscheinenden Kompetenz des Kritikers, dessen ständische Legitimation. Die Antwort 20 21
Zitiert nach SCHWAB, Unveröffentlichte geistliche Bispelreden [Anm. 1], Nr. 77, S. I48f. Zitiert nach MOKl.l.KKEN [Anm. 17], Bd. IV, Nr. 107, S. 16-33.
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Christa Ortmann/Hedda Ragotzky
(292—326) mutet wie trickreiche Sophisterei an: (1) Die pfaffin-Schehe schlägt unvermittelt in ein pfaffen-Lob um, und der Kritiker bestreitet, jemals etwas Böses über pfaffen gesagt zu haben. (2) Er macht sich seine Fähigkeit der Unterscheidung von guten und bösen pfaffen zunutze und behauptet, daß böse pfaffen gar keine pfaffen sind. Niemals wird er die geweihten Toren (306) zu den pfaffen gesellen. (3) Die ganze Schöpfung soll und wird sie daher ausstoßen, denn sie haben Gott Schaden zugefügt - nicht der Kritiker selbst natürlich wird sie so strafen, denn er ist nicht ihr meister. Vielmehr ist er (4) nur ein törichter Laie und hält fest an dieser Rolle: daz ich an chunst und ane sin und ein tumber tore bin, swelhen pfaffen ich nu lere, der hat des lutzel ere. der wissage ist guneret, swenne in der esel leret. als ist der pfaffe geschont, des valsch den chinden ist bechant. (319-326)
Der Schlußvers läßt die Katze aus dem Sack, er offenbart die Pointenkunst des Strickers, vor allem aber das souveräne literarische Bewußtsein des Autors, denn genau dieses »schändende« Offenkundig-(£