Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz [1 ed.] 9783428483792, 9783428083794


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Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz [1 ed.]
 9783428483792, 9783428083794

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STEPHAN HABERLAND Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 30

Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz

Von

Stephan Haberland

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Haberland, Stephan: Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz / von Stephan Haberland. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 30) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08379-2 NE: GT

D6 Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08379-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist im Sommer 1994 fertiggestellt und im Wintersemester 1994/1995 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen worden. Für die Betreuung der Arbeit danke ich Herrn Professor Dr. Walter Krebs. Er hat mir stets die erforderliche wissenschaftliche Freiheit gelassen und den Fortgang der Untersuchung mit kritischem Rat begleitet und gefördert. Daneben bin ich Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Professor Dr. Ulrich Karpen sowie Herrn Professor Norbert Simon fur die Aufnahme dieser Dissertation in die Schriftenreihe „Beiträge zum Parlamentsrecht" sehr verbunden. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes möchte ich meinen Dank für die großzügige Förderung im Rahmen eines Promotionsstipendiums aussprechen. Schließlich haben zum Gelingen dieser Arbeit meine Frau Caroline und meine Tochter Mailin maßgeblich beigetragen, die mit Liebe und Geduld die Höhen und insbesondere die Tiefen eines Doktorandenlebens ertragen haben. Meinem Bruder Dipl.-Ing. Jochen Haberland danke ich für die Erstellung des druckfähigen Manuskriptes.

Bremen, im Januar 1995 Stephan Haberland

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Erstes Kapitel

Verfassungstheoretische und verfassungsrechtsdogmatische Grundlagen A. Herleitung aus dem Demokratieprinzip I. Opposition als Korrelat zur Geltung des Mehrheitsprinzips 1. Mehrheitsprinzip und Vernunfts-(Richtigkeits-)Argument 2. Mehrheitsprinzip und Gleichheitsargument 3. Mehrheitsprinzip und Freiheitsargument 4. Mehrheitsprinzip als formelle Regel der Entscheidungsfindung II. Opposition als Folge des Prinzips der Herrschaft auf Zeit III. Opposition als Folge von Pluralität und Offenheit der grundgesetzlichen Ordnung IV. Ergebnis B. Herleitung aus Art. 67 Abs. 1 GG C. Ergebnis

17 17 19 21 23 25 26 29 31 33 34 36

Zweites Kapitel

Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition und der verfassungsrechtliche Rahmen zur Wahrnehmung dieser Funktionen A. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition

38 39

I. Kontrollfiinktion

40

II. Kritikfunktion

42

III. Alternativ- und Initiativfunktion

43

IV. Integrationsfunktion

45

V. Gemeinsame Aspekte der Oppositionsfunktionen

46

B. Der rechtliche Rahmen des Grundgesetzes zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen I. Die Funktionswahrnehmung begünstigende Vorschriften 1. Die Regelungen des Wahlrechts

47 48 48

10

Inhaltsverzeichnis a) Gleichheit der Wahl

48

b) Allgemeinheit der Wahl

57

c) Freiheit, Geheimheit und Unmittelbarkeit der Wahl

59

d) Ergebnis

60

2. Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Bildung einer parlamentarisch organisierten Opposition a) Die Rechtsstellung der Fraktionen und Gruppen aa) Die Bedeutung des Art. 21 Abs. 1 GG bb) Die Bedeutung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG b) Die Chancengleichheit der Fraktionen

60 61 62 66 69

c) Der gleichberechtigte Zugang zu Ausschüssen und Gremien des Bundestages d) Ergebnis 3. Mittel der Opposition zur Wahrnehmung ihrer Funktionen a) Mißtrauensvotum und Mißbilligungsbeschlüsse

71 77 78 78

aa) Mißtrauensvotum, Art. 67 Abs. 1 GG

78

bb) Mißbilligungsbeschlüsse

80

b) Zitier- und Interpellationsrechte

83

aa) Zitierrecht, Art. 43 Abs. 1 GG

83

bb) Interpellationsrechte

85

(1) Große Anfrage, §§ 100-103 GeschOBT

86

(2) Kleine Anfrage, § 104 GeschOBT

87

(3) Einzelfragen und Fragestunde, § 105 GeschOBT

87

(4) Aktuelle Stunde, § 106 GeschOBT

88

(5) Die Antwortpflicht der Bundesregierung

89

c) Die Beteiligung an den Bundestagsausschüssen

91

aa) Fachausschüsse

91

bb) Untersuchungsausschüsse, Art. 44 GG

93

(1) Erforderlichkeit eines Einsetzungsbeschlusses

94

(2) Änderung des Untersuchungsgegenstandes durch die Parlamentsmehrheit

97

(3) Minderheitsschutz im Untersuchungsverfahren

100

(4) Feststellung des Untersuchungsergebnisses

103

(5) Beendigung des Untersuchungsverfahrens

104

Inhaltsverzeichnis (6) Hervorhebung der Opposition im Untersuchungsverfahren ? cc) Enquete-Kommissionen, § 56 GeschOBT d) Einfluß- und Mitwirkungsmöglichkeiten im parlamentarischen Verfahren

104 105 108

aa) Einberufung des Bundestages auf Verlangen eines Drittels seiner Mitglieder, Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG bb) Die Mitwirkung im Ältestenrat

109 110

cc) Das Rederecht

111

dd) Antrags- und Initiativrechte

113

e) Verfahrensmöglichkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht aa) Organstreitverfahren, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff BVerfGG

115 115

bb) Abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff BVerfGG f) Ergebnis

118 119

II. Die Funktionswahrnehmung begrenzende Vorschriften

120

1. Die freiheitliche demokratische Grundordnung als allgemeine Grenze

120

2. Parteienverbot und Mandatsverlust

122

3. Grundrechtsverwirkung und Mandatsverlust

127

C. Ergebnis

131

Drittes Kapitel

Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition im grundgesetzlich organisierten Verfassungsprozeß ? A. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition durch das im Grundgesetz konkretisierte Gewaltenteilungsprinzip ? B. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition aufgrund der grundgesetzlichen Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems ? C. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition auf Grundlage der parlamentarischen "Minderheitsrechte" ? D. Ergebnis

133 136 140 144 149

12

Inhaltsverzeichnis Viertes Kapitel

Die landesverfassungsrechtlichen Oppositionsnormen und die sich daraus ergebenden Folgerungen für eine Reform des Grundgesetzes 150 A. Der Oppositionsbegriff in den Landesverfassungen B. Opposition als "wesentlicher Bestandteil der Demokratie" C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen an die Opposition

151 156 159

I. Art. 23 a Abs. 2 HmbVerf II. Art. 12 Abs. 1 SchlHVerf und Art. 26 Abs. 2 VerfMV D. Das Recht der Opposition auf Chancengleichheit E. Die landesverfassungsrechtliche Verankerung des Oppositionsführers F. Ergebnis

160 163 167 169 172

Fünftes Kapitel

Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

174

Anhang: Synopse der landesverfassungsrechtlichen Oppositionsnormen

183

Literaturverzeichnis

187

Einleitung In der Staatsrechtslehre und der Politikwissenschaft ist es heute unbestritten, daß einer Opposition im Rahmen der parlamentarischen Demokratie eine wichtige Bedeutung zukommt. So geht Stern davon aus, „daß Opposition ein wesentlicher Faktor ist, der die Funktionsfahigkeit des parlamentarischen Regierungssystems gewährleistet"1, H.-P. Schneider sieht die Opposition als „verfassungsrechtliche Institution"2 an, und nach Jennings ist die Funktion der Opposition „almost as important as that of the Government. If there be no Opposition there is no democracy"3. Die Frage nach der Bedeutung und der Stellung, die einer Opposition im bundesdeutschen Verfassungsrecht zukommt, kann sich mit derart allgemeinen Feststellungen jedoch nicht begnügen. Sie muß ihren Ausgangspunkt vielmehr in der konkreten Verfassungsordnung nehmen und an die dort getroffenen Regelungen anknüpfen. Trotz der Nichterwähnung von Opposition im Grundgesetz, wird vielfach davon ausgegangen, daß „der Begriff Opposition selbst zum Rechtsbegriff 4 geworden sei4. Begründet wird dies vor allem mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die „das Recht auf organisierte Opposition" in zahlreichen Entscheidungen schon frühzeitig ausdrücklich anerkannt5 und somit die parlamentarische Opposition als Verfassungsinstitution rechtlich konkretisiert habe6. Weiterhin verdeutliche die

1

Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 1 (S. 1038).

2

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 3; ähnlich auch Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 21 f. 3

Jennings , Cabinet Government p. 16. 4

Α. Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), S. 1 (2); so auch Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 19; Stern, Staatsrecht I § 23 I I 2 (S. 1038); H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 29 ff. So A. Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), S. 1 (2) unter Hinweis auf die Parteiverbotsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 2, S. 1 ff; 5, S. 85 ff. 6

Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 19; H.-P. Schneider, Rn 29 ff.

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38

14

Einleitung

(zunehmende) explizite Erwähnung von Opposition im Landesverfassungs7 8 recht die Anerkennung der Opposition als "verfassungsrechtliche Kategorie" . Damit stellt sich aber die Frage, was unter Opposition im Rechtssinne zu verstehen ist, ob Opposition also über die Beschreibung einer politischen Erscheinung hinaus normativen Charakter hat oder als normierter Bestandteil der Rechtsordnung selbst konkrete Rechtsfolgen auslöst. Zwar wird der Begriff Opposition auf Landesverfassungs- und einfacher Gesetzesebene mehrfach verwendet, eine „verfassungstheoretische Durchdringung und verfassungssystematische Zuordnimg der einzelnen faktischen Elemente und normativen Aspekte des Oppositionsbegriffs im Hinblick auf das Verfassungsgefuge des Grundgesetzes", wie H.-P. Schneider sie fordert 9, ist damit aber noch nicht verbunden. Gibt man sich also mit der rein statistischen Feststellung einer tatsächlichen Verwendung in Rechtsprechung und verschiedenen Gesetzestexten nicht zufrieden, so bleibt die Frage nach dem spezifischen verfassungsrechtlichen Bedeutungsgehalt von Opposition zu klären. Zu diesem Zweck soll zunächst eingegrenzt werden, was in dieser Untersuchung unter Opposition zu verstehen ist. Soweit ersichtlich, ist die heutige Verwendung des Begriffs Opposition eng mit seinem sprachlichen Ursprung verknüpft. Abgeleitet vom lateinischen „oppositio", „opponere" bedeutet Opposition Entgegensetzung, Gegenüberstellung, Widerspruch 10. Der Eingang des Begriffs Opposition in den politischen Sprachgebrauch wird, ausgehend vom englischen Verfassungsrecht, wo dieser Begriff erstmals zum Tragen kam11, teilweise auf die rein örtliche Bedeutung des Wortes zurückgeführt, da im englischen Unterhaus die nicht an der Regierung beteiligte

7

Vgl. die unten im Anhang dargestellten Art. 25 Abs. 3 BlnVerf, Art. 55Abs. 2 BrdbVerf, Art. 78 BremVerf, Art. 23a HmbVerf, Art. 26 VerfMV, Art. 19 Abs. 2 NdsVerf, Art. 40 SächsVerf, Art. 48 VerfSA, Art. 12 SchlHVerf, Art. 59 VerfThür. 8 Vgl. Zeh, HdbStR I I § 42. Rn 21 f; Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a (S. 1032) spricht von "eigenständigem Rechtsstatus".

9

(2).

H.-P. Schneider, Opposition S. 89 f unter Bezug auf A. Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), S. 1

10

Vulpius, Die Allparteienregiening S. 191 f; Bode, Opposition S. 7; Billing , StL (6. Aufl., 1970) Sp. 779; Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a (S. 1032). 11 Grundlegend dazu Bolingbroke , Letters on the spirit of patriotism (1736), p. 58 ff.

Einleitung

Partei gegenüber („opposite") der Regierung saß12. Den zentralen Aspekt in der politischen Terminologie bildete jedoch die geistige Bedeutung des Oppositionsbegriffs, als eine der Regierungsseite widersprechende oder zu ihr im Gegensatz stehende politische Ansicht13. Begrifflich notwendig für das Bestehen von Opposition sind daher mehrere Auffassungen, die in gewisser Polarität zueinander stehen, also zumindest nicht vollständig kongruent sind. Wurde (und wird) Opposition gegen die Regierung in anderen politischen Systemen jedoch überwiegend als gegen die staatliche Ordnung an sich gerichtet und damit als staatsfeindliche Aktivität angesehen, konnte sie eine verfassungsmäßige Bedeutung erst in einem Staatssystem erlangen, in dem die politische Herrschaft im wesentlichen durch ein nach dem Repräsentationsgedanken zusammengesetztes Parlament bestimmt wird, das auch Minderheiten in den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß mit einbezieht14. Das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition stellt sich hier nicht (mehr) als politisches „Freund-Feind-Verhältnis" dar, sondern ist gekennzeichnet durch ein polarisiertes Wechselspiel in dem von der Verfassung gewährten Rahmen. Gerade in einem solchen parlamentarischen Regierungssystem, das durch die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments charakterisiert ist, kann Opposition eine verfassungspolitische und gegebenenfalls verfassungsrechtliche Dimension erhalten. Daher begrenzen sowohl die Politik- als auch die Staatsrechtswissenschaft den Oppositionsbegriff überwiegend auf die parlamentarische Opposition15. Auch die vorliegende Arbeit hat ausschließlich die parlamentarische Opposition im bundesdeutschen Verfassungsgefuge zum Gegenstand. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob das Grundgesetz, trotz verfassungstextlicher Nichterwähnung, Opposition überhaupt in Rechnung stellt bzw. voraussetzt

Vulpius, Die Allparteienregierung S. 191 f insbesondere Fn 8; Grube, Opposition S. 1; C. Schmid , Die Opposition als Staatseinrichtung S. 51; Zirker, Opposition S. 4. 13

Vgl. zur Begriffsgeschichte insbesondere Bode, Opposition S. 7 f. Nach Luhmann, ZfPol 36 (1989), S. 13, bezeichnet der Begriff Opposition kein selbständiges Phänomen, sondern „hat nur als Moment der Unterscheidung von Regierung und Opposition Sinn". 14

Vgl. auch H. Peters, Opposition S. 156: „Das in Rede stehende Problem der Opposition taucht aber erst wirklich auf in der Repräsentativdemokratie, für die das Vorhandensein eines Parlaments kennzeichnend ist, und wird recht eigentlich akut in der parlamentarischen Regierungsform, d.h. in jener, in der das Parlament nicht nur die Gesetzgebung in der Hand hat, sondern mittels des Mißtrauensvotums auch die Bestimmung der Regierung, also die Spitze der Exekutive, maßgeblich beeinflußt." Ähnlich bereits H. Bell, StL (5. Aufl., 1929) Sp. 1718. 15 Vgl. etwa Stern, Staatsrechtl § 23 I I I 2 b (S. 1039); H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 3; Fraenkel, Art. Opposition S. 226.

16

Einleitung

oder ihr gar eine verfassungsrechtlich eigenständige Stellung einräumt, die sie von anderen Teilen des Parlaments abgrenzbar macht. Unter Berücksichtigung dieser Fragestellung ist zu untersuchen, ob einer Opposition im Verfassungsprozeß eine besondere Bedeutung zukommt, gegebenenfalls durch die verfassungsrechtliche Zuweisung spezifischer Aufgaben und Funktionen, und inwieweit das Grundgesetz ein parlamentarisches Instrumentarium zur Verfugung stellt, das die Ausübung von Opposition ermöglicht. Die Aktualität der umrissenen Problematik wird verdeutlicht durch die Diskussionen um die Einfuhrung von Oppositionsvorschriften auf Landesverfassungsebene und im Rahmen einer Grundgesetzreform 16. Alle seit 1990 neu erlassenen oder reformierten Landesverfassungen erwähnen die Opposition ausdrücklich, stellen ihre Bedeutung heraus und weisen ihr teilweise bestimmte Befugnisse zu 17 . Es soll daher in einem weiteren Kapitel geprüft werden, welche Auswirkungen die existierenden Landesverfassungsnormen jeweils auf die rechtliche Stellung einer Opposition haben. Anhand dieser Analyse und im Hinblick auf die oben genannte Fragestellung gewonnenen Ergebnisse ist schließlich zu untersuchen, ob es sinnvoll oder gar notwendig erscheint, einen entsprechenden „Oppositions-Artikel" ins Grundgesetz aufzunehmen. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, inwieweit Opposition als politischer Prozeß überhaupt einer verfassungsrechtlichen Normierung zugänglich ist.

Vgl. zu einer Grundgesetzreform in diesem Zusammenhang den Stenogr. Bericht von der 4. öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 10.09.1992 und den Abschlußbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 89 f sowie Sannwald, ZfParl 1994, S. 15 (26 ff). 17

Vgl. die Nachweise oben in Fn 7.

Erstes Kapitel

Verfassungstheoretische und verfassungsrechtsdogmatische Grundlagen Ausgangspunkt einer Untersuchung über die verfassungsrechtliche Bedeutung und Rechtsstellung der Opposition muß die Frage sein, ob sich trotz der Nichterwähnung von Opposition im Grundgesetz aus einzelnen Normen, Prinzipien oder Strukturen Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Verfassung Opposition und ihre Tätigkeit anerkennt, mitdenkt oder gar voraussetzt. Die Annahme, daß dem Oppositionsbegriff ein verfassungsrechtlicher Bedeutungsgehalt zukommt, setzt demnach als erstes voraus, daß eine derartige Anerkennung von Opposition dem Grundgesetz durch Auslegung zu entnehmen ist.

A. Herleitung aus dem Demokratieprinzip Als Anknüpfungspunkt bietet sich hierbei zunächst das in Art. 20 Abs. 1 GG normierte Demokratieprinzip an. Um darzulegen, inwieweit das Bestehen einer Opposition durch das demokratische Prinzip in Rechnung gestellt und mitgedacht wird, reicht es jedoch nicht aus, lediglich festzustellen, daß die Möglichkeit der Bildung und Ausübung von Opposition innerhalb wie außerhalb des Bundestages „schon logischerweise aus dem Begriff Demokratie folge" 1, oder daß zum „Begriff der realen Demokratie... die rechtliche und nicht nur tatsächliche Formierung einer Opposition"2 gehöre. Selbst wenn man die mehrfach 3 im Grundgesetz verwendete Formel der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" als verfassungsrechtliche Grundlage der Op-

Zirker,

Opposition S. 47; ähnlich Grube, Opposition S. 67 f.

2 3

Gehrig, Parlament S. 261. Vgl. Art. 10 Abs. 2, 11 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2, 73 Nr. 10 b, 87 a, 91 Abs. 1 GG.

2 Haberland

18

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen 4

position hinzuzieht, zu deren Prinzipien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und daran anknüpfend auch nach der - soweit ersichtlich einhelligen - Auffassung des Schriftums, das „Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition" zu zählen ist5, kommt der Opposition im Rahmen des Demokratieprinzips nicht notwendigerweise ein apriorischer Eigenwert zu, „der sie bereits eo ipso als konstituierenden Bestandteil der objektiven Verfassungsordnung ausweisen würde"6. Daher ist im folgenden zu untersuchen, ob und inwieweit dem Demokratieprinzip die verfassungsrechtliche Anerkennung einer Opposition konkret zu entnehmen ist. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, daß mit dem sehr diffusen Begriff der Demokratie verschiedene, oft gegensätzliche Ausgestaltungen und Interpretationsmodelle verbunden werden, die sich häufig am ideologischen Standpunkt des jeweiligen Betrachters orientieren. Es kann bei der Festschreibung des im Grundgesetz zugrunde gelegten Demokratiebegriffs daher nicht von einer beliebigen demokratischen Idee ausgegangen werden, sondern es ist zu ermitteln, welche normativ geprägte Ausgestaltung der Demokratie das Grundgesetz enthält. Daher soll hier mit Blick auf die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition versucht werden, einzelne Demokratieelemente aufzuzeigen, die als normative Grundlage einer verfassungsrechtlichen Anerkennung der Opposition herangezogen werden könnten. Den wesentlichen materialen Inhalt des verfassungsrechtlichen Demokratiebegriffs stellt - auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts8 - die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Selbstbestimmung des Volkes dar, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG konkretisiert diese Aussage dahingehend, daß die Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe ausgeübt wird. Alle staatliche Gewalt muß damit stets auf die Legitimation durch den Volkswillen zurückfuhrbar sein9. Um die so charakterisierte

4

Hamann, Das Recht auf Opposition S. 287; H.-P. Schneider, Opposition S. 304. 5

BVerfGE 2, S. 1 (12 f); 5, S. 85 (140).

6

H.-P. Schneider, Opposition S. 366. 7

Vgl. Hesse, Gmndzüge Rn 127; Starck, HdbStR V I I § 164 Rn 53; Stern, Staatsrecht I § 18 I I 3 (S. 603); H.-P. Schneider, Opposition S. 367; siehe dazu auch BVerfGE 5, S. 85 (196). 8 Vgl. BVerfGE 2, S. 1 (12); 5, S. 85 (140); H. Peters, StL (6. Aufl. 1970) Sp. 560 (563); Kriele, W D S t R L 29(1970), S. 46 f. 9 Vgl. BVerfGE 44, S. 125 (141); 47 S. 253 (275); Schnapp, in von Münch/Kunig GG Art. 20 Rn 30.

19

Α. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

Selbstbestimmung zu gewährleisten, sieht das Grundgesetz einige formelle Sicherungen vor. Dazu gehören unter anderem die Notwendigkeit der Existenz einer Volksvertretung mit substantiellen Entscheidungsbefugnissen (vgl. z.B. Art. 63 Abs. 1, 67 Abs. 1, 76 Abs. 1, 77 Abs. 1, 79 Abs. 2 GG), deren Zusammensetzung sich im Rahmen eines freien und offenen politischen Prozesses aus regelmäßigen und freien Wahlen ergibt (Art. 38 Abs. 1, 39 Abs. 1 GG), sowie als Entscheidungsmodus grundsätzlich das Mehrheitsprinzip (Art. 42 Abs. 2, 121 GG)10. Aus letzterem könnte die verfassungsrechtliche Anerkennung von Opposition ableitbar sein.

I. Opposition als Korrelat zur Geltung des Mehrheitsprinzips Das Mehrheitsprinzip wird vom Bundesverfassungsgericht sowohl zu den „fundamentalen Prinzipien der Demokratie"11 als auch zu den Mindestbestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung12 gezählt. Es findet grundsätzlich dann Anwendung, wenn staatliche Entscheidungen von der Gesamtbevölkerung eines Gemeinwesens oder einzelner Staatsorgane auf der Grundlage freier und gleicher Willensbestimmung zu treffen sind, mit der Folge, daß unter Anknüpfung an die Mehrheit der Stimmen der Wille der jeweiligen Majorität als fur das Ganze verbindlich erklärt wird 13 . Im Grundge14

setz ist das Mehrheitsprinzip in unterschiedlicher Ausgestaltung an mehreren Stellen als Entscheidungsmodus festgeschrieben. So ist fur wesentliche staatsorganisatorische Entscheidungen, wie etwa fur die Wahl von Bundespräsident (Art. 54 Abs. 6 GG) und Bundeskanzler (Art. 63 Abs. 2 - 4 GG), das Mißtrauensvotum (Art. 67 Abs. 1 GG), die Vertrauensfrage (Art. 68 Abs. 1 GG), die Gesetzgebung (Art. 77 Abs. 1 GG) sowie allgemein fur Beschlüsse von Bundestag (Art. 42 Abs. 2 GG) und Bundesrat (Art. 52 Abs. 3 GG), stets eine jeweils näher geregelte Mehrheit erforderlich. Das Mehrheitsprinzip ist somit verfassungsrechtlich als Methode der Entscheidungsfindung anerkannt, ohne 10

BVerfGE 2, S. 1 (13); 5, S. 85 (140); Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 (S. 606); Badura, HdbStR I § 23 Rn 30 f; H.-P. Schneider, Opposition S. 380, 383. 11

BVerfGE 29, S. 154 (165) unter Verweis auf BVerfGE 1, S. 299 (315).

12

BVerfGE 2, S. 1 (12 f); 5, S. 85 (140, 198).

13

Von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte

Art. 42 Rn 25; Scheuner, Mehrheitsprinzip S. 8.

14

Zu den unterschiedlichen Mehrheitsarten im GG vgl. nur Achterberg, Parlamentsrecht S. 588 ff und VersteyU in von Münch GG Art. 42 Rn 23.

20

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

allerdings als durchgängiges Prinzip benannt zu sein15. Folge des Mehrheitsprinzips in der Demokratie ist, soweit eine Entscheidung nicht einstimmig erfolgt, die Existenz einer überstimmten Minderheit, die sich der Mehrheitsentscheidung zu beugen hat, da die mit der Mehrheit getroffene Entscheidung als fur den Gesamtverband verbindlich gilt. Es fragt sich aber, ob der überstimmten Minderheit nicht ein Ausgleich zukommen muß, der ihr die Unterwerfung unter die Mehrheitsentscheidung erträglich macht, denn die Staatsgewalt geht nach Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG ja vom gesamten und nicht nur der Mehrheit des Volkes aus. Eine solche Ausgleichsfunktion könnte der Gewährung eines Minderheitenschutzes, einschließlich der rechtlichen Anerkennung von Opposition, zukommen. Es ist somit zu untersuchen, ob mit dem Mehrheitsprinzip notwendigerweise ein Schutz der Minderheit korreliert, aus dem die Anerkennung einer Opposition ableitbar ist. Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, den Geltungsgrund des Mehrheitsprinzips in der Demokratie zu ermitteln. Dabei kommt der Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips, im Hinblick auf die unterlegene Minderheit, eine besondere Bedeutung zu. Das Mehrheitsprinzip ist weder eine notwendige Folge noch eine Besonderheit der Demokratie16. Zwar müssen, angesichts des Neben- und Gegeneinanders der unterschiedlichen partikularen Willen, in einem demokratischen Gemeinwesen Entscheidungen getrof*

fen werden, die fur alle verbindlich sind. Die Mehrheitsregel ergibt sich aber nicht zwangsläufig aus der Demokratieidee. Als Entscheidungsmodus wäre im demokratischen System auch das Einstimmigkeitsprinzip denkbar, denn eine politische Entscheidung ist um so überzeugender, je optimaler die beteiligten 17

Interessen berücksichtigt sind . So gibt es zahlreiche

18

Ansätze, um den Gel-

Vgl. BVerfGE 44, S. 125 (141): „Das Grundgesetz als demokratische Ordnung sieht vor, daß grundlegende staatliche Entscheidungen nach Maßgabe der Mehrheitsregel getroffen werden (Art. 42 Abs. 2, Art. 63 Abs. 2 bis 4, Art. 67 Abs. 1, Art. 52 Abs. 3, Art. 54 Abs. 6). Indes zieht es zugleich der Mehrheitsherrschaft rechtsstaatliche und bundesstaatliche Grenzen, zumal über die Grundrechte, die Erschwerung und Begrenzung der Verfassungsänderung (Art. 79 GG), die Garantie des Rechtsweges gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG), die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3, 97 GG) und sichert diese Grenzen über eine weitreichende Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 93 GG)." 16 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 57 ff; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 79 ff, 175 ff; Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 48; Scheuner, Mehrheitsprinzip S. 13, 62; Herzog, EvStL Sp. 2108; Rausch, Art. Mehrheit S. 279; H. Peters, StL (6. Aufl., 1970) Sp. 560 (566) spricht von einem „unvermeidlichen Notbehelf*. 17

Hesse, Grundzüge Rn 141; teilweise abweichend Böckenförde,

HdbStR I § 22 Rn 53.

Α. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

21

tungsgrund des Mehrheitsprinzips in der Demokratie zu erklären. Hier sollen die im Zusammenhang mit dem vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedeutsamsten kurz dargelegt werden.

1. Mehrheitsprinzip und Vernunfts-(Richtigkeits-) Argument 19

20

Eine bis auf Aristoteles zurückreichende, im Verlauf der Geschichte und auch in heutiger Zeit 21 in verschiedenen Ausprägungen vertretene Auffassung fuhrt das Mehrheitsprinzip auf ein materiales Vernunftmoment zurück, welches in der Mehrheitsentscheidung seinen Niederschlag finde. Die Mehrheit sei am ehesten in der Lage, zu einer richtigen und vernünftigen Entscheidung zu gelangen, denn es sei wahrscheinlicher, daß viele das Wahre und Gute finden, als daß es wenigen gelänge22. Der Gedanke, daß die Mehrheit eine größtmögliche Annäherung an Wahrheit und Richtigkeit gewährleistet, setzt jedoch voraus, daß ein objektiv erkennbares Gemeinwohl im Sinne eines „common sense" oder einer „volonté générale" exististiert, an dem sich politische Entscheidungen zu orientieren 23

haben . So ist auch die „volonté générale" Rousseaus Ausdruck einer rechten Einsicht in das Gemeinwohl, wobei die Autorität des Mehrheitsbeschlusses damit gerechtfertigt wird, daß sich die Minderheit über den wahren Inhalt der volonté générale eben geirrt habe24. Besteht ein derartiges Gemeinwohl und wird dieses durch die Mehrheit verkörpert, so ergibt sich die Notwendigkeit eines Minderheiten- und Oppositionsschutzes allenfalls fur den laufenden

Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 49 sprechen von fünf Grundmustern, während Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 79, Fn 3 von 10 Auffassungen mit „zahlreichen Nuancen" ausgeht. 19

Aristoteles, Politik 1281a-1282a. 20

Vgl. die Nachweise bei Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 84, Fn 26 und Achterberg, Parlamentsrecht S. 585. 21

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre S. 284 f, wohl auch Kriele, W D S t L 2 9 , S. 107 (Aussprache). 22

Vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre S. 284 f. 23 Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 85 weist zurecht darauf hin, daß die Behauptung von der Erkennbarkeit und Verfügbarkeit der Wahrheit zum Merkmal totalitärer Regime geworden ist. 24

Rousseau, Contrat Social, Livre IV, Chapitre II.

22

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

Entscheidungsprozeß, nicht jedoch, sobald die (richtige) Entscheidung verbindlich getroffen ist. Die Akzeptierung einer Opposition würde diesem Ansatz sogar entgegenlaufen, denn der Versuch, die Mehrheitsentscheidung abzuändern, müßte stets als gegen Richtigkeit und Vernunft gerichtet angesehen werden. Auf eine Opposition braucht daher nach diesem Ansatz keinerlei Rücksicht genommen zu werden, da sie sich im Irrtum über das Gemeinwohl befindet. Die Theorie von der Existenz eines erkennbaren und auffindbaren, objektiv richtigen Gemeinwohls, auf das eine Mehrheitsentscheidung stets zurückzufuhren sei, läßt sich jedoch weder abstrakt noch im Hinblick auf die demokratische Ordnung des Grundgesetzes aufrecht erhalten. Zwar ist zu berücksichtigen, daß durch offene Diskussionen, in denen verschiedene Meinungen und unterschiedliche Gesichtspunkte zum Tragen kommen sowie Argumente ausgetauscht werden, der Meinungsbildungsprozeß derart beeinflußt wird, daß Einseitigkeiten und Extrempositionen verhindert werden können, und so zumindest die Hoffnung besteht, die von der Mehrheit akzeptierte Lösung sei auch die vernünftigste . Die Gewährleistung einer „relativ richtigeren" Entscheidung ist darin aber nicht zu erblicken, denn es ist höchst zweifelhaft, ob ein hypothetisches Gemeinwohl das zentrale Entscheidungskriterium der Abstimmenden darstellt. Das Abstimmungsverhalten des Einzelnen wird häufig eher an nicht immer rationalen Einzel- oder Partikularinteressen orientiert sein, als an einem gesellschaftlichen Gesamtinteresse27. Demokratische Entscheidungsprozesse sind konzeptionell sogar darauf angelegt, die von unterschiedlichen Einzelinteressen determinierten Standpunkte durch Annäherung und Kompromiß abzugleichen, um so zu einer fur alle tragfähigen Entscheidung zu gelangen. Als Beispiel sei hier das Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 76 ff GG angeführt, in dem durch zahlreiche Verfahrensschritte gesichert werden soll, daß die Interessen von Bundestag und Bundesrat ausgeglichen werden. Ein Kompromiß stellt aber nicht imbedingt eine richtige oder wahre

Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 91, Zippelius, Mehrheitsprinzip S. 9 f; Dreier, ZfParl 17 (1986), S. 94 (105); s.a. Hofinann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 50: „Plausibler wäre es wohl anzunehmen, daß Mehrheitsentscheidungen meist mittelmäßige Entscheidungen sind und daß die Vermeidung von Extremen aufs Ganze dem Bestand der Gruppe (wenn auch nicht gerade ihrem Fortschritt) forderlich zu sein pflegt." 26

H. Krüger, Allgemeine Staatslehre S. 284. Er fuhrt weiter aus, daß „das Mehrheitsprinzip letzten Endes praktisch und theoretisch nur dann haltbar (ist), wenn der Nachweis gelingt, daß das Mehrheitsprinzip richtigere Entscheidungen erwarten läßt, als jede vergleichbare Lösung." 27

Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 86 ff; Zippelius, Mehrheitsprinzip S. 9 f; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 98 ff.

23

. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

Entscheidung, sondern allenfalls eine solche dar, die für die Mehrheit der Abstimmenden - aus welchen Gründen auch immer - am ehesten akzeptabel 28 ist . Es ist daher nicht gerechtfertigt, eine Mehrheitsentscheidung allein auf29

grund der höheren Stimmenzahl als sachlich richtig anzusehen . Daß auch das demokratische Prinzip des Grundgesetzes nicht von einer materiellen Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips im Sinne einer höheren Richtigkeit oder Vernünftigkeit ausgeht, ergibt sich schon daraus, daß eine Mehrheitsentscheidung grundsätzlich als abänderbar angesehen wird, soweit sich eine andere Mehrheit bildet, die Minorität also zur Majorität wird. Bestünde die Vermutung der Richtigkeit oder Wahrheit der einmal getroffenen Mehrheitsentscheidung, müßte deren Änderung oder Aufhebung stets als unvernünftig gelten. Ein derartiger Ansatz ist mit der demokratischen Kon30

zeption des Grundgesetzes jedoch nicht vereinbar . Auch die „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG, die den Kernbestand der bundesdeutschen Staatsordnung der Mehrheitsentscheidung entzieht, zeigt, daß die Verfassung nicht von der apriorischen Richtig- oder Vernünftigkeit einer Mehrheitsentscheidung ausgeht, denn sonst dürfte konsequenterweise keine Entscheidimg dem Mehrheitswillen entzogen sein. Die Geltung des Mehrheitsprinzips im Grundgesetz kann damit nicht darauf zurückgeführt werden, daß der Entscheidung der Mehrheit ein höherer Richtigkeitsgrad zukommt.

2. Mehrheitsprinzip und Gleichheitsargument

Das Mehrheitsprinzip wird ferner aus der Idee der Gleichheit abgeleitet. Wenn alle Menschen gleich sind, könne als Entscheidungsmodus zwischen ihnen nur das Einstimmigkeitsprinzip, bei dem alle das gleiche Mitbestimmungsrecht haben, oder allenfalls noch das Mehrheitsprinzip als Surrogat der selten erzielbaren Einstimmigkeit gelten, das zumindest die gleiche Chance

Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 88 f. 29

Scheuner, Festschrift Kägi S. 301 (311); Hofinann/Dreier, praxis § 5 Rn 50.

Parlamentsrecht und Parlaments-

30

Zippelius, Mehrheitsprinzip S. 9; Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 86. Vgl. auch Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 369): „Die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip ist keine Feststellung der Wahrheit. Die Anerkennung des Mehrheitsprinzips fur die Beschlußfassung ist zugleich die Anerkennung eines von der Mehrheit abweichenden, aber sachlich gleichberechtigten Standpunktes."

24

1. Kap. Verfassgstheoretische und -dogmatische Grundlagen 31

sich durchzusetzen sichert . Das Mehrheitsprinzip gewährleiste in der Demokratie das größtmögliche Maß an Gleichheit, weil erst durch das Mehrheitsprinzip möglichst viele Aktivbürger das Gefühl erhielten, nur dem eigenen Willen unterworfen zu sein. Erst das Majoritätsprinzip verwirkliche die größtmögliche Übereinstimmung der Individualwillen mit dem Gemeinwillen, ohne daß es auf inhaltliche Richtigkeit ankomme. Die Verbindlichkeit des Mehrheitsprinzips ergebe sich daher allein aufgrund seiner „demokratisch 32

egalitären Legitimität" . Hiernach wäre die Möglichkeit zur Opposition notwendiges Korrelat zur Geltung des Mehrheitsprinzips, denn aufgrund des fortwirkenden Gleichheitsrechtes muß es für die unterlegene Minderheit möglich bleiben, auf die Änderung der einmal getroffenen Mehrheitsentscheidimg hinzuwirken. Daß die Gleichheit der Abstimmenden eine notwendige Voraussetzung des Mehrheitsprinzips ist, läßt sich nicht bestreiten. Allerdings kann die Gleichheit überzeugend allenfalls den Geltungsgrund des Einstimmigkeits-, nicht jedoch des Mehrheitsprinzips begründen. So fuhrt Kelsen zu Recht aus, daß „aus der negativen Präsumtion, daß einer nicht mehr gelte als der andere... 33

noch nicht positiv folgen (kann), daß der Wille der Mehrheit gelten solle" . Es ist demnach auch nicht möglich, das Majoritätsprinzip damit zu rechtfertigen, daß mehr Stimmen ein qualitativ größeres Gesamtgewicht haben als weniger Stimmen, denn dann wäre das Mehrheitsprinzip lediglich ein „notdürftig formalisierter Ausdruck der Erfahrung, daß die mehreren stärker als die wenigeren" sind34, ohne dafür eine materielle Begründungsbasis liefern zu können.

31

Herzog, EvStL Sp. 2108 (2111); von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte auch Rausch, Art. Mehrheit S. 279 f.

Art. 42 Rn 27; vgl.

32 Leibholz, Zum Begriff und Wesen der Demokratie S. 151; ders., W D S t L 29 (1970), S. 104 (Aussprache); Badura, HdbStR I § 23 Rn 31; s.a. Herzog, EvStL Sp. 2108 (2111).

33

Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 9. 34

Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S 9. Auf die rein zahlenmäßige Überlegenheit der Mehrheit stellte John Locke, Two Treatises of Civil Government, Book II, § 96 ab: „The Body should move that way wither the greater force carries it, which is the consent of the majority."

25

Α. Herleitung aus dem Demokratieprinzip 3. Mehrheitsprinzip und Freiheitsargument

Weiterhin wird zur Rechtfertigung des demokratischen Entscheidimgsverfahrens nach dem Mehrheitsprinzip die Idee der Freiheit35 bzw. das Selbstbestimmungsrecht36 der Abstimmenden (zum Teil zusätzlich zum Gleichheitsprinzip) herangezogen. Da im Rahmen einer Gesellschaftsordnung die Notwendigkeit besteht, für alle verbindliche Entscheidungen zu treffen, und das Einstimmigkeitsprinzip dafür nicht praktikabel ist, sei es insgesamt freiheitsschonender, wenn die Regelung die Zustimmung der Mehrheit und nicht nur einer Minderheit finde. Wenn schon nicht alle, so sollten doch möglichst viele Menschen frei sein, d.h. möglichst wenige in Widerspruch zu den ver37

bindlichen Regeln der sozialen Ordnung geraten . Da diese Auffassung allein auf die größtmögliche Freiheit abstellt, ohne der Mehrheitsentscheidung als solcher einen absoluten Richtigkeitsanspruch oder Wahrheitswert zuzuweisen, ergibt sich unmittelbar aus dem Freiheitsgedanken, daß die unterlegene Minderheit die Möglichkeit haben muß, selbst zur Mehrheit zu werden. Somit ist aus der Freiheit der Minderheit der größtmögliche Schutz für sie abzuleiten. Dieser Ansatz würde danach nicht nur die Existenz einer Opposition anerkennen, sondern, wegen der unterdrückten Freiheit 38

der Minderheit durch die Mehrheit, geradezu voraussetzen . Problematisch an der Heranziehung des Freiheitsgedankens zur Begründung der Geltung des Mehrheitsprinzips ist jedoch, daß sich zwar die nach dem Mehrheitsprinzip getroffenen Entscheidungen „insgesamt eines höheren Gra39 des an Freiheit erfreuen als andere" , daß Freiheit im Sinne individueller 40

Selbstbestimmung aber nicht durch Addition eine größere Qualität erlangt . Wird, anders ausgedrückt, das Selbstbestimmungsrecht der Minderheit dadurch unterdrückt, daß sie sich der Mehrheit fugen muß, so spielt es für das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen Unterlegenen keine Rolle, wie hoch

So insbesondere Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S 9. 36

Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 94, 99 f. 37

Denninger, Staatsrecht 2 S. 21 f; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 9 f. 38

Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 101. 39

Hofmann/Dreier,

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 51.

40

Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 51 ; Scheuner, Festschr. Kägi S. 310, (312) sieht darin „nicht mehr als eine Rationalisierung des quantitativen Elements".

26

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

die Zahl derer ist, die seine Freiheit unterdrücken 41. Das Freiheitsargument in seiner individuellen Form kann die Geltung des Mehrheitsprinzips daher allenfalls für die Majorität, nicht aber für die Minorität befriedigend begründen. So wird von den Vertretern dieser Auffassung auch verstärkt die „kollektive Komponente" im Sinne der Freiheit des sozialen Verbandes insgesamt in den Vordergrund gestellt42.

4. Mehrheitsprinzip als formelle Regel der Entscheidungsfindung

Will man sich zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips nicht allein mit Praktikabilitätserwägungen zufrieden geben, so spricht viel dafür, mit Scheuner dem Mehrheitsprinzip keinerlei materielle Grundlage zuzusprechen, son43

dem darin lediglich eine formelle Regel der Entscheidimg zu sehen . Danach ergäbe sich die Anerkennung des Mehrheitsprinzips allein aus dem vorangegangenen Konsens, der bei einer rechtlich organisierten Gemeinschaft seinen Niederschlag in der Verfassung findet, und der insbesondere Anwendungsbereich und Verfahren der Mehrheitsentscheidung festlegt . Dabei kommt der konkreten Verfahrensausgestaltung eine erhöhte Bedeutung zu. Wird der Mehrheitsbeschluß danach „als Verzicht auf endgültigen Wahrheitsanspruch mit begrenztem Verbindlichkeitsanspruch" 45 interpretiert, so muß er nicht von allen für richtig gehalten, sondern nur so lange respektiert werden, bis sich möglicherweise eine Mehrheit für eine andere Lösung gefunden hat. Stellt man somit primär auf diese formelle Komponente ab, so ist das Mehrheitsprinzip an erhebliche Voraussetzungen und Begrenzungen gebunden, Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 51; vgl. auch Zippelius, Mehrheitsprinzip S. 19, der ausfuhrt, daß es ebenso unrealistisch wie unredlich wäre zu bestreiten, daß durch die notwenige Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung die überstimmte Minderheit ihren Preis an individueller Selbstbestimmung bezahlt. Ähnlich Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 8. 42

Vgl. etwa Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 11 und Heun, das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 94. 43

Scheuner, Festschr. Kägi S. 301 (311); wohl auch Rollecke, W D S t L 29 (1970), S. 100 (Aussprache). 44

Scheuner, Festschr. Kägi S. 301 (312); ders., Mehrheitsprinzip S. 55 f; Dreier, ZfParl 17 (1986), S. 94 (106 f). Ähnlich auch Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 c (S. 612), der allerdings in der Einigkeit über die grundlegenden verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien die materielle Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips erblickt. 45

Hofmann/Dreier,

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 53.

Α. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

27

damit die Minderheit die Mehrheitsentscheidung anerkennt, und ihr eine Unterwerfung zumutbar bleibt. Voraussetzung für die Anerkennung des Mehrheitsentschlusses als verbindliche Entscheidung des Verbandsganzen ist zunächst ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Homogenität, insbesondere im politischen, sozialen und kulturellen Bereich46. Es muß ein Grundkonsens über die Fundamentalwerte der Gemeinschaft bestehen, auf den sich alle Verbandsmitglieder stützen, mit dem sich alle identifizieren können. Nur im Rahmen eines solchen integrativen Elementes ist gewährleistet, daß ansonsten differierende und gegensätzliche Strömungen in der staatlichen Ordnung zusammengehalten werden können und Mehrheitsentscheidungen akzeptiert werden. Daher müssen die fundamentalen Grundwerte, die in der Verfassung, etwa im Rahmen von Staatszielbestimmungen, Staatsformmerkmalen und Grundrechten zum Ausdruck kommen, sowie insbesondere auch die Verfahrensregeln, die der Mehrheitsentscheidimg zugrunde liegen47, der Disposition der (einfachen) Mehrheit • 48 entzogen sem . Das Grundgesetz kommt diesen Anforderungen insofern nach, als es eine Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 2 GG nur mit einer qualifizierten Mehrheit zuläßt und bestimmte fundamentale Grundwerte der Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG vollständig entzieht. Zu diesen Werten zählen neben den inhaltlichen Voraussetzungen der demokratischen Ordnung auch die verfahrensmäßigen, wie z.B. die zeitliche Begrenzung der Légitima49

tion der Staatsorgane oder die Wahlrechtsgrundsätze . Differenzen dürfen daher nur innerhalb und auf Grundlage eines festgesetzten Grundkonsenses ausgetragen werden, denn nur dort findet das Mehrheitsprinzip seine Berechtigung und können Mehrheitsentscheidungen von der Minderheit akzeptiert werden. Weiterhin ist zu beachten, daß Mehrheit und Minderheit grundsätzlich keine festgefügten, von vornherein feststehenden Größen sind, sondern Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis Rn 55. Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie S. 176 ff m.w.N. nennt als dafür notwendige Stabilitätsmechanismen: Nationalstaatsgedanke, religiös- kulturelle und gesellschaftlich-soziale Homogenität, Existenz einer politischen Kultur und eines politischen Grundkonsenses. 47 Dazu sind vor allem zu zählen: Festlegung des abstimmungsberechtigten Personenkreises, Gleichheit der Abstimmungsberechtigten, Ermittlung der Mehrheit in einem geordneten und fairen Verfahren, Vorkehrungen zur Durchsetzung der Mehrheitsentscheidung; vgl. Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 c (S. 613); Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis Rn 54. 48

Scheuner, Festschr. Kägi S. 301 (312); ders., Mehrheitsprinzp S. 55 f. 49

Hesse, Grundzüge Rn 705. Zu den Wahlrechtsgrundsätzen vgl. unten 2. Kapitel Β 11.

28

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

sich erst im Laufe eines Entscheidungsprozesses bilden50. Dies geschieht häufig, indem sich Minderheiten im Wege des Kompromisses zusammenschließen, um so eine Entscheidung durchzusetzen. Für die überstimmten Minderheiten muß es aber legitim sein, diese Mehrheitsentscheidung in Frage zu stellen, um nach einer „besseren" Losung zu suchen und so selbst zur Mehrheit zu werden. Das Mehrheitsprinzip stellt nur dann einen sinnvollen Entscheidungsmodus dar, wenn unterschiedliche Anschauungen und Auffassungen auch prinzipiell die Chance haben, sich durchsetzen zu können. Das setzt voraus, daß die Mehrheitsverhältnisse grundsätzlich veränderlich sind, also die Minderheit bei der nächsten Entscheidung rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit hat, selbst zur Mehrheit zu werden51. Wo fest umrissene, unverrückbare Gruppen einander gegenüberstehen oder sich verschiedene Auffassungen einem Absolutheitsanspruch nähern, wird das Mehrheitsprinzip kaum anwendbar sein. Die Legitimität des Mehrheitsprinzips hängt also davon ab, daß innerhalb der Gemeinschaft zwar relative, aber keine absoluten, unüberbrückbaren Gegensätze bestehen. Aus der grundsätzlichen Anerkennung der Legitimität unterschiedlicher Anschauungen in der Demokratie ergibt sich damit nicht nur das Erfordernis eines erhöhten Minderheitsschutzes als unerläßliches Korrelat zur Geltung des Mehrheitsprinzips 52, sondern notwendig auch die Möglichkeit zur Opposition als wesensbestimmendem Bestandteil des demokratischen Staates53. Oppositionsgewährung als zwingende Folge der Geltung des Mehrheitsprinzips ist somit überall dort erforderlich, wo dieses Prinzip Geltung beansprucht. Da das Grundgesetz, wie oben aufgezeigt, das Mehrheitsprinzip gerade auch im parlamentarischen Bereich - etwa im Gesetzgebungsverfahren (vgl. Art. 77 Abs. 1 GG) oder bei der Wahl des Bundeskanzlers (vgl. Art. 63 Abs. 2, 67 50

Vgl. BVerfGE 2, S. 143 (162); Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 133. 51

Vgl. BVerfGE 44, S. 125 (145); Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5c (S. 613); Hesse, Grundzüge Rn 143; Scheuner, Mehrheitsprinzip S. 58; Zippelius, Mehrheitsprinzip S. 24. 52

Dazu Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 68: „Der Schutz politischer Minderheiten gehört unmittelbar zu den Funktionsbedingungen der Mehrheitsdemokratie... Minderheitenschutz erweist sich als unabdingbares Korrelat zum Mehrheitsprinzip; er wirkt nicht nur modifizierend und eingrenzend, sondern ermöglicht überhaupt erst die Geltung und Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und macht diese ertraglich. Mehrheitsprinzip heißt immer auch Minderheitsprinzip Γ (Hervorhebung im Original); vgl. auch H.-P. Schneider, Opposition S. 384. 53

Dazu insbesondere Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 101: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition - die Minorität - ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt." Ähnlich auch H.-P. Schneider, Opposition S. 35 m.w.N.; Scheuner, Mehrheitsprinzip S. 58; Rausch, Art. Mehriieit S. 280.

29

. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

Abs. 1 GG) - grundsätzlich als Entscheidungsmodus anerkennt, stellt sich die Anerkennung von Opposition als notwendige Folge dieses Prinzips dar. Gerade der Kontrast zwischen Regierung und Opposition wird als eine der stärk54

sten Ausprägungen des demokratischen Mehrheitssystems angesehen , denn die Möglichkeit des Mehrheitswechsels im Parlament beinhaltet immer auch die Möglichkeit des politischen Machtwechsels. Die Anerkennung einer Opposition durch das Grundgesetz ist somit unmittelbar aus der Geltung des Mehrheitsprinzips als Entscheidungsmodus herleitbar. Aus der Sicht der unterlegenen Minderheit ist die Möglichkeit zur Opposition als notwendiges Korrelat erforderlich, damit sie Mehrheitsentscheidungen akzeptieren kann. In diesem Falle bleibt immer die Möglichkeit erhalten, auf eine Änderung der getroffenen Entscheidimg hinzuwirken.

II. Opposition als Folge des Prinzips der Herrschaft auf Zeit Zu den grundlegenden Elementen in der Demokratie gehört das Prinzip der Herrschaft auf Zeit 55 . Auch aus dieser Ausprägung des Demokratieprinzips könnte die Anerkennung von Opposition ableitbar sein, wenn sich aus dem Grundgesetz ergibt, daß dieser Grundsatz zumindest die Möglichkeit des Bestehens oppositioneller Alternativen erfordert. Ein wesensimmanentes Merkmal der grundgesetzlichen Demokratie ist, daß das Volk nicht unmittelbar an der Staatsleitung beteiligt ist, sondern die Ausübung der Staatsgewalt „besonderen Organen" (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG) obliegt. So wird der Bundestag gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in gleichen und freien Wahlen gewählt, die Mitglieder des Bundestages wählen wiederum den Bundeskanzler (Art. 63 GG), der zusammen mit den von ihm vorgeschlagenen Bundesministern (Art. 64 Abs. 1 GG) die Bundesregierung bildet (Art. 62 GG). Die Staatsleitung erfolgt demnach nicht unmittelbar durch das Volk, sondern ist Sache der im genannten Sinne konstituierten „besonderen Organe". Es gibt somit auch nach dem Grundgesetz „Regierende und Regierte". Als Ausdruck der Volkssouveränität sind die Regierenden und Volksvertreter dem Volk gegenüber aber stets verantwortlich. Deren Herrschaft bedarf daher einer dauernden, nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgten Legiti54

Scheuner, Festschrift Kägi S. 301 (319), s.a. S. 314; Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 c (S. 613). 55

Vgl. BVerfGE 18, S. 151 (154); 44, S. 125 (141); Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 a (S. 608 f).

30

1. Kap. Verfassgstheoretische und -dogmatische Grundlagen

mation, weshalb diese nur fur einen übersehbaren Zeitraum erteilt wird (vgl. Art. 39 Abs. 1, 69 Abs. 2 GG)56. Die Übertragung der Staatsleitung durch die Mehrheit des Volkes an einzelne Personen oder Gruppen auf begrenzte Zeit soll dabei verhindern, daß eine Führungsgruppe sich auf Dauer in den Besitz der politischen Macht bringen kann57. Demzufolge ist es notwendig, „daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und neu legitimiert werden"58. Entsprechendes gilt für die „personellen Träger der obersten politischen Staatsorgane..., damit ihr Verhalten dem Volk verantwortlich bleibt"59. Nur wenn die Herrschaft zeitlich begrenzt und einer periodischen Legitimation unterworfen ist, wird dem demokratischen Urprinzip der Selbstbestimmung des Volkes ausreichend Rechnung getragen. Um diese sich aus Art. 20 Abs. 2 GG ergebenden Grundsätze umzusetzen, sieht das Grundgesetz regelmäßige freie und geheime Wahlen vor (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 1, 38 Abs. 1 Satz 1, 39 Abs. 1 Satz 1 GG). Die Legitimation der Herrschaft durch den Souverän setzt jedoch nicht nur voraus, daß der Legitimationsvorgang selbst frei ist, sondern daß eine Wahl zwischen mehreren Gruppen, die politisch unterschiedliche Ziele vertreten, auch wirklich erfolgen kann. Nur so besteht die Möglichkeit, die Verantwortlichkeit der Herrschenden in höchstmöglichem Maße zu realisieren, indem ihnen die Legitimation gegebenenfalls verweigert und statt dessen einer anderen Gruppe erteilt wird 60 . Sollen Wahlen also nicht zum bloßen Schein verkommen, setzt das Prinzip der Herrschaft auf Zeit zumindest die Möglichkeit der Bildung einer Opposition voraus, die andere Auffassungen als die Regierung vertritt und sich somit als Alternative darstellt. Diese Konsequenz reicht bis in den parlamentarischen Bereich hinein, denn durch die Statuierung des parlamentarischen Regierungssystems, in dem die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt, diesem gegenüber verantwortlich ist, und die reale Möglichkeit eines Machtwechsels institutionell gesichert ist (vgl. Art. 65

56

Vgl. hierzu auch Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 183 ff, 274 f. 57 58 59

Hesse, Grundzüge Rn 153; A¥i-Schneider BVerfGE 18, S. 151 (154). BVerfGE 44, S. 125 (139).

60

Hesse, Grundzuge Rn 153.

Art. 39 Rn 4.

. Herleitung aus dem Demokratieprinzip

31

Abs. 1 Satz 1 a.E., 67 Abs. 1, 68 Abs. 1 GG), schafft das Grundgesetz die Möglichkeit eines Systems alternativer Regierung („Alternanzdemokratie") . Demzufolge ergibt sich auch aus dem im Grundgesetz vorgesehenen Prinzip der Herrschaft auf Zeit, daß zumindest die Möglichkeit der Bildung von Opposition anerkannt ist. Nur soweit eine reale Machtwechselchance besteht, kann die Legitimation der Herrschaft durch die Mehrheit des Volkes, insbesondere unter Berücksichtigimg der jederzeitigen Entzugsmöglichkeit, funktionsgerecht erfolgen.

III. Opposition als Folge von Pluralität und Offenheit der grundgesetzlichen Ordnung Wie bereits angedeutet beruht das demokratische Prinzip des Grundgesetzes nicht auf einem als vorgegebene Größe existierenden, absolut gesetzten Gemeinwohl, das „es nur zu erkennen und dann zu exekutieren gilt" 62 , sondern es statuiert, in den nachfolgend aufgezeigten Grenzen, eine „freiheitliche" oder „offene" Demokratie. Nach einer Formulierung G. Radbruchs lehnt es die Demokratie ab, „sich mit einer bestimmten politischen Auffassung zu identifizieren. Sie ist vielmehr bereit, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen könnte, die Führung im Staate zu überlassen, weil sie ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen nicht kennt"63. Von diesem demokratischen Ansatz her könnten Pluralität und Offenheit ebenfalls Anknüpfungspunkte für die Anerkennung von Opposition durch das Grundgesetz sein. Das Grundgesetz geht prinzipiell von dem gerade skizzierten Leitbild der Demokratie aus, indem es sich gegen die Verabsolutierung jedes Wahrheitsanpruchs wendet. Es statuiert keine abstrakte Demokratiedoktrin, die einen einheitlichen Volkswillen zugrunde legt, sondern normiert mit seiner Ent-

H.-P. Schneider, Rn 157.

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 18; Hesse, Grundzüge

62

Herzog, in Maunz/Dürig Art. 20 Abschnitt I Rn 41. 63

So Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. S. 82; vgl. auch BVerfGE 5, S. 85 (196). Allerdings weist Hesse, Grundzüge Rn 160 zurecht daraufhin, daß die demokratische Ordnung des Grundgesetzes nicht nur einen „Komplex formaler Spielregeln für den politischen Prozeß zur Verfügung stellt", sondern durch ihre Grundwerte einen konkreten Inhalt gewinnt, der die Offenheit der demokratischen Ordnung bedingt aber auch begrenzt.

32

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

Scheidung für die Demokratie eine „konkrete Ordnimg heutiger geschichtlicher Wirklichkeit" 64. Diese Ordnung geht von der Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Meinungen, Interessen und Willensrichtungen aus und gewährleistet deren Existenz insbesondere durch die Grundrechte 65. Allerdings sind dieser Offenheit durch die Verfassung selbst Grenzen gesetzt, indem sie Werte statuiert, die der Änderung entzogen sind (vgl. Art 79 Abs. 3 GG). Daß sich das Grundgesetz fur eine „offene" im Sinne einer pluraien und nicht für eine „totalitäre" Demokratie ausspricht, wird bereits durch die Verbindung des Demokratieprinzips mit den anderen in Art. 20 GG niedergelegten Prinzipien, vor allem dem Gewaltenteilungsprinzip, dem Prinzip der Verfassungsbindung aller Staatsgewalt sowie dem Prinzip der freien Wahl, deutlich 66 . Der mehrfach im Grundgesetz, insbesondere in den dem Schutz der Verfassung dienenden Vorschriften verwendete Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ist die direkte Resonanz des Verfassungstex67

tes auf diesen inneren Vorgang des Art 20 , indem Pluraiität, in noch zu erörternden Grenzen68, geradezu vorausgesetzt wird. Pluralismus als „Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie" 69 bedingt, daß unterschiedliche, sich notwendig partiell widersprechende Grundpositionen im Rahmen der politischen Auseinandersetzung um geeignete Lösungen der Gemeinschaftsprobleme streiten. Sie müssen daher die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit haben, ihre Auffassung im politischen Prozeß zum Ausdruck zu bringen und die damit im Zusammenhang 70

stehenden Konflikte auszutragen . Konflikt und Konkurrenz sind dabei nicht nur Faktoren, die als unvermeidbar hinzunehmen sind, sondern sie dienen auch der Erhaltung politischer Dynamik. Das Grundgesetz sichert daher plu-

64

Hesse, Grundzüge Rn 133. 65

Vgl. BVerfGE 20, S. 56 (97): „Der Grundgesetzgeber hat sich, indem er die freiheitliche demokratische Ordnung geschaffen hat, fur einen freien und offenen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes entschieden." 66

Herzog, in Maunz/Dürig Art. 20 Abschnitt I Rn 42; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, Vorbem. 2. Kapitel (S. 554). 67

So Herzog, in Maunz/Dürig Art. 20 Abschnitt I Rn 42. 68

Vgl. dazu unten 2. Kapitel Β II. 69

Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien S. 197 ff; Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 f (S. 619 f). 70

H.-P. Schneider, Opposition S. 376.

. H e r l e i t g aus dem Demokratieprinzip

33

raiistische Initiativen und Alternativen71 und erkennt grundsätzlich alle im Staat verfolgten Interessen als legitim an. Die Gewährleistung der Existenz solcher Initiativen und Alternativen sowie der Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses, ist eine wichtige Funktion der Grundrechte (insbesondere der Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG) und der Gründungsfreiheit der politischen Parteien mit deren Mitwirkungsmöglichkeit bei der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 GG). Insbesondere diese Normen verdeutlichen, daß es das Ziel der pluralistischen Ordnung des Grundgesetzes ist, die freie Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften zu ermöglichen, um auf diesem Wege politische Entscheidungen herbeizufuh72

ren . Da wesentliche politische Entscheidungen in einer Demokratie im Parlament getroffen werden, bedingt die pluralistische Struktur des Grundgesetzes, daß auch dort die Möglichkeit bestehen muß, oppositionelle Ansichten zum Ausdruck zu bringen. Die Entscheidung des Grundgesetzes fur eine freiheitliche, offene und plurale Demokratie bietet daher einen wesentlichen Ansatzpunkt dafür, daß die Verfassung Opposition rechtlich anerkennt und in Rechnung stellt.

IV. Ergebnis Aus der Synopse der in der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes verankerten Elemente des Mehrheitsprinzips, der Herrschaft auf Zeit und der Statuierung einer offenen und pluralistischen Ordnung wird deutlich, daß zumindest die Möglichkeit von Opposition durch das im Grundgesetz normierte demokratische Prinzip anerkannt, wenn nicht sogar bereits mitgedacht ist. Damit wurzelt die verfassungsmäßige Anerkennung einer Opposition un73

mittelbar im demokratischen Prinzip .

Hesse, Grundzüge Rn 135. 72

Vgl. BVerfGE 5, S. 85 (198); 20, S. 56 (97 ff); Hesse, Grundzüge Rn 133.

73

So BVerfGE 70, S. 324 (363); vgl. auch Kretschmer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 9 Rn 79. Demzufolge bestimmt E. Stein, Staatsrecht (13. Aufl.) § 40 I (S. 364) den Inhalt des demokratischen Prinzips als „die Selbstherrschaft des Volkes durch eine von Parteien, Verbänden und öffentlicher Meinung getragene Volksvertretung unter Bedingungen, die eine Ablösung der Regierung durch eine Opposition möglich machen." 3 Haberland

34

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

B. Herleitung aus Art. 67 Abs. 1 G G Das soeben gewonnene Ergebnis der rechtlichen Anerkennung einer Opposition durch das Grundgesetz aufgrund des Demokratieprinzips könnte weiterhin durch Art. 67 Abs. 1 GG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift kann das Parlament dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen - und somit seine Abwahl erreichen -, daß es mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen (sog. „konstruktives" Mißtrauensvotum). Im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand stellt sich die Frage, inwieweit die konkrete Ausgestaltung des Art. 67 Abs. 1 GG das Vorhandensein einer Opposition in Rechnung stellt. Die Hauptintention des Art. 67 Abs. 1 GG liegt zunächst in der Gewährlei74

stung einer erhöhten Regierungsstabilität. Der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift läßt sich entnehmen, daß Art. 67 Abs. 1 GG verhindern sollte, daß wie noch unter der Regelung des Art. 54 WRV möglich -, eine „unechte", d.h. nur im Negativen einige Parlamentsmehrheit dem Kanzler das Vertrauen entzieht, ohne gleichzeitig eine Mehrheit zu bilden, die zur Stützung einer anderen Regierung bereit und imstande ist. Über diese systemstabilisierende Funktion75 hinaus beinhaltet Art. 67 Abs. 1 GG jedoch die normative Aussage, daß das Grundgesetz die Abwahl des Bundeskanzlers und damit der gesamten Bundesregierung (vgl. Art. 69 Abs. 2 GG) innerhalb der laufenden Legislaturperiode grundsätzlich für zulässig erachtet. Ein solcher Regierungssturz ist aber nur dann denkbar, wenn im Parlament Gruppierungen existieren, die im Gegensatz zur amtierenden Regierung stehen und willens und in der Lage sind, einen neu gewählten Kanzler und dessen Regierung zu unterstützen. Art. 67 Abs. 1 GG bestätigt somit, daß das Grundgesetz von der Möglichkeit des Bestehens einer Opposition im Bundestag ausgeht, die grundsätzlich befugt ist, die Regierung durch ein konstruktives Mißtrauensvotum abzulösen.

Vgl. dazu die Entstehungsgeschichte, dargestellt bei: von Mangoldt, GG-Kommentar(l. Aufl., 1953) Art. 67 Anm. 1 (S. 353 ff); BK-Meder Art. 67 Anm. 1; siehe auch von Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 n.F. (1951), S. 442 ff. 75

Ob Art. 67 GG tatsächlich geeignet ist, die ihm zugesprochene Stabilisierungsfunktion zu erfüllen, wird (zunehmend) kritisch beurteilt, vgl. dazu Abg. von Mangoldt, Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 3. Sitzung v. 16.11.1948, Stenogr. Bericht S. 33; Abg. Dehler ebd.; von MangoIdt/Klein Art. 67 Anm. I I 3 c (S. 1293); Herzog, in Maunz/Dürig Art. 67 Rn 14; Hesse, Grundzüge Rn 635; M. Schröder, HdbStR I I § 51 Rn 41 f; AK-Schneider Art. 67 Rn 11 ; Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 11 ; Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 3 a (S. 990 f).

35

Β. Herleitung aus Art. 67 Abs. 1 GG

Eine Opposition ist damit von Art. 67 Abs. 1 GG als potentielle Mehrheit mitgedacht76, so daß auch dieser Vorschrift zu entnehmen ist, daß das Grundgesetz eine Opposition zuläßt und in Rechnung stellt. Über die so skizzierte Anerkennung der Opposition hinausgehend wird Art. 67 Abs. 1 GG von weiten Teilen des Schriftums als „die eigentliche Le77

78

gitimationsbasis der Opposition" angesehen . Nach dieser Auffassung fordert das Grundgesetz durch Art. 67 Abs. 1 GG eine homogene und verantwortungsbereite Opposition, zumindest insoweit, als sich die Legitimation zum Regierungssturz nicht allein aus einer bloßen Mehrheit im Parlament, sondern erst aus der Bereitschaft ergebe, selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen. Aus Art. 67 Abs. 1 GG folge Hann aber nicht nur die Befugnis der Opposition, innerhalb einer Legislaturperiode einen Regierungswechsel herbeizuführen, sondern auch die Berechtigung zu jeder auf dieses Ziel gerichteten verfassungskonformen Tätigkeit, wie etwa öffentlicher Kritik, politischer Werbung etc. Art. 67 Abs. 1 GG betone daher in besonderem Maße Aufgabe 79

und Stellung der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem . Ob dem Art. 67 Abs. 1 GG wirklich eine derart gewichtige Bedeutung für die verfassungsrechtliche Statuierung von Opposition zukommt, erscheint jedoch fraglich. Einer Opposition werden durch Art. 67 Abs. 1 GG, außer der Möglichkeit des Mißtrauensvotums (die immer die Konstituierung einer Mehrheit voraussetzt), weder ausdrücklich parlamentarische Rechte eingeräumt, noch wird - wie im gesamten Grundgesetz - der Ausdruck Opposition überhaupt erwähnt. Aus der Entstehungsgeschichte und der systematischen Stellung des Art. 67 Abs. 1 GG im VI. Abschnitt des Grundgesetzes („Die Bundesregierung") wird vielmehr deutlich, daß die Vorschrift vor allem der Regierung eine erhöhte Bestandsgarantie einräumt. Gerade die Verknüpfung

76

Gehrig, DVB1. 1971, S. 633 (636); Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 11; M. Schröder, HdbStR I I § 51 Rn 36. 77

H.-P. Schneider, Opposition S. 192; ähnlich Gehrig, DVB1. 1971, S. 633 (636): „eigentliche verfassungsrechtliche Grundlage". 78

Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 3; M. Schröder, HdbStR I I § 51 Rn 36; AKISchneider Art. 67 Rn 2; Landshut, Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition S. 407; Füsslein, ZfPol 6 (1959), S. 310 (312 f); Gehrig, Parlament S. 262 f; ders., DVB1. 1971, S. 633 (636); Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 48 Rn 33; Jaras s/Pieroth Art. 67 Rn 1; Pietzner, EvStL Sp. 2327 (2330 f). 79

Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 3; Füsslein, ZfPol 6 (1959), S. 310 (312 f); Landshut, Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition S. 407; H.-P. Schneider, Opposition S. 192 f; M. Schröder, HdbStR I I § 51 Rn 36.

36

1. Kap. Verfassungstheoretische und -dogmatische Grundlagen

der Abwahl des Kanzlers mit der Wahl eines Nachfolgers zu einem Akt bewirkt eher eine Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten der Opposition, etwa im Vergleich zu einem „einfachen" Mißtrauensvotum. Die Vorschrift bedeutet somit zwar „politisch gesehen, daß das Grundgesetz die Regierung praktisch nur einem Bundestag gegenüber verantwortlich sein läßt, dessen oppositionelle Mehrheit homogen genug ist, um ihrerseits Verantwortung zu 80

übernehmen" . Darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Rückschlüsse auf die Stellung und bestimmte Befugnisse der Opposition sind aus Art. 67 Abs. 1 GG aber nicht ableitbar. Insbesondere werden (verfassungskonforme) Tätigkeiten, die auf den Regierungssturz hinwirken sollen, wie etwa Kritik an der Regierung, Strategien zur Spaltung von Koalitionen etc., nicht vom normativen Gehalt des Art. 67 Abs. 1 GG umfaßt 81. Art. 67 Abs. 1 GG bestätigt somit zwar, daß das Grundgesetz eine Opposition impliziert, die grundsätzlich befugt ist, den Bundeskanzler durch Mißtrauensvotum abzuwählen. Gewährleistungen betreffend der Ausübung oppositioneller Tätigkeiten oder auch Restriktionen dahingehend, daß ausschließlich eine homogene und konstruktive Opposition vom Grundgesetz als zulässig erachtet wird, sind dem Art. 67 Abs. 1 GG jedoch nicht zu entnehmen.

C. Ergebnis Die bisherigen Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß das Grundgesetz Opposition zwar nicht ausdrücklich erwähnt, sich aber trotzdem Anhaltspunkte dafür finden lassen, daß Opposition verfassungsrechtlich zugelassen, mitgedacht und (wohl auch) vorausgesetzt wird. Wesentlicher Anknüpfungspunkt ist dabei das in Art. 20 Abs. 1, 2 GG normierte Demokratieprinzip. So ist die Möglichkeit von Opposition als notwendiges Korrelat zur Geltung des Mehrheitsprinzips als parlamentarischem Entscheidungsmodus anzusehen, damit die überstimmte Minderheit bei späteren Entscheidungen darauf hinwirken kann, selbst einmal zur Mehrheit zu werden, um so ihre Auffassungen durch-

Abg. C. Schmid , 9. Plenumssitzung des Parlamentarischen Rates vom 6. Mai 1949, Stenogr. Bericht S. 173. 81

So aber H.-P. Schneider, Opposition S. 192 f, der „den gesamten Aufgabenbereich einer kohärenten Opposition innerhalb des Parlaments" vom normativen Gehalt des Art. 67 erfaßt sieht; vgl. auch Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 11 f.

C. Ergebnis

37

zusetzen. Dem Prinzip der Herrschaft auf Zeit ist zu entnehmen, daß die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Volk nur Hann in höchstmöglichem Maße realisiert ist, wenn zumindest die Möglichkeit besteht, ihr Verhalten durch Entzug der Legitimation und Übertragung der Herrschaftsmacht auf eine andere Gruppierung zu sanktionieren. Das Bestehen einer Alternative in Form von Opposition wird demnach auch hier verfassungsmäßig in Rechnung gestellt. Eine gewichtige Grundlage für die Anerkennung von Opposition stellt weiterhin die Statuierung einer offenen und pluralistischen Ordnung durch das Grundgesetz dar. Diese Ausprägung des Demokratieprinzips hat zur Folge, daß die im demokratischen System des Grundgesetzes verfolgten Interessen und Willensrichtungen als grundsätzlich gleichwertig angesehen werden, und eine freie Auseinandersetzung zur Herbeiführung politischer Entscheidungen durch zahlreiche Bestimmungen gewährleistet ist. Damit zeigt sich, daß gerade im Parlament, als dem Ort, an dem sich die im Volk vertretenen Auffassungen wiederspiegeln und bestehende Konflikte ausgetragen werden, Opposition möglich sein muß. Berücksichtigt man weiterhin, daß Art. 67 Abs. 1 GG unter den dort genannten Voraussetzungen die Abwahl des Bundeskanzlers ermöglicht, an der in dieser Form regelmäßig nur eine der Regierung entgegenstehende Auffassung, also eine Opposition, ein Interesse hat, so wird deutlich, daß Opposition als Teil der parlamentarischen Demokratie vom Grundgesetz in Rechnung gestellt, verfassungsrechtlich mitgedacht und als Möglichkeit sogar vorausgesetzt wird.

Zweites Kapitel

Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition und der verfassungsrechtliche Rahmen zur Wahrnehmung dieser Funktionen Im vorangehenden Abschnitt wurde festgestellt, daß Opposition vom Grundgesetz, wesentlich beruhend auf dem Demokratieprinzip in seinen genannten Ausprägungen, zugelassen und mitgedacht ist. Diese Anerkennung von Opposition sagt jedoch noch nichts darüber aus, welche Bedeutung und welche Aufgaben der Opposition über ihre Existenz hinaus im Verfassungsprozeß zukommen. Versteht man den Verfassungsprozeß als Prozeß der Verwirklichimg von Staatszwecken, also als einen auf die Umsetzung von Zwekken in die soziale Wirklichkeit gerichteten Handlungsablauf, der bei einem normativ vorgegebenen Staatszweck seinen Anfang nimmt und bei einem Verhalten endet, das keiner weiteren Konkretisierung oder Umsetzung in die soziale Wirklichkeit mehr bedarf, so wird sich die Stellung und die Bedeutung von Opposition erst dann beurteilen lassen, wenn man ihre Funktionen im Rahmen dieses Prozesses ermittelt hat. Es ist demnach im folgenden zu untersuchen, welche verfassungspolitischen Funktionen einer Opposition zugewiesen werden und welchen Rahmen und welche Mittel das Grundgesetz zur Verfügung stellt, damit diese Funktionen von der Opposition wahrgenommen werden können. „Funktion" ist dabei als die Aufgabe, der Zweck 2

und die Leistung anzusehen , die Opposition im Verfassungsprozeß zu erbringen vermag.

1 So Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 27 f; vgl. auch Erichs en, VerwArch 70 (1979), S. 249 (255).

2

Vgl. Krawietz, Das positive Recht und seine Funktionen S. 39 ff; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 23.

Α. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition

39

A. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition Die verfassungspolitischen Funktionen, die einer Opposition im Verfassungsprozeß zugewiesen werden, knüpfen eng an das oben skizzierte Demokratieprinzip an. Da mit Opposition in dieser Untersuchimg ausschließlich parlamentarische Opposition gemeint ist, sind auch ihre Funktionen parlamentsbezogen zu ermitteln. Das Parlament als ein „besonderes Organ" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, durch das die Staatsgewalt des Volkes ausgeübt wird, unterscheidet sich von anderen Staatsorganen dadurch, daß es unmittelbar aufgrund von Volkswahlen (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) gebildet wird und so in seiner Zusammensetzung zumindest idealtypisch die unterschiedlichen politischen Auffassungen der Wähler unmittelbar wiederspiegelt. Damit werden die verschiedenen Ideen, Zielvorstellungen und Ansichten der Wahlbürger ins Parlament hinein verlängert, so daß auch Minderheitsauffassungen dort repräsentiert sind. Da sich die Opposition regelmäßig in einer Minderheitsposition befindet, Minderheit und Opposition somit in direktem Zusammenhang zueinander stehen3, können sich ihre Funktionen nicht darin erschöpfen, als solche im Parlament existent zu sein. Das bloße Bestehen von Opposition allein dürfte nicht ausreichend sein, dieser die Bedeutung einer „verfassungsrechtlichen Institution"4 oder eines „wesentlichen Bestandteils der parlamentarischen Demokratie"5 zuzuschreiben. Vielmehr wird sich eine derartige Beurteilung allenfalls dann rechtfertigen lassen, wenn der Opposition Funktionen zukommen, die einen gewissen Einfluß auf den Verfassungsprozeß implizieren. Eine solche Aufgabenzuweisung kann sich allerdings nicht in reiner Negation, verbunden mit der Hoffnung, einmal selbst zur Mehrheit zu werden, erschöpfen. Im parlamentarischen Regierungssystem wird die Regierung regelmäßig zumindest von den parlamentarischen Gruppierungen getragen, die einzeln oder gemeinsam über eine Mehrheit verfügen. Dadurch wird die Regierung häufig nur von einem Ausschnitt der im Parlament zum Tragen kommenden Auffassungen geprägt sein. Das Demokratieprinzip beruht aber wesentlich auf der Idee, daß auch Minderheitsansichten in irgendeiner Weise Eingang in die staatliche Willensbildung finden und den 3

In diesem Sinne etwa Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 2 b (S. 1038 f); vgl. auch oben 1. Kapitel Α. I. 4

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 3. 5

So die Formulierung einiger Landesverfassungen, vgl. Art. 55 Abs. 2 Satz 1 BrdbVerf,Art. 23a Abs 1. HmbVerf, Art 12. Abs. 1 Satz 1 SchlHVerf, ähnlich auch Art. 25 Abs. 3 Satz 1 BlnVerf und Art. 59 Abs. 1 VerfThür.

40

2. Kap. Verfassimgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Verfassungsprozeß mit beeinflussen 6. Nur unter Berücksichtigung dieser Gedankengänge können die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition bestimmt werden, nur so kann Opposition eine eigenständige Bedeutung im Rahmen des Verfassungsprozesses gewinnen. Von diesem Ansatz her werden einer Opposition in der Politikwissenschaft 7 und daran anknüpfend auch in der Staatsrechtslehre8 bestimmte Funktionen zugewiesen. Grundlage dieser Aufgabenzuweisung ist die sogenannte „klassische Funktionentrias" Kontrolle, Kritik und Alternativenbildung, die in ihren Wurzeln bis in das englische Verfassungsrecht des 18. Jahrhunderts zurückzufuhren ist9. Diesen klassischen Funktionen werden in der neueren Entwicklung weitere hinzugefügt, die sich teils aus einer näheren Ausdifferenzierung dieser Funktionen ergeben, teils aber auch zumindest partiell darüber hinausgehen10.

I. Kontrollfunktion Als eine zentrale Funktion von Opposition wird die Kontrolle der Regierung und auch derjenigen Teile des Parlaments angesehen, auf die sich die Regie-

6

Vgl. oben 1. Kapitel A.

Vgl. etwa Steffani, Art. Opposition S. 317; Sebaldt, Thematisierungsfunktion S. 18 f; Kevenhörster, StL (7. Aufl., 1988) Sp. 169 (170). 8

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 34 ff; H. H. Klein, HdbStR I I § 40 Rn 31 ; Grube, Opposition S. 11 ff; Zirker, Opposition S. 39 ff; Hesse, Grundzüge Rn 169. 9

Grundlegend dazu die von Bolingbroke 1736 verfaßte Schrift „On the spirit of patriotism", vgl. insbesondere p. 58 f. 10 So gliedert etwa Steffani, Art. Opposition S. 317 die Oppositionsfunktionen wie folgt: (1) Kontrolle der Regierung einschließlich des von ihr zu verantwortenden Verwaltungshandelns; (2) Kritik der Regierungspolitik (gegebenenfalls durch das Aufzeigen von Alternativen); (3) Erarbeitung von Alternativpositionen (Sachalternative); (4) Selektion und Ausbildung qualifizierter Regierungsaspiranten (Personalalternative); (5) stete Bereitschaft zur Regierungsübernahme; (6) Mahnung zur Wahrung von Freiheit und Minderheitenschutz, Recht und Ordnung (Opposition als „Hort und Hüter der Freiheit"); (7) Integration von Minderheitsgruppen in den politischen Prozeß und (8) durch Mobilisation der Öffentlichkeit als eigentlicher „Beweger der Politik" zu wirken. Sebaldt, Thematisierungsfunktion S. 18 f schreibt der Opposition eine Kontroll-, Alternativ-, Initiativ- oder Thematisierungs- und Integrationsfunktion zu. H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 34 ff sieht neben den drei „klassischen" Funktionen das Machtwechselziel, Mobilisierung und Aggregation, Innovation und Reformbereitschaft sowie Partizipation über Konsens und Konflikt als Aufgaben der Opposition an.

. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition

41

rung stützt11. Um der Rolle der Opposition gerecht werden zu können, kann Kontrolle hier aber nicht auf ein Begriffsverständnis verengt werden, das sich auf eine nachrangige Überprüfung eines Regierungshandelns oder einer Regierungsentscheidimg mit dem Ziel beschränkt, Mißstände aufzudecken, um diese mit politischen und gegebenenfalls rechtlichen Mitteln zu sanktionieren. Anknüpfend an ihren semantischen Ursprung 12 ist Kontrolle vielmehr als Vergleich aufzufassen, der die Beurteilung einer Handlung, Entscheidung oder eines Sachverhalts unter Heranziehung bestimmter Kontrollmaßstäbe beinhaltet. Kontrolle kann somit abstrakt als „dynamischer Prozeß der Verhältnisbestimmung zwischen einem Soll-Wert und einem Ist-Wert" verstanden werden, sie dient also der Verhältnisbestimmung zweier Phänomene zueinander13. Dabei bezieht sich Kontrolle nicht nur auf den Endpunkt eines bereits vollständig abgeschlossenen Vorgangs, sondern kann in allen Phasen eines Entscheidungsprozesses stattfinden 14. Kontrolle in diesem Sinne hat damit im Rahmen staatlicher Entscheidungsprozesse einen mitlaufenden und mitgestaltenden Charakter. Gouvernementales Handeln ist umfangreichen und unterschiedlichen Kontrollprozessen unterworfen deren Notwendigkeit sich daraus ergibt, daß der Regierung mit der Steuerung staatlicher Prozesse eine Aufgabe übertragen ist, die einerseits ein hohes Maß an Sachkompetenz und politischer Sensibilität für die staatlichen Probleme erfordert, andererseits aber auch die Gefahr eines Machtmißbrauchs impliziert. Kontrolle hat dabei sowohl eine machthemmende als auch eine mitgestaltende Funktion. Die Kontrolle der Regierung durch das Parlament wird nach dem hier vertretenen Kontrollverständnis zwar nicht ausschließlich oder überwiegend15, aber zumindest auch von der Opposition wahrgenommen. Wenn es auch fraglich ist, ob der Opposition eine eigenständige, von der der Parlamentsmehrheit differenzierbare Kontrollfunktion zu-

11

Zirker, Opposition S. 41; Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a (S. 1035); Gehrig , Parlament S. 126 f, 135 ff; H.-P. Schneider , Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 41; Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140; Grube, Opposition S. 54 ff; Gusy, AöR 106 (1981), S. 329 (346). 12 Vgl. Gehrig, Parlament S. 3; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 4, jeweils m.w.N. 13

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 5, 17; Strößenreuther, deninterne Kontrolle S. 26 f, 38. 14

5

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 34 ff. So aber ein Teil des Schrifttums, vgl. unten 3. Kapitel vor A.

Die behör-

42

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

gewiesen ist 16 , so wird sich Oppositionskontrolle von anderer (Parlaments-) Kontrolle vor allem durch die Wahl ihrer Kontrollmaßstäbe und Kontrollmittel unterscheiden. Die Opposition kann anhand rechtlicher Vorgaben, insbesondere des Grundgesetzes prüfen, ob sich die Tätigkeit der Regierung im Rahmen der Verfassung bewegt, oder anhand eigener politischer Maßstäbe beurteilen, inwieweit sich die Regierung an ihre Wahlversprechen und ihr Regierungsprogramm hält und ihren „Wählerauftrag" erfüllt. Weiterhin kann sie das Regierungshandeln mit oppositionsspezifischen Zielen und Interessen vergleichen, um Abweichungen von den eigenen Vorstellungen festzustellen und gegebenenfalls publik zu machen. Dieser ständige, den gesamten staatlichen Entscheidungsprozeß begleitende Vergleich des Ist-Zustandes mit dem von der Opposition erstrebten SollZustand fuhrt dabei nicht nur zur (möglichen) Negation der Regierungsansicht und zur Hemmimg der Exekutivgewalt, sondern hat auch einen innovativen und rationalisierenden Charakter. Das Einbringen von spezifischen Kontrollmaßstäben in die politische Willensbildung durch die Opposition kann zu einer höheren Sachrichtigkeit staatlicher Entscheidungen fuhren. Einerseits besteht die Möglichkeit, daß bisher nicht erkannte Aspekte in die Entscheidungsbildung aufgenommen werden, und andererseits wird die Regierung oppositionelle Kontrollergebnisse zumindest schon deswegen berücksichtigen, weil sie damit rechnen muß, ihre Entscheidungen auch öffentlich zu rechtfertigen. Begangene Fehler können dabei der Opposition zugute kommen. Oppositionskontrolle dient damit nicht nur dem Aufspüren staatlicher Mißstände mit dem Ziel, die Regierung zu diskreditieren. Vielmehr kommt ihr im Verfassungsprozeß die Funktion zu, durch mitlaufenden Vergleich staatliche Entscheidungsprozesse zu rationalisieren und zu einer erhöhten Sachrichtigkeit der Entscheidungen beizutragen.

II. Kritikfunktion In engem Zusammenhang mit der Kontrollfunktion steht die Kritikfunktion der Opposition. Bezieht man auch das Verständnis von Kritik nicht nur auf Negation und Ablehnung, sondern versteht man unter Kritik, ihrem griechischen Ursprung entsprechend, die Bewertung oder Beurteilung eines Vorgan16

Dazu ausführlich unten das 3. Kapitel und 4. Kapitel C II.

Α. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition

43

17

ges , so ist die Kritik einer Opposition geeignet, einen dialektischen Prozeß in der Politik herbeizuführen. Indem die Opposition sich mit der Politik der Regierungsseite auseinandersetzt und auf Mißstände, Fehleinschätzungen und Schwachpunkte von Regierungsverhalten und Regierungsentscheidungen hinweist, kann sie, neben dem Effekt, daraus eventuell selbst politischen Vorteil zu ziehen, auf rationale, sachkundige und problembewußte Entscheidungen hinwirken, und so zumindest mittelbar auf den staatlichen Entscheidungsprozeß Einfluß nehmen. Da die Opposition auf diesem Wege auch von ihr repräsentierte Minderheitsansichten in den Willensbildungsprozeß einfuhrt, finden diese wenigstens insoweit Berücksichtigung, als sie bei den Parlaments· und Regierungsentscheidungen erwogen werden müssen, um der Opposition möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Die durch die Kritikfunktion der Opposition bewirkte Dialektik kann im Verfassungsprozeß somit ebenfalls dazu führen, daß durch Artikulation und Berücksichtigung unterschiedlicher Argumente und Sichtweisen staatliche Entscheidungen optimiert werden und sich ihre Sachrichtigkeit erhöht.

III. Alternativ- und Initiativfunktion Als weitere Funktion der Opposition wird die Entwicklung und Darstellung von Alternativen gegenüber der Regierung und gegebenenfalls deren Durchsetzimg angesehen. Dieser Alternativfunktion werden unterschiedliche Aspekte zugeordnet18. Zum einen bezieht sie sich darauf, daß die Opposition sachliche Alternativen zur Politik der Regierung und der Regierungsmehrheit aufzeigt, denn diese wird, entweder weil es nicht ihren Interessen entspricht oder wegen vorhandener Steuerungsdefizite im Regierungsbereich, nicht immer alle Entscheidungsoptionen erkennen können bzw. erkennen wollen. Es ist daher Aufgabe einer Opposition, durch Erarbeitung eigener Programme und Entwicklung eigener Vorschläge bezüglich staatlicher Entscheidungen, die Regierung und die Öffentlichkeit auf die Vernachlässigung anderer möglicher Entscheidungsoptionen hinzuweisen und eventuell eine Korrektur zu erwir-

Vgl. H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 39. 18

Vgl. Sebalde Thematisieningsfiinktion S. 335 ff; H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 43 f; K. Simon, Opposition und politische Kultur S. 148 ff.

44

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

ken. Opposition beschränkt sich aber nicht darauf, Abweichungen und Differenzierungen zu den von der Regierung und Regierungsmehrheit erkannten Problemen und dazu vorgenommenen Lösungen vorzunehmen. Vielmehr kommt ihr, wie jüngst ausfuhrlich nachgewiesen wurde 19, in hohem Maße eine Initiativ- oder Thematisierungsfunktion zu. Diese Funktion besteht darin, daß die Opposition Themen aufgreift und in den politischen Willensbildungsprozeß einbringt, die von Regierungsseite bisher überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Ob man hierin eine vollkommen eigenständige Oppositionsfunktion sehen kann, die sich von der Alternativfunktion dadurch unterscheidet, daß sie völlig neue Themen aufgreift, während bei Alternativen für bereits bekannte Probleme nur andere Lösungen vorgeschlagen oder bestehende mo20

difiziert werden , mag dahingestellt bleiben. In jedem Falle stehen Alternative und Initiative in einem derart engen Zusammenhang, daß eine trennscharfe Ausdifferenzierung zumindest für die vorliegende Untersuchung nicht notwendig erscheint. Ein zweiter Schwerpunkt der oppositionellen Alternativfunktion liegt in der Entwicklung und Bereitstellung personeller Alternativen, um zu zeigen, daß auch die Opposition in der Lage ist, die Regierungsverantwortung zu übernehmen. So hat sich in Großbritannien die Praxis entwickelt, Schattenkabinette („Shadow Cabinets") im Sinne einer auf Regierungswechsel ausgerichteten, nach Ressorts gegliederten alternativen Führungsgruppe zu bilden. Auch in der Bundesrepublik hat dieses System durch die Aufstellung sogenannter „Regierungs-" oder „Wahlkampfmannschaften" - wenn auch in abgeschwächter Form - Anwendung gefunden 21. Im Gegensatz zur sachlichen Alternativenbildung, deren Adressat regelmäßig die Regierung und die Wähler sind, richten sich die personellen Alternativen ausschließlich an die Wähler, denn die Regierungsseite kann zwar im Einzelfall sachliche Alternativvorschläge akzeptieren, kaum aber personelle, da dies ihre eigene Existenz in Frage stellen würde. Zusammenfassend ist die Alternativfunktion der Opposition in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Einerseits kann die Entwicklung sachlicher Alterna19

Vgl. Sebaldt, Die Thematisierungsfunktion der Opposition, Frankfurt a.M. 1992; ders., ZfParl 23 (1992), S. 238 ff. 20

So Sebaldt, Thematisierungsfunktion S. 18; ähnlich: K. Simon, Opposition und politische Kultur S. 151. 21

Vgl. Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982 S. 765; ders., Datenhandbuch Bundestag 1980- 1987 S. 678.

45

Α. Die verfassungspolitischen Funktionen der Opposition

tiven und Initiativen dazu fuhren, daß Oppositionsanliegen in den staatlichen Willensbildungsprozeß einfließen, denn auch die Regierungsseite wird daran interessiert sein, von ihr fur gut befundene Oppositionsvorschläge unmittelbar oder mittelbar 22 in ihre Entscheidungen aufzunehmen. Damit beeinflußt auch die Opposition den Verfassungsprozeß und gestaltet ihn mit. Andererseits verdeutlicht die Opposition durch die Darstellung vermeintlich besserer sachlicher und personeller Lösungen, daß sie sich nicht in Negation erschöpft, sondern daß auch sie in der Lage ist, Regierungsaufgaben wahrzunehmen. So kann sie sich als potentielle Regierung von morgen, als „komplette Regierung 23

im Wartestand" präsentieren und ihr „Machtwechselziel" unterstreichen. Auch dieser Wettbewerb kann der Optimierung von Sach- und Personalentscheidungen dienen, weil ein Fehlverhalten der Regierung stets der Opposition nützen kann und umgekehrt.

IV. Integrationsfunktion Eine weitere Aufgabenzuweisung an die Opposition stellt die Integrationsfunktion dar 24. Parlamentarische Mehrheit und Minderheit werden jeweils von Gruppierungen gebildet, die ein bestimmtes Interessenspektrum repräsentieren. Dabei ist grundsätzlich nur die Mehrheit in der Lage, ihre Auffassungen unmittelbar durchzusetzen. Der Opposition wird jedoch die Aufgabe zuge25

sprochen, als „institutionalisierte Hoffnung der Unzufriedenen" durch die Mehrheit nicht vertretene Gruppen an sich zu binden, indem sie deren Themen, Ideen und Vorstellungen aufgreift und in den Verfassungsprozeß einführt. Dadurch wird zumindest mittelbar gewährleistet, daß diese Ansichten in die staatliche Willensbildung einfließen und bei Entscheidungen Berücksichtigung finden können. Wird diese Funktion optimal ausgefüllt, so sind grundsätzlich alle Personengruppen und Sachinteressen am politischen Entscheidungsprozeß in irgend einer Form beteiligt. Die Integrationsfunktion dient damit in hohem Maße dazu, durch die Regierung und Regierungsmehrheit nicht repräsentierte Gruppen und Ansichten an die innerhalb des politi-

22

Vgl. Sebalde ZfParl 23 (1992), S. 238 (260).

23

H.-P. Schneider, Parlaments ree ht und Parlamentspraxis § 38 Rn 35. 24 25

Vgl. etwa Steffani, Kaltefleiter,

Art. Opposition S. 317; Sebaldt, Thematisierungsfunktion S. 18 f.

Aus Politik und Zeitgeschehen Β 31/1973, S. 1 (3).

46

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

sehen Systems agierende Opposition und damit an den Staat selbst zu binden. So kann und soll verhindert werden, daß vernachläßigte Minderheiten sich systemfeindlichen und extremistischen Kräften anschließen.

V. Gemeinsame Aspekte der Oppositionsfunktionen Die vorangehende Darstellung der Oppositionsfunktionen zeigt, daß schon die „klassischen" Oppositionsfunktionen nicht trennscharf auseinanderzuhalten sind. So kann etwa die Kontrolle, auch wenn sie, wie hier, lediglich als Vergleich verstanden wird, bereits Kritik und „konstruktive" Kritik bereits Alternatiworschläge enthalten. Es ergeben sich daher schon bei den klassischen Oppositionsfunktionen weitreichende Überschneidungen, so daß eine weitere Ausdifferenzierung innerhalb dieser Funktionen fur die vorliegende Untersuchung keinen Erkenntnisgewinn verspricht. Für die Beurteilung der Bedeutung der Opposition im Verfassungsprozeß scheint es vielmehr von Interesse zu sein, ob sich nicht die genannten Funktionen auf einen gemeinsamen Aspekt zurückfuhren lassen, der die einzelnen verfassungspolitischen Aufgaben einer Opposition im Verfassungsprozeß noch unterstreicht. Läßt man einmal die durchaus wichtige Tatsache außer Betracht, daß es regelmäßig Antriebsfeder oppositioneller Gruppierungen sein wird, die Regierungsmacht zu erlangen, und berücksichtigt man die Funktionen einer Opposition im „laufenden" Verfassungsprozeß, so wird deutlich, daß alle genannten Funktionen zumindest auch der Optimierung staatlicher Entscheidungen dienen können. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß dem Grundgesetz kein Gemeinwohlinteresse zugrunde liegt, das es nur zu erkennen und durchzusetzen gilt, und auf dessen Erreichung alles staatliches Handeln gerichtet sein muß26. Vielmehr ergeben sich die zu verfolgenden Ziele erst durch die Abwägung unterschiedlicher Partikularinteressen, so daß deren Organisierung und Artikulation auch und gerade im Wege des Konflikts zur Dynamisierung des politischen Prozesses beiträgt. Indem die Opposition die Politik der Regierungsseite kontrolliert, kritisiert, Alternativen sowie Initiativen präsentiert, dient sie in hohem Maße der Überprüfung und Beurteilung staatlicher Ent-

26

Vgl. oben 1. Kapitel A I, III.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

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Scheidungsprozesse und kann auch korrigierend wirken 27. Der Anlegung pluralistischer Maßstäbe durch eine Opposition kommt daher verstärkt die Funktion zu, staatliche Entscheidungen zu rationalisieren und zu optimieren, um sie so einer höheren Sachrichtigkeit zuzuführen. Gerade darin ist, neben der Bereithaltung einer alternativen Staatsleitung, die wesentliche Aufgabe einer Opposition, die in allen genannten Funktionen enthalten ist, zu sehen. Man kann daher zusammenfassend von einer Mitentscheidungs- und Optimierungsfunktion sprechen, die einer Opposition im Verfassungsprozeß zukommt.

B. Der rechtliche Rahmen des Grundgesetzes zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen Wurde im vorangehenden Abschnitt festgestellt, daß der Opposition im Rahmen des Verfassungsprozesses wichtige Funktionen zukommen, so stellt sich hier die Frage, ob und in welchem Ausmaß das Grundgesetz in rechtlicher Hinsicht die Gewähr dafür bietet, daß die Opposition diese Funktionen auch wahrnehmen kann. Das Verfassungs- und insbesondere das Parlamentsrecht stellen ein weit gefächeltes Instrumentarium zur Verfügung, das eine vielfaltige Einwirkung auf den Verfassungsprozeß ermöglicht. Im Hinblick auf die Opposition ist jedoch zu berücksichtigen, daß sie sich häufig in einer Minderheitsposition befinden wird, aus der sich in Bezug auf die grundsätzli28

che Geltung des Mehrheitsprinzips Beschränkungen der von ihr verwendbaren Mittel ergeben können. Es bedarf daher einer Untersuchung, welche Vorschriften es der Opposition in welchem Rahmen ermöglichen, im Bundestag entsprechend ihrer Aufgaben und Ziele tätig zu werden. Weiterhin ist zu prüfen, inwieweit das Grundgesetz auch Restriktionen hinsichtlich einer Oppositionsbildung und Oppositionsausübung vorsieht.

Schon C. T. Welcker kam in seinem, für das Staatslexikon von 1843 verfaßten Beitrag „Systematische Opposition" S. 321 zu der Erkenntnis, daß das Gegenübertreten einer Oppositionszur Regierungs- oder Ministerialpartei „zur steten möglichst sorgfältigen Prüfung aller Staatsmaßregeln, zur Enthüllung und Verbesserung ihrer Einseitigkeiten und Fehler" fuhrt. Vgl. dazu auch Luhmann, ZfPol 36 (1989), S. 13 (20); Kramm, ZfPol 33 (1986), S. 33 (41). 28

Vgl. dazu oben 1. Kapitel Α. I.

48

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

I. Die Funktionswahrnehmung begünstigende Vorschriften 1. Die Regelungen des Wahlrechts

Die Existenz eines pluralistischen Interessengefüges im Parlament erfordert, daß allen gesellschaftlich relevanten Gruppen zumindest die Möglichkeit eingeräumt wird, angemessen im Bundestag, als einzigem unmittelbar gewähltem Staatsorgan, vertreten zu sein. Die Oppositionsfunktionen können nur dann effektiv im oben genannten Sinn wahrgenommen werden, wenn die von der Regierungsposition abweichenden Auffassungen auch im Parlament vertreten sind. Bedingung dafür ist zunächst ein Wahlrecht, das eine personelle Zusammensetzung des Bundestages gewährleistet, in der sich alle im Volk vertretenen politischen Willensrichtungen und Zielvorstellungen grundsätzlich wiederspiegeln. Daß dem Wahlrecht eine erhebliche Bedeutung für die Oppositionsbildung zukommt, zeigten bereits die Wahlrechtsdebatten des Parlamentarischen Rates, in denen der Oppositionsaspekt für die Ausgestaltung des 29

Wahlrechts eine wichtige Rolle spielte . Zentrale Verfassungsnorm für die Ausgestaltung des bundesdeutschen Wahlrechts ist Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Diese Vorschrift bestimmt, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt" werden. Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand stellt sich die Frage, ob diese Wahlrechtsgrundsätze in ihrer konkreten Ausgestaltung eine den pluralistischen Interessen der Wähler entsprechende Zusammensetzung des Bundestages in ausreichendem Maße gewährleisten können, um sicherzustellen, daß auch Oppositionsansichten im Parlament vertreten sind.

a) Gleichheit der Wahl Die Wahlgleichheit ist eng mit dem Grundsatz der Demokratie verbunden und beruht wesentlich auf dem Gedanken, daß bei der Wahrnehmimg zentra-

29

Vgl. etwa die Äußerungen im Parlamentarischen Rat (Plenum) der Abg. Süsterhenn, 2. Sitzung v. 08.09.1948, Stenogr. Protokoll S. 22; Schmid , 6. Sitzung v. 20.10.1948, Stenogr. Protokoll S. 70; Kroll 7. Sitzung v. 21.10.1948, Stenogr. Protokoll S. 113 sowie die ausfuhrliche Darstellung bei H.-P. Schneider, Opposition S. 194 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der O p p o s i t i o n s f n k t i o n e n 4 9

1er politischer Gestaltungsrechte, wie insbesondere der Wahl, eine Differenzierung in Form der Bevorzugung oder Benachteiligung aufgrund Bildung, Religion, Vermögen, Stand, Geschlecht, politischer Anschauungen etc. als 30

unzulässig anzusehen ist . Wahlrechtsgleichheit bedeutet demnach, daß die Stimme jedes Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben muß, ob er mm oppositionelle Interessen verfolgt oder nicht. Dieser gleiche Einfluß bezieht sich bei einem Verhältniswahlsystem, wie es in der Bundesrepublik grundsätzlich31 besteht, sowohl auf den gleichen Zählwert als auch den gleichen Erfolgswert einer abgegebenen Stimme. Zählwertgleichheit ist dabei gegeben, wenn jeder nach den allgemeinen Vorschriften Wahlberechtigte die gleiche Stimmenzahl besitzt und diese bei der Feststellung des Wahlergebnisses mit dem gleichen Wert gezählt wird, wie die Stimmen der anderen Wähler auch32. Weiterhin gewährleistet die Wahlgleichheit den gleichen Erfolgswert, d.h. jede abgegebene Stimme muß bei der Ermittlung der personellen Zusammensetzung des Parlaments in gleicher Weise Berücksichtigung finden 33. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl in Ausprägung der Zählwert- und Erfolgswertgleichheit bewirkt damit, daß alle Wähler grundsätzlich den gleichen Einfluß auf die Bildung des Bundestages haben und ist danach geeignet, eine Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten, in der alle im Volk zum Ausdruck kommenden Ansichten vertreten sind. Eine nicht unerhebliche Relativierung der Erfolgswertgleichheit folgt jedoch aus der in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG normierten 5%- Sperrklausel. Nach dieser Vorschrift werden Parteien bei der Verteilung der Bundestagssitze nur dann berücksichtigt, wenn sie „mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten" haben. Für den Gegenstand dieser Untersuchung ist die Sperrklausel deswegen von erheblicher Bedeutung, weil sie - von den in § 6 Abs. 6 Satz 1, 2. Fall BWahlG normierten Ausnahmen abgesehen - verhindert, daß (Minderheits-) Gruppierungen im Bundestag vertreten sind, die das erforderliche Quorum nicht erreichen. Damit

30

BVerfGE 6, S. 84 (91); Bleckmann, Staatsrecht I Rn 1878. 31

Zu den Besonderheiten der nach dem Bundeswahlgesetz geltenden „personalisierten Verhältniswahl" vgl. H. Meyer, HdbStR I I § 38 Rn 46 ff; Schreiber, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 12 Rn 31 ff; Stern, Staatsrecht I § 10 I I 1 (S. 301 f). 32

BVerfGE 34, S. 81 (99 f); Schreiber, Wahlrecht § 6 Rn 23a; Seifert, Rn 23. 33

Seifert, 4 Haberland

Bundeswahlrecht § 6 Rn 23; Schreiber, Wahlrecht § 6 Rn 23a.

Bundeswahlrecht § 6

50

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

wird eine wirklichkeitsnahe Abbildung der Wählerschaft im Bundestag unter Umständen erheblich beeinträchtigt. Sind jedoch nicht alle gesellschaftlich relevanten Gruppen im Parlament vertreten, so ist auch eine optimale Verwirklichung der Oppositionsfunktionen nicht gewährleistet. Das Fehlen bestimmter Oppositionsansichten im Bundestag kann etwa dazu fuhren, daß deren spezifische Kontrollmaßstäbe bei der Beurteilung von Regierungsentscheidungen sowie daraus hervorgehende Alternatiworschläge nicht berücksichtigt werden oder diese Ansichten wegen fehlender parlamentarischer Repräsentation nicht in die politische Willensbildung einfließen. Es stellt sich demnach die Frage, ob die 5%-Sperrklausel, speziell im Hinblick auf die Verwirklichung der Oppositionsfunktionen im Verfassungsprozeß, als verfassungsmäßige Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit angesehen werden kann. Die Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausel hängt zunächst von der Feststellung ab, ob und inwieweit die sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergebende Wahlrechtsgleichheit überhaupt einschränkbar ist. Unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 GG läßt sich eine Begrenzungsmöglichkeit, etwa im Wege eines Gesetzesvorbehaltes, nicht entnehmen. Auch die Regelung des Art. 38 Abs. 3 GG („Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.") berechtigt den Gesetzgeber nur zur Ausfüllung des in Art. 38 Abs. 1 und 2 GG vorgegebenen Rahmens, nicht aber zu einer von diesen Vorschriften - insbesondere den Wahlrechtsgrundsätzen - abweichenden Rechtsetzung34. Eine ausdrückliche Ermächtigung, auf die sich die Einführung einer Sperrklausel stützen könnte, besteht somit nicht35. Eine Einschränkungsmöglichkeit könnte sich jedoch aus dem Charakter der Wahlrechtsgleichheit als Gleichheitssatz ergeben. So vertritt vor allem das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, daß es sich bei dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl um einen Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG handelt. Der Grundsatz der gleichen Wahl unterscheide sich vom allgemeinen Gleichheitssatz lediglich durch seinen formalen Charakter 36. Der allgemeine Gleichheitssatz lasse grundsätzlich Differenzierungen zu, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind. Ob und in 34

Von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 67; Pieroth/Schlink, Bundeswahlrecht Art. 38 Rn 46.

Staatsrecht I I Rn 1154; Seifert,

35

Schon wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Ermächtigung im Grundgesetz wird die Sperrklausel von Teilen des Schrifttums als verfassungswidrig eingestuft, vgl. etwa Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 241 ff, 380; Hamann/Lenz Art. 38 Β 5 d. 36

BVerfGE 34, S. 81 (98); 51, S. 222 (234).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der O p p o s i t i o n s f n k t i o n e n 5 1

welchem Ausmaß der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richte sich nach der Natur des jeweils infragestehenden Sachbereichs. Für den Sachbereich der Wahlen sei nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG davon auszugehen, daß jedermann sein Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können muß, denn der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verlange, daß alle Wähler mit ihrer abgegebenen Stimme den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben. Aus dieser Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit folge, daß dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibe, die deshalb besonderer 37

rechtfertigender, zwingender Gründe bedürften . Mit dieser Begründung modifiziert das Bundesverfassungsgericht jedoch die von ihm als formalisiert angesehene Wahlrechtsgleichheit zugunsten des all38

gemeinen Gleichheitssatzes , und überträgt das dem Gesetzgeber in Art. 3 Abs. 1 GG eingeräumte Ermessen - wenn auch in begrenzter Form - auch auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Aus dem Charakter der Wahlrechtsgleichheit als Gleichheitssatz und der daraus folgenden „Überordnung" des Art. 3 Abs. 1 GG folgt nach dieser Auffassung somit, daß Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit auch ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung grundsätzlich zulässig sind, soweit sie den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben genügen. „Nur diese Überordnung (des allgemeinen Gleichheitssatzes) macht es verständlich, daß die Wahlrechtsgleichheit trotz ihrer unter dem Verhältniswahlsystem „radikalen" Formalisierung unter gewissen Voraussetzungen überhaupt durchbrochen werden darf' 39 . Die verfassungsdogmatische Anknüpfung an Art. 3 Abs. 1 GG, um Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit zu rechtfertigen, ist jedoch aus mehreren Gründen bedenklich. Neben der systematischen Erwägung, daß 40

Art. 38 Abs. 1 GG den Art. 3 Abs. 1 GG als speziellere Norm verdrängt , besteht die Gefahr, daß bei der Auslegung der Wahlrechtsgleichheit auf Diffe-

37

BVerfGE 1, S. 208 (256); 51, S. 222 (237); 82, S. 322 (338).

38

In diesem Sinne ausdrücklich Leibholz, Sperrklauseln und Unterschriftsquoren, in ders., Strukturprobleme in der modernen Demokratie S. 41 (47). 39

BVerfGE 4, S. 375 (382).

40

Von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 40 m.w.N.; Antoni , ZfParl 11 (1980), S. 93 (99); Jarass/Pieroth Art. 3 Rn 2; Bleckmann, Staatsrecht I Rn 1878; vgl. auch H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 147; Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 148. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß das Bundesverfassungsgericht auch aus prozessualen Gründen auf Art. 3 Abs. 1 GG zurückgreift, vgl. dazu H. Meyer, HdbStR I I § 38 Rn 23; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81 f).

52

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

renzierungskriterien des allgemeinen Gleichheitssatzes zurückgegriffen wird, die dem Bereich der Wahlen nicht gerecht werden und so zur sachfremden Rechtfertigung von Wahlrechtsbegrenzungen führen 41. Zwar stellt das Bundesverfassungsgericht immer wieder auf den „formalen" Charakter der Wahlrechtsgleichheit ab und betont deren begrenzte Einschränkbarkeit. Wenn das Gericht aber in einzelnen Entscheidungen ausführt, daß bei der Erfolgswertgleichheit der Stimme „im Rahmen der allgemeinen Gleichheit aus ver42

nünfitigen Gründen begrenzte Differenzierungen gerechtfertigt sein" können oder bei Durchbrechungen der Wahlrechtsgleichheit nach der Willkür der Maßnahmen fragt 43, wird deutlich, daß die selbst gestellten Anforderungen an die Differenzierungskriterien vom Gericht nicht immer beachtet werden. Weiterhin ist die unterschiedliche Struktur von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu berücksichtigen. Während Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber sowohl nach der sog. Willkürformel als auch nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, einen Gestaltungsspielraum im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips beläßt44, beinhaltet die Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG eine solche Gestaltungsfreiheit gerade nicht. Vielmehr verlangt der Grundsatz der gleichen Wahl eine strikte Gleichheit, denn er soll gewährleisten, daß das ganze Wahlvolk zur Zusammensetzung des Bundestages in gleicher Weise beiträgt. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG kann daher nicht zur Disposition einer Einschränkung „aus sachlichen 45

Gründen" stehen . Die verfassungsdogmatische Anknüpfung an Art. 3 Abs. 1 GG als das dem Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG „übergeordnete" Gleichheitsrecht, kann damit die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit nicht rechtfertigen. Es verbleibt demnach nur noch die Möglichkeit, daß sich die Einschränkbarkeit der Wahlrechtsgleichheit immanent aus der Verfassung ergibt. Eine solche Schranke könnte sich aus den Wahlrechtsnormen in Verbindung mit den Aufgaben und Funktionen des Parlaments ableiten lassen. Nach Art. 20 41

Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50); Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 148; Linck, Jura 1986, S. 460 (464); vgl. auch H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 149. 42

BVerfGE 4, S. 31(39).

43

BVerfGE 1, S. 208 (249); 4, S. 31 (42).

44 Vgl. BVerfGE 3, S. 162 (182); 25, S. 269 (292); 36, S. 102 (117); 55, S. 75 (88, 91); Pieroth/Schlink, Staatsrecht I I Rn 508; Jarass/Pieroth Art. 3 Rn 11. Zur „neueren Formel" des Bundesverfassungsgerichts, in der teilweise eine Abkehr von der „Willkürformel" gesehen wird, vgl. Maaß, NVwZ 1988, S. 14 ff; Wendt, NVwZ 1988, S. 778 ff; Hesse, AöR 109 (1984), S. 174 (188 f). 45 Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50); Antoni, ZfParl 11 (1980), S. 93 (100); H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 144 f.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der O p p o s i t i o n s f n k t i o n e n 5 3

Abs. 2 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Zieht man die Kompetenznormen des Grundgesetzes heran, so zeigt sich, daß die unmittelbare Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene sich im wesentlichen46 auf die Bundestagswahlen beschränkt. Im übrigen wird die Staatsgewalt durch „besondere Organe" ausgeübt. Da die Zusammensetzung des Bundestages als Organ im genannten Sinne auf den Wahlen beruht, und das Parlament selbst weitere Staatsorgane kreiert, haben die Wahlen vor allem den Sinn, staatliches Handeln demokratisch zu legitimieren. Daneben muß es aber auch Funktion der Wahl sein, die demokratisch legitimierte Staatsgewalt wirksam werden zu lassen, da sie sonst nicht im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG ausgeübt werden kann. Es ist demnach erforderlich, daß die Staatsorgane auch in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen 47. So ergibt sich aus dem den Wahlen immanenten Demokratiegedanken, daß diese nicht nur den Zweck haben, staatliches Handeln zu legitimieren, sondern auch dazu führen sollen, funktionsfähige Staatsorgane hervorzubringen 48. Dann muß es aber in begrenztem Rahmen zulässig sein, den Wahlmodus so auszugestalten, daß die Funktionsfähigkeit der Staatsorgane, wenn nicht gewährleistet, so doch zumindest unterstützt wird. Die Funktionsfähigkeit des Parlaments ist somit als eine der Verfassung im49

manente Einschränkungsmöglichkeit der Wahlrechtsgleichheit anzusehen . Die 5%-Sperrklausel wäre demnach verfassungsgemäß, wenn sie sich als notwendige Voraussetzung für die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages darstellt. Eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Bundestages könnte sich daraus ergeben, daß die Verhältniswahl ohne das Vorhandensein einer Sperrklausel das Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen grundsätzlich begünstigt und damit einer Aufspaltung des Parlaments Vorschub leistet. So sieht das Bundesverfassungsgericht bei einem reinen Verhältniswahlrecht die Gefahr, daß die gesetzgebenden Körperschaften keine großen Parteien mehr aufweisen, sondern in eine Unzahl kleiner Gruppen zerfallen

46 Die in Art. 20 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen „Abstimmungen" sind in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen, da sie das GG nur für den eng begrenzten Fall einer Neugliederung der Bundesländer (Art. 29 GG) vorsieht, vgl. P. Krause, HdbStR I I § 39 Rn 14 f; Stern, Staatsrecht I § 18 I I 5 a (S. 607 f); Hesse, Grundzüge Rn 148. 47

Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50); Linck, Jura 1986, S. 460 (464).

48

BVerfGE 51, S. 222 (236) m.w.N.; Schreiber, Wahlrecht § 6 Rn 16.

49

Murswiek, JZ 1979, S. 48 (50).

54

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

und damit funktionsunfähig werden50. Auch würde es ein unbegrenzter Proporz nach dieser Ansicht erleichtern, daß Gruppierungen im Parlament vertreten sind, die sich nicht an einem Gesamtwohl orientieren, sondern einseitige Interessen vertreten. Dadurch bestünde einerseits die Gefahr, daß auch die großen Parteien sich unter dem Druck vieler Partikularinteressen spalten und andererseits klare Mehrheitsbildungen erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht würden, somit das Parlament weder seinen Gesetzgebungsaufgaben nachkommen, noch eine funktionsfähige Regierung wählen könnte51. Da eine 5%-Sperrklausel Splittergruppen von der Vertretung im Parlament ausschließe, sei sie geeignet, die aufgezeigten Gefahren zu begrenzen und so die Funktionsfähigkeit des Parlaments zumindest tendenziell zu gewährleisten. Daher halten das Bundesverfassungsgericht und das überwiegen52

de Schrifttum die Sperrklausel für verfassungsgemäß . Diese Argumentation überzeugt aber nur dann, wenn die Funktionsfahigkeit des Bundestages ohne die Sperrklausel derart gestört wäre, daß die Wahlrechtsgleichheit zurückzutreten hätte. Gegen eine solche Annahme bestehen jedoch erhebliche Bedenken. Zwar hat insbesondere das Bundesverfassungsgericht bei der historischen Rechtfertigung der Sperrklausel immer wieder auf die „Erfahrungen unter der Weimarer Reichsverfassung" hingewiesen, die deutlich gemacht hätten, daß ein Verhältniswahlsystem mit strikt durchgeführter Wahlrechtsgleichheit die Gefahr einer Parteienzersplitterung herauf beschwöre und eine Regierungsbildung erschwere oder gar unmöglich mache53. Diese Gefahr hat der Parlamentarische Rat ausweislich der Entstehungsgeschichte des Art. 38 GG aber nicht als so schwerwiegend bewertet, denn die Einführung einer Sperrklausel im Grundgesetz wurde trotz ausfuhrli-

50

BVerfGE 1, S. 208 (298).

51

BVerfGE 6, S. 84 (94); 51, S. 222 (236).

52

Vgl. BVerfGE 1, S. 208 (208, 248, 256 ff); 4, S. 31 (40); 4, S. 142 f; 4, S. 375 (380); 5, S. 77 (83); 6, S. 84 (90 ff); 6, S. 99 (104); 7, S. 99 (107); 8, S. 51 (69); 14, S. 121 (134 f); 24, S. 300 (340); 34, S. 81 (99); 51, S. 222 (235 fi); 82, S. 322 (338); Durig, , in Maunz/Dûrig Art. 3 Rn 270; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 38 Rn 14; Seifert, Parteienrecht S. 142 ff; ders., Bundeswahlrecht Art. 38 Rn 25; Boettcher/Högner, Bundeswahlgesetz § 6 Rn 21 ff; Maunz, in Maunz/Dûrig Art. 38 Rn 50. 53 BVerfGE 14, S. 121 (135); 34, S. 81 (99). Antoni, ZfParl 11 (1980), S. 93 (105 ff) zeigt auf, daß sich bei Geltung einer 5%-Klausel die Mehrheitsverhältnisse unter der WRV nicht wesentlich geändert hätten. Diese rein mathematische Darstellung berücksichtigt jedoch nicht, daß eine Sperrklausel bereits vor der Wahl psychologische Auswirkungen auf die Wähler haben kann, die das Wahlergebnis beeinflußen, vgl. Grimm, HVerfR S. 317 (345). So hat die von Antoni aufgestellte Berechnung weitgehend spekulativen Charakter.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsftinktionen

55

eher Diskussionen ausdrücklich abgelehnt54. Ob ein Verhältniswahlsystem ohne Sperrklausel die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch eine Parteienzersplitterung tatsächlich beeinträchtigt oder gar zu einer Gefährdung der Verfassungsordnimg gefuhrt hätte, und ob die Sperrklausel zur Stabilisierung des Parteiensystems beigetragen hat oder gar ursächlich dafür war, kann wohl mit letzter Sicherheit nicht festgestellt werden und muß daher weitgehend Spekulation bleiben. Selbst wenn man dieses bejahen würde, stellt sich weiterhin die Frage, ob aufgrund der heutigen Situation in der Bundesrepublik eine Sperrklausel zwingend erforderlich ist, um die Funktionsfahigkeit des Parlaments und die Bestandssicherung des Systems insgesamt zu gewährleisten. Gerade das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, daß die Sperrklausel zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein kann, zu einem anderen hingegen nicht55 Berücksichtigt man, daß sich das demokratische System in der Bundesrepublik stark gefestigt und trotz des zeitweiligen Aufkommens kleinerer Parteien eine hohe Parteienkonzentration stattgefunden hat, so spricht vieles dafür, daß ein Wegfall der Sperrklausel zwar unter Umständen die Regierungsbildung erschweren, aber nicht die Funktionsfahigkeit des Parlaments oder den Bestand des Systems überhaupt gefährden würde56. Das Bestehen eines zwingenden Grundes für die Beibehaltung der 5%Sperrklausel ist daher zumindest zweifelhaft. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, daß die demokratische Legitimationskraft der Wahl nicht nur darauf abzielt, funktionsfähige Staatsorgane hervorzubringen, sondern vor allem dazu dient, die in der Wählerschaft vorhandenen politischen Auffassungen im Parlament möglichst wirklichkeitsnah abzubilden. Diese Abbildung kann durch den Bestand einer Sperrklausel aber

Während der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf in Art. 47 Abs. 5 dem Wahlgesetzgeber ausdrücklich einräumte, eine 5%-Sperrklausel zu erlassen, wurde deren Aufnahme in das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat im Hauptausschuß in der 3. Lesung vom 9.2.1949 mit 11 zu 10 Stimmen abgelehnt (vgl. Stenogr. Protokoll S. 628-631). Auch das vom Parlamentarischen Rat am 11.5.1949 verabschiedete Wahlgesetz zum 1. Deutschen Bundestag enthielt keine Sperrklausel. Die Ministerpräsidenten, die von den Alliierten zur Stellungnahme zum Wahlgesetz aufgefordert wurden, befürworteten jedoch die Einführung einer bundesweiten Sperrklausel. Die Militärgouverneure modifizierten diesen Vorschlag aber dahingehend, daß die Sperrklausel lediglich auf Landesebene Anwendung finden sollte. Vgl. dazu H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 28 ff; Antoni , ZfParl 11 (1980) S. 93 ff m.w.N.; E. Jesse, Wahlrecht S. 221 ff; von Doeming/Füsslein/Matz, JôR n.F. 1 (1951), S. 349 ff. 55 BVerfGE 1, S. 208 (259); 82, S. 322 (338); vgl. auch H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 230. 56 So Grimm, HVerfR S. 317 (345); Schmidt-Jortzig, DVB1. 1983, S. 773 (779); ausführlich zu diesem Problemkreis Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 267 ff.

56

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

erheblich verfälscht werden, da ein unter Umständen erheblicher Teil der Stimmen bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt wird. Gerade auch im Hinblick auf die Oppositionsfunktionen gefährdet eine Sperrklausel die Offenheit und Pluralität der staatlichen Willensbildung. Gelangen bestimmte politische Anschauungen oder Interessen nicht zur parlamentarischen Vertretung, so ist die Repräsentation der Bürgerschaft im Parlament nicht mehr lückenlos gewährleistet. Für die Wahlberechtigten, deren Stimme bei der Wahl aufgrund der Sperrklausel keine Berücksichtigung findet, stellt die Wahl dann aber keine wirksame Form der politischen Partizipation mehr dar, denn ihre politischen Ansichten sind im Parlament nicht repräsentiert. Dafür kann als Rechtfertigung auch nicht angeführt werden, daß die an der Sperrklausel gescheiterte Partei eventuell nur einseitige Interessen vertreten hat. Wie bereits festgestellt 57, geht das Grundgesetz gerade nicht von einem existierenden und erkennbaren Gemeinwohl aus, sondern akzeptiert auch Partikularinteressen. Dem Grundgesetz kann daher nicht entnommen werden, daß nur Parteien, die im Sinne sogenannter „Volksparteien" ein weites Spektrum politischer Interessen der Wählerschaft abdecken, im Bundestag vertreten sein dürfen. Weiterhin beinhaltet eine Sperrklausel die Gefahr, daß sich ein einmal etabliertes Parteiengefuge verfestigt, weil neue politische Impulse parlamentarisch nicht zur vollen Wirksamkeit gelangen und so neuartige Probleme von den vorhandenen Parteien nur ungenügend aufgegriffen werden. Eine solche Entwicklung könnte jedoch die Integrationskraft des Parlaments insgesamt senken58. Zwar gab es immer wieder neue Parteien, die die 5%-Grenze überspringen konnten. Es kann aber kaum bestritten werden, daß diese Quote, auch gerade wegen der bestehenden Parteienkonzentration, ein erhebliches Hindernis für einen Einzug ins Parlament ist, die zur Immobilität des Parteiensystems beiträgt. Da Konkurrenz einen wichtigen Mobilisierungsfaktor für 59

das Parteiensystem darstellt , könnte eine Abschaffung oder Senkung der Sperrklausel die vom Grundgesetz geforderte Offenheit des demokratischen Systems fördern. Unter Berücksichtigung der Oppositionsfunktionen und der sich aus dem Demokratieprinzip ergebenden Pluralität und Offenheit des grundgesetzlichen

57

Vgl. oben 1. Kapitel A. III.

58

Als Indikatoren fur derartige Entwicklungen in der Bundesrepublik werden die wachsende Protesthaltung, die Zunahme von Bürgerinitiativen und ähnliche Entwicklungen angesehen, vgl. Grimm, HVerfR S. 317 (345); Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 319 ff. 59

Grimm, HVerfR S. 317 (345); vgl. auch Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 319 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsftinktionen

57

Verfassungssystems 60 sprechen somit gewichtige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Gründe gegen die Beibehaltung einer 5%- Sperrklausel. Die Gefahr, daß die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit zur verfälschten Wiedergabe des Wählerwillens bei der Zusammensetzung des Parlaments führt und damit ein Teil der Wähler im staatlichen Willensbildungsprozeß nicht repräsentiert ist, muß in der heutigen Situation als mindestens ebenso schwerwiegend angesehen werden, wie die Annahme, daß eine reine Verhältniswahl ohne Beschränkungen die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen würde. Daher bestehen bezüglich der verfassungspolitischen Zweckmäßigkeit61 der 5%-Sperrklausel und wohl auch an deren verfassungsrechtlichen Zulässigkeit62 als Schranke der aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Wahlrechtsgleichheit, gerade auch im Hinblick auf die Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen, erhebliche Bedenken.

b) Allgemeinheit der Wahl Auch der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl bewirkt, daß die im Volk vertretenen politischen Auffassungen bei der Zusammensetzung des Bundestages Berücksichtigung finden. Eine allgemeine Wahl liegt dann vor, wenn der Kreis der Wahlberechtigten grundsätzlich alle Staatsbürger erfaßt, also jeder Bürger wählen und gewählt werden kann63. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbietet damit dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder ähnlichen Gründen unberechtigt von der Wahl auszuschließen64. Die Gewährung des Wahlrechts darf daher nicht etwa

60

Vgl. oben 1. Kapitel A. III.

61

Dabei wird insbesondere eine Quote von 5% als zu hoch angesehen, vgl. Schmidt-Jortzig, DVB1. 1983, S. 773 (780); Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 383 ff; Degenhard Staatsrecht I Rn 14; H. Meyer, HdbStR I I § 38 Rn 27; ders., Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 234 ff; wohl auch Grimm, HVerfR S. 317 (345). 62 Für Verfassungswidrigkeit der Sperrklausel: Antoni , ZfParl 11 (1980), S. 93 (109); Hamann/Lenz Art. 38 Β 5 d; Wenner, Sperrklauseln im Wahlrecht S. 380.

63

Hesse, Grundzüge Rn 146; AK-Schneider Art. 38 Rn 43; von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 6; Maunz, in Maunz/Dürig GG Art. 38 Rn 39. 64

BVerfGE 36, S. 139 (141); 58, S. 202 (205); Bleckmann, Staatsrecht I Rn 1866.

58

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

von einem bestimmten Bildungsgrad, der Höhe des Vermögens, der sozialen Stellung oder dem Geschlecht abhängig gemacht werden65. Allerdings werden auch beim Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Differenzierungen zugelassen, deren Rechtfertigimg sich - wie beim Grundsatz der Gleichheit der Wahl - wiederum nicht aus dem Charakter der Allgemeinheit der Wahl als Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes ableiten läßt66, sondern sich allein aus der Funktion der Wahl und der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Körperschaft ergibt. Auch von diesem Ansatz her bestehen jedoch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, bestimmte formale Voraussetzungen der Zulassung zur Wahl, die grundsätzlich jeder Staatsbürger erfüllen kann, als mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar anzusehen . Solche Voraussetzungen statuiert etwa Art. 38 Abs. 2 GG, der die Wahlberechtigung von einem bestimmten Mindestalter abhängig macht oder § 13 Abs. 1 BWahlG, der Wahlrechtsbeschränkungen für Personen vorsieht, die in ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit (z.B. wegen geistiger Gebrechen) beschränkt sind68. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ermöglicht damit prinzipiell allen Bürgern, sich an den Wahlen zu beteiligen und entsprechend ihrer politischen Anschauungen und Interessen ihre Stimme abzugeben bzw. sich selbst zur Wahl zu stellen. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verbietet den Ausschluß bestimmter gesellschaftlicher, politischer oder sozialer Gruppen vom aktiven und passiven Wahlrecht, so daß grundsätzlich gewährleistet ist, daß alle relevanten, insbesondere auch oppositionelle Interessen und Auffassungen bei der Zusammensetzung des Bundestages Berücksichtigung finden.

Maunz, in Maunz/Dürig GG Art. 38 Rn 39; von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 6; AKSchneider Art. 38 Rn 43. 66

So aber das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 11, S. 266 (271); 24, S. 300 (340); 28, S. 220 (225); 36, S. 139(141). 67

BVerfGE 36, S. 139 (141 f); 58, S. 202 (205 ff); Bleckmann, Staatsrecht I Rn 1866.

68 Zu weiteren Einschränkungen siehe Seifert, Münch GG Art. 38 Rn 8 ff.

Bundeswahlrecht § 38 Rn 5; von Münch, m von

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

c) Freiheit, Geheimheit und Unmittelbarkeit

59

der Wahl

Von einiger Bedeutung fur die Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen sind auch die übrigen Wahlrechtsgrundsätze. Nach dem Grundsatz der Freiheit der Wahl muß es dem Wähler möglich sein, seinen Willen bei der Wahl unverfälscht, d.h. frei von jeglichem Zwang und sozialem Druck, zum Ausdruck bringen zu können. Die Wahlfreiheit bietet daher Schutz gegen alle, die freie Willensentscheidung ernsthaft beeinträchtigenden Wahlbeeinflussungen, sowohl von staatlicher, als auch von nichtstaatlicher Seite69. Dem Wähler ist es durch diesen Grundsatz insbesondere freigestellt, welchem Kandidaten und welcher Partei er seine Stimme zukommen läßt. Dabei bleibt es ihm unbenommen, oppositionelle Ansichten zu unterstützen. In engem Zusammenhang mit der freien Wahl steht der Grundsatz der Geheimheit der Wahl, der einen wichtigen institutionellen Schutz der Wahlfreiheit beinhaltet. Danach muß der Wähler die Möglichkeit haben, sein Wahlrecht so auszuüben, daß andere Personen keine Kenntnis von seiner Wahlentscheidung erhalten, er diese also strikt für sich behalten kann70. Die Geheimheit der Wahl bietet somit einen Schutz davor, daß dem Wähler aufgrund seiner konkreten Wahlentscheidung Nachteile entstehen, weil er seine Stimme einer bestimmten politischen Gruppierung gegeben hat. Die Grundsätze der freien und geheimen Wahl gewährleisten demnach, daß der Wähler seine Stimme der Gruppierung geben kann, deren politische Auffassung er teilt, ohne deswegen Nachteile oder Repressionen furchten zu müssen. Auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl dient letztlich dazu, dem Willen des Wählers bei der Zusammensetzung des Parlaments in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Die unmittelbare Wahl bewirkt, daß jede abgegebene Stimme bestimmten oder bestimmbaren Wahlbewerbern zugerechnet wird, ohne daß nach der Stimmabgabe noch eine Zwischeninstanz (z.B. ein Wahlmännergremium) nach ihrem Ermessen über die Auswahl der Abgeordneten endgültig entscheidet71. Es soll damit sichergestellt werden, daß sich kein fremder Wille zwischen die Entscheidung der Wähler und die Bestimmimg der Abgeordneten schiebt. So kann erreicht werden, daß das Votum der Wäh-

69 BVerfGE 7, S. 63 (69); 15, S. 165 (166); 47, S. 253 (282); 66, S. 369 (380); Jarass/Pieroth Art. 38 Rn 7.

70

Von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 48. 71

BVerfGE 7, S. 63 (68); 47, S. 253 (279 f).

60

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

1er bei der Zusammensetzung des Bundestages unverfälscht und unmittelbar zum Ausdruck kommt.

d) Ergebnis Zusammenfassend ist damit festzustellen, daß die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG in umfassender Weise eine Zusammensetzung des Bundestages gewährleisten, die den in der Wahl zum Ausdruck kommenden, unterschiedlichen politischen Anschauungen der Wähler entspricht. Einschränkend wirkt dabei allerdings die in § 6 Abs. 6 BWahlG normierte Sperrklausel, deren verfassungspolitische Zweckmäßigkeit und wohl auch verfassungsrechtliche Zulässigkeit fraglich ist. Von dieser Vorschrift abgesehen, ist durch das geltende Wahlrecht jedoch grundsätzlich sichergestellt, daß die im Volk vertretenen unterschiedlichen politischen Ansichten im Parlament repräsentiert sind. Die Regelungen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG bilden somit eine wichtige Voraussetzung dafür, daß Opposition im Parlament überhaupt existent sein kann, und begünstigen die oppositionelle Funktionswahrnehmung.

2. Verfassungsrechtliche Grundlagen für die Bildung einer parlamentarisch organisierten Opposition

Wie im letzten Abschnitt festgestellt wurde, gewährleisten die Wahlrechtsgrundsätze, daß oppositionelle Auffassungen auch zur Vertretung im Bundestag gelangen können. Die bloße Existenz im Parlament alleine ist jedoch keine ausreichende Voraussetzung und Grundlage zur Formierung einer Opposition im Bundestag, die in der Lage ist, ihre Funktionen sachgemäß auszuüben. Es stellt sich daher die Frage, ob das Grundgesetz die Funktionsbedingungen oppositioneller Gruppierungen verfassungsrechtlich gewährleistet. Eine wichtige Voraussetzimg dafür ist, daß sich oppositionelle Gruppierungen im Parlament organisieren können, um unter den gleichen Voraussetzungen, wie die die Regierung tragenden Teile des Parlaments, am staatlichen Willensbildungsprozeß im parlamentarischen Bereich teilzunehmen. Die politische Willensbildung und parlamentarische Tätigkeit im Bundestag wird dabei wesentlich durch die Fraktionen (und parlamentarischen Gruppen) geprägt. Es ist daher zu untersuchen, aus welchen verfassungsrechtlichen Grundlagen sich

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

61

für oppositionelle Gruppierungen das Recht ergibt, Fraktionen und Gruppen im Bundestag zu bilden.

a) Die Rechtsstellung der Fraktionen und Gruppen Die Fraktionen, deren Rechtsnatur nach wie vor umstritten ist 72 , werden vom Bundesverfassungsgericht als „politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages" sowie als „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung" angesehen73. Ihre verfassungstextliche Erwähnung finden die Fraktionen in dem 1968 in die Verfassung eingefügten Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Abgeordneten für den Gemeinsamen Ausschuß „vom Bundestage entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen" bestimmt werden. Eine Definition des Begriffs Fraktion enthält diese Vorschrift jedoch nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bleibt es dem Parlament überlassen, den Begriff der Fraktion einschließlich ihrer Mindeststärke näher zu bestimmen . Der Bundestag hat gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT Fraktionen als „Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen" definiert. Diese Definition ist zwar insoweit problematisch, als sich zumindest für den Anwendungsbereich des Art. 53 a Abs. 1 GG aus dieser Norm ein Fraktionsbegriff ableiten läßt, der nicht mit dem des § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT deckungsgleich ist75. Unabhängig von der Frage des FraktiIi.

Zur Ubersicht über den Streitstand vgl. Achterberg, Parlamentsrecht S. 274 ff; Versteyl, in von Münch GG Art. 40 Rn 16e-16i; Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 37 Rn 51; Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur parlamentarischer Fraktionen S. 146 ff; Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen S. 176 ff. 73 BVerfGE 80, S. 188 (219); 84, S. 304 (322); ähnlich bereits E 10, S. 4 (14); 70, S. 324 (350 f); vgl. auch Zeh, HdbStR II § 42 Rn 6. 74

BVerfGE 84, S. 304 (335); ähnlich auch Hendrichs, in von Münch GG Art. 53 a Rn 11.

75

So wird im Schrifttum zu Recht daraufhingewiesen, daß ein Verständnis des Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG als lediglich verfassungsrechtliche dynamische Verweisung auf § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT verkennt, „daß mit der verfassungsgesetzlichen Übernahme des Fraktionsbegriffs dieser zumindest für den Anwendungsbereich des Art. 53 a Verfassungsrang und deshalb für seine Konkretisierung durch die GeschOBT Maßgeblichkeit erlangt hat" (so Krebs, in von Münch/Kunig GG (Manuskript Band 2, 3. Aufl.) Art. 53 a Rn 9; vgl. auch BVerfGE 84, S. 304 (339 f) - abwei-

62

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

onsbegriffs läßt sich dem Art. 53 a Abs. 1 GG jedoch eine allgemeine Rechtsstellung der Fraktionen, insbesondere im Hinblick auf die hier in Rede stehende Fragestellung, nicht entnehmen. Es ist daher zu untersuchen, aus welcher verfassungsrechtlichen Vorschrift sich ein Recht auf Organisierung von Oppositionsfraktionen oder -gruppen im Bundestag und deren Tätigkeit ergeben könnte.

aa) Die Bedeutung des Art. 21 Abs. 1 GG Da sich die im Bundestag vertretenen Fraktionen nach „ihren" Parteien benennen und regelmäßig eine enge personelle und sachliche Verflechtung zwischen Partei und Fraktion besteht, liegt es nah, die verfassungsrechtliche Grundlage für die Fraktionenbildung in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zu suchen. Auch das Bundesverfassungsgericht erwähnte als Legitimationsgrundlage für die Fraktionen zunächst nur Art. 21 GG: „Mit der Anerkennung der Parteien in Art. 21 erkennt das Grundgesetz auch sie (die Fraktionen) an"76. Die Begründung einer derartigen Anknüpfung an Art. 21 GG zur Statuierung einer verfassungsrechtlichen Stellung der Fraktionen könnte sich daraus ergeben, daß die Fraktionen sich nach § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT aus Abgeordneten derselben Partei oder solchen Parteien zusammensetzen, die gleichgerichtete 77

politische Ziele verfolgen , also praktisch die ins Parlament gewählten Par78

teien („Partei im Parlament") sind . Dabei gehören sie - anders als die Parteichende Meinung Hendrichs, in von Münch GG Art. 53 a Rn 11). „Fraktionen" im Sinne des Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG sind nach der ratio legis dieser Norm alle Abgeordnetengruppierungen, die sich aufgrund gleichgerichteter Ziele organisatorisch im Bundestag zu einer Handlungseinheit verbunden haben und nach ihrer Größe die Funktionsfähigkeit des Gemeinsamen Ausschusses nicht gefährden (ähnlich auch BVerfGE 84, S. 304 (339 f) - abweichende Meinung Krebs, in von Münch/Kunig GG (Manuskript Band 2, 3. Aufl.) Art. 53 a Rn 9). Entscheidendes Kriterium für eine Beteiligung im Gemeinsamen Ausschuß ist entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts also nicht, ob die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT erfüllt sind (so aber BVerfGE 84, S. 304 (336)), sondern ob die oben genannten Gruppierungen aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke zu berücksichtigen sind (in diesem Sinne auch BVerfGE 84, S. 304 (339 f) - abweichende Meinung -; Krebs, in von Münch/Kunig GG (Manuskript Band 2, 3. Aufl.) Art. 53 a Rn 10; Böhm/Edinger, ZRP 1991, S. 138 (140 ff); vgl auch unten Fn 141). 76

BVerfGE 10, S. 4 (14); 70, S. 324 (350); 84, S. 304 (324).

77

Siehe zu dieser Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT unten Fn 102. 78

So W. Henke, Das Recht der politischen Parteien S. 145; W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), S. 481 (488 f, 495); Dellmann, DÖV 1976, S. 153 (154); Birk, NJW 1988, S. 2521; ähnlich AKSchneider Art. 38 Rn 35: „Fraktionen sind also der verlängerte Arm politischer Parteien im Parlament."

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

en selbst, die vom Staate unabhängige Organisationen sind - als Gliederungen des Bundestages bereits zur „organisierten Staatlichkeit"79. Parteien und Fraktionen beeinflußen sich aufgrund dieser engen, zum Teil auch personellen Verflechtung wechselseitig. Daher könnte man die Fraktionen als parlamentarische Repräsentanten der Parteien ansehen, die den Anspruch der Parteien, bei der politischen Willensbildung des Volkes und an der Gestaltung des demokratischen Staatslebens aktiv mitzuwirken, auf Parlamentsebene konkreti80

sieren . Wegen dieser engen Verbindungen könnten sowohl Bildung und Bestand als auch Entscheidungs- und Funktionsfahigkeit der Parlamentsfraktionen durch Art. 21 Abs. 1 GG mitgeschützt sein81. Die Rechtsstellung der Fraktionen ergäbe sich danach aus der verfassungsrechtlichen Fundierung der Parteien in Art. 21 Abs. 1 GG. Folgt man dieser Auffassung, so könnte auch die Möglichkeit zur Formierung oppositioneller Fraktionen aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleiten sein. Art. 21 Abs. 1 GG verdeutlicht, daß das Grundgesetz die Bildung oppositioneller Parteien gestattet. Aus der Verwendung des Plurals „Parteien" in Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG läßt sich entnehmen, daß das Grundgesetz von der Zuläs82

sigkeit und wohl auch der Existenz mehrerer Parteien ausgeht . Da inhaltliche Anforderungen an die Parteien, außer daß ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen muß, dem Art. 21 GG nicht entnehmbar sind, kann ebenfalls davon ausgegangen werden, daß die Gründimg von Parteien 83

prinzipiell unabhängig davon ist, welche konkreten Ziele sie verfolgen . Art. 21 Abs. 1 GG enthält somit die Möglichkeit zur Entwicklung eines 84

Mehrparteiensystems , die im Zusammenhang mit der freien Parteigründimg 79

Vgl. BVerfGE 20, S. 56 (104); 70, S. 324 (362).

80

Borchert, AöR 102 (1977), S. 210 (223); von MangoIdt/Klein Art. 40 Anm. III. 1. d; AKPreuß Art. 21 Rn 55; ablehnend Troßmann, JÖR28 n.F. (1979), S. 1 (141), dereine Repräsentation der Parteien nur darin erblickt, daß die Abgeordneten, vereinigt in den Fraktionen, die Politik der Parteien in freier Entscheidung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vertreten; vgl. auch H.-W. Arndt/M. Schweitzer, ZfParl 7 (1976), S. 71 (76 ff). 81

So AK-Schneider Art. 38 Rn 3 82

AK-Preuß Art. 21 Rn 12; Kunig, HdbStR I I § 33 Rn 19; Gehrig, Parlament S. 263; Grube, Opposition S. 68; Zirker, Opposition S. 48; Petzke, Opposition S. 440; Hamann, Opposition S. 288; von Mangoldt/Klein Art. 40 Anm. III. 1. d; von Münch, in von Münch GG Art. 21 Rn 22; Jarass/Pieroth Art. 21 Rn 11. 83

Eine Grenze ergibt sich lediglich aus Art. 21 Abs. 2 GG, vgl. dazu unten 2. Kapitel Β I I 2. 84

Umstritten ist jedoch die Frage, ob die Statuierung des Mehrparteiensystems durch Art. 21 Abs. 1 GG auch die Entstehung eines Ein- oder Zweiparteiensystems zuläßt, Dies wäre auch im Hinblick auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedeutsam, denn ein Einparteiensystem

2. Kap. Verfassgspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen 85

auch die Bildung oppositioneller Parteien gewährleistet . Dieses Ergebnis wird zusätzlich durch die konstitutive Aufgabenzuweisung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG an die Parteien gestützt, wonach diese an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Der politische Wille des Volkes ist dabei nicht als Einheit anzusehen, sondern besteht in vielen unterschiedlichen und differenzierten Auffassungen 86. Die Mitwirkung an der politischen Willensbildung im freiheitlich demokratischen Staat setzt also die Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen und Interessen sowie die Austragimg und Polarisierung gesellschaftlicher Konflikte voraus, die sich vor allem auch aus einer Spannung zwischen Mehrheit und Minderheit ergeben. Die Parteien haben daher nach Hesse „als Mehrheitspartei die Verbindung zwischen Volk und politischer Führung herzustellen, als Parteien der Minderheit die politische Opposition zu bilden und wirksam zu machen"87. Die Organisierung oppositioneller Ansichten durch Parteien, die die Regierungspolitik ablehnen, gehört bedeutete den Verzicht auf jegliche parteipolitische Opposition, wahrend in einem Zweiparteiensystem nur eine Oppositionspartei existent wäre. Unzweifelhaft einen Verstoß gegen Art. 21 GG würde jeder staatliche Zwang darstellen, der die Errichtung eines Ein- oder Zweiparteinsystems, eines Blocksystems oder überhaupt die itesc/iränkung auf eine bestimmte Anzahl von Parteien zum Ziel hätte (vgl. Maunz, in Maunz/Dürig Art. 21 Rn 35: von Münch, in von Münch GG Art. 21 Rn 22 f). Die Unzulässigkeit, auch der freien Entwicklung eines Einparteiensystems, bejahen u.a. Hesse, Grundzüge Rn 171; Maurer, JuS 1991, S. 881 (886); von MangoIdt/Klein Art. 21 Anm. III. 5, während Hamann/Lenz Art. 21 B. 2.a. und von Münch, in von Münch GG Art. 21 Rn 22 f darüber hinausgehend auch die Verfassungsmäßigkeit eines Zweiparteiensystems schlechthin verneinen. Gegen die letztere Auffassung spricht jedoch, daß sich aus der Statuierung des Mehrparteiensystems kein Hinweis entnehmen läßt, daß das Grundgesetz vom Bestand von mindestens drei Parteien ausgeht (vgl. Kunig, HdbStR I I § 33 Rn 19). Selbst die Einführung eines Mehrheitswahlrechts, dem zumindest die Tendenz zur Entwicklung eines Zweiparteiensystems innewohnt, wird in st. Rspr. des BVerfG für verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen (vgl. E 1, S. 208 (246 ff); 11, S. 84 (90); 34, S. 81 (100); s.a. Erichsen, Jura 1984, S. 22 (26 f); kritisch: H. Meyer, HdbStR I I § 37 Rn 31 ff; ders., Wahlsystem und Verfassungsordnung S. 191 ff; von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 44), so daß die freie Entwicklung eines Zweiparteiensystems nach dem Grundgesetz nicht ausgeschlossen ist. Auch die Auffassung, daß ein nicht erzwungenes Einparteiensystem verfassungswidrig sei, vermag kaum zu überzeugen. Art. 21 Abs. 1 GG kann nicht im Sinne von Münchs, in von Münch GG Art. 21 Rn 22 f als Gebot an den Staat verstanden werden, mit allen Mitteln ein Mehrparteiensystem aufrecht zu erhalten. Die Gewährleistung des Mehrparteiensystems ist vielmehr „im Sinne einer potentiellen Möglichkeit" (BK-Wernicke (Erstbearb.) Art. 21 Anm. II. 1. d) zu verstehen, d.h. der Staat muß stets die Möglichkeit offen halten, daß sich mehrere Parteien jederzeit frei bilden können. So wird das Vorhandensein mehrerer Parteien „nicht durch ein Prinzip, sondern rechtlich durch die Gründungsfreiheit des Art. 21 Abs. 1 Satz 2 und faktisch durch die Neigung der Bürger zur Parteienbildung" gewährleistet (BK-Henke Art. 21 Rn 49). 85 Seifert, DÖV 1956, S. 1 (5); H.-P. Schneider, Opposition S. 359 f; Scheuner, Recht-StaatWirtschaft IV (1952), S. 88 (105), Petzke, Opposition S. 440. 86

87

Vgl. oben 1. Kapitel A III.

So Hesse, VVDStRL 17 (1958), S. 11 (25). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Formulierung in BVerfGE 20, S. 56 (101) übernommen; vgl. auch Gehrig, Parlament S. 263.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

5

daher in den Bereich der politischen Willensbildung und somit zu den in 88

Art. 21 Abs. 1 GG statuierten Funktionen der Parteien . Läßt sich demnach dem Art. 21 Abs 1 GG entnehmen, daß das Grundgesetz die Bildimg von Oppositionsparteien zuläßt, müßte man - soweit man der oben skizzierten Auffassung folgt - auch zu dem Ergebnis kommen, daß die Bildung und Ausübung einer parlamentarisch organisierten Opposition durch 89

Fraktionen und Gruppen ebenfalls durch Art. 21 Abs. 1 GG konkretisiert ist . Es fragt sich jedoch, ob sich die Rechtsstellung der Fraktionen tatsächlich auf Art. 21 Abs. 1 GG zurückführen läßt, und ob dieser Norm somit eine rechtliche Wirkung auch im parlamentarischen Bereich zukommt. Unmittelbar aus dem Wortlaut ist nicht zu entnehmen, daß sich die Konstituierung der Parteien im Bundestag durch die Bildung von Fraktionen fortsetzen kann. Anknüpfungspunkt könnte allenfalls die in Art. 21 Abs 1 Satz 1 GG enthaltene Aufgabenzuweisung an die Parteien sein, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Dann müßte dieser Formulierung aber zu entnehmen sein, daß politische Willensbildung auch die Willensbildung im Parlament unmittelbar umfaßt. Die Willensbildung des Volkes vollzieht sich in umfangreichen politischen Prozessen und gipfelt nach dem Grundgesetz in der Wahl, als einziger Möglichkeit, unmittelbar Einfluß auf die Zusammensetzung der Staatsorgane auszuüben. Im Vorfeld dieser Wahlen spielen die Parteien eine wichtige Rolle. So ist es etwa nach § 2 Abs. 1 ParteienG notwendig, daß Parteien „an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen", § 1 Abs. 2 ParteienG bestimmt, daß die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung unter anderem darin besteht, „sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden zu beteiligen", und auch das Bundeswahlge90

setz räumt den Parteien eine bevorzugte Stellung ein . Aus diesen Vorschriften läßt sich somit zwar entnehmen, daß die Parteien an der Wahl mitwirken und auch sonst Einfluß auf den politischen Prozeß ausüben. Ins Parlament gewählt werden aber nicht die Parteien, sondern nur die von ihnen aufgestellten Kandidaten, denn der Bundestag setzt sich nach Art. 38 Abs. 1 GG aus Abgeordneten und nicht aus Parteien zusammen. Die Parteien können daher ausschließlich vermittels ihrer Kandidaten Einfluß auf Parlament und Regie88

Maunz, in Maunz/Dürig Art. 21 Rn 14; H.-P. Schneider, Opposition S. 359. 89

H.-P. Schneider, Opposition S. 362. 90

Vgl. etwa §§ 4, 6, 27 Abs. 1 Satz 1 BWahlG.

5 Haberland

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

rung nehmen. Eine unmittelbare parlamentarische Präsenz der Parteien wird durch Art. 21 Abs. 1 GG nicht gewährleistet91. Auch bietet Art. 21 Abs. 1 GG kein Grundlage dafür, Parteien und Fraktionen als rechtlich (teil-) identisch anzusehen92. Zwar fungieren die Fraktionen als politische Gliederungen des Parlaments unzweifelhaft als Bindeglied zwischen „ihren", an der Willensbildung des Volkes mitwirkenden Parteien und der staatlichen Willensbildung durch demokratisch legitimierte Organe. Diese funktionale Verbindung mag sowohl personell, als auch politisch-soziologisch eine enge Beziehung zwischen Partei und Fraktion begründen, von rechtlicher Relevanz ist sie aber nicht93. Daher sind weitere Folgerungen zur Rechtsstellung der Fraktionen auch aus der vom Bundesverfassungsgericht dargelegten Verbindung zu Art. 21 Abs. 1 GG nicht ableitbar. Im Hinblick auf die Opposition ermöglicht diese Vorschrift somit zwar, daß sich Oppositionsparteien im vorparlamentarischen Bereich bilden können, eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Bildung oppositioneller Fraktionen und Gruppen im Bundestag stellt sie jedoch nicht dar.

bb) Die Bedeutung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Als Rechtsgrundlage für die Bildung von Oppositionsfraktionen kommt somit allein Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Betracht. Nach dieser Norm sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Diese Statuierung des sog. „freien Mandats" räumt dem Abgeordneten, 94

zusammen mit anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen , die kaum

91

Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 6 Rn 6, 12. 92

Daß Fraktionen keine Teile, insbesondere keine Organe der Parteien sind, ist, bei allen Unklarheiten bezüglich der Rechtsnatur der Fraktionen, heute unstreitig, vgl. Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 37 Rn 52; Versteyl in von Münch GG Art. 40 Rn 16 h; Hohm, NJW 1985, S. 408 (410). 93

Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsiraktionen S. 166 f; Kassing, Das Recht der Abgeordnetengruppe S. 37; vgl. auch H.-W. ArndtM. Schweitzer, ZfParl 7 (1976), S. 71 (76 ff). So sieht auch das Bundesverfassungsgericht die Fraktionen lediglich als „politisches Gliederungsprinzip" an, vgl. BVerfGE 80, S. 188 (219); 84, S. 304 (322). Ähnlich H. Meyer, W D S t R L 33 (1975), S. 69 (92); Stern, Staatsrecht I § 23 11 (S. 1023 f). 94

So z.B. Art. 46, 47 und 48 GG.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen 95

beschränkte Möglichkeit ein, seine Auffassungen im Parlament zu vertreten. Dies kann aber nicht nur bedeuten, daß der Mandatsträger im Parlament als einzelner seine Ziele verfolgen darf, sondern muß auch die Möglichkeit beinhalten, sich mit anderen gleichgesinnten Parlamentsmitgliedern zusammenzuschließen, um in diesem Rahmen gemeinsame politische Ziele wirkungsvoller vertreten und durchsetzen zu können. Das Recht, Fraktionen zu bilden, beruht daher auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidimg der Abgeordneten, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion oder Gruppe zusammenzuschließen. Zu diesem Ergebnis ist auch das Bundesverfassungsgericht, vor allem in den Urteilen zur Rechtsstellung des fraktionslosen Abgeordneten96 und der Abgeordnetengruppe97, gekommen. Obwohl das Gericht die oben angesprochene Verbindung zu Art. 21 GG nicht vollständig aufgab, hat es Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als alleinige verfassungsrechtliche Grundlage für das Recht der Abgeordneten angesehen, gemeinsam mit anderen Abgeordneten eine 98

Fraktion oder Gruppe zu bilden . Diese Anknüpfung an Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bezieht sich dabei nicht nur auf die Bildung der Fraktionen, sondern hat auch Auswirkungen auf ihre parlamentarischen Rechte, insbesondere im Verhältnis zu einzelnen Abgeordneten. Da sich der Bundestag nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aus Abgeordneten und nicht aus Fraktionen zusammensetzt, lassen sich nicht nur die Rechtsstellung der Fraktionen, sondern auch ihre parlamentarischen Rechte allein über den Status des Abgeordneten definieren. Ein 99

Rückgriff auf Art. 21 Abs. 1 GG kommt bereits nach den oben angeführten Gründen nicht in Betracht. Die Rechte des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG werden damit „auf die Ebene der Fraktionen - als eines Zusammenschlusses von politisch gleichgesinnten Abgeordneten - transponiert" 100, der Fraktionsstatus stellt sich „als ein Bündel von letztlich im Abgeordneten-

95

Vgl. zu den möglichen Beschränkungen unten 2. Kapitel Β II. 96

BVerfGE 80, S. 188 ff (sog. „Wüppesahl-Entscheidung"). 97

BVerfGE 84, S. 304 ff (sog. „PDS-Entscheidung").

98

BVerfGE 80, S. 188 (218 ff); 84, S. 304 (317 f, 324); ähnlich bereits BVerfGE 43, S. 142 (148 f); 70, S. 324 (363). Zustimmend: Ziekow, JuS 1991, S. 28 (30); Morlok, JZ 1989, S. 1035 (1047); ders.,DVB1. 1991, S. 998 f; s.a. Kretschmer, Fraktionen S. 44. 99

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 2 a) aa).

68

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

recht wurzelnden Rechten"101 dar. Die parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten hängen somit nicht vom Fraktionsstatus ab, sondern sind in dem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG normierten Abgeordnetenstatus angelegt. Zusammenfassend bleibt somit festzustellen, daß die faktische Bedeutung der Fraktionen als notwendige Instrumente der Vereinfachimg und Rationalisierung der Parlamentsarbeit sowie ihre enge Verbindung zu den Parteien zwar weiterhin unbestritten ist, sie wird verfassungsrechtlich aber nur be102

grenzt nachvollzogen . Wenn auch die Bedeutung der Fraktionen als Scharnier der Integration zwischen parlamentarisch organisierter Staatlichkeit, dem freien Mandat der Abgeordneten und der Mitwirkung der Parteien an der 103

politischen Willensbildung des Volkes betont und aus diesem Grund der Rechtsstatus der Fraktionen vereinzelt aus einer „synoptischen Konkordanz" der Art. 21 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG herge104

leitet wird , so bleibt doch festzuhalten, daß die personelle und politischsoziologische Verflechtung zwischen Partei und Fraktion keine verfassungsrechtliche Beziehung begründet. Sie ist vielmehr Ausdruck der Funktion der Fraktionen, eine Verbindung zwischen der politischen Willensbildung des Volkes und der Staatswillensbildung herzustellen, indem durch sie, als Zusammenschluß politisch gleichgesinnter Abgeordneter, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Vertreter des ganzen Volkes sind, die Einbringung parteipolitischer Vorstellungen in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß demokratisch legitimiert wird. Die Begründung der parlamentarischen Rechtsstellung der Fraktionen ergibt sich demnach allein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, und auch Fraktionsrechte sind nur über den Abgeordnetenstatus ableitbar. Auch das Recht, oppositionelle Fraktionen und Gruppen zu bilden beruht somit auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Grundsatz des „freien Mandats", wonach der Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur 100

Böckenförde, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (380, 382); vgl. auch ders., HdbStR I § 22 Rn 45; Jarass/Pieroth Art. 38 Rn 35. 101

Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (999).

102

Insofern ist es fraglich, ob die in § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT vorgenommene Anknüpfung des Fraktionsbegriffs an die Parteien („... die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen") mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu vereinbaren ist, vgl. auch Troßmann, Parlamentsrecht § 10 Rn 4. 103

Vgl. Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 374); Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 8; Trute, Jura 1990, S. 184 (185). 104

Vgl. AK-Schneider Art. 38 Rn 35b; M. Schröder, Jura 1987, S. 469 (473); Trute, Jura 1990, S. 184(189).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

seinem Gewissen unterworfen ist, berechtigt diesen zu umfassender Oppositionstätigkeit im Parlament. Dies beinhaltet insbesondere auch das Recht, sich mit anderen Abgeordneten in Fraktionen und Gruppen zu organisieren, die sich weder der Regierungsmehrheit anschließen, noch die Regierung unterstützen, sondern Opposition ausüben. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist damit, außer für das „Oppositionsrecht" des einzelnen Abgeordneten105, auch verfassungsrechtliche Grundlage zur Bildung und Ausübung einer parlamentarisch organisierten Opposition.

b) Die Chancengleichheit der Fraktionen Zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen ist aber nicht nur erforderlich, daß sich oppositionelle Fraktionen frei bilden können, sondern es muß auch die Möglichkeit gegeben sein, diese Funktionen im Parlament auszuüben. Das setzt zunächst voraus, daß auch die am parlamentarischen Verfahren beteiligten Oppositionsfraktionen mit grundsätzlich gleichen Chancen wie die anderen Fraktionen an der Willensbildung im Parlament teilnehmen können. Nur wenn Minderheit und Mehrheit nach gleichen Maßstäben behandelt werden, ist die Möglichkeit gewährleistet, daß aus der Minderheit einmal die Mehrheit wird 106 . Zur verfassungsrechtlichen Herleitung eines Gleichheitsrechts der Fraktio107

nen kann - anders als bei der Chancengleichheit Parteien - jedoch nicht auf Art. 21 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. Wie dargestellt, leitet sich die Rechtsstellung der Fraktionen nicht aus Art. 21 Abs. 1 GG ab, denn die Fraktionen sind - zumindest rechtlich gesehen - nicht die „Parteien im Parlament" 108

und auch organisatorisch kein Bestandteil der Parteien . Art. 21 Abs. 1 GG

105

Dazu H.-P. Schneider, Opposition S. 345 ff. 106

Vgl. dazu Birk, NJW 1988, S. 2521; H.-P. Schneider, Opposition S. 384. Vgl. auch oben 1. Kapitel A I. 107

Zur Chancengleichheit der Parteien vgl. BVerfGE 1, S. 208 (242); 6, S. 273 (280); 24, S. 300 (340 f); 44, S. 25 (146); 52, S. 63 (89); Kunig, HdbStR I I § 33 Rn 62 ff; Hesse, Grundzüge Rn 176; Jarass/Pieroth Art. 21 Rn 11 f; von Münch, in von Münch GG Art. 21 Rn 24; Maurer, JuS 1991, S. 881 (886); Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, Berlin 1975. 108 Vgl. oben 2. Kapitel Β 12 a) aa).

0

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

kann daher nicht als verfassungsrechtliche Grundlage fur ein Recht auf Chan109

cengleichheit der Fraktionen herangezogen werden . Bezugspunkt eines Gleichheitsrechts der Fraktionen kann auch hier nur der sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergebende Abgeordnetenstatus sein. Der durch diese Vorschrift gewährleistete repräsentative Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, ist Basis fur die repräsentierende Stellung des Bundestages, der als „besonderes Organ" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG die vom Volke ausgehende Staatsgewalt ausübt. Diese Aufgabe nimmt der Bundestag in der Gesamtheit seiner Mitglieder wahr. Daß alle Abgeordneten bei der Ausübung ihres Mandats gleiche Rechte und Pflichten haben, folgt vor allem daraus, daß die Repräsentation des Volkes vom Parlament in der Gesamtheit seiner Mitglieder, also nicht durch einzelne Abgeordnete, bestimmte Gruppierungen oder „die Mehrheit" bewirkt wird. Eine derartige Repräsentation ist aber nur gewährleistet, wenn allen Abgeordneten die gleiche parlamentarische Mitwirkungsbefugnis zusteht110. Wird diese Gleichheit eingeschränkt, so findet eine Repräsentation der Gesamtheit des Volkes durch die Gesamtheit des Bundestages nicht mehr vollständig statt111. Bestandteil dieser Gesamtheit sind insbesondere auch die Abgeordneten der Opposition, so daß auch sie nicht diskriminiert werden dürfen. Daher ergibt sich notwendigerweise aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der parlamentsbezogene Grundsatz, 112

daß alle Abgeordneten formal gleichgestellt sind . 113

Folgt, wie oben dargestellt , aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Recht der Abgeordneten, sich in Fraktionen zusammenzuschließen, und knüpft der Bundestag in zulässiger Anwendung seines Selbstorganisations- und Geschäftsordnungsrechts (vgl. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) bestimmte Mitwirkungsbefugnisse an den Fraktionsstatus114, so wirkt sich das Recht der Abgeordneten, unter gleichen Bedingungen an der politischen Willensbildung im 109

BVerfGE 70, S. 324 (362 f); 84, S. 304 (324), wo das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont, daß der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien nicht den Status der Abgeordneten im Parlament beeinflußt. 110 BVerfGE 44, S. 308 (316); 56, S. 396 (405); 80, S. 188 (217 f); 84, S. 304 (321); Birk,, NJW 1988, S. 2521 (2523); Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (999); Jarass/Pieroth Art. 38 Rn 24; vgl. auch Scherer, AöR 112 (1987), S. 189 (201). 1 U

Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 367).

112

BVerGE 40, S. 296 (318); 80, 188 (220); 84, S. 304 (325); Jarass/Pieroth

113

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 2 a) bb).

114

Vgl. BVerfGE 70, S. 324 (363); 80, S. 188 (218 fi); Birk, NJW 1988, S. 2521 (2522).

Art. 38 Rn 30.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

1

Parlament mitzuwirken, auch auf den Fraktionsstatus aus115. Das Recht des einzelnen Abgeordneten auf Chancengleichheit wird mit dem Zusammenschluß auf die Fraktionen transponiert, so daß sich auch fur diese ein direkt aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ableitbares Gleichheitsrecht ergibt. Fraktionen, als Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleicher politischer Grundüberzeugung, die entweder der parlamentarischen Mehrheit oder der parlamentarischen Minderheit angehören, repräsentieren jeweils nur einen Teil der Wahlentscheidung des Volkes, so daß erst deren Gleichstellung im Verfahren die Repräsentation als Ganzes sichert. Der Bundestag muß daher auch gegenüber den Fraktionen grundsätzlich nach gleichen Maßstäben verfahren , denn Träger des parlamentarischen Gleichheitsrechts sind sowohl die einzelnen Abgeordneten als auch die Fraktionen117. Die Chancengleichheit der Fraktionen sichert somit auch oppositionellen Fraktionen die Möglichkeit, an der Staatswillensbildung im Parlament gleichberechtigt mitzuwirken.

c) Der gleichberechtigte Zugang zu Ausschüssen und Gremien des Bundestages Im Bundestag wird ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Arbeit außerhalb des Plenums, vor allem in den Ausschüssen, geleistet. Nach § 54 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT bereiten die Ausschüsse Verhandlungen und Beschlüsse des Plenums vor, um so einen Teil des Beratungs- und Entscheidungsprozesses entlastend vorwegzunehmen. Die Tätigkeit in den Ausschüssen hat für die parlamentarische Mitwirkung daher erhebliche Bedeutung. Das aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitete Recht der Fraktionen auf Chancengleichheit muß demnach auch ein grundsätzlich gleiches Recht auf Zugang zu parlamentarischen Ausschüssen und Gremien entsprechend ihrer zahlenmäßi118

gen Stärke umfassen . Dabei sind auch oppositionelle Fraktionen ausreichend zu berücksichtigen. Das Gebot des parlamentarischen Minderheiten115

firde, 116

Birk,, NJW 1988, S. 2521 (2522); Scherer, AöR 112 (1987), S. 189 (193); vgl. auch BöckenSondervotum BVerfGE 70, S. 324 (380, 382); ders., HdbStR I § 22 Rn 45. BVerfGE 84, S. 304 (324).

117

Birk,, NJW 1988, S. 2521 (2522); vgl. auch Besch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 33 Rn 12. 118

So BVerfGE 70, S. 324 (363) für die zuständigen Ausschüsse und Gremien zur Budgetberatung; s.a. Birk,, NJW 1988, S. 2521 (2523); Trute, Jura 1990, S. 184 (189); Scherer, AöR 112 (1987) S. 189 (200, 202).

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

schutzes und die Möglichkeit der Bildung und Ausübung von Opposition gewährleisten zwar keinen Schutz der Minderheit vor Sachentscheidungen der Mehrheit. Der Schutz geht aber dahin, der Minderheit zu ermöglichen, ihren Standpunkt in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß einzubringen. Ihr muß deshalb die Möglichkeit zugestanden werden, sich überall dort, wo letztlich die entscheidenden oder entscheidungserheblichen Diskussionen geführt werden, an diesem Willensbildungsprozeß zu beteiligen. Da wesentliche (Vor-) Entscheidungen bereits in den Ausschüssen getroffen werden, ist es demnach erforderlich, die parlamentarische Repräsentation in die Ausschüsse vorzuverlagern, so daß die Ausschüsse ein Abbild des gesamten Parlaments 119

darstellen . Die Opposition darf bei der Vergabe von Ausschußsitzen also nicht übergangen werden 120. Es fragt sich jedoch, ob Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG fordert, daß jede oppositionelle Fraktion in allen parlamentarischen Ausschüssen und Gremien vertreten ist, oder ob es ausreicht, daß überhaupt eine Oppositionsfraktion beteiligt ist. Stehen mehrere Fraktionen in Opposition zur Regierung, so ist zu berücksichtigen, daß diese völlig entgegengesetzte Vorstellungen vertreten können und unter Umständen ihre einzige Gemeinsamkeit in der Ablehnung der Regierungspolitik besteht. Diese Fraktionen dürfen daher nicht als Einheit betrachtet werden, denn es kann nicht unterstellt werden, daß eine Oppositi121

onsfraktion die Interessen der anderen vertreten kann und will . Das erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es ausfuhrt, „daß ebenso wie die Mehrheit auch die Minderheit im Parlament nicht notwendig eine homogene Einheit darstellt, sondern in eine Mehrzahl oder sogar Vielzahl von Gruppie122

rungen... aufgespalten sein kann" . Auch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, der von einer Repräsentation des Volkes durch die Gesamtheit der Parlamentsmitglieder ausgeht, verlangt, daß alle im Bundestag vertretenen Gruppierungen am parlamentarischen Willensbildungsprozeß in grundsätzlich gleicher Weise 119

BVerfGE 70, S. 324 (363); 80, S. 188 (218, 222); M. Schröder, Böhm/Edinger, ZRP 1991, S. 138 (141).

Jura 1987, S. 469 (474);

120

BVerfGE 70, S. 324 (359); Hohm y NJW 1985, S. 408 (411); Böhm/Edinger, ZRP 1991, S. 138(141); vgl. auch § 12 GeschOBT, wonach „die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse... im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen" ist. 121

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 28; Kretschmer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 9 Rn 89; Hohm, NJW 1985, S. 408 (411), der allerdings terminologisch etwas unglücklich von „Oppositionsmehrheits-" und „Oppositionsminderheitsfraktionen" spricht. 122

BVerfGE 70, S. 324 (363 f).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen 123

beteiligt sind . Somit muß auch jede Minderheits- oder Oppositionsiraktion die Möglichkeit haben, ihre politischen Vorstellungen in die Ausschüsse und Gremien einzubringen. Deshalb ist es nicht ausreichend, die parlamentarische Opposition als „Nicht-Mehrheit" zu qualifizieren und darauf abzustellen, daß 124

sie insgesamt bei der Ausschußbesetzung nicht übergangen wird . Eine derartige Vereinheitlichung der möglicherweise heterogenen Oppositionsfraktionen würde der Repräsentativfunktion des ganzen Bundestages, dessen Teil auch die jeweils in Opposition stehenden Fraktionen sind, nicht gerecht werden. Außerdem könnte eine so verstandene Beteiligung der Oppositionsfraktionen dazu führen, daß kleine, unliebsame Oppositionsströmungen von 125

der Mitwirkung im Parlament relativ willkürlich ausgeschlossen werden . Die Chancengleichheit wäre in einem solchen Fall nicht mehr gesichert. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet demnach, daß jede Fraktion, insbesondere auch die oppositionellen Fraktionen, grundsätzlich das gleiche Recht auf Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung und Zugang zu allen Ausschüssen und Gremien hat. Der Umfang der Beteiligung wird sich dabei im Regelfall nach der zahlenmäßigen Stärke der jeweiligen Fraktion rich126 A ten . In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch weiterhin die Frage, ob dieser gleiche Zugang unbegrenzt gilt, oder ob verfassungsrechtliche Gründe denkbar sind, nicht alle Fraktionen an allen Ausschüssen zu beteiligen. Das Bundesverfassungsgericht sieht in einer Entscheidung, die die Nichtbeteiligung der GRÜNEN an einem nach § 4 Abs. 9 HaushaltsG 1984 gebildeten Kontrollgremium betraf, eine Ausnahme vom Recht der Fraktionen auf Zugang zu allen Ausschüssen und Gremien als zulässig an, wenn ein zwingender Grund besteht, der gegenüber dem Gebot, jeder Fraktion die Möglichkeit zu geben, ihre politischen Vorstellungen in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß einzubringen, überwiegt. In einem solchen Fall - genannt wurden in dieser Entscheidung zwingende Gründe des Geheimschutzes, sowie die Handlungsfähigkeit des Parlaments und seiner Ausschüsse - dürfe die Größe 123

Vgl. oben 2. Kapitel Β 12 b).

124

M. Schröder, Jura 1987, S. 469 (474); Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 368, 371 f); Hohm, NJW 1985, S. 408 (411); abschwächend Kimme, Das Repräsentativsystem S. 170 f. 125 So M. Schröder, Jura 1987, S. 469 (474); vgl. auch Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (1000); Birk, NJW 1988, S. 2521 (2524). 126

Vgl. §§ 12, 55 Abs. 3, 57 GeschOBT.

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

74

parlamentarischer Gremien auch so gewählt werden, daß bei proportionaler Besetzung nicht alle parlamentarischen Gruppierungen Berücksichtigung finden. Mit dieser Begründung sah das Gericht die Begrenzung dieses Kontrollgremiums auf fünf, durch die Mehrheit des Bundestages gewählte Mitglieder, unter Ausschluß der GRÜNEN, als verfassungsgemäß an . Diese Entscheidimg tangiert jedoch in problematischer Weise das Recht der Chancengleichheit der Fraktionen aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Nichtbeteiligung einer Fraktion an einem Gremium, das befugt ist, Entscheidungen zu treffen, verfälscht die vom Volk als Souverän getroffene Wahlentscheidung, da in dem betreffenden Gremium eine Spiegelbildlichkeit der Zusammensetzung des Parlaments und somit auch der Repräsentation des gesamten Volkes nicht mehr ausreichend gewährleistet ist. Insbesondere bei Gremien und Aus128

schüssen, die zentrale politische Fragen beraten und entscheiden , muß das Recht der Fraktionen auf Gleichbehandlung dazu führen, daß auch kleinere (oppositionelle) Fraktionen ihre Vorstellungen einbringen können und somit ihr Teilhaberecht an der parlamentarischen Willensbildung verwirklicht wird. Deshalb muß grundsätzlich Vorsorge getroffen werden, daß alle Parlamentsfraktionen in den parlamentarischen Gremien und Ausschüssen vertreten 129

sind . Dem kann dadurch Rechnung getragen werden, daß entweder eine entsprechende Ausschußgröße oder ein Berechnungsverfahren gewählt wird, das die Mitwirkung aller Fraktionen sichert. Des weiteren besteht die Mög130

lichkeit, den Fraktionen ein Grundmandat einzuräumen . Ausnahmen sind im Hinblick auf kollidierendes Verfassungsrecht allerdings 131

dann denkbar, wenn die Handlungs- oder Funktionsfähigkeit des Parlaments durch die Zersplitterung der politischen Kräfte evidentermaßen derart gestört 127

BVerfGE 70, S. 324 ff (insbesondere S. 363 ff).

128

Dies war in der BVerfGE 70, S. 324 ff zugrunde liegenden Entscheidung der Fall, wo das Gericht auf S. 356 das Budgetrecht als „eines der wesentlichen Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle" bezeichnet. 129 So bereits W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), S. 480 (496); Hohm, NJW 1985, S. 408 (411); vgl. auch BVerfGE 66, S. 26 (38).

130

Birk, NJW 1988, S. 2521 (2524); Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen S. 109 ff; Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 5 Rn 67; vgl. auch Böckenförde, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (380, 383); Mahrenholz, Sondeivotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 376); Hohm, NJW 1985, S. 408 (411). Ein Grundmandat für Landtagsfraktionen gewähren z.B. § 69 Abs. 2 GeschO-RhPfLT und § 12 Abs. 3 GeschO-SchlHLT. 131

Zur Problematik der Funktionsfähigkeit als verfassungsrechtlicher Abwägungsgrenze vgl. Lerche, BayVBl. 1991, S. 517 ff (insbesondere S. 521 f).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

75

ist, daß die Berücksichtigung aller Fraktionen zu einer nicht mehr arbeitsfahigen Ausschußgröße führen würde

132

. Bei einer Fraktionszahl, die seit Beginn 133

der dritten Wahlperiode 1957 eine Summe von vier nie überschritten hat , kann von einer Zersplitterung, die die Handlungsfähigkeit des Parlaments einschränkt, jedoch keine Rede sein, zumal auch die Geschäftsordnungsregeln 134

über die Fraktionsmindeststärke (vgl § 10 Abs. 1 GeschOBT) einer derartigen Entwicklung faktisch entgegen wirken. In diesem Rahmen ist es also durchaus möglich, arbeitsfähige Ausschuß- und Gremiengrößen unter Berücksichtigung aller Fraktionen zu wählen, ohne die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse anzutasten. Damit ist es dem Grunde nach zwingend geboten, alle, insbesondere auch alle Oppositionsfraktionen an sämtlichen parlamentarischen Ausschüssen und Gremien zu beteiligen135. Entsprechendes muß grundsätzlich auch für parlamentarische Gruppen gelten, die die Fraktionsmindeststärke nicht erreichen (vgl. § 10 Abs. 4 GeschOBT). Auch sie leiten, wie die Fraktionen, als Zusammenschluß politisch gleichgesinnter Abgeordneter ihre Rechtsstellung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ab, so daß auch ihnen prinzipiell gleiche Mitwirkungsbefugnisse zugesprochen werden müssen. Da auch die in parlamentarischen Gruppen organisierten Abgeordneten die volle Repräsentationsfunktion wahrnehmen, verlangt der „Grundsatz der Spiegelbildlichkeit der Zusammensetzung von Parlament und Ausschüssen"136, daß grundsätzlich auch sie bei der Zusammensetzung von Ausschüssen Berücksichtigung finden. Erlangen Abgeordnete

132

Böckenförde, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (380, 383); M. Schröder, Jura 1987, S. 469 (474); Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen S. 109 ff. 133

Vgl. Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982 S. 233 und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987 S. 274. Im 12. Deutschen Bundestag sind derzeit drei Fraktionen und zwei Gruppen vertreten. 134

Anders als im Rahmen des Art. 53 a GG (vgl. oben, insbes. Fn 75) dürfte die Bestimmung einer Fraktionsmindeststärke auf Geschäftsordnungsebene wegen der sich aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages wohl grundsätzlich zulässig sein (vgl. BVerfGE 84, S. 304 (322)), wenn auch das Quorum von 5 % unter dem Gesichtspunkt des Minderheitsschutzes als Obergrenze des Zulässigen angesehen werden muß, vgl. Schick, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 58 Rn 21 m.w.N.; Troßmann, Parlamentsrecht § 10 Rn 3 f. 135

Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 70, S. 324 (366, 370 f); Hohm, NJW, 1985, S. 408 (411); Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen S. 110; Birk, NJW 1988, S. 2521 (2524). 136

BVerfGE 84, S. 304 (324).

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

einer Gruppe einen Ausschußsitz, so haben sie den gleichen Status wie Abge137

ordnete, die von Fraktionen entsandt werden . Allerdings ist bei der Vergabe von Ausschußsitzen an Gruppen zu beachten, daß sich diese, anders als Fraktionen, deren Mindeststarke in den Parlamentsgeschäftsordnungen geregelt ist, unter Umstanden nur aus einigen wenigen Abgeordneten zusammensetzen. Dies hat einmal zur Folge, daß es sich aufgrund einer geringen Zahl von Gruppenmitgliedern als schwierig erweisen könnte, eine solche Gruppe an allen Ausschüssen und Gremien zu beteiligen. Bei einer geringen Mitgliederzahl ist auch eine gewisse Vergleichbarkeit mit dem fraktionslosen Abgeordneten nicht zu leugnen, dem zwar, inzwischen 138

wohl weitgehend unbestritten, zumindest ein Ausschußsitz zusteht , dessen Beteiligung an allen Ausschüssen und Gremien aber von niemandem ernsthaft erwogen wird. So könnte die Berücksichtigung aller Gruppen in den Ausschüssen den Repräsentationsgedanken, daß die Ausschüsse ein Abbild des Parlaments sein müssen, erheblich verzerren. Daher ist es - entgegen einigen 139

Stimmen in der Literatur - zumindest grundsätzlich nicht geboten, parlamentarischen Gruppen ein Grundmandat einzuräumen oder ein Berechnungsverfahren anzuwenden, das jeder Gruppe in jedem Ausschuß und Gre140

mium mindestens einen Sitz sichert . Aus dem Recht auf gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung, das über Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch den Gruppen zusteht, ergibt sich aber, daß auch diese in möglichst großem Umfang an der Ausschuß- und Gremienarbeit zu beteiligen sind. Insbesondere darf die jeweilige Größe des Gremiums nicht so gewählt wer137

BVerfGE 84, S. 304 (322 ff); noch offengelassen in BVerfGE 80, S. 188 (222); Birk, Betrifft Justiz 1991, S. 157(158). 138

BVerfGE 80, S. 188 (223 ff); Morlok, JZ 1989, S. 1035 (1040 f); a.A. Kruis, Sondervotum BVerfGE 80, 188 (241 ff). Allerdings widerspricht es Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, daß das Bundesverfassungsgericht dem fraktionslosen Abgeordneten das Stimmrecht im Ausschuß nicht zugesprochen hat, vgl. Mahrenholz, Sondervotum BVerfGE 80, S. 188 (235 ff); Morlok, JZ 1989, S. 1035 (1040 f). 139

Birk, Betrifft Justiz 1991, S. 157 (160); Böhm/Edinger,

ZRP 1991, S. 138 (142).

140

Vgl. BVerfGE 84, S. 304 (332 f); Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (1000); Kassing, Das Recht der Abgeordnetengruppe S. 40. Im 12. Deutschen Bundestag wurde den Gruppen von Bündnis 90/Grüne und PDS/Linke Liste „angesichts der besonderen Umstände und Bedingungen für politische Parteien und Listenverbindungen bei den Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag und in Erwägung der Einmaligkeit dieser Lage bei der Einigung Deutschlands" weitgehend den Fraktionsrechten entsprechende Rechte eingeräumt, darunter das Recht, fur jeden Fachausschuß ein Mitglied zu benennen, vgl. BT-Drucks. 12/149 und 12/ 150, sowie die entsprechenden Bundestagsbeschlüsse, Stenogr. Berichte 12. Wahlperiode (155. Bd), 9. Sitzung vom 21. Februar 1991, S. 393-398.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

den, daß willkürlich mißliebige Oppositionsgruppen bei der Sitzverteilung keine Berücksichtigung finden. Die Handlungs- und Arbeitsfähigkeit des Ausschusses muß auch hier alleinige Abwägungsgrenze sein, wobei für Gremien, in denen wichtige Entscheidungen getroffen werden, besonders strenge Maßstäbe anzulegen sind. Die Gruppen sind daher in jedem Fall dann bei der Vergabe von Ausschußsitzen zu berücksichtigen, wenn ihnen ein solcher bei 141

proportionaler Verteilung zahlenmäßig zustehen würde .

d) Ergebnis Zusammenfassend ist damit festzustellen, daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in umfassender Form die Funktionsbedingungen oppositioneller Gruppierungen im Hinblick auf die Möglichkeit, sich im Bundestag in Fraktionen und Gruppen zu organisieren gewährleistet. Aus dieser Verfassungsnorm ist ferner herzuleiten, daß Oppositionsgruppierungen gegenüber anderen Teilen des Parlaments nicht benachteiligt werden dürfen, ihnen also grundsätzlich eine Chancengleichheit gewährleistet ist, die sich auch auf die Beteiligung in Bundestagsausschüssen und sonstigen Gremien bezieht. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG normiert damit zentrale verfassungsrechtliche Grundlagen für die Konstituierung oppositioneller Gruppierungen im Parlament und schafft der Opposition einen Rahmen für die Wahrnehmung ihrer Funktionen.

Das gilt - entgegen der von vier Richtern getragenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 84, S. 304 (334 ff)) - auch fur den Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a GG. Leitet man sowohl den Fraktions- als auch den Gruppenstatus allein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ab, so darf es, soweit den Gruppen rechnerisch ein Sitz zusteht, vor allem unter Berücksichtigung des Repräsentationsgedankens, nicht darauf ankommen, ob sich die Abgeordneten in Fraktionen oder Gruppen organisiert haben (so auch die vier „unterlegenen" Richter, BVerfGE 84, S. 304 (337, insbes. 340) ); zustimmend: Krebs, in von Münch/Kunig GG (Manuskript Band 2, 3. Aufl.) Art. 53 a Rn 10; Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (1000 f); Böhm/Edinger, ZRP 1991, S. 138 (140 f); vgl. auch Kassing, Das Recht der Abgeordnetengruppe S. 40, sowie oben Fn 75. Zurecht weist Morlok, DVB1. 1991, S. 998 (1000 f) darauf hin, daß das von den vier die Entscheidung tragenden Richtern angefühlte „Fraktionsprinzip" die vorangehenden Teile der Entscheidungsbegründung negiert.

8

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen 3. Mittel der Opposition zur Wahrnehmung ihrer Funktionen

Zur Ausübung ihrer Funktionen kann es für die Opposition nicht ausreichen, überhaupt im Bundestag vertreten zu sein und sich dort organisieren zu können. Vielmehr müssen ihr darüber hinaus Instrumentarien zur Verfügung stehen, die ihr eine tatsächliche Einwirkung auf den parlamentarischen Prozeß ermöglichen. Sowohl das Grundgesetz als auch die Geschäftsordnung des Bundestages enthalten zahlreiche Rechte und Befugnisse des Bundestages, die dazu dienen, daß dieser seine Teilhabe an der Staatsleitung funktionsgerecht wahrnehmen kann. Diese Rechte des Parlaments sind im einzelnen unterschiedlich ausgestaltet und können teilweise nur von Parlamentsmehrheiten, teilweise aber auch durch Minderheiten ausgeübt werden. Da sich die Oppositionsgruppierungen regelmäßig in der Minderheit befinden, ist im folgenden zu untersuchen, in welchem Ausmaß die parlamentarischen Rechte von der Opposition wahrgenommen werden können, und ob aufgrund der oben angestellten Funktionsanalyse das Bedürfnis besteht, einzelne dieser Rechte, die bisher nur von Parlamentsmehrheiten geltend gemacht werden können, so auszugestalten, daß sie auch von einer sich in der Minderheit befindlichen Opposition ausgeübt werden können.

a) Mißtrauensvotum und Mißbilligungsbeschlüsse aa) Mißtrauensvotum, Art. 67 Abs. 1 GG 142

Das „konstruktive" Mißtrauensvotum gemäß Art. 67 Abs. 1 GG , wonach der Bundestag dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen kann, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen, wird als ein bedeutsames Mittel der Opposition zur Erfüllung ihrer Funktionen angese143

hen . Nach den Regelungen des Grundgesetzes stellt das Mißtrauensvotum die verfassungsrechtlich einzig vorgesehene Möglichkeit dar, seitens des Parlaments unmittelbar einen Wechsel des Bundeskanzlers und damit auch der gesamten Regierung (vgl. Art. 69 Abs. 2, 2. Halbsatz GG) herbeizuführen. Da 142

Vgl. zu Art. 67 Abs. 1 GG schon oben 1. Kapitel B. 143

Zirker,

Opposition S. 75 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

ein erfolgreiches Mißtrauensvotum nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG jedoch der Unterstützung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages bedarf, ist dessen Anwendbarkeit für eine sich in der Minderheit befindlichen Opposition naturgemäß begrenzt. Nach § 97 Abs. 1 Satz 2 GeschOBT obliegt es einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestages umfaßt, den Antrag zu stellen, daß der Bundestag dem Bundeskanzler gemäß Art. 67 Abs. 1 GG das Mißtrauen ausspricht. Eine Opposition, die dieses Quorum erreicht, kann ein Mißtrauensvotum somit zumindest in die Wege leiten. Damit es jedoch erfolgreich verläuft, muß es der Opposition gelingen, Unterstützung seitens der Parlamentsmehrheit zu erlangen, denn die Opposition allein verfugt regelmäßig als Minderheit nicht über die erforderliche Stimmenzahl, die zur Wahl eines neuen Kanzlers erforderlich ist. Die Opposition wird einen solchen Antrag daher nur stellen, wenn er Aussicht auf Erfolg verspricht. Ein fehlgeschlagenes Mißtrauensvotum könnte die Position der Opposition, beispielsweise im Hinblick auf die nächsten Wahlen erheblich schwächen, während die Position der Regierung meist da144

durch gestärkt wird . Auch die Tatsache, daß der Antrag auf Durchführung eines Mißtrauensvotums - anders als die Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs. 1 GG - zu 145

einer Debatte führen kann , in der die Opposition die Möglichkeit hat, die Regierung zu kritisieren und sich als bessere Alternative darzustellen, ergibt keinen Grund, einen Mißtrauensantrag zu stellen. Wie die folgende Darstellung noch zeigen wird 146 , stehen der Opposition einfachere und „ungefährlichere" Mittel zur Verfügung, um die Regierung im Plenum kritisieren zu können. So ist das Mißtrauensvotum ein Instrument, das nur sehr selten Anwendung findet. In der Bundesrepublik gab es bisher lediglich zwei Mißtrauensvoten, ein erfolgloses gegen Bundeskanzler Brandt im April 1972 und ein 147

erfolgreiches gegen Bundeskanzler Schmidt im September 1982 .

144

Vgl. Gehrig, Parlament S. 278 f; Zirker,

Opposition S. 77 f.

145

Troßmann, Parlamentsrecht § 98 Rn 9 f; E. Brandt, Vertrauenserfordernis S. 244 f. 146

Vgl. unten 2. Kapitel Β I 3 bb) (1).

147

Vgl. zum Ablauf der beiden Mißtrauensvoten Schindler, 1982, S. 403 ff.

Datenhandbuch Bundestag 1949-

0

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

bb) Mißbilligungsbeschlüsse Da sich Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG ausdrücklich nur auf ein Mißtrauensvotum bezieht, das die Abwahl des Bundeskanzlers zur Folge hat, fragt sich, inwieweit sonstige, die Regierungsführung und -Zusammensetzung mißbilligende Anträge, Ersuchen, oder Beschlüsse des Parlaments verfassungsrechtlich zulässig sind. Durch den Wortlaut („nur") und die Entstehungsgeschichte des 148

Art. 67 Abs. 1 Satz 1 GG kommt deutlich zum Ausdruck, daß das in dieser Norm geregelte Mißtrauensvotum die einzige von der Verfassung vorgesehene Möglichkeit ist, den Bundeskanzler und damit die gesamte Regierung (vgl. Art. 69 Abs. 2 GG) mit rechtlich verpflichtender Wirkung abzuwählen. Einzelne Minister kann der Bundestag nicht aus der Regierung „herauswählen". Ob der Bundestag, insbesondere die oppositionellen Gruppierungen, darüber hinaus berechtigt sind, Mißbilligungs- (Tadels-) Anträge und -beschlüsse gegen den Bundeskanzler, einen Bundesminister oder die Bundesregierung als Kollegialorgan durchzuführen, die keinen rechtsverbindlichen Charakter haben und insbesondere keine Verpflichtung zur Demission auslösen, wird teil149

weise bestritten . So machen einzelne Autoren geltend, daß es kaum dem Sinn des Grundgesetzes, das eindeutig auf eine Stärkung der amtierenden Regierung angelegt sei, entspreche, derartige Mißbilligungsvoten zuzulassen. Selbst bei rechtlicher Unverbindlichkeit könnten sie einen „Angriff auf die politische Existenz" der Regierung darstellen150. Des weiteren wird ausgeführt, daß auch die „einfache" Mißbilligung der Regierungspolitik als Bekundung des Mißtrauens gegenüber dem Kanzler und der Regierung angesehen werden muß, die kaum ohne Einfluß auf den Bestand der Regierung sein wird. Wenn schon der Verfassungsgeber das Recht des Bundestages, die Regierung abzuberufen so weitgehend beschränkt habe, wie es durch Art. 67 Abs. 1 GG geschehen sei, führe der Zweck dieser Norm, die Regierung zu stärken und der Entstehung eines Vakuums an Regierungsautorität vorzubeugen, zur verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit von Mißbilligungsbeschlüssen151. 148

Vgl. von Do emming/Füs s lein/Matz, mentar(l. Aufl.) Art. 67 Anm. 1 (S. 353 ff).

JöR 1 n.F. (1951), S. 442 ff; von Mangoldt, GG-Kom-

149

Sattler, DOV 1967, S. 765 (769 ff); F. Münch, Die Bundesregierung S. 178 f. 150

F. Münch, Die Bundesregierung S. 178 f. 151

F. Münch, Die Bundesregierung S. 178 f; Sattler, DOV 1967, S. 765 (769 ff), der allerdings noch zwischen der Auffordemng zur Stellung der Veitrauensfrage sowie allgemeinen und speziellen Mißbilligungsvoten differenziert. Während die beiden erstgenannten grundsätzlich unzu-

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

1

Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob eine derart restriktive Auslegung des Art. 67 Abs. 1 GG der Intention des Verfassungsgebers entspricht. Nicht ganz eindeutig ist in diesem Zusammenhang der Wortlaut dieser Norm. Die Wendung „nur" kann einerseits ein Hinweis darauf sein, daß alle anderen, nicht in Art. 67 Abs. 1 GG vorgesehenen Möglichkeiten eines Ausspruchs der Mißbilligung gegenüber dem Bundeskanzler oder der Bundesregierung durch 152

diese Vorschrift ausgeschlossen sein sollen . Andererseits kann sich das „nur" aber auch darauf beziehen, daß Art. 67 Abs. 1 GG die einzig rechtlich verbindliche Abwahlmöglichkeit des Bundeskanzlers vorsieht, andere, recht153

lieh unverbindliche Mißbilligungen aber nicht ausschließt . Auch die Entstehungsgeschichte gibt keinen eindeutigen Hinweis, wie Art. 67 Abs. 1 GG aufzufassen ist, wenn auch im Parlamentarischen Rat wohl überwiegend die Ansicht vertreten wurde, daß Mißbilligungsbeschlüsse durch das Mißtrauens154

votum nicht ausgeschlossen werden sollten . Betrachtet man jedoch die systematische Stellung des Art. 67 GG im VI. Abschnitt des Grundgesetzes („Die Bundesregierung") sowie den Sinn und Zweck dieser Norm, so wird deutlich, daß Mißbilligungsanträge und -beschlüsse als zulässig anzusehen sind. Aus dem im Grundgesetz niedergelegten parlamentarischen Regierungssystem, das durch die Vorschriften der Art. 63, 64, 65, 67 und 68 GG konkretisiert wird, ergibt sich, daß die Regierung grundsätzlich vom Vertrauen des Parlaments abhängt und diesem gegenüber verantwortlich ist. Dem Parlament muß es aber möglich sein, diese Verantwortlichkeit auch durch die Kundgabe der Mißbilligung oder durch förmliche Beschlüsse geltend machen zu können, ohne gleich auf das Mißtrauensvotum zurückzugreifen zu müssen. Die Verfassung kann zwar besondere Regelungen für die Fortdauer des Vertrauens oder die Kundgabe der Mißbilligung vorsehen, wie es in Art. 67, 68 GG geschehen ist. Soweit aber spezielle Regelungen fehlen, kann das Parlament die Verantwortlichkeit der Regierung geltend machen und in diesem Rahmen lässig sein sollen, unterscheidet er bei den speziellen Mißbilligungsvoten Fragen von grundsätzlicher Bedeutung und hochpolitischem Charakter einerseits und weniger bedeutsamen Angelegenheiten andererseits. Nur letztere sollen verfassungsrechtlich zulässig sein (vgl. S. 769 ff). Diese Differenzierung vermag jedoch schon deswegen nicht zu überzeugen, weil es in der Praxis kaum möglich sein wird, derartige Unterscheidungen zu treffen. 152

So F. Münch, Die Bundesregierung S. 178. In diesem Sinne Achterberg, Parlamentsrecht S. 485. 154

Vgl. etwa die Äußerungen in der 28. Sitzung des Organisationsausschusses v. 16.12.1948 der Abg. Dehler, Stenogr. Protokoll S. 11 f und Mücke, ebd. S. 12 sowie die Darstellung bei E. Brandt, Vertrauenserfordernis S. 149 ff. 6 Haberland

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

auch seine Mißbilligung kundtun155. Art. 67 Abs. 1 GG schränkt die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament nicht ein, sondern stellt nur besondere Voraussetzungen auf, die einen Regierungssturz erschweren, um eine politische Instabilität zu verhindern. Rechtlich unverbindliche Mißbilligungsbeschlüsse gegenüber dem Kanzler oder der Regierung werden daher durch Art. 67 Abs. 1 GG nicht ausgeschlossen156, denn „Beschlüsse der Volksvertretung zu verbieten, die auf eine Kritik der Regierung hinauslaufen, 157

hieße, das parlamentarische Prinzip selbst aufzugeben" . Gleiches gilt auch für Mißbilligungsbeschlüsse gegenüber einzelnen Bundesministern. Zwar hat der Bundestag keinen direkten Einfluß auf die Auswahl und Entlassung der Minister (vgl. Art. 64 Abs. 1 GG). Daß diese in Ernennung und Amt vom Bundeskanzler abhängen, heißt aber nicht, daß sie nicht auch dem Bundestag gegenüber verantwortlich sind (vgl. Art. 65 Satz 2 GG). Art. 67 GG sollte nur verhindern, daß einzelne Minister gegen den Willen des Bundeskanzlers aus der Regierung „herausgewählt" werden und so die Stabilität der Bundesregierung beeinträchtigt wird. Mißbilligungskundgaben 158

des Parlaments gegenüber den Ministern werden davon aber nicht berührt . Somit ist mit der ganz überwiegenden Auffassung im Schrifttum davon auszugehen, daß Mißbilligungsanträge und -beschlüsse des Bundestages gegen den Bundeskanzler, die Bundesregierung oder einzelne Bundesminister ver159

fassungsrechtlich zulässig sind . Sie führen jedoch nicht zu einer rechtlichen Rücktritts- oder Entlassungspflicht, sondern haben ausschließlich politischen Charakter. Parlamentsrechtlich sind derartige Beschlüsse als schlichte Parlamentsbeschlüsse160 einzuordnen, so daß der Antrag auf einen Mißbilligungs155

Vgl. Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 3 c (S. 996 f); Liesegang, in von Münch GG Art. 67 Rn 10; Bleckmann, Staatsrecht I Rn 1958. 156

E. Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen S. 77 f; Stern, Staatsrecht I § 22 III 3 c (S. 996 f). 157

H. Schneider, Anm. IV 1 (S. 1301).

W D S t R L 8 (1950), S. 21 (29); vgl. auch von Mangoldt/Klein

Art. 67

158

Von Mangoldt/Klein Art. 67 Anm. I V 3 (S. 1302); E. Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen S. 78 î\ Achterberg, Parlamentsrecht S. 485. 159 H. Schneider, W D S t R L 8 (1950), S. 21 (28 f); von Mangoldt/Klein Art. 67 Anm. I V (S. 1301); Achterberg, Parlamentsrecht S. 485; Liesegang, in von Mönch GG Art. 67 Rn 10; Gehrig, Parlament S. 281; Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 3 c (S. 996 f), der jedoch zutreffend darauf hinweist, daß ein Antrag, das Gehalt des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers zu streichen, wegen des öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnisses unzulässig ist.

160

Vgl. dazu Achterberg, Parlamentsrecht S. 738 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

beschluß gemäß §§ 75 Abs. 1 Ziff. d, 76 Abs. 1 GeschOBT von einer Fraktion oder von einer Abgeordnetenzahl in Fraktionsstärke - somit auch von oppositionellen Fraktionen - eingebracht werden kann. Da aber zu deren Annahme gemäß Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG ein Mehrheitsbeschluß erforderlich ist, sind die Erfolgsaussichten auf die Annahme von Mißbilligungsanträgen eher gering. So wurde von 32 bis einschließlich der 11. Wahlperiode eingebrachten Mißbilligungs- und Entlassungsanträgen gegen die Bundesregierung, den Bundeskanzler oder einzelne Bundesminister nur einer angenommen161, während die anderen abgelehnt wurden oder sich anderweitig erledigten162.

b) Zitier- und Interpellationsrechte Das Grundgesetz sowie die Geschäftsordnung des Bundestages enthalten zahlreiche Rechte des Parlaments, um von der Regierung Informationen erlangen zu können. Diese Rechte sind gerade fur oppositionelle Gruppierungen von erheblicher Bedeutung.

aa) Zitierrecht, Art. 43 Abs. 1 GG Das in Art. 43 Abs. 1 GG normierte Zitierrecht gehört zu den traditionellen Rechten des Parlaments. Nach dieser Vorschrift können der Bundestag und seine Ausschüsse163 die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. Da die Bundesregierung gemäß Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern besteht, ist die Herbeirufung des Bundeskanzlers und eines jeden Ministers durch den Bundestag möglich, wobei nach bestrittener Ansicht dem Art. 43 Abs. 1 GG keine Begrenzung auf diejenigen Mini-

Hierbei handelte es sich um einen Antrag der SPD-Fraktion, der Bundestag möge Bundeskanzler Erhard ersuchen, dem Bundestag gemäß Art. 68 GG einen Antrag vorzulegen, ihm das Vertrauen auszusprechen (vgl. BT-Drucksache V/1070). Dieser Antrag fand die Zustimmung der Mehrheit des Bundestages (vgl. Stenogr. Prot, der 5. Wahlperiode, Bd. 62, 70. Sitzung vom 08.11.1966, S.3304B). 162

Vgl. die Angaben bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982 S. 419 ff und Datenhandbuch Bundestag 1982-1987 S. 362 f; ders., ZfParl 22 (1991), S. 344 (356). 163

Zur Frage, welche Ausschüsse von dem Recht aus Art. 43 Abs. 1 GG Gebrauch machen können, vgl. von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 43 Rn 21 ff; Jarass/Pieroth Art. 43 Rn 1; Magiera, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 4 ff.

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

ster zu entnehmen ist, die für den die Herbeirufimg auslösenden Themenbereich (mit-) verantwortlich sind164. „Anwesenheit" im Sinne des Art. 43 Abs. 1 GG bedeutet nach der klassischen Formulierung von G. Anschûtz „nicht stummes Dasitzen, sondern Beteiligung an den parlamentarischen Verhandlungen, insbesondere die Pflicht der Minister, auf Anfragen... Rede und Antwort zu stehen"165. Art. 43 Abs. 1 GG begründet somit eine grundsätzliche Antwortpflicht des herbeigerufenen Regierungsmitgliedes, deren Durchbrechung nur in Ausnahmenfallen gerechtfertigt ist, etwa wenn der Staats- und Geheimschutz, der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung oder der allgemeine Persönlichkeitsschutz betroffen .

166

ist . Der Antrag zur Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes kann nach § 42 GeschOBT von einer Fraktion oder von 5% der anwesenden Mitglieder des Bundestages gestellt werden. Über den Antrag entscheidet der Bundestag, wobei zur Annahme eine einfache Mehrheit im Sinne des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG erforderlich ist. Anders als etwa bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder einer Enquete-Kommission hat eine (qualifizierte) Minderheit somit nicht die Möglichkeit, die Anwesenheit eines Regierungsmitgliedes im Plenum oder in den Ausschüssen gegen die Mehrheit des Bundestages zu erzwingen. Demzufolge spielt das Zitierrecht in der Praxis des Bundestages keine allzu große Rolle. Bis zum Ende der 11. Wahlperiode gab es in den Plenarsitzungen insgesamt 52 Anträge auf Herbeirufimg eines Regierungsmitgliedes, wovon nur 15 angenommen wurden 167. Gerade im Hinblick auf die Opposition wird daher zu Recht gefordert, Art. 43 Abs. 1 GG so auszugestalten, daß auch eine qualifizierte Minderheit das Recht hat, die Anwesenheit von Regierungsmitgliedern zu verlangen168. Es stellt eine gewisse

164

von MangoIdt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 43 Rn 27 m.w.N.; Magiera, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 8; Maunz, in Maunz/Dürig Art. 43 Rn 5; a.A. Jarass/Pieroth Art. 43 Rn 1; AK-Schneider Art. 43 Rn 5; BK-Schröder Art. 43 Rn 33; Versteyl, in von Münch GG Art. 43 Rn 23. 165

Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches Art. 33 Anm. 1. 166

Vogelsang , ZRP 1988, S. 5 (7 f); von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 43 Rn 14; Jarass/Pieroth Art. 43 Rn 2; AK-Schneider Art. 43 Rn 3; Maunz, in Maunz/Dürig Art. 43 Rn 8; Witte-Wegmann, Recht und Kontrollfunktion S. 80 f; Hölscheidt, DÖV 1993, S. 593; Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 24. 167

168

Vgl. die Daten bei Schindler, ZfParl 22 (1991), S. 344 (356).

Gehrig,, Parlament S. 293; AK-Schneider Art. 43 Rn 7; Grube, Opposition S. 120; ablehnend: Schönfeld, Zitierrecht S. 83 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

5

Inkonsequenz des parlamentarischen Minderheitsschutzes dar, daß eine qualifizierte Minderheit die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen kann, während fur das als „milder" eingestufte Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG ein Mehrheitsbeschluß erforderlich ist 169 . Wenn hingegen vereinzelt ausgeführt wird, daß wegen des relativ seltenen Gebrauchs des Herbeirufungsrechts kein praktisches Bedürfnis für eine Ausgestaltung als Minder170

heitsrecht bestehe , so ist dieser Auffassung entgegenzuhalten, daß sie auf einem Zirkelschluß beruht. Der seltene Gebrauch des Antrags nach Art. 43 Abs. 1 GG und die hohe Ablehnungsquote sind wohl eher Hinweise dafür, daß es wegen des erforderlichen Mehrheitsbeschlusses seitens der Minderheit von vornherein als zwecklos angesehen wird, einen Antrag auf Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes zu stellen. Auf Landesverfassungsebene ist das Zitier171

recht daher teilweise als Minderheitsrecht ausgestaltet worden . bb) Interpellationsrechte Versteht man unter Interpellationsrechten die Befugnis von Abgeordneten, parlamentarische Anfragen, deren nähere Ausgestaltung in der Geschäftsord172

nung des Bundestages geregelt ist, an die Bundesregierung zu richten , so lassen sich unter diesem Gesichtspunkt verschiedene förmliche Fragetypen zusammenfassen, mit denen der Abgeordnete die Möglichkeit hat, für seine Aufgabenerfüllung notwendige Informationen von der Bundesregierung zu erlangen. Anders als das Zitierrecht des Art. 43 Abs. 1 GG sind diese Interpellationsrechte nicht in der Verfassung, sondern lediglich in der Geschäftsordnung des Bundestages verankert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß die Interpellationsrechte je nach konkreter Ausgestaltung auch von einzelnen Abgeordneten, zumindest aber von einer qualifizierten Minderheit geltend

169

So Maunz, in Maunz/Dürig Art 44 Rn 32; Gehrig, Parlament S. 293; Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (8 f). 170

Vgl. BK-Schröder Art. 43 Rn 49; ähnlich Versteyl, 171

in von Münch GG Alt. 43 Rn 37.

Vgl. etwa Art. 66 Abs. 1 BrdbVerf, Art. 21 Abs. 1 SchlHVerf.

172

So Stern, Staatsrecht I I § 26 I I 3 b (S. 55). Der Begriff Interpellation wird allerdings nicht einheitlich verwendet. Teilweise wird auch das Zitierrecht des Art. 43 Abs. 1 GG miteinbezogen (vgl. etwaMïwflz, in Maunz/Dürig Art. 43 Rn 8; Hamann/Lenz Art. 43, S. 464) und teilweise findet eine Begrenzung auf die Große Anfrage statt (vgl. H.-W. Meier, Zitier- und Zutrittsrecht S. 98; Gehrig, Parlament S. 294).

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

gemacht werden können, ein Mehrheitsbeschluß also nicht erforderlich ist. Im einzelnen sind folgende Rechte zu unterscheiden:

(1) Große Anfrage, §§ 100-103 GeschOBT Große Anfragen können von einer Fraktion bzw. von 5% der Mitglieder des Bundestages (vgl. § 75 Abs. 1 lit. b) i.V.m. § 76 Abs. 1 GeschOBT) an die Bundesregierung insgesamt, also nicht an einzelne Bundesminister, gerichtet werden. Sie müssen gemäß § 100 Abs. 1 GeschOBT kurz und bestimmt gefaßt sein und können mit einer Begründung versehen werden. Ergeht eine Antwort, so wird die Große Anfrage mit dieser Antwort als Drucksache veröffentlicht (§ 77 Abs. 1, 75 Abs. 1 lit. f)) und auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt (§101 Satz 2 GeschOBT). Eine Beratung muß erfolgen, wenn sie von einer Fraktion oder von 5% der Abgeordneten verlangt wird (§ 101 Satz 3 GeschOBT). Das gilt nach § 102 GeschOBT selbst dann, wenn die Bundesregierung die Beantwortung der Großen Anfrage überhaupt oder für die nächsten drei Wochen ablehnt. Die Große Anfrage dient, wegen der Möglichkeit, eine Debatte zu erzwingen, weniger der Erlangung von Regierungsinformationen als vielmehr dazu, die Regierung zu veranlassen, ihre Ansichten zu politisch bedeutsamen Sach173 verhalten darzulegen . Demgemäß werden die Großen Anfragen überwie174

gend von oppositionellen Gruppierungen genutzt , um sich kritisch mit der Regierungsposition auseinanderzusetzen sowie die eigenen Vorstellungen und Alternativen darzustellen. Sie sind daher in der Praxis wichtige Instrumente zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen. Gerade die Möglichkeit, eine Plenardebatte zu erzwingen und nicht etwa Unterschiede in Fragegegenstand, -inhalt oder -umfang, unterscheidet die Große Anfrage von den anderen Fra175

getypen .

Magiern, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 19; Busch, Parlamentarische Kontrolle S. 156. 174

Vgl. die Daten bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 762 und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987, S. 677. 175

Troßmann, JÖR28 (1979), S. 1 (221); Magiera, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 19.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

(2) Kleine Anfrage, §104 GeschOBT Auch in Kleinen Anfragen können eine Fraktion oder 5% der Bundestagsmitglieder (vgl. §§ 75 Abs. 3, 76 Abs. 1 GeschOBT) Auskunft von der Bundesregierung über bestimmt bezeichnete Bereiche verlangen (§ 104 GeschOBT). Die Kleine Anfrage und die Antwort der Bundesregierung (zumeist durch den zuständigen Ressortminister) werden als Bundestagsdrucksache veröffentlicht (§§ 75 Abs. 3, 77 GeschOBT), ohne daß eine parlamentarische Aussprache erfolgt. Zwar werden auch die Kleinen Anfragen überwiegend von der Opposition eingebracht176. Sie dienen aber nicht in erster Linie der Auseinandersetzung mit der Regierung, sondern der Sachinformation der Antragsteller über bestimmte Sachgebiete. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß durch die Kleinen Anfragen, die häufig von parlamentarischen Interessengruppen zum Teil mit hoher Sachkenntnis und bei als unzureichend empfundener Antwort, auch wiederholt eingebracht werden, ein gewisser Druck auf 177

die Regierung erzeugt wird , denn letztlich besteht immer die Möglichkeit, die Anfrage als Große Anfrage mit anschließender Debatte erneut an die Bun178

desregierung zu richten . (3) Einzelfragen

und Fragestunde, §105 GeschOBT

Gemäß § 105 GeschOBT ist jedes Mitglied des Bundestages berechtigt, kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten. Die nähere Ausgestaltung wird durch die „Richtlinien für die Fragestunde und für schriftliche Einzelfragen" (= Anlage 4 der GeschOBT) bestimmt. Danach fuhrt der Bundestag in jeder Sitzungswoche Fragestunden von höchstens drei Stunden durch, in der jeder Abgeordnete bis zu zwei Fragen zur mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung richten kann. Wird die Frage mündlich beantwortet, sind in begrenztem Umfang Zusatzfragen - auch durch andere Abgeordnete - möglich. Daneben kann jeder Abgeordnete im Monat bis zu vier Fragen zur 176

Vgl. die Daten bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 762 und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987, S. 677. 177

Vgl. dazu Witte-Wegmann,

Recht und Kontrollfunktion S. 160 f.

178

Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband § 104 Rn 6; Magiern, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 21.

88

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

schriftlichen Beantwortung durch die Bundesregierung einreichen. Auch die Einzelfragen werden in überwiegendem Maße von Abgeordneten gestellt, die 179

Oppositionsgruppierungen angehören . Durch die Zusatzfragen kann sich zwar ein gewisses Wechselspiel zwischen Fragesteller und Regierungsmitglied ergeben. Der erhebliche Unterschied zur Debatte liegt jedoch in der Beschränkung des Abgeordneten auf das Fragerecht.

(4) Aktuelle Stunde, §106 GeschOBT Nach § 106 GechOBT i.V.m. den „Richtlinien für Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse" (= Anlage 5 der GeschOBT) findet die Aussprache über ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemeinem aktuellen Interesse in Kurzbeiträgen von fünf Minuten (Aktuelle Stunde) statt, wenn sie im Ältestenrat vereinbart oder von einer Fraktion oder 5% der anwesenden Abgeordneten verlangt wurde. Die Geschäftsordnung gibt damit die Möglichkeit, in zeitlich eng bemessenen Beiträgen in Form von Rede und Gegenrede aktuelle Themen im Plenum zu behandeln. Es wird hier der Nachteil der Fragestunden ausgeglichen, in denen die Abgeordneten auf Fragen an die Regierung beschränkt sind. Da auch die Aktuellen Stunden hauptsächlich von Oppositionsgruppierun180

gen verlangt werden , wird hierin ein Mittel der Opposition gesehen, einerseits einen gewissen Ausgleich gegenüber der Regierung zu schaffen, die durch Regierungserklärungen die Tagesordnung des Bundestages beeinflussen 181

kann . Andererseits besteht hier die Möglichkeit, sich öffentlich mit Positionen der Regierung und der Regierungsmehrheit zu bestimmten aktuellen Themen auseinanderzusetzen.

179

Vgl. die Daten bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 762 und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987, S. 677. 180

Vgl. die Daten bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 763 und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987, S. 677. 181

Zeh, HdbStR I I § 43 Rn 55.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

(5) Die Antwortpflicht

der Bundesregierung

Die Geschäftsordnung des Bundestages und ihre Anlagen regeln zwar ausfuhrlich die Art und Weise der Einbringung und Beantwortung parlamentarischer Anfragen, eine Verpflichtung zur Beantwortung durch die Bundesregierung enthalten sie jedoch nicht. Das ergibt sich zum einen aus der Geschäftsordnung selbst, denn § 102 Satz 1 GeschOBT sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, daß die Bundesregierung die Beantwortung einer Großen Anfrage überhaupt oder für einen bestimmten Zeitraum ablehnen kann, und auch bei der Kleinen Anfrage wird - wenn es auch nicht ausdrücklich erwähnt 182

183

ist - die Antwortsverweigerung als möglich angesehen . Außerdem könnte die Geschäftsordnung als autonomes Parlamentsrecht eine Verpflichtung der Bundesregierung zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen nicht begründen, denn als reines „Innenrecht" des Bundestages kann sie keine Bindungswirkung gegenüber anderen Staatsorganen erzeugen, die nicht bereits verfas184

sungsrechtlich festgeschrieben ist . Es fragt sich jedoch, inwieweit parlamentarische Anfragen, gerade auch für die Opposition, von Bedeutung sein können, wenn damit nicht auch eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert. Einige Autoren greifen daher auf Art. 43 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Grundlage der parlamentarischen Fragerechte zurück. Die in der Geschäftsordnung geregelten Interpellationsrechte stellen sich nach dieser Ansicht lediglich als Konkretisierungen des in Art. 43 Abs. 1 GG geregelten Zitierrechts dar. Geht man weiterhin mit der h.M. davon aus, daß sich aus dem Zitierrecht stets eine Ant185

wortpflicht des herbeigerufenen Regierungsmitgliedes ergibt , so muß diese Pflicht danach für sämtliche parlamentarischen Anfragen gelten186. 182 Anders als § 110 Abs. 2 Satz 2 GeschOBT a.F. (1970), der die Verweigerung der Antwort ausdrücklich als möglich ansah, ist eine entsprechende Regelung in der GeschOBT von 1980 nicht enthalten. Die Streichung beruht jedoch darauf, daß die Möglichkeit der Antwortverweigerung als selbstverständlich angesehen wurde, vgl. Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (6). 183

Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (6); Troßmann/Roll,

Parlamentsrecht, Ergänzungsband § 104

Rn 2. 184

BVerfGE 1, S. 144 (148); Magiern, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 52 Rn 36 f; Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (6); Bodenheim, ZfParl 11 (1980), S. 38 (40); Witte-Wegmann, Recht und Kontrollfunktion S. 82; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 40 Rn 6. 185

Vgl. dazu oben 2. Kapitel Β I 3 b) aa). 186

Schmidt-B leibtreu/Klein Art. 43 Rn 6; Stern, Staatsrecht II § 26 I I 3 b (S. 55); von Mangoldt/Klein Art. 43 III 2 (S. 937).

0

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Gegen die verfassungsrechtliche Herleitung der Interpellationsrechte aus Art. 43 Abs. 1 GG sprechen jedoch gewichtige Gründe, insbesondere strukturelle Unterschiede von Zitier- und Fragerecht. Das Verlangen nach der Anwesenheit von Regierungsmitgliedern gemäß Art. 43 Abs. 1 GG setzt stets einen Mehrheitsbeschluß voraus, während die in der Geschäftsordnung geregelten Fragerechte von einer Minderheit, zum Teil sogar von einzelnen Abgeordneten geltend gemacht werden können. Weiterhin haben die Zitierung und die parlamentarischen Anfragen verschiedene Adressaten. Während durch Art. 43 Abs. 1 GG die Anwesenheit eines einzelnen Regierungsmitgliedes erzwungen werden kann, richten sich die parlamentarischen Fragerechte an die Bundesregierung als Kollegialorgan 187. Letztlich ist auf die unterschiedliche historische Tradition des Zitierrechts und der Fragerechte hinzuweisen, denn letztere wurden schon zur Zeit des Konstitutionalismus in Anspruch genommen, als es das Zitierrecht noch gar nicht gab, so daß die Interpellationsrechte keine Kon188

kretisierungen des Zitierrechts sein können . Das Recht, parlamentarische Anfragen zu stellen, mit denen eine Antwortpflicht der Bundesregierung korrespondiert, ergibt sich jedoch aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Ausübung des Fragerechts stellt sich für den Abgeordneten als Tätigkeit dar, die von seinem parlamentarischen Mitwirkungsrecht 189

aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG umfaßt ist . So hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß die Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen dazu dienen, „dem einzelnen Abgeordneten die für seine Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu verschaffen. Sie sind Teil des Frage- und Interpellationsrechts des Parlaments, das den Mitgliedern der Bundesregierung die verfassungsrechtliche Verpflichtung aufer190

legt, auf Fragen Rede und Antwort zu stehen" . Aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist somit grundsätzlich ein Informationsrecht abzuleiten, das die verfassungsrechtliche, nicht bloß politische Pflicht der Bundesregierung umfaßt, auf 191

parlamentarische Anfragen Antwort zu geben , soweit keine berechtigten

187

Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband § 105 Rn 4; Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (6 f); AK-Schneider Art. 43 Rn 6. 188 189 190

Witte-Wegmann, Recht und Kontrollfunktion S. 80, 15 ff. Vgl. Holscheid^ DÖV 1993, S. 593 (595). BVerfGE 13, S. 123 (125); 57, S. 1 (5); 67, S. 100 (129); 70, S. 324 (355).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

91

192

Gründe zu deren Verweigerung vorliegen . In diesem Sinne ist auch § 102 Satz 1 GeschOBT verfassungskonform auszulegen. Einige Landesverfassungen haben die Pflicht der jeweiligen Landesregierung zur Beantwortung par193

lamentarischer Anfragen sogar ausdrücklich festgelegt . c) Die Beteiligung an den Bundestagsausschüssen aa) Fachausschüsse Im Bundestag wird ein Großteil der anfallenden Arbeit nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen geleistet. Neben den im Grundgesetz ausdrücklich genannten Ausschüssen gibt es ein System von Fachausschüssen, das in 194

etwa der Ressortbildung der Bundesregierung entspricht . Diese Ausrichtung der Ausschüsse an den Bundesministerien beruht auf dem Gedanken, daß der Ressortzuschnitt der Ausschüsse besonders geeignet ist, um eine parlamentarische Kontrolle der Ministerien effektiv zu gewährleisten, und zwar nicht nur im Sinne einer nachträglichen, sondern bereits als begleitende und mitsteu195

ernde Kontrolle . Schwerpunkt der Tätigkeit der Fachausschüsse ist dabei die Gesetzgebungsarbeit, denn so gut wie alle Gesetze - die erste Beratung im Plenum dient vor allem der Überweisung an die Ausschüsse, vgl. § 80 Abs. 1 GeschOBT - werden in den Ausschüssen vorbereitet und überarbeitet. Da die weitaus meisten Gesetze seitens der Regierung in den Bundestag eingebracht werden196, dient die Behandlung der Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen

191

Von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 38 Rn 88 und Art. 43 Rn 17; Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, Ergänzungsband § 105 Rn 5; Hölscheidt, DÖV 1993, S. 593 (595). 192

Vgl. insoweit oben 2. Kapitel Β I 3 b) aa). 193

Vgl. etwa Art. 53 Abs. 1, 2 VerfSA; Art. 51 SächsVerf; Art. 24 Abs. 1 NdsVerf. 194

Vgl. Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 39 Rn 10; Stern, Staatsrecht I I § 26 IV 2 m (S. 101 f). 195

Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 39 Rn 11, der hier daraufhinweist, daß dieser Gedanke bereits in § 62 Abs. 1 GeschOBT enthalten ist, wonach sich die Ausschüsse neben den ihnen überwiesenen Vortagen auch „mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich" befassen können. Zum Kontrollbegriff vgl. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 4 ff. 196

(352).

Vgl. Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 681; ders., ZfParl 22 (1991), S. 344

9

2

.

Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen 197

auch der mitgestaltenden parlamentarischen Kontrolle. So weist Zeh zu Recht daraufhin, daß die Gesetzgebungsarbeit der Ausschüsse ein Bestandteil des parlamentarischen Kontrollprozesses ist, denn die kontrollierende Mitsteuerung der Mehrheit im Ausschuß unterstützt die verfassungsrechtlich angelegte Rückbindung der Regierung, während die stärker kontrovers angelegte Kontrolle seitens der Opposition vom Mitsteuerungscharakter der, allerdings im Entscheidungsstadium mehrheitsgeprägten Ausschußarbeit profitiert und somit ebenfalls begleitend erfolgt. Für die Funktionen der Opposition ist es daher von essentieller Bedeutung, daß die parlamentarischen Oppositi198

onsgruppierungen ausreichend in den Ausschüssen vertreten sind und Einfluß auf die Ausschußarbeit nehmen können. Die Ausschüsse werden jeweils zu Beginn einer Wahlperiode eingesetzt, wobei die Gliederung, die Anzahl der Mitglieder und die Bestimmung des 199

Vorsitzenden durch Verständigung im Altestenrat erfolgt . Die Zusammensetzung der Ausschüsse bestimmt sich gemäß § 57 Abs. 1 i.V.m. § 12 GeschOBT im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen , wobei die Fraktionen nach § 57 Abs. 2 GeschOBT „ihre" Mitglieder benennen. Ausschüsse sollen somit stets ein verkleinertes Abbild des Bundestages darstel201

len . Auch die Vorsitzenden der jeweiligen Ausschüsse werden gemäß § 57 Abs. 1 i.V.m. § 12 GeschOBT nach der Stärke der Fraktionen durch Einigung 202

im Altestenrat (vgl. § 58 GeschOBT) bestimmt , so daß auch die Oppositionsfraktionen, je nach erreichter Stärke, Ausschußvorsitzende stellen. Dazu 203

gehört traditionell der Vorsitz im Haushaltsausschuß . Neben der Berücksichtigung bei Zusammensetzung und Vorsitz der Ausschüsse stehen den Oppositionsgruppierungen auch innerhalb des Ausschußverfahrens Rechte zu, soweit sie die jeweils von der Geschäftsordnung vorgesehenen Quoren erreichen. So kann z.B. eine Fraktion oder ein Drittel der 197

Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 39 Rn 12; vgl. auch M elzer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 41 Rn 4. 198

Vgl. dazu schon oben 2. Kapitel Β 12 c). 199

Vgl. dazu auch unten 2. Kapitel Β I 3 d) bb). 200

Vgl. zum Besetzungsverfahren im einzelnen Dach, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 40 Rn 12 ff. 201

BVerfGE 70, S. 324 (363); 80, S. 188 (218, 222); vgl. auch oben 2. Kapitel Β 12 c).

202

Zum Verfahren vgl. Dach, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 40 Rn 7 ff. 203

Dach, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 40 Rn 9.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfiktionen

Ausschußmitglieder die Einberufimg des Ausschusses zum nächstmöglichen Termin innerhalb des festgelegten Zeitplans (§ 60 Abs. 2 GeschOBT), und eine Fraktion oder 5% der Mitglieder des Bundestages auch außerhalb des Zeitplanes (§ 60 Abs. 3 GeschOBT), verlangen. Eine Änderung der Tagesordnung ist gegen den Widerspruch einer Fraktion oder eines Drittels der Ausschußmitglieder nicht möglich (§ 61 Abs. 2 GeschOBT). Weiterhin kann ein Viertel der Ausschußmitglieder unter den in § 70 GeschOBT näher beschriebenen Voraussetzungen die öffentliche Anhörung von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen verlangen. Die Ausschußarbeit unterliegt jedoch, wie im Plenum, grundsätzlich der Beschlußfassung durch die Mehrheit (vgl. § 74 i.V.m. § 48 Abs. 2 GeschOBT), was insbesondere für die Beschlußempfehlung an das Plenum (vgl. § 62 Abs. 1 Satz 2 GeschOBT) gilt. Die Interessen der Minderheit werden allerdings dadurch berücksichtigt, daß in dem die Beschlußempfehlung erläuternden Bericht die Ansicht der Minderheit enthalten sein muß (§ 66 Abs. 2 GeschOBT).

bb) Untersuchungsausschüsse, Art. 44 GG Als ein für die Opposition bedeutsames parlamentarisches Recht wird die Möglichkeit angesehen, gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG die Einsetzung par204

lamentarischer Untersuchungsausschüsse zu bewirken . Untersuchungsausschüsse sind Unterorgane der Parlamente, die mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet sind und den Zweck haben, Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, zu untersuchen. Sie haben dem Plenum, gegebenenfalls durch Wertung des Beweismaterials, Bericht zu erstatten, um so 205

Beschlüsse des Bundestages vorzubereiten . Sachlich wird das Untersuchungsrecht durch den Zuständigkeitsbereich des Parlaments begrenzt (sog. Korollartheorie), wobei insbesondere das Bundesstaatsprinzip, der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Grundrechte zu beachten sind206. Ein Schwerge204

Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (593); Busch, Parlamentarische Kontrolle S. 114; Hempfer, ZfParl 10 (1979), S. 295 (296); Gehrig , Parlament S. 287 ff; vgl. auch BVerfGE 49, S. 70 (85). 205

Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 27; M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 2; Pietzner, EvStL Sp. 3673; Versteyl in von Münch GG Art. 44 Rn 7; ähnlich auch BVerfGE 49, S. 70 (85). 206

M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 15 ff; AK-Schneider Art. 44 Rn 6; Versteyl, in von Münch GG Art. 44 Rn 11; Scholz,, AöR 105 (1980), S. 564 (593); Pietzner EvStL Sp. 3675 f.

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

wicht der Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse liegt in der (öffentlichen) Aufdeckung von Mißständen im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich (sog. „Skandalenqueten"), so daß das Untersuchungsrecht im parlamentarischen Regierungssystem ein Instrument ist, das in besonderem Maße von oppositionellen Gruppierungen genutzt wird, um Fehlverhalten im Regie207 rungsbereich festzustellen . Dem kommt zugute, daß das Untersuchungs208 recht in Deutschland unter dem Einfluß Max Webers seit der Weimarer 209

Reichsverfassung insofern als Minderheitsrecht ausgestaltet ist, als nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht hat, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen (sog. Minderheitsenquete). Eine Opposition, die dieses Quorum erreicht, kann also jederzeit die Einberufung eines Untersuchungsausschusses verlangen. Zur Antragstellung an sich sind gemäß § 76 GeschOBT bereits jede Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages berechtigt, ohne daß hierdurch, soweit das Quorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG nicht erreicht ist, eine Einsetzungspflicht ausgelöst wird. Der in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich normierte Minderheitsschutz beschränkt sich allerdings auf das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, während das Grundgesetz für das Untersuchungsverfahren selbst einen solchen Schutz nicht vorsieht. Da der Zweck von Minderheitsenqueten einen über das bloße Einsetzungsverlangen hinausgehenden Minderheitsschutz jedoch unerläßlich macht, kommt es im Untersuchungsrecht zu vielfachen Konflikten zwischen Minderheitsschutz und Mehrheitsinteressen, aus denen sich zahlreiche verfassungsrechtliche Probleme ergeben. Die im Zusammenhang mit der vorliegenden Darstellung stehenden Konfliktbereiche sollen daher näher untersucht werden.

(1) Erforderlichkeit

eines Einsetzungsbeschlusses

Umstritten ist bereits die Frage, ob bei einer Minderheitsenquete nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ein formeller Beschluß des Bundestages über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erfolgen muß, der ja grundsätz207

Vgl. BVerfGE 49, S. 70 (85); M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 4. 208 209

Vgl. M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918) S. 66 f. Vgl. Art. 34 Abs. 1 WRV.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

5

lieh eine Mehrheitsentscheidung voraussetzt (vgl. Art. 42 Abs. 2 GG), oder ob ein solcher Beschluß entbehrlich ist. So wird teilweise vertreten, daß ein ausdrücklicher Einsetzungsbeschluß des Bundestages bei einer Minderheitsenquete nicht erforderlich sei, da der Bundestag gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ohnehin der Pflicht unterliege, einen von einer qualifizierten Minderheit 210

beantragten Untersuchungsausschuß einzusetzen . Gegen diese Auffassung spricht jedoch bereits der Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Nach dieser Vorschrift hat die qualifizierte Minderheit allein das Recht die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen, während die Pflicht zur Einsetzung den Bundestag insgesamt trifft („Der Bundestag hat... einzusetzen..."). Mangels anders lautender Regelungen bedarf es dafür aber eines ausdrücklichen Parlamentsbeschlusses, den nach Art. 42 Abs. 2 GG die Mehrheit der abgegebenen Stimmen unterstützen muß . Mit der überwiegenden Auffassung ist somit davon auszugehen, daß zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein Bundestagsbeschluß zu erfolgen hat . In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, unter welchen Umständen eine Bundestagmehrheit befugt ist, dem von einer Minderheit eingebrachten Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nicht stattzugeben. Zwar darf die Mehrheit die Einberufung des Ausschusses nicht aus politischen 213

Opportunitätsgründen ablehnen , denn es ist ja gerade Sinn der Minderheitsenquete einen Untersuchungsausschuß auch gegen den Willen der Mehrheit einsetzen zu können. Da der Ausschuß als Unterorgan des Bundestages jedoch in gleichem Umfang wie dieser an die Verfassung gebunden ist und somit den Grenzen des Grundgesetzes unterliegt, darf die Mehrheit dem AnVersteyl,

in von Münch GG Art. 44 Rn 6; von MangoIdt/Klein

Art. 44 Anm. I I I 4 b m.w.N.

211

Vgl. Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 56 f; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 81 f. 212

M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 26; von Mangoldt/Klein/ Achterberg/Schulte Art. 44 Rn 88; Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 56 f; Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3677); Hilf, N V w Z 1987, S. 537 (538). In der Praxis des Bundestages wird allerdings zunehmend auf eine ausdrückliche Abstimmung über die Einsetzung verzichtet. Vielmehr wird so verfahren, daß der Bundestagspräsident feststellt, daß der Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses das Quorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG erreicht hat, der Bundestag somit zur Einsetzung verpflichtet sei. Soweit gegen den Antrag kein Widerspruch erhoben wird, erklärt er den Ausschuß für eingesetzt. Wird dem Antrag widersprochen, erfolgt eine förmliche Abstimmung, für die die allgemeinen Regeln gelten. Vgl. zu diesem Verfahren Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 57 ff. 213

Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 56.

96

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

trag die Zustimmung versagen, wenn sie der Überzeugung ist, daß der Unter214

suchungsauftrag der Verfassung widerspricht . Die Entscheidung über die Verfasungswidrigkeit steht auch grundsätzlich der Mehrheit zu, denn nicht die Antragsminderheit, sondern der Bundestag als ganzes setzt den Untersuchungsausschuß ein und ist dafür verantwortlich, daß die verfassungsrechtli215

chen Grenzen gewahrt bleiben . Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Untersuchungsauftrages wird dabei auch als Korrektiv angesehen, um einem Mißbrauch des Untersuchungsrechts durch radikale Minderheiten entgegenzuwirken 216. Die Pflicht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses trifft den Bundestag daher nur dann, wenn sich der Minderheitsantrag im Rahmen der Verfassung hält und insbesondere die Zuständigkeit des Bundestages be217

218

achtet wurde (vgl. auch § 1 Abs. 2IPA- Regeln ). Aus Gründen des in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG zum Ausdruck kommenden Minderheitsschutzes ist andererseits jedoch zu verlangen, daß die antragstellende Minderheit vor einem Mißbrauch der verfassungsrechtlichen Überprüfung durch die Mehrheit geschützt wird. Die Mehrheit muß daher von der 219

Verfassungswidrigkeit des Untersuchungsauftrages überzeugt sein . Weiterhin darf sie die Ablehnung des Einsetzungsantrages nicht nur pauschal mit dem Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken begründen, sondern muß kenntlich machen, worauf diese Bedenken beruhen, damit die Antragsteller die verfassungsrechtlich problematischen Teile erkennen und gegebenenfalls 220

abändern können . Bestehen verfassungsrechtliche Zweifel an der ZulässigEngels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 59 f; AK-Schneider Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 38.

Art. 44 Rn 5;

215

Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 60. 216

Von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (599).

Art. 44 Rn 89; Pietzner,

EvStL Sp. 3673 (3677);

217

Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 81. 218

Bei den sog. IPA-Regeln (vgl. BT-Drucks. V/4209) handelt es sich um einen Gesetzesentwurf, der auf Vorarbeiten der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft (IPA) zurückgeht, aber nie zum Gesetz geworden ist. Seit der 7. Wahlperiode verpflichten sich jedoch die Untersuchungsausschüsse durch den jeweiligen Einsetzungsbeschluß, diese Regeln zu beachten. Vgl. dazu Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 73; M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 12. 219

Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 60. 220

M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 21; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 82; von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 44 Rn 89; Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 62; Jarass/Pieroth Art. 44 Rn 5; a.A. BayVerfGHE 38, S. 165 (172).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsftionen

keit des Untersuchungsgegenstandes, kann zur Klärung eine gutachterliche Äußerung des Rechtsausschusses eingeholt werden (vgl. § 1 Abs. 3 IPARegeln). In letzter Konsequenz kann die Antragsminderheit im Wege des Organstreitverfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff BverfGG das Bundesverfassungsgericht anrufen, um so die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durchzusetzen. Es genügt dabei, daß sich die Kläger bei der Stellung des Antrags nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG konstituieren, da es sich bei dem Minderheitsantrag um ein im Grundgesetz selbst einge221

räumtes Recht handelt . In der Praxis des Bundestages ist eine Minderheitsenquete aus verfassungsrechtlichen Gründen bisher noch nicht abgelehnt 222 worden . (2) Änderung des Untersuchungsgegenstandes durch die Parlamentsmehrheit In engem Zusammenhang mit der soeben erörterten Problematik steht auch die Frage, inwieweit der von der antragstellenden qualifizierten Minderheit festgelegte Untersuchungsgegenstand von der Parlamentsmehrheit durch Erweiterung oder Verengimg des Untersuchungsthemas abgeändert werden darf Wäre eine derartige Beeinflußung durch die Mehrheit unbegrenzt möglich, so hätte sie es in der Hand, die Untersuchimg in eine andere, den eigenen politischen Interessen eher entsprechende Richtung zu lenken oder auch Verzögerungen herbeizuführen, die den Untersuchungszweck gefährden oder sogar vereiteln könnten. Um dieses zu verhindern, wird nach ganz überwiegender Auffassung eine Veränderung des im Minderheitsantrag enthaltenen Untersuchungsgegenstandes gegen den Willen der Antragsteller grundsätzlich als 223

unzulässig angesehen . Das sich aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ergebende Recht der Minderheit auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses begrenzt daher die Befugnis der Mehrheit, Einfluß auf den Untersuchungsgegenstand zu nehmen.

221

Vgl. BVerfGE 2, S. 143 (162); Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 38; M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 46; von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Alt. 44 Rn 94; vgl. auch unten 2. Kapitel Β I 3 e) aa). 222

Vgl. Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 61. 223

M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 21; Hempfer, ZfParl 10 (1979), S. 295 (296) m.w.N.; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 82; Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3677); Gehrig, Parlament S. 269. 7 Haberland

98

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Allerdings werden von diesem Prinzip in unterschiedlichem Ausmaß Ausnahmen zugelassen. Während in einigen landesrechtlichen Regelungen jegliche Änderung des Untersuchungsgegenstandes gegen den Willen der An224

tragsminderheit als unzulässig angesehen wird , sieht § 2 Abs. 4 IPA-Regeln vor, daß der Untersuchungsgegenstand durch die Mehrheit nur dann verändert werden darf, wenn dessen Kern unberührt bleibt und durch die Änderung keine wesentliche Verzögerung des Untersuchungsverfahrens zu erwarten 225

ist . § 2 Abs. 2 Satz 1 BlnUAG stellt lediglich auf das Verzögerungsrisiko ab, während es nach einer im Schrifttum vertretenen Ansicht nur darauf ankommen soll, daß der Kern des Untersuchungsgegenstandes erhalten bleibt226. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß es grundsätzlich der Minderheit überlassen bleiben, den Gegenstand der von ihr beantragten Untersuchung festzulegen, denn jede Ausdehnung des Gegenstandes bringe die Notwendigkeit zusätzlicher Aufklärung mit sich und vermehre 227

die Arbeit des Untersuchungsausschusses . Damit könne die Untersuchung erheblich verzögert oder gar blockiert werden, insbesondere wenn man sich vergegenwärtige, daß der Ausschuß mit dem Ende der jeweiligen Wahlperiode zu bestehen aufhört. Die Mehrheit dürfe den Untersuchungsausschuß gegen den Willen der Antragsteller somit grundsätzlich nicht mit der Untersu228

chung von Zusatzfragen beauftragen . Andererseits verliert nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts das Ausschußverfahren seinen Sinn, wenn der Ausschuß den zu überprüfenden Sachverhalt von vornherein nur unter einem eingeschränkten Blickwinkel untersucht und so nur eine verzerrte Darstellung 229

vermitteln kann . Das Gericht sieht deshalb Zusatzfragen - selbst wenn sie zu einer Verzögerung der Ausschußarbeit führen - als zulässig an, soweit sie nötig sind, „um ein umfassendes und wirklichkeitsgetreues Bild des angebli-

224

Vgl. z.B. Art. 54 Abs. 1 Satz 3 SächsVerf; Art. 72 Abs. 1 Satz 3 BrdbVerf; § 3 Abs. 2 BadWürttUAG, siehe dazu aber BadWürttStGH, ESVGH 27, S. 1 (4 ff). 225

So auch M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 22; ders., Gutachten 57. DJT E 107 m.w.N.; Versteyl in von Münch Art. 44 Rn 30. 226

Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 36. 227

BVerfGE 49, S. 70 (86)

228

Ebd. S. 86 f. 229

Ebd. S. 87 f.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

chen Mißstandes zu vermitteln"

230

und den Kern des Untersuchungsgegen-

231

standes unverändert lassen . Wenn auch die Intention des Bundesverfassungsgerichts, eine gewisse Objektivierung des Untersuchungsverfahrens zu gewährleisten, grundsätzlich begrüßenswert ist, begegnen die vom Gericht zugelassenen Ausnahmen einigen Bedenken. Zum einen ist es unter Berücksichtigung des Schutzes der Antragsminderheit nicht unproblematisch, Verzögerungen des Verfahrens durch die Einbeziehung von Zusatzfragen in Kauf zu nehmen, denn dadurch 232

kann - wie das Bundesverfassungsgericht selbst ausgeführt hat - die Wirksamkeit des Untersuchungsverfahrens, gerade im Hinblick auf eine damit verbundene parlamentarische Kontrolle, erheblich beeinträchtigt werden. Weiterhin ist die Abhängigkeit der Erweiterung des Untersuchungsgegenstandes von der Frage, ob sie nötig ist, um ein „umfassenderes und wirklichkeitsgetreues Bild des angeblichen Mißstandes zu vermitteln" nicht geeignet, einen Streit über die Änderungsbefugnis zwischen Mehrheit und Minderheit beizu233

legen. Wie Hempfer zu Recht ausführt, wird die Mehrheit regelmäßig der Auffassung sein, daß die Zusatzfragen notwendig sind, um eine objektive Sicht des angeblichen Mißstandes zu vermitteln, während die Minderheit ihr Untersuchungsanliegen gefährdet sieht. Dem wird auch nicht dadurch abgeholfen, daß das Bundesverfassungsgericht Zusatzfragen nur für zulässig hält, 234

wenn ihre Voraussetzungen „offen zu tage liegen" , weil eine Evidenz nur selten gegeben sein wird. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Antragsminderheit und Parlamentsmehrheit sind damit schon im Ansatz dieser Ausnahmeregelungen vorprogrammiert, so daß sowohl aus Gründen des Minderheitsschutzes, als auch aus Gründen der Rechtssicherheit einiges dafür spricht, Änderungen des durch die Minderheit beantragten Untersuchungsge235

genstandes gegen deren Willen generell für unzulässig zu halten.

Ist die

Ebd. S. 88; zustimmend Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 83. 231 232

Ebd. S. 88; zustimmend Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3677); AK-Schneider Art. 44 Rn 5. BVerfGE 49, 70 (86).

233

Hempfer, ZfParl 10 (1979), S. 295 (299).

234

BVerfGE 49, S. 70 (88).

235

So auch von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 44 Rn 91; Hempfer, ZfParl 10 (1979), S. 295 (299, 301); einschränkend M. Schröder, Gutachten 57. DJT E 107, wonach es zum Schutz allgemeiner Interessen des Parlaments und dritter Personen erlaubt sein soll, Einsetzungsanträge der Minderheit zu modifizieren.

100

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Mehrheit der Ansicht, daß dadurch ein verzerrtes Bild entsteht, so bleibt ihr die Möglichkeit, selbst die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, mit einem von ihr formulierten Untersuchungsthema zu beantragen236.

(3) Minderheitsschutz

im Untersuchungsverfahren

Weitere Probleme des Minderheitsschutzes können sich im laufenden Untersuchungsverfahren ergeben. Da die Zusammensetzung des Untersuchungsausschusses gemäß § 12 GeschOBT im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist, entsprechen die Mehrheitsverhältnisse im Untersuchungsausschuß denen des Bundestages. Eine qualifizierte Antragsminderheit ist also auch hier in der Minderzahl. Da auch im Untersuchungsverfahren grundsätzlich das Mehrheitsprinzip gilt (vgl. §§48 Abs. 2, 74 GeschOBT; § 6 Abs. 4 IPA-Regeln), darf sich ein effektiver Minderheitsschutz nicht nur auf die Einsetzungsmöglichkeit eines Untersuchungsausschusses beschränken, 237

sondern muß auch das Untersuchungsverfahren selbst beeinflussen . Ansonsten bestünde die Gefahr, daß die Ausschußmehrheit aufgrund ihrer faktischen Verfahrensherrschaft das Untersuchungsanliegen der Minderheit blockiert und damit den Sinn der Minderheitsenquete konterkariert. Ein besonders sensibler Bereich ist in diesem Zusammenhang das Beweiserhebungsrecht. Der Beweiserhebung kommt im Untersuchungsverfahren eine erhebliche Bedeutung zu, da gerade durch sie die Tatsachenermittlung vorangetrieben wird, und auch die Ausgestaltung des Untersuchungsergebnisses wesentlich von den erhobenen Beweisen abhängt. Stünde das Beweiserhebungsrecht somit allein der Mehrheit zu, hätte sie es in der Hand, solche Beweisanträge abzulehnen, die zu einem für sie ungünstigen Untersuchungsergebnis führen könnten. Um dem entgegen zu wirken, enthalten die IPARegeln auch für das Beweisverfahren minderheitsschützende Bestimmungen, die allerdings, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, aus verfassungs- und parlamentsrechtlichen Gründen ihrerseits wieder begrenzt sind. Nach § 12 Abs. 2 IPA-Regeln sind Beweise zu erheben, wenn sie unter anderem von den Antragstellern oder einem Viertel der Ausschußmitglieder

So zu Recht Versteyl,

in von Münch Art. 44 Rn 6.

237

Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (601); Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 147 f; M. Schröder, Gutachten 57. DJT E 107.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfktionen

11

beantragt werden, „es sei denn, daß sie offensichtlich nicht im Rahmen des Untersuchungsauftrages liegen". Eine Minderheit, die die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erreicht hat, kann somit auch die Erhebung von Beweisen bewirken, denn durch die Formulierung „sind zu erheben" wird deutlich, daß der Untersuchungsausschuß Beweisanträgen einer qualifizierten 238

Minderheit stattgeben muß . Ein solcher Antrag kann demnach nur aus den in § 12 Abs. 2 IPA- Regeln erwähnten Gründen oder aufgrund verfassungsrechtlicher Unzulässigkeit zurückgewiesen werden. Probleme können sich allerdings dann ergeben, wenn die Zulässigkeit der Beweiserhebung kontrovers beinteilt wird. In einem solchen Streitfall obliegt die Beurteilung der Zulässigkeit - ähnlich wie im Einsetzungsverfahren - einer Mehrheitsentscheidung (vgl. §§ 6 Abs. 4, 12 Abs. 1 IPA-Regeln), so daß die Entscheidung letztlich bei der Ausschußmehrheit liegt. Wie die bei Engels aufgeführten 239

Beispiele zeigen , kann der Mehrheit dadurch ein erheblicher Beurteilungsspielraum zustehen. Erschwerend kommt für diese Fälle hinzu, daß die Minderheit keine Rechtsschutzmöglichkeiten besitzt, um von der Mehrheit abgelehnte Beweisanträge durchzusetzen. Einzig in Betracht käme ein Organstreitverfahren. Zwar erkennt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich die Parteifahigkeit einer „Fraktion im Untersuchungsausschuß" für das Organ240

streitverfahren an . Dieses Verfahren setzt gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG jedoch für die Antragsbefugnis voraus, daß die Rechte des Antragstellers im Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung verankert sind. Da die IPA-Regeln kein geltendes Recht und insbesondere auch nicht zur Geschäftsordnung zu 241

zählen sind, wäre eine Organklage bereits unzulässig . Aufgrund dieser erheblichen Einflußmöglichkeiten der Ausschußmehrheit auf das Beweisverfahren wird teilweise gefordert, daß der Einsetzungsminderheit im Untersuchungsausschuß die Mehrheit eingeräumt wird, damit bei der Verwirklichung des Untersuchungsauftrages keine Behinderungen durch 242

Mehrheitsbeschlüsse eintreten . Eine Ausgestaltung des Untersuchungsausschußrechts als ein völlig unbeschränktes Recht der Einsetzungsminderheit Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschusse S. 148 f. 239

Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 150 f. 240

BVerfGE 67, S. 100 (124).

241

Vgl. M. Schröder, ZfParl 17 (1986), S. 367 (380 ff, insbes. 385); ders., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 46; ders., Gutachten 57. DJT E 116; Hilf, NVwZ 1987, S. 537 (543 f); Engels, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse S. 152. 242

Versteyl,

in von Müch Art. 44 Rn 41.

1 0 2 . Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

stößt jedoch auf verfassungsrechtliche Bedenken. Auch wenn sich aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ein verfassungsrechtlich garantiertes Minderheitsrecht ergibt, bleibt der Untersuchungsausschuß ein Teil des Parlaments und ist an dessen rechtliche Maximen gebunden. Zu den wesentlichen Funktionsprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems gehört jedoch das Mehr243

heitsprinzip , das gemäß Art. 42 Abs. 2 GG im parlamentarischen Verfahren grundsätzlich Geltung beansprucht. Auch wenn Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG eine begrenzte Ausnahme des Mehrheitsprinzips statuiert, kann daraus nicht gefolgert werden, daß das gesamte Untersuchungsverfahren von der Einsetzungsminderheit bestimmt werden muß. Diese Vorschrift rechtfertigt allenfalls 244

„relative Einschränkungen" des Mehrheitsprinzips insofern, als dieses hinter den Erfordernissen des Minderheitsschutzes zurücktreten muß, soweit die Gefahr einer Vereitelung oder erheblichen Behinderung der Untersuchimg 245

durch Mehrheitsbeschlüsse gegeben ist . Vor diesem Hintergrund bestehen grundsätzlich keine Bedenken dagegen, daß Beweisanträge, die außerhalb des Untersuchungsthemas liegen oder aus anderen Gründen verfassungsrechtlich unzulässig sind, durch Mehrheitsbeschluß abgelehnt werden. Zur Gewährleistung eines effektiven Minderheitsschutzes ist es aber notwendig, die Ablehnung von Beweisanträgen zu begrenzen. Einen Ansatzpunkt dafür enthält bereits Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG selbst. Nach dieser Verfassungsnorm ist jeder Untersuchungsausschuß entsprechend seinem Untersuchungsauftrag berechtigt und verpflichtet, die „erforderlichen Beweise" zu erheben. Daraus folgt, daß die Ausschußmehrheit nicht befugt ist, die Erhebung von Beweisen, die zur Klärung des Untersuchungsgegenstandes notwendig sind, durch Mehrheitsbeschluß zu verhindern. Die Wirksamkeit des Untersuchungsverfahrens verlangt vielmehr, daß es der Minderheit möglich bleibt, entsprechende Beweiserhebungen zu verlangen. Die Berechtigung der Mehrheit, Beweiserhebungsanträge abzulehnen kann sich folglich nur auf solche Fälle beziehen, in denen es evident ist, daß die beantragten Beweise außerhalb des Untersuchungsgegenstandes liegen oder z.B. wegen Kompetenzüberschreitung verfassungswidrig sind . Einige Auto243

Vgl. dazu oben 1. Kapitel A I. 244

So Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (603). 245

Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (602 f); Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 85; M. Schröder, Gutachten 57. DJT Ε 113. 246

Scholz, AöR 105 (1980), S. 564 (603); Ehmke, Referat 45. DJT E 46; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 85 f.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

1

ren sind deshalb der Ansicht, daß aus der Funktion des Untersuchungsverfahrens in Verbindung mit dem in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG normierten Minderheitsrecht grundsätzlich eine Vermutung zugunsten der Erforderlichkeit von 247

beantragten Beweiserhebungen spricht . Andere erwägen aus rechtspolitischen Gründen die Ablehnung von Beweisanträgen an den Widerspruch einer 248

qualifizierten (z.B. Zweidrittel-) Mehrheit zu knüpfen . In jedem Falle sollte gegen die Ablehnung von Beweisanträgen gerichtlicher Rechtsschutz möglich sein. (4) Feststellung des Untersuchungsergebnisses Beeinträchtigungen des Minderheitsschutzes durch die Geltung des Mehrheitsprinzips sind auch bei der Feststellung des Untersuchungsergebnisses denkbar. Würde nämlich der Inhalt des dem Plenum und der Öffentlichkeit vorgestellten Untersuchungsberichts allein durch die Ausschußmehrheit bestimmt werden, wäre diese in der Lage, durch Auslassungen und geschickte Formulierungen eine ihren Interessen entsprechende Darstellung zu erstellen. Das würde aber dem intendierten Zweck der Minderheitsenquete und der Effizienz parlamentarischer Untersuchungen zuwider laufen, weshalb es auch in diesem Fall verfassungsrechtlich zwingend ist, das Mehrheitsprinzip einzu249

schränken . In der Praxis des Bundestages werden daher - soweit keine Einigkeit über das Untersuchungsergebnis zu erzielen ist - entsprechend § 23 Satz 2 IPA-Regeln von der Mehrheit und der Minderheit getrennte Berichte verfaßt 250.

Vgl. Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 85 f, von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 44 Rn 167 m.w.N. 248

M. Schröder, Gutachten 57. DJT E 114; vgl. auch Art. 25 Abs. 3 Entwurf der EnqueteKommission Parlamentsreform Hamburg, in dem von Hoffmann-Riem herausgegebenen Bericht dieser Enquete-Kommission S. 144. 249

Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 86; Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3680). 250

Busch, Parlamentarische Kontrolle S. 124 f; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 86, der jedoch die Aufnahme der Minderheitsansicht in einen gemeinsamen Schlußbericht entsprechend § 66 Abs. 2 Satz 1 GeschOBT fur zweckmäßiger hält.

10

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

(5) Beendigung des Untersuchungsverfahrens Letztlich ist der Minderheitsschutz auch bei der Beendigung des Untersuchungsverfahrens bedeutsam. Neben der Beendigung des Untersuchungsver251

fahrens durch dessen Abschluß oder das Ende der Wahlperiode kann der Bundestag das vorzeitige Ende eines Untersuchungsausschusses auch durch einen Auflösungsbeschluß herbeifuhren. Dieses Recht des Bundestages ergibt sich e contrario aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Wenn der Bundestag berechtigt ist, durch Beschluß einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, so ist ihm im Rückschluß darauf auch die Befugnis zuzubilligen, diesen Ausschuß durch 252

Mehrheitsbeschluß aufzulösen . Allerdings müssen, um der angemessenen Berücksichtigung der Minderheitsinteressen willen, auch diesem Recht Grenzen gezogen werden. Ansonsten hätte es die Mehrheit in der Hand, einen ihr nicht genehmen Untersuchungsausschuß jederzeit aufzulösen. Deshalb ist für die vorzeitige Beendigung des Untersuchungsverfahrens entsprechend § 22 Abs. 3 IPA-Regeln ein Beschluß erforderlich, gegen den weniger als ein Viertel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Bundestages gestimmt ha253

ben . So kann gegen den Willen der Einsetzungsminderheit ein Untersuchungsausschuß nicht aufgelöst werden. (6) Hervorhebung der Opposition im Untersuchungsverfahren

?

Speziell im Hinblick auf die Opposition stellt sich die Frage, ob es verfassungsrechtlich oder verfassungspolitisch geboten ist, ihre Position im Untersuchungsausschuß besonders zu betonen. Vielfach wird in Bezug auf den 254

„neuen Dualismus" erwogen, die Opposition zum ausschließlichen Träger des Untersuchungsverfahrens zu machen oder ihr zumindest im Ausschuß eine

Vgl. Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 42; AK-Schneider Art. 44 Rn 6; Jarass/Pieroth Art. 44 Rn 3; Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3680); M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 43; zweifelnd Versteyl, in von Münch GG Art. 44 Rn 15. 252

Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 87; M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 42. 253

So die ganz h.M., vgl. Maunz, in Maunz/Dürig Art. 44 Rn 41; M. Schröder, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 46 Rn 42; Versteyl, in von Münch GG Rn 14; Schleich, Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages S. 87; Ehmke, Referat 45. DJT E 45. 254

Vgl. dazu unten 3. Kapitel vor A.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

15

255

Mehrheit einzuräumen . Abgesehen von der Frage, ob die Kontrollaufgabe im parlamentarischen Regierungssystem wirklich auf die Opposition übergegangen ist 256 , würde eine solche Ausgestaltung der Stellung des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG als „Minderheitsrecht" nicht gerecht werden. Einerseits könnten sich Probleme dann ergeben, wenn mehr als eine Oppositionsfraktion im Parlament vertreten ist. Sollte dann den (unter Umständen sehr heterogenen) Oppositionsfraktionen gemeinsam, jeder einzelnen oder nur der den Einsetzungsantrag stellenden Oppositionsfraktion die herausragende Rolle im Untersuchungsausschuß zugebilligt werden? Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß es auch innerhalb der Mehrheitsfraktion(en) ausreichend starke Minderheiten geben kann, die - entgegen der Mehrheit - in gewissen Fragen ein Aufklärungsbedürfnis haben. Die Opposition deckt daher nicht notwendig das Gesamtspektrum bestehender Minderheitsinteressen ab, so daß es nicht immer nur die Opposition sein muß, die ein Interesse an bestimmten Untersuchungen 257

hat . Es ist somit zwar wichtig und aus verfassungsrechtlicher Sicht notwendig, daß auch einer hinreichend starken Opposition die erforderlichen Rechte im Untersuchungsverfahren zustehen, um effektiv daraus Nutzen ziehen zu können. An der Ausgestaltung des Untersuchungsverfahrens als einem Recht, das jeder Minderheit zusteht, die das entsprechende Quorum erreicht, sollte aber aus den genannten Gründen festgehalten werden. cc) Enquete-Kommissionen, § 56 GeschOBT Ähnliche Problembereiche wie bei den Untersuchungsausschüssen, ergeben sich bezüglich des Minderheitenschutzes bei den - im Rahmen der sog. „kleinen Parlamentsreform" 1969 eingeführten - Enquete-Kommissionen. Von den Untersuchungsausschüssen, die nur aus Parlamentariern bestehen und deren inhaltlicher Schwerpunkt in der Aufdeckung und Aufklärung von Mißständen liegt

258

259

, unterscheiden sich die verfassungsrechtlich nicht geregelten

255

So Versteyl in von Münch Art. 44 Rn 40 f; H.-P. Schneider, Der Spiegel Nr. 43/1985, S. 43, 48. Vgl. auch M. Schröder, Gutachten 57. DJT E 97, der hier zurecht von einer bedenklichen Verengung des Minderheitenschutzes auf den Schutz der Opposition spricht. Kritisch auch Ehmke, Referat 45. DJT E 45. 256

Vgl. dazu unten das 3. Kapitel und 4. Kapitel c II. 257

Vgl. auch M. Schröder, Gutachten 57. DJT E 98, 100; ähnlich B. Hirsch, Sondervotum zum Bericht der Enquetekommission „Verfassungsreform", Zur Sache 3/76, S. 151 (153). 258

Vgl. Schäfer, Enquete-Kommissionen S. 1 und oben 2. Kapitel Β I 3 c) bb).

10

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Enquete-Kommissionen sowohl in ihrer Aufgabe, die nach § 56 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT darin besteht, Entscheidungen des Bundestages „über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" vorzubereiten, als auch in ihrer Zusammensetzung, da in den Enquete- Kommissionen auch Nichtparlamentarier (z.B. Wissenschaftler, Sachverständige, Praktiker) vertreten sein können. Enquete- Kommissionen sind dabei Instrumente, die der (Selbst-) Information des Parlaments dienen und dessen Rolle im politischen Prozeß stärken sol, 260 len . Ähnlich wie bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen ist ein Antrag auf Einsetzung einer Enquete- Kommission vom Bundestag gemäß §§ 75, 76 Abs. 1 i.V.m. § 74 GeschOBT dann zu behandeln, wenn er von einer Fraktion oder von 5 % der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet ist. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist der Bundestag nach § 56 Abs. 2 GeschOBT zur Einsetzung verpflichtet, so daß eine entsprechend große Minderheit die Einsetzung erzwingen kann. Da der Antrag gemäß § 56 Abs. 3 GeschOBT den Auftrag der Kommission genau bezeichnen muß, stellt sich hier wiederum die Frage, ob die Parlamentsmehrheit die in einem Minderheitsantrag erfolgte Aufgabenbestimmung abändern darf. Wie bei den Untersuchungsausschüssen261 ist jedoch auch bei den Enquete-Kommissionen aus Gründen des Schutzes der antragstellenden Minderheit eine Auftragsänderung als unzulässig anzusehen262. Bei der Zusammensetzung der Enquete-Kommissionen ist zwischen den nicht dem Bundestag angehörenden Mitgliedern und den Parlamentsmitgliedern zu unterscheiden. Die Nichtparlamentarier (und auch deren Zahl) werden nach § 56 Abs. 2 Satz 1 GeschOBT im Einvernehmen der Fraktionen bestimmt. Soweit eine Einigung nicht erzielt werden kann, werden die Mitglieder von den Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke benannt (§56 Abs. 2 Satz 2 GeschOBT). Anders als in den Ausschüssen, in denen nach § 12 GeschOBT die Mehrheitsverhältnisse denen im Bundestagsplenum entsprechen müssen, brauchen die Enquete-Kommissionen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament

Zu Fragen der rechtlichen Einordnung von Enquete-Kommissionen vgl. Kretschmer, ZfParl 17 (1986), S. 334 (344); ders., DVB1. 1986, S. 923 (924); Hoffinann-Riem/Ramcke, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 4. 260

Rehfeld, Enquete-Kommissionen S. 198; Troßmann, Parlamentsrecht § 74a Rn 3. 261

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 c) bb) (2).

262

Hoffinann-Riem/Ramcke, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 11 f, die eine Auftragsergänzung unter bestimmten Umständen jedoch als zulässig ansehen.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

107

nicht widerzuspiegeln263. Das gilt grundsätzlich auch bezüglich der parlamentsangehörigen Kommissionsmitglieder. § 56 Abs. 3 GeschOBT sieht als Regel vor, daß jede Fraktion nur ein Mitglied in die Enquete-Kommission entsendet. In der Praxis hat der Bundestag allerdings von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, diese Anzahl durch Beschluß zu erhöhen und der Fraktionsstärke entsprechend zu benennen. Dadurch soll vor allem verhindert werden, daß die Bundestagsabgeordneten von den nichtparlamentarischen Mitgliedern innerhalb der Kommission überstimmt werden264. Trotzdem können sich die Mehrheitsverhältnisse in der Enquete-Kommission von denen des Bundestages unterscheiden. Für das Verfahren und die Beschlußfassung innerhalb der Kommission gelten gemäß § 74 GeschOBT grundsätzlich die allgemeinen Regeln der Bundestagsgeschäftsordnung entsprechend, also auch das Mehrheitsprinzip. Zwar entfallen aufgrund der andersartigen Aufgabe der Enquete-Kommissionen die im Untersuchungsausschußrecht sehr umstrittenen Fragen des Beweiserhe265

bungsrechts einer Minderheit . Doch auch in Enquete-Kommissionen können verfahrensrechtliche Probleme entstehen, z.B. wenn eine Minderheit einen Sachverständigen anhören möchte, und dieses Anliegen von der Kommissionsmehrheit abgelehnt wird 266 . Auch werden im Hinblick auf die spezifischen Aufgaben der Enquete-Kommissionen übliche Verfahrensregeln parlamentarischer Entscheidungsfindung, wie etwa die Instrumentarien der Mehrheitsbildung und Abstimmung, als nur begrenzt geeignet angesehen. Die En267

quete-Kommissionen sollen nach ihrer Konzeption unter Einbeziehimg von Wissenschaft und Praxis komplexe Sachverhalte für das Parlament aufbereiten, um dieses in die Lage zu versetzen, im Bereich der Gesetzgebung, der politischen Planung und der Kontrolle wissenschaftlich fundierte und an gesellschaftlichen Erfordernissen ausgerichtete Perspektiven zu erarbeiten. Dazu werden regelmäßig sowohl Analysen bestehender Verhältnisse, als auch zukünftige Prognosen erforderlich sein. Hierbei ist es jedoch problematisch, die Richigkeit derartiger Ergebnisse durch Mehrheitsbeschluß festlegen zu wollen. Zwar besteht, ähnlich wie bei den Berichten der Untersuchungsaus263

Kretschmer, DVB1. 1986, S. 923 (926); Schäfer, Enquete-Kommissionen S. 13. 264

Zeh, HdbStR I I § 43 Rn 86; Schäfer, Parlamentsrecht § 74a Rn 9. 265

Enquete-Kommissionen S. 13; vgl. auch Troßmann,

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 c) bb) (3).

266

Vgl. dazu Hoffinann-Riem/Ramcke, 267

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 48.

Vgl. Pietzner, EvStL Sp. 3673 (3682); Zeh, HdbStR I I § 43 Rn 87.

10

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

schüsse, auch in den Enquete-Kommissionen die Möglichkeit, Minderheitspositionen zu dokumentieren und in dem nach § 56 Abs. 4 GeschOBT erforderlichen Abschlußbericht geltend zu machen268. Ob dies jedoch eine hinreichende Möglichkeit ist, die Aufgabenerfüllung der Enquete-Komissionen im Hinblick auf Minderheitspositionen zu gewährleisten, wird zu Recht bezweifelt, da der Mehrheitsposition auch innerhalb der Enquete-Kommissionen eine erhebliche 269

Bedeutung zukommt . Nur wenn es der Minderheit möglich ist, die aus ihrer Sicht erforderlichen Feststellungen zu treffen und diese auch darzustellen, wird der Aufgabe der Enquete-Kommissionen genüge getan, den Bundestag über das gesamte Spektrum bestehender Möglichkeiten und Alternativen, die sich aus dem Kommissionsauftrag ergeben, zu informieren. Im Hinblick auf oppositionelle Ansichten kann die Bedeutung der EnqueteKommissionen auch darin bestehen, diese zu nutzen, um bisher nicht behandelte komplexere, zukunftsträchtige Sachbereiche zu thematisieren, zu problematisieren und Lösungsmodelle vorzustellen. Enquete-Kommissionen sind 270

allerdings nicht in dem Maße von politischer Polarisierung geprägt , wie es etwa in weiten Teilen der Untersuchungsausschüsse der Fall ist. Dies ist unter anderem damit zu erklären, daß am Ende der Beratungen der EnqueteKommissionen lediglich ein Bericht mit Empfehlungen an den Bundestag und nicht etwa ein Antrag steht, über den das Plenum zu entscheiden hätte. Differenzierungen sind daher in höherem Maße möglich und von der ratio der Enquete-Kommissionen her auch gewollt.

d) Einfluß- und Mitwirkungsmöglichkeiten

im parlamentarischen

Verfahren

Die Opposition hat, soweit sie die erforderlichen Quoren erreicht, auch Einfluß- und Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen des „alltäglichen" parlamentarischen Verfahrens. Die wichtigsten dieser Rechte sollen im folgenden dargestellt werden.

Hoffmann-Riem/Ramcke, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 31 ; Troßmann, Parlamentsrecht § 74a Rn 14.2.; Kretschmer, DVB1. 1986, S. 923 (929). 269

Hoffmann-Riem/Ramcke, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 63 f, 67 f; vgl. auch Rehfeld, Enquete-Kommissionen S. 194 f. 270

Es können aber, wie Hoffmann-Riem/Ramcke, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 47 Rn 69, 71 darstellen, durchaus unterschiedliche Interessen der Mehrheit bzw. der Minderheit zur Einsetzung von Enquete-Kommissionen fuhren.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

10

aa) Einberufimg des Bundestages auf Verlangen eines Drittels seiner Mitglieder, Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG Nach Art. 39 Abs. 3 Satz 1 GG bestimmt der Bundestag den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen selbst, und zwar mit einfacher Mehrheit (vgl. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG). In dieser Vorschrift wird dem Selbstversammlungsrecht des Parlaments Verfassungsrang eingeräumt. In der Praxis des Bundestages sind jedoch zumindest Beschlüsse über den Zeitpunkt der näch271

sten Plenarsitzung nicht mehr üblich . Vielmehr werden Zeitpunkt und Tagesordnung der Sitzungen vorbehaltlich anderer Beschlußfassungen des Plenums grundsätzlich im Ältestenrat vereinbart (vgl. § 20 Abs. 1 GeschOBT). Darüber hinaus ist der Bundestagspräsident nach Art. 39 Abs. 3 Satz 2 GG berechtigt, Sitzungen des Bundestages auch früher einzuberufen. Hierzu ist er gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG verpflichtet, wenn mindestens ein Drittel der Mitglieder des Bundestages dies verlangt. Eine Opposition, die dieses Quorum erreicht, kann also den Zusammentritt des Bundestages erzwingen oder auch mit der Drohung, dieses Mittel einzusetzen, auf eine Einigung im Ältestenrat hinwirken. Soweit der Zusammentritt des Bundestages nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG verlangt wird, ist der Bundestagspräsident verpflichtet, das Parlament unmittelbar einzuberufen. Die antragstellende Minderheit hat jedoch keine Möglichkeit, den Termin der Sitzung selbst zu bestimmen. Das liegt allein im pflichtgemäßen Ermessen des Bundestagspräsidenten. Auch kann die Minderheit mit ihrem Einberufungsverlangen nicht auf eine bestimmte Tagesordnung oder die Behandlung bestimmter Themen hinwirken, denn dies würde dem Dispositionsrecht der Mehrheit zuwiderlaufen (vgl. § 20 272 Abs. 1 GeschOBT) . Eine Ausnahme stellt lediglich § 20 Abs. 4 GeschOBT 273

dar, wonach Vorlagen von Abgeordneten in Fraktionsstärke auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu setzen sind, wenn seit der Verteilung der Drucksache über die Vorlage mindestens sechs Sitzungswochen vergangen sind. Auch kann jeder Abgeordnete eine Änderung der Tagesordnung verlangen (§ 20 Abs. 2 Satz 3 GeschOBT), worüber der Bundestag jedoch wieder mit Mehrheit beschließen muß. Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG stellt sich demnach lediglich als ein Mittel dar, die Einberufung des Bundestages überhaupt zu 271

Troßmann, Parlamentsrecht § 24 Rn 3; AK-Schneider Ait. 39 Rn 21. 272

AK-Schneider Art. 39 Rn 22; Versteyl 273

in von Münch GG Art. 39 Rn 38.

Vgl. Troßmann, Parlamentsrecht § 24 Rn 18.

10

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

erreichen, ohne daß für die antragstellende Minderheit unmittelbar die Mög274 lichkeit besteht, die Beratungsgegenstände zu bestimmen .

bb) Die Mitwirkung im Ältestenrat Eine erhebliche Bedeutung für die Arbeit des Bundestages kommt dem Ältestenrat zu. Als interner Lenkungsausschuß dient er der Unterstützung des Bundestagspräsidenten und des Präsidiums und ist für die Vorbereitung aller Geschäfte des Bundestages zuständig. Dazu gehört vor allem die Herbeiführung einer Verständigung zwischen den Fraktionen über die Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 2 GeschOBT), die Aufstellung der Arbeitspläne des Parlaments und die Vereinbarung der Tagesordnungen für die einzelnen Sitzungstage, inklusive der einzelnen Tagesord275

nungspunkte und der Reihenfolge ihrer Behandlung . Bei der Vorbereitung der Arbeit des Bundestages ist der Ältestenrat jedoch kein Beschlußorgan (§ 6 Abs. 2 Satz 3 GeschOBT), d.h. er muß einmütige Empfehlungen an das Plenum geben. Entscheidungen des Ältestenrates in diesem Rahmen unterliegen daher nicht dem Mehrheitsprinzip 276. Da der Ältestenrat nach § 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 12 GeschOBT entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen besetzt ist, müssen sich Regierungs- und Oppositionsfraktionen hier grundsätzlich einigen. Dieser Einigungszwang bedeutet für die Opposition, daß auch die von ihr gewollten Aspekte (z.B. in Fragen der Tagesordnung) bei der Arbeit des Ältestenrates Berücksichtigung finden. Es fällt demnach nicht besonders ins Gewicht, daß mit der Einberufung des Bundestages auf Verlangen einer qualifizierten Minderheit nach Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG eine Be277

einflussung der zu behandelnden Gegenstände nicht korrespondiert. Allerdings sind alle Vereinbarungen im Ältestenrat nur Vorschläge an den Bundestag, der diese durch Mehrheitsbeschluß abändern kann. Die Vorschläge des Ältestenrates haben in der Praxis jedoch eine hohe Bindungswirkung, da eine Einigung regelmäßig bereits im Vorfeld erfolgt ist, so daß Abänderungen 27 4

Troßmann, JÖR28 (1979), S. 1 (165).

27 5

Troßmann, JöR 28 (1979), S. 1 (160 ff); Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 36.

276

Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 36; Schulze-Fielitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 11 Rn 52 f; von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 40 Rn 12. 277

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 d) aa).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

11

278

durch das Plenum eher selten vorkommen . § 6 Abs. 2 GeschOBT stellt daher sicher, daß die Geschäfte des Bundestages im Ältestenrat nur im Einvernehmen aller Fraktionen gefuhrt werden können, unabhängig davon, ob sie die Regierung unterstützen oder im Widerspruch zu ihr stehen. Jede Fraktion oder eine entsprechende Abgeordnetenzahl kann darüber hinaus nach § 6 Abs. 1 Satz 3 GeschOBT die Einberufung des Ältestenrates verlangen.

cc) Das Rederecht Das Rederecht im Bundestag gehört, obwohl es von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht ausdrücklich erwähnt wird, zum verfassungsrechtlichen Status des 279

Abgeordneten . Der Grundsatz der Gleichheit der Abgeordneten bei der Ausübung ihres Mandats verlangt dabei, daß allen Parlamentsmitgliedern unter gleichen Bedingungen die Chance zukommt, von diesem Recht Ge280

brauch zu machen . Allerdings beinhaltet die Geschäftsordnungs- und Selbstverfassungsautonomie des Bundestages (vgl. Art. 40 Abs. 1 GG) die Ermächtigung, die Redebefugnis seiner Mitglieder im einzelnen auszugestalten und auch einzuschränken. Derartige Maßnahmen finden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ihre Grenze „an der grundsätzlichen 281

Aufgabe des Parlaments, Forum für Rede und Gegenrede zu sein" . Als zulässige Formen autonomer Beschränkungen des Rederechts werden daher Maßnahmen angesehen, die der Funktionsfähigkeit des Parlaments dienen, die insbesondere den ordnungsgemäßen Ablauf der Debatten gewährleisten und die alle Abgeordneten in gleicher Weise treffen. In diesen Kontext gehört auch die Aufteilung der Gesamtredezeit auf die Fraktionen nach dem Verhältnis ihrer Stärke (vgl. §§35 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2, 44 Abs. 2 GeschOBT, Nr. 6 der Richtlinien für Aussprachen und Themen von allgemeinem Interes278

Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 36; Troßmann, JöR 28 (1979), S. 1 (160 ff); Schuhe-Fielitz, mentsrecht und Parlamentspraxis § 11 Rn 52 f.

Parla-

279

BVerfGE 10, S. 4 (12); 60, S. 374 (379); Besch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 33 Rn 5; Stern, Staatsrecht I § 24 I I 2 a (S. 1058); von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 38 Rn 38 m.w.N.; Hölscheidt, DÖV 1993, S. 593 (595). 280

Besch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 33 Rn 7; vgl. auch BVerfGE 10, S. 4 (12); 60, S. 374 (379). 281

BVerfGE 10, S. 4 (13); vgl. auch Achterberg, Parlamentsrecht S. 579.

1

2

.

Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

282

se) . Oppositionsfraktionen steht daher in den Bundestagsdebatten grundsätzlich der Anteil der Gesamtredezeit zu, der ihrem Verhältnis zur Gesamtzahl der Abgeordneten im Bundestag entspricht, so daß die Opposition auch im Plenum ihre politischen Auffassungen entsprechend ihrem quantitativen 283

Gewicht darstellen kann . Dieses Recht wird durch § 28 Abs. 1 GeschOBT verstärkt, wonach sich der Bundestagspräsident bei der Bestimmung der Reihenfolge der Redner von der Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, dem Grundsatz von Rede und Gegenrede und von der Stärke der Fraktionen leiten lassen soll. Insbesondere hat er nach dieser Vorschrift darauf zu achten, daß nach der Rede eines Mitgliedes oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob, soweit Mitglieder der Bundesregierung, des Bundesrates oder deren Beauftragte von ihrem nach Art. 43 Abs. 2 GG gewährten jederzeitigen Rederecht Gebrauch machen, dies den Fraktionen anzurechnen ist, und insbesondere der Opposition ein Zeitausgleich bei Reden von Regierungsvertretern zuzugestehen ist. Teilweise wird ein solcher Zeitausgleich unter Hinweis darauf, daß sich die Gewaltenteilung in der parlamentarischen Demokratie dergestalt verschoben habe, daß sich Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen und Opposition auf der 284 anderen Seite gegenüberstehen, für erforderlich gehalten . Das Bundesver285

fassungsgericht ist in seinem „Redezeitenurteil" jedoch zu Recht davon ausgegangen, daß die Bundesregierung mehr als ein Exponent der Parlamentsmehrheit ist, und die Reden ihrer Mitglieder nicht nur wie eine erweiterte Betrachtung des Mehrheitsstandpunktes angesehen werden dürfen. In den Beiträgen der Regierungsmitglieder kommt vielmehr in erster Linie die Auffassung der Regierung zum Ausdruck, die sich nicht mit der Ansicht der Parlamentsmehrheit zu decken braucht. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG normiert daher ein eigenständiges Recht der Regierung, für das die Opposition nicht stets einen Ausgleich verlangen kann286.

Vgl. dazu Vonderbeck,

Regelung der Debattendauer S. 49 f.

283

Vgl. dazu BVerfGE 44, S. 308 (321). 284

Vgl. Lipphardt,

Die kontigentierte Debatte S. 90 ff und die Nachweise unten 3. Kapitel

vor A. 285

BVerfGE 10, S. 4 ff.

286

BVerfGE 10 S. 4 (19); Vonderbeck, Regelung der Debattendauer S. 52 f; kritisch dazu insbesondere Lipphardt, Die kontigentierte Debatte S. 90 ff.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

11

Allerdings enthält die Geschäftsordnung des Bundestages Zeitausgleichsregelungen, die die häufig bestehende Interessenparallelität zwischen Regierungs- und Mehrheitsstandpunkt berücksichtigen und den „abweichenden Meinungen" einen Zeitausgleich bei Reden von Regierungsmitgliedern zugestehen. Nach § 35 Abs. 2 GeschOBT kann, wenn ein Mitglied der Bundesregierung, des Bundesrats oder einer ihrer Beauftragten länger als 20 Minuten spricht, die Fraktion, die eine abweichende Meinung vortragen lassen will, für einen ihrer Redner eine entsprechende Redezeit verlangen. Soweit während einer Aussprache ein Mitglied der Bundesregierung, des Bundesrates oder einer ihrer Beauftragten das Wort erhält, haben die Fraktionen, deren Redezeit zu diesem Tagesordnungspunkt bereits ausgeschöpft ist, nach § 44 Abs. 2 GeschOBT das Recht, noch einmal ein Viertel ihrer Redezeit in Anspruch zu nehmen. Wird von dem Recht aus Art. 43 Abs. 2 GG außerhalb der Debatte Gebrauch gemacht, so ist diese gemäß § 44 Abs. 3 GeschOBT auf Antrag einer Fraktion oder 5 % der Mitglieder des Bundestages wieder zu eröffnen. Weiterhin werden in der Praxis des Bundestages aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung und Absprachen mit Regierung und Bundesrat, Beiträge von Regierungsvertretern weitgehend in den Zeitanteil der Mehrheitsfraktionen und Beiträge aus dem Bundesrat in den Zeitanteil der Regierungs- oder Oppositionsfraktionen einbezogen, je nachdem, wem die Regierung des be287

treffenden Landes politisch zuzuordnen ist .

dd) Antrags- und Initiativrechte Den Mitgliedern des Bundestages stehen zahlreiche Antrags- und Initiativrechte zu, die vor allem in §§ 75, 76 GeschOBT geregelt sind, zur Annahme jedoch stets eines Mehrheitsbeschlusses bedürfen. Da diese Rechte nach § 76 Abs. 1 GeschOBT von einer Fraktion oder einer Abgeordnetenzahl in entsprechender Stärke geltend gemacht werden können, stehen sie auch den Oppositionsfraktionen zu. An erster Stelle ist dabei die schon in Art. 76 Abs. 1 GG genannte und durch §§ 75, 76 GeschOBT näher ausgestaltete Möglichkeit zu nennen, Gesetzesvorlagen „aus der Mitte des Bundestages" ins Parlament einzubringen.

287

Dazu ausfuhrlich Vonderbeck, Regelung der Debattendauer S. 53 ff; Zeh, HdbStR I I § 43 Rn 31 ; Besch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 33 Rn 29. 8 Haberland

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

1

Gesetzesentwürfe aus dem Bundestag treten umfangmäßig jedoch deutlich 288

hinter den Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zurück . Von den Gesetzesinitiativen des Bundestages entfällt wiederum der größte Anteil auf Vorla289

gen, die von oppositionellen Gruppierungen eingebracht werden . Diese Gesetzesvorlagen haben naturgemäß eine relativ geringe Chance durch die Mehrheit angenommen zu werden, und sei es im Einzelfall auch nur deshalb, weil sich die Bundesregierung oder die Mehrheitsfraktionen den Gegenstand der Initiative selbst zu eigen machen und einen leicht veränderten Entwurf 290

einbringen . So wird oppositionellen Gesetzesvorlagen in erster Linie der Zweck zugeschrieben, den eigenen Willen zu verdeutlichen und vor allem für die Öffentlichkeit zu akzentuieren291. Oppositionelle Gruppierungen können jedoch nicht nur eigene Gesetzesentwürfe einbringen, sondern es können auch von einem Abgeordneten bzw. einer Fraktion oder einer Abgeordnetenzahl in Fraktionsstärke Änderungsanträge zu eingebrachten Gesetzesentwürfen gestellt werden (vgl. §§82 Abs. 1, 85 Abs. 1 GeschOBT), die zu ihrer Annahme allerdings eines Mehrheitsbeschlusses bedürfen. Außerdem kann nach §§79 Satz 1, 81 Abs. 1 Satz 1, 84 lit. b) GeschOBT von einer Fraktion oder von 5% der Bundestagsmitglieder in jeder Beratung von Gesetzesvorlagen eine allgemeine Aussprache verlangt werden. Hat der Bundesrat gegen ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz gemäß Art. 77 Abs. 4 Satz 2 GG Einspruch mit der Mehrheit von mindestens zwei Dritteln seiner Stimmen eingelegt, so bedarf die Zurückweisung dieses Einspruchs durch den Bundestag seinerseits einer Mehrheit von zwei Dritteln, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (Art. 77 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz GG). Verfugt die Opposition also über eine Stärke von mehr als einem Drittel der Bundestagsmitglieder, so kann sie das Zustandekommen dieses Gesetzes in jedem Fall verhindern. Da die Zweidrittelmehrheit des Art. 77 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz GG eine (qualifizierte) Anwesen288

Vgl. die statistischen Angaben bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 681; ders., ZfParl 22 (1991), S. 344 (352). 289

Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982, S. 763 und Datenhandbuch Bundestag 1980- 1987 S. 677. 290

Vgl. Sebaldt, ZfParl 23 (1992), S. 238 (260); ders., Thematisierungsfunktion S. 156 ff. 291

H.-P. Schneider, Opposition S. 241; Bryde, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 30 Rn 27. Zu Umfang und Erfolg oppositioneller Gesetzesinitiativen ausfuhrlich Sebaldt, Thematisierungsfunktion S. 156 ff; ders., ZfParl 23 (1992), S. 238 (241 ff).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfiinktionen

115

heitsmehrheit ist, kann es unter Umständen auch ausreichen, wenn die Opposition über weniger als ein Drittel der Mandate verfügt. Auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens kann die Opposition selbständige und unselbständige (z.B. Entschließungs- oder Änderungs-) Anträge 292

293

einbringen , und sie macht davon auch regen Gebrauch . Jedoch sind auch bei diesen, insbesondere bei den Sachanträgen, die Aussichten, die erforderliche Mehrheit zu finden, relativ gering. Gleichwohl sind die Anträge für die Oppositionsfraktionen ein wichtiges Mittel öffentlichkeitswirksamer Einflußnahme auf den politischen Prozeß. Parlamentarische Anträge dienen häufig dem Ziel, der Regierungsseite mit eigenen Zielvorstellungen und Konzepten entgegenzutreten, um diese so zu Stellungnahmen zu bestimmten Themen und gegebenenfalls zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten zu veranlassen. Selbständige und unselbständige Anträge haben für die Opposition danach vor allem den Zweck, „im Zusammenhang Defizite der Problembewältigung aufzuzeigen, die Öffentlichkeit mit eigenen, alternativen Ziel- und Handlungskonzepten vertraut zu machen und die Bundesregierung zum Handeln aufzufordern"

294

.

e) Verfahrensmöglichkeiten

vor dem Bundesverfassungsgericht

Wird die Opposition an der Wahrnehmung der genannten Rechte gehindert oder eingeschränkt, so fragt sich, inwieweit ihr die Möglichkeit offen steht, Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht zu suchen.

aa) Organstreitverfahren, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff BVerfGG Bei einem Organstreitverfahren entscheidet das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG über die Auslegung des Grundgesetzes, wenn

Zu den Antragsarten und ihren Unterschieden vgl. im einzelnen Kabel, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 31; Ismayr, ZfParl 22 (1991), S. 197 ff. 293

Vgl. Ismayr, ZfParl 22 (1991), S. 197 (199).

294

Ismayr, ZfParl 22 (1991), S. 197 (207); vgl. auch Steffani, spraxis § 49 Rn 105 f.

Parlamentsrecht und Parlament-

1

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

es zu Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder die Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind, kommt. Die quantitative Bedeutung der Organstreitverfahren ist 295

dabei im Verhältnis zu den anderen Verfahrensarten eher gering . Jedoch werden in dieser Verfahrensart viele „wichtige Grundfragen der politischen Ordnung"

296

gerade auch im staatsorganisationsrechtlichen Bereich entschie-

297

den , so daß die Organstreitverfahren vielfach als die „eigentlichen Verfas298

sungsstreitigkeiten" angesehen werden. Um so wichtiger ist es für die Opposition, von einer derartigen Verfahrensmöglichkeit Gebrauch machen zu können. Da die Opposition als solche jedoch weder Organ, noch ein „anderer Beteiligter" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ist, und auch ansonsten kein rechtsfähiges Gebilde darstellt, steht ihr die Parteifahigkeit im Organ299

streitverfahren ebensowenig zu, wie reinen Abstimmungsminderheiten . Anders ist es jedoch, wenn eine qualifizierte Minderheit in einem konkreten Fall in ihren, sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebenden Rechten verletzt wird. So kann etwa ein Viertel der Abgeordneten das sich aus Art. 44 Abs. 1 GG ergebende Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses geltend machen oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages die Einberufung des Bundestages gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG gerichtlich durchsetzen. Auch einzelne Abgeordnete und Fraktionen können das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn ihre Statusrechte verletzt sind. §§ 63, 64 BVerfGG sehen ferner vor, daß Organteile Rechte des Gesamtorgans, dem sie angehören, geltend machen können. Hier ergibt sich eine Prozeßstandschaft, die vor allem im Bundestag - auch aus der Überlegung heraus, daß das Parlament entscheidend von den Mehrheitsfraktionen bestimmt wird und diese aus Gründen der Interessenparallelität Übergriffe der Regierung auf Rechte des Bundestages unbeanstandet lassen könnten - als Instrument des Minderheitsschutzes angesehen wird 300 . Als Organteile im Sinne der §§ 63, 64 Vgl. die statistischen Angaben bei Umbach, in Umbach/Clemens BVerfGG Vor §§ 63 ff Rn 1, Fn 1. 296

So H. Simon, HVerfR S. 1253 (1263).

297

Vgl. die Ubersicht bei Umbach, in Umbach/Clemens BVerfGG Vor §§ 63 ff Rn 3 ff. 298

Umbach, in Umbach/Clemens BVerfGG Vor §§ 63 ff Rn 37. 299 300

BVerfGE 2, S. 143(160).

Clemens, in Umbach/Clemens BVerfGG §§ 63, 64 Rn 5; vgl. auch BVerfGE 45, S. 1 (29 f); 60, S. 319 (325); 68, S. 1 (77); Entscheidung des BVerfG v. 12.07.1994 - 2 Β V E 3/92, 5/93, 7/93,

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

11

BVerfGG werden jedoch weder die einzelnen Organmitglieder (beim Bundestag also die einzelnen Abgeordneten) noch sich ad hoc ergebende Abstimmungsgruppierungen oder qualifizierte Minderheiten im oben genannten Sinn angesehen. Rechte des Bundestages können vielmehr nur von den durch die Geschäftsordnung ständig eingerichteten Gliederungen geltend gemacht werden, die die parlamentarische Arbeit ermöglichen oder erleichtern 301. Abgeordnete und die mit eigenen Rechten ausgestatteten qualifizierten Minderheiten können vor dem Bundesverfassungsgericht daher nur die Verletzung eigener Rechte geltend machen. Bei der Prozeßstandschaft der Organteile fur das Gesamtorgan Bundestag kommt den Fraktionen die entscheidende Bedeutung zu. Ihnen wird allgemein sowohl die Parteifähigkeit, als auch die Befugnis zugestanden, als „Organteil" 302

die Rechte des Organs Bundestag geltend zu machen . Eine Oppositionsfraktion kann demnach vor dem Bundesverfassungsgericht die Rechte des Bundestages, die durch Maßnahmen anderer Organe gefährdet oder verletzt werden, selbst dann geltend machen, wenn die Parlamentsmehrheit die beeinträchtigende Maßnahme ausdrücklich gebilligt hat. Wegen der engen sachlichen und personellen Verzahnung von Regierung und Regierungsmehrheit liegt es daher oft bei den Oppositionsfraktionen, die Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung zu verteidigen und durchzusetzen. So richtet sich ein Großteil der von den Oppositionsfraktionen angestrengten Organstreitverfahren gegen die Regierung mit dem Inhalt, daß diese die 303

(Mitwirkungs-) Rechte des Parlaments nicht beachtet habe . Uber die Parteifähigkeit der Fraktionen stellt das Organstreitverfahren somit ein wichtiges 304

Kontrollinstrument der Opposition dar , durch das nicht nur parlamentari8/93 - (Auslandseinsätze der Bundeswehr) S. 79, insoweit in NJW 1994, S. 2207 nicht abgedruckt. 301

BVerfGE 2, S. 143 (160); Entscheidung des BVerfG v. 12.07.1994 (vgl. Fn 300) S. 79; vgl. auch Clemens, in Umbach/Clemens BVerfGG §§ 63, 64 Rn 6 ff; Löwer, HdbStR I I § 56 Rn 19; Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 109. 302 BVerfGE 2, S. 143 (160); 45, S. 1 (28 f); 67, S. 100 (125); 68, S. 1 (65 f); 70, S. 324 (351); Entscheidung des BVerfG v. 12.07.1994 (vgl. Fn 300) S. 79: Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 7 Rn 13 f; Clemens, in Umbach/Clemens BVerfGG §§ 63, 64 Rn 7. Nach der letztgenannten Entscheidung des BVerfG wird eine Prozeßstandschaft der Organe fur das Gesamtorgan Bundestag wohl nur den Fraktionen zuerkannt.

303

Vgl. BVerfGE 1, S. 351 ff; 2, S. 347 ff; 45, S. 1 ff; 67, S. 100 ff; 68, S. 1 ff; Entscheidung des BVerfG v. 12.07.1994 (vgl. Fn 300) S. 79 f. 304

Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht S. 57; Clemens, in Umbach/Clemens BVerfGG §§ 63, 64 Rn 81; Löwer, HdbStR I I § 56 Rn 19.

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2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

sehe Rechte von Minderheiten, sondern auch die Rechte des Bundestages insgesamt verteidigt werden können305.

bb) Abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff BVerfGG Im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht. Antragsberechtigt sind neben der Bundesregierung und jeder Landesregierung auch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages. Soweit Oppositionsgruppierungen diese Stärke erreichen, ist ihnen damit ein Mittel in die Hand gegeben, gegen ein von einer (auch verfassungsändernden Zweidrittel-) Mehrheit beschlossenes Gesetz einen Antrag gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht zu stellen und so die Normsetzung der Parlamentsmajorität einer justizförmigen Kontrolle zu unterwerfen 306. Die Möglichkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts kann sich auch bereits im parlamentarischen Verfahren auswirken, denn allein die Drohimg, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizufuhren, kann häufig schon die Kompromißbereitschaft der Mehrheitsfraktionen fördern. Die Opposition hat aber in einigen politisch und verfassungsrechtlich wichtigen und umstrittenen Fragen, in denen keine Einigkeit erzielt werden konnte von ihrer Möglichkeit Gebrauch 307

gemacht, einen Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zu stellen . Die abstrakte Normenkontrolle ist damit zwar auch zu den minderheits308

schützenden Vorschriften zu zählen . Für die Opposition ist sie aber nur von Relevanz, soweit diese ein Drittel der Mitglieder des Bundestages umfaßt 305

Gehrig, Parlament S. 300. 306

Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 111 ff spricht hier von einer „oppositionellen Sperrminorität" (fur die er noch weitere Beispiele anfuhrt), da die Opposition, wenn sie mindestens ein Drittel der Abgeordneten umfaßt, verfassungsändernde Beschlüsse verhindern bzw. in Fällen, wo sie meint, die Verfassung sei verletzt, das Bundesverfassungsgericht anrufen kann; ähnlich auch H.-P. Schneider, Opposition S. 239. Zu Recht kritisch zum Begriff der Sperrminorität in diesem Zusammenhang Achterberg, DVB1. 1980, S. 512 (520). 307

Vgl. die Übersicht bei Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 8 Rn 1, Fn 2. 308

Vgl. Struth, in Umbach/Clemens BVerfGG Vor §§ 76 ff Rn 11 m.w.N.; Löwer, HdbStR Π § 56 Rn 54.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

11

oder zumindest eine Landesregierung „auf ihrer Seite" steht. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Kreis der Antragsberechtigten auch dann nicht durch Auslegung erweiterbar, wenn die Opposition im Bundestag (etwa im Falle einer Großen Koalition) das Drittelquorum nicht er309

reicht . Daraus folgt, daß das Institut der abstrakten Normenkontrolle seitens der parlamentarischen Minderheit nicht gegen eine Parlamentsmehrheit von mehr als zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages eingesetzt werden kann, denn anders als im Organstreitverfahren ist einzelnen Fraktionen der Zugang zu dieser Verfahrensart nicht eröffnet 310.

J) Ergebnis Die vorangehenden Ausführungen zeigen, daß Oppositionsgruppierungen im Bundestag unter Zuhilfenahme der im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelten Parlamentsrechte, je nach erreichtem Quorum, zum Teil nicht unerheblichen Einfluß auf das parlamentarische Geschehen ausüben und bei Meinungsverschiedenheiten mit Regierung oder Regierungsmehrheit in dem aufgezeigten Rahmen auch das Bundesverfassungsgericht anrufen können. Zwar sind zur Wahrnehmung und Stärkung der Oppositionsfunktionen im parlamentarischen System in einzelnen, oben genannten Bereichen Verbesserungen denkbar und wünschenswert. Auch ist zu beachten, daß ein Großteil der genannten Rechte nur in der Geschäftsordnung des Bundestages niedergelegt ist, die jederzeit mit einfacher Mehrheit geändert werden kann. So wird im Schrifttum teilweise konstatiert, daß die Rechte 311

zum Schutz der Minderheit eher schwach und ausbaubedürftig sind . Bei den Forderungen nach dem Ausbau parlamentarischer Rechte zugunsten von Parlamentsminderheiten, insbesondere im Hinblick auf die Opposition, ist jedoch stets zu beachten, daß das demokratische System des Grundgesetzes maßgeblich auf dem Mehrheitsprinzip beruht. Dessen Bestand im oben beschriebenen

309

Vgl. BVerfGE 21, S. 52 ff; 68, 346 (349).

310

BVerfGE 21, S. 52 ff; 68, 346 (349); Struth, in Umbach/Clemens § 76 Rn 4 m.w.N. 311

Vgl. etwa H.-P. Schneider, Staatsrecht § 10 V I I I 3 (S. 96).

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 42; E. Stein,

10

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen 312

Rahmen stellt stets eine notwendige Grenze jedweder Stärkung von Rech313 ten der Minderheit dar .

II. Die Funktionswahrnehmung begrenzende Vorschriften Die durch das Grundgesetz konstituierte Staatsordnung begünstigt - wie aufgezeigt - die Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen, insbesondere durch die Möglichkeit, Opposition grundsätzlich frei bilden und auszuüben zu können, in umfassender Weise. Es fragt sich jedoch, ob das Grundgesetz auch Vorschriften enthält, die diese Befugnisse beschränken können. Aufgrund der Erfahrungen beim Untergang der Weimarer Republik war es das Anliegen des Parlamentarischen Rates, bei der Schaffung des Grundgesetzes Vorsorge zu treffen, um den Bestand der Verfassung zu sichern, und es ihren Gegnern zumindest zu erschweren, unter Gebrauch konstitutionell gewährter Rechte, 314

die Verfassung selbst oder ihre wesentlichen Grundlagen zu beseitigen . Dieses Bestreben findet seinen Ausdruck unter anderem in der an mehreren 315

Stellen des Grundgesetzes positivierten „freiheitlichen demokratischen Grundordnung". Diese Ordnung könnte sich aus Gründen des Schutzes der Verfassimg auch als Grenze für die Wahrnehmung von Oppositionsfunktionen erweisen. 1. Die freiheitliche demokratische Grundordnung als allgemeine Grenze

Das Bundesverfassungsgericht versteht unter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Ordnung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewaltund Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmimg des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und der Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den

312

Vgl. 1. Kapitel Α. I.

313

Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 5 (S. 1044).

314

Ausführlich zur historischen Entwicklung J. Becker, HdbStR V I I § 167 Rn 4 ff; vgl. auch Krebs, in von Münch/Kunig Art. 18 Rn 2. 315

Vgl. Art. 10 Abs. 2, 11 Abs. 2, 18, 21 Abs. 2, 73 Nr. 10b, 87a Abs. 4, 91 Abs. 1 GG.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

11

im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildimg und Ausübung einer Opposition"316. Dieser „Definitionsversuch" 317 des Bundesverfassungsgerichtes hat im 318

Schrifttum weitgehende Zustimmung erfahren . Wenn auch vereinzelt darauf hingewiesen wird, daß es bei den genannten Prinzipien „Toleranzbereiche" gebe, deren Einzelheiten durchaus diskutierbar seien und man aus der Umschreibung des Bundesverfassungsgerichtes daher „keine Bibelstelle" 319

machen dürfe , sind in dieser Definition doch die für das vom Grundgesetz statuierte Staatswesen konstitutiven Elemente klar zusammengefaßt. Zur Bedeutung dieser Ordnung führt das Bundesverfassungsgericht aus, daß hierin der Versuch des Grundgesetzes zum Ausdruck komme, eine „Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung" zu schaffen, indem das Grundgesetz aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen gewisse, demokratisch gebilligte, als absolute Werte anerkannte Grundprinzipien der Staatsgestaltung herausnimmt und gegen alle 320

Angriffe verteidigt . „Verfassungsfeinde" sollten nicht „unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder 321

zerstören dürfen" . In dem normativen Bekenntnis des Grundgesetzes zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung kommt daher nicht nur die Ab316

BVerfGE 2, S. 1 (12 f); 5, 85 (140).

317

So Schmitt Glaeser, DOV 1965, S. 433 (438); ähnlich Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 52 („Interpretationsversuch"; „Umschreibungsversuch"). 318

Vgl. etwa Hesse, Grundzüge Rn 28; Schmitt Glaeser, DOV 1965, S. 433 (438); Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 52; Krebs, in von Münch/Kunig GG Art. 18 Rn 18: von MangoIdt/Klein Art. 18 Anm. III 4 b (S. 533 f); von Münch, in von Münch GG Art. 21 Rn 72; HamannAenz Art. 18 Anm. Β 3; Schmidt-Bleibtreu/Klein Einl. Rn 48 f; Stern, Staatsrecht I § 16 I I 4 (S. 568) mit ausführlichen Nachweisen. 319

Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 56, 52; vgl. auch J. Becker, HdbStR V I I § 167 Rn 47; Gusy, AöR 105 (1980), S. 279 (301 ff). 320

BVerfGE 5, S. 85 (139).

321

BVerfGE 30, S. 1 (19 f).

1

2

.

Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen 322

kehr von jedwedem Totalitarismus zum Ausdruck , sondern es beinhaltet gleichzeitig eine positive Statuierung der Fundamentalwerte, auf denen die 323 grundgesetzliche Verfassungsordnung beruht und die als unabänderlich an324

gesehen werden . Der materiale Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung umschreibt somit die Strukturprinzipien, die auch jede verfassungsgemäße Opposition zumindest zu respektieren hat. Kann der materiale Inhalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung somit als generelle Grenze jedweder politischen, also auch oppositionellen Tätigkeit angesehen werden, so fragt sich, welche Begrenzungsmöglichkeiten sich konkret fur die Opposition auf der Parlamentsebene ergeben. Da die freiheitliche demokratische Grundordnung kein verfassungsrechtlicher Wert ist, der jenseits der Normen des Grundgesetzes eine allgemeine Bedeutung 325

oder rechtliche Relevanz beanspruchen kann , ist es notwendig, an einzelne Grundgesetzartikel anzuknüpfen, um die verfassungsrechtlichen Begrenzungsmöglichkeiten einer Opposition zu umreißen. 2. Parteienverbot und Mandatsverlust

Die direkte Möglichkeit, eine im Parlament als Fraktion oder Gruppe organisierte, sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wendende Opposition, etwa durch Auflösung der Fraktion oder Entzug der Mandate zu

Diesen Aspekt hat Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 48 prägnant zusammengefaßt, indem sich für ihn der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung daraus ergibt, „was wir von „früher" und „drüben" als politische Ordnung unbedingt nicht wollen." 323

Stern, Staatsrecht I § 16 I 2 a (S. 558). Darin liegt auch eine Abkehr von der „relativen Demokratie" im Sinne Kelsens (vgl. Vom Wesen und Wert der Demokratie S. 98 fï) und Radbruchs (vgl. Rechtsphilosophie, 8. Aufl. S. 82: „Der Relativismus ist die gedankliche Voraussetzung der Demokratie: sie lehnt es ab, sich mit einer bestimmten politischen Auffassung zu identifizieren, ist vielmehr bereit, jeder politischen Auffassung, die sich die Mehrheit verschaffen konnte, die Führung im Staate zu überlassen, weil sie ein eindeutiges Kriterium für die Richtigkeit politischer Anschauungen nicht kennt, die Möglichkeit eines Standpunktes über den Parteien nicht anerkennt.") 324

So wird in weiten Teilen des Schrifttums davon ausgegangen, daß die Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von der „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt sind, vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 46 ff; Hesse, Grundzüge Rn 706; Stern, Staatsrecht I § 16 I I 2 (S. 564 ff); Maunz, in Maunz/Dürig Art. 21 Rn 114 ff. 325

Gusy, AöR 105 (1980), S. 279 (310); vgl. auch Krebs, in von Münch/Kunig Art. 18 Rn 3 hinsichtlich des Begriffs „streitbare Demokratie".

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfnktionen

1

unterbinden, bestellt nach geltendem Verfassungs- und Parlamentsrecht nicht. Insbesondere sieht Art. 38 GG, der die rechtliche Grundlage fur die Bildung oppositioneller Fraktionen und Gruppen darstellt 326, eine solche Sanktion nicht vor. Da die Abgeordneten regelmäßig politischen Parteien angehören, kann eine derartige Rechtsfolge allenfalls auf indirektem Wege über ein Parteienverbot gemäß Art. 21 Abs. 2 GG erreicht werden, als dessen Konsequenz in §§ 46 Abs. 1 Nr. 5,47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 BWahlG der Mandatsverlust aller der verbotenen Partei angehörenden Abgeordneten vorgesehen ist. Nach diesen Vorschriften könnte eine Opposition, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wendet also dadurch unterbunden werden, daß die entsprechende Partei aufgrund der genannten Vorschriften verboten wird und die parteiangehörigen Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Es fragt sich jedoch, ob eine solche Koppelung des Verlustes des Abgeordnetenmandats an 327

das Parteienverbot verfassungsgemäß ist . Eine derartige Regelung könnte bereits unmittelbar auf Art. 21 Abs. 2 GG zurückzuführen sein. Wenn die Abgeordneten verfassungswidriger Parteien, trotz deren Verbots ihr Mandat behalten, haben sie die Möglichkeit, die Parteiziele an exponierter Stelle weiter zu verfolgen und können so die Intention des Parteienverbotes in hohem Maße umgehen. Art. 21 Abs. 2 GG würde dann in seiner Bedeutung für den Schutz des Grundgesetzes erheblich eingeschränkt. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht im sog. „SRP328

Urteil" ausgeführt, daß sich die Wirkung des Parteienverbotes nicht in der Auflösung des organisatorischen Apparates erschöpfen kann. „Vielmehr ist es der Sinn des verfassungsgerichtlichen Spruches, diese Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden. Dieses Ziel würde nicht erreicht werden, wenn es den wesentlichsten Exponenten der Partei, den Abgeordneten, weiterhin möglich bliebe, die Ideen ihrer Partei an der Stätte, wo die echten politischen Entscheidungen fallen, zu vertreten und bei Abstimmungen zur Geltung zu bringen. Der recht verstandene Sinn des Art. 21 GG führt also notwendig zu dem Schluß, daß die Mandate der Abgeordneten einer 329

verfassungswidrigen Partei mit Verkündung des Urteils... erlöschen" . 326

Vgl oben 2. Kapitel Β 12 a). 327

Zweifelnd: Hesse, Grundzüge Rn 601; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht § 4 Rn 20; AKPreuß Art. 21 Rn 58; AK-Ridder Art. 21 Abs. 2 Rn 22; Maunz, in Maunz/Dürig Art. 38 Rn 28; Höver, Parteiverbot S. 107. 328

BVerfGE 2, S. 1 ff. 329

BVerfGE 2, S. 1 (73 f), bestätigt in E 5, S. 85 (392).

1

2

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Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Die Ableitung des Mandatsverlustes bei Parteienverbot unmittelbar aus Art. 21 GG stößt jedoch auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine derartige Auslegung des Art. 21 GG der Regelung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gerecht wird. Wie bereits dargestellt, entfaltet Art. 21 GG fur den Status des Abgeordneten grundsätzlich keine rechtlichen Wirkungen 330. Zwar verdanken die Abgeordneten, zumal wenn sie über die Landeslisten gewählt werden, ihren Mandatsstatus wesentlich ihrer Parteizugehörigkeit. Durch die Wahl in den Bundestag erlangt der Abgeordnete jedoch als „Vertreter des ganzen Volkes" und nicht lediglich als Repräsentant „seiner" Partei eine eigene, von der Partei losgelöste Rechtsstellung, die allein auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beruht. Die Wirkung des Art. 21 GG beschränkt sich demgegenüber auf den vor- und außerparlamentarischen Bereich, so daß die Parteiangehörigkeit des Abgeordneten für seinen parlamentarischen Status grundsätzlich keine rechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen kann. So ist inzwischen nahezu unbestritten, daß ein Partei- oder Fraktionsaustritt oder -ausschluß des Abgeordneten nicht zu dessen Mandatsverlust führt, und auch Partei- oder Fraktionsbeschlüsse für ihn rechtlich nicht bindend sind331. Art. 21 GG läßt eine Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten der Parteigebundenheit und gegen die selbständige Legitimation des Abge332

ordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG somit nicht erkennen . So war es bis zur „SRP-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichtes auch ganz h.M., daß 333

ein Parteienverbot keinen Mandatsverlust nach sich zieht . Inzwischen ist der Mandatsverlust aufgrund Parteienverbotes jedoch in §§ 46 Abs. 1 Nr. 5, 47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 BWahlG einfachgesetzlich 330

Vgl. oben 2. Kapitel Β 12 a). 331

Vgl. Stern, Staatsrecht I § 24 IV 3 a,b (S. 1074 f); Seifert, Bundeswahlrecht Art. 38 Rn 42; Hesse, Grundzüge Rn 601; Maunz, in Maunz/Dürig Art. 38 Rn 12, 14; von Mangoldt/ Klein/Achterberg/Schulte Art. 38 Rn 51 ff sowie die ausführlichen Nachweise bei Achterberg, Parlamentsrecht S. 255, Fn 128. Teilweise wird jedoch eine Verknüpfung des Mandatsverlustes durch unterrangige Regelungen an Parteiaustritt und -ausschluß für zulässig erachtet, vgl. Säcker, DVB1. 1970, S. 567 (571); ders. t DVB1. 1971, S. 642; Kriele, ZRP 1971, S. 99. Weiterhin wurde erwogen, zwischen „Listenkandidaten" und „Wahlkreiskandidaten" zu differenzieren und für die erste, nicht aber für die zweite Gruppe die Statuierung eines Mandatsverlustes als zulässig anzusehen, so ursprünglich Kriele, ZRP 1969, S. 241 f, der diese Auffassung später jedoch ausdrücklich aufgab, vgl. W D S t L 29 (1971), S. 46 (71), Fn 75. 332

Vgl. BK-Henke Art. 21 Rn 108; Seifert, DOV 1956, S. 1 (7); Maunz, in Maunz/Dürig Art. 38 Rn 27 f; Achterberg, Parlamentsrecht S. 257; H. H. Klein, HdbStR I I § 41 Rn 19. 333 Vgl. Leibholz, DVB1. 1951, S. 1 (6); Geiger, BVerfGG § 46 Anm. 7; von Weber, JZ 1953, S. 293 (296 f); vgl. auch die ausführlichen Nachweise bei von Mangoldt/Klein Art. 38 Anm. I V 4 d (S. 891 ff).

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

1

geregelt. Es stellt sich aber auch bei diesen Normen die Frage, ob sie mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sind, ob also der Gesetzgeber befugt war, 334

ein etwaiges „Spannungs Verhältnis zwischen Art. 21 und Art. 38" in der vorliegenden Form zu lösen und den Mandatsverlust an die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei durch das Bundesverfassungsgericht nach Art. 21 Abs. 2 GG anzuknüpfen. Die weitaus überwiegende Auffassung bejaht die Verfassungsmäßigkeit der §§ 46 Abs. 1 Nr. 5; 47 Abs. 1 Nr. 2, III BWahlG335. Soweit dafür eine Begründung genannt wird, beruht diese im wesentlichen auf einer differenzierenden Betrachtung der Unabhängigkeit des Abgeordneten aus Art. 38 GG. So führen Henke336 und Badura337 aus, daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG lediglich den Schutz des Abgeordneten vor rechtlich verbindlichen Einflüssen seiner Partei erfasse. Nur in diesem Zusammenhang sei die Abhängigkeit des Mandats von der Parteizugehörigkeit unzulässig. Soweit eine Anknüpfung des Mandatsbestandes an die Parteimitgliedschaft jedoch nicht aus Gründen, die in Beziehung von Abgeordneten und Partei zueinander liegen, sondern wegen des Ausschlusses der Partei als verfassungswidrige Organisation aus der Willensbildung des Volkes erfolge, dürfe das Mandat des Abgeordneten nicht unberührt bleiben. Dieses sei „durch die Präsentation von Seiten einer verfas338

sungswidrigen Partei mit dem Makel der Verfassungswidrigkeit behaftet" . Zwar begründe nicht die Präsentation durch die Partei, sondern erst die Wahl durch das Volk das Mandat des Parlamentsmitgliedes. Aber auch der Wille des Volkes sei verfassungsrechtlich begrenzt und könne den „Rechtsmangel der Präsentation" nicht heilen, denn „das Verlangen, durch den Abgeordneten einer verfassungswidrigen Partei vertreten zu sein, wäre selbst verfassungs339

widrig" . So kommt Henke zu dem Schluß, daß „die Parteibindung des Abgeordneten..., wo es um den Schutz der Verfassungsgrundsätze geht, gewich340

tiger (ist), als seine Selbständigkeit" 334

. In eine ähnliche Richtung zielen Auf-

BK-Badura Art. 38 Rn 82.

335

Vgl. von Münch, in von Münch GG Art. 38 Rn 64; BK-Henke Art. 21 Rn 108; H.H. Klein, HdbStR I I § 41 Rn 19; BK-Badura Art. 38 Rn 82; Achterberg, Parlamentsrecht S. 257 f; Schuppert, in Umbach/Clemens BVeiGG § 46 Rn 38; AK-Preuß Art. 21 Rn 58. 336

BH-Henke Art. 21 Rn 108.

337

BK-Badura Art. 38 Rn 82. 338

BK-Henke Art. 21 Rn 108.

339

BK-Henke Ait. 21 Rn 108 mit Verweis auf BVerfGE 2, S. 1 (74). 340

BK-Henke Art. 21 Rn 108.

1

2

.

Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

fassungen, die den Zusammenhang von Parteienverbot und Mandatsentzug mit „den selbstverständlichen Pflichten des Abgeordneten... sein Amt im 341

Einklang mit der Verfassung zu fuhren" begründen . Diese Argumentationen vermögen jedoch nicht zu überzeugen. Eine differenzierende Betrachtung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG im Sinne der genannten Ansicht setzt voraus, daß eine Parteibindung des Abgeordneten in Bezug auf einen Mandatsverlust überhaupt Bedeutung haben kann, also Art. 21 GG in dieser Hinsicht auf den Bestand des Mandats einwirkt. Das ist nach dem geltenden Verfassungsrecht jedoch nicht der Fall, denn die Anwendungsbereiche von Art. 21 und Art. 38 GG überschneiden sich nicht, sie sind vielmehr klar abgrenzbar und ergänzen sich. Die Parteizugehörigkeit des Bundestagskandidaten kann rechtlich gesehen nur im vorparlamentarischen Raum eine Rolle spielen, etwa wenn die Berücksichtigung auf den Landeslisten von der Parteimitgliedschaft abhängig gemacht wird. Mit der Wahl in den Bundestag beruht die Legitimation des Abgeordneten jedoch allein auf Art. 38 Abs. 1 GG, so daß die Parteimitgliedschaft und somit der gesamte Anwendungsbereich des Art. 21 GG für den Bestand seines Mandates in jeder Beziehung 342

rechtlich irrelevant ist . Eine Differenzierung dahingehend, ob die Unabhängigkeit des Abgeordneten durch „seine" Partei oder aus Gründen des Verfassungsschutzes beeinträchtigt wird, um nur im ersten Fall Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zur Anwendimg zu bringen, ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen und wirkt eher ergebnisorientiert. Auch Henkes Argumentation von einem Rechtsmangel des Mandats, der auf der Präsentation durch eine verfassungswidrige Partei beruht, vermag nicht zu überzeugen. Der Mandatsverlust aufgrund Parteienverbots kann praktisch nur Bedeutung erlangen, wenn eine Partei nach der Parlamentswahl für verfassungswidrig erklärt wird. Bis zu einer Verbotserklärung kann sich die Partei jedoch auf das Parteienprivileg berufen, d.h. vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darf niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei 343

rechtlich geltend machen . Das gilt auch für den Zeitpunkt, in dem eine noch nicht verbotene Partei ihre Bundestagskandidaten präsentiert, so daß von 341

H.H. Klein, HdbStR I I § 41 Rn 19; Achterberg, Parlamentsrecht S. 258; vgl. auch NdsStGH, DÖV 1985, S. 676 (678). 342

Vgl. Hesse, Grundzüge Rn 601; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 4 Rn 20; Höver, Parteiverbot S. 99. 343 BVerfGE 12, S. 296, (304 f); 13, S. 46 (52); 13, 123 (126); 40, S. 287 (291); Maunz, in Maunz/Dürig Art. 21 Rn 21.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

127

einem nicht heilbaren Rechtsmangel des Mandats aufgrund der Präsentation durch eine verfassungswidrige Partei keine Rede sein kann. Des weiteren ist es fur den Bestand des Mandats rechtlich irrelevant, ob der „Präsentation durch die Partei" ein materieller Mangel (etwa hinsichtlich der der „demokratischen Qualität") zugrunde lag, solange die formellen Wahlrechtsvorschriften beachtet wurden. Die Auffassung, daß die Parteibindung des Abgeordneten im Rahmen des Verfassungsschutzes gewichtiger sei, als seine sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergebende Selbständigkeit, entbehrt damit jeder verfassungsrechtlichen Grundlage. Zusammenfassend ist festzustellen, daß der rechtliche Status des Abgeordneten allein durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt wird, die Unabhängigkeit von seiner Partei somit absolut wirkt und auch durch ein Parteienverbot nicht beeinträchtigt werden kann. Mag die Regelung der §§ 46 Abs. 1 Nr. 5, 47 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 BWahlG verfassungspolitisch und aus Gründen 344 des Verfassungsschutzes auch zweckmäßig erscheinen , so ist sie doch mit 345

Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar . Ein Parteienverbot kann damit keinen Mandatsverlust zur Folge haben. Abgeordnete, die oppositionellen Gruppierungen angehören, können demnach nicht im Wege eines Parteienverbotes aus dem Bundestag ausgeschlossen werden.

3. Grundrechtsverwirkung und Mandatsverlust

Da ein Mandatsverlust wegen eines Parteienverbotes somit nicht in Betracht kommt, verbleibt als einzige Möglichkeit, um eine oppositionelle Gruppierung, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wendet, aus dem Bundestag auszuschließen, der individuelle Mandatsentzug der „verfassungsfeindlichen" Abgeordneten im Wege der Grundrechtsverwirkung gemäß Art. 18 GG, § 39 Abs. 2 BVerfGG, § 46 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG. Der Mandatsverlust basiert dabei auf § 39 Abs. 2 BVerfGG, der als Rechtsfolge der Grundrechtsverwirkung im Sinne des Art. 18 GG vorsieht, daß das Bundesverfassungsgericht dem Antragsgegner unter anderem auch die Wählbarkeit entziehen kann. Der Wegfall der jederzeitigen Wählbarkeit fuhrt dann

Zweifelnd in dieser Hinsicht: Achterberg, Parlamentsrecht S. 258. 345

So auch Hesse, Grundzüge Rn 601; Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht § 4 Rn 20; AKPreuß Art. 21 Rn 58; AK-Ridder Art. 21 Abs. 2 Rn 22; Maunz, in Maunz/Dürig Art. 38 Rn 28; Höver, Parteiverbot S. 107.

128

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 3 BWahlG zum Verlust der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag. Nach diesen Vorschriften kann eine Grundrechtsverwirkung somit einen Mandatsverlust zur Folge haben. Verfassungsrechtlich problematisch an dieser Rechtsfolge ist jedoch, daß Art. 18 Satz 1 GG in dem Katalog der verwirkbaren Grundrechte das in Art. 38 Abs. 2 GG gewährleistete aktive und passive Wahlrecht nicht auffuhrt. Aus der enumerativen Aufzählung und der Anbindung „verwirkt diese Grundrechte" ergibt sich jedoch nach ganz überwiegender Ansicht346, daß nur die in Art. 18 Satz 1 GG ausdrücklich genannten Grundrechte verwirkt werden können. Auffassungen, die die Eindeutigkeit des Wortlauts zu widerlegen versu347

chen, vermögen nicht zu überzeugen. So argumentiert etwa Wagner , daß Art. 18 Satz 1 GG allein Grundrechte im „formellen Sinne" nennt und nur deren Verwirklichungsmöglichkeit abschließend regele. Die Frage der Verwirkung „nur" materieller Grundrechte, d.h. solcher Rechte, die wie Art. 38 Abs. 2 GG grundrechtsgleichen Charakter haben, aber nicht im Abschnitt I des Grundgesetzes („Die Grundrechte") niedergelegt sind, habe das Grundgesetz hingegen offengelassen. Damit sei § 39 Abs. 2 BVerfGG mit dem Wortlaut des Art. 18 Satz 1 GG vereinbar. Dagegen läßt sich jedoch anführen, daß die Auswahl der in Art. 18 Satz 1 GG genannten Rechte durch den Verfassungsgeber nicht auf formellen Kriterien beruhte, sondern darauf, welche Rechte sich besonders zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische 348

Grundordnung eignen . Daß derartige Rechte nur dem „formellen" Grundrechtskatalog entnommen wurden, kann nicht zu dem Schluß führen, daß nur die Verwirkung dieser Rechte abschließend geregelt werden sollte, denn die Verfassung nennt auch an anderer Stelle Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte nebeneinander und behandelt sie gleich (vgl. etwa Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG). Es ist also davon auszugehen, daß der Verfassungsgeber entsprechende Verwirkungsmöglichkeiten ebenfalls genannt hätte, so daß der Katalog des Art. 18 GG für alle Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte als 349

abschließend anzusehen ist . 346

Vgl. Krebs, in von Münch/Kunig GG Art. 18 Rn 17; Jarass/Pieroth Art. 18 Rn 3, 5; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 116 f m.w.N, 194; Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 21; Geiger, BVerfGG § 39 Anm. 6; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 3 Rn 16. 347

U. Wagner, Verwirkung der Wählbarkeit S. 56 f. 348

Vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 196. 349

Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 3 Rn 16.

Β. Rechtlicher Rahmen zur Wahrnehmung der Oppositionsfunktionen

129

350

Auch der Hinweis Geigers , daß sich die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des § 39 Abs. 2 BVerfGG daraus ergibt, daß auch das Wahlrecht gestützt 351

auf Art. 38 Abs. 3 GG den Entzug der Wählbarkeit zuläßt und somit eine derartige Regelung auch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehen werden könnte, überzeugt nicht. Geiger berücksichtigt nicht, daß auch der Entzug der Wählbarkeit im Wahlrecht nicht nur an Art. 38 Abs. 3 GG, sondern ebenfalls an anderen Verfassungsvorschriften zu messen ist. In diesem Zusammenhang wäre aber ebenfalls die Frage relevant, ob nicht auch bei diesen Normen ein Verstoß gegen den Wortlaut des Art. 18 Satz 1 GG vorliegt, so daß es auch hier wieder auf diese Vorschrift ankommt. Der Umweg über das Wahlrecht und der Verweis auf Art. 38 Abs. 3 GG ist damit nicht geeignet, verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Entzug der Wählbar352

keit durch § 39 Abs. 2 BVerfGG zu entkräften . Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß der Normtext des Art. 18 Satz 1 GG eindeutig gegen eine Ausdehnung der Grundrechtsverwirkung über die dort genannten Grundrechte hinaus durch § 39 Abs. 2 BVerfGG spricht. Die Erweiterung der Verwirkungsfolgen durch § 39 Abs. 2 BVerfGG könnte aber aufgrund teleologischer Interpretation des Art. 18 GG gerechtfertigt sein. Als ausschlaggebend für den Erlaß des § 39 Abs. 2 BVerfGG wird angeführt, „daß es geradezu unverständlich wäre, wenn einer, der infolge seines Kampfes gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ein Grundrecht verwirkt hat, sollte wählen oder gar als Abgeordneter gewählt werden oder Beamter sein können"353. § 39 Abs. 2 BVerfGG wird daher als Positivierung des „ungeschriebenen Grundsatzes"

354

angesehen, daß der Grundrechtsverwirkung

355

eine „Ausstrahlungswirkung" auf andere, nicht in Art. 18 GG genannte Grundrechtsbereiche zukommt, da sich jede Aberkennung einzelner Grundrechte auch an Stellen des Grundrechtssystems auswirken könne, die in 350

BVerfGG § 39 Anm. 6.

351

Vgl. §§ 13, 15 BWahlG.

352

Vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 196; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 3 Rn 16; U. Wagner, Verwirkung der Wählbarkeit S. 54. 353

Geiger, BVerfGG § 39 Anm. 6; F. Klein, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu BVerfGG § 39 Rn 20; Schmidt, in Umbach/Clemens BVerfGG § 39 Rn 15; Durig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 23; U. Wagner, Verwirkung der Wählbarkeit S. 46. 354

F. Klein, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu BVerfGG § 39 Rn 20. 355

Matthey, in von Münch GG (3. Aufl.) Art. 18 Rn 9.

9 Haberland

130

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Art. 18 GG nicht ausdrücklich erwähnt sind356. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz verdeutliche mit der Regelung des § 39 Abs. 2 BVerfGG nur „eine Sachgesetzlichkeit, die auch der Verfassung selbst nach allen Interpretationsmethoden immanent sein muß, nämlich die Entpolitisierung des Antragstellers auch auf jenen von Art. 18 nicht benannten Grundrechtsgebieten, die notwendigerweise mit dem aberkannten Grundrecht zusammenhängen"357. Die Aberkennung der Wählbarkeit stellt danach nur eine sachlich gerechtfertigte „Nebenentscheidung" zur Hauptentscheidung der Grundrechtsverwirkung gemäß Art. 18 GG dar, deren Zulässigkeit ohne weiteres aus der Zu358

ständigkeit fur die Hauptsache folge . Dieser Auffassung ist zwar zuzugeben, daß eine isolierte Grundrechtsaberkennung, ohne daß andere Grundrechte tangiert werden, wohl nicht in allen Fällen möglich sein wird und daher eine Beschränkung der Grundrechtsverwirkung auf den Enumerativkatalog des Art. 18 GG nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen fuhrt. Würde man jedoch alle Grundrechte, die bei einer Verwirkung eines oder mehrerer der in Art. 18 Satz 1 GG genannten Rechte mitberührt werden können, dem Konzept des § 39 Abs. 2 BVerfGG entsprechend, in die vom Bundesverfassungsgericht auszusprechenden Verwirkungsfolgen mit aufnehmen, würde eine enumerative Aufzählung der verwirkbaren 359

Grundrechte in Art. 18 Satz 1 GG faktisch leerlaufen . In einem solchen Fall bestünde die Gefahr, daß die Verwirkung eines Grundrechts ein allgemeines Grundrechtsmißbrauchsverbot nach sich ziehen könnte, eine Folge, die dem erklärten Willen des Verfassungsgebers widerspricht 360 und auch im Gegensatz zur bisherigen Interpretation des Art. 18 GG steht. Wenn Art. 18 Satz 1

356

F. Klein, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu BVerfGG § 39 Rn 20; Schmidt, in Umbach/Clemens BVerfGG § 39 Rn 15; Benda/E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts Rn 1078. 357

Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 24. 358

Leibholz/Rupprecht, BVerfGG § 39 Rn 3; Dürig, in Maunz/Dürig Art. 18 Rn 24; Geiger, BVerfGG § 39 Anm. 6; vgl. auch F. Klein, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu BVerfGG § 39 Rn 20: „§ 39 Abs. 2 BVerfGG ist daher mit Art. 18 GG zu vereinbaren, da hier nur Rechte aberkannt werden können, die bereits durch den Verwirkungsausspruch nach § 39 Abs. 1 BVerfGG berührt sind." 359

Vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 200. 360

Der Verfassungsgeber hat es bewußt vermieden, alle Grundrechte als verwirkbar anzusehen. Der Parlamentarische Rat stellte vielmehr darauf ab, daß nur solche Grundrechte der Verwirkung unterliegen sollen, mit deren Mißbrauch zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische JöR 1 n.F. Grundordnung erfahrungsgemäß zu rechnen sei, vgl. von Doemming/Füsslein/Matz,

131

C. Ergebnis

GG nicht jeden Grundrechtsmißbrauch erfaßt, ist darin eine bewußte Beschränkung und keine „offensichtliche Lücke", die durch „sachlich berechtigte Vorschriften" auszufüllen ist 361 , zu sehen362. Die genannten rechtspolitischen Argumente können somit nicht als teleologisch gebotene Rechtfertigung zur Durchbrechung des Normtextes herangezogen werden 363. Wegen des eindeutigen Wortlauts des Art. 18 GG, darf eine Grundrechtsverwirkung somit nicht den Entzug der Wählbarkeit gemäß Art. 38 Abs. 2 GG umfassen. Die dem Bundesverfassungsgericht in § 39 Abs. 2 BVerfGG eingeräumte Kompetenz, das aktive und passive Wahlrecht abzuerkennen, ist somit nicht durch Art. 18 Satz 1 GG gedeckt364. Zusammenfassend ist für den vorliegenden Abschnitt festzustellen, daß wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 46 Abs. 1 Nr. 5 BWahlG und § 39 Abs. 2 BVerfGG eine konkrete Sanktionsmöglichkeit dahingehend, daß „verfassungsfeindliche" Abgeordnete oder parlamentarische Gruppierungen aus dem Parlament ausgeschlossen werden können, nach dem Grundgesetz nicht gegeben ist. So können Oppositionsfraktionen und -gruppen im Bundestag tätig werden, ohne daß eine rechtliche Ausschlußmöglichkeit der ihnen zugehörigen Abgeordneten besteht.

C. Ergebnis Die Bedeutung der Opposition im Verfassungsprozeß ist vor allem darin zu sehen, daß sie durch die Wahrnehmimg ihrer verfassungspolitischen Funktionen zur Optimierung und Rationalisierung staatlicher Entscheidungen beitragen kann, indem sie kritisiert, kontrolliert und sachliche sowie personelle Alternativen bereit stellt. Dies kann zur Verbesserung von Einseitigkeiten und

(1951), S. 172; BK -Wernicke (S. 520).

Art. 18 Anm. II. 1. b; von Mango Idt/Klein

Art. 18 Anm. III. 1 a

361

So aber Lechner, BVerfGG § 39 Anm. zu Abs. 2 (S. 257). 362

Vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 206. 363

Krebs, in von Münch/Kunig GG Art. 18 Rn 18. 364

Im Ergebnis ebenso: Krebs, in von Münch/Kunig GG Art. 18 Rn 17; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht § 3 Rn 16; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten S. 195 ff.

132

2. Kap. Verfassungspolit. Funktionen und deren rechtlicher Rahmen

Fehlern staatlicher Maßnahmen365 sowie zur Dynamisierung des politischen Prozesses fuhren. Der Opposition kommen ferner auf direktem oder indirektem Wege366 Gestaltungs- und auch Mitentscheidungsmöglichkeiten zu, die einen integrativen Faktor hinsichtlich der politischen Kräfte darstellen können, die sich durch die Ansichten von Regierung und Regierungsmehrheit nicht repräsentiert fühlen. Diese Gruppen zu integrieren und an den Staat zu binden, ist ebenfalls eine verfassungspolitische Aufgabe der Opposition. Die Opposition ist demnach fur den parlamentarisch-demokratischen Staat von essentieller Bedeutung. Diese Bedeutung spiegelt sich auch im Verfassungsrecht wider. Durch das Wahlrecht, insbesondere die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, ist grundsätzlich sichergestellt, daß auch oppositionelle Auffassungen, die im Wahlvolk vertreten werden, im Parlament repräsentiert sind. Im Bundestag selbst können sich oppositionelle Gruppierungen auf der Grundlage des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG frei organisieren, und ihnen steht ein Gleichbehandlungsrecht gegenüber allen anderen parlamentarischen Gruppen und Fraktionen zu. Dieses Gleichbehandlungsrecht bezieht sich auf die gesamte parlamentarische Arbeit, insbesondere auf den Zugang zu Ausschüssen und Gremien. Die im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Bundestages festgelegten Parlamentsrechte ermöglichen ferner, daß sich oppositionelle Gruppierungen artikulieren und informieren können. Außerdem ist ihnen die Möglichkeit gegeben, auf verschiedenen Ebenen kontrollierend und gestaltend tätig zu werden und damit eigene Vorstellungen in den politischen Prozeß einzubringen. Das Verfassungsrecht geht somit über die reine Anerkennung und Akzeptierung von Opposition hinaus. Es stellt einen rechtlichen Rahmen zur Verfugimg, der es oppositionellen Gruppierungen ermöglicht, ihre Interessen auf parlamentarischer Ebene zu vertreten und so auf den Verfassungsprozeß einzuwirken. Ungeachtet einzelner Verbesserungsmöglichkeiten beinhaltet das Verfassungsrecht somit Befugnisse und Gestaltungsmöglichkeiten, mit deren Nutzung die Opposition ihren verfassungspolitischen Funktionen nachkommen kann.

So bereits C. T. Welcher, Art. Systematische Opposition S. 321; vgl. auch Luhmann, ZfPol 36 (1989), S. 13(20). 366

Vgl. Sebalde ZfParl 23 (1992), S. 238 (260); ders., Thematisierungsfunktion S. 156 ff.

Drittes Kapitel

Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition im grundgesetzlich organisierten Verfassungsprozeß? In den vorangegangenen Kapiteln wurde aufgezeigt, daß das Grundgesetz Opposition anerkennt und mitdenkt, ihr ermöglicht, sich auf parlamentarischer Ebene zu organisieren und ihr ein rechtliches Instrumentarium zur Ausübung ihrer Funktionen zur Verfugung stellt. Diesem Befund ist bisher aber nicht zu entnehmen, ob der Opposition im Rahmen des Grundgesetzes, losgelöst von den parlamentarischen Organisationsformen, eine spezifische verfassungsrechtliche Stellung zukommt, die sie von den anderen Teilen des Parlaments unterscheidet und gegebenenfalls mit besonderen Aufgabenzuweisungen, etwa im Bereich der Regierungskontrolle, verbunden ist. Es ist daher in diesem Abschnitt zu prüfen, ob der Opposition durch das Grundgesetz ein verfassungsrechtlich eigenständiger Rechtsstatus eingeräumt wird. Normative Anknüpfungspunkte für eine derartige Annahme könnten Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, der als verfassungsrechtliche Verankerung des Gewaltenteilungsprinzips angesehen wird 1, sowie das im Grundgesetz zwar nicht ausdrücklich erwähnte, aber insbesondere in Art. 63 ff GG zum Ausdruck kommende, dem Grundgesetz daher erkennbar zugrundegelegte parlamentarische Regierungssystem sein. Gerade aus der im Grundgesetz statuierten Verbindung zwischen Gewaltenteilungsprinzip und parlamentarischem Regierungssystem wird der Opposition in weiten Teilen der Staatsrechtslehre eine spezifische Stellung zugewiesen . Ausgangspunkt derartiger Überlegungen ist die Feststellung eines Funktionswandels des Parlaments. Stand das Parlament unter der Geltung konstitutioneller Verfassungen ursprünglich in seiner Gesamtheit der monarchisch eingesetzten Regierung gegenüber und kontrollierte 1 2

Vgl. dazu unten 3. Kapitel A.

Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht § 11 IV 3; Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140; Grube, Opposition S. 54 ff; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 309 ff; H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 3, 29; Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 19 ff; Petzke, Opposition S. 230 f; Scheuner, DÖV 1974, S. 433 (437); Stern, Staatsrecht I § 23 I 3, 3a (S. 1031 f); Gehrig, DVB1. 1971, S. 633 (635); Pottschmidt, Handbuch der Bremischen Verfassung S. 594 (603); Kunzmann/Haas u.a., Verfassung des Freistaates Sachsen Art. 40 Rn 1.

134

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

sie, so habe sich dieser Dualismus im parlamentarischen Regierungssystem verschoben. In diesem System sei auch die Regierung demokratisch legitimiert, denn sie wird durch das Parlament gewählt und durch die Fraktionen) getragen, die in den Wahlen die Mehrheit erreicht haben. Da Regierung und Parlamentsmehrheit wegen der gleichen parteipolitischen Herkunft aber weitgehend identische politische Interessen verfolgten und die Regierung zudem auf die Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit angewiesen sei, wüchsen Regierung und Parlamentsmehrheit systembedingt zu einer „Aktionseinheit"3, zu einem „monistischen Block"4 zusammen5. Es könne daher nicht mehr davon ausgegangen werden, daß sich Regierung und Gesamtparlament gegenüberstünden. Vielmehr sei die Opposition an die Stelle des Gesamtparlaments getreten, so daß der ursprüngliche Gegensatz zwischen Regierung und Parlament durch einen „neuen Dualismus" zwischen der Regierung und der sie unterstützenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits ersetzt worden sei6. In diesem Spannungsverhältnis bestehe eine zweite, moderne Phase der Gewaltenteilung7. Die Opposition habe im parlamentari-

3 Pietzner, EvStL Sp. 2327 f; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (547); ähnlich H.-P. Schneider, Gewaltenverschränkung S. 77: „politische Handlungseinheit"; s.a. Zippelius, Allgemeine Staatslehre § 41 II: „kooperative Einheit".

4

Gehrig, Parlament S. 126; vgl. auch dersDVB1. 1971, S. 633; Grube, Opposition S. 50. Bereits Thoma, HDStR I I § 71, S. 117 sprach in diesem Zusammenhang von einem „gewaltenvereinigenden parlamentarischen Monismus". 5

Im Ergebnis ebenso: Leibholz, Die Kontrollfunktion des Parlaments S. 62; Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a (S. 1032ff); Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140; H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 19; vgl. auch Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 306: „Unter der grundgesetzlichen Verfassungsordnung findet die Kontrolle von politischen Parteien gegenüber den Verfassungsorganen unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems statt, dessen parteienstaatliche Folge das Mehrheits/Minderheitsschema und damit die fast vollständige Auflösung des Gegensatzes zwischen Regierung und Parlament ist. Die Adäquanz des Gewaltenteilungsprinzips fur die Kontrollbeziehungen zwischen diesen beiden Verfassungsorganen ist in entsprechendem Maße vermindert. Nur noch dort, wo das Parlament eine auf Integration beruhende reale Repräsentationsfunktion erfüllt, nämlich dort, wo die parteienstaatliche Spannungsstruktur keine Auswirkungen zeigt und ein Konsensbereich vorhanden ist, kann es ganzheitlich Kontrolle gegenüber der Regierung ausüben." 6

Gehrig, Parlament S. 126 ff; H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 19; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht § 11 I V 3; Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140; Stern, Staatsrecht I spricht in der Überschrift von § 23 (S. 1022) von „neue(r) Frontstellung", vgl. auch § 23 I 3 a (S. 1032); Grimm, HVerfR S. 317 (361); Liesegang, in von Münch GG Art. 62 Rn 6; Grube, Opposition S. 50 ff. 7

Sternberger, Lebende Verfassung S. 133, s.a. S. 139: „Geteilt erscheinen vollends nun nicht mehr eine gesetzgebende und eine ausübende, wohl aber eine regierende und eine opponierende Gewalt. Und es ist eben diese moderne oder vitale Gewaltenteilung innerhalb der einen parlamentarischen Körperschaft, welche allein es möglich gemacht hat, daß die politischen Gewalten Montesquieu's sich vereinigten, und daß gleichwohl die Freiheit erhalten - und nicht nur erhalten,

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

sehen Regierungssystem damit weitgehend die Funktionen übernommen, die ursprünglich das Parlament in seiner Gesamtheit im Rahmen der Gewaltentrennung und Gewaltenhemmung („checks and balances") gegenüber der Regierung ausgeübt habe. Insbesondere die Kontrolle der Regierung sei Aufgabe der Opposition geworden, denn eine solche sei von der die Regierung stützenden Parlamentsmehrheit nicht mehr wirksam zu erwarten8. Diese weit verbreitete Ansicht wird mit unterschiedlicher Intensität vertreten. Einige Autoren gehen davon aus, daß der konstitutionelle Gewaltendualismus zwischen Regierung und Parlament in der parlamentarischen Demokratie völlig obsolet sei9, die Gewaltenteilung vielmehr „mitten durch das Parlament hindurch" verlaufe 10, so daß nur noch die Opposition gegenüber der Regierung „einen dualistisch autonomen Machtfaktor" darstelle11. Andere Autoren konstatieren etwas vorsichtiger, daß sich der Dualismus zwischen Parlament und Regierung zwar nicht vollständig, aber doch zu einem wesentlichen Teil auf das Spannungsverhältnis Regierung (und Regierungsmehrheit) auf der einen und Opposition auf der anderen Seite verschoben habe, und 12

somit den eigentlichen Kern der politischen Auseinandersetzung bilde . Es fragt sich, ob diese eigentlich politikwissenschaftliche These, soweit sie aus politikwissenschaftlicher Sicht überhaupt zutreffend ist, eine verfassungsrechtliche Entsprechung hat oder haben sollte. Das setzt aus verfassungsrechtlicher Sicht voraus, daß sich die Verschiebung der Gewaltenteilung und eine daraus resultierende Übernahme der (Kontroll-) Funktionen des Parlaments durch die Opposition als eine notwendige Folge der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Staatsleitungssystems darstellt. Diese These erfordert somit den Nachweis, daß sie als zutreffende Charakterisierung verfassungsrechtli-

sondera gestärkt und bedeutend ausgebildet wurde." Ähnlich von Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I I Rn 451; H.-P. Schneider, HVerfR S. 239 (245); vgl. auch Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a(S. 1035). 8

Gehrig, Parlament S. 126 f; Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140; Stern, Staatsrecht I § 23 I 3 a (S. 1035); Liesegang, in von Münch GG Art. 62 Rn 6; Fraenkel, Art. Opposition S. 227; Busch, Parlamentarische Kontrolle S. 26; Gusy, AöR 106 (1981), S. 329 (346); Grube, Opposition S. 54 ff; Bleckmann, Staatsrecht I Rn 340. 9

Pietzner, EvStL Sp. 2327 f, ähnlich auch E. Stein, Staatsrecht (13. Aufl.) § 18 II. 10

11

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 19. Gehrig, Parlament S. 127; vgl. auch Grube, Opposition S. 62 ff.

12

Scheuner, Kontrolle S. 56; Ossenbühl, DOV 1980, S. 545 (547); Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht § 1 1 I V 3; Fraenkel, Art. Opposition S. 227; von Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I I Rn 451.

136

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

eher Aufgabenzuweisungen anzusehen ist13. Daher ist im folgenden zu untersuchen, inwieweit sich eine solche Kompetenzzuordnimg aus der grundgesetzlichen Ausgestaltung und Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips und des parlamentarischen Regierungssystems entnehmen läßt.

A. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition durch das im Grundgesetz konkretisierte Gewaltenteilungsprinzip? Als verfassungsrechtliche Konkretisierung des Grundsatzes der Gewaltenteilung gilt Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach alle vom Volke ausgehende Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Ideengeschichtlich wird das Gewaltenteilungsprinzip in erster Linie auf Charles de Montesquieu zurückgeführt. In seiner Abhandlung „De l'Esprit des lois" von 1748 differenziert er drei Arten von Staatsgewalt: die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt. Die Freiheit des Bürgers sei nur dann gewährleistet, wenn diese unterschiedlichen Gewalten nicht bei einem Träger vereinigt seien. „Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft 14

der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würde" . Inhalt und Tragweite dieses Prinzips bestehen also darin, daß die Funktionen der Gesetzgebung, der Vollziehung und der Rechtsprechung unterschieden und jeweils besonderen Trägern zugewiesen werden, verbunden mit dem Verbot, Funktionen der jeweils anderen Träger wahrzunehmen sowie ihre gegenseitige Kontrolle und Hemmimg („checks and balances") zu erreichen. So soll die Staatsmacht gemäßigt und die Freiheit des einzelnen Bürgers gesichert werden15. Zu Recht wird aber daraufhingewiesen, daß dieses Prinzip in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG nur bedingt zum Ausdruck kommt. Dieser Norm läßt sich lediglich die Verteilung der drei genannten Funktionen auf „besondere Organe", also

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 130. 14 Montesquieu, De l'Esprit des lois, Liv XI, Chap 6; deutsche Ausgabe: Vom Geist der Gesetze, hrsg. v. E. Forsthoff, Bd. 1 S. 214 ff. Vgl. auch Art. 16 der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte vom August 1789 (zitiert nach Stern, Staatsrecht II § 36 III 1, S. 27): „Eine Gesellschaft,... bei der die Teilung der Gewalten nicht durchgeführt ist, hat überhaupt keine Verfassung." 15 BVerfGE 5, S. 85 (199); 9. S. 268 (279); 30, S. 1 (27 f); 34, 52 (59 f).

Α. Rechtsstatus durch das Gewaltenteilungsprinzip?

137

letztlich eine Funktionengliederung entnehmen, ohne daß ausdrücklich eine strikte Trennung der Gewalten oder eine gegenseitige Mäßigung und Kontrolle statuiert wird 16 . Sieht man mit der Rechtsprechung und einem Teil des Schrifttums über diese fehlende ausdrückliche Regelung hinweg, indem man in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die positive Verankerung eines aus der Geschichte abgeleiteten überpositiven Dogmas erblickt, dessen Inhalt die Gewaltenteilung und Gewaltenbalancierung im Sinne Montesquieus sei17, so muß man in bezug auf das Grundgesetz zu der Folgerung kommen, daß dieses Prinzip nirgends rein verwirklicht ist 18 , es vielmehr nur grundsätzlich gilt und Ausnahmen und Durchbrechungen zuläßt19, soweit der „Kernbereich" einer ande20

ren Gewalt unangetastet bleibt . Eine deutliche verfassungsrechtliche Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips wäre somit nur schwer möglich21. Dieses wenig befriedigende und in der praktischen Anwendung nicht sehr hilfreiche Ergebnis hat dazu geführt, daß der Gewaltenteilungsgrundsatz im parlamentarischen Regierungssystem vereinzelt für völlig obsolet erklärt wurde22. Es ist daher fraglich, ob man im Gewaltenteilungsprinzip ein über- oder vorkonstitutionelles Dogma zu sehen hat, das dem Grundgesetz zugrunde liegt. Es erscheint eher geboten, bei der Beurteilung der im Grundgesetz festgelegten Aufgabenzuweisungen nicht von einem dem Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vorgegebenen Gewaltenteilungsmodell auszugehen, das im Grundgesetz zahlreiche Durchbrechungen und Ausnahmen findet. Man sollte sich vielmehr von dem historischen Modell lösen und in den „Ausnahmen" und „Durchbrechungen" Eigenheiten einer grundgesetzspezifischen Gewaltenteilung

16

Hesse, Grundzüge Rn 477; Schmidt-Aß mann, HdbStR I I § 24 Rn 47; Stern, Staatsrecht II § 36 IV 1 (S. 531); Schnapp, in von Münch/Kunig Art. 20 Rn 34; Fastenrath, JuS 1986, S. 194 (197). 17

Vgl. Stern, Staatsrecht I I § 36 IV 1 (S. 531); Herzog, in Maunz/Dürig Art. 20 V Rn 1; von Mangoldt/Klein Art. 20 Anm. V 5 b) (S. 598 f); BK- Wernicke Art. 20 Anm. I I 2 g; Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (548); Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 214 ff. 18

BVerfGE 3, S. 225 (247); 34, S. 52 (59).

19

BVerfGE 18, S. 52 (59); Stern, Staatsrecht I I § 36 III 3 (S. 531) spricht von einer „Funktionsteilung nach Schwerpunkten". 20

BVerfGE 9, S. 268 (280); 30, S. 1 (28); 34, S. 52 (59); 49, S. 89 (S. 124 ff); Stern, Staatsrecht I I § 36 IV 5 (S. 541) mit ausführlichen Nachweisen. Kritisch zur Kernbereichslehre: Achterberg, Probleme der Funktionenlehre S. 109 ff; Zimmer, Funktion-Kompetenz-Legitimation S. 23 ff; Maurer, W D S t L 4 3 (1984), S. 135 (147 ff). 21

Vgl. Leisner, DÖV 1969, S. 405 (407 ff).

22

E. Stein, Staatsrecht (13. Aufl.) § 18 II: „Die Gewaltenteilungslehre wird zu einer bloßen Fiktion."

138

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß? 23

sehen, die an das traditionelle Prinzip nur anknüpft . Danach wäre der Grundsatz der Gewaltenteilung „kein Dogma von naturrechtlich-zeitloser Geltung, sondern ein geschichtliches Prinzip", das sich nicht ohne weiteres abstrakt von der bestimmten geschichtlichen Situation und der konkreten staatlichen Ordnung lösen läßt, in der es entwickelt wurde24. Der Gewaltenteilungsgrundsatz im montesquieu'schen Sinne ist daher nicht absolut zu setzen, sondern als „Prinzip der Verfassung" zu deuten, das im Grundgesetz seine konkrete Ausformung gefunden hat25. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung der Gewaltenteilung hat sich daher allein am Grundgesetz und nicht an einem abstrakten, überpositiven Prinzip zu orientieren. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte bleibt zwar Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für den Grundsatz der Gewaltenteilung. Dieser Grundsatz findet aber auch in anderen Normen und Normzusammenhängen seinen Niederschlag und ist mit anderen Prinzipien kombiniert und verschränkt. Zentraler Aspekt des grundgesetzlichen Regelungsgeflechts ist daher, insbesondere unter Berücksichtigung der Volkssouveränität, nicht allein die Trennung und Teilung der Staatsgewalt, um ihrer gegenseitigen Hemmimg willen, sondern vielmehr die Statuierung einer Ordnung, „die einzelne Gewalten konstituiert, ihre Kompetenzen bestimmt und begrenzt, ihre Zusammenarbeit regelt und auf diese Weise zur Einheit - begrenzter staatlicher Gewalt hinfuhren soll" 26 . Der Zweckorientierung und Rationalität staatlicher Entscheidungen dient es daher, wenn diese von Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise am besten geeignet sind27. Funktionenzuordnung, Funktionenkonstituierung und Funktionenbalancierung sind daher wesentliche Anlie28

gen der grundgesetzlichen Gewaltenteilung .

23

Maurer, W D S t L 43 (1984), S. 135 (150); Hesse, Gnindzûge Rn 481 f.

24

Hesse, Grundzüge Rn 481 f; Stern, Staatsrecht I I § 36 IV 3 b (S. 535); ähnlich Ossenbühl, DÖV 1980, S. 545 (546). 25 Hesse, Gnindzüge Rn 481 f; Maurer, W D S t L 43 (1984), S. 135 (151); Sinemus, Der Grundsatz der Gewaltenteilung S. 65 f; Schnapp, in von Münch/Kunig Art. 20 Rn 34; ders., W D S t R L 43 (1984), S. 172 (190); Schmidt-Aßmann, HdbStR I I § 24 Rn 67; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 158 ff; Zippelius, Jura 1993, S. 281 (283); Bleckmann, Staatsrecht I Rn 562.

26

Hesse, Grundzüge Rn 482. 27

BVerfGE 68, S. 1 (86); Stern, Staatsrecht II § 36 I I I 3 (S. 530); Wank, Jura 1991, S. 624.

28

Schmidt-Aßmann, HdbStR I I § 24 Rn 50; Hesse Gnindzüge Rn 482, vgl. auch Rn 497 f. Ahnlich Stern, Staatsrecht I I § 36 I I I 3 (S. 530), der von einer „sinnvollen Kompetenzordnung" spricht. Es wird u.a. deswegen der Begriff Gewaltenteilung durch Funktionenordnung (,Achterberg, Pro-

Α. Rechtsstatus durch das Gewaltenteilungsprinzip?

139

Geht man somit für das Grundgesetz nicht von einer strikten Gewaltenteilung und Gewaltentrennung, sondern von einer Funktionenordnung im genannten Sinn aus, in der Überschneidungen und Verschränkungen nicht nur 29

möglich, sondern in der Verfassung selbst angelegt sind , so kann trotzdem festgestellt werden, daß das Grundgesetz die staatlichen Funktionen, sieht man einmal von der Rolle des Bundespräsidenten und den besonderen Gegebenheiten der bundesstaatlichen Ordnung ab, grundsätzlich den „klassischen" Gewaltenträgern Parlament, Regierung und Gerichten zuordnet. Dabei ergibt sich zunächst weder ausdrücklich noch konkludent, daß der Opposition bei dieser Verteilung eigenständige verfassungsrechtliche Aufgaben oder Befugnisse eingeräumt oder zugeteilt werden. Das Grundgesetz knüpft weiterhin an die organisatorische Gliederung in Parlament und Regierung und nicht an den „neuen Dualismus" zwischen Regierung und Regierungsmehrheit einerseits und Opposition andererseits an, obwohl es die Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung anerkennt (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) und die Regierung vom Vertrauen (der Mehrheit) des Parlaments abhängig macht (Art. 63 ff GG), somit eine heterogene Interessenstruktur des Parlaments zumindest in Rechnung stellt30. Es ist also zunächst einmal davon auszugehen, daß sämtliche Aufgabenzuweisungen das Parlament als Staatsorgan in seiner Gesamtheit betreffen, denn eine Aufteilung der Aufgaben in solche der Regierungsmehrheit und solche der Opposition ist, auch und gerade unter Berücksichtigung des Kontrollaspekts, in den entsprechenden Vorschriften zumindest nicht augenfällig. Da die These vom „neuen Dualismus" ihre Argumentation vom Funktionswandel des Parlaments jedoch wesentlich auf die Besonderheiten des parlamentarischen Regierungssystems stützt, ist im folgenden zu untersuchen, ob sich aus der näheren Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz nicht doch ein eigenständiger verfassungsrechtlicher Status der Opposition herleiten läßt, der eine Einordnung der Opposition als „verfassungsrechtliche Kategorie"31 rechtfertigen würde.

bleme der Funktionenlehre S. 109 ff) oder Funktionenordnungsprinzip {Stern, Staatsrecht I I § 36 IV 4 (S. 536)) ersetzt. Auch das Bundesverfassungsgericht verwendet inzwischen den Begriff „Gewaltengliederung", vgl. BVerfG, NJW 1994, S. 2207 (2211). 29

Zippelius, Jura 1993, S. 281 (283).

30

Vgl. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 130 f. 31

So Zeh, HdbStR I I § 42 Rn 21.

140

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

B. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition aufgrund der grundgesetzlichen Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems? In dem vom Grundgesetz statuierten parlamentarischen Regierungssystem kommt die oben beschriebene Gewaltenverschränkung wohl am deutlichsten zum Ausdruck. Abstrakt versteht man unter dem parlamentarischen Regierungssystem eine Regierungsform, in welcher die Regierung, die mit einer gegenüber dem Parlament selbständigen Stellung ausgestattet und einem eigenen Wirkungskreis versehen ist, in ihrem Bestand und damit auch in ihrer Tätigkeit vom Vertrauen eines Parlaments abhängt, das selbst an der Staatslei32

tung maßgeblich beteiligt ist . Parlamentarische Regierungssysteme sind in unterschiedlichen Varianten denkbar, die sich zum einen in ihrer grundsätzlichen Konzeption, zum anderen in ihrer konkreten Ausgestaltung unterscheiden können33. Wesentliches Kriterium bleibt, daß die Regierung vom Vertrau34

en des Parlaments abhängt und diesem gegenüber laufend verantwortlich ist . Im Grundgesetz ist das parlamentarische Regierungssystem vor allem in Art. 63 ff normiert. Nach Art. 63 und 64 GG wird die aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern bestehende Bundesregierung (Art. 62 GG) dadurch gebildet, daß der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt wird, und anschließend die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt werden. Kommt eine absolute Mehrheit für den Kanzlervorschlag des Bundespräsidenten nicht zustande, kann der Bundestag binnen 14 Tagen in einem weiteren Wahlgang einen Bundeskanzler mit der Mehrheit seiner Mitglieder wählen. Wird auch hier nicht die notwendige Mehrheit erreicht, ist in einem dritten Wahlgang die einfache Stimmenmehrheit ausreichend. Aus dieser Konstellation ergibt sich, daß die Wahl des Bundeskanzlers und damit auch der Bundesregierung von der Unterstützung der absoluten, ausnahmsweise der

32 Vgl. Badura, HdbStR I § 23 Rn 10; Herzog, EvStL Sp. 2428; Stern, Staatsrecht I § 22 I I 2 (S. 956); Erichsen, Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit I I S. 80; H.-P. Schneider, Gewaltenverschränkung S. 82.

33

Vgl. Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 1 (S. 977 f); H.-P. Schneider, S. 82 ff; Herzog, EvStL Sp. 2428 f.

Gewaltenverschränkung

34

Zippelius, Allgemeine Staatslehre § 41 (vor I.); Erichsen, Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit I I S. 80.

Β. Rechtsstatus durch das parlamentarische Regierungssystem?

141

einfachen Parlamentsmehrheit abhängig ist. Ohne das entsprechende parlamentarische Vertrauen ist eine Regierungsbildung nicht möglich. Ist ein Bundeskanzler gewählt, so obliegt ihm die Auswahl der Minister (Art. 64 Abs. 1 GG), er bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung (Art. 65 Satz 1 GG). Die Ausübimg dieser Befugnisse steht rechtlich zwar allein35 dem Bundeskanzler zu, ohne daß der Bundestag daran zu beteiligen wäre. Er muß aber, um sich eine ausreichende parlamentarische Unterstützung zu sichern, auf personelle und sachliche Interessen der ihn tragenden Fraktion(en) Rücksicht nehmen, so daß bereits auf die Zusammensetzung der Regierung und ihre politischen Zielsetzungen ein erheblicher parlamentarischer Einfluß ausgeübt wird. Weiterhin besteht eine enge personelle Verbindung zwischen Regierung und Parlament, denn die weitaus überwiegende Zahl der Bundesminister ist zugleich Mitglied des Bundestages. Eine Inkompatibilität von Abgeordnetenmandat und Ministeramt ist, zumindest auf Bundesebene36, nicht vorgesehen37. Mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages, also mit Ablauf der Legislaturperiode (vgl. Art. 39 Abs. 1 GG), endet ebenfalls die Amtszeit einer Bundesregierung (Art. 69 Abs. 2 GG, sog. „Diskontinuitätsgrundsatz"). Aber auch zwischen der Wahl und dem Ablauf der Wahlperiode ist die Bundesregierung auf eine dauerhafte parlamentarische Unterstützung angewiesen, denn sie hängt in ihrem Fortbestand vom Vertrauen des Parlaments ab. Zwar muß sich die Regierung nicht in regelmäßigen Abständen einer Vertrauensentscheidung stellen, der Bundestag hat aber die Möglichkeit, im Rahmen eines (konstruktiven) Mißtrauensvotums nach Art. 67 Abs. 1 GG, dem Bundeskanzler das Mißtrauen dadurch auszusprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt38. Da der Bestand der Regierung an das Amt des Bundeskanzlers geknüpft ist (Art. 69 Abs. 2 GG), kann auf diesem Wege die gesamte Regierung abgewählt werden. Andererseits kann der Bundeskanzler, um eine gefährdet erscheinende Parlamentsmehrheit wieder hinter sich zu vereinen, von sich aus den Antrag stellen, daß das Parlament ihm das Vertrauen ausspricht (Art. 68 Abs. 1 GG). Einen Sturz oder den Zwang zum 35 BVerfGE 1, S. 372 (394); Herzog,, in Maunz/Dürig Art. 65 Rn 2 f; Achterberg, HdbStR II § 52 Rn 15 ff.

36

Eine Inkompatibilitätsregelung bezüglich Regierungsamt und Parlamentsmandat besteht aber teilweise auf Landesebene, vgl. etwa Art. 108 BremVerf, Art 38a HmbVerf. 37

Sehr kritisch dazu H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 4 Rn 30 ff. Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 a) aa).

142

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

Rücktritt hat die Entziehung des Vertrauens allerdings nicht notwendig zur Folge. Es besteht aber in diesem Fall nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG a.E. die Möglichkeit, daß der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflöst, soweit der Bundestag nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder binnen der in Art. 68 Abs. 1 GG genannten Frist einen anderen Kanz39

1er wählt . Eine gegenseitige Abhängigkeit und Verzahnung von Parlament und Regierung ist aber nicht nur bei Bildung und Fortbestand letzterer, sondern auch für die Regierungstätigkeit als solche festzustellen. Wegen des Vorbehalts und des Vorrangs des Gesetzes sowie aufgrund der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Regierung in hohem Maße darauf angewiesen, daß die politischen Vorstellungen, die sie durchsetzen will, legisla40

tiv umgesetzt werden . Gesetze beschließt aber der Bundestag unter Beteiligung des Bundesrates nach dem in Art. 76 ff GG geregelten Verfahren. Dabei ist die Regierung nach Art. 76 Abs. 1 GG selbst berechtigt, Gesetzesvorlagen in den Bundestag einzubringen. Der Bundestag hat somit zwar „kein Recht41

setzungsmonopol, wohl aber ein Monopol zum Erlaß förmlicher Gesetze" Eine maßgebliche Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Regierung ist demnach eine ausreichende parlamentarische Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer Gesetzesvorhaben. Durch die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament bei deren Einsetzung (Art. 63, 67, 68 Abs. 1 Satz 2 GG), deren Fortbestand (Art. 67, 68 Abs. 1 Satz 2 GG) und der Durchsetzimg ihrer politischen Ziele wird deutlich, daß der Bundeskanzler, um die Existenz und Handlungsfähigkeit seiner Regierung zu sichern, die dauerhafte Unterstützung zumindest der Mehrheit des Bundestages benötigt. Verliert er diese, kann es zur Blockade und zum Sturz seiner Regierung kommen. Aus den genannten Vorschriften wird deutlich, daß das im Grundgesetz normierte parlamentarische Regierungssystem eine zum Teil weitgehende Verschränkung und Verzahnung von Parlament und Regierung nicht nur zuläßt, sondern geradezu voraussetzt. Das Zusammenspiel von ParBei bisher dreimaligem Gebrauch des Art. 68 Abs. 1 GG dienten die Vertrauensfragen der Regierungen Brandt und Kohl allein dazu, eine Auflösung des Bundestages zu erreichen. Zur Frage, ob darin ein Mißbrauch dieser Norm liegt vgl. BVerfGE 62, S 1 ff sowie die Nachweise bei M. Schröder, HdbdStR I I § 51 Rn 39. 40

H. Meyer, W D S t R L 33 (1974), S. 69 (86). Das gilt insbesondere für das Budgetrecht, vgl. Art. 110, 115 GG einerseits und Art. 113 GG andererseits. Dazu H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 4 Rn 51 ff; Zippelius, Allgemeine Staatslehre § 41 I I 1 b. 41

Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 4 a (S. 1003).

Β. Rechtsstatus durch das parlamentarische Regierungssystem?

143

lament und Regierung ist für das Funktionieren des parlamentarischen Sy42

stems unerläßlich . Aus den Kompetenzzuweisungen an den Bundestag - zu nennen sind hier insbesondere Art. 63, 67, 76 Abs. 1, 77 Abs. 1,110 Abs. 2, 114 Abs. 1, 115a, 115c Abs. 3 GG - ergibt sich ferner, daß neben der Regie43

rung auch das Parlament maßgeblich an der Staatsleitung beteiligt ist . Schlagwortartig kommt dies in der von Friesenhahn geprägten Formel zum Ausdruck, wonach die Staatsleitung der Regierung und dem Parlament „zur gesamten Hand" zusteht44, beide Organe demnach, je nach ihren eigenen Funktionen, an der Staatsleitung beteiligt sind45. Sind demzufolge sowohl die Regierung als auch das Parlament an der Staatsleitung beteiligt, stellt sich erneut die Frage, ob dieses verfassungsrechtlich vorgegebene System, wonach die Regierung als Organ vom Parlament, respektive seiner Mehrheit eingesetzt und gestützt wird, nicht doch von einer Bipolarisation ausgeht, in der sich Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen und Opposition auf der anderen Seite gegenüberstehen46. Wenn das Grundgesetz auch grundsätzlich an eine organisatorische Gliederung in Parlament und Regierung anknüpft, so ist doch anzunehmen, daß diesen Regelungen, insbesondere in Kenntnis der rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten unter der Weimarer Reichsverfassung, nicht die Vorstellung vom Parlament als monolithischer Einheit zugrunde liegt, sondern daß heterogene Interessenstrukturen und Fraktionenbildung, wenn nicht vorausgesetzt, so doch zumindest in Rechnung gestellt wurden47. Verdeutlicht wird dieser Befund durch die ausdrückliche Anerkennung politischer Parteien und deren Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie die Statuierung einer Abhängigkeit der Regierung vom 42

Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 6 (S. 1007).

43

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 120 f. Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 6 a (S. 1008) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Regierung als Organ(gruppe) einerseits und Regierung als Funktion oder Tätigkeit andererseits. Im parlamentarischen Regiemngssystem würden die Regierungsgewalt, die Regierungsgeschäfte nicht mehr vom Organ Regierung, sondern auch vom Parlament oder zusammen von beiden ausgeführt. 44 W D S t R L 16 (1958), S. 9 (37 f). Grundsätzlich zustimmend: Stern, Staatsrecht I § 22 III 6 (S. 1008); Erichsen, Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit II S. 105; Scheuner, Kontrolle S. 31; Magiera, Parlament und Staatsleitung S. 246 ff; H. Meyer, W D S t R L 33 (1974), S. 69 (88). Kritisch: H.-P. Schneider, Gewaltenverschränkung S. 87 f; Vitzthum, Parlament und Planung S. 259 ff.

45

Erichsen, Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit I I S. 105; Scheuner, Kontrolle S. 31; ähnlich Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 121 f. 46

In diesem Sinne Stern, Staatsrecht I § 22 I I I 6 (S. 1008 f). 47

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 131.

144

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

Vertrauen der Parlamentsmehrheit (Art. 63 ff GG). In diesen Regelungen kommt zum Ausdruck, daß sich der Verfassungsgeber durchaus bewußt war, daß die Zusammensetzung des Parlaments parteipolitisch geprägt ist und die Regierung nur von einem Teil des Bundestages getragen wird. Fraglich ist aber, ob diese dem parlamentarischen Regierungssystem immanenten, zumindest partiellen Interessenunterschiede der Parlamentsmitglieder und -gruppierungen eine verfassungsrechtliche Einteilung des Parlaments in Regierungsmehrheit und Opposition mit jeweils anderen Aufgaben 48 rechtfertigen. Da das Verfassungsrecht von einer derartigen Einteilung zumindest nicht ausdrücklich ausgeht, könnte sich eine solche allenfalls dann ergeben, wenn der Zuteilung parlamentarischer Kompetenzen eine entsprechende Unterscheidung zugrundeliegt.

C. Eigenständiger Rechtsstatus der Opposition auf Grundlage der parlamentarischen „Minderheitsrechte"? Als Ausgangspunkt einer verfassungsrechtlichen Unterscheidung von Regierungsmehrheit und Opposition werden in Teilen des Schrifttums die parlamentarischen „Minderheitsrechte" herangezogen. Begründet wird dieser Rückgriff mit der Aufgabe des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren. Nach dieser Ansicht wird die Kontrollaufgabe im parlamentarischen Regierungssystem nicht mehr von der mit der Regierung eng verflochtenen Parlamentsmehrheit, sondern nur noch von der Opposition wahrgenommen49. Als Kontrollmittel stünden der Opposition insbesondere die parlamentarischen Minderheitsrechte zur Verfügung, die auch geeignet seien, eine verfassungsrechtliche Stellung der Opposition zu begründen50. Es stellt sich daher die Frage, ob die parlamentarischen „Minderheitsrechte" so systematisiert werden können, daß sich aus ihnen ein verfassungsrechtlich determinierter Status der Opposition ableiten läßt. Die genannte Ansicht beruht im wesentlichen auf der Erkenntnis, daß im parlamentarischen Regierungssystem, in dem die Parlamentsmehrheit die Regierung stützt, die Opposition im Regelfall mit der parlamentarischen Min-

So H.-P. Schneider, Gewaltenverschränkung S. 86. 49

Vgl. dazu oben 3. Kapitel vor A und unten 4. Kapitel C II. Siehe dazu H.-P. Schneider, Opposition S. 233 ff.

C. Rechtsstatus durch die parlamentarischen „Minderheitsrechte"?

145

derheit gleichzusetzen ist51. Die parlamentarischen „Minderheitsrechte" werden daher als „institutionalisierte... Kontrollmöglichkeiten fur die parlamentarische Opposition"52 oder als „Mittel der Opposition zur Wahrnehmung ihrer 53

Funktion" bezeichnet, deren Zweck es sei, im parlamentarischen System eine „Machtbalance im Inneren des Bundestages"54 zwischen Regierungsmehrheit und Opposition zu gewährleisten. H.-P. Schneider geht noch einen Schritt weiter, indem er „aus dem Gesamtkomplex oder einzelnen Teilbereichen solcher Minderheitsrechte auf eine besondere Rechtsstellung der parlamentarischen Opposition" schließt55. Zur Statuierung einer derartigen Rechtsstellung sind nach seiner Ansicht nicht nur die in der Verfassung und der Geschäftsordnung des Bundestages ausdrücklich vorgesehenen Minderheitsrechte heranzuziehen, sondern ebenso das parlamentarische Gewohnheitsrecht („Observanz") und der bloße Parlamentsbrauch, d.h. die parlamentarische Tradition und Praxis, „wie sie durch die historische und politische Entwicklung geformt worden ist" 56 . Die Minderheitsrechte würden heute hauptsächlich der „Aktualisierung und Effektivierung politischer Kontrolle und potentiell alternativer Führung der parlamentarischen Opposition, mithin der Machtbegrenzung durch parlamentarische Gegenmacht" dienen57. Das gelte insbesondere für die „absoluten" Minderheitsrechte, deren Ausübung, ohne daß ein Mehrheitsbeschluß erforderlich wäre, unmittelbare Rechtswirkung nach sich ziehe und die somit den „Schwerpunkt oppositioneller Rechtspositionen im parlamentarischen Be58

reich" bildeten . Da solche Rechte auch gegen den Willen der jeweiligen Parlamentsmehrheit durchgesetzt werden könnten, normierten sie maßgeblich „den eigentlichen Sonderstatus der parlamentarischen Opposition im Bundestag" und führten in begrenztem Umfang zur „Legitimation durch Verfah-

51

Vgl. H.-P. Schneider, Opposition S. 233; Stern, Staatsrecht I § 23 III 4; F. Schäfer, Der Bundestag S. 77. 52

Gehrig, Parlament S. 276 (Überschrift). 53

Zirker,

Opposition S. 75 (Uberschrift); s.a. Grube> Opposition S. 86 f.

54

F. Schäfer, Der Bundestag S. 77. 55 56 57

H.-P. Schneider, Opposition S. 233, 235. Ebd. S. 235 unter Bezug auf BVerfGE 1, S. 144 (148). Ebd. S. 236 f; vgl. auch Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 4 (S. 1042).

58

Ebd. S. 237. 10 Haberland

146

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

ren" 59. Danach wäre der Oppositionsstatus und sein Kernbereich, die parlamentarische Oppositionsfreiheit, nicht nur intern von jeder Mehrheit zu respektieren, sondern würde auch gewisse Rechtswirkungen außerhalb des Parlaments erzeugen. Die „absoluten" Minderheitsrechte besäßen demzufolge eine „demokratische Legitimationsfunktion" 60. Zwar seien, wie die „relativen" Minderheitsrechte, die zum Teil auch „mehrheitsschützenden Charakter" hätten, zeigten, „parlamentarische Minderheitsstellung und verfassungsmäßiger Oppositionsstatus in normativer Hinsicht nicht völlig identisch" , insgesamt bestehe aber ein „informeller" Rechtsstatus der Oppositionsfraktion(en) im Bundestag, gestützt auf „absolute Minderheitsrechte" und „parlamentarische Observanz"62. Gegen diese Herleitung einer „besonderen" Rechtsstellung der Opposition aus den parlamentarischen Minderheitsrechten sind jedoch erhebliche Bedenken geltend zu machen. Zunächst wird der Begriff „Minderheitsrechte", wie häufig in verfassungs- und parlamentsrechtlichen Abhandlungen, in mißverständlicher Weise verwendet. Bei den sog. „Minderheitsrechten" handelt es sich nicht um Rechte, die ausschließlich von parlamentarischen Minderheiten in Anspruch genommen werden können, die nicht der Regierungsmehrheit angehören. Es sind vielmehr Parlamentsrechte, die grundsätzlich ebenso von der Mehrheit oder - je nach dem in Anspruch genommenen Recht - von einzelnen Abgeordneten, den Fraktionen oder auch (heterogenen) Zusammenschlüssen verschiedener Abgeordneter in Fraktionsstärke (= Fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 GeschO-BT), die sowohl der Parlamentsmehrheit als auch der Parlamentsminderheit angehören können, geltend gemacht werden dürfen 63. Die überkommene, aber unpräzise Bezeichnung dieser Parlamentsrechte als Minderheitsrechte, kann sich allenfalls daraus rechtfertigen, daß diese Rechte, soweit die entsprechenden Quoren erreicht sind, auch von einer Minderheit in Anspruch genommen werden dürfen, sie das Bestehen einer Mehrheit also nicht voraussetzen. Diese Rechte sind demzufolge nicht nur solche der parlamentarischen Minderheit respektive der Opposition, sondern des gesamten Parlaments und daher begrifflich nicht

59

Ebd. S. 239 f.

60

Ebd. S. 240. 61

Ebd. S. 242 f.

62

Ebd. S. 255. 63

Vgl. dazu die ausfuhrliche Darstellung im 2. Kapitel Β I 3.

C. Rechtsstatus durch die parlamentarischen „Minderheitsrechte"?

147

als Minderheits- oder „Oppositionsrechte"64, sondern als Parlamentsrechte zu bezeichnen. Neben dieser terminologischen Ungenauigkeit, die über ihren formalen Charakter hinaus freilich auch bestimmte inhaltliche Vorstellungen suggeriert, ergeben sich aber ebenfalls materielle Bedenken gegen die dargestellte Auffassung. Systematisiert man die in Betracht kommenden, sich aus dem Grundgesetz, der Geschäftsordnung des Bundestages und dem Parlamentsbrauch ergebenden Rechte, so ist erkennbar, daß sich weder „aus dem Gesamtkomplex" noch aus „einzelnen Teilbereichen" dieser Parlamentsrechte ein Rückschluß auf eine eigenständige Rechtsstellung der Opposition im Bundestag gewinnen läßt. Aus der obigen65 Darstellung der Parlamentsrechte wird deutlich, daß diese Rechte in ihrer konkreten Ausgestaltung derart unterschiedlich sind, daß eine ihnen gemeinsame Struktur, aus der sich eine Aussage über die rechtliche Stellung oder über einen spezifisch verfassungsrechtlichen Status der Opposition herleiten ließe, nicht besteht. Dieses Ergebnis läßt sich, abgesehen davon, daß schon aus den Normtexten ein alleiniger oder vorrangiger Bezug der Parlamentsrechte auf die Opposition nicht ersichtlich ist, anhand der unterschiedlichen Quoren verdeutlichen66. Können einige Rechte von einzelnen Abgeordneten, von Abgeordneten in Fraktionsstärke und/oder den Fraktionen geltend gemacht werden, so ist für andere Rechte ein Quorum von einem Viertel oder einem Drittel der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Oppositionsgruppierungen, denen weniger als ein Viertel der Abgeordneten angehören oder die die Fraktionsstärke nicht erreichen, könnten einen Großteil der genannten Rechte nicht wahrnehmen. Damit müßte dann konsequenter Weise auch der „besondere Rechtsstatus" einer derartigen Opposition entfallen, was bedeutet, daß der Rechtsstatus stets von der Quantität der Opposition abhinge. Definiert man, wie es teilweise vertreten wird, Opposition als Gesamtheit aller nicht an der Regierung beteiligten parlamentarischen Gruppierungen 67, so würde für den Fall, daß die Oppositionsgruppierungen insgesamt die erforderlichen Quoren nicht erreichen, glei-

64

So H.-P. Schneider, HVerfR S. 239 (277).

65

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3.

66

Vgl. auch Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 131 f. 67

H.-P. Schneider, Opposition S. 121, 232, wonach unter Opposition „die Gesamtheit aller nicht an der Regierung beteiligten, aber potentiell regiemngsfahigen Gruppen (Fraktionen) im Parlament" zu verstehen ist. Zur Problematik der Bildung eines Oppositionsbegriffs vgl. unten 4. Kapitel A.

148

3. Kap. Eigenständiger Rechtsstatus im Verfassungsprozeß?

ches gelten. Eine derartige Konstellation ergab sich beispielsweise bei der Opposition durch die F.D.P. im 5. Deutschen Bundestag, da nur etwa 10 % der Abgeordneten dieser Fraktion angehörten. Eine Opposition dieser Stärke kann aber weder die Einberufung des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG) noch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG) oder Enquete-Kommissionen (§ 56 Abs. 1 GeschOBT) verlangen und auch nicht das Bundesverfassungsgericht im Wege eines abstrakten Normenkontrollverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff) 68 anrufen. Gerade diese letztgenannten Rechte werden aber als wesentliche Instrumente der Opposition angesehen69. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß sich für die Geltendmachung einer Vielzahl der genannten Rechte auch Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen und Gruppen, soweit sie in ihrer Gesamtzahl Fraktionsstärke erreichen, zusammenschließen können, diese Rechte also gerade nicht fraktionsgebunden sind. Im übrigen dürfen sich sowohl die Op70

positions- als auch die Regierungsfraktionen auf diese Rechte berufen . Als rechtliches Indiz für die Aufspaltung des Parlaments in Regierungsmehrheit und oppositionelle Minderheit läßt sich auch § 28 Abs. 1 Satz 2 (früher § 33 Abs. 1 Satz 2) GeschOBT nicht heranziehen. Zwar bestimmt der letzte Halbsatz dieser Norm, die die Reihenfolge der Redner im Bundestag regelt, daß „nach der Rede eines Mitgliedes oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen" soll. Diese Vorschrift kann aber nicht als besonderes Oppositionsrecht ausgelegt werden, denn anders als in dem ursprünglichen SPD-Antrag71 ist ein expliziter Bezug zur Opposition unterblieben. Es war ausdrückliche Auffassung des zuständigen Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, „daß durchaus auch Mitglieder der die Regierung stellenden Fraktion eine von der Bundesregierung abweichende Meinung vortragen können"72.

68

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 e). 69

Vgl. H.-P. Schneider, Opposition S. 239; Gehrig, Parlament S. 288, 300; Stern, Staatsrecht II § 26 II 3 (S. 61); Grube, Opposition S. 94; Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland S. 543; von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte Art. 44 Rn 1; Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 107 ff. 70

Vgl. auch Achterberg, DVB1. 1980, S. 512 (520), der zu dem Ergebnis kommt, daß der Schutz der Opposition zumindest verfassungs- und parlamentsrechtlich nicht die primäre Funktion der Minderheitsrechte ist. 71

Vgl. BT-Drucks. V/396.

72

BT-Drucks. V/4337, S. 7 (zu § 33).

. Ergebnis

149

Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß sich auch aus den Parlamentsrechten weder eine besondere Rechtsstellung, noch ein „informeller Rechtsstatus"73 der Opposition ergibt. Zwar wurde nachgewiesen, daß die oppositionellen Gruppierungen zur Wahrnehmung der verfassungspolitischen Oppositionsfunktionen in hohem Maße auf die Parlamentsrechte zurückgreifen . Diese Rechte sind aber weder ausdrücklich, noch strukturell als spezielle Rechte der Opposition anzusehen, so daß eine verfassungsrechtliche Differenzierung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition diesen Rechten ebensowenig zu entnehmen ist, wie ein eigenständiger Rechtsstatus der Opposition. Dieses Ergebnis wird zusätzlich dadurch bestätigt, daß der Opposition als solcher, insbesondere für die Geltendmachung von Parlamentsrechten keine eigenständige Rechtsfähigkeit zugestanden wird 75 .

D. Ergebnis Es ist daher festzustellen, daß dem Grundgesetz weder aus der Konkretisierung des Gewaltenteilungsprinzips oder des parlamentarischen Regierungssystems noch aus den Parlamentsrechten Anhaltspunkte zu entnehmen sind, die auf einen besonderen Rechtsstatus der Opposition oder gar auf eine verfassungsrechtliche Statuierung des „neuen Dualismus" schließen lassen.

In diesem Ausdruck H.-P. Schneiders, Opposition S. 255, kommt eine gewisse Unsicherheit bezüglich eines Rechtsstatus der Opposition zum Ausdruck, denn durch die Einordnung dieses Rechtsstatus als informell wird dessen eigentlich streng formelle Bedeutung dermaßen relativiert, daß der Terminus „informeller Rechtsstatus" als contradictio in adjecto angesehen werden muß. 74

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3 und die Daten bei Schindler, Datenhandbuch Bundestag 1949-1982 S. 762 ff und Datenhandbuch Bundestag 1980-1987 S. 676 f. 75

Vgl. Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 110. Diese Folge ist auch BVerfGE 2, S. 143 (160) zu entnehmen.

Viertes Kapitel

Die landesverfassungsrechtlichen Oppositionsnormen und die sich daraus ergebenden Folgerungen für eine Reform des Grundgesetzes Die bisherige Darstellung hat gezeigt, daß eine spezifische Rechtsstellung der Opposition auf der Ebene des Grundgesetzes verfassungsrechtlich nicht ableitbar ist. Etwas anderes könnte sich für die Landesverfassungen ergeben. Enthielt bis vor kurzem - abgesehen von der 1952 mit Gründung des Landes Baden-Württemberg außer Kraft getretenen Badischen Verfassung 1- lediglich die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg seit 1971 in ihrem Art. 23a eine die Opposition betreffende Norm, so hat sich diese Situation seit 1990 erheblich gewandelt. Maßgeblich bestimmt durch die sog. „BarschelAffaire", wurde im Zuge einer Verfassungsreform mit Art. 12 eine „Oppositionsvorschrift" in die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein aufgenommen . In den Verfassungen der sich auf dem Gebiet der ehemaligen DDR neu konstituierenden Bundesländer fand die Opposition ebenfalls, auch aufgrund von Unterdrückung der Opposition während des SED-Regiemes3, Erwähnung (vgl. Art. 55 Abs. 2 BrdbVerf, Art. 26 VerfMV, Art. 48 VerfSA, Art. 59 VerfThür, Art. 40 SächsVerf). Entsprechendes gilt für die Verfassun-

1 Art. 120 Abs. 3 der Badischen Verfassung von 1947 lautete: Stehen die Parteien „in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben. Ihre Kritik muß sachlich, fordernd und aufbauend sein. Sie müssen bereit sein, gegebenenfalls die Mitverantwortung in der Regierung zu übernehmen."

2

Vgl. in diesem Zusammenhang den Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsrefom" des Landtages Schleswig-Holstein, Drucks. 12/620, S. 3; Lippold, DÖV 1989, S. 663; Thaysen, Sondervotum zum Schlußbericht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform", Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucks. 12/180, S. 52 f. 3

Vgl. Höppner, Fragen und Antworten zur Verfassung S. 32; Mahnke, Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt Art. 48 Rn 1 \Helmrich, 9. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 09.07.1992, Stenogr. Bericht S. 22; s.a. Thaysen, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 19, der die Aufnahme eines Oppositionsartikels in das Grundgesetz auch als eine „Hommage... an diejenigen, die in der DDR tatsächlich widerstanden haben" ansehen würde.

Α. Der Oppositionsbegriff in den Landesverfassungen

151

gen Berlins (vgl. Art. 25 Abs. 3), Niedersachsens (vgl. Art. 19 Abs. 2) und Bremens (Art. 78)4. Auf Bundesebene hat der Eingang der Opposition in die Landesverfassungen insoweit Auswirkungen gezeigt, als sich die zur Reform des Grundgesetzes von Bundestag und Bundesrat eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission ausfuhrlich damit beschäftigt hat, ob die Opposition im Grundgesetz verankert werden soll. Bei diesen Diskussionen spielten die Formulierungen der Landesverfassungen, insbesondere bei konkreten Vorschlägen fur eine diesbezügliche Änderung des Grundgesetzes, eine erhebliche Rolle. Es wurde aber davon abgesehen, die Aufnahme einer entsprechenden Regelung ins Grundgesetz vorzuschlagen5. Aufgrund dieser Relevanz, die die Oppositionsnormen der Landesverfassungen auch für das Grundgesetz haben könnten, soll im folgenden untersucht werden, ob sich aus den landesverfassungsrechtlichen Vorschriften eine spezifische Rechtsstellung der Opposition ableiten läßt und ob es wegen der so gewonnenen Erkenntnisse notwendig erscheint, bestimmte, die Opposition betreffende Normierungen auch in das Grundgesetz aufzunehmen. Da die landesverfassungsrechtlichen Oppositionsvorschriften im Wortlaut und inhaltlich nicht identisch sind, sich aber zumindest teilweise decken oder überschneiden, wird die folgende Darstellung im wesentlichen nicht nach den einzelnen Verfassungsartikeln, sondern nach inhaltlichen Aspekten geordnet.

A. Der Oppositionsbegriff in den Landesverfassungen Während die meisten, eine die Opposition betreffende Vorschrift enthaltenden Landesverfassungen auf eine ausdrückliche Definition des Oppositionsbegriffs verzichten, besteht eine derartige Begriffsbestimmung in Art. 26 Abs. 1 VerfMV und Art. 48 VerfSA. Danach bilden, bei leicht abweichendem Text,

4

Vgl. zum Wortlaut der einzelnen Landesverfassungsnormen unten den Anhang. 5

Vgl. dazu die Stenogr. Berichte der Gemeinsamen Verfassungskommission von der 9. Sitzung vom 09.07.1992, der 13. Sitzung vom 26.11.1992 und der 4. öffentlichen Anhörung vom 10.09.1992 sowie den Abschlußbericht BT-Drucks. 12/6000, S. 89 f.

152

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

„die Fraktionen und Mitglieder des Landtages, die die (Landes-) Regierung nicht stützen" die (parlamentarische) Opposition6. Ob mit dieser Definition Opposition vollständig erfaßt werden kann, erscheint jedoch fraglich. Exemplarisch für die Probleme, die sich für eine Begriffsbestimmung der Opposition ergeben, ist die Diskussion, die in Schleswig-Holstein im Rahmen der Verfassungsreform von 1989/90 gefuhrt wurde. Die vom Schleswig-Holsteinischen Landtag eingesetzte Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" sah in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 ihres Verfassungsentwurfs folgende Definition vor: Zur Opposition „gehören alle nicht 7

an der Regierung beteiligten Fraktionen oder Abgeordneten des Landtages" . Die Enquete-Kommission hielt es dabei für erforderlich, aufgrund der in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 ihres Verfassungsentwurfs vorgenommen Normierung, daß Opposition „wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie" ist, zu definieren, was unter Opposition zu verstehen sei. Als entscheidendes Merkmal der Opposition wurde dabei die Nichtbeteiligung an der Regierung angesehen. Diesem Kriterium wurde der Vorzug vor dem formalen Merkmal gegeben, daß eine Fraktion in der Regierung durch Minister vertreten ist. Nach der Vorstellung der Enquete-Kommission wäre auch eine Fraktion, die die Regierung nur duldet an der Regierung beteiligt. Eine solche Fraktion könnte damit nicht Opposition im Sinne der Landesverfassung sein. Weiterhin sei das Unterscheidungsmerkmal der Nichtbeteiligung an der Regierung geeignet, einen „Erklärungsdruck" auf die Fraktionen bezüglich ihres politischen Standortes zu erzeugen, „welcher der Transparenz der Parlamentsarbeit dient sowie die Übernahme der jeweiligen politischen Verantwortung einerg

seits und die Bereitschaft zu Kritik und Kontrolle andererseits fördert" . In dieser Begründung kommt zwar zutreffend zum Ausdruck, daß die Anknüpfung an das Kriterium des unmittelbaren personellen Vertretenseins in der Regierung unzureichend ist, um Opposition zu definieren 9. Allerdings ο ~ Ahnliche Formulierungen enthalten Art. 19 Abs. 2 NdsVerf („Die Fraktionen und die Mitglieder des Landtages, die die Landesregierung nicht stützen...") und Art. 40 Satz 2 SächsVerf („Die Regierung nicht tragenden Teile des Landtages..."), ohne daß es sich dabei um ausdrückliche Begriffsbestimmungen der Opposition handelt. 7 Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucks. 12/180, S. 33. 8

Ebd. S. 34.

9

Vgl. auch H.-P. Schneider, Opposition S. 119 ff; ders.,Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 33; Fraenkel, Art. Opposition S. 226; Pietzner, EvStL Sp. 2327; Kunzmann/Haas u.a., Die Verfassung des Freistaates Sachsen, Art. 40 Rn 3 sehen als entscheidendes Kriterium fur die Bestimmung der Opposition die Wahl des Ministerpräsidenten an. „Wer den Ministerpräsidenten nicht

Α. Der Oppositionsbegriff in den Landesverfassungen

153

wirft die Abgrenzung anhand des Merkmals „Nichtbeteiligung an der Regierung" bzw., wie in den oben genannten Landesverfassungen, „NichtStützen der Regierung" ebenfalls erhebliche Probleme auf. Fraglich ist bereits, wann die Beteiligung an oder das Stützen der Regierung beginnt. Ist dafür eine planmäßige Tolerierung erforderlich oder reicht eine Unterstützung in wesentlichen Fragen? Was ist, wenn nur ein Teil (z.B. ein „Flügel") einer Fraktion die Regierung unterstützt? Wie wäre eine Fraktion zu beurteilen, die grundsätzlich zur Regierung im Widerspruch steht, diese aber, beispielsweise wegen eines nationalen Notstandes, über einen gewissen Zeitraum toleriert? Dürfte sich diese Fraktion nicht mehr auf Rechte berufen, die der Opposition durch die jeweilige Verfassung gegebenenfalls zugestanden werden? Eine lediglich tolerierende Fraktion könnte dann in die groteske Situation kommen, vor dem Bundes- oder einem Landesverfassungsgericht darüber streiten zu müssen, ob sie Opposition ist oder nicht10. In Schleswig-Holstein ergab sich außerdem das Problem, wie der Vertreter der dänischen Minderheit, der sich weder als Beteiligter an der Regierung, noch als Opposition versteht, einzuordnen sei11. Die hier aufgeworfenen Fragen zeigen bereits, daß sich „Opposition" einer trennscharfen Abgrenzung und Zuordnung zu bestimmten oder bestimmbaren Teilen des Parlaments weitgehend entzieht. Ein Grund dafür ist, daß es für die Opposition verschiedene Wege geben kann, ihr regelmäßig verfolgtes Ziel - Diskreditierung und ggf. Ablösung der Regierung - zu erreichen. Kam Dahl in seiner rechtsvergleichenden Studie über Verhaltensmuster der Opposition zu dem Ergebnis, daß es in westlichen Demokratien kein einzelnes, vorherrschendes Oppositionsmuster gebe12, so muß dem mit H.-P. Schneider hinzugefügt werden, daß selbst innerhalb eines politischen Systems die Vorstellungen bezüglich der Eigenart, der Aufgaben und der Tätigkeit der Opposition sehr

wählt, gehört unabhängig von seiner Fraktionszugehörigkeit zur Opposition. Wer nachträglich, obwohl er ursprünglich den Ministerpräsidenten nicht gewählt hat, diesen stützt, verliert seine Oppositionsrolle." 10

So Günther, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 7. 11 Vgl. Abg. Brunner, Sonderausschuß „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, 16. Sitzung vom 23.06.1989, Niederschrift S. 8. 12 Dahl , Patterns of political opposition, p. 332.

154

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

unterschiedlich sein können13. Die verschiedenen Ausdrucksformen von Opposition, die durch das freie Spiel der politischen Kräfte innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems bedingt sind, lassen eine exakte, rechtlich handhabbare Definition von Opposition daher kaum zu. Auch unter anderen Gesichtspunkten erscheint eine Begriffsbestimmung, wie sie in den genannten Landesverfassungen getroffen ist, problematisch. Der von der Enquete-Kommission des Schleswig-Holsteinischen Landtages gewollte „Erklärungsdruck" auf die Fraktionen, um ihren politischen Standort zu offenbaren, impliziert die Gefahr, daß die an der Regierung nicht beteiligten Fraktionen formal in die Rolle des Opponierens gedrängt werden, weil sie bei einer eventuell auch nur kurzzeitigen Tolerierung des Regierungsverhaltens, als die Regierung stützend angesehen werden und so die ihnen aus den Oppositionsnormen gegebenenfalls zugewiesenen Rechte verlieren könnten. Weiterhin müßte nach den Formulierungen der Landesverfassungen Mecklenburg· Vorpommerns und Sachsen-Anhalts, wonach die Fraktionen und die Mitglieder, die die Landesregierung nicht stützen, die Opposition bilden, Opposition als Gesamtheit aller nicht die Regierung stützenden Teile des Parlaments angesehen werden. „Die Opposition" wäre danach eine Zusammenfassung aller nicht an der Regierung beteiligten Fraktionen und Abgeordneten. Dieses Begriffsverständnis geht deutlich aus Art. 48 VerfSA hervor, der zwischen Opposition als Gesamtheit und Oppositionsfraktionen, denen das Recht auf Chancengleichheit zugeordnet wird, unterscheidet. Auch die wörtliche und grammatikalische Auslegung des Art. 26 Abs. 1 VerfMV ergibt, daß mit parlamentarischer Opposition dort nur die Gesamtheit aller die Regierung 14

nicht stützenden Abgeordneten und Fraktionen gemeint sein kann . Da in Art. 26 Abs. 2 VerfMV der „parlamentarischen Opposition" bestimmte Aufgaben und das Recht auf politische Chancengleichheit zugewiesen werden, folgt daraus, daß sich nicht die einzelnen Abgeordneten und Fraktionen, die die Regierung nicht stützen, sondern nur diese Teile des Parlaments in ihrer Gesamtheit auf die in Art. 26 Abs. 2 VerfMV erwähnten Aufgaben und Rechte berufen können. Konsequent fortgedacht würde es damit nach dem 13

Dazu ausführlich H.-P. Schneider, Opposition S. 90-117. Aufschlußreich fur die verschiedenen Phasen der Opposition in den Jahren 1949-1972 ist die Untersuchung von M. Friedrich, Parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland S. 230 ff. 14 .

Ahnlich hat auch H.-P. Schneider, Opposition S. 121 und HVerfR S. 239 (276) Opposition definiert: „Parlamentarische Opposition meint die Gesamtheit aller nicht an der Regierung beteiligten, aber potentiell regierungsfähigen Gruppen (Fraktionen) im Parlament." Inzwischen ist er von dieser Begriffsbestimmung abgerückt, vgl. Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 33.

Α. Der Oppositionsbegriff in den Landesverfassungen

155

Wortlaut des Art. 26 VerfMV ausreichen, wenn, etwa bei der Vergabe von finanziellen Mitteln, die Opposition insgesamt ausreichend berücksichtigt wird, während eine paritätische Verteilung innerhalb der Opposition verfassungsrechtlich nicht zwingend geboten wäre. Dieses Ergebnis widerspricht jedoch der Intention, alle Oppositionsbestrebungen innerhalb des Parlaments für sich gesehen und nicht nur in ihrer Gesamtheit zu stärken. Es stößt damit sowohl aus rechtlicher, als auch aus verfassungspolitischer Sicht auf erhebliche Bedenken, die unter Umständen sehr heterogenen und gegensätzlichen Fraktionen und Abgeordneten, die die Regierung nicht stützen, als Opposition zusammenzufassen. Die einzige Gemeinsamkeit, die diese Gruppierungen im Regelfall aufweisen werden, ist eine negative, nämlich der Wunsch nach Ablösung der amtierenden Regierung. Eine derartige gemeinsame Zielsetzung allein rechtfertigt es aber nicht, diese Gruppierungen als die parlamentarische Opposition zu behandlen und an diese Konstruktion irgendwelche Rechtsfolgen zu knüpfen. Die Opposition als solche ist keine in sich geschlossene organisatorische Einheit, der bestimmte verfassungsrechtliche Befugnisse zugewiesen werden könnten15. Es ist außerdem nicht ersichtlich, was Opposition, abgehoben von Fraktionen, Gruppen oder Abgeordneten, in einer konkreten Situation rechtlich überhaupt sein soll. So hat denn auch der Sonderausschuß „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages die Anregungen der EnqueteKommission zu Recht nicht berücksichtigt und von dem Versuch, Opposition in der Landesverfassung zu definieren, Abstand genommen. Der Ausschuß begründete diese Entscheidung damit, „daß das freie Spiel der gegebenenfalls unterschiedlichen, nicht die Regierung tragenden politischen Kräfte nicht durch eine etwa aus der Verfassung ablesbare Verpflichtung eingeschränkt werden darf, eine „Koalition in der Opposition" mit einer programmatischen und personellen Alternative zur Regierungsmehrheit zu bilden"16.

Degenhart, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 59. 16

Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drucks. 12/620, S. 42 f; vgl. auch Bericht des nichtständigen Ausschusses der Bremischen Bürgerschaft „Reform der Landesverfassung", Drucks. 13/592, S. 12.

156

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

B. Opposition als „wesentlicher Bestandteil der Demokratie" Nach Art. 25 Abs. 3 Satz 1 BlnVerf, Art. 55 Abs. 2 Satz 1 BrdbVerf, Art. 23a Abs. 1 HmbVerf, Art. 40 Satz 1 SächsVerf, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 SchlHVerf und Art. 59 Abs. 1 VerfThür ist die Opposition „wesentlicher (grundlegender, notwendiger) Bestandteil der parlamentarischen (freiheitlichen) Demokratie". Diese Normierung wird auf eine Formulierung Ollenhauers17 zurückgeführt, die „inzwischen beinahe schon zum Gemeinplatz entwertet" worden ist 18 . Es fragt sich jedoch, ob diese Formulierungen, wie teilweise angenommen wird, tatsächlich einer Absicherung der Opposition als 19

„Verfassungsinstitution" dienen oder welcher Regelungsgehalt ihnen sonst zuzuschreiben ist. Kritisch hat sich Schachtschneider mit der entsprechenden Fassung des Art. 23a HmbVerf (Opposition als „wesentlicher Bestandteil der parlamentari20

sehen Demokratie") auseinandergesetzt . Nach seiner Auffassung gewinnt Art. 23a HmbVerf einen Regelungsgehalt „als prinzipielle Verfassungspflicht 21

zur parlamentarischen Opposition", er statuiere eine „Oppositionspflicht" . Ausgehend von der Prämisse, daß eine Opposition nur dann zum wesentlichen Bestandteil der parlamentarischen Demokratie erklärt werden könne, wenn das Parlament eine Opposition habe, meldet er verfassungsrechtliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Allparteienregierung und einer großen 22

Koalition an, wenn letztere mehr als drei Viertel der Abgeordneten umfaßt . Da wesentliche Minderheitsrechte der Hamburger Verfassung, unter anderem das Recht auf Aktenvorlage (Art. 32), die Einberufung eines Untersuchungsausschusses (Art. 25 Abs. 1 Satz 1), die Einsetzung von Enquete-Kommissionen (Art. 79a) oder die Möglichkeit, das Hamburger Verfassungsgericht anzurufen (Art. 65 Abs. 2 Nr. 1-3) von der Geltendmachung mindestens eines Viertels der Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft abhingen, gewinne dieses 17

Stenogr. Berichte, 2. Wahlperiode, 4. Sitzung vom 28. 10 1953, S. 36 (C); dazu H.-P. Schneider, Opposition S. 261. 18

H.-P. Schneider, Opposition S. 261.

Bernzen/Sohnke Art. 23a Rn 2; H.-P. Schneider, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 16. 20

Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), S. 173 ff. 21

Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), S. 173 (174); a.A.: Drexelius/Weber Bernzen/Sohnke Art. 23a Rn 4. 22

Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), S. 173 (174, 178).

Art. 23a Anm. 1;

Β. Opposition als „wesentlicher Bestandteil der Demokratie"

157

Quorum „interpretatorisches Gewicht fur den Oppositionsbegriff der Hambur23

ger Verfassung" . Erst diese Rechte garantierten die einer Opposition gemäßen Möglichkeiten, erst sie machten die Opposition zum wesentlichen Bestandteil der hamburgischen parlamentarischen Demokratie. Selbst wenn es sich tatbestandlich um Rechte von offenen Minderheiten handele, die nicht der Opposition vorbehalten sind, seien sie funktional spezifische Oppositionsrechte. Fraktionen oder Gruppen, die allein oder mit anderen Gruppierungen dieses Quorum nicht erreichten, hätten nicht die spezifische oppositionsgemäße Funktionsfähigkeit und demnach auch keinen Oppositionsstatus24. Der Opposition im Sinne der Hamburger Verfassung müßten daher zumindest ein Viertel der Abgeordneten angehören, woraus folge, daß Allparteienregierungen und Große Koalitionen, die mehr als drei Viertel der Abgeordneten umfassen, verboten seien25. Diese Ausführungen vermögen jedoch nicht vollständig zu überzeugen. Schachtschneider geht fehl in der Annahme, daß der Ausgestaltung der Parlamentsrechte zu entnehmen sei, daß die Opposition in Hamburg mindestens ein Viertel der Mitglieder der Bürgerschaft umfassen muß und Allparteienregierungen und Große Koalitionen, die mehr als drei Viertel der Abgeordneten umfaßen, verboten seien. Die Unzulässigkeit einer Gleichsetzung von Parlamentsrechten mit Minderheits- oder Oppositionsrechten und die Ungeeignetheit dieser Rechte, eine verfassungsrechtliche Basis zur Ausgestaltung einer speziellen Rechtsstellung der Opposition zu bilden, wurde bereits dargestellt . Darüber hinaus übersieht Schachtschneider, daß die von ihm genannten Rechte in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den der Opposition durch Art. 23a Abs. 2 HmbVerf zugewiesenen Aufgaben stehen. Es handelt sich dabei vielmehr um Rechte, die in erster Linie den Zweck haben, dem Parlament formelle Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung einzuräumen. Art. 23a Abs. 2 HmbVerf weist die Kontrolle aber ausweislich des 27

Wortlauts und der Entstehungsgeschichte gerade nicht der Opposition zu . Ein Rückschluß dergestalt, daß eine Opposition verfassungsrechtlich nicht existent ist, wenn sie die genannten Rechte aufgrund fehlender Abgeordne23

Ebd. S. 182.

24

Ebd. S. 181.

25

Ebd. S. 184,188.

26

Vgl. oben 3. Kapitel C.

27

Vgl. dazu näher die Ausführungen unten 4. Kapitel C I.

158

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

tenmandate nicht geltend machen kann, ist daher verfehlt. Eine verfassungsrechtlich vorgegebene Mindestgröße der Opposition ist aus den Parlamentsrechten daher ebensowenig abzuleiten, wie aus der Formulierung, daß die Opposition wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie ist. Allerdings ist Schachtschneider, wie auch anderen, sich in dieser Richtung 28

äußernden Autoren , darin zuzustimmen, daß die Formulierungen der oben genannten Landesverfassungen Auslegungen nahelegen, wonach eine Allparteienregierung verfassungswidrig ist. Bestünde eine solche, von allen im Parlament vertretenen Gruppierungen getragene Regierung, dann gäbe es keine Opposition, so daß der parlamentarischen Demokratie in diesem Fall ein „wesentlicher (grundlegender, notwendiger) Bestandteil" fehlen würde. Es entbehrt deshalb nicht einer gewissen Konsequenz, diese Verfassungsbestimmungen so auszulegen, daß zur Gewährleistung des Bestandes der parlamentarischen Demokratie mit allen ihren in der Verfassung festgelegten Bestandteilen, auch im Einzelfall stets eine Opposition - in welcher Größe auch immer - im Parlament existieren muß. Danach wäre eine Allparteienregierung unzulässig. Ein derartiger „Oppositionszwang" ist zwar weder der intendierte 29 Zweck dieser Verfassungsnormen , noch wird er von den Befürwortern dieser 30

Formulierungen als erforderlich oder wünschenswert angesehen . Jedoch räumen auch letztere ein, daß die entsprechenden Vorschriften zu Mißverständnissen zumindest Anlaß geben31. Darum wird vereinzelt argumentiert, daß diese Normen nicht die Opposition als Verfassungsinstitution festschreiben, sondern Opposition als Funktion, also z.B. auch die oppositionelle Tätigkeit innerhalb der Regierungsfraktionen, als wesentlicher Bestandteil der

Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 34; vgl. auch die Äußerungen in eben dieser Sitzung von Günther, S. 36 und Abg. Heuer, S. 25; Starck, ZG 7 (1992), S. 1 (14 f). 29

Vgl. Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 42 f; Bernzen/Sohnke Art. 23a Rn 4; Drexelüts/ Weber hü. 23a Anm. 1. 30

H.-P. Schneider, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 28 f, 90, der aus dieser Formulierung allerdings ableiten will, daß Allparteienregierungen jedenfalls die Ausnahme darstellen, die vom Normalfall des Wechselspiels zwischen Regierung und Opposition abweichen. 31

H.-P. Schneider, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 28 f, 90; Thaysen, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 19.

C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen

159

parlamentarischen Demokratie geschützt ist32. Eine derartige Relativierung widerspricht jedoch der Intention der Landesverfassungsgeber 33 und hätte darüber hinaus einen rein deklamatorischen Charakter. Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, daß die Aufnahme einer Vorschrift in die Verfassung, wonach die Opposition „wesentlicher (grundlegender, notwendiger) Bestandteil der parlamentarischen (freiheitlichen) Demokratie" ist, leicht zu nicht gewollten Mißverständnissen führen kann. Ein Regelungsgehalt, der über ein bloßes, rein programmatisches Bekenntnis zur Existenz einer Opposition hinausgeht, ist diesen Formulierungen ebenfalls nicht zu entnehmen34. Aus diesen Gründen sollte auf eine derartige Verfassungsnorm, auch im Hinblick auf eine Reform des Grundgesetzes, verzichtet werden.

C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen an die Opposition Neben der im vorherigen Abschnitt erörterten allgemeinen Umschreibung der Rolle der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem, enthalten Art. 23a Abs. 2 HmbVerf, Art. 12 Abs. 1 Satz 2 und 3 SchlHVerf sowie Art. 26 Abs. 2 VerfMV konkrete Aufgabenzuweisungen an die Opposition. Auch hier stellt sich die Frage, ob eine derartige Aufgabenzuweisung verfassungsrechtlich überhaupt möglich ist und den Funktionen von Opposition gerecht werden kann.

Thaysen, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.92, Stenogr. Bericht S. 19, 108. 33

Vgl. z.B. Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 42; Bernzen/Sohnke Art. 23a Rn 3. 34

Vgl. auch von Mutius, Sonderausschuß „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, 24. Sitzung vom 02.11.1989, S. 54, der es als „reine Feststellung" ansieht, daß die Opposition in der Schleswig-Holsteinischen als wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie bezeichnet wird. Schueler, DIE ZEIT Nr. 6 vom 05.02.1971 spricht in diesem Zusammenhang von „inhaltsarmer Deklamation".

160

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

I. Art. 23 a Abs. 2 HmbVerf Als älteste, noch geltende35 Landesverfassungsnorm, die die Opposition explizit erwähnt, beschreibt Art. 23a Abs. 2 HmbVerf die Aufgaben der Opposition wie folgt: Die Opposition „hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit". Die Entstehungsgeschichte36 und die konkrete Ausgestaltung dieser Norm zeigen jedoch, daß durch diese Aufgabenzuweisung weder der „neue Dualismus" mit der Opposition als „Verfassungsorgan" 37 rechtlich verankert werden sollte, noch sich Erkenntnisse fur einen Regelungsgehalt eines Oppositionsbegriffs gewinnen lassen, es sich hier vielmehr um einen machtpolitischen Kompromiß handelt, dem jegliche übergeordnete theoretische Konzeption fehlt 38. Um die Unabhängigkeit der Fraktionen vom Senat und die Fraktionsarbeit an sich zu stärken, wollte die Hamburger Regierungskoalition eine Inkompatibilitätsregelung bezüglich Senatorenamt und Bürgerschaftsmandat einführen. Für eine solche Änderung waren aber die Stimmen der Opposition erforderlich, die in dieser Regelung eine veraltete Vorstellung von der Gewaltenteilung erblickte und sie daher ablehnte. Man einigte sich schließlich, um dieses „falsche Parlamentsverständnis" abzugleichen, „beinahe in Schildbürgermanier" 39 darauf, daß auch die Opposition verfassungsrechtliche Erwähnungfinden sollte. Diese Normierung sollte deutlich machen, daß es nicht nur Parlament und Regierung, sondern auch eine Opposition mit eigenen Aufgaben gebe40.

Vgl. ansonsten bereits Art. 120 Abs. 3 BadVerf von 1947. Daß diese Norm von ihrer Entstehungsgeschichte her nicht unbedingt den „bahnbrechenden Versuch" unternahm, der Stellung der Opposition im parlamentarischen Staat gerecht zu werden, sondern in erster Linie aufgrund der Weimarer Erfahrungen dazu diente, den demokratischen Staat vor der „legalen Machtergreifung" totalitärer Parteien zu schützen und die Opposition an die Verfassung zu binden, weist H.-P. Schneider, Opposition S. 182 ff nach. 36

Dazu ausfuhrlich H.-P. Schneider, Opposition S. 261 ff. 37

Schachtschneider, 1971, S. 7.

Der Staat 28 (1989), S. 173 (174); Schueler, DIE ZEIT Nr. 6 vom 5.2.

38

Busse/Hartmann, ZfParl 2 (1971), S. 200; H.-P. Schneider, Opposition S. 266; s.a. Drexelius/ Weber Art. 23a Anm. 1. 39

So H.-P. Schneider, Opposition S. 262. 0

Vgl. die Nachweise bei H.-P. Schneider, Opposition S. 262 ff.

C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen

161

Die konkrete Ausgestaltung des Art. 23a Abs. 2 HmbVerf zeigt jedoch, daß diese, an sich auf völlig unterschiedlichen theoretischen Vorstellungen basierenden Normierungen - strikte personelle Trennung zwischen Regierung und Parlament einerseits, Statuierung des „neuen Dualismus" andererseits - doch nicht so diametral entgegengesetzt auseinander liegen, wie es zunächst den 41

Anschein hat . Von der „klassischen Funktionentrias" der Opposition - Kritik, Kontrolle, Alternativenbildung - schlägt sich keine dieser Funktionen in Art. 23a Abs. 2 HmbVerf vollkommen nieder. Während eine Kontrollaufgabe der Opposition gar nicht zugewiesen wurde, weil die Regierungsfraktionen der Ansicht waren, daß Kontrolle nach wie vor Aufgabe der gesamten Bürgerschaft einschließlich der Mehrheit sei, beschränkt sich die Inhaltsbestimmung der Kritikfunktion auf „die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten." Eine, zumindest in der praktischen Politik naheliegende Befugnis, nicht nur das Regierungsprogramm, sondern auch den Senat an sich und dessen konkrete Politik zu kritisieren, findet keine ausdrückliche Erwähnung, denn auch hier waren die Mehrheitsfraktionen der Ansicht, daß eine derartige Kritik ebenso ihre Sache sei. Des weiteren stellt die Opposition nach Art. 23a Abs. 2 Satz 2 HmbVerf ausdrücklich nur „die politische Alternative zur Regierungsmehrheit", nicht aber zur Regierung selbst dar. Art. 23a Abs. 2 HambVerf erwähnt damit Befugnisse, die der Opposition von den Vertretern des „neuen Dualismus" zugewiesen werden42, nicht. Die Vorschrift bleibt sogar hinter dem zurück, was der Opposition nach bisher geltendem Verfassungsrecht zugestanden wird und birgt somit die Gefahr einer restriktiven Auslegung in sich, die die Handlungsmöglichkeiten der Opposition einschränken könnte. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, daß Art. 23a Abs. 2 HmbVerf eine Bipolarität zwischen Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen und Opposition auf der anderen Seite verfassungsrechtlich nicht statuiert, die Aussage, „daß der verfassungsändernde Gesetzgeber die Verfassung Hamburgs auf den neuen Dualismus abstimmen wollte" und diesen zum „Verfassungsprinzip" erhob43, somit nicht zutrifft. Die These vom „neuen Dualismus" geht maßgeblich davon aus, daß die Opposition die Funktionen, insbesondere die Kontrollaufgabe des Parlaments gegenüber der Regierung übernommen habe,

Vgl. zum folgenden die Nachweise bei H.-P. Schneider, Hartmann, ZfParl 2 (1971) S. 200 f.

Opposition S. 262 ff und Busse/

42

Vgl. etwa H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 19. 43

Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), S. 173 (177 f). 11 Haberland

162

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

da die Regierungsmehrheit wegen der engen Verbindimg zur Regierung dazu nicht mehr in der Lage sei44. Den einzigen Bezug, den Art. 23 Abs. 2 HmbVerf jedoch zwischen Regierung und Opposition herstellt, ist die Aufgabe der Opposition, das Regierungsprogramm zu kritisieren, während eine Kontrollkompetenz überhaupt nicht erwähnt wird. Art. 23a Abs. 2 HambVerf hält damit an der überkommenen Konzeption fest, daß Kritik und Kontrolle weiterhin Aufgabe des Gesamtparlaments bleiben, eine diesbezügliche Spaltung in Regierungsmehrheit und Opposition, zumindest auf Verfassungsebene also nicht besteht. Art. 23a Abs. 2 HmbVerf normiert daher keine verfassungsrechtliche Beziehung oder gar ein Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition im Sinne des „neuen Dualismus". Er läßt vielmehr die Stellung des Senats als selbständigem Organ, das der gesamten Bürgerschaft gegenübersteht, völlig unberührt und bezieht sich in erster Linie auf die parla45

mentsinterne Stellung der Opposition gegenüber der Regierungsmehrheit . Von einer normativ verankerten Zersplitterung des Parlaments durch Art. 23a HmbVerf 46 kann demnach nicht die Rede sein. Da Kritik und Kontrolle der Regierung und ihrer Tätigkeiten nach wie vor als Aufgaben der gesamten 47

Bürgerschaft, einschließlich der Regierungsmehrheit angesehen werden , steht auch nach der Parlamentsreform die Bürgerschaft dem Senat grundsätzlich als einheitliches Organ gegenüber. Somit ist festzustellen, daß sich dem Art. 23a Abs. 2 HmbVerf keine Rechtsfolgen entnehmen lassen, die auf eine besondere verfassungsrechtliche Stellung der Opposition hinweisen. Dieser Vorschrift ist daher keinerlei ei48

genständige Regelungswirkung zuzuschreiben , so daß ihre Relevanz für die Opposition zweifelhaft bleibt49.

Vgl. oben 3. Kapitel vor A. 45

So auch H.-P. Schneider, Opposition S. 266. 46

So Schachtschneider, Der Staat 28 (1989), S. 173 (193 fi).

47

Vgl. dazu die Entstehungsgeschichte bei H.-P. Schneider, Opposition S. 261 ff; s.a. Röper, ZfParl 13 (1982), S. 304 (312). 48

Dazu sehr pointiert Achterberg, DVB1 1974, S. 693 (704): Der Regelungsgehalt des Art. 23a HmbVerf „geht nicht über den des Art. 125 Abs. 1 Satz 1 BayVerf („Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes") hinaus." Worin die Regelung dieser Norm liegen soll, „ist schwer erkennbar; vielmehr stellt sich die Frage, ob mit einer solchen Deklamation in Gesetzesform die Grenze zum Nichtgesetz nicht bereits überschritten ist." 49

Scheuner, Kontrolle S. 60 f; Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 3 b (S. 1041).

C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen

163

IL Art. 12 Abs. 1 SchlHVerf und Art. 26 Abs. 2 VerfMV Noch über Art. 23a HmbVerf hinausgehende Aufgabenzuweisungen an die Opposition enthalten Art. 12 Abs. 1 SchlHVerf und Art. 26 Abs. 2 VerfMV. Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 und 3 SchlHVerf hat die Opposition „die Aufgabe, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren. Sie steht den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber." In Art. 26 Abs. 2 VerfMV heißt es: Die Opposition „hat insbesondere die Aufgabe, eigene Programme zu entwickeln und Initiativen für die Kontrolle von Landesregierung und Landesverwaltung zu ergreifen sowie Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen kritisch zu bewerten." Von Art. 23a Abs. 2 HmbVerf unterscheiden sich diese beiden Vorschriften vor allem in zwei Punkten. Die Opposition ist nach der Schleswig-Holsteinischen Verfassung und der Verfassimg MecklenburgVorpommerns nicht nur befugt, das Regierungsprogramm, sondern auch die Regierungsentscheidungen zu kritisieren. Desweiteren fallt ihr die Aufgabe zu, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen, bzw. Landesregierung und Landesverwaltung zu kontrollieren. Es fragt sich somit, ob hier besondere Aufgaben statuiert werden, die ausschließlich der Opposition als einem Teilbereich des Parlaments zufallen und daraus eine eigenständige verfassungsrechtliche Stellung der Opposition abgeleitet werden kann. Die Möglichkeit aller Abgeordneten, einschließlich der Parlamentsmitglieder, die oppositionellen Gruppierungen angehören, die Exekutive, insbesondere die Landesregierung zu kritisieren, ergibt sich bereits unmittelbar aus dem verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten, der grundsätzlich auch die freie Redebefugnis umfaßt 50. Die genannten Verfassungsnormen begründen daher kein originäres Recht der Opposition zu kritisieren, sondern haben allenfalls Klarstellungsfunktion, indem die Kritik als Aufgabe der Opposition besonders betont wird. Allerdings besteht auch hier wieder die Gefahr, oppositionelles Handeln zu beschränken, wenn man diese Vorschriften so auslegt, daß von verfassungswegen allein der Opposition eine Kritikfunktion zusteht und sie die Regierung stets kritisieren muß. Mit Rücksicht auf den Abgeordnetenstatus (vgl. Art. 11 Abs. 1 SchlHVerf, Art. 22 Abs. 1 und 2 VerfMV) ist diesen Normen jedoch weder zu entnehmen, daß nicht auch Mitglieder der die Regierung tragenden Fraktionen Kritik an Regierungsprogramm und Regie50

Besch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 33 Rn 5 f; H. H. Klein, HdbStR I I § 41 Rn 31; Hölscheidt, DÖV 1993, S. 593 (595).

164

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

rungsentscheidungen bzw. Landesregierung und Landesverwaltung üben dürften noch daß es der Opposition untersagt wäre, die Tätigkeit der Exekutive zu befürworten. An dieser Darstellung zeigt sich, daß die Betonung einer Kritikaufgabe der Opposition überflüssig ist und zu Mißverständnissen Anlaß geben kann. Eine bisher nur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern vorgenommene Aufgabenzuweisung an die Opposition, ist die der Kontrolle der Exekutive. Hierin könnte ein verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt an den „neuen Dualismus" zu sehen sein, der wesentlich darauf beruht, daß die Kontrolle der Regierung durch die Opposition wahrgenommen wird. Trotz des scheinbar eindeutigen Wortlauts der entsprechenden Verfassungsnormen, bestehen an der Annahme, daß ausschließlich die Opposition zur parlamentarischen Kontrolle der Exekutive befugt sei, erheblicher Bedenken. Abweichend zu anderen Landesverfassungen bestimmen Art. 10 Abs. 1 Satz 3 SchlHVerf und Art. 20 Abs. 1 Satz 3 VerfMV ausdrücklich, daß der Landtag die vollziehende Gewalt kontrolliert. Es wird in beiden Verfassungen somit explizit normiert, daß die Kontrolle der Exekutive nach wie vor Aufgabe des gesamten Landtages, einschließlich der die Regierung tragenden Teile des Parlaments, ist. Aus dem Bericht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages wird sogar deutlich, daß die verfassungsrechtlich ungewöhnliche ausdrückliche Erwähnung der Kontrolle als Funktion des Parlaments auch deshalb erfolgte, weil nicht dem Mißverständnis, daß parlamentarische Kontrolle nur durch die Opposition erfolge, Vorschub geleistet werden sollte51. Weiterhin sieht die EnqueteKommission die Kontrollfunktion des Landtages als umfassend an, d.h. sie beinhaltet danach „sowohl jene Kontrolle, welche die im Landtag entscheidende Mehrheit ausübt, als auch die (nach näherer Ausformung in Art. 1052 Landesverfassung) vornehmlich von der Opposition ausgeübte öffentlichkritische Kontrolle" 53. Für die Annahme, daß nicht nur die Opposition die Kontrolle über die Regierung ausüben soll, spricht außerdem, daß sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Mecklenburg-Vorpommern solche Rechte, die

Bericht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, Drucks. 12/180, S. 27. 52

Der Art. 10 des Entwurfes der Enquete-Kommission entspricht im wesentlichen dem jetzigen Art. 12 SchlHVerf, vgl. Bericht der Enquete- Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Dnicks. 12/180, S. 33. 53

Ebd. S. 30; vgl. auch Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 5.

C. Landesverfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen

165

als typische „Kontrollrechte" des Parlaments gegenüber der Regierung angesehen werden - z.B. die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen , das Zitierrecht , Frage-, Auskunfts- und Aktenvorlagerecht - nicht als Rechte der Opposition, sondern so ausgestaltet sind, daß sie von jeder parlamentarischen Gruppierung, die das entsprechende Quorum erreicht, wahrgenommen werden können. Es wird demnach nicht davon ausgegangen, daß die Zuweisung einer Kontrollfunktion an die Opposition die Mehrheit des Parlaments von dieser Aufgabe entbindet. Die Hervorhebung der Kontrollfunktion der Opposition bedeutet demnach „keine Zuweisung der Kontrollaufgabe des Landtages zur ausschließlichen Wahrnehmung durch die Opposition. Kritik und Kontrolle sind gleichermaßen Aufgaben der im übrigen die Regierung tragenden Mehrheit"57. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 SchlHVerf und Art. 26 Abs. 2 VerfMV wiederholen somit lediglich eine bereits bestehende Rechtslage, ohne eine darüber hinausgehende eigenständige Regelung zu treffen. Es fragt sich dann aber, warum in den genannten Artikeln ausdrücklich die Kontrollaufgabe der Opposition herausgestellt wird, wenn bereits normiert ist, daß der gesamte Landtag die vollziehende Gewalt kontrolliert. Begründet wird die doppelte Zuweisung der Kontrolle - einerseits die Betonung, daß der Landtag insgesamt die Exekutive kontrolliert, andererseits die Zuweisung der Kontrollfunktion an die Opposition - damit, daß sich Regierungskontrolle durch die Parlamentsmehrheit und durch die Opposition unterscheiden. Während die Opposition die Regierung mit dem Ziel kontrolliere, kritikwürdiges Regierungs- und Verwaltungshandeln öffentlich anzuprangern, um die Regierung abzulösen, sei es die Intention der (nichtöffentlichen) Mehrheitskontrolle die Regierung zu stärken, ihr öffentliches Ansehen zu verbessern und die Wirkungen der Regierungspolitik zu effektivieren. Unter dem Aspekt des periodischen Machtwechsels als „Lebenselement" der Demokratie habe jedoch nur die Kontrolle durch die Opposition eine funktionale, zweckfördernde

54

Art. 18 Abs. 1 SchlHVerf, Art. 34 Abs. 1 VerfMV.

55

Art. 21 Abs. 1 SchlHVerf, Art. 38 Abs. 1 VerfMV.

6

Art. 23 SchlHVerf, Ait. 40 VerfMV.

57 Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 43.

166

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

Wirkung, so daß es notwendig sei, die Kontrolle durch die Opposition auch verfassungsrechtlich hervorzuheben 58. Diese Begründimg vermag jedoch nicht zu überzeugen. Unabhängig von der Frage, ob man die Kontrolle überhaupt als eigenständige Parlamentsfunktion 59

ansehen kann , widerspricht es einem dynamischen Parlamentsverständnis, Kontrolle in öffentliche Kontrolle der Opposition zur Erreichung eines Machtwechsels und nichtöffentliche, die Regierung stützende Mehrheitskontrolle aufzuspalten. Eine solche Differenzierung wird weder der Rolle der Opposition, noch der Rolle der Regierungsmehrheit gerecht. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit eine so einschränkend verstandene Oppositionskontrolle über eine reine Kritikfunktion hinausgeht, so daß es schon unter diesem Aspekt überflüssig wäre, sie ausdrücklich zu erwähnen. Weiterhin wird öffentliche Kontrolle im genannten Sinn ebenso von der Regierungsmehrheit ausgeübt, wie nichtöffentliche Kontrolle (beispielsweise in den Parlamentsausschüssen) durch die Opposition. Eine trennscharfe Zuordnung verschiedener Kontrollaufgaben zur Opposition einerseits und zur Regierungsmehrheit andererseits ist, abgesehen von der Fragwürdigkeit einer solchen Differenzierung überhaupt, somit nicht möglich. Selbst wenn man der Auffassung ist, daß Kontrolle in der genannten Form aufgesplittet und zugeordnet werden kann, würde es für die Opposition eine unangemessene Einschränkung ihres Betätigungsfeldes bedeuten, sie allein auf die öffentliche Kontrolle zur Erreichung eines Machtwechsels festzulegen. Es ist daher nicht ersichtlich, warum die Kontrollaufgabe der Opposition einer ausdrücklichen Erwähnung bedarf. Die Risiken, daß durch eine derartige Normierung die Opposition auf eine bestimmte Rolle festgelegt wird, sprechen vielmehr dagegen, Kontrolle als Aufgabe der Opposition verfassungsrechtlich ausdrücklich zu normieren. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß spezifische verfassungsrechtliche Aufgabenzuweisungen an die Opposition systemfremd sind und daher nicht vorgenommen werden sollten. Derartigen Normen ist allenfalls eine partielle Klarstellungsfunktion zuzubilligen. Ihre Nachteile, insbesondere im Hinblick auf FeMinterpretationsmöglichkeiten, sind jedoch erheblich.

H.-P. Schneider, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 16, 90 f; Bericht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages, Drucks. 12/180, S. 35. 59

Mit ausführlicher Begründung verneinend Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 122 ff. Auch Bagehot, The English Constitution, p. 115 ff erwähnt in seinem klassisch gewordenen Katalog der Parlamentsfunktionen die Kontrolle nicht, vgl. dazu auch Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 123, Fn 25 und Scheuner, Kontrolle S. 23, Fn 34.

D. Das Recht der Opposition auf Chancengleichheit

167

D. Das Recht der Opposition auf Chancengleichheit Alle seit 1990 in die Landesverfassungen aufgenommenen Oppositionsbestimmungen statuieren ein Recht der Opposition auf (politische) Chancengleichheit60. Dieses Recht soll gewährleisten, daß die Opposition nicht durch die regelmäßig entscheidende Mehrheit benachteiligt und an der effektiven Wahrnehmung ihrer Funktionen gehindert wird 61 . Weiterhin ist es Ziel dieser Normierungen Vorteile abzugleichen, die die Regierungsmehrheit aufgrund ihrer sachlichen und personellen Nähe zur Regierung genießt62. Demgemäß kommt als Bezugsobjekt des oppositionellen Chancengleichheitsrechts in erster Linie die Regierungsmehrheit in Betracht. Ein Recht auf Chancengleichheit zwischen der Opposition und den die Regierung stützenden Teilen des Parlaments ergibt sich jedoch - wie oben anhand des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dargestellt63 - bereits aus dem Abgeordnetenstatus. Dieser enthält ein Recht auf Chancengleichheit der Abgeordneten, das sich auch auf Gruppierungen bezieht, zu denen sich Abgeordnete zusammenschließen64. Da alle genannten Landesverfassungen eine dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entprechende Regelung aufweisen 65, ist hieraus bereits ein Recht auf Chancengleichheit zwischen Opposition und Regierungsmehrheit abzuleiten, so daß eine ausdrückliche Normierung dieses Rechts keine über diese Vorschriften hinausgehende rechtliche Substanz besitzt. Die entsprechenden Normen wiederholen also lediglich die bereits bestehende Rechtslage, so daß ihnen auch in diesem Zusammenhang nur eine

60

Vgl. Art. 25 Abs. 3 BlnVerf, Art. 55 Abs. 1 Satz 2 BrdbVerf, Art. 78 Abs. 2 BremVerf, Art. 26 Abs. 3 VerfMV, Art. 19 Abs. 2 Satz 1 NdsVerf; Art. 40 Satz 2 SächsVerf, Art. 48 Abs. 2 VerfSA; Art. 12 Abs. 1 Satz 4 SchlHVerf, Art. 59 Abs. 2 VerfThür. 61 Vgl. Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 43 62

H.-P. Schneider, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 16. Genannt werden an dieser Stelle der Rückgriff der Regierungsmehrheit auf den Sachverstand der Ministerialbürokratie, Vorteile im Bereich der Informations·, Material- und Personalressourcen sowie im Wahlkampf. 63

Vgl. oben 2. Kapitel Β 12 b).

64

Vgl. oben 2. Kapitel Β 12 b).

Vgl Art. 25 Abs. 4 BlnVerf, Art. 56 Abs. 1 BrdbVerf, Art. 83 Abs. 1 BremVerf; Art. 22 VerfMV, Art. 12 NdsVerf, Art. 39 Abs. 3 SächsVerf, Art. 41 Abs. 2 VerfSA, Ait. 11 Abs. 1 SchlHVerf, Art. 53 VerfThür.

168

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

Klarstellungsfunktion zugestanden werden kann66. Entsprechendes gilt für den in Art. 78 Abs. 2 BremVerf, Art. 19 Abs. 2 Satz 2 NdsVerf, Art. 48 VerfSA und Art. 59 Abs. 2 VerfThür normierten Anspruch auf die zur Erfüllung der Oppositionsaufgaben erforderliche Ausstattung67. Eine eigenständige Regelungswirkung könnte diesen Oppositionsvorschriften aber dann zukommen, wenn sie, ganz im Sinne des „neuen Dualismus", ein Recht auf Chancengleichheit zwischen Opposition und Regierung normieren würden. So geht H.-P. Schneider davon aus, daß ein „Grundrecht" der Opposition auf „Chancengleichheit mit der Regierung" besteht68, welches für die „Alternanzdemokratie" unverzichtbar sei69. Dieses Prinzip verlange sowohl bei Wahlen, als auch während einer Legislaturperiode gleiche Bedingungen in der öffentlichen, namentlich parlamentarischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Regierungsmehrheit einerseits und Oppositionsfraktionen andererseits. Die Skala der Gleichheitsanforderungen reiche dabei von der formalen Rechtsgleichheit über die politische Waffengleichheit bis hin zu vergleichbaren finanziellen Möglichkeiten für die Darstellung der ei70

genen politischen Ziele und der Kritik des Gegners . H.-P. Schneider vermischt in dieser Argumentation jedoch die Regierung mit den sie tragenden Teilen des Parlaments, eine Konzeption, von der erkennbar weder das Grundgesetz noch die Landesverfassungen ausgehen. Eine allgemeine Chancengleichheit zwischen der Regierung als staatlichem Exekutivorgan und der Opposition als Teil des Parlaments kann es schon deshalb nicht geben, weil es an einer Vergleichbarkeit der Aufgaben fehlt, die eine derartige Chancengleichheit rechtfertigen würde. Außerdem wird den von H.-P. Schneider genannten Gleichheitsanforderungen bereits weitgehend

Günther, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 45. Ähnlich auch Rux, ZfParl 1992, S. 291 (306), der sich gegen die Festschreibung der Chancengleichheit der Opposition mit der Begründung wendet, daß „die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (dazu) führte..., daß die Oppositionsparteien gegen Benachteiligungen geschützt werden. Zusammen mit den erweiterten Abgeordnetenrechten reicht das aus, um eine wirksame Kontrolle zu sichern, ohne daß besondere Oppositionsrechte nochmals festgeschrieben werden müßten." 67

In diesem Sinne auch der Verfassungsentwurf und Abschlußbericht der Verfassungskommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Drucks. 1/3100, S. 117 f. Außerdem stellt sich hier wiederum die Frage, was „besondere Aufgaben" der Opposition" in diesem Sinne sein sollen, vgl. dazu bereits oben 4. Kapitel C. 68

H.-P. Schneider, Opposition S. 218 f; vgl. auch Gehrig, Parlament S. 272 ff. 69

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 28. 70

H.-P. Schneider, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 38 Rn 28.

E. Die Verankerung des Oppositionsführers

169

durch die im Abgeordnetenstatus enthaltene Chancengleichheit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition genüge getan, zumal das Bundesverfassungsgericht der Regierung für die Öffentlichkeitsarbeit ausdrücklich Zurückhaltung auferlegte, indem es ihr untersagte, als Staatsorgan in parteiergreifender Weise zugunsten oder zulasten einzelner politischer Parteien in Wahlkämpfe einzugreifen 71. Es ist wegen der unterschiedlichen Aufgaben von Parlament und Regierung daher als ausreichend anzusehen, wenn eine Chancengleichheit zwischen Regierungsmehrheit und Opposition derart gewährleistet ist, daß letztere ihre politischen Ziele und die Kritik am Gegner in ausreichendem Maße vor allem im Parlament äußern und ihren Funktionen nachkommen kann. Diese Gewährleistung ergibt sich aber bereits aus der Normierung des Abgeordnetenstatus, so daß sich eine explizite Statuierung eines Rechts der Opposition auf Chancengleichheit als überflüssig erweist.

E. Die landesverfassungsrechtliche Verankerung des Oppositionsführers Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf verankert als einzige bestehende Landesverfassungsnorm das Amt des Oppositionsführers. Nach dieser Vorschrift ist „die oder der Vorsitzende der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion... die Oppositionsführerin oder der Oppositionsführer." Ausweislich der Entstehungsgeschichte dieser Norm soll der Oppositionsführer dabei vor allem die personelle Alternative zum Ministerpräsidenten darstellen, um so den Anspruch der Opposition zu untermauern, politische Alternative zur Regierung 72

zu sein . Nach Ansicht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des Schleswig-Holsteinischen Landtages dient die Aufnahme des Oppositionsführers in die Landesverfassung weiterhin als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für besondere Rechte des Oppositionsführers, die in einem gesonderten „Oppositionsführergesetz" oder im Abgeordnetengesetz zu normieren wären73.

71

BVerfGE 44, S. 125 (140 ff).

72

Bericht des Sonderausschusses „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, Drucks. 12/620, S. 43. 73

Bericht der Enquete-Kommission „Verfassungs- und Parlamentsreform" des SchleswigHolsteinischen Landtages, S. 35. Der Sonde rau sschuß „Verfassungs- und Parlamentsreform" des

170

4. Kap. Landesverfassgsrechtliche Oppositionsnormen

Die verfassungsrechtliche Erwähnung des Oppositionsführers stößt jedoch auf erhebliche rechtliche Bedenken. Geht man von dem in deutschen Parlamenten zur Zeit überwiegenden Fall aus, daß dort mehr als eine Gruppierung die Regierung nicht trägt, so liegt der wesentliche Mangel des Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf darin, daß die regelmäßig vorhandenen heterogenen Strukturen der aus verschiedenen Gruppierungen bestehenden Opposition, bei der verfassungsrechtlichen Verankerung des Oppositionsführers überhaupt nicht berücksichtigt werden. Wenn Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf nur dem Vorsitzenden der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion als Oppositionsführer eine besondere Stellung einräumt74, so fragt sich, welche Wirkung dies für andere Oppositionsfraktionen, -gruppen und- abgeordnete hat. Müssen sich diese die Handlungen des Oppositionsführers zurechnen lassen? Kann er im Namen aller Oppositionsgruppierungen rechtlich verbindlich tätig werden? Ist es die Aufgabe des Oppositionsführers, die gesamte Opposition im Sinne einer „Koalition in der Opposition" zu einem einheitlichen Oppositionskonzept zusammenzuführen, um so die in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 und 3 SchlHVerf normierten Aufgaben der Opposition möglichst effektiv wahrnehmen zu können, insbesondere eine breite Alternative zur Regierungspolitik zu bilden? Eine solche Stellung des Oppositionsführers würde jedoch eine homogene Opposition voraussetzen. Die Annahme einer homogenen Opposition als der Alternative zur Regierung, die ein einheitliches Gegenkonzept zur Regierungspolitik entwirft und mit dem Oppositionsführer einen allseits akzeptierten Gegenkandidaten zum Regierungschef bereit hält, wäre allenfalls in einem (idealisierten) Zweiparteiensystem britischen Zuschnitts denkbar. Es entspricht aber nicht der Realität deutscher Parlamente. Dort ist die politische Nähe der jeweils einzelnen Oppositionsgruppierungen zur Regierungsmehrheit häufig eher gegeben, als zu den anderen Oppositionsfraktionen. Eine verfassungsrechtliche Hervorhebung des Vorsitzenden der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion als Oppositionsführer ist daher schon aus diesen Gesichtspunkten bedenklich. Zudem wurde bei Herausstellung des Oppositionsführers als Alternative zum Ministerpräsidenten nicht bedacht, daß bei Wahlen, sowohl auf Landes- als auch, sofern man eine derartige Vor-

Schleswig-Holsteinschen Landtages, Drucks. 12/620, S. 43 hielt demgegenüber einen Gesetzesvorbehalt für die Ausgestaltung der Rechte des Oppositionsführers für nicht erforderlich. 74

Der Abg. Ollmann, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 27 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Konstatierung eines Mehrheitsrechts im Rahmen der Opposition".

171

E. Die Verankerung des Oppositionsführers

schrift ins Grundgesetz aufnehmen will 75 , auf Bundesebene, häufig nicht der Fraktionsvorsitzende der größten Oppositionsfraktion, sondern andere Personen - etwa der entsprechende Parteivorsitzende oder der Ministerpräsident eines Bundeslandes - gegen den Regierungschef antreten. Ein wie in Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf definierter Oppositionsführer stellt damit in längst nicht allen Fällen die tatsächliche Alternative zum Regierungschef dar. Problematisch ist die verfassungsrechtliche Verankerung des Oppositionsführers durch Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf weiterhin im Hinblick auf das sich auch für Oppositionsfraktionen aus dem Abgeordnetenstatus (vgl. Art. 11 76

Abs. 1 SchlHVerf) ergebende Recht auf Chancengleichheit . Insbesondere wenn, wie von der Enquete-Komission des Schleswig-Holsteinischen Landtages vorgeschlagen, an die Stellung als Oppositionsführer besondere Rechte geknüpft werden (wobei hier schon fraglich ist, welche Rechte dafür überhaupt in Betracht kommen), ist nicht ersichtlich, warum diese Rechte nicht auch für die Vorsitzenden anderer Fraktionen Anwendimg finden sollten. Das gilt nicht nur im Verhältnis zu den anderen Oppositionsfraktionen, denn auch die Regierung tragende Fraktionen dürfen im Parlament grundsätzlich nicht anders behandelt werden, als jene, die die Regierung nicht tragen77. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Oppositionsführers im Sinne des Art. 12 Abs. 2 SchlHVerf ist demnach, vor allem wegen der regelmäßig bestehenden Heterogenität der Oppositionsgruppierungen und möglicher Verstöße gegen das aus dem Abgeordnetenstatus hergeleitete Recht auf Chan78

cengleichheit, abzulehnen . Außerdem ist nicht ersichtlich, welchen Vorteil die verfassungsrechtliche Hervorhebung eines Oppositionsführers für die Opposition insgesamt in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht bringen würde.

So Thaysen, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 107. 76

Vgl. oben 4. Kapitel D, 2. Kapitel Β 12 b).

77

Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 9; vgl. auch oben 2. Kapitel Β 12. 78

In diesem Sinne auch die Enquete-Kommission „Parlamentsreform der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg", in dem von Hoffinann/Riem herausgegebenen Bericht S. 62.

172

4. Kap. Landesverfassungsrechtliche Oppositionsnormen

F. Ergebnis Aus der Darstellung in diesem Kapitel wird deutlich, daß den geltenden landesverfassungsrechtlichen Oppositionsbestimmungen allenfalls eine Klarstellungsfunktion zugebilligt werden kann, während sich ein eigenständiger Regelungsgehalt, der es rechtfertigen würde, Opposition als Rechtsbegriff in die Verfassung aufzunehmen, nicht ergibt. Selbst wenn man den Landesverfassungen zugesteht, daß sie - anders als das Grundgesetz als einer bisher überwiegend streng juristischen Verfassung - „volkskatechetischen Ehrgeiz" haben und „lehrhafte Sätze" enthalten79, sprechen die aufgezeigten Schwierigkeiten und Unklarheiten auch aus verfassungspolitischen Gründen gegen eine verfassungsrechtliche Normierung der Opposition. Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Stellung der Opposition ginge stets die Gefahr einher, daß die Opposition auf eine bestimmte, ihren vielfaltigen Funktionen nicht 80

gerecht werdende Rolle festgelegt wird . Dies kann einerseits, etwa durch die Zuweisung bestimmter Aufgaben, in Richtung auf eine „konstruktive" Opposition81, andererseits durch die (vielleicht ungewollte) Statuierung einer Verpflichtung zur Opposition, indem die Opposition als „wesentlicher Be82

standteil der parlamentarischen Demokratie" beschrieben wird , geschehen. Der Opposition muß es jedoch stets unbelassen bleiben, ob sie sich in einer konkreten Situation gegen Regierung und Regierungsmehrheit stellt oder mit ihr kooperiert. Die verfassungsrechtliche Erwähnung der Opposition kann darüber hinaus auch für die Stellung der Regierungsmehrheit zu ungewünschten Folgen führen. So offenbaren beispielsweise die Aufgabenzuweisungen der Art. 26 Abs. 2 VerfMV und Art. 12 Abs. 1 SchlHVerf ein Parlamentsverständnis, in dem die Rolle der Regierungsmehrheit weitgehend auf eine Unterstützung der Regierung reduziert wird 83 . Eine solche Anschauung verkürzt die Funktion der Regierungsmehrheit jedoch in ungerechtfertigter Weise und entwertet auch 79

So Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 8 f. 80

Degenhart, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 3. 81 . . . . Eine derartige Tendenz ist bei Thaysen, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 19, 109 f feststellbar. 82 83

Vgl. oben 4. Kapitel B. So Lippold, DÖV 1989, S. 663 (666).

173

. Ergebnis

die Position des Parlaments insgesamt, wenn bestimmte Funktionen der Volksvertretung in herausgestellter Weise im wesentlichen der Opposition, also nur einem Teil des Parlaments, zugeschrieben werden. Sowohl die Landesverfassungen als auch das Grundgesetz gehen jedoch nach wie vor von einer organschaftlichen Trennung zwischen Parlament und Regierung aus, ohne daß Opposition und Regierungsmehrheit unterschiedliche Zuordnungssubjekte von insgesamt dem Parlament zugewiesenen Kompetenzen sind . So 85

wäre insbesondere die Statuierung eines „Verfassungsorgans" Opposition nach der den bundesdeutschen Verfassungen zugrunde liegenden staatsorganisationsrechtlichen Konzeption als systemwidrig anzusehen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die verfassungsrechtliche Verankerung der Stellung der Opposition kaum zu einer Stärkung der parlamentarischen Minderheit führen wird. Die genannten Landesverfassungen wiederholen, soweit sie auf Rechte der Opposition eingehen, nur allgemein die ohnehin bestehende, auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigte Rechtslage. Will man die parlamentarischen Befugnisse der Minderheit stärken, so muß bei den Untergliederungen des Parlaments angesetzt werden, die Träger organspezifischer Rechte sein können, also bei den Fraktionen und Abgeordneten86. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß auch aus den landesverfassungsrechtlichen Oppositionsbestimmungen eine eigenständige Rechtsstellung der Opposition nicht abzuleiten ist. Weiterhin sprechen die aufgezeigten Probleme, die jene Normen aufwerfen, entschieden gegen eine verfassungsrechtliche Verankerung der Opposition. Mag die Einführung von Oppositionsbestimmungen auch eine verfassungspolitische Klarstellungsfunktion haben, von rechtlicher Relevanz ist sie nicht. Daher sollte auch bei einer Reform des Grundgesetzes von der Einfügung einer die Opposition betreffenden Vorschrift abgesehen werden87.

Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 132. 85

Diese Formulierung wählt Schachtschneider, auf Art. 23a HmbVerf.

Der Staat 28 (1989), S. 173 (174) im Hinblick

86

Degenhart, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 3, 60; ders., LKV 1993, S. 33 (37). 87

In der 4. öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht, im Ergebnis ebenso: Degenhart S. 3, 59; Isensee S. 8 f; Günther S. 7; Lorscheider S. 11 f. Die Gemeinsame Verfassungskommission hat auch davon abgesehen, die Aufnahme einer Oppositionsregelung ins Grundgesetz vorzuschlagen, vgl. dazu den Abschlußbericht, BT-Drucks. 12/6000, S. 89 f.

Fünftes Kapitel

Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen Nach den Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln scheinen die verfassungsrechtliche Stellung und die Bedeutung der Opposition in gewissem Maße von Widersprüchen gekennzeichnet zu sein. Während das Grundgesetz die Möglichkeit zur Bildimg und Ausübung von Opposition, wenn nicht voraussetzt oder gar fordert 1, so doch zumindest in Rechnung stellt und ihr aus politikwissenschaftlicher Sicht wichtige Funktionen zukommen2, findet die Opposition im Grundgesetz keine ausdrückliche Erwähnung. Auch konkludent ist eine spezifische Rechtsstellung der Opposition nicht ableitbar3. Selbst den Landesverfassungen, in denen die Opposition ausdrückliche Erwähnung findet, ist eine eigenständige Rechtsstellung der Opposition nicht zu entnehmen. Außerdem ist die rechtliche Relevanz dieser Vorschriften mehr als fraglich 4. Zusammenfassend ist daher festzustellen, daß das Verfassungsrecht die Bildung und Ausübung von Opposition ermöglicht und anerkennt, ihr aber keine eigenständige Rechtsstellung einräumt. Es fragt sich somit, ob in der Nichteinräumung einer spezifischen Rechtsstellung der Opposition nicht eine Diskrepanz zu den vom Grundgesetz geschaffenen Bedingungen aufweist, welche Entstehung und Tätigkeit einer Opposition in weitem Maße gewährleisten, ob das Verfassungsrecht hier also nicht hinter der verfassungstheoretischen und politikwissenschaftlichen Erkenntnis von der Notwendigkeit einer Opposition im parlamentarisch demokratischen Staat zurückbleibt. Etwas anders akzentuiert konstatieren einige

In diesem Sinne kann wohl BVerfGE 2, S. 143 (170 f) interpretiert werden, wonach es „nicht nur das Recht der Opposition (ist), außer ihren politischen auch verfassungsrechtliche Bedenken geltend zu machen, sondern im parlamentarisch-demokratischen Staat geradezu ihre Pflicht." 2

Vgl. oben 2. Kapitel A. 3

Vgl. oben 3. Kapitel. 4

Vgl. oben 4. Kapitel, insbesondere F.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

175

Autoren in diesem Zusammenhang auch ein Auseinanderfallen von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit 5. Gibt man sich mit einer derartigen, stark simplifizierten Sicht jedoch nicht zufrieden, so bedarf es der Feststellung, warum dem Grundgesetz, das ja ersichtlich den Bestand von Opposition in Rechnung stellt, eine eigene Rechtsstellung der Opposition nicht zu entnehmen ist. Insbesondere stellt sich die Frage, ob diese „Unvollständigkeit" der Verfassung nicht vielleicht sogar stillschweigend vorausgesetzt oder bewußt herbeigeführt wurde. Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, kurz zu verdeutlichen, welche Gegenstände Inhalt einer verfassungsrechtlichen Regelung sind und sein können, und aus welchen Gründen die Verfassung bestimmte Bereiche staatlicher Ordnung überhaupt nicht oder nur eingeschränkt einer Regelung unterzieht. Die Verfassung legt die Leitprinzipien fest, nach denen sich politische Einheit bilden soll und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen, sie bestimmt das grundlegende Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern sowie die Grundsätze gesellschaftlichen Lebens, sie regelt schließlich Verfahren zur Konfliktbewältigung innerhalb des Gemeinwesens und ordnet Organisation und Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens6. Die von der Verfassung geregelten Materien sollen durch ihre Normierung, die meist mit einer erschwerten Abänderbarkeit verbunden ist7, dem ständigen politischen Kampf entzogen werden, um so ordnend und stabilisierend auf das Gemeinwesen einzuwirken8. Der Verfassung kommt somit unter anderem eine Stabilisierungs- und Ordnungsfunktion zu, die es notwendig macht, in Unverbindliche Festlegungen zu treffen. Da die Verfassung aber eine Grundordnung ist, die Grundfragen regelt, kann es nicht ihre Aufgabe sein, eine umfassende Ordnung in dem Sinne zu schaffen, daß sie alle rechtlich relevanten Fragen innerhalb einer Gemeinschaft verbindlich regelt. Sie ist auf das Grundsätzliche gerichtet, muß sich daher auf Wesentliches beschränken und ist demzufolge weder vollständig noch vollkommen. Zwar gibt es Materien, die die Verfassung detailliert bis in Einzelheiten normiert. Weite Bereiche des

5 Gehrig, Parlament, S. 251 ff, 272, 308; Leibholz, Die Kontrollfunktion des Parlaments S. 57 (62 ff); ähnlich wohl auch Scheuner, DÖV 1974, S. 433 (437); Brunner, Kontrolle in Deutschland S. 140 f; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip S. 308.

6

Vgl. Hesse, Grundzüge Rn 17; Stern, Staatsrecht I § 3 I I 4 (S. 78). 7

Vgl. Art. 79 Abs. 2 und 3 GG.

8

Hesse, Grundzüge Rn 25 ff; rfers.,HVerfR S. 19.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

staatlich-politischen Lebens regelt die Verfassimg jedoch nur in Grundzügen oder überhaupt nicht. Verdeutlicht man sich weiterhin, daß eine Verfassung der Idee nach grundsätzlich auf die Schaffung einer dauerhaften Ordnung hin angelegt, also nicht 9

nur gegenwartsorientiert, sondern auch auf die Zukunft gerichtet ist, sie im historischen Prozeß ihrer Entstehung kommende Entwicklungen aber nicht umfassend voraussehen kann, so ergibt sich, daß neben der erforderlichen Starrheit und Stabilität auch eine relative Offenheit und Weite der Verfassung notwendig ist10. Nur durch Beweglichkeit und Flexibilität kann sie dem geschichtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Wandel der Gemeinschaft und der Differenziertheit der Lebensverhältnisse gerecht werden und als Konsens der Gegenwart auch für die Zukunft ihre normative Kraft erhalten, ohne stets geändert werden zu müssen. Gerade ein ständiger Zwang zur Änderung könnte der Anerkennung und dem Ansehen der Verfassung schaden und somit ihrer Stabilisierungsfunktion entgegenlaufen. Dem Prinzip der Dauerhaftigkeit kann die Verfassung damit nur durch ein gewisses Maß an Elastizität gerecht werden, „denn die Frage einer Verfassungsänderung entsteht erst dort, wo nicht bereits die Weite und Offenheit es ermöglicht, einer Problemlage gerecht zu werden. Je enger und detaillierter die sachlichen Normierungen der Verfassung sind, desto eher wird freilich dieser Punkt erreicht sein"11. Offenheit und Weite müssen ihre Grenzen jedoch dann finden, wenn die stabilisierende Wirkung der Verfassung durch zu flexible Regelungen praktisch aufgehoben wird. Die Verfassung muß daher auch regeln, was nicht offen bleiben soll, sie muß Aussagen über das Festgelegte und das Offene 12

treffen . Für eine Verfassung kommt es daher darauf an, ein angemessenes Verhältnis zwischen Starrheit und Beweglichkeit zu finden. „Eine zu starre Verfassung zerbricht an der Entwicklung des Staatswesens, eine zu flexible Verfassung verflüchtigt sich in der Beliebigkeit alltäglicher Politik" 13 . 9

Stern, Staatsrecht I § 3 III 4 a (S. 86 f); Grimm, AÖR 97 (1972), S. 489 (506).

10

Hesse, Grundzüge Rn 36 f; Stern, Staatsrecht I § 3 I I I 3 a (S. 83); Grimm, StL Sp. 636; Voßkuhle,, AöR 119 (1994), S. 35 (44). Vgl. auch BVerfGE 50, S. 290 (338). 11 Hesse, Gnindzüge Rn 38; Grimm, AÖR 97 (1972), S. 489 (507); Voßkuhle, AÖR 119 (1994), S. 35 (45). 12 Stern, Staatsrecht I § 3 I I I 3 a (S. 84); Hesse, Grundzüge Rn 24; Voßkuhle, AöR 119 (1994), S. 35 (44). 13 Kirchhof y HdbStR I § 19 Rn 33; vgl. auch Hesse, Grundzüge Rn 36 f sowie die Nachweise bei Bryde, Verfassungsentwicklung S. 19.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

177

Die Verfassung regelt daher vor allem Gegenstände, die fur die Gemeinschaftsordnung wichtig und der Feststellung bedürftig erscheinen sowie einer dauerhaften Regelung zugänglich sind, und setzt alles andere stillschweigend voraus oder überläßt es der Konkretisierung durch die übrige Rechtsordnung15. Die Offenheit der Verfassung kann also dadurch motiviert sein, daß es einer Regelung auf Verfassungsebene unter den genannten Aspekten nicht bedarf 16. Weiterhin kann der Grund, einen Lebensbereich rechtlicher Normierung nicht oder nur eingeschränkt zu unterwerfen, darin zu finden sein, daß die Verfassung bestimmte Fragen bewußt offen läßt, um einen Spielraum für freie Auseinandersetzung, Entscheidung und Gestaltung zu erhalten17. Schließlich kann die Offenheit der Verfassimg darauf beruhen, daß bestimmte Wirkungszusammenhänge und Erscheinungsformen wegen ihrer 18

Eigenart der rechtlichen Normierung nicht oder nur schwer zugänglich sind . Nach diesen Überlegungen zur verbindlichen Festlegung und normativen Offenheit einer Verfassung fragt sich, ob das Fehlen einer spezifischen Rechtsstellung der Opposition im Grundgesetz, trotz der Gewährleistung ihrer Bildung und Ausübung, nicht eine zumindest stillschweigend vorausgesetzte Offenheit des Grundgesetzes darstellt. Die Diskrepanz zwischen der eingeräumten Oppositionsmöglichkeit und der fehlenden Normierung eines eigenständigen Rechtsstatus könnte darauf beruhen, daß Opposition als Bestandteil eines dynamischen politischen Prozesses von einem vorwiegend statischen Verfassungsrecht nicht oder zumindest nicht vollständig erfaßt werden kann und daher einer detaillierten verfassungsrechtlichen Regelung nicht zugänglich ist. Es stellt sich somit die Frage, inwieweit politische Prozesse überhaupt (verfassungsrechtlich) normierbar sind. Das Staats- und insbesondere das Verfassungsrecht 19 ist unmittelbar politikbezogenes Recht. „Das Kriterium, das die Verfassung von der übrigen Rechtsordnung unterscheidet, ist immer wieder der politische Charakter ihres So benennt Stern, Staatsrecht I § 3 I I I 3 a (S. 84) als Bereiche, in denen sich die Verfassung festlegen muß die Staatsorgansation, die Staatsform, die Verteilung der Kompetenzen, die grundlegenden Strukturprinzipien sowie grundlegende Prinzipien des gesellschaftlichen Bereichs. 15

Hesse, Gnindzüge Rn 21; vgl. auch Böckenförde,

Die Eigenart des Staatsrechts S. 372.

16

Hesse, Grundzüge Rn 21. 17

Hesse, Grundzüge Rn 22. 18

Hesse, Grundzüge Rn 22. 19

Zur Diferenzierung von Staats- und Verfassungsrecht vgl. Böckenförde, Staatsrechts S. 318. 12 Haberland

Die Eigenart des

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen 20

Gegenstandes" . Das Verfassungsrecht regelt den Zugang zur politischen Entscheidungsgewalt und statuiert Kompetenzen, Formen und Zuständigkeiten politischer Organe, es bestimmt Verfahren und Regeln politischen Handelns und Entscheidens und legt diesbezügliche Grenzen fest, es ordnet und kanalisiert den Prozeß politischer Willensbildung und institutionalisiert politische Kräfte 21. Es ist das „Recht der politischen Machtverteilung und Machtbe22

schränkung" . Von daher haben seine Regelungen, mehr noch als die übrige Rechtsordnung, einen politikbezogenen Charakter und gestalten den politischen Prozeß. Die strukturelle Verschiedenheit von (Verfassungs-) Recht und Politik zeigt aber auch die Grenzen einer „Verrechtlichung" der Politik auf. Recht ist trotz grundsätzlicher Wandlungs- und Änderungsfahigkeit etwas überwiegend Statisches, das im Gemeinwesen eine Ordnungsfunktion erfüllt, um die Stabilität einer Gesellschaft zu gewährleisten oder herbeizuführen und ihre Grundwerte zu sichern. Es konserviert als beharrendes Moment in gewissem Maße die bestehende Ordnung, auch wenn es selbst geschichtlichem Wandel unterliegt23. Politik hat demgegenüber vorwiegend dynamischen Charakter. Sie „ist stets Aktion und Reaktion, zeigt also Kräfte in Bewegimg zur Erreichung und Erhaltung von Macht, gelegentlich um ihrer selbst willen, in der Regel aber zur Durchsetzung bestimmter Ziele" 24 . Das dynamische Element in der Politik ergibt sich aus der Notwendigkeit, daß Politik ständig neu entstehende Probleme des Gemeinwesens lösen muß, was eine rasche Anpassung an die häufig wechselnden, nicht im einzelnen vorhersehbaren Situationen und Konstellationen erforderlich macht.25 Dadurch ist es in weitem Maße nicht möglich, politisches Handeln in einer vorausregelnden Normierung im einzelnen festzulegen. Das Charakteristikum des Rechts ist aber gerade darin zu sehen, in einer Vorausregelung eine unbestimmte Vielzahl zukünftig einSmend, Verfassung und Verfassungsrecht 1928, S. 133. Die Charakterisierung des Verfassungsrechts als politisches Recht ist in der staatsrechtlichen und verfassungstheoretischen Literatur gängiger Topos, vgl. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates S. 127 ff; Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat S. 168 (176); Ehmke, W D S t L 20 (1963), S. 53 (65); H. Krüger, Allgemeine Staatslehre S. 697; W. Henke, Der Staat 19 (1980), S. 181 (182, 205); Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts S. 319 ff; Stern, Staatsrecht I § 1 V (S. 14 ff); Badura, Staatsrecht A Rn 13 (S. 13). 21

Vgl. Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts S. 320; Stern, Staatsrecht I § 4 V 1 (S. 24); Badura, HdbStR V I I § 163 Rn 4. 22

Stern, Staatsrecht I § 4 V 1 (S. 24). 23

H. Henkel Rechtsphilosophie S. 134 f. 24

Stern, Staatsrecht I § 4 V 1 (S. 23). H .Henkel, Rechtsphilosophie S. 134.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

179

tretender Ereignisse möglichst weitgehend zu erfassen. Positives Recht als Produkt der Politik wird von ihr daher notwendig überschritten, da es änderbar und änderungsbedürftig ist und Politik die Aufgabe hat, das Recht auf die wechselnden Anforderungen des geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesses einzustellen26. Dazu müssen der Politik auch und gerade vom Verfassungsrecht eröffnete Gestaltungsräume verbleiben. Verfassungsrecht kann von seiner funktionalen Eigenart her somit zumindest in weiten Teilen nur frag27

mentarisches Recht sein, also nur eine Rahmenordnung bilden , die politisches Handeln ermöglichen, nicht aber erübrigen soll. Das bedeutet nicht, daß Politik frei von rechtlichen Anforderungen gestaltet werden könnte, sondern nur, daß ihr ein Handlungsspielraum innerhalb der Schranken des geltenden Rechts eröffnet bleibt. Es ist demzufolge Aufgabe des Verfassungsrechts, Maßstäbe und Leitlinien für die Politik zu schaffen, nach denen entschieden und gehandelt werden kann, nicht aber politisches Handeln selbst zu ersetzen. Eine Verfassung kann das Gelingen einer von ihr vorgegebenen Staatsordnung nicht garantieren, allenfalls einen Rahmen vorgeben, in dem die von ihr statuierte Ordnung funktionieren könnte. Wie diese in der konkreten geschichtlichen Situation wirksam gemacht werden kann, ist dem Wirken der politischen Kräfte vorbehalten. Politik kann daher nicht allein die Funktion haben, vorgegebenes Verfassungsrecht zu vollziehen und auch das Verfassungsrecht wäre überfordert, einem Anspruch auf vollständige Erfassung der 28

Politik gerecht zu werden . Aufgabe der Verfassung bleibt es daher, als normative Grundordnung des Gemeinwesens einen rechtliche Rahmen vorzugeben, der den politischen Kräften ausreichende Entfaltungs- und Handlungsspielräume einräumt und deren nähere Ausfüllung der politischen Praxis überläßt. Der Verzicht auf eine allumfassende Normierung des staatlichen Lebens stellt somit häufig eine bewußte Beschränkung der Verfassimg auf eine Rahmenordnung dar, um so den freien politischen Prozeß und die freie

26

Grimm, Staatslexikon Sp. 637; ders., JuS 1969, S. 501 (505). 27

Böckenförde, 28

Die Eigenart des Staatsrechts S. 319, 321 f; Stern, Staatsrecht I § 1 V 4 (S. 24).

Hesse, HVerfR S. 3 (26); Grimm, AöR 97 (1972), S. 489 (504); vgl. auch Hennis , Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit S. 19 ff sowie Badura, HdbStR V I I § 163 Rn 4. Auf die Gefahren einer Verrechtlichung der Politik durch die „Expansion des Verfassungsrechts" weist Isensee, HdbStR V I I § 162 Rn 47 hin.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

Auseinandersetzung und Entscheidung der offen gelassenen Fragen zu ge29 währleisten . Ein Grund fur die Beschränkung auf eine derartige Rahmenregelung ist darin zu finden, daß bestimmte Vorgänge des staatlich-politischen Lebens oder bestimmte Tätigkeitsbereiche sich aufgrund ihrer spezifischen Eigenart einer starren und detaillierten Normierung entziehen oder ihr zumindest nur 30

schwer zugänglich sind . Als Beispiele werden in diesem Zusammenhang die Bestimmungen über Regierungsorganisation, das Verhältnis von Regierung und Parlament31 sowie die Aktivität politischer Parteien32 genannt. Gerade die verfassungsrechtlichen Regelungen des Parlamentsrechts müssen dabei entwicklungsoffen bleiben. Im Parlament kanalisiert sich das Spiel der politischen Kräfte zwischen Regierung, Regierungsmehrheit und oppositionellen Gruppierungen. Dieses Kräftespiel kann nur in begrenztem Maße rechtlich eingebunden werden, denn die Beziehungen der daran Beteiligten sind Verschiebungen unterworfen 33, und es ist fraglich, ob Verfassungsnormen diesen politischen Prozeß tatsächlich steuern können. Vorschriften des Verfassungsrechts sind zwar geeignet, die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen zu fördern und anzuregen. Sie können deren Leistungsfähigkeit und Gestaltungskraft aber nicht vorwegnehmen oder garantieren 34. So kam bereits G. Jellinek zu der Erkenntnis, „daß Rechtssätze unvermögend sind, staatliche Machtverteilung tatsächlich zu beherrschen. Die realen politischen Kräfte bewegen sich nach ihren eigenen Gesetzen, die von allen juristischen Formen unabhängig wirken" 35. Dynamische Prozesse des politischen Lebens sind damit, auch um ihre Wirksamkeit zu erhalten, nur begrenzt verfassungsrechtlicher Normierung zugänglich36. Es ist daher stets zu prüfen, welche Gegen29

Hesse, Grundzüge Rn 30; Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts S. 322; Stern, Staatsrecht I § 3 I I I 3 a (S. 83 f); Isensee, HdbStR V I I § 162 Rn 43. 30

Böckenförde,

Die Eigenart des Staatsrechts S. 322; Hesse, Grundzüge Rn 22.

Böckenförde,

Die Eigenart des Staatsrechts S. 322.

31 32

Hesse, Grundzüge Rn 22. 33

Degenhard Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09.1992, Stenogr. Bericht S. 2; Isensee, an gleicher Stelle S. 8. 34

Badura, HdbStR V I I § 160 Rn 42.

35

G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, (1906), S. 72. 36

So warnt Grimm, Staatslexikon Sp. 637 zu Recht davor, daß Verfassungen, die die Verrechtlichung der Politik zu weit treiben, selbst den Grund ihrer Umgehung oder Mißachtung legen. „V(erfassung)sperfektionismus schlägt in V(erfassung)sirrelevanz um."

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

181

stände einer verfassungsrechtlichen Regelung bedürfen, welche überhaupt geregelt werden können und welche Bereiche dem freien Spiel der politische Kräfte überlassen bleiben sollten. Für die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition fuhrt diese Betrachtung zu dem Ergebnis, daß das Verfassungsrecht die Möglichkeit der Bildung und Ausübung einer Opposition als dynamischen Faktor des politischen Lebens voraussetzt und gewährleistet, die Existenz und das Funktionieren einer Opposition aber nicht garantieren und daher auch nicht in ihrer gesamten Breite rechtlich erfassen kann und will. Das Grundgesetz schafft vielmehr müden Rahmen für die Entstehung und zweckmäßige Betätigung von Opposition, ohne ihre reale Wirksamkeit zu gewährleisten und zu verlangen. Verdeutlicht wird diese Erwägung durch die Regelung der Parlamentsrechte im Grundgesetz. Wie oben ausfuhrlich erläutert 37, begünstigen diese Bestimmungen die Ausübung der Oppositionsfunktion erheblich. Sie sind aber in keinem Fall nur bestimmten Teilen des Parlaments zugeordnet, sondern können von allen parlamentarischen Gruppierungen, soweit sie die entsprechenden Quoren erreichen, geltend gemacht werden. Es kommt dabei insbesondere nicht darauf an, ob diese Gruppierungen die Regierung stützen oder nicht. Auch das Recht, oppositionelle Gruppierungen parlamentarisch zu organisieren, ergibt sich aus der allgemeinen Regelung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, die auch für alle anderen parlamentarischen Gruppierungen gilt. Das Grundgesetz räumt zwar stets die Möglichkeit ein, Opposition zu bilden und auszuüben. Es legt sich dabei jedoch weder auf einen bestimmten Träger noch auf bestimmte Bereiche fest. Demnach kann davon ausgegangen werden, daß das Verfassungsrecht zur Gewährleistung eines „freien Spiels der politische Kräfte" auf 38

eine apriorische Festlegung der Rolle einer Opposition verzichtet hat . Es spricht daher vieles dafür, die vom Grundgesetz mitgedachte Opposition nicht als „verfassungsrechtliche Institution", der ein bestimmter personeller Träger zugeordnet werden, kann zu verstehen39. Opposition ist vielmehr eine Funktion im Verfassungsprozeß, die sich rechtlich weder starr noch ausschließlich einem bestimmten Teil des Parlaments zuordnen läßt. Opposition in diesem Sinne kann in unterschiedlichen Ausdrucksformen und unterschiedlicher Intensität in verschiedenen Teilen des Parlaments stattfinden und ist

37

38 39

Vgl. oben 2. Kapitel Β I 3. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen S. 134. Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks. 12/6000, S. 89 f.

5. Kap. Verfassungstheoretische Schlußfolgerungen

insbesondere nicht daran geknüpft, ob die Gruppierungen, die eventuell nur im Einzelfall oppositionell tätig werden, die Regierung grundsätzlich unter40

stützen oder nicht . Diese Erwägungen erklären dann auch, warum das Grundgesetz eine spezifische Rechtsstellung der Opposition nicht enthält. Führt man sich weiterhin die Schwierigkeiten vor Augen, die bei der Begriffsbestimmung der Opposition „als Institution" und bei der Frage auftreten, wie eine solche Opposition in das staatsorganisatorische Konzept des Grundgesetzes einzuordnen wäre 41, so zeigt sich, daß der Begriff Opposition viel zu unscharf ist, um Zuordnungsobjekt bestimmter verfassungsmäßiger Rechte zu sein. Ob sich Opposition bildet und wie sie ausgeübt wird, ist eine Frage des politischen Prozesses, die von zahlreichen Faktoren abhängt. Eine detaillierte Regelung geht daher über die Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts hinaus42. Das verdeutlichen insbesondere die oben43 aufgezeigten Probleme, die mit den Normierungsversuchen von Opposition auf Landesverfassungsebene verbunden sind sowie die Ergebnisse dieses Kapitels. „Opposition" ist nach alledem zwar als ein wesentlicher Faktor für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems44 anzusehen. Sie entzieht sich aber wegen ihres dynamischen Charakters einer verfassungsrechtlichen Normierbarkeit. Oppositionsbestimmungen sollten daher nicht in das Verfassungsrecht aufgenommen werden.

So wird im Schrifttum vielfach Opposition in den Reihen der die Regierung tragenden Fraktionen als gefahrlicher fur die Regierung und insgesamt effektiver angesehen, als Opposition durch Gruppierungen, die in Gegnerschaft zur Regierung stehen, vgl. Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission, 4. öffentliche Anhörung vom 10.09. 1992, Stenogr. Bericht S. 9; Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis § 49 Rn 8 ff, 80. 41

Vgl. oben das 3. Kapitel und Grube, Opposition S. 63 f sowie den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Dmcks. 12/6000, S. 89 f. 42

Vgl. dazu bereits A. Arndt, Neue Sammlung 8 (1968), S. 1 (17). 43

Vgl. das 4. Kapitel. 44

Vgl. Stern, Staatsrecht I § 23 I I I 1 (S. 1038).

Anhang Synopse der landesverfassungsrechtlichen Oppositionsnormen

1. Verfassung von Berlin (GVB1. Nr. 59 vom 06.09.1990, S. 1877) Artikel 25 (Abgeordnetenhaus) (3) Die Opposition ist notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Sie hat das Recht auf politische Chancengleichheit.

2. Verfassung des Landes Brandenburg (GVB1. Nr. 18 vom 20.08.1992, S. 306) Artikel 55 (Der Landtag) (2) Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Sie hat das Recht auf Chancengleichheit.

3. Verfassung der Freien Hansestadt Bremen (GBl. Nr. 44 vom 07.11.1994, S. 290) Artikel 78 Das Recht auf Bildung und Ausübung parlamentarischer Opposition wird gewährleistet. Oppositionsfraktionen haben das Recht auf politische Chancengleichheit sowie Anspruch auf eine zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche Ausstattung.

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Anhang 4. Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (GVB1. Nr. 7 vom 18.02.1971, S. 21) Artikel 23a (Opposition)

(1) Die Opposition ist wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. (2) Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit.

5. Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (GVB1. Nr. 10 vom 23.05.1993, S. 380) Artikel 26 (Parlamentarische Opposition) (1) Die Fraktionen und die Mitglieder des Landtages, welche die Regierung nicht stützen, bilden die parlamentarische Opposition. (2) Sie hat insbesondere die Aufgabe, eigene Programme zu entwickeln und Initiativen für die Kontrolle von Landesregierung und Landesverwaltung zu ergreifen sowie Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen kritisch zu bewerten. (3) Die parlamentarische Opposition hat in Erfüllung ihrer Aufgaben das Recht auf politische Chancengleichheit.

6. Niedersächsische Verfassung (GVB1. Nr. 17 vom 26.05.1993, S. 109) Artikel 19 Fraktionen, Opposition (2) Die Fraktionen und die Mitglieder des Landtages, die die Landesregierung nicht stützen, haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit. Sie haben Anspruch auf die zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche Ausstattung ; das Nähere regelt ein Gesetz.

Anhang

185

7. Verfassung des Freistaates Sachsen (GVB1. Nr. 20 vom 05.06.1992, S. 247) Artikel 40 Das Recht auf Bildung und Ausübung parlamentarischer Opposition ist wesentlich für die freiheitliche Demokratie. Die Regierung nicht tragende Teile des Landtages haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit.

8. Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt (GVB1. Nr. 31 vom 17.07.1992, S. 613) Artikel 48 Opposition (1) Die Fraktionen und die Mitglieder des Landtages, die die Landesregierung nicht stützen, bilden die parlamentarische Opposition. (2) Die Oppositionsfraktionen haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit sowie Anspruch auf eine zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche Ausstattung.

9. Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (GVB1. Nr. 116 vom 20.06.1990, S. 392) Artikel 12 Parlamentarische Opposition (1) Die parlamentarische Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Die Opposition hat die Aufgabe, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren. Sie steht den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber. Insoweit hat sie das Recht auf politische Chancengleichheit. (2) Die oder der Vorsitzende der stärksten die Regierung nicht tragenden Fraktion ist die Oppositionsführern! oder der Oppositionsführer.

13 Haberland

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Anhang 10. Verfassung des Freistaates Thüringen (GVB1. Nr. 30 vom 29.10.1993, S. 632 i.V.m. Nr. 33 vom 03.11.1994 S. 1194) Artikel 59

(1) Parlamentarische Opposition ist ein grundlegender Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. (2) Oppositionsfraktionen haben das Recht auf Chancengleichheit sowie Anspruch auf eine zur Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderlichen Ausstattung.

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