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German Pages 137 [140] Year 1953
HAMBURGER ROMANISTISCHE STUDIEN
A. Allgemeine Romanistische Reihe (Fortsetzung der Reihe „Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen") herausgegeben von Rudolf Grossmann und Hellmuth Petriconi Direktoren des Romanischen Seminars der Universität Hamburg Band 38
H. P E T R I C O N I
DIE VERFÜHRTE U N S C H U L D
BEMERKUNGEN ÜBER EIN LITERARISCHES THEMA
KOMMISSIONSVERLAG: CRAM, DE GRUYTER & CO. HAMBURG 1953
Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck von Eugen Haesen, Hamburg
DIE VERFÜHRTE
UNSCHULD
In Flitners schönem Goethe-Buch stehen folgende Sätze: »Am 14. Januar 1772 wurde in Frankfurt nahe der Hauptwache die Kindesmörderin Susanne Margarete Brandt mit dem Schwert öffentlich unter einem düster barocken Zeremoniell hingerichtet. In dem Prozeß hatten Verwandte und Bekannte Goethes mitgewirkt; eine erschütternde Seelengesdiichte kam zutage und formte sich in dem teilnehmenden Dichter zur Gretchentragödie, die sich nun unlöslich mit der Faustfabel verband. Der Teufelsbündner wurde zum Verführer der Unschuld.«1) Es ist dem Verfasser in seinem Buch nicht um literarhistorische Fragen zu tun, er ruft dem Leser nur bekannte und allgemein anerkannte Tatsachen ins Gedächtnis, und eben deshalb führen wir ihn hier als unverdächtigen Zeugen an. Fügt man zu diesen Tatsachen noch die Liebe zu Friederike oder die Episode aus »Dichtung und Wahrheit«, der Gretchen ihren Namen verdankt, so glaubt man die Teile in der Hand zu haben, aus denen sidi die Tragödie in Goethe geformt hat. Das ist eine Täuschung. Kein Dichter wird einen noch so erschütternden Vorgang, ob er ihn nun selbst erlebt oder sonstwie davon erfahren hat, zur Darstellung bringen, wenn er darin nicht eine Vorstellung oder Anschauung ausgedrückt findet, die ihm gemäß ist, wenn er darin nicht ein aktuelles literarisches Thema erkennt oder entdeckt. Das ist eine Selbstverständlichkeit^ denn wäre es anders, so ließen sidi nicht Werke verschiedenen Inhalts auf denselben Wilhelm Flitner, Goethe
im Spätwerk,
Hamburg o. J. (1947);
S. 245.
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Verfasser beziehen oder gar die Dichtungen einer ganzen Epoche untereinander in Verbindung setzen. So ist es also auch hier, Goethe hat in der Gretchentragödie ein aktuelles literarisches Thema gestaltet, das gerade seiner Aktualität wegen nicht als solches erkannt wird, obwohl es sogar schon einen eigenen Namen hat, mit dem es auch Flitner bezeichnet: es ist das Thema von der verführten Unschuld.
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I
Ita mulierem credulam bis cognovit. . . Poggio, Liber facetiarum, CXLI.
Nachdem wir es dergestalt aus der Taufe gehoben haben, wird man uns gewiß dahin belehren, unser Thema sei erstens so alt wie die Welt und habe zweitens nichts mit der Gretchentragödie zu tun. Wir sind in der Lage, beide Einwände gelten zu lassen, und glauben dennoch im Recht zu bleiben. Die alte Fabel von der verführten Unsdiuld ist ein ausgesprochen komischer Vorwurf. Sie gehört zur großen Gemeinschaft der gefoppten Ehemänner, überlisteten Spröden und anschlägigen Frauen und ließe sich, wie es Eduard Grisebach für die »treulose Witwe« getan hat, in dieser oder jener Verkörperung durch die bekannte Literatur verfolgen. Man könnte sogar von der anderen Geschichte ausgehen, die Petron seinen Eumolp erzählen läßt (Kap. LXXXV—LXXXVII), um unserer Unschuld ebenfalls einen klassischen Stammbaum zu verschaffen, wenn sie nicht in diesem Fall durch das Allzuklassische vielleicht etwas kompromittiert würde2), übrigens sind die beiden Schwänke des Petronius und die 30. Erzählung Boccaccios, die wir unsererseits als »klassisches« Beispiel hinstellen möchten, nach demselben Schema wiedergegeben. In jedem Fall ist die oder der Verführte
Natürlich sind beide Geschichten noch älter, die von dem Pädagogen und seinem Zögling ist schon der Päderastie wegen jedenfalls griechisch, für die ephesische Witwe nimmt Franz Dornseiff wie schon Grisebach indischen Ursprung an. (Petron und 1001 Nacht, in Symbolae Osloenses, Fase. XVIII, Oslo 1938; S. 52.)
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schließlich eifriger bei der Sache als der Verführer: die treulose Witwe aus Ephesus macht am Ende selbst den Vorschlag, den Leichnam ihres Gatten ans Kreuz zu schlagen (der galante La Fontaine hat diese Pointe später gemildert), der ungeduldige Zögling wird von dem Pädagogen zuletzt mit seinen eigenen Worten zurechtgewiesen, und Alibech muß ihrerseits den Eremiten auffordern, den Teufel in die Hölle zu schicken. Nur diese Boccaccio-Geschichte enthält, genau genommen, alle Voraussetzungen, die es erlauben würden, die komische Behandlung des Themas, wenn überhaupt, der tragisch-romantischen Auffassung gegenüberzustellen: Alibech ist ein in jedem Sinne unschuldiges Mädchen, und sie wird verführt, ohne durch die Verführung schuldig zu werden. In der Variante, die die 32. Geschichte bietet, ist die Heldin bereits verheiratet, aber auch sie handelt in gutem Glauben und lädt durch den Umgang mit dem vermeintlichen Engel Gabriel keine Schuld auf sich3). Anders verhält es sich in der 26. Geschichte, an die man immerhin denken könnte, denn Catella wird ebenfalls ohne ihr Wissen verführt, da sie den Liebhaber im Dunkel für ihren Gatten hält, aber sie weiß sich schuldig, als sie den Irrtum bemerkt, und erhört nun trotzdem ihren Liebhaber. Die Geschichte hängt offenbar zusammen mit der vorletzten Erzählung in den »Cento novelle antiche«, wo die Heldin in der Dunkelheit zunächst nur entführt wird und, als sie den Entführer erkennt, sich ihm ergibt, »weil das Glück auf seiner Seite war«. Es ist nicht unsere Absicht, alle Wiederholungen unseres Themas zusammenzustellen, es findet sich überall da, wo man es zu 3
) In dieser Fassung läßt sidi nicht nur das Thema, sondern der Stoff selbst in die antike Literatur zurückverfolgen, wenn auch nur bis in das zweite nachchristliche Jahrhundert, vgl. Gustav Gröber, Uber die Quellen von Boccaccios Dekameron, Straßburg 1913. Die Geschichte ihrerseits ist ägyptischen Ursprungs, vgl. Otto Weinreich, Der Trug des Nektanebos, Wandlungen eines Novellenstoftes, Leipzig und Berlin 1911.
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finden erwartet, inPoggiosFacetien, in den »Cent nouvelles nouvelles«, in den »Nouvelles récréations et joyeux devis« von Des Periers und schließlich bei La Fontaine, so daß man, wie wir es getan haben, wohl behaupten darf, es sei ein stehender Vorwurf. Nur von La Fontaine soll noch einmal die Rede sein, um nach dem ersten auch den dritten Meister dieser Erzählungen anzuführen — ob Chaucer das Thema behandelt hätte, wenn er statt 24 alle 120 Geschichten ausgeführt hätte, bleibt eine müßige Frage. La Fontaine weiß in seinen »Contes et Nouvelles« mehr als einmal von einer verführten Unschuld zu berichten. Für »Le faiseur d'oreilles et le raccommodeur de moules« gilt indessen dieselbe Einschränkung wie für die eine Geschichte Boccaccios, daß nämlich die Heldin verheiratet und sogar in anderen Umständen ist, während in unserer Vorstellung moralische Unschuld und physische Unberührtheit zunächst zusammenfallen. In »Le fleuve Scamandre« könnte wiederum die Verführung etwas fragwürdig erscheinen, insofern der angebliche Flußgott dem Mädchen die Ehe versprochen hatte, und gegen »L'hermite« ließe sich schließlich einwenden, daß nicht das verführte Mädchen, sondern ihre törichte Mutter die eigentliche Hauptperson ist. All diese Vorbehalte sind, das sei zugegeben, nicht allzu gewichtig, und wir könnten uns auf jede der drei Erzählungen berufen, wenn nicht eine andere für uns noch ein besseres Beispiel abgäbe. »Comment l'esprit vient aux filles« ist wie die meisten dieser Geschichten ein kleines Wunderwerk, dessen ausführliche Interpretation, die ihrerseits nur im Rahmen der gesamten »Contes et Nouvelles« angängig wäre, leicht einen Band füllen könnte. Eine bestimmte Vorlage ist nicht bekannt, wohl aber sind es die einzelnen Bestandteile, aus denen es geformt ist4). Es ist zunächst der zweideutige Gebrauch von »donner de l'esprit«, der der Geschichte zugrunde liegt, ähnlich
4 ) Henri Regnier, Œuvres de J. de la Fontaine vains de la France), t. V, Paris 1889; S. 285 ff.
(Les Grands Ecri-
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wie die Wendung von dem in die Hölle geschickten Teufel der 30. Novelle Boccaccios, die La Fontaine in demselben IV. Buch nacherzählt hat. Dazu kommt der ebenfalls verbreitete Gedanke, daß , Liebe die Mädchen klug mache, den der Dichter beiläufig auch in »L'hermite« ausgesprochen hatte, und durch die scheinbar naheliegende, in Wahrheit so originelle Verbindung dieses Gedankens mit dem Ausdruck »donner de l'esprit« erhält diese Wendung nun statt des doppelten zum mindesten einen dreifachen Sinn. Bei Boccaccio hat die besagte Redensart von dem Teufel als solche innerhalb der Erzählung keine weitere Bedeutung, sie wird eingeführt, nur weil sie auch obszön verstanden werden kann, und darin liegt der Witz der Geschichte. In »Comment l'esprit vient aux filles« dagegen soll außerdem gezeigt werden, daß die Mädchen wirklich auf diese Art gescheit werden, und erst dieser Gedanke enthält die eigentliche Pointe. Daß die Geschichte an sich in jeder Wiedergabe ein gutes Ende nimmt, versteht sich, das verlangt schon die poetische Gerechtigkeit, denn da die Verführten nicht schuldig werden, können sie auch keine Strafe erhalten. La Fontaine geht aber in dieser seiner Erzählung einen Schritt weiter und exemplifiziert, daß die Mädchen nicht nur kein Unrecht tun, sondern daß ihnen auch kein Unrecht geschieht, da sie erst dank der Verführung eigentlich zu Verstand kommen — ein Gedanke, der durch den ironischen Vortrag nichts von seiner witzigen Einsicht verliert. Diese Geschichte von einer verführten Unschuld, in ihrer klassischen Formulierung bei Boccaccio, aber auch in der reichsten Instrumentierung La Fontaines, ist in der Tat wohl das beste Beispiel für die hergebrachte Behandlung des Themas, und eine Betrachtung der sonst erwähnten Darstellungen und Autoren würde die Frage nur komplizieren, ohne an der Antwort etwas zu ändern. Umgekehrt ließe sich der Kreis dieser Geschichten und ihrer Verfasser noch erweitern, wenn man auch
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die andere mögliche Lösung in Betracht zieht, daß nämlich die beabsichtigte Verführung vereitelt wird, wie es etwa Margarete von Navarra in der 5. Erzählung des »Heptameron« vorführt. Wiederum brauchte man sich auch nicht auf die »contes« und »nouvelles« zu beschränken, und wenn man so will, ist die ganze »Pucelle« Voltaires nichts als eine Ausführung unseres Themas in Gestalt einer Epenparodie, wobei der Dichter sogar nacheinander die beiden oben genannten Lösungen erwogen hat, indem er in der ursprünglichen Fassung die Verführung zuletzt gelingen, in der endgültigen Fassung mißlingen läßt, übrigens ist Voltaire in der Reihe dieser Autoren der erste, der auch den erotischen Reiz des Themas in den Dienst der Erzählung stellt, um von Fall zu Fall die Teilnahme und Spannung des Lesers zu wecken, während es von Boccaccio bis La Fontaine mit der Tatsache der Verführung sein Bewenden hat, die eine literarische Pointe abgibt wie andere auch. Aber wie auch immer, das Thema ist auf jeden Fall komisch gestaltet, und diese Komik ist hier wie überall die Komik einer besonderen Situation. Etwas, was eigentlich nicht geschehen konnte und auch in Wirklichkeit nicht geschehen würde, daß nämlich eine Frau sich guten Glaubens verführen läßt, wird dabei unter einer bestimmten Voraussetzung realisiert. Die Voraussetzung ist, wie sich denken läßt, eine ungewöhnliche Naivität der Heldin. Sie muß in der Tat »sehr einfältig« (semplicissima) sein, »so einfältig« (cosi semplice), wie sie sich zeigt, »guten Glaubens« (di buona fede), ja, unter Umständen geradezu »albern und töricht« (bamba e sciocca), »ziemlich dumm« (sente dello scemo), ein rechter »Teekessel« (mestola, eigentlich »Kochlöffel«), ein »windiger Kürbis« (zucca-al-vento), eine »Frau Unklug« (donna pocofina), »die wenig Grütze im Schädel hat« (che poco sale ha in zucca), was alles ihr Boccaccio in der 30. und 32. Geschichte des »Decameron« bescheinigt. Und wenn wir La Fontaine fragen, so nennt er sie in »Le faiseur d'oreilles«,
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»L'hermite« oder »Le diable en enfer« wiederum »simple«, »ingénue«; »un peu neuve« und sagt von ihr: »Le trop d'esprit ne l'incommodait point, De ce défaut on n'accusait la belle; Elle ignorait les malices de l'amour; La pauvre dame allait droit devant elle, Et n'y savait ni finesse ni tour.« Es ist, wie man sieht, das Wort »einfältig«, das sich zunächst einstellt und auch in all diesen Geschichten am häufigsten wiederkehrt, wofür Wiederholungen meidende und in Synonymen schwelgende Stilisten wie Boccaccio und La Fontaine die ungünstigsten Beispiele bieten, während etwa in der Erzählung »Le faiseur de pape« aus den »Cent nouvelles nouvelles« das Wort »simple« ausschließlich verwandt und sechsmal wiederholt wird. Damit ist eine Entscheidung getroffen: eine »verführte Unschuld«, die zuerst und vor allem einfältig ist, ist eben eine »verführte Einfalt«! Auch wenn man, wie es hier geschehen ist, die Geschichten auswählt, in denen die Person der Heldin am ehesten dem entspricht, was wir uns unter einer verführten Unschuld vorstellen, bleibt eine solche Bezeichnung irreführend. La Fontaine gebraucht zwar den Ausdruck »innocente«, aber er gebraucht ihn cum grano salis, als synonym mit »ingénue«, wie er ihn auch unterschiedslos auf verheiratete und unverheiratete Frauen anwendet. Da aber die Einfalt der Heldin und die komische Darstellung sich wechselseitig bedingen, so bedeutet es auch dasselbe, ob man sagt, das Thema werde komisch behandelt, oder ob man von vornherein von einem Thema der verführten Einfalt spricht, und erst die Einsicht in diese wechselseitige Bedingtheit erlaubt es, Erzählungen so verschiedener Herkunft sinnvoll zusammenzufassen. In dem Augenblick nämlich, wo z. B. Boccaccios Geschichte von dem vorgeblichen Engel Gabriel so erzählt wird, daß es im Sinne der Fiktion für die Heldin unmöglich ist, den Betrug zu durchschauen, sei es,
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DIE VERFÜHRTE EINFALT daß der Betrüger das unsichtbar machende Vogelnest besitzt oder gar mit dem Bösen im Bunde steht, in diesem Augenblick geht auch die komische Pointe verloren, und es wird überhaupt eine ganz andere Geschichte daraus 5 ).
5) Wir verweisen nochmals auf die ausgezeichnete Untersuchung Weinreichs, der die Wandlungen seines Novellenstoffes an einer überreichen Fülle von Beispielen verfolgt, aber natürlich Poggios Fazetien, die 30. Geschichte Boccaccios oder die entsprechenden Erzählungen La Fontaines nicht berücksichtigen kann.
13 2 Die verführte Unschuld
II nam fuit ante Helenam cunnus taeterrima belli causa... Horatii liber sermonum I, 3.
Ehe wir an unseren eigentlichen Gegenstand herangehen, möchten wir nach den komischen noch einen Bereich ernster oder tragischer Darstellungen aussondern, in denen das Geschehen wiederum gleich oder ähnlich, die Absicht aber nochmals verschieden ist. Wir meinen die zahllosen Werke, die das Lukrezien- oder Virginien-Thema behandeln, wie man es nennen könnte. Es ist, soviel wir sehen, als solches ebensowenig bestimmt oder besprochen worden wie die Themen von der verführten Unschuld und der verführten Einfalt. Auch die Historiker scheinen sich nicht darüber klar zu sein, daß es sich um ein literarisches Anliegen handelt, das nicht in ihre Zuständigkeit gehört. Die Geschichte derLucretia wie die der Virginia wird bekanntlich von Livius erzählt, und die eine ist, wie er selbst zu verstehen gibt, eine Wiederholung der anderen 6 ). Beide Anekdoten haben ein Vor- und Gegenbild in dem einen Bericht über die Verschwörung des Harmodios und Aristogeiton, in der Geschichte von Gyges und Kandaules, wie Herodot sie mitteilt, und in der Erzählung des 19. und 20. Kapitels aus dem Buch der
6) »Sequitur aliud in urbe nefas, ab libidine ortum, haud minus foedo. eventu quam quod per stuprum caedemque Lucretiae urbe regnoque Tarquinios expulerat, ut non finis solum idem decqmviris qui regibus sed causa etiam eadem imperii amittendi esset.« (Livius III, 44, 1.)
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LUCRETIA UND VIRGINIA
Richter7). In all diesen Überlieferungen wird ein politischer Umsturz, nämlich der Untergang der Benjaminiten, Herakliden, Pisistratiden, Tarquinier und Decemvirn, damit motiviert, daß der jeweilige Machthaber oder wer an seiner Stelle steht eine Frau entehrt und die darauf folgende Katastrophe durch einen Akt persönlicher Rache der Beleidigten oder ihrer Angehörigen herbeigeführt wird. Das ist ein zu allen Zeiten gültiges poetisches Verfahren, politische Vorgänge sind zunächst uninteressant, will man dafür menschliche Teilnahme wecken, so müssen auch menschliche Empfindungen und womöglich sexuelle Motive den Anlaß bilden. Schon Homer erklärt die Entstehung des Trojanischen Krieges aus dem Raub der Helena, und noch Flaubert glaubt, den karthagischen Söldneraufstand durch die Liebe Mâthos zu Salammbô motivieren zu sollen. Außerdem läßt der Verlauf der politischen Ereignisse das Walten einer höheren Einsicht einigermaßen vermissen, die poetische Gerechtigkeit aber verlangt, daß die siegreiche Sache auch die gute und die unterlegene die böse sei, deren Bosheit sich vorher durch eine jedermann empörende Untat zu offenbaren hat. Das schlimmste Verbrechen wiederum ist die Entehrung eines Menschen, eine Entehrung, die es ihm nach seiner und seinesgleichen Auffassung unmöglich macht, weiterzuleben, ein moralischer Mord also, der nur durch einen anderen Mord gesühnt werden kann. Worin nun eine solche Entehrung besteht, richtet sich nach der jeweiligen Zeit und Umgebung, und daß der Lyder Kandaules seine Frau nackend sehen läßt, erscheint dem Griechen Herodot so wenig als todeswürdiges Vergehen, daß er erklärend hinzufügt: »Denn bei den Lydern wie fast bei allen Barbaren bringt nackt gesehen zu werden sogar einen Mann in große Schande (lç aicrxwiyv nEyâXriv