Die Unterweisung des Blicks: Visuelle Erziehung und visuelle Kultur im langen 19. Jahrhundert 9783839443262

The history of seeing - an interdisciplinary study of how powerful conventions of perceptions developed in the 19th Cent

222 84 14MB

German Pages 352 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
I. Augengeschichten
Die Kunst der Anschauung
II. »Ich will dir zeigen alles!«
III. Sehen lehren
IV. Sehen lernen
Die Anschauung der Kunst
V. Vom Erkalten des Blicks
VI. Die Hybris des Auges
Epilog
VII. Mythos Rhythmos
Literaturverzeichnis
Abkürzungen der Aufbewahrungsorte der im Buch zitierten Abbildungen
Personenregister
Dank
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Die Unterweisung des Blicks: Visuelle Erziehung und visuelle Kultur im langen 19. Jahrhundert
 9783839443262

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Tobias Teutenberg Die Unterweisung des Blicks

Image  | Band 133

Tobias Teutenberg (Dr. phil.) ist Kunsthistoriker und lebt in München.

Tobias Teutenberg

Die Unterweisung des Blicks Visuelle Erziehung und visuelle Kultur im langen 19. Jahrhundert

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Überarbeitete Fassung der Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Tag der mündlichen Prüfung: 4. Juli 2016. Prüfer: Prof. Dr. Ulrich Pfisterer, Prof. Dr. Michael F. Zimmermann.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld. Nach einer Idee von Philipp Reitsam. Umschlagabbildung: Fra Bartolommeo: Thronende Madonna mit Heiligen (um 1513), mit Konstruktionslinien versehen, vgl. Prandtl 1914, Fig. 6 u. 11 Lektorat & Satz: Jan Wenke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4326-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4326-2 https://doi.org/10.14361/9783839443262 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

P rolog I. Augengeschichten  | 11 Die Kontroverse um Raffaels Formen  | 11 Grundlagen der historischen Perzeptologie (des Visuellen)  | 16 Sehen und gesehen werden im langen 19. Jahrhundert  | 29 Der vergessene Diskurs  | 33

D ie K unst der A nschauung II. »Ich will dir zeigen alles!« Anschauungspädagogik vor 1800  | 39 Die Welt in Bildern: Johann Amos Comenius  | 39 Die Renaissance der Sinne bei Jean-Jacques Rousseau  | 45 Johann Bernhard Basedows ›Schule der Menschenfreundschaft‹  | 52 Fragmente zur Kunst der Erziehung: Kant, Goethe und Schiller  | 61

III. Sehen lehren Zur pädagogischen Systematisierung des Blicks  | 69 Lieberkühn und die Psychologie der anschauenden Erkenntnis  | 69 Anschauungsunterricht bei Johann Heinrich Pestalozzi  | 75 Trianguläres Sehen: Johann Friedrich Herbart  | 87 Fröbels Gaben  | 92

IV. Sehen lernen Anschauungslehre und Zeichenunterricht  | 99 Augenhygiene | 99 Schöne Skelette bei Schmid und Ramsauer  | 103 Friedrich Otto und die Institutionalisierung der Anschauungslehre  | 109 Die Hinterlist der Linie: schulisches Zeichnen unter Stuhlmann und Flinzer  | 114 Entfessler des Blicks: James Sully und Georg Kerschensteiner  | 122

D ie A nschauung der K unst V.

Vom Erkalten des Blicks Wahrnehmungsweisen von Architektur und Kunst in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunder ts  | 137 Formatierte Augen  | 137 Aspekte der Architektur- und Kunstbeschreibung um 1800: Winkelmann, Goethe, Heinse – Fiorillo, Waagen, Passavant  | 140 (Grund-)Formalismus bei Schlegel, Stieglitz und Schnaase  | 155 Praktische ›Kunstformenlehren‹: Weinbrenner, Semper und Metzger / Hoffstadt  | 169 Ausblick: Entwicklungsgeschichten der Form von Göller und Riegl  | 182

VI. Die Hybris des Auges Zur Entgrenzung des pädagogischen Blicks in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunder ts  | 193 Ein expandierender Diskurs  | 193 Morphologen der Schönheit: Kämmerer, Zeising und Zimmermann  | 194 Wittstein und Riegel: zwei ›Ritter vom Goldenen Schnitt‹  | 206 Formpsychologien von Fechner bis Lipps  | 213 Netze und Sterne bei Hetzer und Kauffmann  | 219 Exkurs: Wassily Kandinskys Bildhygiene  | 229

E pilog VII. Mythos Rhythmos  | 241 Von Modellen und Mythen der Wissenschaft  | 241 Pulsierende Massen: Wölfflin, Schmarsow, Pinder und Ziegler  | 243 Raumrhythmen bei Brickmann, Jaques-Dalcroze und Appia  | 258 Im Rhythmus frei: Grosse, Koffka, Petersen und Kauffmann / Panofsky  | 265 Literaturverzeichnis | 279 Abkürzungen der Aufbewahrungsorte der im Buch zitierten Abbildungen  | 341 Personenregister | 342 Dank | 349

Für Monika, Gerhard und Jutta Teutenberg

Prolog

I. Augengeschichten D ie K ontroverse um R affaels F ormen Als Antonin Prandtl im Jahr 1880 das Licht der Welt erblickte, stand eines von vornherein fest: Sein Weg würde in die Wissenschaft führen. Denn der Vater, Antonin Prandtl Senior, blickte nicht nur voll Stolz auf eine lange Familiengeschichte der Gelehrsamkeit zurück; er hatte sich auch selbst als Erfinder und Ingenieur einen Namen gemacht.1 Um diese Tradition aufrechtzuerhalten, besuchten seine drei Söhne – die beiden Töchter teilten freilich ein anderes Schicksal – nach dem Abitur sogleich die Universität und erwarben allesamt Doktortitel. Zwei der drei jungen Männer beschritten im Anschluss einen stringenten Karriereweg: Wilhelm, der Älteste, hatte Chemie studiert und brachte es in seinem Beruf bis zum außerordentlichen Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität; der jüngste Spross, Hans, entschied sich für die Tierkunde, verstarb jedoch bereits im Alter von 25 Jahren während eines Aufenthalts an der zoologischen Station in Neapel. Allein Antonin konnte sich nicht recht für eine Profession entscheiden: Die Promotion erfolgte 1903 in den Fächern Altphilologie und Philosophie mit einer in lateinischer Sprache vorgelegten Dissertation über Platons Staatstheorie.2 Schon kurz darauf verlagerten sich seine Interessen jedoch vollständig, und der junge Wissenschaftler begann, sich für die Wahrnehmungspsychologie zu begeistern. Erste Erfahrungen auf diesem Gebiet sammelte er am psychologischen Institut der Universität Würzburg, wo er zunächst als Assistent und schließlich als Extraordinarius arbeitete. Dort führte er über mehr als 20 Jahre vor allem Experimente zum menschlichen Empfindungs- und Auffassungsvermögen durch.3 Dabei ist unklar, ob diese Versuche von Beginn an darauf abzielten, das empirische Fundament einer eigenständigen phänomenologischen Abhandlung zu legen. Be1 | Vgl. zur Familiengeschichte: Prandtl 1938, S. 9-16, 42-46. 2 | Dort findet sich auch eine Kurzbiographie des Autors: Prandtl 1904, S. 31. 3 | Eine Zusammenstellung von Sonderabdrücken seiner Aufsätze für die Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (1906-28) wird unter dem Titel Kleine Schriften in der BSB verwahrt.

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Die Unter weisung des Blicks

kannt ist nur, dass eine entsprechende Arbeit mit dem Titel Das Problem der Wirklichkeit (1926) ein Jahr vor dem Ableben ihres Autors erschien. Eines der Experimente dieser Jahre hatte einen deutlichen Bezug zur Disziplin Kunstgeschichte. Die Idee zu dem Versuch kam Prandtl im Zuge der Recherchen zu seinem schmalen Überblickswerk Die Einfühlung von 1910. Zu diesem Anlass hatte er sich auf eine ausgedehnte Exkursion in den kunsthistorischen Fachdiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts begeben und dort eine Entdeckung gemacht, die ihn in den folgenden Jahren so sehr beschäftigte, dass er sie schließlich experimentell zu ergründen versuchte: die starke Affinität der Kunstgeschichte zur »Tektonik der dargestellten Massen« im Bilde wie auch zur Bestimmung von einer »Gesetzmäßigkeit im mathematischen Sinn«.4 Besonders auffällig sei dieser Habitus in der Italienforschung: So könne man etwa Josef Strzygowskis Schrift über Das Werden des Barock bei Raphael und Correggio (1898) entnehmen, dass Raffael im Frühwerk in Anlehnung an Leonardo »seine Madonnen besonders gern durch ein gleichschenkliges Dreieck begrenzt« habe.5 Jacob Burckhardt hingegen betone im Cicerone (1855) in Bezug auf den Urbinat die reich gegliederte, jedoch grundsätzlich streng symmetrische Anlage des Spätwerks. Und nicht nur Heinrich Wölfflin komme in der Klassischen Kunst von 1899 zu dem Schluss, dass sich das Ende der italienischen Hochrenaissance in einem gesteigerten Interesse an Diagonalen, ungleichmäßigen Kompositionen und Asymmetrien ankündige. Prandtl hatte so seine Schwierigkeiten mit derartigen Deutungen – nicht jedoch, weil ihm der reduktionistische Umgang mit ikonographisch, ikonologisch wie auch ästhetisch hochkomplexen Kunstwerken grundsätzlich suspekt gewesen wäre. Dem Ansatz selbst stand er wohlwollend gegenüber, fördere er doch wichtige Indikatoren für das Entstehen und Vergehen von Stilen und Epochen zu Tage. Problematisch sei nur, dass die Bestimmung mathematischer Verhältnisse und konstitutiver Grundformen in Bildern gegenwärtig so heterogene Resultate erziele, wodurch »der wissenschaftliche Charakter all dieser Bemühungen in Frage gestellt« werde.6 Um Ordnung in das Chaos der widerstreitenden Meinungen zu bringen, entwarf Prandtl also besagtes Experiment, dass nach heutigem Verständnis der empirischen Bildwissenschaft zuzuord-

4 | Prandtl 1914, hier S. 255. 5 | Strzygowski 1898, S. 20. Strzygowski verweist zudem auf einen vergleichbaren Versuch des Baseler Ordinarius Heinrich Schmid, der in einem Vortrag vor der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft zu Berlin auf das Dreieck als leitendes Kompositionsprinzip in Raffaels Madonnendarstellungen eingegangen ist. Schmid hat diesen Vortrag nie publiziert, das Manuskript ist nicht mehr auffindbar, es existiert jedoch eine Zusammenfassung in: Kunstchronik. Wochenschrift für Kunst und Gewerbe, 8.28 (1896 / 97), Sp. 444. 6 | Prandtl 1914, S. 256.

I. Augengeschichten

nen wäre und dessen Ergebnisse er 1914 in einem Aufsatz mit dem Titel Ü ber die Auffassung geometrischer Elemente in Bildern publizierte. Der Text setzt mit einem Vergleich zweier bildgeometrischer Analysen ein, die – obgleich ein und demselben Kunstwerk gewidmet – zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der oder dem Lesenden wird dieser Umstand durch die Gegenüberstellung von Textpassagen verdeutlicht. Zusätzlich verschaff t Prandtl seinem Argument jedoch auch visuelle Evidenz, indem er nach den Angaben seiner Kontrahenten entsprechende Konstruktionsskizzen anfertigte. Kontrastiert werden zwei Beschreibungen der Schule von Athen (1511; Abb. 1). Die erste entstammt der Feder des klassischen Archäologen Heinrich Brunn und wurde von diesem zuerst im Rahmen eines Vortrags zur Komposition der Wandgemälde Raffaels im Vatikan (1867) vorgetragen (Abb. 2).7 Darin betont der Doktorvater Heinrich Wölfflins zunächst die Teilung der Bildfläche durch horizontale und vertikale Linien, die sich exakt in der Mitte kreuzen. Die dadurch entstehenden Flächen werden im oberen Bildfeld jeweils durch eine weitere Vertikale halbiert. Die untere Bildhälfte hingegen sieht Brunn von einem ausladenden konkaven Bogen durchzogen. Außerdem laufe jeweils eine Diagonale durch jedes der vier Bildfelder auf einen gemeinsamen Mittelpunkt im Zentrum des Freskos zu. Abbildung 1: Raffael: Schule von Athen (1511), in: Prandtl 1914, Fig. 1 (ZI).

7 | Vgl. Brunn 1906, bes. S. 290-293.

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Die Unter weisung des Blicks

Abbildungen 2 und 3: Antonin Prandtl: Kompositionsgerüste der Schule von Athen nach Brunn (links) und Everth, in: Prandtl 1914, Fig. 2 (links) und 3 (beide ZI).

Brunns Position stellt Prandtl diejenige des jungen Kunsthistorikers Erich Everth entgegen (Abb. 3), der später in Leipzig deutschlandweit erster Ordinarius für Zeitungswissenschaft werden sollte (1926-33). In seinem Aufsatz über Bildformat und Komposition in Raffaels Stanzen (1912) erkennt auch Everth, dass das Fresko durch ein Mittelkreuz in vier gleiche Teile zerfällt, von denen die oberen durch die Gesimskanten der Bildarchitektur diagonal durchschnitten werden. An diesem Punkt endet die Übereinstimmung mit den Angaben Brunns jedoch. Besonders in der unteren Bildhälfte treten die unterschiedlichen Auffassungen beider deutlich zu Tage: Denn wo Brunn noch einen durchlaufenden konkaven Bogen zu erkennen vermeinte, stehen Everth zwei unverbundene konvexe Kreissegmente vor Augen, die auf die fluchtenden Tonnengewölbe im Hintergrund der Szene antworten sollen. Prandtls Fazit lautet wie folgt: Überall dort, wo Analysen dieser Art das faktisch gegebene Konstruktionsgerüst des Bildes verlassen und sich auf das instabile Fundament subjektiver Eindrücke begeben, grassiert die Willkür in den Befunden. Man hätte es dabei belassen können. Prandtl jedoch weigerte sich beharrlich, die Zwangsläufigkeit subjektiver Urteile im Zuge bildgeometrischer Erörterungen anzuerkennen. Es sei schlicht nicht gesagt, »daß ein für allemal Untersuchungen über die geometrischen Elemente eines Kunstwerks mit dem Begriff streng wissenschaftlichen Verfahrens überhaupt unvereinbar sind. Nur müßte es freilich gelingen, alles ausschließlich Individuelle in der Auffassung zu beseitigen und eine Methode zu gewinnen, die das Recht zu allgemeingültigen Aussagen gibt.« 8

Also bestellte der Experimentator acht Versuchspersonen ohne künstlerische Vorkenntnisse in sein Würzburger Laboratorium. Ihnen wurden dort kleine 8 | Prandtl 1914, S. 263.

I. Augengeschichten

Abbildung 4: Fra Bartolommeo: Thronende Madonna mit Heiligen (um 1513), in: Prandtl 1914, Fig. 6 (ZI).

Bromsilberdrucke von zehn Gemälden bzw. Reliefs der italienischen Renaissance vorgehalten, die »wohl im großen und ganzen als streng komponiert angesehen werden konnten«. Anschließend bat Prandtl die Probanden, den geometrischen Auf bau der Bilder zu bestimmen  – einerseits mündlich und andererseits zeichnerisch, durch mit Bleistift und Lineal in die Reproduktionen eingetragene Konstruktionslinien. Auf diese Weise entstanden insgesamt 80 »Auffassungsskizzen«, von denen wenig überraschend kaum eine der anderen glich,9 so auch nicht im Falle von Fra Bartolommeos Madonna mit den Heiligen (um 1513) aus dem Florentiner Museo di San Marco (Abb. 4).10 Gerade hier hatten die Zeichner bisweilen vollkommen unterschiedliche Resultate präsentiert (Abb. 5 u. 6). Wie aber ließen sich auf Grundlage derartig diversen Materials nun die gewünschten Rückschlüsse auf den objektiven Gehalt einzelner Anschauungen ziehen? Prandtls Antwort auf diese Frage war von großer Schlichtheit: Indem er die zu jedem Bild vorliegenden Skizzen übereinanderlegte, machte er die Schnittmengen der Zeichnungen sichtbar (Abb. 7). An9 | Prandtl 1914, alle S. 264 f. 10 | Zu Bartolommeos unvollendeter Madonna vgl. Fischer 1990, S. 218 ff.

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Die Unter weisung des Blicks

schließend radierte er alle graphischen Ausreißer aus. Was übrig blieb sei »die Auffassung der Mehrheit mit dem Anspruch relativ allgemeiner Gültigkeit«, so Prandtl.11 Am Schluss der Studie findet sich dann noch eine Empfehlung des Experimentators an die Disziplin Kunstgeschichte: Um der Fülle bildgeometrischer Analysen Herr zu werden, die das Fach im 19. und frühen 20. Jahrhundert angestellt hatte, solle man es ihm einfach gleich tun, Skizzen zu den jeweiligen Beschreibungen entwerfen und diese miteinander vergleichen. Abbildungen 5 bis 7: Antonin Prandtl: Konstruktionszeichnungen (Proband D, links, und E, Mitte) sowie Schnittmenge aller acht Konstruktionszeichnungen von Fra Bartolommeos Thronender Madonna mit Heiligen, in: Prandtl 1914, Fig. 4, 5 und 11 (v. l. n. r., alle ZI).

G rundl agen der historischen P erzep tologie (des V isuellen) Bis heute hat sich wenig überraschend niemand die Mühe gemacht, Prandtls Aufruf Folge zu leisten, und auch die vorliegende Studie wird daran nichts ändern. Dennoch ist das Experiment des Würzburgers für dieses Buch nicht ohne Bedeutung: Denn auf was Prandtls Untersuchung reagiert, ist eine nicht nur in der deutschen Kunstgeschichte des langen 19. Jahrhunderts, sondern darüber hinaus auch in anderen Wissensgebieten dieser Zeit etablierte Beobachtungskonvention: die Suche nach zumeist unsichtbaren mathematischen Verhältnissen und geometrischen Grundformen, die für den jeweiligen Untersuchungsgegenstand – im Falle der Kunstgeschichte Bilder, Skulpturen und Bauwerke  – nicht nur als formal konstitutiv angenommen wurden, sondern denen man auch eine besondere – in der Kunstgeschichte ikonologische und 11 | Prandtl 1914, S. 300.

I. Augengeschichten

ästhetische – Bedeutung zumaß. Den Ursprung, die Konsequenzen und auch den Ausklang dieses inzwischen historisch gewordenen Beobachtungsstils aufzuarbeiten und dabei insbesondere die Bedeutung der systematischen Konditionierung des Auges durch die Anschauungs- und Zeichenpädagogik des 19. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, sind die zentralen Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Eine Arbeit dieses Zuschnitts hätte man bis vor Kurzem ohne Weiteres mit dem Etikett »Visual Culture Study« versehen können. Mittlerweile hat sich mit den Sensory Studies allerdings ein weiteres Bezugsfeld eröffnet. Ich möchte im Folgenden kurz auf beide Metadisziplinen eingehen und anschließend mit dem Begriff »Historische Perzeptologie« eine dritte ins Gespräch bringen. Zur Geschichte der Visual Culture Studies ist bereits fundiert geforscht worden: Anthologien versammeln die wichtigsten Methodentexte;12 zahlreiche immer auch wissenschaftsgeschichtlich perspektivierte Einführungen stehen zur Verfügung;13 Sammelbände und Handbücher historisieren ebenso14 wie auch ein Interviewband mit Stimmen aus der Gründerzeit.15 Zudem hat man sich dem Thema monographisch genähert und im Zuge dessen Prozesse der Institutionalisierung und Globalisierung ebenso ins Auge gefasst, wie das traditionell nicht unproblematische Verhältnis der Visual Culture Studies zu ihren Ursprungs- bzw. Nachbardisziplinen.16 Dabei trat ein rhizomatisches Geflecht an Gründungsszenarien zu Tage: James Elkins zufolge werden Anfänge etwa in der deutschsprachigen Kunstgeschichte nach 1900, in der britischen Kulturgeschichtsforschung der 1960er Jahre, in der schwedischen Bildsemiotik der 1970er Jahre, in zeitgleich einsetzenden Postkolonialismusdebatten sowie in der postmodernen Literaturwissenschaft bzw. Psychoanalyse gesehen.17 Diese Uneinigkeit ist zugleich Resultat und Signum des längst uferlos gewordenen inhaltlichen Spektrums der Visual Culture Studies. Versucht man sich dennoch an einer groben Einteilung, so enthält Whitney Davis’ General Theory of Visual Culture (2010) einen operablen Ansatz. Demnach bestimmen vor allem zwei Leitfragen das interdisziplinäre wie internationale Wissenschaftskonglomerat: »What is visual about culture?« sowie »What is cultural about vision?« Für die erste Frage ist die Annahme grundlegend, dass die sichtbaren Hinterlassenschaften von Kulturen Auskünfte über die spezifische Be12 | Vgl. Rimmele / S achs-Hombach /  S tiegler 2014; Jones 2003; Mirzoeff 2002. 13 | Vgl. Schade / Wenk 2011; Mirzoeff 2011; Sturken / C artwright 2009; Rampley 2005; Howells 2003; Elkins 2003; Barnard 2001, ursprünglich: Mitchell 2008b. 14 | Vgl. Elkins / M cGuire 2013; Heywood /  S andywell 2012; Jenks 1995; Foster 1988. 15 | Vgl. Smith 2008. 16 | Vgl. Falkenhausen 2015; Dikovitskaya 2005. Zu den Konflikten in der Entstehungsphase der Visual Culture Studies zudem Diederichsen 1999. 17 | Vgl. Elkins 2013, bes. S. 3; zudem Falkenhausen 2015, S. 99-120.

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Die Unter weisung des Blicks

schaffenheit vergangener Gesellschaftsformen enthalten und dass sich ausgehend vom Visuellen durch methodisch kontrolliertes Vorgehen entsprechende Rückschlüsse ziehen lassen. Die zweite Frage geht davon aus, dass die visuelle Wahrnehmung selbst historisch relativ ist und dass sich ihre Geschichte schreiben lässt, indem der Blick auf Prozesse der kulturellen Konditionierung des Sehsinns gerichtet wird. Letztere Problemstellung war in den 1980er und 1990er Jahren das Leitthema der Visual Culture Studies, wohingegen schon ein Blick auf die neueren Themenhefte ihres Zentralorgans  – Marquard Smiths Journal of Visual Culture – verdeutlicht, dass längst das erste von Davis formierte, im Prinzip bildwissenschaftlich ausgerichtete Lager dominiert.18 Die Möglichkeit, das Thema zu dislozieren und es in einem anderen Kontext neu zu verhandeln, war somit gegeben. Vor allem die Sensory Studies haben sich daraufhin der Geschichte des Sehens angenommen. Die Gründung des Center for Sensory Studies an der Concordia University in Montreal markiert einen wichtigen Wegpunkt in der Entwicklung dieser vergleichsweise jungen Metadisziplin, ebenso wie die des E-Journals The Senses and Society, dessen erste Ausgabe auch eine kurze Programmschrift der Herausgeber enthält:19 Derzufolge befinden wir uns inmitten einer »sensual revolution«, im Zuge derer das Thema der kulturellen und historischen Relativität der Sinne in den Geistes- und Naturwissenschaften wie auch in der bildenden Kunst zunehmend an Raum gewinne. Die Autoren konstatieren im Wesentlichen drei Folgen dieser Entwicklung: Erstens verstehe man unter Wahrnehmung nicht mehr nur einen Prozess der neuronalen Datenverarbeitung, sondern vor allem einen sozial und politisch determinierten Vorgang. Zweitens habe der Fokus auf der Sozialgeschichte der Sinne ältere kulturwissenschaftliche Pradigmen (Kultur als Text, Bild, Diskurs) verdrängt und drittens auch die »increasingly homogenized notion of ›the body‹ in contemporary scholarship« unterminiert.20 Einwände gegen diese drei Punkte hat man freilich schnell zur Hand: So ist die soziale und damit historische Dimension der Sinne schon lange zuvor erkannt und beschrieben worden, etwa durch Pierre Bourdieu, der darauf hingewiesen hat, dass jede für selbstverständlich gehaltene Wahrnehmungsweise in Wahrheit nur eine unter vielen möglichen bewusst oder unbewusst, ins-

18 | Sunil Manghani plädierte zuletzt gar dafür, den Begriff »Visual Culture Studies« durch »image studies« zu ersetzen und dadurch der Entwicklung der letzten Jahrzehnte Rechnung zu tragen, vgl. Manghani 2015, S. 20; vgl. zudem Rimmele /  S achs-Hombach  /  S tiegler 2014. 19 | Vgl. Bull / G ilroy /  H owes /  K ahn 2006; darüber hinaus etwa Le Breton 2017; Classen / H owes 2014. Auf sensorystudies.org findet sich eine umfassende Bibliographie. 20  |  Bull  /  G ilroy /  H owes  /  K ahn 2006, S.  5  f.

I. Augengeschichten

titutionalisiert oder nichtinstitutionalisiert erworbenen darstellt.21 Auch an der Diskursivität des Körpers kann kein Zweifel mehr bestehen, war das Thema im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts doch Gegenstand einer überaus lebhaften und ergiebigen interdisziplinären Debatte.22 Und auch die Annahme, der neue Schwerpunkt auf den Sinnen stelle eine Alternative zur kulturwissenschaftlichen Arbeit an Bildern, Texten und Diskursen dar, ist problematisch, da diese Medien den fortlaufenden Formatierungsprozess des Sehens, Fühlens, Hörens etc. ja zuallererst bedingen.23 Grundsätzlich ist die Initiative der Sensory Studies dennoch zu begrüßen, da eines außer Frage steht: Es dürfte nur wenige Forschungsfelder geben, die so vielfältige historische Vertiefungen zulassen und zugleich von einer ähnlich gegenwärtigen wie auch zukünftigen Brisanz sind, wie die Sozialisierung der Sinne und insbesondere die des Auges: Schon 1982 verwies Gert Mattenklott diesbezüglich auf einen Themenkomplex von anhaltender Aktualität, indem er die alltäglichen Konsequenzen der Professionalisierung und Spezialisierung des Sehsinns in der Arbeitswelt adressierte: »Denn der wütende Bilderhunger des enthemmten Fernsehers ist in einem Körper wach geworden, der einen langen Arbeitstag über das Gesehene auf Distanz halten mußte. Da waren die vielfältigen Abstraktionsleistungen des Abgesehen davon, waren die kontrollierenden Blicke des Sieh hin, was du tust. Es galt, den Überblick zu behalten, gar Aufsicht zu führen. Hinsehen also zu einem bestimmten Zweck, der vorher schon feststeht und bestimmt, was gesehen werden darf.« 24

Fast 40 Jahre später ist diese These immer noch attraktiv, mit der Einschränkung, dass sich das disziplinierte Auge jetzt vornehmlich im Internet und im Videospiel für seine Entbehrungen kompensiert. Damit einhergehend verbessert sich wiederum das Vermögen des Menschen zur visuellen Orientierung im virtuellen Raum kontinuierlich, was zu stetig wachsenden Wahrnehmungsansprüchen hinsichtlich der Quantität und Qualität digitaler Welten und letztlich zu fortlaufend neuen Innovationen auf diesem Sektor führt. Hinzu kommt der Umstand, dass visuelle Disziplinierung im 21. Jahrhundert keine exklusiv auf den Körper bezogene Praxis mehr darstellt: Googles Gier nach Bilddatenbanken und Fotoarchiven steht im Zusammenhang mit der Arbeit an KI-Pro21 | Vgl. Bourdieu 1970, bes. S. 163. 22 | Vgl. Sarasin 2001, S. 11-16. 23 | Das »etc.« verweist darauf, dass die aristotelische Unterscheidung von fünf Sinnen in den Naturwissenschaften längst einer deutlich kleinteiligeren Differenzierung gewichen ist. Vgl. zur Einführung die Ausgabe Why You Have (at Least) 21 Senses der Zeitschrift New Scientist vom 29. Januar 2005. 24 | Mattenklott 1982, S. 81 f., Hervorhebungen im Original.

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Die Unter weisung des Blicks

jekten auf Grundlage unersättlich ikonophager Algorithmen, die man mit kognitiven Fähigkeiten zur Wiedererkennung, Verknüpfung und Kategorisierung von visuellem Material auszustatten versucht. Wir gelangen damit an den vorläufigen Höhepunkt eines Prozesses der Automatisierung des Sehens, dessen Anfänge Paul Virilio mit Bezug auf die im ersten Golfkrieg eingesetzten smart bombs geschildert hat 25 – ohne ahnen zu können, welch rasanten Gang diese Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten nehmen würde. Es gibt demnach viele Gründe, die Konditionierung der Sinne ins Zentrum eines neuen, globalen und transdisziplinären Forschungsprojekts zu stellen.26 Zuerst empfiehlt es sich jedoch, dafür eine theoretische Grundlage zu schaffen. In diesem Zusammenhang kann der Begriff »Historische Perzeptologie« von Nutzen sein, denn mit ihm verlagert sich – im Vergleich zu den Sensory Studies – die Konzentration von den Organen auf deren Wahrnehmungen. Damit ist eine hilfreiche Engführung verbunden: Aus der unendlichen Menge an unterschiedlich motivierten Versuchen der Einflussnahme auf die Sinnesorgane würden nur solche herausgestellt werden, die tatsächlich erfolgreich waren, d. h., deren Effekt auf die Wahrnehmung sich durch Text- oder Bildquellen belegen lässt. In anderen Worten: Eine historische Perzeptologin würde zu Vorbedingungen und Veränderungen der Wahrnehmung forschen, insbesondere unter dem Aspekt der künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen, moralischen und / oder alltäglichen Konsequenzen konventioneller Perzeption. Damit ist kein Plädoyer für Postdisziplinarität im Sinne einer inhaltlichen oder intellektuellen Enteignung einzelner Fächer verbunden. Die Kompetenzen potentiell teilhabender Disziplinen in Bezug auf ihre jeweiligen Wissensfelder bleiben unbestritten. Die historische Perzeptologie ist im Gegenteil ähnlich wie die Bildwissenschaft ein inklusives Unterfangen, ein Aufruf zur gemeinschaftlichen Arbeit an einem Thema höherer Ordnung und allgemeineren Interesses, vorgetragen im festen Glauben daran, dass in transdisziplinären Forschungsprojekten eine entscheidende Zukunftsperspektive der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert liegt.

25 | Vgl. Virilio 1993, S. 57-60. 26 | Zu vermeiden wäre in diesem Zusammenhang natürlich die alte Debatte um die Rangfolge der Sinne (vgl. Jütte 2000; Jay 1993; Levin 1993; Manthey 1983; Jonas 1954), da über unterschiedliche Facetten des Okularzentrismus diskutiert werden kann und muss, nicht jedoch über die generelle Vorrangstellung des Auges im sensoriellen Verbund. Lohnenswerter wären Versuche, sensoriellen Wechselwirkungen im Prozess der Wahrnehmung auch historiographisch Rechnung zu tragen, vgl. Spence 2011; Pascual-Leone / H amilton 2001, beide Positionen werden besprochen in Teutenberg 2013a.

I. Augengeschichten

So wie dem Bild lange vor der Bildwissenschaft theoretisierende Zuwendungen zuteilwurden,27 ist natürlich auch historische Perzeptologie avant la lettre betrieben worden. Da methodologische Neuerungen nur im klaren Bewusstsein um die historische Dimension einer Problemstellung vorgenommen werden können, sollen die wichtigsten Meilensteine der Wahrnehmungshistoriographie im Folgenden vorgestellt und kritisch kommentiert werden. Schon Johann Gottlieb Herders Essay Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) sind Gedanken zu einem entsprechenden Projekt inhärent: »Eine Unendlichkeit müßte es werden«, so Herder, »wenn man diese Verschiedenheit des Beitrages verschiedener Sinne über Länder, Zeiten und Völker verfolgen könnte: was z. B. daran Ursache sei, daß Franzose und Italiener sich bei Musik, Italiener und Niederländer sich bei Malerei so ein ander Ding denke? Denn offenbar werden die Künste auf dieser Wegscheide von Nationen mit anderen Geistessinnen empfunden, mit anderen Geistessinnen vollendet.« 28

Diesen Zeilen ist nicht nur zu entnehmen, dass man schon in der Spätaufklärung von einer Historiographie der Sinne träumte, sondern auch, dass bereits am Ursprung des Gedankens in der Kunst ein wichtiger Indikator für unterschiedliche Wahrnehmungsweisen vermutet wurde. Es ist demnach nur konsequent, dass die ersten systematischen Einzelstudien zur Geschichte des Sehens von der deutschsprachigen Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts unternommen wurden:29 In Wien hatte Alois Riegl in der Spätrömischen Kunstindustrie (1901) die stilistische Entwicklung der spätantiken bis frühmittelalterlichen Kunst und Architektur mit einer wachsenden Befähigung des Menschen zur Raumwahrnehmung in Verbindung gebracht.30 In Hamburg publizierte Erwin Panofsky 1927 den Aufsatz Die Perspektive als symbolische Form, in dem er Bildraumkonzepte der Antike, des Mittelalters und der Renaissance mit den jeweils vorherrschenden Weltanschauungen und insbesondere mit zeitgenössischen Vorstellungen von der Beschaffenheit des Sehbildes korrespondieren lässt. Und auch Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915 werden bekanntlich von der Prämisse getragen, dass die »Darstellungsformen« der Kunst direkt auf die »Anschauungsformen« ih27 | Vgl. den Reader Lavaud 1999. 28 | Herder 1985-2000, Bd. 4 (1994), S. 349. 29 | Nicht unterschlagen werden soll, dass Mitte des 19. Jahrhunderts auch Karl Marx im Rahmen seines Frühwerks über die Möglichkeit einer Historiographie der Sinne und ihrer Bildung nachdachte, ohne diese Idee jedoch weiter zu verfolgen, vgl. Marx 1968, bes. S. 541 f. 30 | Kemp (vgl. 1991) betont in diesem Zusammenhang ferner die Bedeutung der wenig später erschienenen Schrift über Das holländische Gruppenporträt (1902 / 31).

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rer Gegenwart verweisen, sowie dass es die primäre Aufgabe der stilkritischen Kunstgeschichte sei, ausgehend von dieser Erkenntnis die »Entwicklungsgeschichte des abendländischen Sehens« zu verfassen.31 Das Problem der ersten Generation von Wahrnehmungshistorikern war allerdings, dass ihr keine Methoden zur wissenschaftlichen Bearbeitung des neu entdeckten Forschungsthemas zur Verfügung standen. Sie alle verließen sich bei der Suche nach Paradigmenwechseln in der visuellen Kultur Europas vollständig auf die Erkenntniskraft der eigenen Augen. Entsprechend verhalten äußert sich auch Wölfflin zu den möglichen Gründen der von ihm konstatierten »Veränderung der Auffassungsformen« von der Renaissance zum Barock. Diese Frage führe »weit hinaus über das Gebiet der beschreibenden Kunstgeschichte« und kann daher von einer solchen nicht substantiell beantwortet werden.32 So bemerkt Walter Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz (2. Fassung 1935 / 36) zu Recht, dass sich »innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume […] mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Wahrnehmung« verändere, dass es der Forschung jedoch bislang nur gelungen sei, die »formale Signatur« dieser Entwicklung freizulegen. »Die gesellschaftlichen Umwälzungen […], die in diesen Veränderungen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden«, seien dagegen noch nicht scharf gestellt worden.33 Ernst Gombrich sollte mit Hilfe eines Seitenblicks auf die Experimentalpsychologie als Erster versuchen, ein entsprechendes Angebot zu machen. Zuvor hatte Maurice Merleau-Ponty in der Phénoménologie de la perception (1945) die Vertrautheit mit dem eigenen Leib und seinen Regungen zur Grundlage der Wahrnehmung erklärt.34 Gombrich aber suchte Anschluss an die von ihm bewunderten Pioniere der wissenschaftlichen Kunstgeschichte. Auch diese hatten ihre Theorien zur Historizität des Sehens in Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungspsychologie ihrer Zeit erarbeitet. Dort wurde – eingekleidet in Hermann von Helmholtz’ Theorie der unbewussten Schlüsse – der Einfluss der Erfahrung auf die Sinneswahrnehmung des Menschen behauptet – eine These, von der aus die Kunsthistoriker des frühen 20. Jahrhunderts zuerst in der Lage waren, dem Sehen eine historische Dimension zu unterstellen. Im Unterschied 31 | Wölfflin 1917, S. 13, 17. 32 | Alle Wölfflin 1917, S. 247. Ernst H. Gombrich, der Wölfflins Grundbegriffe in der anglophonen Kunstgeschichte bekannt machte, hatte diese Leerstelle ebenfalls erkannt, sorgte jedoch im gleichen Atemzug dafür, dass der Nachwelt Wölfflins Verdienste und nicht seine Versäumnisse im Gedächtnis blieben: »[M]it jener vornehmen geistigen Zurückhaltung, die er von seinem großen Vorgänger Jakob [sic] Burckhardt übernommen hatte, erging er sich niemals in theoretischen Spekulationen über die letzten Gründe historischer Wandlungen.« (Gombrich 2004, S. 14). 33 | Alle Benjamin 2007, S. 382, Hervorhebung im Original. 34 | Vgl. Merleau-Ponty 1974.

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zu den Vertretern der Stilpsychologie sieht Gombrich den Verlauf der Kunstgeschichte jedoch geprägt von einer alles überstrahlenden anthropologischen Konstante: dem Streben nach Perfektion in der illusionistischen Naturwiedergabe. Um zu untermauern, dass eben jenes und kein anderes Grundprinzip die Malereigeschichte dominiert habe, verweist er auf das berühmte, von Ludwig Wittgenstein in die sprachphilosophische Debatte eingeführte Vexierbild der Hasen-Ente. In der Unmöglichkeit, diese Figur zu sehen, ohne dabei der Illusion entweder eines Hasen oder einer Ente zu unterliegen, erkennt Gombrich den Beweis dafür, dass das primäre Ziel der Wahrnehmung die Identifikation ist. Für den Kunsthistoriker war es also naheliegend, die Geschichte der Kunst als Prozess zu beschreiben, in dem Künstlerinnen und Künstler nach immer besseren Methoden suchten, das illusionistische Potential und mithin die Ökonomie der Betrachtung ihrer Gemälde zu perfektionieren. Ein entscheidender Baustein im Theoriegebäude Gombrichs war der akademische Kunstunterricht, den er als Institution der fortwährenden Vervollkommnung visueller wie auch malerischer Methoden des Illusionismus verstand. Damit war das Potential einer praxeologischen Wende der Wahrnehmungsforschung hin zu sozialgeschichtlichen Aspekten wie der Ausbildung und Erziehung von Künstlerinnen und Künstlern, Betrachterinnen und Betrachtern bereits angedeutet. Es war jedoch nicht Ernst Gombrich, sondern Michael Baxandall, der diese Idee vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen der linken Geschichtswissenschaft hin zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte konsequent verfolgen sollte. In dieser Beziehung bahnbrechend war vor allem seine Publikation Painting and Experience in Fifteenth Century Italy (1972), die erste monographische Studie zur Sozialgeschichte des Sehens.35 Ausgangspunkt ist eine kritische Reflexion der eigenen Wahrnehmung und ihrer Defizite, insbesondere bei der Betrachtung von Gemälden aus dem Quattrocento.36 Baxandall erläutert diesen Umstand im Zusammenhang mit dem Begriff des »kognitiven Stils«. Er bezeichnet damit das Vermögen einzelner Individuen, Bilder 35 | Vgl. Baxandall 1988; zum Visuellen in der Soziologie vgl. Tuma / S chmidt 2013; Woodiwiss 2001. 36 | Falkenhausen (vgl. 2015) platziert als Demarkationslinie zwischen der klassischen Kunstgeschichte und den Visual Culture Studies die These, dass Kunsthistorikerinnen, Kunsthistoriker anders als ihre Kolleginnen, Kollegen keine intensive Reflexion über die eigene Wahrnehmung anstellten. In Baxandalls Fall ist das in dieser Konsequenz nicht zutreffend. Sofern andere Vertreterinnen, Vertreter des Fachs weniger Interesse an der Theoretisierung des eigenen Betrachterstatus zeigten, dann sicherlich im Wissen um die Obsession ihrer Disziplin für die psychophysischen Mechanismen des Sehens in den Dekaden um 1900 (vgl. Falkenhausen 2015, Kap. V). Auch mit Blick auf die Verfehlungen der psychologisierten Kunstgeschichte in der NS-Zeit konnte es der Nachkriegsgeneration kaum zeitgemäß erschienen sein, diese Tradition weiter zu pflegen.

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entsprechend ihrer persönlichen Erfahrungen zu interpretieren. Wichtiger als individuelle visuelle Kompetenzen sind für ihn jedoch kulturspezifische Faktoren, die dafür sorgen, dass in bestimmten Zeit-Räumen kollektive Wahrnehmungskonventionen entstehen. Die Gesamtheit der sozialen Codierung des Blicks etwa durch in der Ausbildungszeit erworbene und im Alltag fortwährend praktizierte Fähigkeiten im Zeichnen, Rechnen, Messen, Schätzen, Eichen, Tanzen etc. belegt Baxandall mit dem Begriff des period eye, das für ihn die Entstehung von Kunstwerken im 15. Jahrhundert ebenso bedingte wie auch die Betrachtung und Beurteilung der Bilder.37 Wie progressiv dieser Ansatz tatsächlich war, wird im Vergleich mit zeitgenössischen Positionen deutlich, etwa mit derjenigen des Goodman-Schülers Marx W. Wartofsky, die seinerzeit eine Kontroverse hinsichtlich des Verhältnisses von der Natur- zur Kulturgeschichte des Auges nach sich zog.38 Wartofsky hatte im Jahr der Erstveröffentlichung von Painting and Experience noch immer an der prinzipiell seit Riegl präsenten Behauptung festgehalten, der Sehsinn des Menschen und speziell seine Kompetenz zur Raumwahrnehmung habe sich im Rekurs auf die Verbesserung künstlerischer Verfahren zur Bildraumgestaltung weiterentwickelt, bis schließlich in der Frühen Neuzeit mit dem Systemraum im Bild auch die Wahrnehmungskonvention (!) des perspektivischen Sehens Einzug gehalten habe.39 »Wo haben urzeitliche Jäger ihre Speere hingeschleudert? Wie konnten die Ägypter Rundplastiken herstellen, wenn sie ihren Flachreliefs entsprechend gesehen haben?«40 Dies sind nur einige der vielen naheliegenden Fragen, die Wartofskys Ansatz schnell entkräften und zugleich verdeutlichen, dass Baxandalls Modell demgegenüber wesentlich anschlussfähiger war.

37 | Natürlich sind Bezüge der Kunstgeschichte zur Bildungsgeschichte seit Jacob Burckhardts These von der Bildung als »Vorgängerin der Kunst« (Burckhardt 1920, S. 46) immer wieder thematisiert worden – 20 Jahre vor Baxandall etwa von Erwin Panofsky, der in seinem Essay Gothic Architecture and Scholasticism (1951) die These vertritt, dass strukturelle Analogien zwischen der visuellen Ordnung gotischer Kathedralen und der Systematik scholastischen Schrifttums bestehen und dass diese auf die theologisch-philosophische Grundausbildung der Baumeister verweisen. Vgl. dazu Frangenberg 1989, bes. 117 f. 38 | Arthur Danto äußerte seine Skepsis hinsichtlich der Legitimität einer Historiographie der Wahrnehmung u. a. mit Bezug auf die Vorlage Wartofskys (vgl. Danto 2001), nachdem auch Mitchell das Problem adressiert hatte, vgl. Mitchell 2008b, S. 247. Für die Gegenseite sprechen Boehm 2017; Davis 2010, S. 11-42; Belting 2006, S. 19-22; Boehm 1999. 39 | Vgl. etwa Wartofsky 1972. 40 | Hub 2008, S. 175.

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Dennoch liest sich die Rezeptionsgeschichte seiner Methode nur bedingt als Erfolgsgeschichte:41 Pierre Bourdieu übersetzte das Period-eye-Kapitel ins Französische und versah es gemeinsam mit Yvette Desault mit einem Vorwort zur Soziologie der Perzeption42 und auch der Anthropologe Clifford Geertz fand in seinem Essay Art as a Cultural System (1976) Anschluss an die Position des Briten. Die Kunstgeschichte allerdings reagierte verhalten: Gombrich etwa sah im period eye nichts weiter als den x-ten Aufguss des totalisierenden hegelianischen Zeitgeistkonzepts und jüngere, ebenfalls sozialgeschichtlich argumentierende Kolleginnen und Kollegen wie Timothy James Clark bemängelten das oberflächliche Bild, das in Painting and Experience von der gesellschaftlichen Struktur des Quattrocento gezeichnet wird. Es sollten einige Jahre ins Land gehen, bis die Kunstgeschichte den Ansatz Baxandalls in erweiterter Form in Anschlag bringen konnten, um sich kritisch gegen den von Panofsky an der Renaissancemalerei Italiens entwickelten Kurzschluss von ikon und logos zu richten und gleichsam die Fixierung ihres Faches auf vermeintlich autonom agierende Künstlergenies zu überwinden. Beispielhaft dafür ist Svetlana Alpers’ Monographie The Art of Describing von 1983, in der die historischen Voraussetzungen des Sehens und Darstellens erneut zum Thema wurden. Die Autorin konstatiert dort für die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts die Hegemonie eines antinarrativen Darstellungsmodus und erklärt sich dieses Phänomen, indem sie es in Bezug zur Neugierde auf die Ding-Welt setzt, die diese Epoche grundsätzlich kennzeichne. Alpers bemerkt für ihren Untersuchungszeitraum einen schier unstillbaren Wissensdurst, der sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen und insbesondere in der Naturwissenschaft und bildenden Kunst in einer Obsession für die empirische Observation der Realität artikuliere. Im Unterschied zu Baxandall gilt Alpers die Bildwelt ihrer Epoche jedoch nicht als passiver Niederschlag der herrschenden visuellen Norm. Sie sieht in den objektbezogenen, technisch brillanten, lebenswirklich-anschaulichen Darstellungen vielmehr epistemische Felder, auf denen die Sehgewohnheiten der Zeit selbstbewusst reflektiert wurden und die dadurch einen entscheidenden Teil zur Befriedigung der zeitgenössischen curiosità beitrugen. Susanne von Falkenhausen verweist überdies auf eine weitere Abweichung: Anders als Baxandall, der das Sehen als eine Fähigkeit beschreibt, die im jeweiligen kulturellen Kontext eingeübt wird, betont Alpers mit Bezug auf Kepler die natürliche Mechanik der Wahrnehmung im 17. Jahrhundert. So wie das Netzhautbild als unmittelbare Repräsentation des Gesehenen erachtet wurde, habe man auch in der Malerei nach maximaler Au-

41 | Vgl. dazu Langdale 1998. 42 | Baxandall 1981; Bourdieu / D esault 1981.

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thentizität der Darstellung gestrebt und dem Bild damit letztlich »den Platz des Auges selbst« zugewiesen.43 Die Historizität der Wahrnehmung war nach Baxandall und Alpers keine reine Ansichtssache mehr, denn beide nahmen erste Anläufe zu »Versuchen am lebenden Subjekt der Geschichte«.44 Dennoch konnten sie das von Riegl und Wölfflin aufgebrachte Desiderat einer Entwicklungsgeschichte des Sehens nicht einlösen. Denn die visuelle Kultur Italiens im 15. bzw. der Niederlande im 17. Jahrhundert erscheint bei ihnen nicht als etwas Gewachsenes, Wandelbares und Vergängliches, sondern im Gegenteil als zeitlos präsent. Auch Unterschiede zum Sehen in anderen Kulturkreisen werden in beiden Monographien kaum thematisiert,45 so dass die Spezifika der von Baxandall und Alpers adressierten Wahrnehmungskulturen unterbelichtet bleiben. Norman Bryson und Martin Jay sollten in der Folge neue Ansätze präsentieren, um eben jene Freiräume begehbar zu machen. Brysons Buch Vision and Painting. The Logic of the Gaze (1983) liest sich in erster Linie als Generalkritik an der Kunstgeschichte seiner Gegenwart. Denn dort habe sich nach Gombrichs perzeptualistischer Bildtheorie eine chronische Theorieaversion eingeschlichen, durch die das Fach an den äußersten Rand der Geisteswissenschaften verdrängt worden sei. Durch Methodenimporte aus der Literaturwissenschaft und Psychoanalyse wähnte sich Bryson in der Lage, diesen Missstand zu korrigieren. Das fünfte Kapitel seines Buches (»Gaze and Glance«) enthält die diesbezüglich wichtigsten Passagen. Dort wird eine semiotische Bildtheorie eingeführt, mit der Malereien als Zeichensysteme gedacht und gleich in eine ganze Reihe von Dualismen eingespannt werden. Zu Beginn zentral ist der Begriff der Deixis, der in der Literaturwissenschaft die sprachliche Bezugnahme auf Personen, Orte, Gegenstände und Zeiten meint. Bryson versucht entsprechende Verweise auch im Bild aufzuzeigen, indem er auf suggestive Art östliche Tuschezeichnungen auf Seide mit westlicher Ölmalerei auf Leinwand vergleicht. Dabei kommt er zu dem absehbaren Resultat, dass in der chinesischen Tradition die Arbeit des Pinsels als solche demonstriert und offengelegt werde, so dass diese Bilder eine Reihe produktionsästhetischer Informationen preisgeben. Die italienische Malerei etwa eines Tizian beruhe dagegen auf der »Verleugnung der deiktischen Referenz, auf dem Verschwinden des Körpers als Stätte des Bildes«,46 da sich dort der Arbeitsprozess nicht in gleicher Weise nachvollziehen lasse. 43 | Falkenhausen 2015, S. 78, vgl. auch S. 66-80. 44 | Kemp 1991, S. 1162. 45 | Alpers Italienvergleiche sind in dieser Hinsicht sporadisch und auch Baxandall hatte erst Jahre später in The Limewood Sculptors of Renaissance Germany (1980) einen Seitenblick gewagt. 46 | Bryson 2001, S. 119, Hervorhebung im Original.

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Diesen beiden grundverschiedenen Bildmodi ordnet Bryson in einem zweiten Schritt zwei ebenso differente Arten der Betrachtung zu. Diese beschreibt der Autor einerseits als historische und für die Bildentstehung fundamentale Wahrnehmungsstile sowie andererseits als unumgängliche Rezeptionsweisen auch des modernen Subjekts.47 Der Begriff des glance steht dabei für die Wahrnehmung von Bildern in der östlichen Tradition, die dank der Zurschaustellung deiktischer Verweise damals wie heute zu einem verstohlenen, wandernden, intermittierenden Betrachten anregen, das die eigene Zeitlichkeit wie auch die der Bildentstehung mitreflektiere. Den gaze bezieht Bryson dagegen auf die westliche Ölmalerei, die durch die systematische Tilgung deiktischer Verweise wie auch durch die herrschenden Dikta von Realismus und Perspektive ein distanziertes, körperloses und vergleichsweise zeitloses Sehen zur Grundlage bzw. Folge habe. In einem dritten und letzten Schritt entwirft der Autor ausgehend von der Polarität glance und gaze eine Skizze zur Evolution des Sehens bzw. Bildes in der abendländischen Tradition. Dabei gehört es zu den eigenwilligen Volten des Textes, dass die zuvor so stark betonte Bedeutung der deiktischen Qualitäten von Kunstwerken jetzt keine Rolle mehr spielt. Was nun zählt, sind auf der einen Seite die Funktion des Kunstwerks und auf der anderen der Status der Betrachterin, des Betrachters. Die Kunst der Spätantike und des Mittelalters repräsentiert für Bryson das Regime des glance: Sowohl Bilder als auch Menschen unterliegen dem Auftrag der Denotation, d. h., sie sind der getreuen Darstellung bzw. Rezeption der biblischen Überlieferung verpflichtet. Religiöse Gemälde sind zu jener Zeit für Bryson nur schematische Sequenzen des heilsgeschichtlichen Verlaufs und ihre Rezipientinnen, Rezipienten, die sich der Autor als gleichgeschaltete Masse christlich Gläubiger denkt, haben keinen Anlass, sie als Entitäten von singulärem Wert aufzufassen. Auf dem Weg zur Renaissance verschwinde die rein denotative Funktion der Bilder aber zunehmend. Die Darstellungen werden konnotativer, d. h. illusionistischer, detailreicher und narrativer. Sie gehen folglich nicht länger im Kontext des zyklischen liturgischen Zeremoniells auf, sondern können nun individuell wahrgenommen werden: im Zeichen der körperlosen, optisch spezialisierten Präsenzschau des gaze. Anselm Wagner hat in seiner Rezension der deutschen Ausgabe mit Recht auf das gestrige Moment dieser Geschichtstheorie hingewiesen: »Die Zeit für 47 | Hier liegt ein zentraler Widerspruch in der Argumentation Brysons, der zu Beginn Gombrichs Perzeptualismus streng ablehnt, sich dann aber hinreißen lässt, in historischen Bildern des Ostens bzw. Westens Repräsentationen des glance bzw. gaze zu erkennen. Beiden Konzepten liegt im Übrigen eine komplexe Theoriegeschichte zu Grunde, die Bryson bewusst außer Acht lässt (vgl. Bryson 2001, S. 124) und die zuletzt Falkenhausen (vgl. 2015, S. 121-150) aufgearbeitet hat.

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reduktionistische Grundbegriffe, die die Last ganzer Kulturen zu tragen haben«, war in der Kunst- und Wahrnehmungsgeschichte längst abgelaufen.48 Zukunft hatten hingegen Ansätze, in deren Rahmen visuelle Kulturen nicht länger als einheitliche, widerspruchsfreie und regelmäßig organisierte Gebilde begriffen wurden, sondern als komplexe Konglomerate zahlreicher, zeitgleich existierender, miteinander in Konflikt liegender Wahrnehmungsstile. Diesen Denkraum zu eröffnen, gelang zuerst Martin Jay in seinem Essay Scopic Regimes of Modernity von 1988. Für Jay zeichnet sich die visuelle Kultur der Moderne – ein Zeitraum, der sich bei ihm von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart erstreckt – durch den Kampf dreier skopischer Regimes aus,49 die im Laufe der Zeit immer neue Hierarchien bildeten. Erstens sei zu Beginn ein System dominant gewesen, das Jay als »cartesianischen Perspektivismus« bezeichnet und das man seit Heidegger mit der visuellen Kultur der Moderne in eins gesetzt habe.50 Der Begriff steht für ein geometrisch isotropes Verständnis des visuellen Raumes und ihm unterliegt die epistemologische Prämisse eines statischen, einäugigen Subjekts. Mit Bezug auf Panofskys These von der Konventionalität perspektivischer Systeme und ganz in der Tradition der postmodernen Skepsis gegenüber der Autorität totalisierender Gedankengebäude spricht Jay dem Cartesianismus die jahrhundertelange Dominanz über die westliche Wahrnehmungskultur nun ab. Oppositionelle Regungen erkennt der Autor in polyperspektivischen Experimenten, kurvenlinearen Perspektivtheorien und in der wachsenden Kritik am naiven Modell der Betrachterin, des Betrachters als passive, monokulare Instanzen. Auf dieser Grundlage konnte sich zweitens ein alternatives skopisches Regime etablieren, das Jay als »Baconian empiricism« bezeichnet:51 Charakteristisch sei die Absenz einer mathematischen Grundlage der Sehtheorie sowie ein aufmerksam wanderndes, die Kleinigkeiten, Unterschiede und Oberflächen von Objekten erforschendes Auge, dessen kunst- und wissenschaftsgeschichtliche Spätfolgen noch im Impressionismus bzw. in der Fotografie spürbar seien. Drittens und letztens sei eine visuelle Subkultur entstanden, die von Jay als »barockes Auge« beschrieben wird und mit der die Freisetzung eines im Cartesianismus unterdrückten, regellos-extatischen Sehens einherging – eine »madness of vision«,52 die zuerst in der Ba48 | Wagner 2003. 49 | Den Begriff entlehnt Jay der Film- und Kinotheorie Christian Metz’ (The Imaginary Signifier, 1982). 50 | Jay verweist selbst auf Heidegger, der im Rahmen seines Freiburger Vortrags Die Zeit des Weltbildes (1938) den cartesianischen Perspektivismus als hegemoniales visuelles Konzept der Neuzeit beschrieben hatte, vgl. dazu Brüggemann 2002, S. 66-94; Rorty 1979. 51 | Jay 1988, S. 13. 52 | Jay 1988, S. 19.

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rockkunst zum Ausdruck kam und in der auch das leitende skopische Regime der Gegenwart vorliege. Man wird Jay nicht zu nahe treten, wenn man sein Essay als Textcollage bezeichnet. Denn anstelle eigener empirischer Untersuchungen zur visuellen Kultur des fraglichen Zeitraums arrangiert der Autor überwiegend Erkenntnisse aus seinerzeit aktuellen Studien zum Thema: Gewissenhaft gibt er an, das Konzept des cartesianischen Perspektivismus vor allem Richard Rortys Philosophy and the Mirror of Nature (1979) entnommen zu haben, zur Charakterisierung des Bacon’schen Empirismus griff er maßgeblich auf Svetlana Alpers’ Art of Describing zurück, und die entscheidenden Facetten des barocken Blicks basieren auf Christine Buci-Glucksmanns La raison baroque (1984) bzw. La folie du voir (1986). Ein kohärentes Gesamtbild ergibt die Zusammenstellung jedoch zu keinem Zeitpunkt: Die konstitutiven Elemente des Ensembles halten einer Verifizierung am Objekt kaum stand und gehen daher auch die intendierte triadische Verbindung nicht überzeugend ein. Daraus den Vorwurf abzuleiten, durch das Scheitern seines Differenzierungsversuches stärke Jay unfreiwillig den Glauben an Heideggers These von der Einheitlichkeit des neuzeitlichen Sehens, ist jedoch nicht gerechtfertigt.53 Allen Defiziten zum Trotz gelingt dem Autor nämlich durchaus ein überzeugendes Plädoyer für die Pluralität der europäischen Wahrnehmungskultur, die nach Jay nur noch als eine überwältigende, schlicht nichthomogenisierbare Vielheit von teils lang-, teils kurzlebigen perzeptuellen Praktiken zu verstehen ist, die parallel zueinander existieren, die sich kreuzen und miteinander verschmelzen, die sich im Extremfall aber auch niederkämpfen und auslöschen können.

S ehen und gesehen werden im l angen 19.  J ahrhundert Die Hinwendung zu einigen zentralen Erkenntnissen zur visuellen Wahrnehmungskultur des 19. Jahrhunderts erhärtet diese Theorie. Denn gerade auf diesem Feld hat die Forschung eine enorme Diversität an »makro- und mikroskopischen Regimes« rekonstruieren können.54 Dass dabei die Jahrzehnte des Fin de Siècle, in denen nicht zufällig auch Riegl und Wölfflin ihre Ideen entwickelten, den Ausgangspunkt vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bildeten, ist nicht verwunderlich. Denn die Generation um Walter Benjamin und Paul Valéry hatte sich bekanntlich selbst intensive Gedanken über die gravierenden Veränderungen der Welt und ihrer Wahrnehmung im Zeitalter der In-

53 | Vgl. Brüggemann 2002, S. 87-90. 54 | Vgl. Jay 2012, S. 29.

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dustrialisierung und Urbanisierung gemacht.55 Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Georg Simmels Thesen zum großstädtischen Leben (1903), das er als Quelle der Überreizung, Nervosität und Abstumpfung des modernen Individuums beschrieb.56 In der Literaturwissenschaft hat Heinz Brüggemann sich im Rahmen diverser Studien intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und dabei vor allem die Vielfältigkeit der Wahrnehmungsweisen um 1900 herausgearbeitet.57 Auch die Soziologie nahm den Faden auf und trug damit ihren Teil zur virulenten Tradition der Verknüpfung von Wahrnehmungs-, Industrie- und Technikgeschichte bei. Zuallererst ist in diesem Zusammenhang natürlich das breit angelegte Standardwerk Stephen Kerns zur radikalen Beschleunigung der Raum- und Zeitwahrnehmung im Europa um 1900 zu nennen – ein Phänomen, das Kern mit der Erfindung bzw. allgemeinen Verfügbarkeit von Telegraphen und Telefonen, von Fahrrädern, Autos und Flugzeugen sowie mit der Standardisierung der Zeit und der Popularisierung der Taschenuhr in Verbindung bringt und dessen weitreichende Folgen er in der Kunst, Musik, Literatur, Philosophie und Politik nachvollzieht.58 Andere Studien fokussieren Teilaspekte: So hat etwa Wolfgang Schivelbusch im Rahmen seiner klassischen Abhandlung zur Geschichte der Eisenbahnreise (1977) dem Verkehrswesen eine entscheidende Funktion im Prozess der Kultivierung des modernen Sehens zugeschrieben;59 Christoph Asendorf widmete sich dem gestörten Verhältnis von Individuum und Objekt in der Warengesellschaft und besonders dem damit einhergehenden Umbruch in den Apperzeptionsweisen von Menschen und Dingen in der Kunst, Literatur sowie im Alltag;60 Bernd Busch hingegen leistet in seiner vielfach aufgelegten Studie Belichtete Welt (1989) eine Synthese von Sinnesgeschichte und Sinnestechnologie, indem er von der Fotografie nicht als einem dem 19. Jahrhundert allein zugehörigen Paradigma der Moderne erzählt, sondern als Vollstreckerin einer jahrhundertelangen »kulturellen und technischen Bildungsgeschichte der menschlichen Wahrnehmungskräfte«.61 Dass das Medium Fotografie selbst in der Lage war, visuelle Habitualisierungen zu initiieren, ist ebenfalls oft konstatiert worden. Beispielhaft dafür 55 | In Deutschland nahm der Urbanisierungsprozess bekanntlich erst ab der Mitte des 19.  Jahrhunderts Fahrt auf. In London und Paris waren die damit einhergegangenen Veränderungen dagegen schon um 1800 spürbar, vgl. Kleinspehn 1989, Kap. 4. 56 | Vgl. Simmel 1989-2015, Bd. 7 (1995), S. 116-131; zum Thema Nervosität um 1900 Cowan 2008; Radkau 2000. 57 | Vgl. u. a. Brüggemann 2002; Brüggemann 1985. 58 | Vgl. Kern 2002. 59 | Vgl. Schivelbusch 2004, S. 50-64. 60 | Vgl. Asendorf 2002. 61 | Busch 1989, S. 11; vgl. ferner Stiegler 2001, Teil I.

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ist etwa George Didi-Hubermans Invention de l’hystérie (1982), in der dargelegt wird, wie in der Frühphase der Psychopathologie vermittels artifizieller Porträtfotos versucht wurde, den klinischen Blick auf die Symptome der Krankheit einzustellen.62 Die meisten der vielen medienwissenschaftlichen Ansätze zur Historiographie des Sehens erfolgten jedoch im Anschluss an Marshall McLuhans und Quentin Fiores Medium is the Massage von 1967,63 wo die These eingeführt wird, dass jedes Medium das menschliche Sensorium auf unterschiedliche Weise zu prägen im Stande ist. Donald M. Lowe etwa hat sich in seiner History of Bourgeois Perception (1982) an dieser Idee orientiert. Die Studie hat die bürgerliche Gesellschaft vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand und geht davon aus, dass die wechselnden Wahrnehmungskonventionen dieser diffusen Gruppe vor allem durch den Gebrauch unterschiedlicher Kommunikationsmedien zu Stande kamen, was wiederum Auswirkungen auf die Hierarchie der Sinne und die epistemische Ordnung in der fraglichen Zeitspanne gehabt habe.64 Eugene S. Ferguson hingegen thematisiert in Engineering and the Mind’s Eye (1992) die wachsenden Kompetenzen von Ingenieuren zur inneren Visualisierung von Maschinen und Bauwerken in Abhängigkeit zu Fortschritten der technischen Zeichnung.65 Die noch immer intensive Forschung zum Panorama und seinen medialen Derivaten insbesondere unter dem Aspekt ihrer für den Sehsinn im 19. Jahrhundert angeblich aufrührerischen Wirkung müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls angesprochen werden, auch wenn sie nicht allein auf McLuhan, sondern vor allem auf Dolf Sternbergers Pionierarbeit von 1938 zurückgehen.66 In der Kunstgeschichte lässt sich dagegen ab dem Beginn der 1990er Jahre ein starkes Interesse an sinnesphysiologischen Eingaben und ihrer Bedeutung für das neue, selbstbewusste Sehen vor allem im Impressionismus erkennen.67 Gottfried Boehm konnte am Beispiel der Werkgruppe Montagne Sainte-Victoire nachweisen, in welch fundamentaler Weise Paul Cézanne von zeitgenössi-

62 | Vgl. Didi-Huberman 1997, Kap. 3. Dazu auch Gilman 1976. 63 | Auch dem Leitmedium der Druckschrift hat man in der Nachfolge McLuhans immer wieder das Vermögen zugeschrieben, eine Abstraktion der visuellen Wahrnehmung zu bewirken, vgl. McLuhan 1962; in jüngerer Zeit Kerckhove 1995. 64 | Vgl. Lowe 1982; bezogen auf die Massenmedien der Postmoderne Mirzoeff 2011; Virilio 1994. 65 | Vgl. Ferguson 1992. 66 | Vgl. Sternberger 1955; zur panoramatischen Prägung des Auges im 19. Jahrhundert einleitend Ottermann 1995. 67 | Schon zuvor hatte Michal Baxandall am Beispiel der mutmaßlichen Locke-Rezeption Jean Siméon Chardins eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Wahrnehmungstheorie und Malereigeschichte geschlagen, vgl. Baxandall 1986.

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schen Theorien zur Beschaffenheit der Farbempfindung beeinflusst war;68 und Micheal F. Zimmermann hat sich den Zusammenhängen zwischen der experimentalpsychologisch fundierten Ästhetik Charles Henrys und der Malerei Georges Seurats ab der Mitte der 1880er Jahre zugewandt.69 Im Wissen um die eigene Disziplingeschichte vermeiden es beide Autoren dabei auf vorbildliche Weise, die Werke der Impressionisten monokausal auf die sie umgebenden Perzeptionstheorien zurückzuführen und lassen dadurch der individuellen Sinnestätigkeit ausreichend Spielraum. An einer Synthese von Wahrnehmungs-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte ist auch Jonathan Crarys Studie Techniques of the Observer (1990) interessiert. Neu ist hingegen die von Michel Foucault und Gilles Deleuze inspirierte Wende weg von der Malerei70 hin zu zwei technischen Dispositiven, die Crary nicht nur als materiellen Niederschlag des wahrnehmungstheoretischen Diskurses bezeichnet, sondern auch als kommunikativ, ja symptomatisch in Bezug auf die radikale Neudefinition des Sehens nach 1800: auf der einen Seite der Trennlinie das entkörperlichte, objektive Schauen der Frühen Neuzeit, vertreten durch die Camera obscura; auf der anderen Seite das modernisierte Auge des 19. Jahrhunderts, das im Bewusstsein um die psychophysische Bedingtheit des Wahrnehmungsprozesses agiert, die visuelle Wahrnehmung als subjektives Ereignis zelebriert und seine instrumentelle Entsprechung im Stereoskop vorfindet.71 Ohne aus seinen Erörterungen einen Gegenvorschlag abzuleiten hat W. J. T. Mitchell Crarys Buch einer ausführlichen Kritik unterzogen, die im Wesentlichen auf ein Missverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit abzielt.72 Nicht zu Unrecht, denn in der Tat kann Crary seinen ersten Satz – »Dieses Buch handelt vom Sehen und seiner historischen Konstruktion« 73 – zu keinem Zeitpunkt mehr einholen, sagt doch der wahrnehmungstheoretische Diskurs des 19. Jahrhunderts nur wenig aus über das Sehen als historische Praxis. Dennoch hat die Studie zu Recht interdisziplinäre Aufmerksamkeit erfahren: Jutta MüllerTamms germanistische Habilitationsschrift Abstraktion als Einfühlung (2005) etwa schließt an Crarys Erörterungen an, konzentriert sich primär aber nicht 68 | Vgl. Boehm 1988; zum Thema ferner Boehm 2003. 69 | Vgl. Zimmermann 1991; ferner Zimmermann 2011. 70 | Vgl. Deleuze 1991; Foucault 1978, bes. S. 119-125. 71 | Ohne direkten Bezug zu Crary betonen im Übrigen auch Neumann und Oesterle in der Einleitung zu ihrem Sammelband (vgl. Neumann /  O esterle 1999, S. 9-23), dass die Zeit um 1800 durch eine »Medienkrise ersten Ranges« gekennzeichnet ist, »eine Krise, die im Feld der neu entwickelten wissenschaftlichen und künstlerischen Medien aufbricht und dabei deren Verwendung im Akt des Erkennens und des Bildens nachhaltig beeinflußt und umstrukturiert« (S. 9). 72 | Vgl. Mitchell 2008, S. 112-120. 73 | Crary 1996, S. 11.

I. Augengeschichten

auf Instrumente, sondern auf die Denkfigur der Projektion. Deren grundlegende Theoretisierung erfolgte in der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts, einhergehend mit einem neuen – insbesondere in der Kunstproduktion und Kunstkritik um 1900 folgenreichen – Verständnis der Wahrnehmung nicht länger als passiver Rezipientin extrapersonaler Data, sondern als aktiver Kreateurin der Wirklichkeit. Auch in der Wissenschaftsgeschichte stieß Crarys Buch auf reges Interesse: An der Vielzahl von Studien zur Bedeutung optischer Instrumente für die Herausbildung fachspezifischer Beobachtungsverfahren hat er ebenso Anteil74 wie an der bis heute andauernden Forschung zur Entstehung von disciplinary eyes in der historischen Epistemologie, die vor allem durch Lorraine Dastons und Peter Galisons Publikation Objectivity (2007) entscheidend bereichert wurde 75 und in deren Rahmen auch über den Stellenwert von Ausbildungsmethoden und -medien der visuellen Erziehung nachgedacht wird.76

D er vergessene D iskurs Diese wenigen Schlaglichter mögen genügen, um das enorme Spektrum bereits verfügbarer Studien zur Wahrnehmungskultur des langen 19. Jahrhunderts anzudeuten. Und doch kann nicht die Rede davon sein, dass damit all ihre noch erfassbaren Facetten auch erfasst worden wären. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass bislang noch keine Untersuchung zum Anschauungs- und Zeichenunterricht vorliegt, obgleich diese Fächer im fraglichen Zeitraum anhaltend und explizit den Status einer Schule des Sehens für sich in Anspruch nahmen.77 Diese Leerstelle wirkt schon deshalb befremdlich, da doch emphatische Bekundungen der Bedeutung des Zeichnens für die Entwicklung des Auges seit der Frühen Neuzeit zu den konstantesten Topoi der Kunstliteratur zählen. Ebenso bekannt ist, dass die Pädagogik im Zuge der Aufklärung zu einer europaweit geachteten Leitdisziplin aufstieg, die ihre Ansichten und Methoden ab dem Ende des 18. Jahrhunderts immer effektiver in die Bildungspolitik einbringen konnte. Und nicht zuletzt zählt Michel Foucault in 74 | Vgl. etwa Breidbach /  K linger / M üller 2013; Köhnen 2009; Fiorentini 2008; Bruhn /  Hemken 2008; Hoffmann 2006; Meyer-Abich 1995. Ein Versuch über die VR-Brille als bezeichnendes technisches Dispositiv des postfaktischen Zeitalters ließe sich anschließen. 75 | Daston / G alison 2007, S. 52. Der englische Begriff wird in der deutschen Ausgabe etwas ungelenk mit »Blick der Fachvertreter« übersetzt; zum Thema ferner Daston / L unbeck 2011. 76 | Vgl. Anderson /  D ietrich 2012; Grasseni 2007; Kaiser 2005. 77 | Auch die neuesten Sammelbände zur Kulturgeschichte der Sinne klammern den pädagogischen Diskurs aus, vgl. Vila 2014 (= A Cultural History of the Senses, Bd. 4); Classen 2014 (= A Cultural History of the Senses, Bd. 5).

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seinen stark rezipierten Schriften Naissance de la clinique (1963) und Surveiller et punir (1975) neben Krankenanstalten und Gefängnissen eben auch Schulen zur Riege der institutionellen Schauplätze biopolitischer Einschreibung und mithin die Pädagogik zu jenen Humanwissenschaften, die im 19. Jahrhundert zuallererst das theoretische Fundament für die staatlich regulierte Ökonomisierung des Subjekts legten.78 Bei alledem stehen immer Fragen der Disziplinierung des Sehens bzw. durch das Sehen im Zentrum, was die Tatsache umso erstaunlicher macht, dass die Bedeutung des anschauungspädagogischen Diskurses für die Herausbildung visueller Standards im langen 19. Jahrhundert noch nicht erkannt wurde. Die vorliegende Studie reagiert auf diesen Umstand und nimmt den folgenden Verlauf: Um die Spezifik der pädagogischen Ansätze zur visuellen Erziehung nach 1800 herausstellen zu können, wird zur Einleitung die (früh-)neuzeitliche Geschichte der europäischen Anschauungspädagogik in den Blick genommen (II.). Anschließend kommen mit Pestalozzi, Herbart und Fröbel die wichtigsten Vertreter des Fachs um 1800 zu Wort, da von ihnen Methodenentwürfe zur Normierung des Sehens auf geometrisch-mathematischer Grundlage stammen, die für die Folgezeit bestimmend sein werden (III.). Das nächste Kapitel (VI.) schlägt die Brücke zur Zeichenpädagogik, die im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts als entscheidender Multiplikator der Anschauungslehre fungierte. Im Anschluss daran wird der pädagogische Diskurs verlassen. Von wesentlichem Interesse sind jetzt die Folgen der schulischen Disziplinierung des Blicks. Dabei wird ein Schwerpunkt auf der Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte liegen – eine Disziplin, deren Arbeit im 19. Jahrhundert nicht nur in besonderem Maße von der Zeichnung bestimmt war,79 sondern die darüber hinaus im fraglichen Zeitraum auch eine Unzahl kunst- und architekturbezogener Beschreibungen vorlegte, anhand derer nachvollziehbar wird, wie formanalytisches Sehen im Fach allmählich den Status

78 | Vgl. Foucault 1976; Foucault 1973; zur interdisziplinären Rezeptionsgeschichte Foucaults inklusive seiner Aufnahme in der Pädagogik Kammler / Parr / S chneider 2008, Kap. 5. 79 | Jérémie Koering und Ulrich Pfisterer planen aktuell eine Ausstellung zum Thema (u. a.) am Zentralinstitut für Kunstgeschichte. Ausgangspunkt sind eine Reihe von Spezialstudien Koerings, zuletzt Koering 2017 / 18. Weitere Fallstudien bei: Müller-Bechtel 2009; Rössler 2008; Kemp 2007; Boerlin-Brodbeck 1994. Dieses Material ist für die vorliegende Studie allerdings weniger wichtig, da es ihr nicht um das Zeichnen sondern um das Zeichnenlernen im langen 19. Jahrhundert geht. Dass Kunsthistoriker den Zeichenunterricht ihrer Gegenwart tatsächlich als Schule des Sehens begriffen, belegt etwa Heinrich Wölfflins Kritik am Verfall des Hochschulzeichenunterrichts von 1910, vgl. Wölfflin 1946a, S. 164 f.

I. Augengeschichten

einer geläufigen Wahrnehmungspraxis erringt.80 Dieser Teil der Unterweisung des Blicks gliedert sich in zwei Abschnitte: Zunächst werden die Anfänge des formanalytischen Sehens in der Kunstgeschichte der ersten Jahrhunderthälfte aufgearbeitet (V.). Im Anschluss daran gilt das Interesse diversen Anzeichen für die fortschreitende Entgrenzung dieser Wahrnehmungskonvention in der zweiten Jahrhunderthälfte (VI.). Zum Ende wird der Niedergang des von der Pädagogik getragenen visuellen Regimes thematisiert (VII.). Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem anschließenden visuellen Trend (nicht nur) in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts: dem Rhythmussehen.

80 | Damit verbunden ist der Versuch, kunsthistoriographisches Material nicht mehr exklusiv unter fachgeschichtlichen Aspekten auszuwerten, sondern es zur Bearbeitung übergreifender, gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen heranzuziehen. Vgl. dazu Teutenberg 2016a; Brevern 2009.

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Die Kunst der Anschauung

II. »Ich will dir zeigen alles!« Anschauungspädagogik vor 1800

D ie W elt in B ildern : J ohann A mos C omenius Um die Intentionen von Johann Amos Comenius’ Orbis sensualium pictus zu verstehen, der bereits 1653 in Form eines Probebogens kursierte und ab 1658 als Buch in deutscher und lateinischer Sprache sowie illustriert mit 151 Holzschnitten erhältlichen war,1 genügt noch heute ein Blick auf die einleitende Graphik des Lehrbuchs (Abb. 8): Zu sehen ist Comenius selbst, der – ausstaffiert mit Pelzmütze, Umhang und Gehstock – einen Schüler vor die Tore einer fiktiven Stadt geleitet hat, um ihm dort aus erster Hand Einblicke in das ›Buch der Natur‹ zu gewähren. Angeleitet durch seinen Lehrer gelangt der aufmerksame Junge dabei zur allmählichen Erkenntnis Gottes in den Dingen, die seinen Glauben stärkt und seinen Intellekt erleuchtet, so wie die Sonnenstrahlen die dunklen Wolken am Himmel vertreiben. Einen Hinweis auf die inhaltlichen Schwerpunkte des Orbis pictus geben dagegen die Bauwerke im Hintergrund der Szene: Die antik-römische Kirche Santo Stefano Rotondo und ihr gotisches Pendant verweisen darauf, dass eines der wichtigsten Lehrziele des Buches die Vermittlung der lateinischen und deutschen Sprache darstellt. Programmatisch ist das Blatt zudem, da der anonyme Nürnberger Bildschnitzer durch den erhobenen Zeigefinger und den geöffneten Mund des Magisters auch die beiden Säulen der comenianischen Didaktik ins Bild setzte:2 Zeigen und Benennen, d. h. die Vermittlung von Wissen durch die konsequente Veranschauli-

1 | Vgl. Comenius 1910. Zum Orbis pictus einführend vgl. Hornstein 1997; Hruby 1991a; Alpers 1983, bes. S. 91-99; Alt 1970; Čapková 1970. 2 | In der Forschung wird vermutet, dass der Nürnberger Graphiker Paul Kreutzberger für die Illustrationen des Orbis pictus verantwortlich ist. Bei der Konzeption wurde er offenbar von den Humanisten Siegmund von Birken und Johann Michael Dilherr angeleitet, denen auch die deutsche Übersetzung des Textes oblag, vgl. Hruby 1991a, Sp. 440; Rosenfeld 1964; Kunstmann 1957.

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chung aller Unterrichtsgegenstände – eine Methode, die im Dialog unter dem Bildfeld näher erläutert wird: Abbildung 8: Johann A. Comenius: Anschauungsunterricht, in: Comenius 1698, S. 2 (UBH).

»M. Veni, Puer! disce Sapere. L. Komm her / Knab! lerne Weißheit. P. Quid hoc est, Sapere? S. Was ist das? Weißheit. M. Omnia, L. Alles /  quae necessaria, was nöthig ist /  rectè intelligere, recht verstehen /  rectè agere, recht thun /  rectè eloqui. recht ausreden. P. Quis me hoc docebit? S. Wer wird mich das lehren? L. Ich / mit GOtt [sic]. M. Ego, cum Deo. P. Quomodo? S. Welcher gestalt? M. Ducam te, per omnia, L. Ich will dich führen durch alle Dinge /  ostendam tibi omnia, Ich will dir zeigen alles /  nominabo tibi omnia. Ich will dir benennen alles.« 3

Gerade in älteren Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik hat man in diesem Ansatz gern den Wendepunkt von einer verbalistischen hin zu einer anschaulichen Form der Lehre gesehen und den »erleuchteten Comenius« zum Stammvater der modernen Erziehungswissenschaft stilisiert.4 Übersehen wur3 | Comenius 1910, S. 2, Hervorhebungen im Original. 4 | Deussing 1884, S. 16.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

de dabei, dass die mnemotechnischen Vorteile dieser Methode im Prinzip schon seit der Antike bekannt waren und auch im Spätmittelalter nicht vergessen wurden:5 So gibt etwa Martin Luther an Ostern 1533 mit Blick auf die theologische Debatte um die Zulässigkeit von bildlichen Darstellungen der Heilsgeschichte zu bedenken: »Man muß doch dem groben Volk kindlich und einfältiglich vorbilden, als man immer kann: sonst folget der zweien eines, daß sie entweder nichts davon lernen noch verstehen; oder, […] daß sie gar vom Glauben kommen.«6 Comenius hingegen las sicher bei Francis Bacon und Juan Luis Vives über die zentrale Bedeutung der Sinne für die Ausbildung aller Erkenntnisse und Vermögen des Menschen wie auch über die daraus folgende Notwendigkeit einer anschaulichen Form der Lehre.7 Sigismund Evenius hatte zudem bereits 1636 die Christliche, Gottselige Bilder Schule vorgelegt und damit das »erste Buch […], das ausdrücklich Bilder in den Dienst der schulischen Unterweisung stellte«, veröffentlicht.8 Auch die Verwendung von Bildern im Sprach- und Religionsunterricht ist nördlich wie südlich der Alpen lange vor Comenius nachweisbar.9 Nicolaus Neufchâtels Porträt des Nürnberger Schreib- und Rechenmeisters Johann Neudörfer nebst Schüler (1651; Abb. 9) belegt darüber hinaus, dass anschaulicher Unterricht Mitte des 16.  Jahrhunderts tatsächlich Bestandteil der gehobenen Ausbildungspraxis war.10 Ein enzyklopädisches Sachbuch, das bei der Wissensvermittlung konsequent auf den synergetischen Effekt von Text-BildKombinationen setzt, sucht man vor dem Orbis pictus dennoch vergebens. Es darf vermutet werden, dass für diese Vakanz vor allem ökonomische Gründe verantwortlich waren. Manch ein Schulmeister mag aber auch die mahnenden Worte Aristoteles’ (Politik 1336b) hinsichtlich des suggestiven Potentials der Bilder erinnert und infolgedessen im Unterricht auf Repräsentationen verzichtet haben. Dass derlei Ressentiments für Comenius längst keine Rolle mehr spielten, macht nicht nur die Publikation seines Orbis pictus deutlich. Bereits in der Didactica magna (verfasst ab 1627; publiziert 1657) fordert er dazu auf, von allen in natura nicht verfügbaren »wissenswerthen Dingen« Nachbildungen für den Unterricht anzufertigen.11 Ausschlaggebend für sein Vertrauen in das Medi5 | Vgl. dazu Hruby 1991a, bes. Sp. 437; Dörstel 1991. 6 | Luther 1829, S. 168. 7 | Vgl. dazu Merkle 1983, S. 50 f. 8 | Ringshausen 1976, S. 58. Zu Evenius und der Bilderschule vgl. ferner Bremer 2001, S. 154-176; Hruby 1991b; Schaller 1962, S. 332 ff.; Schmid 1895; Richter 1893. 9 | Vgl. Moulin 2008; Keck 2007; Pfisterer 2003b; Keck 1992; Dörstel 1991; Wirth 1983, S. 256-370; Ringshausen 1976. 10 | Zum Gemälde Neufchâtels vgl. Löcher 1997, S. 328 ff.; Schiffler / W inkeler 1985, S. 61; Strieder 1956; Peltzer 1926. 11 | Comenius 1872, S. 170. In diesem Punkt folgt Comenius der Anregung seines Lehrers Alsted, vgl. Lippert 1899.

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um ›Bild‹ waren zunächst pragmatische Erwägungen, konnte doch ein Großteil seiner Schülerschaft »Last-Schiffe«, die »Geäder und Gebeine« des Menschen oder gar abstrakte Konzepte wie »Klugheit« oder »Dapfferkeit« nicht realiter bzw. in Form von Modellen in Augenschein nehmen. Eigentlich motiviert war die comenianische Ikonophilie jedoch von der frühneuzeitlichen Weltanschauung des Theologen.12 Denn als führender Emanationstheoretiker der Epoche schrieb Comenius grundsätzlich jedem Ding eine spezifische Funktionslogik innerhalb der göttlichen Ordnung auf Erden zu, die zu vermitteln das primäre Ziel seiner Pädagogik und so auch des Orbis pictus darstellte.13 Die körperliche Präsenz von Gegenständen im Unterricht war für ihn dabei kaum von Bedeutung. Der entscheidende Symbolwert eines jeden Objekts ließ sich anhand von entsprechend konzipierten Abbildungen sogar noch besser vermitteln als am Original. Abbildung 9: Nicolaus Neufchâtel: Johann Neudörffer und ein Schüler (1651), in: Schiffler / Winkeler 1985, S. 61 (ZI).

12 | Vgl. dazu Schaller 1962, S. 16-42. 13 | Dass sich dieses Anliegen nicht nur in den Einträgen, sondern auch in der Gesamtorganisation des Orbis pictus widerspiegelt, belegt Leis-Schindler 1991; dort auch Informationen zum Platz des Orbis pictus im von Comenius geplanten pansophischen Schulbuchsystem, vgl. dazu ferner Michel 1992. Zuvor hatte Alpers (vgl. 1983, S. 99) im Orbis pictus ein Beispiel für wertfreien pädagogischen Realismus erkannt, seitdem ist die Forschung jedoch mehrheitlich anderer Ansicht: vgl. Konečený 1996; Antochi 1992; Harms 1970.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

Abbildung 10: Johann A. Comenius: Feuer, in: Comenius 1698, S. 12 (UBH).

Formale Inspiration für die Gestaltung der einzelnen Einträge erhielt Comenius von zeitgenössischen Emblembüchern, d. h. von erprobten Medien der Sinnstiftung und -vermittlung. Der typisch enigmatische Charakter der Rätselbilder blieb dabei außen vor, galt es doch der Jugend keine komplizierten Denkaufgaben zu stellen, sondern sie im Gegenteil über die kosmischen Zusammenhänge ihrer Umwelt aufzuklären. Anhand des vierten Eintrags wird der formale Bezug zum Emblem schnell deutlich: Das Lemma »Ignis. Das Feuer« (Abb. 10) gibt ein Thema vor, welches Icon und Epigramm anschließend genauer profilieren. Der Holzschnitt versammelt dazu verschiedene exempla, die mit dem Begriff Feuer assoziierbar sind, und bildet diese sorgfältig getrennt voneinander ab. Die Verbindung zum Textteil leisten die den Bildgegenständen beigegebenen arabischen Ziffern.14 Erst durch sie wird die Darstellung zum »Anschauungsbild«,15 denn die Illustration wird nun unweigerlich als Lehrund Lernhilfe für die im Text vorliegenden Informationen wahrgenommen. Die Aufgabe des Epigramms ist es, die einzelnen Bildelemente in Bezug zueinander wie auch zum Oberthema zu bringen: Auf die Nennung der wichtigsten Eigenschaft des Feuers (es »brennet und verbrennet«) folgt eine Aufzählung von Utensilien, die es entzünden (Feuerstein, Feuerzeug, Zunder) sowie von Gefah14 | Dieses Stilmittel findet sich schon bei Evenius (vgl. 1991). Letztlich geht es auf Darstellungskonventionen antiker medizinisch-technischer Sachbilder zurück, vgl. dazu Bogen 2005; Herringer 1967. Bildliche Allegorien um 1600 verfahren ähnlich, vgl. Ringshausen 1976, S. 61. 15 | Ringshausen 1976, S. 70.

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ren, die Flammen bergen (»eine Feuersbrunst, welche die Häuser wegfrisst«), und Produkten, die sie erzeugen können (Rauch, Ruß, Kohle, Asche). Auch die Einträge zu abstrakten Konzepten – etwa »Patientia« – funktionieren nach diesem Prinzip, mit dem einzigen Unterschied, dass hier die exempla notgedrungen aus Attributen (Schaaf, Anker) bzw. Analogien (»wie ein Schiff / das auf dem Meer schwebt«) bestehen.16 Comenius war sich allerdings auch über die Schwächen seiner Publikation im Klaren: So umfang- und kenntnisreich diese den Schülerinnen und Schülern auch erschienen sein mag, so weit blieb sie doch tatsächlich entfernt von einer Gesamtdarstellung der unendlichen Mannigfaltigkeit der Ding-Welt. Es ist also nur konsequent, dass der böhmische Gelehrte über alternative Verfahren der visuellen Erziehung nachdachte. Die detaillierten Anweisungen zur Realien-Observation aus der Didactica magna spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle: »Es ist nun über die Art und Weise, oder über die Methode zu sprechen, die Gegenstände den Sinnen so zu präsentiren, daß eine feste Einprägung stattfinde […]. Da ist es nämlich nöthig, daß, wenn etwas richtig gesehen werden soll, dies 1) vor die Augen gestellt werde, und zwar 2) nicht zu entfernt, sondern in dem rechten Abstande, 3) auch nicht von der Seite, sondern gerade vor die Augen, 4) ferner nicht so, daß die Vorderansicht des Gegenstandes umgekehrt oder abgewendet, sondern gerade gegenübergestellt ist, 5) so, daß der Blick zuerst den ganzen Gegenstand überschaue, und dann 6) die einzelnen Theile gesondert durchmache, und zwar 7) in einer bestimmten Ordnung vom Anfang bis zum Ende, und 8) bei jedem Theile so lange verweile, bis 9) alles richtig in seinen Unterschieden erfaßt worden ist. Wenn dieses streng beobachtet wird, so wird das Sehen recht vor sich gehen; fällt nur eins von diesen Stücken aus, so wird es gar nicht oder doch nur schlecht gelingen.«17

Der Autor selbst führt seine visuelle Technik – wie auch seine übrigen didaktischen Grundsätze – auf in der mundus naturalis beobachtbare Gesetzmäßigkeiten zurück, die auch allen Erzeugnissen der mundus artificialis (inklusive der Großen Unterrichtslehre) unterliegen müssen, damit diese im Einklang mit der göttlichen Weltordnung stehen.18 So soll die Betrachterin, der Betrachter bei der Beobachtung eines jeden Objektes vorgehen wie die Natur selbst, die, »wenn sie aus dem Eie einen Vogel hervorbringen will, […] nicht zuerst den Kopf oder ein Auge, eine Feder, eine Klaue [schafft oder bildet], sondern sie erwärmt die gesammte Masse des Eies, leitet durch die von der Wärme hervorgerufene Bewegung Adern durch 16 | Comenius 1910, S. 12 f., 232 f. 17 | Comenius 1872, S. 172, Hervorhebungen im Original. 18 | Vgl. dazu allgemein Bellerate 1972.

II.  »Ich will dir zeigen alles« das Ganze, um da schon die Grundlinien des ganzen Vögleins […] vorzuzeichnen, und dann erst erhalten die einzelnen Theile ihre Ausbildung bis zur Vollendung.«19

Comenius’ Anschauungstechnik, die wohl weniger von natürlichen Bildungsprozessen denn von erfolgreichen Beobachtungstechniken früher empirischer Naturforscher inspiriert wurde,20 folgt also dem gleichen Schema, das auch den Einträgen des Orbis pictus unterliegt: einem grundsätzlichen Voranschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen. Zugleich beansprucht sie jedoch einen weitaus größeren Wirkungskreis als die Bilderwelt. Denn Comenius’ Beobachtungsverfahren versetzt theoretisch jede Erzieherin, jeden Erzieher in die Lage, unabhängig von kostspieligen Lehrmitteln methodisch kontrollierten ›Anschauungsunterricht‹ zu betreiben. Ob diese Rezeptionsvorgabe in der schulischen Praxis tatsächlich berücksichtigt wurde, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Wahrscheinlicher ist, dass man ihr – wie auch der comenianischen Didaktik im Allgemeinen (s. u.) – wenig Aufmerksamkeit schenkte. Unabhängig von der Frage der Wirksamkeit dieses Disziplinierungsversuchs kann jedoch festgehalten werden, dass bereits der erste Anlauf einer stärkeren Integration des Sehsinns in schulische Lehr- und Lernprozesse mit normativen Maßnahmen zur Konditionierung des Auges verbunden war. Comenius steht damit am Anfang einer langen pädagogischen Tradition, in der der Wunsch nach Kontrolle über die visuelle Wahrnehmung des Menschen immer stärker wurde – ebenso wie das Interesse an neuen Verfahren zur Konditionierung des Blicks.

D ie R enaissance der S inne bei J e an -J acques R ousse au Es dürfte wohl in der Geschichte des gedruckten Buches nicht viele Publikationen gegeben haben, denen ein derartiger Publikumserfolg zuteil wurde, wie dem Orbis pictus des Johann Amos Comenius. Kurt Pilz hat sich die Mühe gemacht, die verschiedenen Auflagen des Lehrbuchs bis zu den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen und zählt für diesen Zeitraum sagenhafte 244 Editionen, einhergehend mit Übersetzungen in 22 Sprachen.21 Aus seiner Auflistung wird zudem ersichtlich, dass sich das Werk bereits kurz nach der 1658 bei Michael Endter in Nürnberg publizierten Ausgabe rasant über ganz Europa auszubreiten begann und speziell im deutschen Sprachraum mit insgesamt 180 Editionen nachhaltig gefragt war.

19 | Comenius 1872, S. 110. 20 | Vgl. dazu Daston 2011; Ogilvie 2006. 21 | Vgl. Pilz 1967, S. 68 f.

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Von diesem beeindruckenden Befund auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte des Lehrbuchs bzw. der comenianischen Anschauungspädagogik im deutschen Bildungswesen der Neuzeit zu schließen, verbietet sich jedoch: Die von Erziehern im 17. und 18. Jahrhundert häufig geäußerte Kritik an der mangelnden Qualität der Holzschnitte und lateinischen Kommentare impliziert im Gegenteil, das man den Orbis pictus recht bald schon als Sach- bzw. Sprachenlehrbuch für unzureichend befand.22 Zudem wurden Svetlana Alpers zufolge illustrierte Bücher aufgrund der hohen Kosten an Schulen des 17. und 18. Jahrhunderts generell nur selten angeschafft bzw. verwendet.23 So verwundert es nicht, dass auch die Publikation weiterer, universell orientierter und konsequent anschauungspädagogisch konzipierter Lehrbücher in dieser Zeit nahezu ausblieb.24 Dass sich der Einfluss Comenius’ auf die Unterrichtsmethoden der Folgezeit tatsächlich in Grenzen hielt, legt auch ein 1906 von Theodor Fritzsch aufgefundener Brief eines gewissen »Conrektors« Matthäus Neumann nahe, der offenbar dessen Memoiren beilag und um 1750 zu datieren ist. Neumann erinnert sich darin, wie er bei Recherchen eher zufällig auf eine Ausgabe von Comenius’ Lateinlehrbuch Janua linguarum reserata (1631) stieß, diese studierte und daraufhin selbst damit begann, seinen Jungen »von allen Ecken und Enden Bildnisse zusammen[zutragen]« sowie »oft mit ihnen aufs Feld und in eine Werkstatt« zu gehen, um den Schülern auf diesem Weg lateinische Vokabeln 22 | Die Kritik an den Bildern zielte vor allem auf deren geringe handwerkliche Qualität. Die lateinischen Kommentare waren hingegen problematisch geworden, da die Humanisten Latein lieber anhand der hochwertigeren Texte antiker Schriftsteller vermitteln wollten, vgl. Michel 1992; Michel 1973, S. 46 ff.; Tischer 1969, S. 26 ff.; Pilz 1967, S. 43-50; Schaller 1962, S. 373 ff. Auch das Bestreben des Nürnberger Predigers und Konrektors Dreßler, den Orbis pictus schon 1719 mittels 150 neuer Kapitel zu künstlerischen und handwerklichen Berufen zu aktualisieren, ist in diesem Zusammenhang aussagekräftig, vgl. Michel 1973, S. 74-80; Michel 1972, S. 84. 23 | Vgl. Alpers 1983, S. 97 f. Für die erbärmlich ausgestatteten Landschulen trifft das sicher unumwunden zu. In den Städten konnte sich die Lage vereinzelt anders darstellen. Als Ausnahme muss in diesem Zusammenhang vor allem das Kolleg August Hermann Franckes angeführt werden, da dieser in seinen Hallenser Bildungsanstalten ausdrücklich die Nutzung des Orbis pictus für den Sprachunterricht verlangte und bei der Lehre generell auf das Prinzip »Anschauung« setzte, vgl. Deussing 1884, S. 18 f. Zur Verwendung von Schulbüchern im 18. Jahrhundert vgl. grundsätzlich Rommel 1968, S. 142-152. 24 | Vgl. dazu Pressler 1980, S. 34-46. Auch Gerhard Michel, der der Wirkungsgeschichte Comenius’ im Rahmen mehreren Studien nachgegangen ist, kann bis zur Erneuerung der Anschauungslehre durch Rousseau kaum Nachfolger benennen, vgl. Michel 1992; Michel 1972. Vgl. zudem auch das Goethe-Zitat aus Dichtung und Wahrheit (Goethe 1985-2013, Bd. 14 (1986), S. 41): »Außer dem Orbis pictus des Amos Comenius kam uns kein Buch dieser Art in die Hände«.

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beizubringen: »Aber höre, wie mir’s gieng. Das ist ein Neuling, sagten die Herren Kollegen, und macht die Jungens wild, und lehrt sie nicht gründlich; und manche Eltern sagten das auch, und der Scholarche gab mir Verweise, weil die Büblein nichts aus dem Donat wußten.«25 Der große publizistische Erfolg der ›Bilderwelt‹ ging demnach eher auf die enzyklopädisch-lexikalischen denn auf die didaktischen Qualitäten des Buches zurück. In vielen neuzeitlichen Bildungseinrichtungen hielt man dagegen mit großer Beharrlichkeit an der verbalen Unterrichtsmethode fest. Speziell für den deutschen Sprachraum liegen die Hauptgründe dafür sicher in den lange spürbaren Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs: Denn diese hatten die Mittel für die schulische Erziehung chronisch knapp gehalten und verhinderten dadurch die systematische Kultivierung des Erziehungswesens durch die jeweiligen Landesherren. Comenius’ progressive Anschauungspädagogik jedenfalls – wie im Übrigen auch seine bildungspolitischen Reformforderungen nach einem staatlich organisierten Schulsystem und einer altersgemäßen Ausbildung in konsekutiven Schulklassen – verblieben in dieser »Zeit höchster Not, unvorstellbaren Elends« auf der Stufe »einer grandiosen pädagogischen oder didaktischen Utopie«.26 Anders als in der Pädagogik hatte man in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts das Erfolgsprinzip learning by seeing nie wirklich vergessen. Vor allem John Locke ist es zu verdanken, dass der Gedanke fortlebte. Denn dieser hatte einige Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Orbis pictus in seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) in Abgrenzung zum Okkasionalismus Descartes’ und der Monadenlehre Leibnitz’ eine von der Kirche geächtete empirische Erkenntnistheorie entwickelte und sich dabei – wie schon Comenius vor ihm – wesentlich auf Francis Bacon bezogen. Im Zentrum der Argumentation Lockes steht die These, dass der Mensch von Geburt an über keine Vorstellungen (ideas) verfüge, sondern dass diese ausnahmslos auf Erfahrungen zurückgehen, die wiederum entweder direkt von sinnlichen Wahrnehmungen (sensations) oder aber vom mentalen Umgang (reflection) mit älteren, im Gedächtnis gespeicherten Empfindungen herrühren. Diese Theorie war pädago25 | Alle Fritzsch 1906, S. 173. 26 | Menck 1993, S. 179. Darüber hinaus konstatiert auch Günther (1987, S. 143), dass zwischen den großangelegten Reformentwürfen von Männern wie Comenius und der »Wirklichkeit des Bildungswesens im 17. und im ersten Drittel des 18.  Jahrhunderts […] eine tiefe Kluft« bestand. Alle Versuche, Reformvorschläge umzusetzen, seien schon im Keim gescheitert oder nur kurzzeitig und mit großen Abstrichen umgesetzt worden. Zur neuzeitlichen Bildungsgeschichte in Deutschland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ferner: Berg /  H ammerstein 1987-2005, Bd. 2 (2005); Tenorth 1992, Kap. II; Hörburger 1967, Kap. I-V; Driesch / E sterhues 1952, Kap. VI.

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gisch anschlussfähig, impliziert sie doch grundsätzlich, dass sich sowohl die physische als auch die psychische Entwicklung des Menschen durch äußere Vorgaben kontrollieren lässt. Locke selbst hatte aufbauend auf diesen Gedanken in den späteren Thoughts Concerning Education (1693) eine bürgerliche Erziehungstheorie entwickelt und war dort auch entschieden für die Veranschaulichung von Unterrichtsgegenständen eingetreten.27 Besonders erfolgreich waren seine pädagogischen Ansichten jedoch im Frankreich des 18. Jahrhunderts: Étienne Bonnot de Condillac popularisierte dort die Position des Engländers im Rahmen des Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) und radikalisierte dessen Theoreme zum Sensualismus, indem er auch das menschliche Vermögen des Erkenntnisgewinns durch Reflexion nicht als gegeben, sondern als erworben erachtete.28 In der Folgezeit deutlich einflussreicher war jedoch ein anderer frankophoner Locke-Rezipient:29 Jean-Jacques Rousseau, der mit seinem 1789 bis 1791 von Johann Heinrich Campe ins Deutsche übertragenen erziehungstheoretischen Hauptwerk Émile ou De l’éducation (1762) maßgeblich zur Renaissance der Anschauungslehre beigetragen hat. Rousseaus Schrift steht heute insbesondere für die Nobilitierung der Kindheit als prägende Stufe in der menschlichen Entwicklung sowie für die damit einhergehende Forderung nach einer anthropologisch-psychologischen Auseinandersetzung mit dieser Lebensphase.30 Wichtig wurde seine Erziehungstheorie jedoch vor allem, da sie im Rahmen eines literarischen Experiments konventionelle Lehr- und Lernmethoden verwarf bzw. modifizierte: zum einen den weltfremden theologischen Ansatz, im Glauben an die Erbsünde und die prinzipielle Verdorbenheit des Menschen alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um der natürlichen Entwicklung des Kindes entgegenzuwirken; und zum anderen die teleologischen Ausbildungskonzepte der Hofmeister des Ancien Régime,31 die die Erziehung ihrer adligen Zöglinge stringent auf das Ideal des umfassend gebildeten gentilhomme zulaufen ließen.

27 | Vgl. Locke 1693, Kap. XXIV. Dazu zuletzt Barakat 2011. Zu den Thoughts Concerning Education ferner: Anstey 2002. 28 | Vgl. dazu Rhyn 2002. Auch Condillac ließ seiner epistemologischen Grundhaltung eine pädagogische Handlungstheorie folgen: den Cours d’études pour l’instruction du Prince de Parme, der 1775 in dreizehn Bänden erschien, dazu zuletzt Badinter 2010. 29 | Vgl. zu Rousseau und Locke: Berg / H ammerstein 1987-2005, Bd. 2 (2005), S. 102105. Zur Locke-Rezeption in französischen Erziehungstraktaten des 18. Jahrhunderts: Losfeld 2001. 30 | Vgl. zur Erziehungstheorie Rousseaus vgl. Bolle 2012; Grandière 1998, S. 129-149; Koch 1992 / 96, Bd. 2 (1996), S. 141-167; Benner 2001; Boyd 1963; Rang (1959) 1965; Hentig (1956) 2004, S. 42-83; Cassirer (1932) 1989. 31 | Vgl. dazu ausführlich Snyders 1971.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

Rousseau erklärte beide Verfahren mit Blick auf die aktuelle gesellschaftspolitische Situation in Frankreich (und besonders in Paris) für untauglich. Denn im Zeitalter der Aufklärung und der emporstrebenden Bourgeoisie könne man schlicht nicht mehr vorhersagen, was letztlich aus der (männlichen) Nachkommenschaft werden würde.32 Es erschien Rousseau daher sinnlos, konkrete Ausbildungsziele auszurufen. Er formulierte stattdessen eher abstrakte Ideale, die im Kern darauf ausgerichtet waren, Persönlichkeiten heranzubilden, die in widrigen gesellschaftlichen Situationen unerschütterlich und tugendhaft bleiben und sich letztlich in ein Staatsmodell eingliedern konnten, wie es der Verfasser des Émile zeitgleich im Contract Social (1762) vorgestellt hatte.33 Sicher waren für Rousseau nur zwei Dinge: Jeder Mensch ist von Natur aus gut und darüber hinaus mit der »Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln« (perfectibilité), begabt.34 Kraft dieses Vermögens  – und angeleitet durch eine vernünftige Erziehung – war es daher jedem Zögling möglich, sich sukzessive zu vervollkommnen, ohne dabei einem vorherbestimmten Entwicklungsgang zu unterliegen. Aus dieser Ansicht folgte eine für die Geschichte der Anschauungspädagogik höchst bedeutsame Maßnahme: Denn um das Werden seiner Schülerinnen und Schüler so lange wie möglich offen zu halten, empfiehlt Rousseau, sich bei der Erziehung zunächst ganz auf die systematische Verfeinerung der Sinne – der universell nützlichen »Werkzeuge des Geistes« – zu konzentrieren.35 Auch dieses Erziehungskonzept lässt sich anhand eines programmatischen Frontispizes näher erläutern: Das Blatt stammt aus der Hand des Kupferstechers Robert de Launay, der seine Platte nach einer Crayon-Zeichnung Charles-Nicolas Cochins (1780, Abb. 11) gravierte.36 Die Graphik mit dem Untertitel L’éducation de l’homme commence à sa naissance37 wurde dem ersten Buch der Émile-Edition vorangestellt, die im Rahmen der ab 1782 in Genf publizierten 32 | Für die Frau ist nach Rousseau nach wie vor die Rolle der Gattin und Mutter vorbestimmt. Daran sollte sich bis weit ins 19.  Jahrhundert auch in der deutschen Pädagogik kaum etwas ändern, vgl. Steinhaußen 2008. 33 | Vgl. dazu Bolle 2012, S. 23-37, 269-283; Manthey 1983, S. 211-235; zur politischen Erziehung im Rahmen sensualistischer Erziehungstraktate des 18. Jahrhunderts Losfeld 2001. 34 | Zum Ursprung des Begriffs und seiner Umdeutung im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) vgl. Benner /  B rüggen 1996, S. 21. 35 | Rousseau 1993, S. 111. Mit dieser Forderung stand Rousseau seinerzeit nicht allein, vgl. Grandière 1998, S. 113-137. 36 | Informationen zur Entstehungsgeschichte des Blattes sowie zu den übrigen Illustrationen, die Cochin für die Genfer Werkausgabe beisteuerte, bei: Michel 1993, Nr. 173; Girardin 1910, S. 56-75; Girardin 1908, S. 94 ff. 37 | Der Titel des Blattes ist ein direktes Rousseau-Zitat, vgl. Rousseau 1993, S. 38.

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Abbildung 11: Charles-Nicolas Cochin: L’éducation de l’homme commence à sa naissance (1780), in: Prouté 1970, Nr. 39 (ZI).

33-bändigen Collection Complète des Oeuvre de Jean Jacques Rousseau erschien. Zu sehen ist eine im Dreiviertelprofil wiedergegebene Büste des Pädagogen, der zum Entstehungszeitpunkt des Blattes bereits zwei Jahre verstorben war. Das Bildnis thront auf einem hohen Podest in natürlicher Umgebung, fernab aller kulturellen Einflüsse. Im Hintergrund steigt symbolisch die Sonne der Aufklärung empor, während zwei Kinder die Porträtskulptur Rousseaus aus Dankbarkeit für die Aufwertung ihres gesellschaftlichen Status mit Blumen schmücken. Kreisförmig um die Büste herum sind die von Rousseau beschriebenen Entwicklungsstadien des Kindes bis zur Pubertät in kleineren Szenen simultan dargestellt, wie auch die zum jeweiligen Zeitpunkt anempfohlenen erzieherischen Maßnahmen. Die Abfolge beginnt am rechten unteren Bildrand mit einer Mutter-Kind-Gruppe, zu deren Füßen sich ein aufgeschlagenes Exemplar des Émile befindet. Den dort enthaltenen Instruktionen Folge leistend, verzichtet die Mutter auf eine Amme,38 stillt ihr Neugeborenes selbst und befreit zugleich ein etwas älteres Kleinkind aus dem engen Korsett der Wickel, damit

38 | Vgl. Rousseau 1993, S. 18, 31-37.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

es seine Glieder bewegen und gesund entwickeln kann.39 Die älteste Tochter der Mutter beobachtet deren Handlungen genau und bereitet sich dadurch anschaulich auf die auch ihr bevorstehende maternité vor. Die Kinder links neben der Gruppe wachsen langsam und behütet in natürlicher Freiheit auf, d. h. ohne Strafen, Pflichten oder sonstige Einwirkungen autoritärer Erzieher.40 Ihnen wird dadurch die Möglichkeit gegeben, ihre gottgegebenen Neigungen, Bedürfnisse und Gefühle auszuleben, einen eigenen Erfahrungsschatz aufzubauen und ihre körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte im Umgang mit den Dingen selbstbestimmt zu entfalten.41 Kalte Bäder sollen ihre Körper reinigen, abhärten und gesund halten.42 In der oberhalb der Gruppe anschließenden Szene tritt dann in Person des Vaters erstmals auch der Erzieher in Erscheinung.43 Dieser greift ab dem Knabenalter immer stärker in die bis dahin von der Natur selbst regulierte Entwicklung des Kindes ein, indem er seinem Sohn durch fremde Objekte und kleinere Aufgaben im Messen, Schätzen und Vergleichen44 neue Stimuli zuführt und dadurch zunehmend die Kontrolle über dessen Erfahrungsraum übernimmt.45 Einige dieser Exerzitien sind auch im Bild dargestellt: So lässt der Vater seinen Sohn unter Aufsicht handwerkliche Tätigkeiten verrichten und verlangt zudem von ihm, zur Übung seines Anschauungsvermögens die Büste Rousseaus zu beschreiben, können wir doch »weder tasten noch sehen oder hören, wenn wir es nicht gelernt haben.«46 Darüber hinaus empfiehlt der Roman zur Schulung der Sinne vor allem das Zeichnen von Objekten der näheren Umgebung, denn:

39 | Vgl. Rousseau 1993, S. 16-22. 40 | Vgl. Rousseau 1993, S. 23-29. 41 | Die im Bild dargestellte Szene, in der ein Junge versucht, mit einem Hebel einen Stein zu bewegen, schildert Rousseau ebenfalls im Text, vgl. Rousseau 1993, S. 119. 42 | Vgl. Rousseau 1993, S. 35 f. 43 | Rousseau nimmt in Fragen der Erziehung die Väter in die Pflicht: »Es [das Kind, T T] wird besser von einem vernünftigen, wenn auch ungelehrten Vater erzogen, als vom geschicktesten Lehrer der Welt« (vgl. Rousseau 1993, S. 22). Zu dieser Position wurde er auch von äußeren Umständen genötigt, da der Ort der bürgerlichen Erziehung in Ermangelung geeigneter Bildungseinrichtungen in der Familie lag, vgl. Snyders 1971, Kap. VI. 44 | Vgl. Rousseau 1993, S. 128 f., 132. 45 | In der Forschung wird häufig die humanistische Note in Rousseaus antiautoritärem Erziehungsstil hervorgehoben. Von Hentig (vgl. 2004, S. 48-52) macht jedoch mit Bezug auf entsprechende Textstellen (vgl. Rousseau 1993, S. 104 f.) deutlich, dass der liberale Ansatz in erster Linie dazu diente, die Macht des Erziehers über seinen Zögling zu steigern, da das Kind der subtilen Manipulation eines intellektuell überlegenen Ausbilders nichts entgegenzusetzen hatte. 46 | Rousseau 1993, S. 119.

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Besonders bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass die traditionsreiche Kulturtechnik des Zeichnens von Rousseau zur reinen Geschicklichkeitsübung degradiert wird. Sie dient als solche dem Erzieher nicht länger dazu, Schülerinnen und Schülern konkrete Fertigkeiten zu vermitteln. Denn eine übermäßige Professionalisierung der zeichnerischen Kompetenz hätte nur zur Folge, dass Émile zu früh in eine künstlerische Lauf bahn gedrängt werden würde und dabei möglicherweise stärkere Talente ungenutzt ließe. Darüber hinaus hätte das Kind zu diesem Zeitpunkt kaum Verständnis für den Sinn derartiger Übungen, würde folglich (auch bei anderer Gelegenheit) gegen den Erzieher auf begehren und dadurch letztlich seine Entwicklung hin zu einem moralisch-sittlichen Individuum gefährden. So verfolgen Rousseaus Zeichenstunden allein das Ziel, Émiles Motorik und seinen Sehsinn zu fördern. Sie sind damit Teil eines weit verzweigten Systems von kleineren Anschauungsübungen, die der Erzieher in der Jugend seines Zöglings zu initiieren hat – im Unterschied zu Comenius jedoch nicht aufgrund mnemotechnischer Erwägungen, sondern vielmehr, um die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt zu intensivieren, seine Sinneswahrnehmung zu verfeinern und auf diese Weise den Grundstein für die anschließende Formung seiner Persönlichkeit zu legen.

J ohann B ernhard B asedows ›S chule der M enschenfreundschaf t‹ Unter den deutschen Reformpädagogen wurde Émile unmittelbar nach der Publikation kontrovers diskutiert.48 Dies lag einerseits natürlich am Renommee des Autors, der seit seinem europaweit gefeierten Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) über die Liebe des jungen Hauslehrers Saint-Preux zur adligen Julie d’Étanges als progressiver Erziehungstheoretiker wahrgenommen 47 | Rousseau 1993, S. 132 f. 48 | Zur Entstehung der Philanthropenbewegung in Deutschland und ihren wichtigsten Protagonisten vgl. Schöniger 2004, S. 70-166; Kersting 1992; Reble 1980, Kap. 5; Ahrbeck-Wothge 1973; Moog 1928 /  3 3, Bd. 3 (1933), S. 84-125; Pinloche 1896.

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wurde. Schwerer wog jedoch der Umstand, dass das gesellschaftliche Interesse an Pädagogik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich größer war, als noch zu Comenius’ Zeiten. Denn das emporstrebende Bürgertum hatte ohne den Rückhalt adliger Abstammung keine andere Wahl, als durch Bildung Qualifikationen zu erwerben, die es in der Leistungsgesellschaft zum Auf bau bzw. zum Erhalt einer Existenz ermächtigten. Und auch die Landesherren der Territorialstaaten erkannten in zunehmendem Maße, dass durch ein staatlich kontrolliertes Bildungssystem die Nützlichkeit und Produktivität der / des Einzelnen gesteigert werden konnte. Es war also vor allem der neue Glaube an die ökonomische Bedeutung der Erziehung, der dem Ausbildungssystem sowie der Institution Schule in der Sattelzeit große Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ. Dass dem nicht immer so war, macht eine Revision der historischen Entwicklung der deutschen Bildungseinrichtungen bis zum 18. Jahrhundert deutlich:49 Erste Vorformen der Schule datieren in die Zeit der Christianisierung unter Karl dem Großen, waren in Klöstern oder Kirchen situiert und vermittelten in erster Linie die lateinische Sprache, um Kandidaten für ein theologisches Fachstudium zu qualifizieren. Aus diesen Einrichtungen gingen ab dem 13. Jahrhundert die ersten noch immer lateinisch geprägten Stadt- bzw. Ratsschulen und auch die frühesten Universitäten hervor. Nach der Reformation erweiterte sich der zuvor sehr kleine Adressatenkreis der Bildungseinrichtungen auf alle Stände der Bevölkerung: Adlige begannen unter dem Druck des von Italien aus propagierten humanistischen Bildungsideals höhere Schulen zu besuchen, und die bäuerliche Landbevölkerung suchte katechistische Dorfschulen auf, um neben kanonischen Kirchenliedern und Psalmen etwas Mathematik und auch die deutsche Sprache zu erlernen. Durch das fürstliche und städtische Kirchenregiment geriet dann das Bildungswesen immer weiter unter weltliche Kontrolle, so dass die ersten Landesuniversitäten mit Professoren im Staatsdienst gegründet werden konnten. Dieser Prozess setzte sich in der Konsolidierungsphase nach dem Westfälischen Frieden weiter fort, da der Machtbereich der Landesfürsten zunehmend auch die zuvor teilautonomen ›Großstädte‹ ihrer Territorien einschloss. Es kam dadurch erstmals zur Installation wirksamer zentralistischer Verwaltungsstrukturen, in deren Folge auch die politische Funktionalisierung der Schule intensiviert werden konnte. Im 17. Jahrhundert hatten sich die schulischen Disziplinierungsmaßnahmen des Staates noch weitgehend darauf beschränkt, den Untertanen Ordnung, Pünktlichkeit und Gehorsam einzubläuen sowie ihnen durch die wiederholte Lektüre moralisierender Texte im Sprachunterricht eine sittliche, demütige und vor allem staatstreue Grundhaltung anzuerziehen. Comenius etwa verstand aus 49 | Umfassende Darstellungen der deutschen Schulgeschichte in: Berg / H ammerstein 1987-2005, Bd. 3 (1987); Herrlitz 2001; Lundgreen 1980; Dietrich / K link 1972; Schulenberg 1970; Froese /  K rawietz 1968; Paulsen 1919 /  21, Bd. 1 (1919).

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diesem Grund unter Schule noch schlicht eine »Werkstat / in welcher die jungen Gemüter zur Tugend geformet werden«, er macht überdies deutlich, dass Missachtungen der Autorität des »Schulmeister[s]« mit Prügeln geahndet wurden, verliert jedoch kein einziges Wort über den Lehrstoff der Einrichtungen.50 Dieses Thema konnte er auch deshalb als zweitrangig empfinden, da sich seinerzeit der überwiegende Teil der Bevölkerung die fachliche Qualifikation für das Berufsleben im familiären Alltag oder in regionalen Handwerksbetrieben aneignete. Im 18. Jahrhundert hingegen begannen die absolutistischen Landesherren, auch in dieser Beziehung regulierend einzugreifen und bildungspolitische Strategien zu entwickeln, um die Ressource Mensch effektiver zu nutzen. In Preußen wird diese Intention spätestens durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1717) unter Friedrich Wilhelm I. deutlich, deren Durchsetzung allerdings nur sehr schleppend vonstattenging.51 Darüber hinaus sind in dieser Zeit verstärkt Initiativen zur Ausdifferenzierung und Kanalisierung des Schulwesens in bzw. hin zu spezialisierten Einrichtungen wie Beamten-, Handels- und Militärschulen zu verzeichnen, deren primäre Aufgabe in der gezielten Ausbildung von Fachkräften bestand. Für die Lehranstalten war damit das vollzogen, was Michel Foucault als »Funktionsumkehr bei den Disziplinen« bezeichnet: Denn verstand man unter Schulen anfangs noch Instrumente zur »Bannung von Gefahren« und »Bindung unnützer oder unruhiger Bevölkerungen […], so fordert man nun von ihnen, daß sie, wozu sie auch fähig werden, eine positive Rolle spielen und die mögliche Nützlichkeit von Individuen vergrößern.«52 Rousseau, der – wie Phillippe Ariès in seiner Geschichte der Kindheit betont 53 – zeitgleich in Frankreichs Schulen ganz ähnliche Formen der staatlichen Einschreibung vorgefunden hatte, brandmarkte die Institution daraufhin in seinem Erziehungsroman als Agentin der falschen Kultur und sprach ihr in Bildungsfragen konsequent alle Befugnisse ab. In Deutschland allerdings teilte man diese Ansicht nicht, denn anders als der citoyen de Genève wollte man dort praktische Reformen durchsetzen, statt nur theoretisch über Erziehung zu diskutieren. Das vom Odeur spätabsolutistischer Elitenpädagogik umfangene Modell der Privaterziehung hielt man in diesem Zusammenhang für unzureichend. Einzig Rousseaus Ansatz, im Kindes- und Jugendalter die Förde50 | Comenius 1910, S. 199. 51 | Vgl. dazu Herrlitz 2001, S. 52 ff. 52 | Foucault 1976, S. 269 f. 53 | Ariès 1988, bes. Kap. 2. DeMause (vgl. 1979) macht zudem deutlich, dass der Volkskörper die institutionelle Einschreibung nicht passiv aufnahm, sondern leidvoll erduldete. Zur Gewalt in der Pädagogik des 19. Jahrhunderts vgl. die Mikrostudie Hagner 2010.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

rung körperlicher und sinnlicher Anlagen in den Vordergrund zu stellen, war Konsens auch unter den deutschen Reformern. Den ursprünglichen Sinn der Maßnahme nivellierten sie währenddessen jedoch,54 indem sie einem utilitaristischen, vor allem berufsqualifizierenden Bildungsprinzip gegenüber dem Ideal der staatsbürgerlichen Persönlichkeitsentwicklung den Vorzug gaben. Um Strukturen für eine entsprechend lebenswirklich orientierte Ausbildung zu schaffen, entstanden um 1800 eine Reihe privat geführter Erziehungsanstalten. Die sicher bedeutendste unter ihnen war das sogenannte Philanthropinum (Abb. 12), welches der Reformpädagoge Johann Bernhard Basedow 1774 auf Anweisung Leopolds III. im »aufgeklärten Musterstaat«55 Anhalt-Dessau eröffnet hatte:56 eine progressive Versuchsschule mit integriertem Lehrerseminar, der ihr Gründer bis 1778 selber vorstand. Abbildung 12: Anonymus: Das Philanthropinum in Dessau, in: Garber 2008, S. 71 (BSB).

Basedows Erziehungskonzept legen gleich mehrere Programmschriften offen, denn der Autor musste seine pädagogischen Maximen fortwährend propagieren: einerseits, um Förderinnen und Förderer für seine chronisch unterbesuch-

54 | Zur Fehllektüre der Rousseau’schen Erziehungstheorie durch die Philanthropen vgl. Benner  /  K emper 2003, S.  74-84. 55 | Hirsch 2008, S. 60. Zur Rolle des Standorts Dessau in der deutschen Aufklärung vgl. Hirsch 1985. 56 | Vgl. dazu zuletzt Hirsch 2008; Schmitt 2008; Schöniger 2004, S. 70-147; Benner /   K emper 2003, S.  85-136.

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te Anstalt zu gewinnen,57 und andererseits, um auch sein zweites kostspieliges Großprojekt zu finanzieren: das Elementarwerk, ein in Auszügen bereits 1770 erschienenes Wissenskompendium, welches 1774 durch einen Tafelband mit 96 Kupferstichen überwiegend nach Zeichnungen Daniel Chodowieckis bereichert wurde und in dieser Form in Dessau als Lehrbuch im Gebrauch war.58 So ist auch der Text Das in Dessau errichtete Philanthropinum (1774), in dem sich Basedow zum Lehrangebot des Instituts wie auch zu seinen motivationspsychologischen Strategien äußert, in erster Linie als Werbeschrift zu verstehen. Über allem steht die pädagogische Leitidee des Autors, »Heranwachsende in den komparativen Umgang mit komparativer Koexistenz einzuüben«,59 d. h. im Schulalltag das Wettbewerbsklima der bürgerlichen Leistungsgesellschaft zu simulieren. Für den notwendigen Konkurrenzdruck innerhalb der Gemeinschaft sorgte etwa eine Meritentafel, die durch ein Punktesystem jederzeit über die aktuellen Leistungsstände der Kinder informierte; wöchentlich wiederkehrende Meriten-, Standes- und Reichtumstage dienten dazu, die Hierarchie der Gruppe immer wieder neu zu ordnen, so dass jedes Kind einmal in den Verdruss eines Unterlegenheits- bzw. in den Genuss eines Überlegenheitsgefühls kam. Um ihren Willen zum sozialen Aufstieg weiter zu stärken, mussten alle »Pensionisten« zudem an den monatlichen Causaltagen widrigste Lebensumstände erdulden: Die Philanthropen entzogen ihnen dann bis 14.00 Uhr die Nahrung und beschränkten sie anschließend bis zum Abend darauf, »trockne Kost und Wasser zu geniessen«; gelernt wurde »in kalten Stuben oder unter unangenehmem Himmel«, geschlafen »auf dem Boden oder auf Streu.«60 Kleidung und Haarschnitte wurden vereinheitlicht. Kein Kind sollte sich aufgrund seiner Herkunft privilegierter fühlen können als sein Gegenüber. Wie für das spätere Berufsleben angenommen, sollten im Philanthropinum allein die Leistungsbereitschaft und die Kompetenzen den Platz der oder des Einzelnen in der Gemeinschaft definieren. 57 | Zu den anfänglich geringen Besucherzahlen vgl. Reble 1965, bes. S. 262. Tatsächlich war der Jahresbeitrag von 250 Talern nur für gut situierte Mitglieder höherer Stände bezahlbar, vgl. dazu Hirsch 2008, bes. S. 47; Schmitt (vgl. 2008, bes. S. 176 f.) präzisiert, dass von insgesamt 150 Schülerinnen und Schülern in der Geschichte der Anstalt 60 adlig waren und alle übrigen aus reichen Kaufmanns-, Bauern- oder Gelehrtenfamilien kamen. 58 | Zudem erschien das Elementarwerk im Jahr 1774 – nach Bearbeitung durch Christian Heinrich Wolke und Ernst Christian Trapp – noch in französischer und lateinischer Übersetzung. Ein Jahr später folgte die zweite Auflage und zwischen 1909 und 1913 die bislang letzte Edition, hg. v. Theodor Fritzsch (vgl. Basedow 1909). Zum Elementarwerk vgl. Schäfer 2011; Schmitt 2007, S.  245-261; Brüggemann  / B runken / B arth / S teinlein 1987-2008, Bd. 3 (1982), Sp. 969-991; Ringshausen 1976, S. 102-108; Stach 1974. 59 | Benner / K emper 2003, S. 85-136, hier 98. 60 | Alle Basedow 1774, S. 14 f.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

Aufgenommen wurden vornehmlich Jungen zwischen sechs und achtzehn Jahren.61 Ihre Siebzehnstundentage umfassten fortan neben drei Stunden in freier Bewegung (Tanzen, Reiten, Fechten, Musik) wahlweise sieben Stunden der körperlichen Arbeit oder des akademischen Studiums,62 letzteres bestehend aus Unterricht in Sittenlehre, Religion, Mathematik, Kinderlogik, politischer Weltkunde und Geographie in deutscher, französischer und lateinischer Sprache. Da dabei immerzu das von Locke und Rousseau popularisierte Anschauungsprinzip zur Anwendung kam, empfahl Basedow den Eltern, ihre Kinder schon im Vorschulalter an einen bewussten Gebrauch der Sinne zu gewöhnen. Bereits der Sprachunterricht für Sechsjährige sollte über die didaktische Verschränkung von »Sacherkenntnis mit Spracherkenntnis« erfolgen, um neben Ausdrucks- auch Wahrnehmungskompetenzen einzuüben.63 Die Kinder lernten dabei die Bezeichnungen neuer Gegenstände kennen, indem sie diese betasteten und sich so mit ihrer Form bekannt machten, während die oder der Erziehungsbeauftragte in ihrer Gegenwart ständig den Namen des Objekts wiederholte. Zudem wurden sie aufgefordert, ihre Sinne abwechselnd zu gebrauchen: Ihre Erzieherinnen und Erzieher gaben dazu ein audiovisuelles Signal in Form eines Befehlswortes (sieh!, hör!, riech!, schmeck!, taste!) und einer korrespondierenden Geste, die zunächst das zu verwendende Sinnesorgan anzeigte und dann den zu untersuchenden Gegenstand. Die Aufgabe des Kindes bestand nun darin, sein Wahrnehmungserlebnis zu beschreiben und die unterschiedlichen Qualitäten des Objekts (Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Oberflächenstruktur) zu benennen. Außerdem sollten nach Vorstellung Basedows in dieser Altersklasse Lernspiele wie Blindekuh, Topfschlagen und »der Riecher« auf dem Programm stehen, bei denen die Kinder mit verbundenen Augen zu agieren hatten, um dadurch gerade die niederen Sinne zu trainieren.64 In Dessau angekommen, standen hauseigene Sammlungen von Naturalien, Modellen und Instrumenten für den anschaulichen Unterricht zur Verfügung (Abb. 13 u. 14).65 Zudem wurden mehrwöchige Exkursionen veranstaltet, die für 61 | Die wenigen Mädchen in Basedows Philanthropinum – u. a. seine Tochter Emilie – durften nicht vollwertig am Unterricht teilnehmen. Ihre gesellschaftliche Rolle als Hausfrau und Mutter war unumstritten. Eine von Basedow eigens für die Mädchenerziehung geplante Anstalt – das Catharineum – wurde nie realisiert. Zur Mädchenerziehung im Philanthropismus vgl. Steinhaußen 2008. 62 | Zu den Leibesübungen in den Bildungsanstalten der Philanthropen vgl. Schmitt 2007, S. 209-225. 63 | Basedow 1909, Bd. 1, S. 8. 64 | Basedow 1909, Bd. 1, S. 31, Hervorhebung im Original. 65 | Die Modellsammlung wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. Einen Eindruck vermittelt Lorenz (vgl. 1906, Bilder im Anhang der Zeitschrift). Reste des Naturalienkabinetts zeigt Hirsch (vgl. 1985, Abb. 44).

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Abbildungen 13 und 14: Anonymus: Modelle einer Kirche zur Veranschaulichung des Blitzeinschlags (links) sowie eines Krans, beide in: Lorenz 1906, Anhang (BSB).

die Schülerinnen und Schüler mit Praktika bei Fachleuten verschiedener Berufsstände verbunden waren – etwa »14 Tage in einem Lager, 14 Tage bei einem Bergwerke, 14 Tage in einem Seehafen, wo Kriegsschiffe liegen, 14 Tage auf dem Kontor eines grossen Kaufmanns« etc.66 Im Institutsalltag dienten aber vor allem die Tafeln des Elementarwerks als Anschauungsmaterial. Ihre Funktion gleicht damit derjenigen der Bilder im Orbis pictus. Darüber hinaus haben beide Publikationen jedoch nur wenig gemein. Bereits Otto Friedrich Bollnow betont, dass Comenius’ Ordotheorie im Elementarwerk keine Rolle mehr spielt. An ihre Stelle tritt eine neue Organisation, die sich nicht an Gott, sondern am Menschen orientiert.67 Basedow scheint dabei den Ratschlag Rousseaus beherzigt zu haben, als Erzieher die Kontrolle über den Erfahrungsraum des Kindes zu übernehmen: Der Ausbildungsgang ist konsekutiv angelegt, d. h., er schreitet im Schwierigkeitsgrad vom Leichten zum Schweren voran und berücksichtigt den jeweiligen Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler, so dass ein 66 | Basedow 1909, Bd. 1, S. 37. 67 | Diese Organisation als eine »vom Kinde her gesehene, durchaus kindertümliche« Perspektive auf die Welt zu deuten, ist problematisch (Bollnow 1950, S. 149). Das Nacheinander der Themen und Tafeln im Elementarwerk basiert nicht auf empirischen Erkenntnissen zur Chronologie des kindlichen Anschauungskreises. Auch eine Ordnung gemäß einer Beurteilung der »Weltdinge unter der Frage, was sie zum Nutzen und Wohlbefinden des Menschen und der Befriedigung seiner Bedürfnisse sowie der Steigerung seiner Macht beitragen«, wird über den gesamten Umfang des Elementarwerks nicht durchgehalten (Benner /  K emper 2003, S. 103).

II.  »Ich will dir zeigen alles«

»jeder Gegenstand […] zur rechten Zeit nicht zu früh und nicht zu spät für die Bildung des Verstandes und Herzens der Kinder darinnen vorkommen« wird.68 Das Elementarwerk setzt folglich mit Tafeln zu Nahrungsmitteln, Tischmanieren, Kleidungsstücken, Unterkünften, Vergnügungen, Tieren und den leiblichen und geistigen Eigenschaften bzw. Trieben des Menschen ein. Das Kind soll auf dieser Stufe durch die Betrachtung bereits bekannter Dinge an das Medium Bild und seine Darstellungskonventionen herangeführt werden und zudem die Namen und Funktionen der Dinge seiner unmittelbaren Umgebung kennen lernen. Dieser erste Erfahrungskreis wird dann Schritt für Schritt erweitert: Geographisches Wissen tritt ebenso hinzu wie wünschenswerte Verhaltensweisen und ein großes Spektrum an Berufen. Zudem wird das bereits einführend behandelte Wissensgebiet der Naturkunde durch Lektionen in Zoologie, Botanik und Mineralogie vertieft, gefolgt von weiterführenden Schilderungen zur Tugend- und Sittenlehre, Staatskunde, den Weltreligionen und der Weltgeschichte. Der Bildungsgang endet mit der »Mythologie oder Fabellehre«, die der Theologe Basedow zwar für »an sich verachtungswürdig« und nahezuüberflüssig hält,69 von der er seinen Schulkindern jedoch aufgrund der anhaltenden Popularität des Themenfeldes in der Literatur und bildenden Kunst wenigstens Grundkenntnisse vermitteln will. Verglichen mit Rousseaus strenger Realienpräferenz wurde der pädagogische Status des Bildes durch Basedow also stark aufgewertet. Wie Comenius erkannte er nicht nur die mnemotechnischen Vorteile bildbezogener Lehre,70 er wusste auch um die fesselnde Wirkung und manipulative Kraft seiner Tafeln. Anhand des 29. Blattes (Abb. 15) wird ersichtlich, wie geschickt sich Basedow beide Aspekte zu Nutze machte: Das vierteilige Tableau basiert auf einer Vorlage Chodowieckis und trägt den deskriptiven Titel »Wohltätigkeit der Eltern gegen ihre Kinder«. Es zeigt erstens die Schwangerschaft der Mutter, zweitens die Geburt des Kindes sowie die anschließende Führsorge der Eltern, drittens die liebevolle Aufzucht der Kinder im Kreise der Familie und schließlich viertens die Sorge der Eltern um das Wohlbefinden und die gute Erziehung des Nachwuchses. Wie alle anderen Tafeln des Elementarwerks war den Schülerinnen und Schülern auch dieses Blatt unbeaufsichtigt nicht zugänglich. Die alleinige Deutungshoheit sollte beim Erzieher liegen, der die Rezeption der Szenen dann auch minutiös anleitete, indem er aus dem Textteil des Elementarwerks das korrespondierende Begleitwort verlas.71 Gegenstand der Erzählung zur 29. Tafel 68 | Basedow 1893, S. 105. Ähnlich auch in Basedow 1770, S. 13. 69 | Basedow 1909, Bd. 2, S. 241 f. 70 | Vgl. Basedow 1770, S. 14. 71 | Dass Wolke und andere am Philanthropinum tätige Erzieher den Kindern die Inhalte der Bilder im »sokratischen Gespräch« (Schäfer 2011, S. 51) nahebrachten, ist zu bezweifeln. Zwar künden diverse Erfahrungsberichte von dieser Praxis. Da sich die Antwor-

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sind die Opfer, welche die Eltern im Laufe des Lebens für ihre Nachkommen zu erbringen haben: einerseits diejenigen der Mutter, die unter Lebensgefahr das Kind gebiert und im Anschluss ihr Dasein dem Wohlergehen der Tochter, des Sohnes verschreibt; sowie andererseits diejenigen des Vaters, der durch seine aufopferungsvolle Arbeit den Lebensunterhalt der Familie sicherstellt. Besonders eindringlich fällt das zwischenzeitliche Fazit zum Thema Elternliebe aus: »Nun, Kinder, bedenket alles, was eure Eltern zu eurem Besten getan haben, noch tun und tun wollen. Von ihnen habt ihr das Leben. Sie geben euch Nahrung, Kleidung, Wohnung, Nachtlager und Wärme. Ohne ihre Sorgfalt für euer Leben und für eure Gesundheit wäret ihr längst tot oder Krüppel; und ohne ihre Anstalten zu eurer Erziehung würdet ihr in viehischer Dummheit bleiben und niemals zu der angenehmen menschlichen Gesellschaft geschickt werden. Und was verlangen sie von euch für alles dieses? Kinder, nichts anderes, als daß ihr ihnen die Freude macht, durch Gehorsam und Tugend glückselige Menschen zu werden.« 72

Abbildung 15: Daniel Chodowiecki: Wohltätigkeit der Eltern gegen ihre Kinder, in: Basedow 1909, Taf. 29 (ZI).

ten der Zöglinge jedoch überwiegend mit dem Text des Elementarwerks decken, wurde wohl schlicht zu Vorführungszwecken zuvor Auswendiggelerntes abgefragt. 72 | Basedow 1909, Bd. 1, S. 207.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

Das Kalkül hinter dieser emotionalen Ansprache ist leicht zu durchschauen: Die Geburt des Kindes wird zu seinem Sündenfall stilisiert, der ihm lebenslange Demut nicht vor Gott, sondern vor der Autorität seiner Eltern abverlangt. Für Basedow war das Druckmittel des schlechten Gewissens sehr wichtig, hatte seine Agenda der allseitigen Befähigung des Kindes doch den Nachteil, dass sie theoretisch auch Fehlentwicklungen zuließ. Hinzu kam, dass sich auch der Anstaltsalltag besser regulieren ließ, sofern man jederzeit in der Lage war, an die schuldbeladenen Gemüter der Pensionistinnen und Pensionisten zu appellieren. Tilgen konnten diese den Makel ihrer Geburt allein durch Erfolg im Erwachsenenalter – ein Ausweg, der ihnen von nahezu jeder der detailreichen und visuell reizvoll gestalteten Graphiken Chodowieckis vor Augen geführt wurde.73 Denn die Blätter inszenieren eine Welt des Reichtums und Konsums, in welcher der Erwerb und Unterhalt von Statussymbolen wie Rokokomöbeln, modischer Kleidung und einer umtriebigen Schar Bediensteter im Vordergrund steht. Der anschauliche Unterricht mit Hilfe des Elementarwerks diente dazu, den Wunsch nach finanziellem Erfolg und sozialem Aufstieg in der Prägungsphase des Kindes soweit zu verfestigen, dass es im Berufsleben nichts unversucht lassen würde, eine derart definierte Existenz zu erreichen.

F r agmente zur K unst der E rziehung : K ant, G oe the und S chiller Das Philanthropinum zu Dessau wurde nach neunzehnjährigem Bestehen 1793 geschlossen und Basedow selbst schied nach heftigen Methodenstreitigkeiten bereits 1780 aus dem Dienst aus. Die Gründe für die Terminierung des Projekts waren zunächst monetärer Natur, denn aufgrund des anhaltenden Schülermangels gelang es zu keinem Zeitpunkt, die Anstalt finanziell auf eigene Füße zu stellen. Von Expertenseite wurde zudem bereits kurz nach der öffentlichkeitswirksamen Institutsgründung Kritik an der didaktischen und ideologischen Ausrichtung des Philanthropinums laut.74 Auch das Elementarwerk verkaufte sich an Schulen schlecht und stieß im Kollegenkreis auf wenig Gegenliebe,75 was nicht zuletzt am strengen Verdikt Goethes gelegen haben dürfte. Denn dieser zeigt sich in Dichtung und Wahrheit (1814) zwar empfäng73 | Vgl. dazu auch Benner /  K emper 2003, S. 107 f. 74 | Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich auf Johann Heinrich Campes 1777 öffentlich aufgeworfene Frage, Ob es ratsam sei, die Ehrbegierde zu einer moralischen Triebfeder bei der Erziehung zu machen – eine Schrift, die exemplarisch für den unter Basedows Kolleginnen und Kollegen verbreiteten Zweifel an der Tauglichkeit seines erzieherischen Leitgedankens steht, vgl. Benner /  K emper 2003, S. 126-137. 75 | Vgl. Basedow 1909, S. 544-573.

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lich für Basedows pädagogische Position, lehnt jedoch im gleichen Atemzug die Systematik seines Lehrbuchs ab: »Daß er [Basedow, T T] allen Unterricht lebendig und naturgemäß verlangte, konnte mir wohl gefallen; […] allein mir mißfiel, daß die Zeichnungen seines Elementarwerks noch mehr als die Gegenstände selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur das Mögliche beisammensteht, und sie deshalb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Teilen etwas Geregeltes hat. Jenes Elementarwerk hingegen zersplittert sie ganz und gar, indem das was in der Weltanschauung keineswegs zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben einander steht; weswegen es auch jener sinnlich-methodischen Vorzüge ermangelt, die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen.« 76

Es ist demnach nicht verwunderlich, dass auch diese ›Bilderwelt‹ kaum direkte Nachfolger fand.77 Dennoch ist die Pionierarbeit ihres Autors für die Geschichte der Anschauungspädagogik kaum zu überschätzen: Denn aus der Kritik am Philanthropinum gingen neue Bildungsanstalten hervor, die zwar Distanz zu Basedows Wettbewerbspädagogik nahmen, dem Thema »Erziehung der Sinne« jedoch ungeteilt große Aufmerksamkeit schenkten. Vor allem Christian Gotthilf Salzmanns 1778 nahe Waltershausen eröffnete Experimentalschule ist diesbezüglich bezeichnend.78 Denn die Programmschrift zur Institutsgründung, Noch etwas über Erziehung (1784), sucht nicht nur im Titel wieder Anschluss an den Émile. Wie Rousseau wirbt auch Salzmann für die Entfaltung physischer und sinnlicher Vermögen im Kindesalter und lehnt das Bild als Lehrmedium weitestgehend ab.79 Wichtiger war auch ihm der direkte Umgang des Kindes mit den Dingen seiner natürlichen Umgebung, denn: 76 | Goethe 1985-2013, Bd. 14 (1986), S. 670, Hervorhebung im Original. 77 | Johann Sigmund Stoy publizierte zwar wenig später seine mit dem Elementarwerk vergleichbare Bilder-Akademie für die Jugend, betont jedoch: »Der erste Entwurf dieses Werks war schon vor dem Erscheinen des Basedow’schen gemacht« (Stoy 1784, Bd. 1, S. 10), vgl. dazu Te Heesen 1997. 78 | Vgl. dazu Schäfer 2011; Friedrich 2004; Benner / K emper 2003, S. 137-187; Kemper / A pel 1995; Pfauch / T heurisch 1990; Müller 1934. 79 | Die Ausnahme stellten Bilder für den Religionsunterricht dar, die in Kombination mit Erzählungen die Empathie der Kinder wecken sollten. Salzmanns illustriertes Moralisches Elementarbuch (2 Bde., 1782 /  8 3) diente in diesem Zusammenhang als Lehrbuch. Ansonsten war Salzmann Schautafeln gegenüber skeptisch, da er bezweifelte, dass »ein nach den besten Abbildungen unterrichtetes Kind, die Sachen, deren Abbildungen es gesehen hat, in der Natur wiederfinde«, vgl. Salzmann 1869, S. 57. Ähnlich äußert sich auch Stuve in seinem Aufsatz Ueber den Gebrauch der Bilder beim jugendlichen Unterricht (1787), vgl. Stuve 1794, bes. S. 62.

II.  »Ich will dir zeigen alles« »An der Natur können auch alle Kräfte, die uns Gott gab, am sichersten und nützlichsten geübt werden. Willst du dein Gesicht üben, so betrachte recht aufmerksam bald den Bau der Blume, oder eines Insekts, bald eine geräumige Landschaft! Soll dein Ohr vollkommener werden, so merke auf den Gesang der Vögel, und lerne sie an ihren Tönen von einander zu unterscheiden! Willst du dem Geruche mehr Vollkommenheit geben, so verschließe die Augen und versuche, ob du nicht verschiedene eingesammelte Kräuter durch den Geruch von einander unterscheiden kannst!« 80

Abgesehen von solch praktischen Initiativen gelang es Basedow zudem, im Kreis der intellektuellen Elite Deutschlands die theoretische Diskussion über Erziehung weiter zu befeuern. Immanuel Kant etwa gestaltete seine erste von insgesamt vier Königsberger Vorlesungen Über Pädagogik im Wintersemester 1776 / 7 7 maßgeblich entlang des von Basedow herausgegebenen Methodenbuchs.81 In einem für die Zeit durchaus typischen, dem Königsberger sonst jedoch eher fremden Enthusiasmus wird dort herausgestellt, dass einzig über die Kultivierung der »Erziehungskunst« der Grundstein für die Entwicklung hin zu einer vernünftigen Gesellschaftsordnung gelegt werden könne, denn »gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt.« 82 Das Dessauische Philanthropin habe in diesem Punkt verdienstvolle Pionierarbeit geleistet, gerade dank seines Schwerpunktes auf der körperlichen und sinnlichen Ausbildung des Kindes, etwa durch Lernspiele, von denen Kant diejenigen für die besten hielt, »bei welchen neben den Exercitien der Geschicklichkeit auch Übungen der Sinne hinzukommen, z. B. die Übung des Augenmaßes, über weite Größe und Proportion richtig zu urtheilen«.83 Kants Basedow-Begeisterung lag allerdings ein Hintergedanke zu Grunde. Denn das Faible des Königsberger Philosophen für den Dessauer Pädagogen wurde vom Glauben getragen, im Philanthropinum plötzlich ein praktisches Instrument zur Popularisierung des eigenen zentralen Aufklärungsideals in den Händen zu halten: der Selbstermächtigung des Menschen zu einem bürgerlich-gemeinnützigen Individuum. Wie stark Kants Wille »zur Öffnung des aufklärerischen Programms in Richtung aufs Volk« tatsächlich war,84 machen nicht zuletzt zwei kurze, flammende Apelle aus dem Jahr 1776 deutlich, in denen er sich dazu hinreißen ließ, öffentlich für Basedows Anstalt zu werben: Denn das, 80 | Salzmann 1869, S. 54. 81 | Basedow 1770; vgl. Irrlitz 2015, S. 4. Die Vorlesungen wurde vom Kant-Schüler Friedrich Theodor Rink 1803 publiziert, vgl. dazu Kauder 1999. Zur pädagogischen Theorie Kants vgl. Irrlitz 2015, S. 30 ff.; Brandt 2007; Sting 1996; Vogel 1993; Hufnagel 1988; Pleines 1985; Niethammer 1980; Emden 1974; Koch 1973; Bollnow 1954. 82 | Kant 1902 ff., Bd. 9 (1923), S. 447 f. 83 | Kant 1902 ff., Bd. 9 (1923), S. 467. 84 | Irrlitz 2015, S. 31.

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Die Unter weisung des Blicks »woran gute und schlechte Köpfe Jahrhunderte hindurch gebrütet haben, was aber ohne den feurigen und standhaften Eifer eines einzigen einsehenden und rüstigen Mannes noch eben so viel Jahrhunderte in dem Schooße frommer Wünsche würde geblieben sein, nämlich die ächte, der Natur sowohl als allen bürgerlichen Zwecken angemessene Erziehungsanstalt, das steht jetzt mit seinen unerwartet schnellen Wirkungen wirklich da, und fordert Beihülfe auf, nur um sich, so wie sie jetzt da ist, zu erweitern, ihren Samen über andere Länder auszustreuen und ihre Gattung zu verewigen.« 85

Um diese Beihilfe und dadurch zugleich einen Beitrag für die »schnelle Revolution«86 des gesamten Bildungswesens zu leisten, empfahl Kant seinen Leserinnen und Lesern, Basedows Projekt in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen, d. h. seine Lehrbücher zu kaufen und zu verwenden, neue Pensionistinnen und Pensionisten nach Dessau zu schicken und nicht zuletzt auch Lehramtskandidaten zu entsenden, auf dass diese die philanthropische Methode der Erziehung in alle Himmelsrichtungen verbreiten können. Wenngleich Goethe – wie gezeigt werden konnte – in Bezug auf Basedow wesentlich skeptischer eingestellt war und zudem nie eine zusammenhängende Abhandlung über Erziehung verfasst hatte,87 wird doch am Rande vieler seiner Schriften deutlich, dass auch er sich der seinerzeit so lebendigen pädagogischen Debatte keineswegs entzog, sondern sie im Gegenteil aufmerksam verfolgte. Seinen Standpunkt zum Thema Anschauungspädagogik lässt er beispielsweise in einer Passage des Schauspiels Götz von Berlichingen (1773) durchblicken, in der Götz nach längerer Abwesenheit wieder auf seinen Sohn Carl trifft und sich nach dessen Lernfortschritten erkundigt: »CARL. Ich hab viel gelernt. GÖTZ. Ei! CARL. Soll ich dir vom frommen Kind erzählen? GÖTZ. Nach Tische. CARL. Ich weiß noch was. GÖTZ. Was wird das sein? CARL. Jaxthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jaxt, gehört seit zweihundert Jahren den Herrn von Berlichingen erb- und eigentümlich zu. GÖTZ. Kennst du den Herrn von Berlichingen? CARL sieht ihn starr an. GÖTZ vor sich. Er kennt wohl vor lauter Gelehrsamkeit seinen Vater nicht. – Wem gehört Jaxthausen? 85 | Kant 1902 ff., Bd. 2 (1905), S. 447. 86 | Kant 1902 ff., Bd. 2 (1905), S. 449, Hervorhebung im Original. 87 | Vgl. Oldenberg 1858; ferner: Günzler 1981; Kleinert et al. 1952, S. 172-178.

II.  »Ich will dir zeigen alles« CARL. Jaxthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jaxt. GÖTZ. Das frag ich nicht. – Ich kannte alle Pfade, Weg und Furten, eh ich wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß.« 88

Die lebensferne Bildung des Stubengelehrten Carl, der unfähig ist, angelesene Informationen auf die Wirklichkeit zu übertragen, kontrastiert Goethe hier mit dem lebensnahen, auf eigenen Erfahrungen beruhenden Wissen seines Reichsritters Götz. Dieser hatte seine angeborenen Talente nicht durch Bücher, sondern im direkten Umgang mit der Natur geschult. Man darf also vermuten, dass der Dichter über seine im Erwachsenenalter vorbildlich und charakterfest geratene literarische Figur ein Plädoyer für die seinerzeit vieldiskutierte anschauungsbezogene Bildungstheorie äußert. Dafür spricht, dass Goethe auch an anderer Stelle ähnlich argumentiert: So lobt er Eckermann gegenüber die befreiende Art der Malerschule der Carracci, die »ihren Schülern das Musterhafteste aus allen Fächern« gezeigt hätten, »so daß durch sie jedes Talent in seiner angeborenen Richtung entwickelt wurde, und Meister hervorgingen, von denen keiner dem andern gleich sah.«89 Auch während der zweijährigen Erziehung seines eigenen Zöglings, dem zu Beginn neunjährigen Friedrich von Stein, bestand Goethe darauf, dass dieser ihn auf Dienstreisen begleitete, um sich dort im direkten Kontakt mit neuen Menschen und fremden Dingen weiterzubilden. Der im 19. Jahrhundert wirkungsvollste Beitrag eines pädagogischen ›Dilettanten‹ entstammte jedoch nicht der Feder Goethes, sondern Friedrich Schillers. Dieser hatte nach einer Phase intensiver Kant-Lektüre in den Januar-, Februar- und Juniausgaben der Horen (1795) eine selbstständige Abhandlung zum in Rede stehenden Thema publiziert: die letztlich Fragment gebliebenen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen.90 Die anonym veröffentlichten Texte setzen mit einem kritischen Resümee des Verlaufs der Französischen Revolution ein, wenngleich auch Schiller diesen Zusammenhang nicht explizit offenlegt, sondern seine Erörterungen ins Allgemeine disloziert, um ihnen den Status genereller Gültigkeit zu verleihen.91 Erzählt wird die Geschichte eines Volkes, das von Geburt an, d. h., ohne dass es »in Freiheit diesen Stand wählen konnte«, in eine politische Ordnung versetzt wurde, die Schiller als Not- oder Naturstaat bezeichnet. Gemeint ist das Machtgefüge eines absolutistischen Regimes, dessen Legitimation und Stabilität allein auf der Autorität des Monar88 | Goethe 1985-2013, Bd. 4 (1985), S. 295, Hervorhebung im Original. 89 | Goethe 1985-2013, Bd. 39 (1999), S. 357. 90 | Vgl. dazu Schäfer 2005; Zelle 2005; Cadete 1991; Borchmeyer 1990; Bolten 1984. 91 | Schiller fügt sich mit seinem Schweigen zur Revolution zudem den Publikationsrichtlinien der Horen, vgl. Zelle 2005, S. 418.

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Die Unter weisung des Blicks

chen und nicht auf vernünftiger Gesetzgebung beruht. Unter dem wachsenden Einfluss der Aufklärung sei dieser Zustand jedoch zunehmend als unbefriedigend empfunden worden und es kam zum rechtmäßigen Auf begehren der Masse, d. h. zu dem »Versuch eines mündig gewordenen Volks, seinen Naturstaat in einen sittlichen umzuformen.« Verhängnisvoll daran war nun in den Augen Schillers, dass man dem an die Gegebenheit des Naturstaats angepassten Menschen im Zuge der Revolution bekannte hierarchische Strukturen genommen und ihm anstelle dessen lediglich »ein bloß mögliches (wenn gleich moralisch notwendiges) Ideal von Gesellschaft« in Aussicht gestellt habe.92 Ein wilder und im Naturstaat verrohter Menschenschlag sei dadurch unvorbereitet in die Situation versetzt worden, plötzlich in Freiheit selbstbestimmt handeln zu können, worüber dieser notwendigerweise in Bestialität und Barbarei verfiel. Schuld am Scheitern der Revolution trug für Schiller demnach nicht das hehre Ziel des Aufstandes, sondern allein der Mensch, der den Schritt in die Republik töricht und planlos unternommen hatte und dadurch zwangsläufig zu Fall geriet. An diesem Punkt setzt Schillers Vision von der ›ästhetischen Erziehung des Menschen‹ an, verfolgt sie doch das Ziel, die notwendigen Bedingungen für den erfolgreichen Gang der Gesellschaft vom Natur- in den Vernunftstaat zu schaffen. Der Charakter des Menschen, den Schiller nicht – wie vor ihm Rousseau und Kant93 – von Natur aus für gut befindet, sondern für per se »selbstsüchtig und gewalttätig« hält,94 soll durch die Veranschaulichung des Ästhetischen zivilisiert werden. Inspiration zu diesem Therapieansatz erhielt er in erster Linie von Edmund Burkes Enquiry into the Origin of the Sublime and Beautiful (1757), die Moses Mendelssohn zuvor durch eine Rezension in Deutschland popularisiert hatte:95 Burke attestiert dort den beiden Kategorien des Ästhetischen – dem Schönen und dem Erhabenen – eine entspannende bzw. anspannende Wirkung auf Körper und Geist. Schiller nun will diese psychophysischen Effekte für seine Zwecke nutzbar machen, indem er einerseits empfiehlt, die von Geburt an wilde und regressive Masse der Gesellschaft durch die Gegenwart des Kunstschönen zu sozialisieren und andererseits auch die Möglichkeit erkennt, durch die Veranschaulichung des Erhabenen die dekadente, bis zur Erschlaffung verfeinerte höhere Gesellschaftsschicht wieder in einen vitalen Zustand der Denk- und Handlungsfähigkeit zu versetzen. Durch die politi92 | Alle Schiller 1967, S. 81 f. 93 | »Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden. Denn die Gründe zum Bösen findet man nicht in der Naturanlage des Menschen. Das nur ist die Ursache des Bösen, daß die Natur nicht unter Regeln gebracht wird. Im Menschen liegen nur Keime zum Guten«. Kant 1902 ff., Bd. 9 (1923), S. 448. 94 | Schiller 1967, S. 83. 95 | Mendelsohn 1977.

II.  »Ich will dir zeigen alles«

sche Funktionalisierung des Ästhetischen im Rahmen seines Erziehungskonzepts beabsichtige Schiller, alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen auf den Gang in die Republik vorzubereiten. Nach dem Scheitern der Französischen Revolution war es also nicht länger der ruckartige und gewaltsame Volksaufstand, dem man die Durchsetzung notwendiger politischer Reformen zutraute. Präferiert wurde im Gegenteil das Modell eines systematisch durchdachten Umbruchs, bei dem der anschaulichen Erziehung eine Schlüsselfunktion zukam. Schiller stellt sich damit grundsätzlich an die Seite Kants, indem er dessen Glauben an den selbstermächtigten Menschen als Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Entwicklungen sowie der Vervollkommnung der Menschheit insgesamt übernahm. War bei Kant jedoch in diesem Zusammenhang noch »Aufklärung« das zentrale Konzept, so tritt nach Schiller endgültig der Begriff »Erziehung« an diese Stelle.

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III. Sehen lehren Zur pädagogischen Systematisierung des Blicks

L ieberkühn und die P sychologie der anschauenden E rkenntnis Die Fixierung der Pädagogik des späten 18. Jahrhunderts auf die allseitige Erziehung der Sinne war nicht nur ideologisch motiviert. Zu den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Argumenten trat auch ein wahrnehmungspsychologisches hinzu: Denn das zur gleichen Zeit im Rahmen von Phantasie- und Traumtheorien intensiv diskutierte Konzept der »Einbildung« führte zu einem erweiterten Verständnis der Wahrnehmung auch als introvertiertem, multisensualem, gar schöpferischem Akt.1 Eine entsprechende Spur hinterließ der Diskurs bereits bei Herder, der im Rahmen seiner Wahrnehmungsästhetik der Seele die produktive Kraft zuschrieb, im Prozess der Einbildung die Eingaben aller Sinne synthetisieren und dadurch ihre eigene ästhetische Welt kreieren zu können. Denn die Einbildung »besteht aber nicht bloß aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keinen Namen hätte. Das Gesicht borgt vom Gefühl und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder. Aus dem Allen webt und würkt nun die Seele sich ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.« 2

Wie die Philosophie der Aufklärung ganz allgemein hegte auch Herder den Wunsch nach Welterneuerung und setzte sich im Zuge dessen intensiv mit 1 | Zum literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs im langen 19. Jahrhundert vgl. Pfotenhauer /  S chneider 2006; Kleinspehn 1989, S. 164-184; grundlegend: Vietta 1986; Kamper 1981. 2 | Herder 1985-2000, Bd. 4 (1994), S. 349 f. Zu dem hier zitierten Essay von 1778 vgl. Greif 2016.

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dem Thema Erziehung auseinander:3 Sein volkspädagogischer Ansatz beinhaltet grundlegende politische, rechtliche und ökonomische Reformen zur Hebung des Bildungswesens, stellt insbesondere die Bedeutung des Spracherwerbs und Geschichtsbewusstseins heraus und plädiert methodisch für eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Erkenntnis nach sensualistischem Verständnis. Selbst die Erweckung einer religiösen Gesinnung im Menschen basiert bei ihm daher auf empirischen Naturerfahrungen, wie an einer Stelle seiner zweiteiligen Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774 / 76) deutlich wird, in der »eine Beschreibung des Nachvollzuges des Schöpfungsmorgens in einem alltäglich erfahrbaren Gefühls- und Erlebnisunterricht in der Morgenröte« stattfindet.4 Herders Mobilmachung aller Sinne für den Erkenntnisprozess korrespondiert nicht zufällig mit seiner multisensualen Einbildungstheorie. Wie gezeigt werden konnte, ist er Teil einer langen Reihe von Pädagogen des 18. Jahrhunderts, die sich um den Abgleich ihrer Lehr- und Lerntheorien mit den wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen ihrer Zeit bemühten. Diese Tradition wurde auch von der nachfolgenden Generation gepflegt und dadurch ins 19. Jahrhundert übertragen.5 Wie jedoch im Folgenden darzulegen sein wird, wurde die Beziehung von Pädagogik und Psychologie dabei noch einmal intensiviert – mit dem Ziel, nicht mehr nur für die Notwendigkeit anschaulichen Lernens einzutreten, sondern den eigentlichen Akt der Anschauung zu systematisieren und dadurch die Wahrnehmung und Begriffsbildung des Menschen effizienter zu gestalten. Ein früher, heute sogar von Historikerinnen und Historikern der Pädagogik weitgehend vergessener Wegbereiter dieses Ansatzes war der Brandenburger Schulmann Philipp Julius Lieberkühn.6 Dieser hatte in Halle beim Bibelwissenschaftler Johann Salomo Semler ein theologisches Fachstudium mit dem Schwerpunkt Jugenderziehung absolviert und war danach Anfang 1776 als Hofmeister in den Dienst des Neuruppiner Justizrats Daniel Heinrich Noeldechen getreten, der ihn mit der Erziehung seiner fünf Söhne betraute. Als Noeldechen wenig später eine Reform der örtlichen, seit 1365 belegbaren La3 | Vgl. zu Herders Pädagogik Wisbert 2016. 4 | Wisbert 2016, S. 609. Vgl. Herder 1985-2000, Bd. 5 (1993), S. 246-257. 5 | Zu den in der Folge aus ökonomischen Gründen nicht diskutierten, jedoch bezeichnenden Beispielen zählt der Göttinger Philosoph Friedrich Eduard Beneke, für den die »gesammte Pädagogik, der Hauptsache nach, nur angewandte Psychologie« war. Beneke wie auch sein Schüler Johann Gottlieb Dreßler sorgten für eine neuerliche Konjunktur des Psychologismus in der Erziehungslehre des frühen 19. Jahrhunderts, vgl. Beneke 1842, Bd. 1, S. XIII. 6 | Zu Lieberkühn gibt es bezeichnenderweise keinen biographischen Eintrag in Kleinert et al. 1952. Vgl. Platzdasch 2012.

III.  Sehen lehren

teinschule nach philanthropischen Standards in Angriff nahm, setzte er Lieberkühn zusammen mit dessen Studienfreund, dem Pädagogen Johan Stuve, Ostern 1777 als Leiter der Einrichtung ein.7 Beide Erzieher waren bestrebt, eine Bildungsanstalt nach dem Vorbild des kurz zuvor gegründeten Dessauer Philanthropinums zu installieren und auch in Neuruppin lebensnahen und anschaulichen Unterricht zu erteilen. Zudem setzte sich Lieberkühn im Rahmen seiner knapp 250-seitigen Studie Versuch über die anschauende Erkenntniß (1782) theoretisch mit dem Thema Anschauungspädagogik auseinander:8 Das primäre Anliegen der Abhandlung ist die Integration aktueller Theorien zum Seelenleben und zu Erkenntnisprozessen in die Erziehungslehre mit dem Ziel, dadurch die verbalistische Unterrichtsmethode zu Gunsten der psychologisch effektiveren anschaulichen Methode abzulösen.9 Denn den Beobachtungen Lieberkühns zufolge, konfrontiere man die Kinder vor allem im Religionsund Sittenunterricht traditionell zu früh und zudem »nicht anschauend genug« mit abstrakten moralischen Kategorien wie Recht und Unrecht, gut und böse etc. Daraus resultiere eine Überforderung der Schülerinnen und Schüler, die auf den »leere[n] Wörterkram« letztlich mit Unverständnis und Ablehnung reagieren würden und dadurch Gefahr liefen, im Erwachsenenalter einen unsittlichen Lebensstil zu pflegen.10 Um dieser Fehlentwicklung vorzubeugen, entfaltet der Pädagoge in seiner Abhandlung zunächst die seinerzeit geläufigsten epistemologischen Theorien,11 bevor er aus diesen in einem zweiten Schritt praktische Maßnahmen für den Unterricht ableitet. Nach Lieberkühn entwickelt die Seele Vorstellungen von den Dingen der Wirklichkeit in vier konsekutiven Schritten: Am Anfang steht das Fühlen einer durch die Einwirkung äußerer Reize auf den Sehsinn hervorgerufenen Veränderung ihres inneren Zustandes. Es folgt das Empfinden, bei dem die Seele in einem kognitiven Akt beginnt, die äußere Quelle ihrer inneren Modifikation zu bestimmen, d. h. einen Kausalzusammenhang zwischen Stimulus und Stimulans herzustellen. In der anschließenden Phase des Anschauens wird die objektive Ursache der inneren Veränderung immer klarer und die Seele beginnt, im Rekurs auf die Empfindungseindrücke »den anschaulichen Begriff ihres

7 | Zur Schulgeschichte des Gymnasiums vgl. Begemann 1915. 8 | Vgl. dazu Schäfer 2011, S. 69-72. 9 | Eine ähnliche Intention liegt auch der einige Jahre früheren Schulrede des Schweizer Pädagogen Johann Jakob Breitingers zu Grunde, vgl. Breitinger 1773. 10 | Alle Lieberkühn 1782, S. 4. 11 | Vor allem Johann Georg Sulzers Versuch einiger vernünftiger Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder (1745) und Johann August Eberhards Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens (1776) dürften Lieberkühn an dieser Stelle zur Orientierung gedient haben.

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Gegenstandes« auszubilden.12 Ausgehend von einer Vielzahl dieser sinnlich erworbenen Vorstellungen könne der Mensch sodann im letzten Schritt des Denkens von den Dingen der äußeren Wirklichkeit völlig unabhängige und daher rein symbolische Begriffe gewinnen. Bei Kindern sei letzteres Vermögen, in abstrakten Kategorien zu denken, jedoch nur in einem sehr geringen Maße ausgeprägt, da es sich erst allmählich auf Grundlage zahlreicher anschaulich erworbener Erkenntnisse konstituiere. Für die Schule eignet sich daher nach Lieberkühn einzig eine Form des Unterrichts, die mit den ersten drei Schritten des Erkenntnisgewinns operiert, dem Heranwachsenden also neue Einsichten auf strikt anschauliche Weise vermittelt. Abbildung 16: Johann A. Rossmäßler: Unterrichtsszene, in: Lieberkühn 1782, Frontispiz (BSB).

Lieberkühns didaktische Grundhaltung macht schon das Titelblatt (Abb. 16) des Versuchs offensichtlich. Der Kupferstecher Johann August Rossmäßler zeigt dort eine Szene, in der ein Lehrer zwei etwa gleichaltrige Zöglinge unterrichtet. Die Gruppe befindet sich vor einer Regalwand, die nahezu komplett mit Büchern bestückt ist und die dadurch die umfassende Bildung des Erziehers zur Schau stellt. Die Schüler hingegen wenden sich bezeichnenderweise von die12 | Lieberkühn 1782, S. 14.

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ser traditionellen Wissensquelle ab und widmen ihre gesamte Aufmerksamkeit stattdessen den Worten des Lehrers und der vor ihnen ausgebreiteten Sammlung an Naturalien, Instrumenten und Kunstwerken, auf die sich die mündliche Unterweisung des Erziehers bezieht. Ihr Wissensstand wird demnach vom Lehrer, der um die noch unterentwickelte intellektuelle Kapazität seiner Schüler weiß, konsequent anschaulich erweitert. Einmal mehr klingt damit in einer pädagogischen Programmatik vor 1800 das Leitprinzip der Aufklärung an: Dem Menschen muss es ermöglicht werden, sich eigenmächtig seines Verstandes zu bedienen. Dazu muss er vollständig Herr seiner Sinne sein. Die Erziehung hat folglich die Aufgabe, das Sensorium der Heranwachsenden im Unterricht konstant zu fördern und dadurch immer feiner auszubilden. Anders als seine Zeitgenossen leitet Lieberkühn aus dieser Prämisse jedoch nicht nur das Gebot ab, objekt- bzw. bildbezogen zu lehren. Er empfiehlt darüber hinaus auch eine spezielle Anschauungstechnik, mit deren Hilfe die Schülerinnen und Schüler auf effiziente Weise »Sachvorstellungen«, d. h. Einsichten in »die Entstehungsart und die wirkliche Natur der Objekte«, entwickeln können. Im Versuch heißt es dazu konkret: »Je mehr sie [die Sachvorstellungen, T T] ferner klare Merkmale enthalten, in denen gleichsam ihr Gegenstand abgedrückt ist, je mehr sie ihn und seine ganze Natur erschöpfen, desto ausführlicher, desto vollständiger sind sie. Und diese Vollständigkeit hat unzählige Grade, die von der Beschaffenheit des Gegenstandes, und von der Kraft des erkennenden Wesens abhängen. Der Zergliederer dringt bis zu den feinsten Bestandteilen des thierischen Körpers ein, besonders wenn die Kunst sein Auge und seine Hand bewaffnet; und eben so löset der Psycholog ein geistiges Objekt in seine einfachsten Elemente auf. Mit jedem Fortschritt in dieser Auflösung wird der Sachbegriff vollständiger.«13

Für Lieberkühn ist es demnach Grundprinzip der Anschauung, Gesamteindrücke mittels genauer Beobachtungen immer weiter zu zergliedern, um dadurch differenzierte Vorstellungen von den spezifischen und unspezifischen Qualitäten der Dinge zu erhalten. Dass für dieses Verfahren – wie auch im Falle der gedanklich verwandten Stelle aus Comenius Didactica magna – naturwissenschaftliche Beobachtungstechniken vorbildlich waren, ist wahrscheinlich, hatte doch der Schweizer Botaniker Jean Senebier einige Jahre zuvor in seinem Essai sur l’art d’observer et de faire des expériences eine Zusammenstellung der diesbezüglich einschlägigen Verfahren publiziert, die kurz darauf auch auf Deutsch erschien. Darin fordert Senebier von der Beobachterin, vom Beobachter jederzeit »den wahren Gesichtspunkt eines jeden Gegenstands [zu] finden,

13 | Lieberkühn 1782, S. 65.

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das Wesentliche von dem [zu] unterscheiden, was es nicht ist«,14 und empfiehlt in diesem Zusammenhang die Methode der optischen »Zerteilung« komplexer Dinge in ihre Einzelheiten, die schon der große französische Entomologe RenéAntoine Ferchault de Réaumur mit Gewinn eingesetzt habe: »Wann Reaumur ein Insekt beschrieben hat, so betrachtet er seine verschiedenen Theile abgesondert, er untersucht z. B. seinen Kopf, er beobachtet daran die Augen, er berechnet ihre Anzahl, er setzt ihren Platz fest, und bestimmt ihren Gebrauch; er durchgeht auf die gleiche Weise alle anderen Theile, und verläßt seinen Gegenstand nicht, als bis er ihn ergründet hat, und in die geringsten Kleinigkeiten gedrungen ist«.15

Lieberkühn übernahm dieses naturwissenschaftliche Beobachtungsprozedere, verlangte jedoch von seinen Schülerinnen und Schülern nicht den gleichen Grad an Akribie. Die anschauliche Begriffsbildung solle im Gegenteil ökonomisch eingesetzt werden. So reiche es je nach persönlichem Bedarf manchmal schon aus, ein Objekt lediglich »von anderen zu unterscheiden, oder sich daran zu vergnügen, oder es anderen bekannt zu machen, oder es in der Ausübung dazustellen, oder endlich seine gesammte Natur zu erkennen.«16 Viel wichtiger als ihre maximal-extensive Anwendung war es Lieberkühn, dass seine visuelle Technik grundsätzlich verinnerlicht wurde, da sie bei zunehmenden Gebrauch den »gesunden Menschenverstand« schule und auch den Alltag erleichtere, denn es sei in vielerlei Hinsicht ungemein nützlich, die »gewöhnlichern [sic] und speciellern [sic] Verhälltnisse der Dinge« schnell bestimmen zu können. So habe es »große Feldherren, Aerzte, Staatsmänner und andere gegeben, die ihre glücklichsten und wichtigsten Unternehmungen dem hellen überschauenden Blikk zu danken haben, mit dem sie Gegenstände von großer Ausdehnung und Schwierigkeit umfaßten.«17 Der schulische Unterricht ist für Lieberkühn der Ort, an dem der Sehsinn des Menschen entsprechend konditioniert werden muss. Dazu stünden eine Reihe von Lehrmitteln zur Verfügung, die nach unterschiedlichen Regeln zu gebrauchen seien: Besonders empfehlenswert sei es, die Objekte selbst heranzuziehen und die Schülerinnen und Schüler anzuleiten, Dinge oft und anhaltend zu betrachten. Da das allerdings viel Übung erfordere, sei es Sache der Pädagogik, die Aufmerksamkeit der Kinder zu lenken, ihnen die Technik visuellen Differenzierens näherzubringen und sie dadurch bei der anschaulichen Begriffsbildung zu unterstützen. Neben dem Unterricht am Objekt könne die Lehrerin, der Lehrer dazu auch an die Phantasie appellieren, vermöge derer 14 | Senebier 1776, S. 79. 15 | Alle Senebier 1776, S. 81 f. 16 | Lieberkühn 1782, S. 70. 17 | Alle Lieberkühn 1782, S. 82 ff.

III.  Sehen lehren

eine Jede, ein Jeder zur Rekapitulation bereits gebildeter Begriffe in der Lage sei. Diese Gedächtnisinhalte könne man dann mit aktuellen Wahrnehmungen vergleichen und bereichern. Der dafür notwendige Erinnerungsimpuls könne einerseits von Realien ausgehen, jedoch ebenso gut von Bildern oder der Sprache herrühren. Letztere bestehe zwar »größtentheils aus willkührlichen Zeichen, die eine geringe, oft für uns gar nicht erkennbare Aehnlichkeit mit den Gegenständen haben,«18 der Mensch verbinde jedoch mit den Wörtern eine konventionelle Bedeutung und sei dadurch in der Lage, ältere Sachvorstellungen mittels sprachlicher Ausdrücke erneut zu evozieren. Graphiken können diese Funktion ebenso erfüllen, seien aber im Unterricht nur bedingt brauchbar. Aufgrund ihrer mangelnden Farbigkeit, ihrer Zweidimensionalität sowie ihrer Leblosigkeit eignen sie sich vor allem nicht zur Veranschaulichung komplexer Gegenstände. Daher gelte für Lehrerinnen und Lehrer: »Leite lieber, wenigstens eher und öfter den Lehrling zum Anschauen des Wirklichen hin!« 19 Anders hingegen verhalte es sich mit »allerley allgemeine[n], unsinnliche[n], teils psychologische[n] oder moralische[n]« Begriffen. Diese lassen sich Kindern nur über Bilder verständlich machen, da sie ihre Aufmerksamkeit während der theoretischen Erörterung fesseln, sie »durch ihre pathognomische Kraft […] und transitiven Wirkungen« auf emotionaler Ebene berühren und dadurch die zu vermittelnden Inhalte fest im Gedächtnis verankern.20

A nschauungsunterricht bei J ohann H einrich P estaloz zi Die vielgestaltigen Bemühungen der Aufklärungspädagogik, Kontrolle über die Sinneswahrnehmung des Menschen zu gewinnen, sind auf der Metaebene immer auch Ausdruck eines problematisch gewordenen Verhältnisses zur Wirklichkeit: Denn mit der pädagogischen Forderung, das Selbsterlebte, Selbstgesehene, Selbstgefühlte an den Beginn eines jeden Lernprozesses zu stellen, wurde die Frage nach der korrekten Interpretation der Realität ebenso virulent wie auch Ängste vor den Konsequenzen falscher Schlussfolgerungen, vor dem Unbekannten und vor der Täuschung. Eine entsprechende Unsicherheit ist für die hier in Rede stehende Phase immer wieder betont worden:21 allen voran von Jean Baudrillard, der das (früh-)industrielle Zeitalter als Epoche der »Hyperrealität« beschrieb, in der die Zeichen ihren traditionellen Bezug zur Wirklichkeit verloren.22 In der Erziehungswissenschaft wurde dieser epochale Konflikt 18 | Lieberkühn 1782, S. 159. 19 | Lieberkühn 1782, S. 128, Hervorhebung im Original. 20 | Lieberkühn 1782, S. 138. 21 | Vgl. Kleinspehn 1989, S. 164-184. 22 | Erstmals in Baudrillard 2005, S. 87 ff.

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mehr oder weniger offen reflektiert und er blieb der Pädagogik erhalten, auch lange nachdem sie sich um 1800 aus ihrem ursprünglichen philosophischen Kontext gelöst und zur eigenständigen Disziplin erhoben hatte. Nur vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Erzieherinnen und Erzieher im frühen 19. Jahrhundert ihre Anstrengungen zur Disziplinierung der Wahrnehmung keineswegs aufgaben, sondern im Gegenteil nochmals intensivierten. Lieberkühns Bestrebungen hin zu einer psychologisch begründeten, auf systematischer Anschauung beruhenden, fächerübergreifenden Einheitsdidaktik stehen am Beginn dieser Entwicklung, sollten jedoch schon bald von wesentlich weit- und folgenreicheren Ansätzen vergessen gemacht werden. Vor allem einem Schulmann war es vorbehalten, den im Versuch eingeschlagenen Weg weiterzugehen:23 dem Züricher Sozial- und Bildungsreformer Johann Heinrich Pestalozzi.24 Durch den überaus erfolgreichen vierteiligen Volkserziehungsroman Lienhard und Gertrud (1781-87), in dem das sittlich und ökonomisch verwahrloste Dorf Bonnal durch eine von der siebenfachen ›Muster-Mutter‹ Gertrud initiierte Schulreform aus seinem Elend befreit wird, hatte er sich in der Pädagogik bereits früh einen Namen gemacht.25 Anschließend widmete er sich weiteren schriftstellerischen, politischen und auch ersten (wenig erfolgreichen) pädagogischen Projekten, bevor er am 14. Januar 1799 – im Alter von bereits 52 Jahren – die Leitung einer neugegründeten Anstalt für Waisenkinder in der Nidwaldener Ortschaft Stans antrat.26 Durch den Ausbruch des Zweiten Koalitionskriegs musste die Einrichtung jedoch schon kurz nach der Eröffnung einem Militärlazarett weichen, was Pestalozzi veranlasste, Nidwalden nach nur sieben Monaten in einem psychisch und physisch schwer angeschlagenen Zustand wieder zu verlassen.27 Seine zweite pädagogische Station war dann wenig später eine Bildungsanstalt auf Schloss Burgdorf im Kanton Bern, wo Pestalozzi auf Vermittlung sei23 | Dass Pestalozzi zumindest eine Besprechung des Versuchs kannte, die 1784 in der Allgemeinen Bibliothek erschienen war, belegt Miyazaki 1992. 24 | Vgl. zur Biographie Kuhlemann / B rühlmeier o. D.; Tröhler 2008; Stadler 1988 /  9 3. 25 | Vgl. Stadler 1988 / 9 3, Bd. 1 (1988), Kap. 7 u. 9. 26 | Die Einrichtung war notwendig geworden, nachdem sich einige Bürgerinnen und Bürger Nidwaldens auf Agitation der Kirche hin geweigert hatten, auf die neue in Frankreich niedergeschriebene Einheitsverfassung zu schwören, mit der die Besatzungsmacht den Zusammenbruch der alten Eidgenossenschaft zu Gunsten der neuen zentralistischlaizistischen Helvetischen Republik besiegeln wollte. Napoleons Truppen statuierten daraufhin vom 7. bis 9. September 1798 ein Exempel, das vor allem Stans hart traf, vgl. Maissen 2010. 27 | Eine genaue Schilderung der damaligen Umstände findet sich in Pestalozzis Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans (1799), vgl. Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 1-32.

III.  Sehen lehren

nes großen Förderers – dem helvetischen Erziehungsminister Philipp Albert Stapfer  – zunächst eine Lehrerstelle innehatte und später die Leitung übernahm. Unter seiner Verantwortung entwickelte sich in Burgdorf ein reformpädagogisch orientiertes Erziehungsinstitut, das eine Knabenschule, ein Pensionat, ein Seminar zur Ausbildung von Lehrern und auch ein Waisenhaus bzw. eine Armenschule umfasste. Für Pestalozzi stand damit ein pädagogischer Versuchsraum bereit, in dem er und seine Mitarbeiter auf experimentelle Weise progressive Unterrichtsmethoden erproben und schließlich das erarbeiten konnten, was man schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas nicht ohne Ehrfurcht als die Methode bezeichnete.28 Erstmals grundlegend erörtert Pestalozzi seine in dieser Phase entwickelten erzieherischen Überzeugungen und Verfahren in der Programmschrift Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801), die aus vierzehn an den Züricher Verleger Heinrich Geßner adressierten Briefen besteht.29 Das erste Schreiben datiert auf den Neujahrstag 1801 und ist wie die zwei folgenden Texte im Wesentlichen autobiographischer Natur: Pestalozzi berichtet dort von der Motivation, sein Leben der Reform der Volkserziehung und Armenbildung zu widmen, schreibt über seinen pädagogischen Werdegang und gibt Auskunft über die allmähliche gedankliche Verfestigung seiner Erziehungsmethode in Stans und Burgdorf.30 Dabei wird deutlich, dass auch sein primäres Anliegen die Verwissenschaftlichung der Pädagogik war, qua Etablierung einer leicht auch von Laiinnen und Laien praktizierbaren allgemeinen Unterrichtsmethode, die im Kern auf »physisch-mechanischen Gesetze[n], nach welchen unser Geist alle äusseren Eindrücke leichter oder schwerer aufnimmt und behält«, beruhen sollte. Im Unterschied zu Lieberkühn allerdings will Pestalozzi nach eigenen Angaben »seit dreyßig Jahren kein Buch mehr gelesen«31 haben und betont stattdessen den rein intuitiven Ursprung all seiner Erkenntnisse. Dass er mit dem 28 | Tröhler (vgl. 2008, S. 60 f.) gibt an, dass der Sammelbegriff »Methode« für Pestalozzis in sich keineswegs geschlossene Erziehungslehre auf Stapfer zurückgeht, der seinen Protegé mit dem damaligen »Zauberwort« bei der helvetischen Regierung als Erziehungsreformer durchsetzen wollte und konnte. Zur allgemein gesteigerten Erwartungshaltung gegenüber Methoden im Zeitalter der Aufklärung vgl. Tröhler / O elkers / Z urbuchen 2002. 29 | Der Titel des Werks stammt von Geßner, der aus kommerziellen Gründen an Pestalozzis Erfolgsroman Lienhard und Gertrud anknüpfen wollte. So erklärt es sich, dass eine Mutterfigur Gertrud im Text nicht vorkommt. Zum Verlag der Familie Geßner vgl. Leemann-van Elck 1950. 30 | Für Ostenwalder steht der biographische Vorlauf im Zusammenhang mit der aus dem Glaubensmethodismus resultierenden romantischen Kultur der Innerlichkeit und Selbstreflexion, vgl. Ostenwalder 2008. 31 | Alle Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 196.

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Topos des autonom agierenden Einzelgängers nur ein seit der Frühen Neuzeit beliebtes Biographem der Textgattung Vita in Anschlag brachte, ist der Forschung lange entgangen.32 Mittlerweile sind Kontextualisierungen von Pestalozzis Schaffen jedoch die Regel.33 Im Zuge dessen wurden etwa seine offensichtlichen Bezüge zur sensualistischen Aufklärungsphilosophie Rousseaus benannt,34 denn auch bei ihm ist der Mensch von Natur aus gut und grundsätzlich mit der Fähigkeit ausgestattet, angeborene Talente im Umgang mit der Natur zu entwickeln. Darüber hinaus bezieht er scharf Stellung gegen die »bestehenden Schulerbärmlichkeiten« seiner Zeit und im Besonderen gegen den Verbalismus im Unterricht,35 der das kostbare »Werkzeug der Anschauung, die Augen […] zu blossen [sic] Buchstabenaugen und uns selbst zu bloßen Buchstabenmenschen« habe verkommen lassen.36 Auch Pestalozzis Antwort auf diese Missstände könnte für die Zeit um 1800 kaum gängiger sein: Schließlich propagiert er wie Basedow, von dem er ebenfalls »keine Sylbe« gekannt haben will,37 ein an die Mütter adressiertes und auf die Ausbildung der Sinne bzw. körperlichen Vermögen fokussiertes Konzept,38 bei dem der Wissenstransfer von der Lehrerin, dem Lehrer auf die Schülerin, den Schüler nachrangig, die »psychologische Führung zur vernünftigen Anschauung aller Dinge« hingegen vorrangig ist.39 Bis zu diesem Zeitpunkt liest sich Pestalozzis Programmschrift also recht konventionell: Die wichtigsten Grundsätze der Reformpädagogik sind ihm nicht nur bekannt, er teilt und vertritt sie auch mehrheitlich. Im siebten Brief 32 | In Bezug auf die Untergattung der Künstlerviten ist dieses Phänomen vielfach untersucht worden, vgl. Pfisterer 2003b; Kris /  K urz 1980, bes. Kap. II. Zur Textsorte »Biographie« und ihren Konventionen vgl. Klein 2009. 33 | Einen wichtigen Ausgangspunkt der kritischen Pestalozzi-Rezeption markieren die Beiträge Arthur Steins, vgl. Stein 1945; Stein 1969; vgl. zudem Tröhler 2006; Tröhler / O elkers /  Z urbuchen 2002; Weber 2000; Hager 1996; Hager / Tröhler 1994; Hager 1993. 34 | Zu Pestalozzi und Rousseau vgl. Korte 1996; Tröhler 1994; Hager 1975. 35 | Vgl. Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 241. 36 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 307. 37 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 241. 38 | Zur Rolle der Mütter in der Pädagogik Pestalozzis zuletzt Baer 2011. Auch Kant hatte in seinen Vorlesungen Über Pädagogik versucht, einen Leitfaden speziell für die häusliche Erziehung zu entwickeln, da er um die hohen Kosten von Einrichtungen wie dem Philanthropinum wusste. Herbart und Fröbel erarbeiteten ebenfalls Konzepte für die häusliche Erziehung (s. u.). Sie alle erhärten damit Foucaults These von der fortschreitenden De-Institutionalisierung der Disziplinarmechanismen um 1800, vgl. Foucault 1976, S. 271 ff. 39 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 197.

III.  Sehen lehren

allerdings begegnet der Leserin, dem Leser plötzlich eine Passage, mit der der Schweizer einen großen Schritt aus dem Schatten seiner Vorgänger macht: Seine Gedanken kreisen vor und zu diesem Zeitpunkt um den Begriff der Anschauung, worunter man laut Pestalozzi »das bloße vor den Sinnen stehen der äusseren Gegenstände und die bloße Regemachung des Bewußtseyns ihres Eindrucks« zu verstehen hat,40 d. h. die unmittelbar sinnliche, passive Perzeption eines Objekts. Auf dieser Stufe sei Anschauung eine Naturkraft, d. h. jedem Menschen von Geburt an eigen, und Mittel erster Wahl, wenn es um die Perfektionierung der Geisteskräfte im Umgang mit der Wirklichkeit gehe. Problematisch sei jedoch, dass die Natur der Betrachterin, dem Betrachter Dinge oft in ungünstigen Entfernungen und Ansichten präsentiere sowie in einem unsystematischen und didaktisch unvorteilhaften Nacheinander. Der Erkenntnisprozess verlaufe aus diesem Grund oft fehlerhaft, sei jedoch entscheidend optimierbar, sofern der eigentliche Akt der Anschauung auf eine methodisch kontrollierte Grundlage gestellt werde. Pestalozzi spricht in diesem Zusammenhang von »Anschauungskunst«: »Dies ist eine neue Kunst, die den alten, gewohnten und bekannten Kunstansichten unserer Kultur als ihr allgemeines und wesentliches Fundament vorher gehen sollte. Ein jedes Kind kommt durch dieselbe auf die einfachste Art dahin, jeden Gegenstand in der Natur nach seinem innern Verhältniß, und nach demjenigen seiner Beziehungen auf andere richtig beurtheilen, und sich über denselben bestimmt ausdrucken zu können. Es kommt durch diese Kunstführung dahin, daß, wenn es irgend eine Figur ansieht, es nicht nur das Verhältniß der Höhe gegen die Breite derselben, sondern auch das Verhältniß einer jeden einzelnen Abweichung seiner Form von dem gleichseitigen Viereck in Schiefe und Bögen genau bestimmen, und mit dem Namen benennen kann, durch welchen diese Abweichung in unserm ABC der Anschauung bezeichnet wird. Die Mittel zu dieser Kunstkraft zu gelangen, liegen in der Ausmessungskunst selber, und werden denn ferner durch die Zeichnungskunst, und vorzüglich durch die Linearzeichnungskunst in dem Kinde noch mehr entwickelt, und auf den Punkt gebracht, daß die bestimmten Ausmessungsformen der Gegenstände in ihm zu einer Geläufigkeit und einer Art Takt erhoben werden, daß es sich selbige nach den vollendeten Anfangsübungen, sogar in den verwickelsten Gegenständen nicht mehr als würkliches Ausmessungs-Mittel vor Augen stellen muß; sondern sie sich dann auch ohne Hülfe nach allen Verhältnissen ihrer Theile untereinander richtig vorstellen, und sich darüber bestimmt ausdrücken kann.« 41

Unter Anschauungskunst versteht Pestalozzi demnach eine elaborierte Form des Sehens, während der das in Augenschein stehende Objekt von der Betrachterin, dem Betrachter aktiv strukturiert und auf seine basalen formalen Eigen40 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 310. 41 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 287 f.

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schaften hin untersucht wird. Das Ergebnis dieses Wahrnehmungsvorgangs ist ein abstraktes, auf Grundformen und Proportionen reduziertes, virtuelles Bild der Realität.42 Doch wie genau gestaltet sich der Anschauungsprozess gemäß der Lehre Pestalozzis und auf welche Weise wird die intendierte Professionalisierung des Blicks im Unterricht erreicht? Ausgangspunkt des praktischen Teils des Textes Wie Gertrud ihre Kinder lehrt ist die Feststellung, dass sich alle Dinge der Wirklichkeit auf drei primäre, nicht weiter reduzierbare Eigenschaften zurückführen lassen: die Elementarmittel Sprache, Form und Zahl.43 Für den Schüler sei es daher oberstes Gebot, von allen weiteren Qualitäten des Objekts abzusehen, »wenn er irgend einen Gegenstand, der ihm verwirrt und dunkel vor Augen gebracht wird, gehörig aus einander setzen und sich allmählig klar machen will.«44 Von fundamentaler Bedeutung ist also zunächst die Ausbildung sprachlicher Kompetenzen beim Kind, das befähigt werden muss, seine im Zuge der Anschauung gesammelten Eindrücke und Schlussfolgerungen korrekt zu artikulieren.45 Parallel dazu soll mit der Stärkung und Konditionierung des Anschauungsvermögens von Form und Zahl begonnen werden. Mit dem zweiteiligen ABC der Anschauung (1803) steht ein eigens zu diesem Zweck erdachter Leitfaden bereit: Das Elementarbuch beginnt mit der geraden Linie, deren Eigenschaften und mögliche Lagen (vertikal, horizontal, aufsteigend, absteigend) die Schülerinnen und Schüler durch Wiederholung der von der Lehrerinn, dem Lehrer verlesenen Erläuterungen sowie durch genaues Beobachten und Abzeichnen entsprechender Schau-

42 | Nach heutigem Verständnis wiederspricht diese visuelle Technik Pestalozzis eingangs zitierter Forderung nach einer an der kognitiven Leistungsfähigkeit des Kindes orientierten Einheitsdidaktik. Doch wie Bärbel Weber darlegen konnte, hatte der Schweizer seinerzeit allen Grund, das Gegenteil anzunehmen und den Einklang seines Verfahrens mit den Bildungsgesetzen der Natur wie auch der Psychogenese des menschlichen Intellekts zu behaupten. Die ›Anschauungskunst‹ war für Pestalozzi daher kein willkürliches Kunstprodukt, sondern eine naturbasierte und damit allen Zweifeln enthobene Lernstrategie, vgl. Weber 2000. 43 | Hager versucht stellvertretend für viele seiner Kolleginnen und Kollegen, die von Pestalozzi benannten Elementareigenschaften der Dinge auf die sensualistische Aufklärungsphilosophie wie auch auf die Kant’sche Epistemologie zurückzuführen. Beides gelingt jedoch nicht vollends, auch weil Pestalozzi selbst an entscheidenden Stellen undeutlich argumentiert, vgl. Hager 1996. 44 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 255. 45 | Der siebte Brief stellt dazu allerlei Übungsaufgaben bereit; ebenso das von Pestalozzi und seinem Mitarbeiter Hermann Krüsi ergänzend edierte Buch der Mütter oder Anleitung für Mütter ihre Kinder bemerken und reden zu lehren (1803), vgl. Pestalozzi 1927-94, Bd. 15 (1958), 341-424.

III.  Sehen lehren

bilder verinnerlichen.46 Anschließend bringt Pestalozzi den Kindern bei, welche Beziehungen zwei Linien zueinander einnehmen können (parallel, gleich bzw. unterschiedlich lang, angewinkelt). Auch dabei werden die Schülerinnen und Schüler vor die Aufgabe gestellt, sich die korrekte Terminologie der jeweiligen Phänomene zu merken und die linearen Verhältnisse zeichnerisch nachzustellen. Den nächsten Schritt des Lehrgangs bildet dann die Bestimmung der Maßverhältnisse bei geraden Linien mittels einer dem ABC der Anschauung beigegebenen Schautafel (Abb. 17). Dort finden sich – eingeteilt in acht Blöcke – insgesamt 36 Figuren, die wiederum immer aus zwei gleich langen, parallel angeordneten Strecken bestehen. Diese Geraden sind im ersten Block durch kleine Markierungen in bis zu 20 Abschnitte unterteilt und stellen die Kinder vor die Herausforderung, Größenvergleiche vorzunehmen. Der Lehrer soll die Schüler dazu etwa bezogen auf die erste Figur fragen: »Lehrer: Wie verhält sich die Länge von 2 / 3 der 2ten Linie zu der Länge einer Hälfte der 1sten Linie? (Es versteht sich, daß hier auf die Linien hingezeigt werden soll.) Kinder: Die Länge von 2 / 3 der 2ten Linie ist 4 mal dem 3ten Theile einer Hälfte der 1sten Linie gleich«. 47

Auf anschauliche Weise werden durch diese im Prinzip immer gleichen Übungen elementare Kenntnisse der Bruchrechnung vermittelt, jedoch zugleich auch die Kompetenz, rein visuell – d. h. ohne Zuhilfenahme absoluter Maße wie Elle oder Zoll – innere Relationen von Gegenständen bestimmen und diese dann mit den Proportionen anderer Objekte vergleichen zu können. Zudem werden die Kinder durch ihre Arbeit mit Linien auf den ersten Kontakt mit geometrischen Flächenfiguren vorbereitet  – besonders auf das Quadrat, das neben der Geraden das Zentrum der gesamten Formenlehre Pestalozzis bildet.48 Denn aus dieser Figur lassen sich nicht nur alle bisher behandelten Unterrichtsgegenstände (Linien, Parallelen, Winkel) ableiten, sondern auch weitere geometrische Grundformen wie das Dreieck, der Kreis oder der Kreisbogen. Studiert und eingeübt wird auch das Quadrat zunächst zeichnerisch: durch 46 | Zu Pestalozzis Position in Bezug auf das Zeichnen vgl. Kelly 2004, S. 19-27; Ashwin 1981; Ashwin 1980, Kap. 1. 47 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 15 (1958), S. 240. 48 | Auch den Schreibunterricht gestaltet Pestalozzi methodisch über die Grundform des Quadrats und davon abgeleiteten Linien, Bögen und geometrischen Flächen, die die Unterrichteten an die Elementarformen der Buchstaben heranführen sollen, vgl. den Text Die Methode. Eine Denkschrift (1800), in: Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 101-125, dazu Wagemann 1958. Kemp (vgl. 1979, S. 289) führt Pestalozzis Formenlehre und die emphatische Berufung von Linie und Quadrat auf methodische Umbrüche im Schreibunterricht zurück.

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wiederholte und möglichst exakte Darstellungen der Grundform, ohne Hilfsmittel wie Lineal oder Zirkel. Erst wenn die Schülerinnen und Schüler »Vollkommenheit in der Nachahmung dieser Linien des Vierecks und seiner Abtheilungen« an den Tag legten,49 waren ihnen andere Zeichenübungen erlaubt. Anschließend wird auch das Quadrat in einzelne Segmente unterteilt, um verschieden proportionierte Rechtecke zu bilden. Zur Veranschaulichung dient die dritte Tafel aus dem ABC der Anschauung (Abb. 18): Sie zeigt zehn Spalten mit jeweils zehn Quadraten, die durch gestrichelte horizontale und durchgängige vertikale Linien in bis zu 100 Partikel eingeteilt sind. Mit ihrer Hilfe soll das Kind immer wieder bestimmen, in welchem Verhältnis Breite und Höhe bei diversen Rechtecken stehen und wie sich ein bestimmtes Viereck zum Ganzen des Quadrats verhält: »Es thut dieses, indem es, z. E. auf eine von den 6 Abtheilungen des 3ten Quadrates der 2ten Reihe hinzeigend, sagt: Die Höhe dieses Rechtecks, das ein Sechstel dieses Quadrats ist, ist 2 mal dem 3ten Theile seiner Länge gleich.«50 Abbildungen 17 und 18: Johann H. Pestalozzi: Schautafeln für den Anschauungsunterricht, in: Pestalozzi 1803, Bd. 2, Taf. 2 (links) und 3 (beide BSB).

Übungen wie diese füllen im ABC der Anschauung knapp 150 Textseiten. Immer wieder sollen die Kinder anhand von Linien oder Quadraten die gleichen Opera49 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 15 (1958), S. 184. 50 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 15 (1958), S. 241.

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tionen durchführen – so lange, bis ihr Augenmaß entsprechend den Vorstellungen Pestalozzis ausgebildet war. Erst dann waren sie bereit, auch Gegenstände ihrer natürlichen Umgebung gewinnbringend zu betrachten und zu zeichnen, wobei für Pestalozzi eine »vollendet richtige Zeichnung wesentlich nichts anderes, als eine Wiederholung der Ausmessungsform, die ihnen [den Kindern, TT] geläufig war,« darstellte.51 Das erste und wichtigste dieser natürlichen Anschauungsobjekte war der menschliche Körper. Seine analytische Betrachtung schloss daher direkt an die propädeutischen Reflexionen über lineare Gebilde und geometrische Grundformen an. Eine anonyme, nicht sicher datierbare Grafik (Abb. 19) verdeutlicht dieses Prozedere:52 Zu sehen ist Pestalozzi selbst, der einer Großklasse von etwa 80 gleichaltrigen Kindern vorsitzt. In einem ansonsten karg eingerichteten Klassenzimmer ist er umgeben von seinen drei wichtigsten Lehrmitteln: einem aufgeschlagenen Elementarbuch, zwei großen Wandtafeln mit Abbildungen aus seinen ABC-Büchern und schließlich einem Kind, dessen Körper seinen Kameradinnen, Kammeraden gerade als Anschauungsobjekt dient.53 Alle Blicke richten sich auf Pestalozzi, der mit seiner rechten Hand die Geste des Messens vollführt und dadurch Anweisung gibt, den Körper des Schülers zu seiner Linken in Anschauung zu nehmen. Dazu sollen die Kinder die erlernte »Urform aller Ausmessungsformen«54 – das Viereck – zwischen sich und ihren Kameraden imaginieren,55 um durch diese Referenzfigur die Grundformen wie auch die Proportionen der Körperteile des vorgeführten Kindes zu ermitteln. Dazu wird zunächst bestimmt, welche Art von Rechteck (horizontal, vertikal) das anvisierte Körperteil am ehesten in sich aufnehmen kann und anschließend, in welchem Verhältnis Höhe und Breite der virtuellen Figur stehen. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen und Schüler den Leib des vor ihnen geduldig ausharrenden Jungens visuell im51 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 237. 52 | Das Blatt scheint nur fotografisch überliefert zu sein. Ein Abzug befindet sich der Library of Congress in Washington (LOT 2979), rückseitig beschrieben mit den Angaben »Pestalozzi in Stanz« sowie »Deutscher Lichtbild-Dienst GmbH, Berlin W. 35, Potsdamerstr. 41«. Das Bild wurde bereits häufiger publiziert: Brosterman (1997, S. 21) datiert es auf »ca. 1803«; Liedtke (1968, S. 119) gibt in der Bildunterschrift »›Stich von Anker‹ (1831-1910)« an, der Pestalozzi mehrfach gemalt hat. In den Werkverzeichnissen Albert Ankers von Max Huggler (1962) und Robert Meister (1881) findet sich jedoch kein Nachweis. Als Quelle wird von Liedtke der Ullstein-Bilderdienst, Berlin, genannt, vgl. Liedtke 1968. 53 | Besonders das Buch der Mütter (vgl. Pestalozzi 1927-94, Bd. 15 [1958], S. 341424) baut für den Sprachunterricht auf den menschlichen Körper als Anschauungsobjekt und beschreibt den Leib und die Funktionen seiner Teile daher minutiös. 54 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 286. 55 | Vgl. dazu Wagemann 1958, S. 71 f.

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mer weiter zergliedern und analysieren und dadurch Schritt für Schritt ihr »schweifende[s] Anschauungsvermögen […] zu einer, bestimmten Regeln unterworfenen Kunstkraft« erheben: 56 der ›Anschauungskunst‹. Abbildung 19: Anonymus: Pestalozzi im Anschauungsunterricht, in: Brosterman 1997, S 21 (BSB).

Dass der Vorstoß Pestalozzis national wie auch international mit großem Interesse verfolgt wurde, hat die Forschung vielfach betont.57 Die Erfolgsgeschichte begann in der Schweiz, wo der Präsident des bernischen Erziehungsrats, Johann Samuel Ith, eine sehr wohlwollende Bewertung über Burgdorf verfasst hatte: die dort zum Einsatz kommende ›Methode‹ sei grundlegend neu, entwicklungspsychologisch fundiert, der allgemeinen Sittlichkeit förderlich sowie ohne besondere Vorkenntnisse in allen gängigen Schulfächern anwendbar. Iths Amtlicher Bericht (1802) mündet in der Garantie, dass man sich »von der Bekanntmachung und Verbreitung derselben die wolthätigsten und weitausiehendsten Wirkungen« versprechen dürfe.58 Die helvetische Regierung verabschiedete daraufhin einen Druckkostenvorschuss für die Elementarbücher Pestalozzis, ein Druckprivileg für dessen Schriften, die Einrichtung eines nati56 | Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 (1932), S. 287. 57 | Vgl. Tröhler 2008, S. 65-72; ferner: Tröhler / O elkers / Z urbuchen 2002; Hager / Tröhler 1996; Hinz 1806; Stübig 1982. 58 | Ith 1802, S. 106.

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onalen Lehrerseminars unter seiner Leitung sowie eine Gehaltsgarantie für alle seine Mitarbeiter. Darüber hinaus edierte man das Gutachten, um es an alle höheren Bildungsfunktionäre in der Schweiz versenden zu können.59 Es dauerte nicht lange, bis die Euphorie rund um die neue Erziehungslehre Pestalozzis auch das deutschsprachige Ausland erfasste – vor allem Preußen, denn dort sah man sich durch die Niederlagen gegen Napoleon in Jena und Auerstedt (1806) und die damit verbundenen territorialen wie auch finanziellen Einbußen veranlasst, den Staat auf bürokratischem Wege zu reorganisieren. Das Erziehungswesen wurde dabei als entscheidender Faktor für die Entwicklung einer wettbewerbs- und widerstandsfähigen Gesellschaft erachtet, auch weil Reformen in diesem Bereich – anders als etwa im Militärwesen – von den französischen Besatzern nicht blockiert wurden. Dass unter vielen weiteren Ideen gerade Pestalozzis ›Methode‹ als erfolgversprechend erachtet wurde, lag nicht nur an der positiven Evaluierung Iths, die man natürlich auch in Preußen zur Kenntnis genommen hatte: Um 1800 mehrten sich in populären Zeitschriften wie dem Neuen Teutschen Merkur auch Reiseberichte, die begeistert über eine neue, innovative Erziehungsanstalt in Burgdorf referierten,60 und auch große Intellektuelle erteilten Pestalozzi in dieser Zeit ihren Segen: etwa Johann Gottlieb Fichte, der in den Reden an die deutsche Nation (1807 / 08) gar forderte, alle künftigen Unternehmungen im Bereich der Erziehung »in Berathung und Rücksprache mit der Pestalozzischen eigentlichen Erziehungskunst« durchzuführen.61 Dass sich die ›Methode‹ darüber hinaus sehr kostengünstig im Elementarschulwesen installieren ließ, war in Zeiten klammer Staatskassen ebenfalls ein gewichtiges Argument.62 Zur Umsetzung der bildungspolitischen Reformen rief der für die Zivilverwaltung verantwortliche Staatsminister, der Freiherr vom Stein, 1809 die Section des Cultus und des öffentlichen Unterrichts ins Leben, eine an das Innenministerium gekoppelte Zentralstelle für Bildungspolitik, der Wilhelm von Humboldt vorstand und der die Pestalozzi-Anhänger Georg Heinrich Ludwig Nicolovius und Johann Wilhelm Süvern beisaßen. Die Section entsandte sogleich Lehramtskandidaten in Pestalozzis neue Bildungsanstalt nach Yverdon. Zudem gründete bzw. förderte man Institute auf eigenem Terrain:63 so auch Johann Ernst Plamanns Berliner Schulanstalt mit angeschlossenem

59 | Vgl. Tröhler 2008, S. 65-72. 60 | Vgl. Tröhler 2008, S. 65-72. 61 | Fichte 2005, S. 227. 62 | Zu den vielen weiteren Überscheidungen zwischen den bildungs- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen Pestalozzis und der preußischen Reformer vgl. u. a. Stübig 1996. 63 | Vgl. dazu ausführlich: Hinz 1991, Kap. 5.

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Lehrerseminar,64 die der Reformpädagoge schon 1805 im Anschluss an einen Besuch in Burgdorf eröffnet hatte und die von Ostern 1821 an keinen geringeren als den sechsjährigen Otto von Bismarck zu ihrem Schülerkreis zählte (Abb. 20).65 Abbildung 20: Carl Röhling: Bismarcks Ankunft im Plamann Institut Berlin, in: Hofmann 1897, S. 3 (Privatsammlung).

Durch all diese Maßnahmen wurden im preußischen Bildungssystem innerhalb weniger Jahre zahlreiche institutionelle wie auch individuelle Multiplikatoren der Pestalozzi-Pädagogik installiert, und es war eben jenes Netzwerk, das die stabile Grundlage für einen im gesamten 19. Jahrhundert lebendigen Personenkult um den Schweizer Pädagogen legte.66 Dass im Unterricht an den Versuchsschulen die praktischen Grenzen der ›Methode‹ schnell ersichtlich wurden, dass Pestalozzis Lehrpläne wohl zur Ausbildung von Landarbeitern und Händlern, jedoch nicht zur Erziehung von modernen Geschäftsleuten und Staatsdienern taugten und dass schließlich auch das Musterinstitut in Yverdon nach jahrelangen internen Querelen 1825 endgültig seine Tore schloss67 – 64 | In Frankfurt hatte kurz zuvor der Salzmann- und Pestalozzi-Schüler Gottlieb Anton Gruner eine vergleichbare Einrichtung ins Leben gerufen. Auch in Königsberg und Braunsberg eröffnete man Normalinstitute zur Lehrerausbildung und schuf damit die Voraussetzungen für eine »sich über die Lehrerbildung artikulierende Bildungsreform«, Hinz 1996. 65 | Vgl. Wolter 1989; Bismarck 1928, S. 39, 49; Hofmann 1897, S. 3-5. 66 | Vgl. zu den Pestalozzi-Zirkeln und der anhaltenden Wirkmacht des Pädagogen in Deutschland Oelkers 1995, bes. 217 ff. 67 | Vgl. dazu Kuhlemann 1972.

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all das tat dem Ansehen Pestalozzis wie auch dem seiner großen Vision von der Unterweisung des Blicks daher keinen Abbruch.

Triangul äres S ehen : J ohann F riedrich H erbart Von den vielen jungen Erziehungswissenschaftlern, die bereits kurz nach 1800 begannen, im freien Umgang mit Pestalozzis Ideen eigene pädagogische Positionen zu entwickeln, war Johann Friedrich Herbart sicher der bedeutendste.68 Nach seinem Studium an der Universität Göttingen, das er im Mai 1802 begann und bereits nach einem Semester promoviert wie auch habilitiert beendete, lehrte er daselbst als Privatdozent und außerordentlicher Professor, bevor er als Nachfolger Immanuel Kants auf den Königsberger Lehrstuhl für Philosophie berufen wurde. Von dort übte er als Direktor der Wissenschaftlichen Deputation – einem Beratungsgremium der Section – Einfluss auf die Reformen im preußischen Schulwesen aus. Zudem betrieb Herbart ein privates Pädagogium, d. h. einen »familiären Erziehungskreis von etwa zehn Knaben im mittleren Gymnasialalter, den er in seinem eigenen Hause durch seine Frau betreuen und durch die Mitglieder seines pädagogischen Universitätsseminars unterrichten ließ.«69 Die Grundlage der steilen Kariere Herbarts bildete eine Replik auf die Anschauungspädagogik Pestalozzis, den er während seiner Beschäftigung als Hauslehrer in Bern (1797-99) persönlich kennengelernt hatte. Der Titel der Schrift  – Pestalozzi’s Idee eines ABC der Anschauung (1802 / 04)70  – deutet zunächst auf eine Rezension des zweiteiligen Elementarbuchs hin. Schon die ungewöhnliche Länge des Textes – die Erstausgabe umfasst 281 Seiten – legt jedoch nahe, dass Herbart an dieser Stelle vor allem seine eigene Position entfaltet: Ausgangspunkt ist auch für ihn die Feststellung, dass die Anschauung der Bildung fähig ist, d. h., »daß das Sehen eine Kunst ist, und daß der Lehrling in dieser, wie in jeder andern Kunst, eine gewisse Reihe von Uebungen zu durchlaufen hat«, um zur Meisterschaft aufzusteigen. Am Anfang seines Curriculums steht die Unterteilung aller sichtbaren Objektqualitäten in die Ele68 | Vgl. zu Herbarts Pädagogik und ihrer Entwicklung Benner 1993; Buck 1985; Blaß 1972; Seidenfaden 1967; Brückmann 1961. Direkt zur hier diskutierten Schrift vgl. Skladny 2012, S. 111-128; Rieger 2001; Hinz 1994. 69 | Asmus 1969, S. 573. 70 | Viele weitere direkt auf Pestalozzi bezogene Schriften und Rezensionen Herbarts entstanden in dieser Zeit. Sie zeugen von der intensiven Auseinandersetzung des jungen Pädagogen mit der Lehre des Schweizers. Da nicht alle in die Werkausgabe eingingen, werden im Literaturverzeichnis die ursprünglichen Publikationsorte angegeben, vgl. Herbart 1804a; Herbart 1804b; Herbart 1802a; Herbart 1802b.

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mentarkategorien Farbe und Form. Theoretisch könnten beide das Zentrum der Anschauungslehre einnehmen. Praktisch jedoch sei es nicht zu empfehlen, Anstrengungen hinsichtlich der Optimierung der Farbwahrnehmung zu unternehmen. Denn diese sei unausweichlich von zufälligen optischen Effekten geprägt, die je nach Lichteinfall und Lichtintensität den Eindruck stark variieren können. Im intuitiven »Kleben an der Farbe« erkennt Herbart daher einen besonders in »wilde[n], minder gebildete[n] Nationen« anzutreffenden »Grundfehler des ungebildeten Sehens«,71 den er zu vermeiden gedenkt, indem er das Auge in der Folge zur kühlen, mathematisch korrekten Erfassung der Form erzieht. Als grundsätzlich vorbildlich gelten ihm dabei die Wahrnehmungsstrategien bildender Künstlerinnen und Künstler: Stelle man diese vor die Herausforderung, den menschlichen Körper zu zeichnen, konzentrieren sie in der Vorstellung Herbarts ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Form und Kontur des ganzen Leibes,72 bevor sie die konstitutiven Elemente des Körpers – Gesicht, Glieder, Torso – auf ihre Grundformen und Umrisse hin untersuchen. Auf diese Weise werde weiter verfahren, bis schließlich die kleinsten, nicht weiter teilbaren Minimaleinheiten des Leibes erreicht und analysiert worden seien. »Erst ganz zuletzt war es an dem Bleystift, oder der Kreide, zu beweisen, die Einbildungskraft habe vest genug gefaßt, die Anschauung sey reif gewesen«, indem er die vielen Einzelteile wieder zu einem korrelierenden Ganzen zusammenführt. Aktuell seien schlechterdings nur geübte Zeichnerinnen und Zeichner in der Lage, die Welt auf so profunde Art und Weise zu betrachten. Herbart will in dieser Beziehung Abhilfe schaffen und auch künstlerische Laiinnen und Laien in die Lage versetzen, die Wirklichkeit rational zu durchdringen. Zu diesem Zweck stellt er eine allgemeine Anschauungslehre auf streng mathematischer Grundlage vor, deren Zentrum nicht wie bei Pestalozzi das Viereck, sondern das Dreieck einnimmt:73 Denn laut Herbart bilden sich Formen immer dann, wenn mindestens drei Punkte in Verbindung zueinander treten: »Verbindungen zu dreyen […] können daher als die Grundbestandteile aller zusammenge-

71 | Kurz zuvor wird präzisiert, welche Nationen Herbart für »wild« bzw. »gebildet« hält: »Die Chineser erfanden die schönsten Farben; die Griechen, die schönsten Formen«; alle Zit. Herbart 1887, S. 155 f. 72 | Herbarts Obsession für die Kontur lässt sich kontextualisieren mit der intensiven Ästhetisierung der Umrisslinie durch Theoretiker wie Lessing (Laokoon, 1766) und Lavater (Physiognomische Fragmente, 1775-87) sowie durch bildende Künstler des Neoklassizismus, vgl. dazu Busch 2001; Oesterle 1999. 73 | Vgl. zur anschließenden pädagogischen Debatte über das Pro und Kontra der Grundformen »Quadrat« und »Dreieck« Hinz 1994.

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setztern [sic] Formen angesehen werden.« Zur idealen Betrachtung eines Gemäldes müsse man also »zuerst aus dem Hauptumriß drey einfache, möglichst entfernte, an den Enden der Figur hervorragende Puncte, a, b, c, dann mit ab anstatt c einen vierten, d, alsdann acd, und darauf bcd, (um alle dreyfache Verbindungen der ersten 4 Puncte zu erschöpfen,) zusammennehmen; damit die gegenseitige Lage der jedesmal verbundenen 3 Puncte, aufs genaueste bemerkt werde.« 74

Ist die Lage des Hauptumrisses erfasst, soll auf dieselbe Weise weiter verfahren werden, bis schließlich alle Bildgegenstände mittels visueller Triangulation in Beziehung zueinander gesetzt sind. Damit dabei keine Verwirrung entsteht, stellt der Autor der Leserin, dem Leser eine kombinatorische Tafel als Kontrollmittel zu Seite (Abb. 21), die je nach Bedarf beliebig erweitert werden könne.75 Abbildungen 21 und 22: Johann F. Herbart: Kombinatorische Tafel (links) und Dreiecke, in: Herbart 1804c, S. 60 (links) und Taf. 1 (beide UBH).

Problematisch für Herbarts Vorschlag ist nun, dass das Auge von sich aus nicht in der Lage ist, derart viele verschiedene Dreiecke zu bilden, genau aufzufassen und zu unterscheiden. Zur entsprechenden Konditionierung des Sehsinnes stellt der Pädagoge daher eine Reihe von Übungen vor, die alle erdenklichen triangulären Formen geläufig machen sollen, denn »einen alten Bekannten soll sie [die Einbildungskraft, TT] wieder erblicken in jeder Lage dreyer Puncte, die 74 | Alle Herbart 1887, S. 182 f., Hervorhebungen im Original. 75 | Die Funktion der Tafel wird im Text ausführlich erläutert in Herbart 1887, S. 180 f.

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nur immer dem Auge vorkommen mag.« 76 Schon im Säuglingsalter könnten die Eltern mit der Triangulation des Auges beginnen. Zu diesem Zweck sei eine große Tafel neben die Wiege des Kindes zu stellen. An dieser befestige man eine Konsole, auf der täglich ein anderer, möglichst einfarbiger Gegenstand platziert werde – etwa eine Orange, eine Tasse oder eine Büste. In die Tafel stecke man dann drei glänzende Nägel zu einem Dreieck zusammen und arrangiere auch diese täglich neu, so dass sich schon das Kleinkind daran gewöhnen könne, in jedem Objekt immerzu die zu Grunde liegende trianguläre Form aufzusuchen, wodurch diese »die früheste Bekanntschaft des Kindes« werde.77 Später soll die Geometrisierung des Blicks dann vor allem im Zeichenunterricht intensiviert und systematisiert werden: zunächst durch die Darstellung von Dreiecken, wie sie Herbart auf einer seiner drei Schautafeln präsentiert (Abb. 22), und im Anschluss durch das Studium von Proportionen und Winkeln, die vom Kind ebenfalls visuell abgeschätzt und aus dem Gedächtnis wiedergegeben werden sollen. Erst auf dieser Grundlage sei es ratsam, zu Landschaftsdarstellungen en plein air überzugehen. Um den Transfer zu erleichtern, empfiehlt Herbart ein optisches Hilfsmittel: »In einem Stabe etwa sey eine Rinne, worin das Ende eines andren Stabes, der mit jenem einen rechten Winkel macht, auf und ab geschoben werden kann. Diese höchst einfache Maschine nehme man mit ins Freye, stelle den ersten, unten zugespitzten, Stab, vermittels eines Bleyloths senkrecht in die Erde, so daß der Lehrling, welcher davor, aber in einiger Entfernung, steht, gerade an der Gränze dieses Stabes ein paar Haupt-Puncte aus der Landschaft erblicke; dann schiebe man den anderen so, daß durch ihn ein dritter Punct berührt werde, und jetzt merke der Lehrling auf das entstehende Dreyeck.«

Auf diese Weise soll die Schülerin, der Schüler die ganze vor ihr, ihm liegende Szenerie visuell so lange triangulieren, bis sie, er sich bereit fühle, die »HauptPuncte oder Striche« in einem schnellen Entwurf korrekt aufs Papier zu bringen, womit für Herbart die Zeichenübung schon beendet war, denn »es kommt hier bloß darauf an, Schauen zu lernen, – die Möglichkeit und die Art und Weise, wie die Natur in einer Fläche dargestellt werden könne, völlig zu begreifen und sich durch eigene That zu beweisen.« Ist das »Augenmaaß für die freye Natur« eingestellt, kann der Lehrgang zur Darstellung von Gipsabgüssen des menschlichen Körpers voranschreiten. Hier allerdings sieht selbst Herbart ein, dass die Grundform des Dreiecks an ihre Grenzen stößt. Die Zeichnerin, der Zeichner wird daher zwar angehalten, zunächst alle Umrisse und Proportionen durch virtuelle Dreiecke zu bestimmen, in der Graphik dann jedoch »die harten Dreyecke gleichsam zudecken […] sie wie in ein absichtliches Vergessen 76 | Herbart 1887, S. 184. 77 | Herbart 1887, S. 187.

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zu begraben«, auf dass diese »das wohlumhüllte, aber noch immer fest haltende und tragende Knochengebäude aller Zeichnung werden.« 78 Auch Herbart degradiert demnach die traditionsreiche Kulturtechnik des Zeichnens zur folgsamen Adjutantin der pädagogischen Anschauungslehre, geht dabei jedoch einen entscheidenden Schritt weiter als sein Vorgänger Pestalozzi, indem er Anschauungspädagogik und Zeichenunterricht noch enger verschränkt und überdies eine Forderung stellt, die sich in der Folgezeit weitestgehend auch erfüllen sollte: nämlich den Zeichenunterricht grundsätzlich zu reformieren und ihn in Zukunft für die Zwecke der visuellen Erziehung zu vereinnahmen. Inspiration für sein anschauungspädagogisches Verfahren bezog er von verschiedenster Seite: Was die grundsätzliche Bedeutung geometrischer Formen für den Erkenntnisprozess anbelangt, konnte er sich – wie auch Pestalozzi – auf Rousseau berufen, der Émile mittels geometrischer Unterweisungen zum rationalen Denken anzuleiten gedachte.79 Im Detail ist Herbarts Methode dann stark geprägt von der seinerzeit populären Wissenschaft der kombinatorischen Analysis, die Carl Friedrich Hindenburg Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Schrift Der polynomische Lehrsatz (1796) entwickelt hatte. Der Pädagoge bezieht sich konkret auf den Hindenburg-Schüler Konrad Stahl und dessen Goethe gewidmeten Grundriss der Combinationslehre (1800), der ihm diverse mathematische Methoden zur systematischen Versetzung, Variation und Verbindung von Variablen zugänglich machte.80 Mindestens ebenso wichtig für alle anschauungspädagogischen Verfahren um 1800 dürfte jedoch der Bezug auf zeitgenössische Zeichenlehrbücher gewesen sein. Vor allem Herbart lässt im Verlauf seines Textes immer wieder gute Kenntnisse dieses Zweigs der pädagogischen Literatur durchblicken. So führt er etwa in Bezug auf die Mechanismen der anschaulichen Gestaltbildung exemplarisch an: »Die Pupille des Auges, die Augenbraunen [sic], Augenglieder, u.s.w. machen zusammen das Auge; Augen, Ohren, Nase, Mund etc. zusammen das Gesicht, das Gesicht mit den übrigen Gliedern, den Körper«,81 und rekurriert damit offensichtlich auf die vielen Tafeln mit addierbaren Körperfragmenten, die seinerzeit Zeichenmanuale einzuleiten pflegten.82 Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Durch Theorie erfundene Practic aus dem Hause der 78 | Alle Herbart 1887, S. 246 f., Hervorhebung im Original. 79 | Vgl. Rousseau 1993, S. 158. Skladny (vgl. 2012, S. 114-128) betont in Bezug auf Herbarts geometrische Anschauungslehre die Bedeutung der Epistemologie Kants. 80 | Vgl. zur Geschichte der Kombinatorik Hauser 1997. 81 | Herbart 1887, S. 178 f. 82 | Vgl. speziell zu dieser didaktischen Methode Burioni 2014; zum Curriculum (früh-) neuzeitlicher Zeichenbüchern zuletzt Nanobashvili 2018; Fowler 2017; Matile 2017.

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Nürnberger Künstlerfamilie Preißler:83 Auf der zweiten Tafel des ersten Teiles (Ausg. 1763, insg. vier Teile) wird dort nicht nur von der Pupille ausgehend die sukzessive Gestaltung des menschlichen Auges vermittelt (Abb. 23); es folgen zudem vergleichbare Tafeln zu Ohr, Mund / Nase, Kopf, Hand, Fuß, Arm, Bein und Torso – allesamt als Propädeutikum für das Zeichnen ganzer Körper konzipiert, das dann in den übrigen Teilen der Reihe Thema ist. Auffällig ist zudem, wie sehr sich die Illustrationen der Preißlers auf die Veranschaulichung von Grundformen und Umrisslinien konzentrieren und dadurch dazu anleiten, die Aufmerksamkeit beim Zeichnen vornehmlich auf eben jene Facetten des darzustellenden Gegenstandes zu richten (Abb. 24). Abbildungen 23 und 24: Johann D. Preißler: Augen (links) und Konstruieren, in: Preißler 1763, Erster Teil, Taf. 2 (links), und anderer Teil, Taf. 3 (beide UBH).

F röbels G aben Die Anschauungslehren Pestalozzis und Herbarts waren – wie noch zu zeigen sein wird – auch deshalb im deutschsprachigen Raum so erfolgreich, weil sie dank der Inkorporation mathematischer Operationen der Nimbus der Wissenschaftlichkeit umfing. Dennoch wurden ihre Ansätze im Kollegenkreis nicht unkritisch gesehen, konnte man ihnen doch leicht eine zu große Distanz zur 83 | Vgl. Preißler 1763; dazu einführend Müller-Bechtel 2014.

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intellektuellen Kapazität und dem natürlichen Entwicklungsgang des Kindes unterstellen. Ein Pädagoge, der im frühen 19. Jahrhundert in diese Kerbe schlug, war der Begründer und leitende Theoretiker des Kindergartens Friedrich Fröbel.84 Auch Fröbel war mit der Lehre Pestalozzis durch mehrere Aufenthalte in Burgdorf und Yverdon aus erster Hand vertraut und auch er pflegte nicht zuletzt deshalb ein ambivalentes Verhältnis zum Schweizer Reformer.85 Seine pädagogische Hauptschrift ist die 1826 erschienene Menschenerziehung – eine letztlich Fragment gebliebene Abhandlung,86 die von Wichard Lange, dem Herausgeber der Gesammelten pädagogische Schriften Fröbels, 1863 in eine 104 Stationen umfassende Paragraphenstraße eingeteilt und mit Kapitelüberschriften versehen wurde. Der Text zeichnet sich durch einen hohen Grad an Naturmystik und pietistischer Frömmigkeit aus und steht ideologisch dem Pantheismus Comenius’ nahe. Tatsächlich jedoch schrieb Fröbel unter dem Eindruck der romantischen Naturphilosophie – vor allem derjenigen Friedrich Wilhelm Joseph Schellings:87 Dieser hatte 1798 in seiner Schrift Von der Weltseele die Theorie aufgestellt, dass die organische und anorganische Natur von einem gemeinsamen Grundprinzip durchdrungen sei. Fröbel folgt Schelling in dieser Annahme, indem er gleich zu Beginn der Menschenerziehung postuliert, die äußere Erscheinung eines jeden Gegenstandes sei auf ein gemeinsames Bildungsgesetz göttlichen Ursprungs rückführbar. Die primäre Aufgabe der Erzieherin, des Erziehers wäre es also, die Schülerinnen und Schüler zur Erkenntnis Gottes in den Dingen anzuleiten und sie zugleich in die Lage zu versetzen, auch ihr eigenes göttliches Wesen zu entfalten. Dies könne jedoch nicht durch eine »thätige, vorschreibende und bestimmende, eingreifende Lehre« erreicht werden,88 sondern nur vermittels einer am mentalen und physischen Entwicklungsgang des Kindes orientierten Pädagogik. Wie so viele seiner Vorgänger setzt auch Fröbel bereits beim Neugeborenen an: Dessen erste Regungen – Schreien, Treten, Greifen – wertet er als Äußerungen der Kraft, die die frühkindliche Entwicklung des Gemeingefühls, d. h. der 84 | Vgl. zu Fröbels Pädagogik einleitend Heiland 2012; Stübig 2010; Hebenstreit 2003; Heiland 2003; Ullrich 1999, S. 238-258; Heiland 1998; Brosterman 1997; zum Kindergarten Konrad 2012, Kap. 4. 85 | Vgl. zu Biographischem Heiland 1982. 86 | Ein Nachfolgeband, der die Erziehung und schulische Ausbildung nach dem Kindesalter zum Gegenstand gehabt hätte, ist nie erschienen. 87 | Heiland (vgl. 1982, S. 73-80) weist zudem auf die Bedeutung von Ernst Moritz Arndts Fragmenten über Menschenbildung (1805-09) hin und stellt ferner heraus, dass der metaphysische Einstieg Fröbels viel von seiner eigenen Sphärentheorie enthält, die er ab ca. 1811 im Rahmen von Tagebucheinträgen und in Anlehnung an Fichte und Novalis entwickelte. 88 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 6.

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Erkenntnis der eigenen Begrenztheit und der Begrenztheit anderer, initiieren bzw. begleiten. Das ganze Wesen des werdenden Menschen sei in dieser Phase »nur aneignendes Auge«,89 das die Welt um sich herum noch als gestaltlos und verschwommen wahrnehme.90 In der Erziehungslehre Fröbels wird das Säuglingsalter daher als Stufe der Pflege gekennzeichnet, auf der die Eltern in erster Linie die Konzepte Familie und Mütterlichkeit erfahrbar machen sollen, um auf diese Weise die Saat religiöser Gesinnung zu säen. Durch Spiel und eigenständiges Gestalten soll zudem der Sinn für Fleiß und Betätigung geweckt werden, denn auch »frühe Arbeit […] befestigt und erhöht die Religion«.91 Im Anschluss an das Säuglingsstadium beginnt bei Fröbel das Kindesalter – just wenn der heranwachsende Mensch nicht länger nur äußerliche Eindrücke aufnimmt und verarbeitet, sondern darüber hinaus auch sprachlich und gestalterisch tätig wird. Auf dieser Lebensstufe setze die eigentliche Erziehung ein, in der das Kind hauptsächlich lernen soll, »alles recht und richtig an[zu] schauen, so auch recht und richtig, bestimmt und rein [zu] bezeichnen, sowohl die Sachen und Gegenstände selbst, als auch ihrem Wesen und Eigenschaften nach.«92 Es sei daher wichtig, ihm alles so klar und richtig wie möglich vor Augen zu führen. Zudem müsse der ursprüngliche Darstellungstrieb des Kindes konsequent gefördert werden, indem immer neue Objekte präsentiert und mit Begriffen belegt werden. Denn durch das Zeichnen lernt das Kind die »klare Auffassung der Form, [die] Möglichkeit der Darstellung derselben getrennt von dem Gegenstande, [das] Festhalten der Form an sich […], vermehrt die Kenntniß, erweckt die Urteilskraft und das vor so vieler Fehlerhaftigkeit behütende Nachdenken.«93 Beim Austritt vom Kindes- in das Jugendalter beginnt die schulische Bildung, d. h. die Stufe des Lernens und die Zeit des Unterrichts, die natürlich auch bei Fröbel anschaulich vonstattengeht. Seine Anschauungslehre ist ähnlich wie diejenige Comenius’ essentialistisch, d. h., sie läuft immerzu darauf hinaus, ausgehend von der empirischen Erscheinung der Dinge auf ihr göttliches Wesen zu schließen und auf diese Weise ihren Sinn und Zweck im Kosmos zu bestimmen, denn: 89 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 17. 90 | Um die Sinne in dieser Phase stetig anzuregen, empfiehlt Fröbel, einen Vogelkäfig über die Wiege zu hängen. Er rückt also von Herbarts Versuch der triangulären Prägung ab, da er darin wohl eine Überforderung erkannte. Aus diesem Grund kritisierte im Übrigen auch Beneke die Vorschläge Herbarts und lehnte es ab, die Wiege »mit dem Apoll von Belvedere und ähnlichen Kunstwerken zu umstellen« oder neben ihr »durch glänzende Nägel mathematische Formen darzustellen.« Vgl. Beneke 1842, Bd. 1, S. 123 f. 91 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 25. 92 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 32. 93 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 49 f.

III.  Sehen lehren »Der Mensch soll nicht allein jedes Ding als ein Ganzes, Ungetheiltes, sondern er soll es auch als ein sich für Darstellung eines Gesammtzweckes in sich Gegliedertes betrachten. Er soll es nicht nur als ein für sich bestehendes Ganzes, als eine Einheit und Einzelnheit [sic], sondern er soll jedes wieder als Glied einer beziehungsweise größeren und höheren Gesammtheit, für Darstellung eines höheren Gemeinzweckes erkennen und anschauen. Von jedem Dinge sollen nicht nur seine äußeren Verhältnisse und Verknüpfungen, sondern dessen innere Beziehungen, dessen innere Einigung mit dem von ihm äußerlich Getrennten erkannt und eingesehen werden.« 94

Um die Erkenntniskraft entsprechend zu fördern, soll auch in der Schule viel gezeichnet werden.95 Neben der Religion, der Naturkunde / Mathematik und der Sprache bildet der Zeichenunterricht für den Pädagogen eine von vier Hauptgruppen des Unterrichts. Konkret basiert auch seine Zeichenlehre darauf, dass die Schülerinnen und Schüler alle darzustellenden Objekte in Beziehung zu imaginären Referenzfiguren stellen – in diesem Fall jedoch zu einem Gitternetz aus (Pestalozzi-)Quadraten, ähnlich demjenigen, dass Albrecht Dürer in der Underweysung der Messung (1525) für die perspektivische Projektion empfiehlt. Um Kritik am artifiziellen Charakter seines velums aus »gleich große[n] Gevierträume[n]« vorzubeugen, stellt Fröbel es entschieden als ein »in der Natur des Menschen und des Unterrichtsgegenstandes selbst begründetes Entwicklungsmittel zur Formen- und Gestaltenauffassung« vor: Denn einerseits betrachte der Mensch Formen ohnehin unwillkürlich in Relation zu senkrechten und waagerechten Linien – dem Grundgerüst seines aufrechtstehenden Leibes. Und andererseits sei »das Bewußtwerden der rechtwinkligen Beziehungen« eben entscheidend für die formal korrekte Erfassung von Objekten und daher selbstverständlich Kernbestandteil des Anschauungs- bzw. Zeichenunterrichts.96 Für die praktischen Zeichenübungen will Fröbel daher allen Kindern eine kleine gerasterte Schiefertafel an die Hand geben, und er hält es für »das erste Geschäft dieses Unterrichts«, den Schülerinnen und Schülern mit Hilfe dieser Netztafel »die scharfe Darstellung, und so auch Auffassung der wesentlichen Grundverhältnisse der Form und der durch sie bedingten Größenverhältnisse« zu vermitteln.97 Wie seine anschließenden Schilderungen zum Ablauf des Lehrgangs darlegen, waren dreidimensionale Objekte dabei die sel94 | Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 61. 95 | Vgl. zu Fröbels Konzeption des Zeichenunterrichts Skladny 2012, S. 135-144; Kelly 2004, S. 27-34; Richter 2003, Kap. 6; Heiland 1998, S. 149-155. 96 | Alle Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 251. 97 | Fröbel 1862 / 6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 252. Fröbel steht damit am Beginn der stigmographischen Zeichenmethode, vgl. dazu Skladny 2012, S. 135-157; Wunderlich 1892, S. 83-88; Rein 1889, S. 179 f. Zur Geschichte dieser Methode vgl. ferner Richter 2003, S. 111; Ashwin 1980, S. 127-132; Hillardt-Stenzinger 1907.

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tene Ausnahme, denn auch für Fröbel war die Darstellung und Variation weniger pädagogischer Grundformen im Unterricht zentral. Wie schon bei Pestalozzi und Herbart, so unterliegt also auch in der Pädagogik Fröbels der Blick dem Funktionsideal der subjektfreien Sachlichkeit und Rationalität. Anders als seine beiden Vorgänger griff Fröbel zur entsprechenden Disziplinierung des Auges jedoch nicht nur auf Wahrnehmungs- und Zeichenübungen zurück: Er erkannte darüber hinaus die Möglichkeit, Heranwachsende über Lernspielzeug mit den Grundformen und Bildungsgesetzen der Natur bekannt zu machen.98 Seine Arbeit am System der »Spielgaben« und »Beschäftigungsmittel« fällt in die Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts – in eine Zeit also, in der er immer deutlicher Abstand von schultheoretischen Problemen nahm und sich auf den pädagogischen Bereich der familiären Erziehung im Kleinkind- und Vorschulalter konzentrierte. 1837 war die Konzeptionsphase so weit gediehen, dass eine Autodidaktische Anstalt (später: Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes der Kindheit und Jugend) ins Leben gerufen werden konnte. Durch diese Produktions- und Vertriebsplattform erhoffte sich Fröbel, sein Spielzeug nachhaltig am Markt verankern zu können, was jedoch nie gelang. Der unmittelbare Wirkungskreis der »Spielgaben« und »Beschäftigungsmittel« blieb beschränkt – anders als derjenige der zahlreichen, geschäftstüchtigeren Nachfolgerinnen und Nachfolger des Erziehers, die auf Grundlage seiner Erfindung im gesamten 19. Jahrhundert erfolgreich pädagogische Baukästen vertrieben.99 Fröbels Lernspielzeug ist bewusst vielfältig angelegt, da es dem Kind einerseits Abwechslung und Überraschungsmomente bieten soll und andererseits mit dessen körperlicher und geistiger Entwicklung Schritt halten muss. Zu gleich baut jede neue Gabe auf der vorherigen auf und kann dadurch im Spiel mit dieser kombiniert werden. Die erste Lieferung umfasst insgesamt sechs an Bindfäden montierte, aus Wolle gehäkelte Bälle in den Grundfarben gelb, blau und rot sowie in den Mischfarben orange, grün und lila. Das Kleinkind lernt durch sie das Greifen und Festhalten von Objekten und folgt mit seinem Blick den Bewegungen, die die Mutter, der Vater mit dem Ball vollführt (Abb. 25). Die zweite Gabe enthält etwas Bekanntes und etwas Fremdes: eine Kugel, einen Würfel und eine Mischform aus beiden, die Walze – allesamt aus dem schwere 98 | Die Einsicht, dass das Kind vor allem spielerisch dazu in der Lage ist, seine Vermögen und Anlagen selbsttätig und natürlich zu entwickeln, kam Fröbel schon in der Menschenerziehung, vgl. Fröbel 1862 /  6 3, Bd. 1.2 (1863), S. 30 f. Seine pädagogischen Gaben sollen diesen Prozess systematisieren und im Sinne seiner Anschauungslehre effektiver gestalten. Bis zu seinem Lebensende hat Fröbel immer wieder zum System der Spielgaben publiziert (vgl. Fröbel 1862 / 6 3, Bd. 2 [1862]), das also keineswegs vollständig vorliegt. 99 | Vgl. Mey 1999.

III.  Sehen lehren

Abbildung 25: Friedrich Fröbel: Erste Spielgabe, in: Fröbel 1838, Beilage (BBF / DIPF).

ren, physisch fordernden Material Holz. Die dritte Gabe schließt an den Kubus an, zerteilt diesen jedoch in acht gleich große Würfel, die in einem Holzkasten geliefert wurden. Es folgen weitere, immer komplexere und kleinteiligere Baukastensysteme aus Kuben, Quadern und dreiseitigen Prismen: die Gaben vier bis sechs. Später werden bunte Legetäfelchen, die geometrische Formen wie Quadrat, Rechteck, Trapez und Kreis bilden und sich an den Maßen der Holzbausteine orientieren, gereicht – ebenso wie Stäbchen, Bindfäden, Papier zum Falten und Ausschneiden sowie eingeweichte Futtererbsen, die mit Zahnstochern zu geometrischen Körpern verbunden werden können.100 Durch die ersten beiden Gaben soll das Kind pädagogische Grundformen wie auch den Umgang mit ihnen internalisieren. Ab der dritten Gabe ist es das Ziel, selbsttätig neue Formen und Körper zu erschaffen. Fröbel unterscheidet hier drei Kategorien: »Lebensformen« (Abb. 26), d. h. Nachbildungen von Dingen der näheren Umgebung, »Schönheitsformen« (Abb. 27), d. h. die Ordnung des Spielzeugs zu symmetrischen Mustern, und schließlich »Erkenntnisformen« (Abb. 28), d. h. Gebilde, die die Kinder zur Reflexion über Raum- und 100 | Eine systematische Übersicht der verschiedenen Spielgaben liefert Hebenstreit 2003, S. 299.

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Zahlenverhältnisse anregen. Die einzige Regel im Spiel lautet: Immer alle verfügbaren Elemente verbauen! Ansonsten sind die Kinder in ihren Handlungen frei. Fröbels Lernmaterial regt damit dazu an, auf Basis eines streng geometrischen Formenkanons und im vermeintlichen Einklang mit den göttlichen Bildungsgesetzen der Natur immer neue Gebilde zu kreieren. Zugleich jedoch vermittelt es den für die Anschauungspädagogik des frühen 19. Jahrhunderts typischen visuellen Stil: die Betrachtung der Welt und ihrer Dinge in Relation zu abstrakten Elementarformen und mathematischen Verhältnissen. Abbildungen 26 bis 28: Friedrich Fröbel: Lebensformen, Schönheitsformen und Erkenntnisformen (v. l. n. r.), alle in: Fröbel 1838, Beilage (alle BBF / DIPF).

IV. Sehen lernen Anschauungslehre und Zeichenunterricht

A ugenhygiene »Es wäre ein wichtiger Gegenstand der pädagogischen Methodik die Auffassungs­ thätigkeit des Auges in feste naturnothwedige Regeln zu bringen wodurch einzig und allein folgerechte Uibungen begonnen und bis zur Virtuosität dem höchsten Ziele aller Erziehung, gesteigert werden können.«1

Diesem Desiderat in einer erziehungswissenschaftlichen Abhandlung um 1800 zu begegnen, wäre nach allem, was bislang über die Geschichte der Anschauungspädagogik in Erfahrung gebracht werden konnte, keine große Überraschung, spiegelt die Stelle doch exakt jene Überzeugungen wider, die Pestalozzi und seine Nachfolger in dieser Zeit so vehement vertraten. Der Kontext des Zitats ist jedoch ein anderer, denn es ist Teil einer naturwissenschaftlichen und speziell für die Sinnesphysiologie bahnbrechenden Studie: Jan Evangelista Purkinjes Dissertation zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht von 1819 (2. Aufl. 1823). Inspiriert von Goethes Farbenlehre (1810) beschreibt der tschechische Anatom und Physiologe dort in einer auch Jahrzehnte später unübertroffenen Präzision die Entstehung von Nachbildern auf seiner mechanisch gereizten Netzhaut (Abb. 29).2 Voraussetzung für seine Versuche war eine radikale, autodidaktisch erzielte Disziplinierung des (Selbst-)Beobachtungsvermögens, »soweit, daß er seine eigene Retina und die Blutgefäße in seinem Auge beobachten und die Bewegungen des Augapfels beherrschen konnte.«3 Aus eigener Erfahrung wusste Purkinje also um die fundamentale Bedeutung eines normierten Blicks für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, und es war dieser persönliche Hintergrund, der seinen Aufruf, die Schulung des Auges in der Pädagogik 1 | Purkinje 1823, S. 165 f. 2 | Zur kunst- und naturwissenschaftlichen Erforschung der Nachbilder Busch / M eister 2011. 3 | Daston / G alison 2007, S. 294.

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zu priorisieren, zuallererst motivierte:4 Welch ein Niveau könnten zukünftige Generationen bei der Beobachtung von Naturphänomenen erreichen, mag der Physiologe phantasiert haben, wenn man ihre Ausbildung von Beginn an um die systematische Verfeinerung des Sehsinns kreisen lassen würde? Abbildung 29: Jan E. Purkinje: Nachbilder, in: Purkinje 1823, Taf. 1 (BSB).

Purkinje, Pestalozzi, Herbart und Fröbel teilten jedoch noch mehr als nur die Vision einer Gesellschaft voll von erzogenen Augen, denn auch für die pädagogischen Experimente der Erziehungswissenschaftler um 1800 war – wie gezeigt werden konnte – das Problem der Reizkontrolle von zentraler Bedeutung. Sie alle agierten damit zugleich auf einem ungemein vielfältigen und machtvollen epistemischen Feld des langen 19. Jahrhunderts, dass Philipp Sarasin in seiner Habilitationsschrift als Hygiene-Diskurs beschreibt: »Wer den Reiz kontrolliert, kontrolliert den Körper – und den Geist«,5 heißt es dort in Bezug auf den Glaubensgrundsatz aller Hygienikerinnen und Hygieniker dieses Zeitraums – eine Devise, der die genannten Erziehungswissenschaftler mit ihren 4 | Hinzu kommt, dass Purkinje sein Studium in Prag als Hauslehrer der böhmischen Familie Hildprandt von und zu Ottenhausen finanzierte und also zum Zeitpunkt der Publikation seiner Dissertation sicher mit den Ansätzen Pestalozzis und Herbarts vertraut war, vgl. Heidenhain 1888, S. 717. 5 | Sarasin 2001, S. 20. Der anschauungspädagogische Diskurs kommt dort jedoch nicht zur Sprache.

IV.  Sehen lernen

Methoden zur Disziplinierung des Auges exakt entsprachen und damit einen bedeutenden Beitrag zum virulenten auf den Körper bezogenen Regulationsdenken ihrer Gegenwart leisteten. Wie sehr sich Anschauungspädagogen um 1800 immer auch als Augenhygieniker verstanden, macht überdies der Umstand deutlich, dass auch ihre Strategien zur Rekrutierung neuer Anhängerinnen und Anhänger an diejenigen der Naturwissenschaften angelehnt waren: In beiden Fällen wird im Wesentlichen das Argument der existenzoptimierenden, gesundheitsförderlichen Wirkung in Anschlag gebracht. So versprach sich etwa Friedrich Herbart in seiner Schrift Ueber die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung (1804) – einem Addendum zur zweiten Auflage seiner Pestalozzi-Replik – von der massenwirksamen Anwendung seiner Methode nichts Geringeres als den Erhalt der Menschlichkeit, Moralität und Sittlichkeit in der Gesellschaft:6 Wenn es gelänge, den zügellosen Blick der Heranwachsenden zu bändigen und auf eine rational beherrschte Weltsicht zu verpflichten, so Herbart, dann werde nicht nur den Ausschweifungen der jugendlichen Phantasie ein effektiver Riegel vorgeschoben, man würde zugleich auch die Erfahrung von Vollkommenheit im Alltag installieren und dadurch das Streben nach Perfektion sozial verankern. Herbarts Argumentation  – so abenteuerlich sie heute auch anmutet  – war geschickt, denn der Pädagoge begegnete mit ihr den zwei zentralen gesellschaftlichen Anliegen seiner Zeit: Der Anschauungslehre wird einerseits ein positiver Einfluss auf das zwischenmenschliche Gefüge der noch jungen (früh-)industriellen Klassengesellschaft attestiert sowie andererseits eine förderliche Wirkung auf die heimische Ökonomie. Er lieferte damit noch Jahrzehnte später die Blaupause für alle folgenden Begründungsversuche, so auch für denjenigen des Stadthygienikers (und Namenspatrons deutscher Kleingartenparzellen) Moritz Schreber, vorgetragen in dessen Text über Die planmässige Schärfung der Sinnesorgane als eine Grundlage und leicht zu erfüllende Aufgabe der Erziehung (1859): »Die ganze Gestaltung des menschlichen Lebens, d. h. des Denk-, Gefühl- und Thatlebens, hängt in erster Instanz ab von dem Zustande der Sinnesorgane«, erfährt man dort gleich im ersten Satz. Viele Menschen seien jedoch trotz gesunder Augen und Ohren nicht dazu fähig, »mit ihrer Auffassung und ihrem Urtheile die empfangenen Eindrücke […] bis in alle Einzelnheiten [sic] zu durchdringen, zu zerlegen und bis zu einem gründlichen Verständnisse des Ganzen zu verarbeiten« – bedauerlicherweise, seien doch dem »sinnengeschärften Menschen« unermessliche Vorzüge eigen: Im Berufsleben verrichte er alle Arbeiten effektiver, gründlicher und zuverlässiger »als der [S] innenschlaffe«; seine intellektuelle Entwicklung kenne keine Grenzen, denn »ein sinnengeschärfter Mensch hört nie auf, sich zu vervollkommnen«; und schließlich zeichne ihn auch eine sittlich-moralische Überlegenheit aus, da er 6 | Vgl. zu dieser Schrift Prange 2010.

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»gelernt hat, die Verhältnisse um sich herum in allen ihren Einzelnheiten [sic] zu durchschauen und in ihrem Zusammenhange zu erfassen«, wodurch ihm das »Hineindenken und Hineinfühlen« in die Lage anderer leicht falle. »Höher entwickelte Sinnesorgane«, resümiert Schreber, »bedingen also in erster Instanz ein höheres, edleres Leben.« 7 Dieser in ähnlicher Form unzählige Male referierte Reigen an Versprechungen und Vorschusslorbeeren war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Anschauungslehre im Laufe des 19. Jahrhunderts das Image eines avantgardistischen Bildungsexperiments ablegen und den Status eines Stabilitätsfaktors für die bürgerlich-industrielle Gesellschaft annehmen konnte. Die Pioniere der Anschauungspädagogik hatten dieser Entwicklung den Weg geebnet: Sie legten das theoretische Fundament für die Rationalisierung des Blicks, sie propagierten den sozialen wie ökonomischen Nutzen des geschulten Auges und – dieser Punkt wird im Folgenden weiter ausgeführt – sie verhalfen der Anschauungslehre durch die frühe Liaison mit dem Zeichenunterricht zu ihrem wirkungsvollsten Organon. Denn die zahlreichen Schüler und Adlaten Pestalozzis, Herbarts und Fröbels sorgten durch die Besetzung bildungspolitischer Schaltstellen und die Publikation immer neuer Lehrbücher im 19. Jahrhundert dafür, dass sich das analytische Zeichnen in der anschauungspädagogischen Interpretation gegenüber dem originär frühneuzeitlichen Konzept der referentiellen, naturgemäßen Darstellung durchsetzen und nachhaltig im Curriculum deutscher Schulen verankern konnte.8 Die Forschung zur Geschichte des Zeichenunterrichts in Deutschland hat diesen gravierenden konzeptionellen Bruch bereits oft konstatiert,9 verfiel dann allerdings regelmäßig in Grundsatzdebatten hinsichtlich des Pros und Kontras der Linear- und Geometriezeichenlehren gegenüber den liberalen reformpädagogischen Ansätzen um 1900.10 Im Folgen7 | Alle Schreber 1859, S. 3-6. Hervorhebungen im Original. 8 | Vgl. zum Einfluss Pestalozzis und seiner Schüler auf den Zeichenunterricht in England und Amerika Efland 1990, S. 73-92; Brett 1986; zu Pestalozzi in Frankreich D’Enfert 2003, S. 135-142, und in Japan Akagi /  Yamaguchi 2015. Es bleibt anschließenden Studien vorbehalten festzustellen, ob sich in diesen Ländern eine mit dem deutschen Sprachraum vergleichbare Prägung des Auges vollziehen konnte. Mit der Konferenz »Drawing Education: Worldwide!« und dem gleichnamigen Tagungsband wurde versucht, dafür eine Grundlage zu schaffen, vgl. Nanobashvili / Teutenberg 2019. 9 | Vgl. Lutz-Sterzenbach 2015, S. 211-215; Teutenberg 2014a; Legler 2011; Skladny 2012; Richter 2003; Geller 2001; Efland 1990; Ashwin 1980, S. 1 f.; Kemp 1979; Wunderlich 1892; Prix 1889; Rein 1889. Barbara Wittmanns Buch über die Kultur- und Wissensgeschichte der Kinderzeichnung (vgl. Wittmann 2018) erschien bedauerlicherweise zu spät, als dass es noch hätte einbezogen werden können. 10 | Das kritische Lager um Wolfgang Kemp und Hans-Günther Richter beklagt die methodischen Unzulänglichkeiten der Schulbücher, die Pedanterie der Zeichenpädagogen

IV.  Sehen lernen

den wird dieser Aspekt zu Gunsten der Frage nach der Bedeutung des schulischen Zeichenunterrichts für die Konstitution der visuellen Kultur im langen 19. Jahrhundert in den Hintergrund rücken.

S chöne S kele t te bei S chmid und R amsauer Am Beginn dieser Geschichte stehen Zeichenlehren, die in direkter Abhängigkeit zu den Theorien der Gründerväter der modernen Anschauungspädagogik entstanden, so auch die Elemente des Zeichnens nach pestalozzischen Grundsätzen (1809) Johann Joseph Schmids.11 Schmid war über mehr als zwei Jahrzehnte einer der engsten Mitarbeiter Pestalozzis, wirkte an den Instituten in Burgdorf, Münchenbuchsee und Yverdon und betreute zudem die erste Werkausgabe seines Mentors (Sämmtliche Schriften, 15 Bde., 1819-26).12 Gleich in den ersten Sätzen macht der Autor deutlich, unter welchen Vorzeichen nun unterrichtet werden soll: »Nicht als Mittel zum Zeichnen-Lernen, sondern vielmehr als Mittel, die Kunstkraft unserer Natur psychologisch und allgemein zu entfalten«, habe er seinen etwa 100 Seiten langen Übungsparcours entworfen – nach Maßgabe der Entwicklung »aller körperlichen Anlagen, Sinne und Thätigkeiten, die der Möglichkeit, irgend eine Art von Kunstwerk hervorzubringen, zum Grunde liegen«,13 und in Einklang mit der aktuellen These Schellings – dessen Rede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur (1807) seitenweise zitiert wird – von der zentralen Bedeutung der ästhetischen Erziehung im Prozess der Herausbildung einer zivilisierten Gesellschaft. »Der Mensch soll

und die Mechanisierung des Unterrichts im 19. Jahrhundert: vgl. Kemp 1979, Kap. 10; Richter 2003, S. 104, 167. Dagegen betonen Wolfgang Legler und Helene Skladny die Vorreiterrolle der Pestalozzianer und Herbartianer für die spätere Kunsterziehungsbewegung: vgl. Legler 2011, S. 115; Skladny 2012, S. 47, 58 f., 77. 11 | Vgl. dazu Legler 2011, S. 109-115; Skladny 2012, S. 45-62; Klinger 2009, S. 8191; Richter 2003, S. 100-104; Ashwin 1980, S. 32-39; Kemp 1979, S. 292-295; Wunderlich 1892, S. 34-37; Rein 1889, S. 169 f. Die wenigen früheren Publikationen verzeichnet Wunderlich (vgl. 1892, S. 37 f.). Johann F. Ladomus’ Zeichnungslehre nach pestalozzischen Grundsätzen (1805) scheint unter diesen die Erste gewesen zu sein. Der Inventarliste der Bibliothek von Yverdon, die Fröbel bei seinem ersten Aufenthalt anfertigte, ist zu entnehmen, dass dieses Zeichenbuch dort spätestens ab 1807 als Einziges seiner Art im Gebrauch war, vgl. Stiebitz 1913. 12 | Zur Person Burmeister /  R eitterer 1992; Ashwin 1980, S. 31 f.; Kuhlemann 1972, S. 168-184; Kleinert et al. 1952, S. 418 ff.; Halter 1943. 13 | Schmid 1809, S. III, V.

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durch die Kunst ein höherer edlerer Mensch werden«,14 heißt es dementsprechend in der Vorrede der Elemente, gefolgt von der Vision einer Zeit, »wo wir den Hirten hinter dem Vieh sehen werden, Linien ziehen, Bilder schnitzen, die Natur anschauen und sich zu eben der Höhe erheben, zu der sich zur Zeit der Reformation so viele arme Knaben erhoben, da sie hinter dem Pflug in den Stuben gemeiner Handwerker, bey ihrer Arbeit und bey der stillen Lampe der Nacht den Homer, die griechische und die hebräische Bibel studierten, und durch ihre Selbstbildung dahin kamen, die Gestalt der im Taumel verhärteter Irrthümer zur Gewaltthätigkeit gegen Wahrheit und Liebe versunkenen Erde zu verändern.«15

Schmids Programm beginnt mit basalen gymnastischen Lockerungsübungen der Hand, die darauf abzielen, das Kind auf das Führen des Zeicheninstruments vorzubereiten. Anschließend sollen die Schülerinnen und Schüler jeweils sitzend, kniend und stehend mit ihren Fingern, Händen und Armen Bewegungen ausführen, die graphische und geometrische Grundformen beschreiben. Bald darauf folgt der erste Kontakt mit der Kreide, die zunächst zum Ziehen unterschiedlich langer Linien von oben nach unten sowie von links nach rechts verwendet werden soll, um der Hand »Festigkeit« und Kontrolle zu verleihen. Den Abschluss dieser Vorstufe des Zeichnens bilden Kurven, die den Händen der Kinder die notwendige »Leichtigkeit, Freyheit und Gewandtheit« vermitteln sollen. Der propädeutische Einstieg der Elemente harmoniert dadurch mit den Methoden vieler frühneuzeitlicher Klassiker der Gattung »Zeichenlehrbuch«. Verwiesen sei nur auf Gerard de Lairesses’ europaweit erfolgreiche Grondlegginge Ter Teekenkonst von 1701, wo motorische Übungen durch das Zeichnen graphischer Grundformen gleichfalls zum Einstieg anempfohlen werden (Abb. 30).16 Was bei Lairesse jedoch nur zur Vorbereitung des eigentlichen Ausbildungsideals der realistischen Naturdarstellung diente, das wird bei Schmid – wie der weitere Verlauf seiner Schrift offenbart – Selbstzweck: Auf die Vorübungen der Hand folgt die »Bildung des Auges fürs Zeichnen«,17 maßgeblich entlang des von Pestalozzi vorgeschlagenen Verfahrens des visuellen Abschätzens von Strecken und Verhältnissen. Dazu sollen zunächst Linien aus dem Gedächtnis wiederholt gleich lang gezogen sowie anschließend exakt in halbe, drittel, viertel etc. Abschnitte unterteilt werden.

14 | Schmid 1809, S. XIII. 15 | Schmid 1809, S. XX. 16 | Dazu zuletzt Rath 2014; ferner Dethlefs 2009; Beckers 1998; Vries 1998; Roy 1992. 17 | Alle Schmid 1809, S. 5 f.

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Abbildungen 30 und 31: Gérard de Lairesse: Motorische Exerzitien, in: Lairesse 1727, Fig. 1 (UBH, links), und Johann J. Schmid: »Schöne Zusammenstellungen«, in: Wunderlich 1892, S. 36 (BSB).

Gemäß der Vorstellung Schmids ist die Schülerin bzw. der Schüler nach Abschluss dieses Propädeutikums um zwei Kompetenzen reicher: Zum einen ist sie oder er nun handwerklich dazu in der Lage, gerade und gekrümmte Linienverläufe mit Kreide auf eine Tafel zu zeichnen und die Verhältnisse zwischen einzelnen Geraden ohne Hilfsmittel genau zu bestimmen. Zum anderen – und das ist entscheidend – habe sich auch eine mentale Entwicklung vollzogen: die Erweckung des angeborenen Schönheitssinns im Kinde vermittels der Veranschaulichung der Linie als dem essentiellen »Skelet alles Schönen«18 und auch der – in den Augen Schmids allerdings weniger wichtigen – Kurve, die dieses Grundgerüst umspiele und eine weiche, fleischige, aber tendenziell eben auch regellose Facette einbringe. Der Lehrgang des Pädagogen schreitet in der Folge mit konsekutiven Übungen im Bilden und Erfinden »schöner Zusammenstellungen« aus Punkten, Linien, Winkeln, Dreiecken, Parallelogrammen, Vierecken und Polygonen voran (Abb. 31). Ausdrücklich sollen dabei keine Vorlagenblätter gereicht werden, um simples Kopieren von vornherein auszuschließen. Die einzige Orientierung für die Schülerinnen und Schüler bietet die mündliche Aufgabenstellung durch die Lehrerin, den Lehrer. Entscheidend sei dabei, dass das Kind sich nicht auf eine spezielle Schönheitsform versteife, sondern im Gegenteil viel ausprobiere. Auf diese Zeichenübungen folgen erneut Exerzitien im Sinne der Anschauungslehre Pestalozzis, bei denen die internalisierten graphischen und geometrischen Grundformen in Relation zu Objekten der Wirklichkeit gebracht 18 | Schmid 1809, S. 8 f.

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werden. Die Lehrerin oder der Lehrer soll den Kindern dazu Bilder präsentieren, verbunden mit der Frage, »was für eine Hauptform die Zeichnung habe, z. E. ob sie ein Dreyeck, ein Viereck bilde, ob sie so breit als hoch oder 2mal so hoch, als breit sey; ferner aus wie vielen Haupt-Drey-Vier-Fünfecken die Form gebildet sey? – was sie in der Lage und Verbindung nach für eine Form bilde?«19 Erst jetzt sind die Kinder laut Schmid bereit, nach der ›Natur‹ zu arbeiten, worunter er jedoch in erster Line das aperspektivische Zeichnen von Flächen der häuslichen Umgebung  – Stubenböden, Wände, Fenster, etc.  – verstand, also Gegenstände, die mit dem einstudierten Formenkanon fast deckungsgleich waren. Entscheidend war in diesem Zusammenhang vor allem die maßstabgetreue Verkleinerung, durch die die Kinder ihr Augenmaß für Proportionen unter Beweis stellen konnten. Der Detailgrad der Grafik spielte hingegen kaum eine Rolle, denn Schmids erklärtes Ziel war das »mathematische Abzeichnen der Gegenstände«,20 die rationale Durchdringung des Gesehenen auf Grundlage der Anschauungslehre Pestalozzis. Diese Prämisse prägt auch den anschließenden Part zum perspektivischen Zeichnen, da auch hier ausschließlich die zuvor thematisierten linearen Gebilde und geometrischen Elementarformen in den Raum projiziert werden. Damit enden die Elemente inoffiziell, denn der abschließende Leitfaden zum Zeichnen des menschlichen Körpers – seit der Renaissance das ultimative Ziel der Künstlerausbildung – wird dem Gros der Schülerinnen und Schüler Schmids schlicht vorenthalten. Den Körper zu meistern, so die Begründung des Pädagogen, das sei nur wenigen naturbegabten Genies gegeben, und nur wahre Talente, die sich Hoffnungen auf eine künstlerische Karriere machen konnten, solle man in dieser hohen Kunst unterweisen. Methodisch bleibt sich Schmid auch dabei treu: Zuerst soll die Schülerin oder der Schüler anhand von Büsten den »Kopf des Menschen in seiner Hauptform, in seinem Umriß ins Aug fassen und darstellen«,21 das Gleiche solle dann mit den Gliedmaßen und den übrigen Partien erfolgen, anschießend verbinde man die schematisierten Körperteile auf dem Papier zu einem proportional korrekten Ganzen und zeige dieses in verschiedenen Ansichten. Damit sei das Grundgerüst für die Darstellung eines ideal-schönen Leibes gegeben, dessen weitere Ausarbeitung nun Sache der Intuition sei. Schmids Zeichenpädagogik dürfte den Idealvorstellungen Pestalozzi sehr nahegekommen sein,22 da sich vergleichbare Methoden auch bei anderen Schülern des Schweizers finden, etwa in Johannes Ramsauers zweiteiliger Zeichnungsleh19 | Schmid 1809, S. 25. 20 | Schmid 1809, S. 38, Hervorhebung im Original. 21 | Schmid 1809, S. 74. 22 | Weitere Indizien dafür finden sich bei Legler 2011, S. 109, vgl. auch Ashwin 1981; Ashwin 1980.

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re von 1821. Für Ramsauer war Pestalozzi buchstäblich eine Vaterfigur:23 Schon im Kindesalter war er als einer der ersten Internatsschüler überhaupt nach Burgdorf gekommen, stieg dort bereits im Alter von zwölf Jahren zum Hilfslehrer auf und war später Teil der Delegation, die der Schweizer in seine neue Anstalt nach Yverdon überführte. Dort überwarf er sich allerdings mit Schmid, der nach fünfjähriger Abstinenz 1815 zurückgekehrt war, um das Institut im Auftrag Pestalozzis finanziell zu reformieren. Zudem beanstandete Ramsauer immer wieder die tendenziell weltfremde Art der Lehre seines Mentors und plädierte offen für praktische, am Berufsleben orientierte Inhalte.24 Es kam zum Bruch und Ramsauer verließ Yverdon, um 1816 in Würzburg eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen und schon ein Jahr später eine von der Württemberger Königin und Großfürstin von Russland, Katharina Pawlowna Romanowa, offerierte Doppelstellung anzunehmen: als Leiter einer Elementarschule für den Nachwuchs der bürgerlichen Elite und Privatlehrer der Prinzen Alexander und Peter von Oldenburg, der Söhne Katharinas aus erster Ehe. Man kann Ramsauer – obgleich heute weitgehend vergessen – also zweifelsfrei als einen der renommiertesten Pädagogen seiner Generation ansprechen. Der erste Teil seiner auf drei Unterrichtsjahre angelegten Zeichnungslehre folgt Schmids Elementen mehr oder weniger auf dem Fuß:25 einerseits hinsichtlich des Grundanliegens, denn auch bei Ramsauer steht der Aspekt der allgemeinen Menschenbildung durch die formalistische Erziehung von »Auge und Hand zum richtigen Auffassen und schönen Darstellen« im Vordergrund;26 und andererseits hinsichtlich des Ablaufs, da auch seine Zeichenschülerinnen und -schüler zu Beginn eine Reihe »gymnastische oder mechanische Vorübungen« erwartet, gefolgt von Exerzitien zur »Bildung des Augenmaßes« sowie zum »Bilden der einfachen geradlinigen« bzw. »einfacher krumm- und gemischtliniger Formen«, bevor sie damit beginnen konnten, die erlernten Muster in der Natur wieder aufzufinden bzw. Fische, Vögel und Pferde nach diesen Schemata zu entwerfen (Abb. 32). Den Schlussteil bildet ein Kapitel zur »Bildung des Schönheitssinns«, die auch in der Zeichnungslehre auf der Veranschaulichung von Grundformen der Natur beruht.27 23 | Vgl. zur Person: Ramsauer 1983; Ashwin 1980, S. 39 ff.; Kleinert et al. 1952, S. 372 f.; Mutzenbecher 1888. 24 | Dies lag auch an Ramsauers persönlichem Bildungshintergrund, denn der Pädagoge konnte anders als der Theoretiker Schmid Lehren als Buchbinder, Drechsler und Mechaniker vorweisen, vgl. Kleinert et al. 1952, 372 f. 25 | Vgl. zur Zeichnungslehre Westphal 2014; Legler 2011, S. 115 f.; Skladny 2012, S. 75-84; Richter 2003, S. 104 f.; Ashwin 1980, S. 41-50; Kemp 1979, S. 295-299; Wunderlich 1892, S. 38 ff.; Rein 1889, S. 170 f. 26 | Ramsauer 1821, Bd. 1, S. VI. 27 | Alle Ramsauer 1821, Bd. 1, S. XV-XVIII.

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Abbildungen 32 und 33: Johannes Ramsauer: Tiere (links) und perspektivische Übungen, in: Ramsauer 1821, Bd. 1, Taf. 16 (links), und Bd. 2, Taf. 20 (beide Privatbesitz).

Trotz der vielen Übereinstimmungen unterscheiden sich die beiden Ansätze in einem zentralen Punkt: Ramsauer war im Vergleich zu seinem ungeliebten Kollegen Pragmatiker, der großen Wert auf die berufsvorbereitende Komponente des Zeichenunterrichts legte. Wolfgang Kemp konnte er daher als »der erste und einzige Pädagoge der Pestalozzischule gelten, der den Versuch unternommen hat, den geometrischen Figuren und Kombinationen einen anderen als bloß formalbildenden Sinn (›Kräfteweckung‹) zu geben«.28 Insbesondere im zweiten Band der Zeichnungslehre kommt dieser Aspekt deutlich zum Tragen. Schon in der Vorrede stellt der Autor fest, es nütze dem Menschen allgemein sehr, »wenn er eine geschickte Hand, ein geübtes Auge und einen offenen Sinn für alles Schöne hat, wenn er einem anderen manches durch Darstellung erklären, wenn er dieß und jenes im Hause und im Garten selber verschönern kann, wenn er als […] Tischler, Töpfer, Zimmermann, Drechsler, Gärtner schöne Formen richtig auffassen, nachzeichnen und am Ende aus eigener Kraft erzeugen kann!« 29

Dieser Prämisse entsprechend setzt der zweite Band mit Übungen zum korrekten Auffassen perspektivisch gegebener Linien, Winkel und Grundformen ein. Ein probates Hilfsmittel dafür seien einfache Draht- und Fadenmodelle, deren Ansichten man von Tag zu Tag variieren könne (Abb. 33).30 Vorlagen zu kopieren ist dagegen auch bei Ramsauer keine Option, da das Anschauungsver28 | Kemp 1979, S. 296. 29 | Ramsauer 1821, Bd. 1, S. III, Hervorhebung im Original. 30 | Solche Modelle sollten in den Dreißigerjahren auch die Gebrüder Dupuis zur Ausbildung von gewerblichen Zeichnerinnen und Zeichnern empfehlen, vgl. Wiesheu 2015; zur Tradition des Zeichnens nach mathematischen Modellen im 19. Jahrhundert ferner Teutenberg 2015d.

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mögen vom Abzeichnen solcher Blätter nicht profitiere.31 Anschließend folgen Aufgaben im perspektivischen Zeichnen aller schon aus dem ersten Teil der Zeichnungslehre bekannten Grundformen und Körper. Darüber hinaus enthält die Publikation Übungen zur Licht-Schatten-Verteilung und zur optisch korrekten Wiedergabe von Spiegelungen auf der Wasseroberfläche sowie von Reflexionen auf beleuchteten Gegenständen, die auf die Bedürfnisse angehender technischer Zeichnerinnen und Zeichner zugeschnitten waren.

F riedrich O t to und die I nstitutionalisierung der A nschauungslehre Es war das Verdienst Ramsauers, die Anschauungspädagogik Pestalozzis im Rahmen eines Zeichenlehrgangs für Schülerinnen und Schüler an »Elementar-, Volks-, Real- und Normalschulen« mit Inhalten zu kombinieren,32 die sich an den praktischen Anforderungen gleich einer ganzen Reihe von Berufsfeldern orientierten. Die Zeichnungslehre erweist sich dadurch als Kind ihrer Zeit, denn die dort vollzogene pragmatische Wende steht in direktem Bezug zu aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen: In Preußen gelang es nämlich den Reformern um Wilhelm von Humboldt letztlich nicht, ihren neuhumanistischen Schulbegriff in die Praxis zu übertragen: Statt zu einer »Institution allgemeiner und freier Menschenbildung« heranzuwachsen, entwickelte sich die Schule im 19. Jahrhundert laut Dietrich Benner vielmehr »zu einer Einrichtung zur Förderung gesellschaftlich nützlicher Qualifikationsanforderungen und Selektionsprozesse.«33 Verantwortlich dafür war in erster Linie der Sieg der Alliierten in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813), durch den man die napoleonische Bedrohung wie auch den Willen zu tief greifenden Strukturreformen im Bildungssystem ad acta legen konnte. Die restriktiven Karlsbader Beschlüsse von 1819 blockierten in der Folge die Umsetzung aller wichtigen Vorschläge der Section, so dass man Süverns weitreichenden liberalen Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im preußischen Staate (181719) kurz vor Inkrafttreten doch noch kassieren konnte. Gerade der Zeichenunterricht wurde von diesem Rollback hart getroffen, galt er doch Humboldt und seinen Mitstreitern als Schlüsseldisziplin zur Verwirklichung ihrer Ideale. Ihr Plan, einen staatlich kontrollierten Lehrgang pestalozzischer Prägung an allen 31 | Dass Schmid wie auch Ramsauer ihre Bücher dennoch illustrierten, anstatt konsequent auf Abbildungen zu verzichten, waren wohl Entscheidungen, die im Bewusstsein um die mangelhaften zeichnerischen Kompetenzen des Lehrkörpers im 19.  Jahrhundert getroffen wurden, vgl. dazu Kemp 1979, Kap. IX. 32 | Ramsauer 1821, Bd. 1, S. II. 33 | Benner 1993, S. 27. Vgl. zudem Wittmütz 2007; Kuhlemann 1992.

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Volksschulen des Königreichs einzuführen, wurde unter den neuen Vorzeichen wenig überraschend verworfen.34 Das höhere Bildungswesen war von dieser Entscheidung zwar nicht betroffen, da am 14. März 1831 ein neuer Lehrplan für den Zeichenunterricht an preußischen Gymnasien und höheren Bürgerschulen verabschiedet wurde, der deutlich vom Pestalozzi-Kreis um Schmid und Ramsauer inspiriert war.35 Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler wurde aber durch die Karlsbader Beschlüsse vom Zeichenunterricht mehr oder weniger ausgeschlossen. Noch in den 1854 von Ferdinand Stiehl erarbeiteten Vorschriften für den Unterricht an Volksschulen wird deutlich, dass man in Preußen die unterste Stufe des Schulsystems vornehmlich disziplinarisch nutzte und durch ein Übermaß an Religions- und Geschichtsunterricht versuchte, eine christlich-patriotische, in erster Linie antirevolutionäre Gesinnung zu evozieren.36 Der Zeichenunterricht war in diesem Zusammenhang nur von geringem Wert und wurde folglich an Schulen und Lehrerseminaren auf ein absolutes Minimum reduziert. Sofern überhaupt noch gezeichnet wurde, dann nur in Form eines simplen Kopierens einfacher geometrischer Formen und Muster.37 Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund wird verständlich, weshalb Pestalozzi-Anhänger wie Ramsauer plötzlich so vehement für den lebenswirklichen Nutzen ihrer Leitfäden eintraten. Die aktuelle bildungspolitische Konstellation machte ihnen bewusst, dass die Anschauungslehre an Schulen nur zu retten war, sofern man sie in utilitaristische Konzepte einkleidete. Das Zeichenbuch der Folgezeit wird dadurch zu einem schizophrenen Konstrukt: Einerseits beharrt es auf seinem engen Bezug zur Anschauungslehre und dem Ideal der Augenbildung, der es um 1800 aus den Niederungen der Pädagogik innerhalb kürzester Zeit ins Zentrum der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung befördert hatte; andererseits stellt es mindestens in gleichem Maße seinen vielseitigen praktischen Nutzen heraus. Friedrich Ottos Pädagogische Zeichenlehre von 1837, die noch zu Lebzeiten des Autors durch Wilhelm Rein ein zweites (1873) und postum ein drittes (1884) Mal aufgelegt wurde,38 spricht in dieser Beziehung Bände: Gleich zu Beginn redet Otto entschieden der Anschauungspädagogik das Wort, indem er betont, dass das »vorliegende Buch […] mit der Zeichenkunst, als solcher, weder in ihren verschiedenen Zweigen, noch in ihrer Höhe zu thun [hat], sondern nur insofern sie in ihrem elementarischen Theile als ein Unterrichtsgegenstand zur Erlangung allgemeiner, allseitiger Bildung anerkannt wird.« Ziel sei nicht die 34 | Vgl. Legler 2011, Kap. 6; Kemp 1979, S. 188-201. 35 | Vgl. Wunderlich 1886, S. 85 ff.; Richter 2003, S. 147 f. 36 | Vgl. dazu Jeismann 1977. 37 | Vgl. Wunderlich 1892, S. 102 ff. 38 | Otto verstarb 1876. Vgl. zur Person Kemp 1979, S. 265; Wunderlich 1892, S. 75 f.; Rein 1889, S. 173 ff.

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»Bildung des Menschen zur Kunst, zum Künstler«, sondern im Gegenteil die »Bildung des Menschen durch die Kunst«.39 Minutiös wird daher im Anschluss zwischen pädagogischem, fachlich-technischem und künstlerischem Zeichnen unterschieden: das eine wolle »formell bilden«, die anderen »materiell nützen« bzw. »erfreuen«.40 Technisches und künstlerisches Zeichnen verbannt Otto an die dafür zuständigen Berufs- und Gewerbeschulen, das pädagogische Zeichnen, zuständig für die »harmonische Entwicklung aller Kräfte des Menschen« durch »Augenbildung«, die »Bildung der Imagination«,41 des Geschmacks sowie der Hand, nimmt er dagegen für sich bzw. für die allgemeinbildenden Schulen in Anspruch. Tatsächlich jedoch basiert sein Lehrgang auf der von Fröbel eingeführten, mechanischen Methode der Stigmographie, bei der die Schülerinnen und Schüler an punktierten Wandtafeln gegebene Grundformen sukzessive in entsprechend präparierte Zeichenhefte zu übertragen hatten. Das Verfahren wurde zuvor durch den Wiener Pädagogen Franz Karl Hillardt aktualisiert (Abb. 34 u. 35) und sollte laut Otto vor allem in Großklassen von über 100 Kindern zum Einsatz kommen.42 Die Übungen folgen dem immer gleichen Ablauf: Zu Beginn erläutert die Lehrerin, der Lehrer in aller Kürze die wesentlichsten Eigenschaften der zu zeichnenden Figur; anschließend übertragen die Zeichnerinnen und Zeichner das lineargeometrische Gebilde nach und nach in ihre punktierten Zeichenhefte.43 An den Geometrieteil schließen Kapitel zum Zeichnen von rudimentären Pflanzenformen und Flächenornamenten, zum perspektivischen Körperzeichnen anhand von geometrischen Holz-, Draht- und Gipsmodellen sowie zur Licht- und Schattenlehre an (Abb. 36). Erst auf der letzten Stufe werden die Schülerinnen und Schüler dazu angehalten, auf Grundlage des internalisierten Formenschatzes neue Muster zu entwerfen. Auch Ottos Zeichenlehre erweist sich dadurch als Hybrid: Die pädagogische Auslegung des Zeichenunterrichts als Instrument der Rationalisierung des Blicks auf mathematischgeometrischer Grundlage wird beibehalten und nivelliert vollständig das alte Ausbildungsideal des Zeichnens nach der Natur bzw. dem menschlichen Körper. Gleichzeitig jedoch gelingt es dem Autor, die grundlegenden Bedürfnisse kunstgewerblicher und technischer Berufsfelder zu bedienen und dadurch den ökonomischen Nutzen seines Leitfadens herauszustellen. 39 | Alle Otto 1873, S. 1 f., Hervorhebungen im Original. 40 | Otto 1873, S. 3. Hervorhebungen im Original. 41 | Otto 1873, S. 6 f. 42 | Vgl. Hillardt-Stenzinger 1907; Hillardt 1868; Hillardt 1839. 43 | Der Herausgeber der zweiten Auflage der Zeichenlehre, Wilhelm Rein, empfiehlt dabei in Ergänzung der Übungsaufgaben Ottos ein System von Zeichenvorlagen für den Elementar-Unterricht heranzuziehen, dass er kurz zuvor selbst zusammen mit Robert Bauer publiziert hatte.

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Abbildungen 34 bis 36: Franz K. Hillardt: Buchstaben (links) und Blätter (Mitte), sowie Friedrich Otto: Licht- und Schattenlehre, in: Hillardt 1839, Taf. 3, 27, Otto 1873, S. 90 (v. l. n. r., alle Privatbesitz).

Schriften wie diejenige Ottos – nicht zufällig mit dem appellativen Untertitel »Anweisung, den Zeichen-Unterricht als einen wesentlichen Theil des allgemeinen Schul-Unterrichts zu behandeln«, versehen – erinnern also noch heute an eine für den Zeichenunterricht des 19. Jahrhunderts entscheidende Findungs- und Etablierungsphase. Noch überzeugender waren jedoch die vielen visuellen Argumente, die in dieser Zeit vermittels programmatischer Titelblätter ins Feld geführt wurden. Besonders beredsam ist in diesem Zusammenhang das kunstvolle Frontispiz aus Leo Bergmanns Schule des Zeichners von 1855 (Abb. 37). Der Betrachterin, dem Betrachter wird dort ein von verspielten Rankenornamenten verziertes Tableau der Anwendungsgebiete der Zeichenkunst vor Augen geführt: Die Medaillen in den Ecken repräsentieren das Schreinerhandwerk, die Glasproduktion, den Bergbau und die Textilindustrie; in den Registern dazwischen sind die bildenden Künste, das Kunsthandwerk und das Ingenieurswesen vertreten. Weitere Anwendungsfelder werden im Titel aufgezählt: Nicht nur für die Schule, sondern ebenso für Autodidaktinnen und Autodidakten und ganz besonders »für Künstler im Fache des Stahl- und Kupferstichs, der Lithographie und des Holzschnittes« sei das Buch von Interesse. Dass Bergmanns Apell durchaus wirkungsvoll war, belegt die Editionsgeschichte seines Buches, das u. a. ins Niederländische übersetzt wurde und in der Folge als Standardwerk für Zeichenschülerinnen und -schüler in der Kolonie Java zum Einsatz kam.44 Auch in Deutschland hatten die Beteuerungen der Zeichenpädagoginnen und -pädagogen letztlich Konsequenzen. Vor dem Hintergrund des schlechten Abschneidens deutscher Produkte auf den Weltausstellungen in London, New York und Paris besann sich die Politik und nahm 44 | Vgl. Bakker 1857; dazu Kraus 2019.

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Abbildung 37: Leo Bergmann: Die Schule des Zeichners, in: Bergmann 1855, Frontispiz (UBH).

1859 und 1861 Modifikationen an den Stiehl’schen Regulativen vor, die den Anteil der Realien im Massenunterricht des niederen Schulwesens anhoben und das Curriculum an die Bedürfnisse von Industrie und Gewerbe anpassten.45 Einige Jahre später ersetzte man die Vorgaben Stiehls dann vollständig durch die von Kultusminister Adalbert Falk erlassenen Allgemeinen Bestimmungen betreffend das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen vom 15. Oktober 1872,46 gemäß denen Zeichenunterricht für alle Schulformen des preußischen Bildungs45 | Vgl. Legler 2011, S. 149-152. Wunderlich 1892, S. 110-119. 46 | Dazu Wittmütz 2007.

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systems obligatorisch wurde. Die übrigen Gliedstaaten des Deutschen Reiches folgten diesem Beispiel im Laufe der 1870er Jahre. Der lange und gewundene Institutionalisierungsprozess des pädagogischen Zeichenunterrichts war damit an ein vorläufiges Ende gelangt.

D ie H interlist der L inie : schulisches Z eichnen unter S tuhlmann und F linzer Mit dem Begriff »›Mikrophysik‹ der Macht« hat Michel Foucault den systematischen Zusammenhang all jener Disziplinartechniken und -institutionen bezeichnet, die sich seit dem 17. Jahrhundert in einem Prozess der zunehmenden Verbreitung, Verfeinerung und Verknüpfung befanden und im Zuge dessen in der Lage waren, immer tiefere Spuren im Gesellschaftskörper zu hinterlassen: »Kleine Hinterlistigkeiten von großer Verbreitungsmacht; subtile Maßnahmen von scheinbarer Unschuld, aber tiefem Mißtrauen«, werden als konstitutive Elemente dieses repressiven Räderwerks benannt. »Will man sie beschreiben, so muß man bereit sein, im Detail auf der Stelle zu treten und auf Kleinigkeiten zu achten; unter den niedrigsten Gestalten nicht einen Sinn, sondern eine Vorsichtsmaßnahme zu suchen und sie nicht nur in den Zusammenhang einer Funktion, sondern auch in das Zusammenspiel einer Taktik einzuordnen.« 47

Wie gezeigt werden konnte, wird diese kleinteilige Maschinerie der biopolitischen Einschreibung durch den Zeichenunterricht des 19. Jahrhunderts um ein neues Rädchen bereichert, da auch er vorgibt, etwas zu sein, was er in Wahrheit nicht ist: Statt sich auf die künstlerische Unterweisung der Hand zu konzentrieren, zielt er auf die massenwirksame Erziehung des Auges im Zeichen des ›pädagogischen Blicks‹, den man insofern als Filius des ›klinischen Blicks‹ bezeichnen kann, als dass es sich beiderseits um analytische Wahrnehmungsakte entlang einer streng definierten Logik von Operationen handelt, die sich auf die syntaktische Zusammensetzung des Gesehenen, auf die wesenhafte Reinheit der Dinge richtet.48 In der verzweigten Wirkungsgeschichte dieser visuellen Technik ist die Institutionalisierung des Zeichenunterrichts an Schulen eine entscheidende Etappe, denn mit ihr eröffneten sich den Zeichenpädagoginnen und -pädagogen neue Expansionsräume, die sie lange herbeigesehnt hatten und die sie daher auch ohne viel Vorlauf zu besetzen verstanden. Vor allem Adolf Stuhlmann, der Entwickler der 1873 in Kraft getretenen und in der Folge national wie auch in47 | Alle Foucault 1976, S. 178. 48 | Vgl. Foucault 1973, S. 121-136.

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ternational einflussreichen Lehrpläne für den Zeichenunterricht an Hamburger Schulen, riss nun die Zügel an sich.49 Qualifiziert hatte sich der promovierte Philosoph mit einer Zeichenmethodik für Elementarklassen, die 1867 unter dem Titel Zeichenunterricht und Formenlehre erschien. Im Zuge der Arbeiten an einer Neuauflage weitete Stuhlmann seinen Leitfaden deutlich aus und überführte ihn schließlich in sein pädagogisches Hauptwerk: der Zeichenunterricht in der Volks- und Mittelschule.50 Die Reihe erschien erstmals im Jahr 1875 und setzt sich aus fünf konsekutiven Bänden zusammen: die Begründung der Methode, Das gebundene Zeichnen ebener Gebilde, Das freie Zeichnen ebener und flacher Gebilde, Das freie Zeichnen nach körperlichen Gegenständen sowie Das Zeichnen und Entwerfen von Stickmustern.51 Das System wurde auf institutioneller Ebene sehr gut angenommen. Allein in den ersten sechs Jahren erlebten die Bücher fünf Auflagen, wurden schon Ende der 1870er Jahre auch ins Schwedische übertragen und lassen sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszugsweise sogar in Japan nachweisen.52 Ab 1877 wurden die für Stuhlmanns Didaktik benötigten Lehrmittel (Wandtafeln, Vorlagen, Modelle) an allen Hamburger Volksschulen sukzessive angeschafft und ab 1881 übernahm der Pädagoge in seiner neuen Funktion als oberster Zeicheninspektor der Stadt höchstpersönlich die Kontrolle über die strikte Einhaltung seiner Methode. Sechs Jahre später gelang es ihm überdies, in Zusammenarbeit mit dem Kultusministerium und insbesondere mit Otto von Bismarck, dem Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, sein System verbindlich an allen Volksschulen Preußens zu installieren. 1897 wurde der Zeicheninspektor dann zum Schulrat für das gesamte Gewerbeschulwesen ernannt und war damit bis zu seiner Pensionierung 1907 eine der wichtigsten Figuren in der preußischen Bildungslandschaft. Auch Stuhlmann vollzieht gleich zu Beginn seines Zeichenunterrichts den Schulterschluss mit den Anschauungspädagogen um 1800: Die Wichtigkeit des Unterrichts im Zeichnen beruhe weniger auf der Unentbehrlichkeit der Zeichenkunst für viele Berufsarten, als »vornehmlich auf seinem hohen Werth für eine bedeutsame Seite in der allgemeinen Bildung eines jeden Menschen; denn der Zeichenunterricht ist ein ebenso vortreffliches, wie unersetzliches Mittel für die Schärfung des Auges, die Ausbildung des Raum- und Formensinnes und die Belebung der Phantasie.«53 Das wiederholte und systematische Zeichnen von graphischen und geometrischen Grundformen verbunden mit der Ver49 | Vgl. zur Person Böhling 1906; Wunderlich 1892, S. 142 f. 50 | Vgl. dazu Legler 2011, S. 153-157; Skladny 2012, S. 145-157; Richter 2003, S. 159-166; Geller 2001, S. 172-177; Richter 1981, S. 18-25; Böhling 1907; Götze et al. 1899, S. 692 f.; Rein 1889, S. 175 ff. 51 | Vgl. zum ersten Band zuletzt Thier 2014. 52 | Vgl. Teutenberg 2014a. 53 | Stuhlmann 1879, Bd. 1, S. 3.

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mittlung der entsprechenden mathematischen Gesetze sind auch in seiner Methodik die wichtigsten Eckpfeiler, erwerbe die Schülerin, der Schüler dadurch doch nicht nur einen mentalen Fundus an kanonischen Elementarformen, die durch Umbildung und Verknüpfung immer neue Variationen ergeben, sondern sie, er lerne darüber hinaus auch, kompliziertere Gestalten der Wirklichkeit immerzu auf dieses basale geometrische Set zu reduzieren. Abbildung 38: Adolf Stuhlmann: Tabellarischer Plan für den Zeichenunterricht, in: Stuhlmann 1879, S. 58 f. (BSB).

Über den praktischen Ablauf des Stuhlmann-Lehrgangs an einer Schule, die über neun Jahre regelmäßig zwei bis drei Stunden obligatorischen Zeichenunterricht pro Woche anbietet, gibt eine Tabelle im Anhang des ersten Bandes Auskunft (Abb. 38): Vom Leichteren zum Schwereren voranschreitend bekommen die sechs- bis neunjährigen Kinder erst senkrechte Striche, dann Muster aus geraden Linien sowie Polygone und Sterne, diverse Formen aus dem System Fröbels und zuletzt kreislinige Rosetten zu zeichnen (Abb. 39). Auch Stuhlmann baut dabei auf das Diktatzeichnen und die stigmographische Methode, bevorzugt aber aufgrund einer vermeintlich höheren Augenverträglichkeit im Gegensatz zu Otto gerasterte Lehrmittel. Dass er dabei betont, wie optimal sich die Quadrate des Rasters auf der Tafel bzw. dem Zeichenpapier »zum Ausmessen und Vergleichen der Flächenräume der in das Netz gezeichne-

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ten Formen« eignen,54 verrät ebenso den ideengeschichtlichen Ursprung seiner Methode aus der Anschauungslehre Pestalozzis wie der Umstand, dass die Kinder auf der ersten Stufe des Zeichenunterrichts die Bildungsgesetze der geometrischen Figuren »unter alleiniger Anwendung des Visirens selbstthätig ermitteln lernen.« Abbildungen 39 und 40: Adolf Stuhlmann: Grundformen (links) und Modelle, in: Stuhlmann 1879, Taf. 9 (links) und 20 (beide BSB).

Vom vierten bis zum sechsten Schuljahr wird dann ausnahmslos frei gezeichnet: Sterne, regelmäßige Polygone, ebene Gebilde mit geraden und kreisförmigen Linien, ornamentale Flächenfiguren und auch erste Reliefmodelle (Abb. 40) stehen auf dem Programm. Dabei fordere gerade der Übergang vom gebundenen zum freien Zeichnen, »auf möglichste Genauigkeit zu dringen« und die Schülerinnen und Schüler etwaige Fehler wie eine unsorgfältige Kontur oder eine fehlerhafte Proportion selbst auffinden zu lassen,55 damit sich ihr Formensinn und ihr Augenmaß stetig verbessern. Auf der letzten Stufe, d. h. vom siebten bis neunten Schuljahr, folgt dann für die Jungen das Körperzeichnen mit besonderem Fokus auf der perspektivischen Projektion und der LichtSchatten-Verteilung. Stuhlmann empfiehlt dazu Holzmodelle zur Hand zu nehmen, die auf Friedrich Heimerdingers Elemente des Zeichnens nach körper-

54 | Stuhlmann 1879, Bd. 1, S. 46. 55 | Alle Stuhlmann 1879, Bd. 1, S. 41 f.

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lichen Gegenständen (1857) zurückgehen,56 zugleich erweitert er dessen Korpus jedoch um einfache Haushaltsgegenstände – vor allem um Geschirr und Vasen, da er »Formen im elementaren Zeichnen antizipieren wollte, die bei kunstgewerblichen Gebrauchsgegenständen immer wieder auftauchten.«57 Den Mädchen hingegen wird das Körperzeichnen vorenthalten. Sie sollen stattdessen mit dem letzten Band der Reihe zum Zeichnen und Entwerfen von Stickmustern weiterarbeiten. Abbildung 41: Heinrich Weishaupt: Pflanzenornament, in: Weishaupt 1877, Taf. 22 (Privatbesitz).

Stuhlmanns Idee, in der Volksschule einen Lehrgang anzubieten, an den weiterführende Gewerbeschulen und Ausbildungsstätten für technische Zeichnerinnen und Zeichner anschließen konnten, und das Bildungssystem auf diese Weise linearer und effizienter zu gestalten, wurde zu dieser Zeit nicht nur in Preußen erprobt: Im süddeutschen Raum machten sich der Münchner Zeichenlehrer Heinrich Weishaupt und der Stuttgarter Eduard Herdtle durch zahlreiche Publikationen auf ganz ähnliche Weise um die Förderung der Ökonomie 56 | Heimerdinger war Mitarbeiter unter Otto Jessen, dem Gründungsdirektor der Hamburger Gewerbeschule und Lehrer Stuhlmanns, vgl. Geller 2001, S. 162-166; Ashwin 1980, S. 112 ff. 57 | Geller 2001, S. 173.

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ihrer Königreiche Bayern und Württemberg verdient.58 Weishaupt wurde 1867 die Leitung und Kontrolle aller städtischen Zeichenschulen Münchens übertragen. Sein Lehrbuch Das Zeichnen nach dem wirklichen Gegenstande (1877) schreitet ebenso wie Stuhlmanns Entwurf von geometrischen und ornamentalen Formen über das Zeichnen von Flachreliefs und geometrischen Körpern zum Pflanzenornament voran (Abb. 41). Herdtles Vorlagenwerk für den Elementar-Unterricht im Freihandzeichnen von 1864, das von der Königlich Württembergischen Kommission für gewerbliche Fortbildungsschulen gefördert und für die Volkshochschulen des Landes erdacht wurde, erreichte bis 1892 nicht weniger als 13 Auflagen.59 Den Eindruck der flächendeckenden Dominanz der Linear- und Geometriezeichenlehren komplettiert schließlich Fedor Alexis Flinzers Lehrbuch des Zeichenunterrichts,60 das ab 1876 exklusiv an allen Schulen der Stadt Leipzig im Gebrauch war und damit jährlich von ca. 20.000 Schülerinnen und Schülern verwendet wurde.61 Flinzer, der heute vorwiegend als Tierzeichner und Illustrator der Gartenlaube sowie von Kinder- und Jugendbüchern bekannt ist,62 wurde im Januar 1873 das für ihn neugeschaffene Amt des Zeicheninspektors übertragen und damit die Aufgabe, den Unterricht an Leipziger Schulen zu vereinheitlichen. Das zu diesem Zweck von ihm edierte Buch, das bis 1903 sechs Auflagen erlebte, die Lehre in ganz Sachsen über 20 Jahre lang prägte und sogar in den USA beachtet wurde,63 versucht grundsätzlich, die Schülerin, den Schüler durch immer kompliziertere, vorwiegend geometrisch-ornamentale Übungen konstant zu fordern. An erster Stelle steht auch für Flinzer die »Ausbildung des geistigen Auges«, d. h. die »Erziehung zu einem mit Bewußtsein vollzogenen Sehen«.64 Die Entwicklung handwerklicher Fertigkeiten ist für den Leipziger dagegen zweitrangig, wie er auf den ersten Seiten seines Lehrbuchs deutlich herausstellt:

58 | Vgl. dazu Wunderlich 1892, S. 121-126. 59 | Ähnlich erfolgreich waren seine ebenfalls gewerblich ausgerichteten Elemente des Zeichnens: fünf Hefte mit dem Schwerpunkt auf der Kontur geometrischer Grundformen und Pflanzenornamente. 60 | Vgl. dazu Teutenberg 2014c; Legler 2011, S. 143 ff.; Richter 2003, S. 167-172; Kemp 1979, S. 272 f.; Richter 1981, S. 26-32; Götze et al. 1899, S. 694 ff.; Wunderlich 1892, S. 130-139; Rein 1889, S. 199 f. 61 | Die Zahl nennt Flinzer im Vorwort der fünften Auflage selbst, vgl. Flinzer 1896, S. V. 62 | Vgl. zur Person Bochow 2003; Wunderlich 1892, S. 130-139. 63 | Vgl. Clarke 1892, S. 668. 64 | Flinzer 1896, S. V, Hervorhebung im Original.

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Strukturell setzt sich Flinzers Entwurf aus acht konzentrischen Anschauungskreisen zusammen und folgt damit einer modernen pädagogischen Systematik, die zuvor der einflussreiche Wiener Erziehungswissenschaftler Friedrich Dittes in seinem Grundriß der Erziehungs- und Unterrichtslehre (1871) als besonders zweckdienlich herausgestellt hatte.66 Derartige didaktische Konstrukte beginnen immer im ersten, vom Umfang her kleinsten Kreis und gehen erst dann in den jeweils nächstgrößeren, inhaltlich komplexeren Ring über, wenn die Fähigkeiten der Schülerin, des Schülers entsprechend ausgereift sind. Entscheidend ist, dass kleine Anschauungskreise von größeren nicht verdrängt, sondern vereinnahmt werden. Der elementare Lehrstoff wird also nie wirklich als erledigt erachtet, sondern taucht in diesem auf einschleifende Wiederholung und Fehlervermeidung beruhenden Modus ständig wieder auf.67 Konkret behandeln die ersten fünf Anschauungskreise Flinzers allesamt zweidimensionale Figuren. In den letzten drei Kreisen wird dann der Übergang zum perspektivischen Zeichnen von Flächen und Körpern unternommen. Der Lehrgang sieht für das erste Jahr Übungen im Ziehen gerader Linien vor und geht dann in Pestalozzi-Tradition zur Flächenfigur des Quadrats bzw. der Raute über – jedoch »nicht zu dem Zwecke des Übens dieser Figur an sich, sondern zum Erfassen der in derselben liegenden Grundbegriffe: senkrecht, waagerecht, gleichmäßig.«68 Daran anschließend wird das gleichseitige Dreieck ein65 | Flinzer 1896, S. 4 f. 66 | Vgl. Dittes 1877, S. 107 f. Flinzer und Dittes kannten sich persönlich. Dittes war ab 1860 Subrektor der Realschule in Chemnitz, an der Flinzer ein Jahr zuvor eine Stelle als Zeichenlehrer angetreten hatte. Vgl. Bochow 2003, S. 11. 67 | Flinzers lerntheoretische Überzeugung steht damit im Einklang mit der Assoziationspsychologie Friedrich Herbarts, vorgestellt in dessen Lehrbuch zur Psychologie (1816; 2. Aufl. 1834): Begriffe und Gedanken entstehen im Bewusstsein durch die regelhafte Verkettung von alten Gedächtnisinhalten und frischen, sinnlich erworbenen Erfahrungen. Die Wiederholung von bereits bekanntem Stoff stärkt die Verknüpfung nachhaltig. Vertiefung ist hingegen zweitrangig. 68 | Flinzer 1896, S. 37.

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geführt (Abb. 42), das laut Flinzer nicht nur vielen natürlichen Blattformen als Grundgerüst diene, sondern auch tierische Körper wie den einer Libelle oder einer Henne strukturiere (Abb. 43). Es folgen regelmäßige Sechs- und Achtecke sowie der Kreis und anschließend auch erste ornamentale Gebilde wie die Palmette, die auf der Kombination bereits erlernter geometrischer Formen beruhen. Im zweiten Lehrjahr beginnt Flinzer mit Übungen des Augenmaßes, in denen das Verhältnis schräg zueinander stehender Punkte und Linien durch Visieren genau abgeschätzt werden soll. Anschließend stehen unregelmäßige zweidimensionale Formen auf dem Programm: die Ellipse, die Spirale und auch diverse Blattformen, die auf Grundlage eines Gerippes an geraden Hilfslinien entwickelt werden. Übungen zum freien Erfinden von regelmäßigen Ornamentverläufen beenden das zweite Jahr. Im dritten und letzten Lehrjahr soll dann perspektivisch nach geometrischen Körpern gezeichnet werden: Die Raumform des Quadrats – der auf eine Seite bzw. auf Kante gestellte Würfel – macht hier den Auftakt, gefolgt von aus Kuben gebildeten Kreuzen in allen möglichen Variationen. Anschließend wird die Pyramide als Verräumlichung des Dreiecks gezeichnet und ganz zuletzt auch Walzen, Ringe und Kugeln. Der besondere Schwerpunkt liegt dabei auf den physikalischen Prinzipien des Lichteinfalls (Abb. 44). Das Zeichnen nach der Natur oder gar dem menschlichen Körper spielt dagegen auch bei Flinzer praktisch keine Rolle mehr. Erlernt werden soll im Gegenteil nur die korrekte Wiedergabe eines kleinen Kanons geometrischer Flächen- und Körperfiguren. Wurde das Auge der Schülerin, des Schülers so weit trainiert, dass es diese wenigen basalen Strukturen der Natur zielsicher auffindet, und konnte darüber hinaus auch die Hand in die Lage versetzt werden, all diese Grundformen souverän aufs Papier zu bringen, dann ist nicht nur für Otto und Stuhlmann, sondern auch für Flinzer die Lehre der Zeichnerin, des Zeichners an ein sinnvolles Ende gelangt. Abbildungen 42 und 43: Fedor Flinzer: Das Dreieck (links) und dreieckige Pflanzen und Tiere, in: Flinzer 1896, S. 114 (links) und S. 120 (beide UBH).

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Abbildung 44: Fedor Flinzer: Kugel, in: Flinzer 1896, Taf. 5 (UBH).

E ntfessler des B licks : J ames S ully und G eorg K erschensteiner Die Beispiele Stuhlmann und Flinzer machen ersichtlich, dass die um 1800 eingegangene Verbindung von Anschauungs- und Zeichenunterricht keine kurzlebige war. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hielt sich das Paar allen Krisen zum Trotz die Treue und sorgte somit dafür, dass die prinzipiell natürlich schon der frühneuzeitlichen Zeichenpädagogik geläufige Methode der graphischen Reduktion komplexer Gegenstände auf einfache geometrische Grundformen (Abb. 45) in dieser Phase ins ideologische Zentrum einer langlebigen Agenda der mathematisch-geometrischen Normierung des Sehens vorrückte.69 Gebrochen wurde dieser Bann erst, als um 1900 reformpädagogische Tendenzen Eingang in den Zeichenunterricht fanden. Frühe Vorboten dieser Entwicklung sind schon zu Zeiten der Institutionalisierung der Stuhlmann-Methode erkennbar, deren totalitäres Gebaren man vor allem in Norddeutschland nicht widerspruchslos akzeptieren wollte.70 Das Hauptmedium der Kritik war die Zeitschrift des Vereins deutscher Zeichenlehrer, deren Jahrgänge 1976 / 7 7 eine Reihe von Einwänden insbesondere gegenüber der Stigmographie enthalten. Das zu diesem Zeitpunkt zentrale Argument der Kritiker war der Vorwurf der Insuffizienz, den auch Fedor Flinzer evozierte, als er stigmographischen Zeichenübungen per se ein »Zeugnis der Nutzlosigkeit« ausstell69 | Vgl. zur Tradition dieser Methode Fitzner 2014; Dickel 1987, S. 245-257. 70 | Vgl. dazu Skladny 2012, S. 150-154.

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te.71 Viel erreicht wurde dadurch jedoch nicht. Stuhlmann sah sich zwar genötigt, an späteren Auflagen des Zeichenunterrichts Modifikationen vorzunehmen und einige Verteidigungsschriften zu publizieren, letztlich stand jedoch Meinung gegen Meinung, und der Hamburger Pädagoge war institutionell wie auch politisch schon zu gefestigt, als dass ihm mit diesen Mitteln noch beizukommen gewesen wäre. Abbildung 45: Heinrich Lautensack: Tanzende Kinder, in: Lautensack 1564, S. 50 (UBH).

Abbildungen 46 und 47: Hermann Cohn: Kallmann’s Durchsichtstativ (links) und Dürr’s horizontale Lesestütze, in: Cohn 1892, Fig. 74 (links) und 75 (beide BSB).

71 | Flinzer 1896, S. 16. Gräber 1880 zitiert vierzehn vergleichbare Passagen anderer Autoren.

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Die Unter weisung des Blicks

Zu Beginn der 1880er Jahre akzeptierte die Stuhlmann-Opposition das Scheitern ihres ersten Anlaufs und änderte die Taktik. Fortan wurde nicht mehr die Nutzlosigkeit, sondern die vermeintliche Augenschädlichkeit der Stigmographie in Anschlag gebracht: Das primäre Beweismittel stellte ein Rundschreiben dar, dass der Pädagoge Hermann Gräber im Namen des Vorstandes des Vereins deutscher Zeichenlehrer aufgesetzt und an 22 Augenärzte im ganzen Land versendet hatte. Die Mediziner wurden darin um ein Urteil bezüglich der Augenverträglichkeit des Liniennetz-, Punktnetz- und Stickmusterzeichnens gebeten, woraufhin sich 20 Adressaten gegen das Verfahren aussprachen.72 Ein besonderes Gewicht muss dabei dem Verdikt des Breslauer Augenarztes Hermann Cohn zugekommen sein  – einer international anerkannten Koryphäe der Ophthalmologie, deren auch ins Englische und Russische übertragene Erstlingsschrift Untersuchungen der Augen von 10.060 Schulkindern, nebst Vorschlägen zur Verbesserung der den Augen nachtheiligen Schuleinrichtungen (1867), bereits Reformen hinsichtlich der Beleuchtung von Klassenräumen angestoßen hatte. Anders als viele seiner Kollegen verurteilte der Schüler Rudolf Virchows die Stigmographie nicht prima vista, sondern nahm die Anfrage Gräbers zum Anlass für spontane Versuche an seinen eigenen Kindern, woraufhin er die Methode als »direkt gefährlich« einstufte,73 da sie die Augen in eine schädlich nahe Distanz zum Zeichenpapier bringe. Noch in seinem späteren Standardwerk, dem Lehrbuch der Hygiene des Auges von 1892, sollte Cohn generell alle Formen der Handarbeit, »welche eine größere Annäherung als 35 Cm« verlangen, entschieden ablehnen, verbunden mit der Anschaffungsempfehlung neuer Gerätschaften, die die Einhaltung dieses Mindestabstands gewährleisten (Abb. 46 u. 47).74 Dass der Strategiewechsel der Stuhlmann-Gegner letztlich erfolgreich war, verwundert im Rückblick nicht, denn er nimmt allgemein Bezug auf die seit Jahrzehnten intensiv geführte Debatte zum Thema Schulhygiene, in welcher der Schutz vor Kurzsichtigkeit neben der Prävention von Haltungsschäden oberste Priorität hatte.75 Noch schwerer wog jedoch der Umstand, dass der Vorwurf der Augenschädlichkeit plötzlich das seit 1800 gepflegte Image der Zei72 | Der kurze Brief ist abgedruckt in Gräber 1880, S. 223 f. Dass die Stuhlmann-Methode darin u. a. als »pädagogisch nicht zu rechtfertigen« und »für die Sehkraft geradezu gefährlich« eingestuft wurde, mag seinen Teil zum Endergebnis beigetragen haben. 73 | Gräber 1880, S. 228 f., Hervorhebung im Original. 74 | Cohn 1892, S. 470. Über aktuelle Entwicklungen im Bereich der Schulgerätschaften informierten seinerzeit auch die ersten Schulmuseen, vgl. Fuchs 2006. 75 | Das 142 Titel umfassende Verzeichnis an Spezialliteratur aus Cohns Handbuch Die Hygiene des Auges in den Schulen (1883) belegt die Intensität der Debatte in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, vgl. ferner: Heilmann / N anobashvilli / Teutenberg 2015; Stross 2000, bes. Kap. 2; Freyer /  K eil / N erdinger 1998; Bennack 1990. Dort wird auch

IV.  Sehen lernen

chenpädagogik als Purifiziererin des Blicks fundamental in Frage stellte. Derlei Bedenken konnten von Seiten der Bildungspolitik, die sich erst kurz zuvor für den obligatorischen Zeichenunterricht an Schulen stark gemacht hatte, nicht ignoriert werden. Bis Mitte der 1880er Jahre verschwand das stigmographische Zeichnen in ganz Deutschland von den Lehrplänen öffentlicher Schulen. Die liberalen Kräfte in der Zeichenpädagogik hatten damit einen ersten Achtungserfolg erzielt, wenngleich auch der politische Glaube an die ökonomische Nützlichkeit der Linear- und Geometriezeichenlehren nach wie vor intakt war und das System Stuhlmann noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stützte.76 Erst die zweite Phase der Reformbewegung konnte weitere Fortschritte verbuchen. Gekennzeichnet ist sie vor allem vom starken Einschlag einer zu dieser Zeit noch sehr jungen Disziplin: der Kinder- bzw. Entwicklungspsychologie. In Deutschland war dieser Forschungszweig durch die Pionierarbeit Die Seele des Kindes (1882), verfasst vom ursprünglich aus England stammenden Jenaer Ordinarius für Physiologie William Thierry Preyer, eingeführt worden – ein Standardwerk, das bis 1923 neun Auflagen erlebte, jedoch überwiegend biographisch argumentiert und sich zudem auf den Zeitraum der ersten drei Lebensjahre beschränkt.77 In Frankreich hatten sich wenig später Bernard Perez durch die Schrift L’art et la poésie chez l’enfant (1888) sowie Jules-Gabriel Compayré mit L’évolution intellectuelle et morale de l’enfant (1893) entwicklungspsychologisch positioniert. Im Zentrum ihres Interesses standen vor allem die künstlerischen Erzeugnisse des Kindes, was sie in die Nähe der kurz zuvor von Corrado Ricci vorgelegten Publikation L’arte dei bambin (1887, dt. 1906) rückt. Für die deutsche Debatte wurde jedoch vor allem das Werk eines Briten bedeutsam: die Studies of Childhood, die der englische Psychologe James Sully erstmals 1895 publiziert hatte und die schon zwei Jahre später unter dem Titel Untersuchungen über die Kindheit auch auf Deutsch vorlagen.78 Sully, der in Göttingen unter Hermann Lotze sowie in Berlin unter Emil DuBois-Reymond und Hermann von Helmholtz studiert hatte, war für deutsche Pädagoginnen und Pädagogen vor allem deswegen interessant, weil die Kindheits- und Jugendforschung Nordenglands im europäischen Vergleich als führend wahrgenommen wurde: zum einen aufgrund der längeren Wissenschaftsgeschichte, denn die Disziplin geht dort letztlich auf Charles Darwins Beobachtungen der eigenen Kinder zurück, die der Evolutionstheoretiker in The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) sowie in seinem 1877 in der Zeitschrift die umfangreiche Literatur des 19.  Jahrhunderts zum Thema Schulmobiliar besprochen (vgl. Bennach 1990, S. 125-131). 76 | Vgl. Götze et al. 1899, S. 685-762. 77 | Vgl. zur Preysers Seele des Kindes Eckardt 1989. 78 | Vgl. zu Sully vgl. Kelly 2004, S. 69-80; Valentine 2001; Gurjeva 2001; Efland 1990, S. 160 f.

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Mind erschienenen Artikel A Biographical Sketch of an Infant verarbeitet hatte. Darüber hinaus verfügte man mit der British Association for Child-Study, deren Londoner Dependance Sully leitete, bereits über ein Forum der Kinderpsychologie, von dem aus an den Universitäten Cambridge und Edinburgh auch Seminare zur Lehrerfortbildung organisiert wurden.79 Die Verbindung von Pädagogik und Psychologie war also in England bereits etabliert, und Sully, der schon 1886 ein Teacher’s Handbook of Psychology herausgegeben hatte, war daran maßgeblich beteiligt gewesen. Sullys Untersuchungen über die Kindheit werden von dem allgemeinen Anliegen getragen, die Lehrerin, den Lehrer besser als bislang »über die angeborenen Neigungen und herrschenden Gesetze jenes unentwickelten Kindergeistes […], welchen [sie] er in einer besonderen Weise zu bilden hat«,80 in Kenntnis zu setzen. Die Grundlage der breit angelegten experimentalpsychologischen Studie, die u. a. Kapitel zur Entwicklung der Phantasie, der Vernunft, des Denkens, der Sprache, der Sittlichkeit und des Kunsttriebes enthält, bilden Versuche mit Jungen und Mädchen im Kindergarten- bis Vorschulalter. Ihr zehnter und letzter Teil ist dem »jungen Zeichner« gewidmet. Kinderzeichnungen hält Sully vom ästhetischen Standpunkt her für nahezu kunstlos und stets unbefriedigend. Aus psychologischer Warte jedoch stellen sie für ihn »ein Ausdrucksmittel der ganzen Kindesnatur« dar, »das kaum weniger lehrreich ist als jenes der ersten Sprache«.81 Sein Ausgangsmaterial bezog er von Kindergärtnerinnen, Grundschullehrerinnen und Müttern, die die Probandinnen und Probanden im Alter von zwei bis acht Jahren darum baten, Menschen und Tiere aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Darüber hinaus steuerte Sullys Sohn Clifford bis zu seinem sechsten Lebensjahr Zeichnungen bei, ein nicht unerheblicher Teil des Quellenkorpus geht überdies auf bereits publiziertes Bildmaterial zurück. Zum Entstehungszeitpunkt der Zeichnungen war Sully demnach in der Regel nicht zugegen, so dass er kaum Kontrolle über die Versuchsbedingungen hatte. Ausgewertet wurden die Quellen vor allem hinsichtlich zweier Aspekte: Die wiederholten Vergleiche der Zeichnungen zivilisierter Kinder mit der Kunst von Naturvölkern belegen deutlich ein – für die meisten entwicklungspsychologischen Studien um 1900 ausschlaggebendes – ethnologisches Interesse. Darüber hinaus ist Sully vor allem daran gelegen, mit Hilfe seines Materials auf einen allgemeingültigen »Prozeß allmählicher Spezialisierung« der künstlerischen Ausdruckskraft des Kindes zu schließen.82 In diesem Zusammenhang werden von ihm drei Phasen unterschieden: Auf der ersten Stufe kämen die zeichnerischen Äußerungen des Kindes noch ganz spontan zu Stande und seien 79 | Vgl. Stimpfl 1897. 80 | Sully 1897, S. 10. 81 | Sully 1897, S. 311. 82 | Sully 1897, S. 355.

IV.  Sehen lernen

Abbildungen 48 bis 50: James Sully: Kinderzeichnung einer Katze, eines Kopffüßers und eines Mannes (v. l. n. r.), in: Sully 1897, Fig. 1, 19 und 36 (v. l. n. r., alle BSB).

im Wesentlichen ziel- bzw. formloses Gekritzel. In der kindlichen Phantasie können diese linearen Gebilde zwar durchaus symbolisch aufgeladen sein und auf etwas sehr Bestimmtes wie etwa eine Katze hindeuten (Abb. 48). Erwachsenen wird diese Referenz jedoch im Allgemeinen nicht augenfällig. Die zweite Stufe der Entwicklung wird erreicht, sobald das Kind sich im Skizzieren von Gegenständen versucht. Sie ist vom Antrieb gekennzeichnet, ein wiedererkennbares Abbild zu produzieren und die Zeichnung dadurch als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium zu verwenden. Laut Sully beginnen Kinder naturgemäß mit dem Menschen bzw. mit der Darstellung des Hauptes in Frontalansicht, das mit ein paar Strichen zum Kopffüßler erweitert werden kann (Abb. 49). Vor allem den Gesichtszügen werde dabei von Beginn an große Aufmerksamkeit zuteil. Durch die Ausgestaltung der Augen und das Hinzufügen von Zähnen werde der Detailgrad langsam gesteigert, jedoch träten noch lange deutliche Mängel hinsichtlich der Proportion bzw. Platzierung der einzelnen Elemente auf. Die letzte Entwicklungsstufe zeichne dann die allmähliche Vervollständigung des Körpers durch das Hinzutreten von Ohren, Haaren und Kleidung sowie die Berücksichtigung des Rumpfes, der Hände und der Füße aus. Sully erkennt darin »das Fortschreiten von einer kühnen Symbolik nach der Richtung einer lebensähnlicheren Art der Darstellung.«83 Im Alter von fünf bis sechs Jahren werden dann auch erste Anläufe unternommen, die Frontalansicht zu Gunsten von Profildarstellungen preiszugeben. Meistens bleibe es jedoch bei inkonsequenten Versuchen – wenn etwa die Nase im Profil, die Augen jedoch zugleich nach vorn gerichtet wiedergegeben werden (Abb. 50). Sully resümiert ausgehend von seinen Erkenntnissen, dass die Kunstkraft des Kindes autopoetisch und auf natürliche Weise einen günstigen Verlauf nimmt: »Die abstrakte Behandlung selbst bewegt sich trotz ihrer Unangemessenheit im Grunde genommen nach der Richtung einer wahren Kunst, welche ihrer inneren Natur nach viel mehr auswählend und anregend als sklavisch reproduktiv ist. Wir können auch bei die83 | Sully 1897, S. 327 f.

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Die Unter weisung des Blicks sen rohen Schemen sogar einen werdenden Sinn für Werte, für eine Auswahl des Charakteristischen wahrnehmen.« 84

Für die deutschen Zeichenpädagoginnen und -pädagogen war diese These von besonderer Bedeutung, denn auf die üblichen Linear- und Geometriezeichenlehren fiel plötzlich ein sehr nachteiliges Licht: Ihr Curriculum ignorierte die angeborene Neigung des Kindes, das Zeichnen von Mensch und Tier an den Anfang zu stellen, und blockierte dadurch die natürliche Entwicklung der Kunstkraft, statt sie zu fördern. Die Vielzahl an entwicklungspsychologischen Versuchen, die sich in der Folgezeit im deutschsprachigen Raum anschlossen,85 erhärteten diesen Verdacht. Die für den Zeichenunterricht verantwortlichen Funktionäre mussten reagieren. Gerorg Kerschensteiners ambitioniertes Projekt zur Entwicklung der zeichnerischen Begabung (1905) verdient in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit.86 Kerschensteiner war von 1895 bis 1918 nicht nur gewählter Schulrat der Stadt München, sondern wurde von Luitpold von Bayern auch zum Schulkommissar ernannt, wodurch ihm in dieser Phase eine »große Organisationsfreiheit und fast vollständige Herrschaft über das ganze städtische Schulwesen« zukam.87 Diese Machtposition ermöglichte es ihm, national wie international wahrgenommene Reformen vorzunehmen,88 von denen die Begründung der Arbeitsschule – der heutigen Berufsschule – sicher die bedeutendste war. Die Entwicklung der zeichnerischen Begabung bezeugt darüber hinaus den ausgeprägten Schwerpunkt des Autors im Bereich der Didaktik des Kunstunterrichts. Laut Angabe Kerschensteiners war der Initiationsmoment des Projekts ein Inspektionsgang, den er im Januar 1901 mit einigen »befreundeten Herren«89 – Adolf von Hildebrand, Theodor Vischer und Hans Cornelius – unternahm und der in der Expertenrunde die Überzeugung festigte, »daß die herkömmlichen Methoden des elementaren Zeichenunterrichtes dem Zwecke desselben nicht entsprechen« und eine »Umgestaltung von Grund aus« anstehe.90 Denn »die Zeichnungsmethoden […] spazierten in diesem Lande herum wie alte Ritter in steifen Rüstungen, die nicht laufen und sich nicht 84 | Sully 1897, S. 368. 85 | Vgl. Wulff 1927; Hartlaub 1922; Wundt 1918; Großer / S tern 1913; Meumann 1912; Levinstein 1904; Schreuder 1902; Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung Hamburg 1898. 86 | Zu Person und Werk wurde bereits umfassend geforscht, vgl. u. a. Priebe 2010, S. 18 ff.; Tippelt 2006; May / Tworek /  K arl 2005; Richter 2003, S. 203-212; FleischerSchumann 1995; Walder 1992; Wehle 1980; Kleinert et al. 1952, S. 248 f. 87 | Kerschensteiner 1926, S. 63. 88 | Vgl. Krebs 2004; Vas’kovyč 1976. 89 | Kerschensteiner 1905, S. 6. 90 | Cornelius 1901, S. III.

IV.  Sehen lernen

biegen konnten, die Kinder zu haschen, welche um sie herum sprangen«,91 so Kerschensteiner in einem eigenwilligen Sprachbild. Abbildung 51: Gerorg Kerschensteiner: Kinderzeichnung einer Schneeballschlacht, in: Kerschensteiner 1905, Taf. 118 (UBH).

Abhilfe sollte ein neuer, entwicklungspsychologisch fundierter Lehrgang schaffen, ruhend auf einer so überwältigenden empirischen Grundlage, dass sein Geltungsanspruch allen Zweifeln enthoben sein würde. Kerschensteiner rief dazu einen Feldversuch ins Leben, an dem alle Volksschülerinnen und -schüler Münchens teilnahmen und der dadurch nicht weniger als 58.000 Probandinnen und Probanden zählte. Am Ende entstanden im Rahmen dieses Experiments ca. 500.000 Kinderzeichnungen, die von Kerschensteiner und seinem Team entlang zweier Leitfragen ausgewertet wurden: »Wie entwickelt sich die graphische Ausdrucksfähigkeit des unbeeinflussten Kindes vom primitiven Schema bis zur vollendeten Raumdarstellung?« Sowie: »Welche Qualität der Ausdrucksfähigkeit kann bei Kindern von 6-14 Jahren billigerweise erwartet werden?«92 Dem Vorbild Sullys entsprechend ließ der Pädagoge zunächst Bilder der Eltern oder aber einer Klassenkameradin, eines Klassenkameraden frei nach dem Gedächtnis und der Phantasie zeichnen. Die zweite Aufgabe zielte auf die Darstellung von Pflanzen und leblosen Gegenständen wie Stühlen, Wasserkrügen oder Gebäuden; anschließend sollten die Kinder am Beispiel einer Schneeballschlacht versuchen, »einen Gesamtraum aus dem Gedächtnis bildlich wiederzugeben« (Abb. 51).93 Die letzten beiden Teile der Studie bein91 | Kerschensteiner 1905, S. 13 f. 92 | Kerschensteiner 1905, S. 7, Hervorhebung im Original. 93 | Kerschensteiner 1905, S. 10, Hervorhebung im Original.

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halteten Versuchsreihen zum Ornamentzeichnen und zum perspektivischen Zeichnen – also gewerblich orientierte Unterrichtsinhalte, die Kerschensteiner im Anschluss an die implizite Kritik Sullys naturgemäßer vermitteln wollte. Die Ergebnisse des Massenversuchs bildeten die Grundlage einer großangelegten Reform des Münchner Zeichenunterrichts, während der die bis dahin dominanten Geometriezeichenlehren Weishaupts und Herdtles aus den Schulen verbannt wurden. 1904 traten die Neuregelungen in Kraft. Ihnen voran stellte Kerschensteiner eine altbekannte Forderung, indem er betont: »Der Zeichenunterricht an den Volksschulen hat die Gesichtsvorstellungen auszubilden und das Vermögen, sie graphisch auszudrücken, in den Anfängen zu entwickeln.«94 Tatsächlich jedoch wird dieses traditionelle Credo nun ganz neu interpretiert: An Volksschulen wird der Zeichenunterricht eng mit dem Sachkunde-, Werk- und Handarbeitsunterricht verbunden, wobei die Mädchen, denen Kerschensteiner eine höhere Begabung für dekorative Arbeiten nachgewiesen hatte, verstärkt mit dem Pinsel zeichnen sollten. In den ersten vier Jahren wird auf Grundlage von Geschichten, Märchen und sonstigen Erinnerungen viel aus dem Gedächtnis gezeichnet, auch weil dadurch hochbegabte Schülerinnen und Schüler schneller auffällig werden. Diese Übungen sollen dann langsam in das Zeichnen von dreidimensionalen Objekten übergehen, die in der Oberstufe auch perspektivisch gemeistert werden müssen. »Formverhältnisse und Formunterschiede« festzustellen wird im Vergleich zur Bestimmung von »Material und Gebrauchsart des Gegenstandes« nebensächlich. Zudem halten Farbstifte, Farbkreide, Wasserfarben und gymnastische Freiarmübungen Einzug in das nun weniger als Zeichenund mehr als Kunstunterricht aufgefasste Fach. »Die Darstellung von abstrakten Formen, seien sie geometrischer oder ornamentaler Art,« sind hingegen in Kerschensteiners System »ausgeschlossen.«95 Sie sollen erst an weiterführenden Gewerbeschulen vermittelt werden – in geringen Anteilen dosiert und streng nach ihrem Gebrauchswert konzipiert. Die alte Vorgabe der Rationalisierung des Auges spielt von da an im Zeichenunterricht Bayerns keine Rolle mehr.96 Dass diese Entwicklung sich nicht allein auf den süddeutschen Raum beschränkte, sondern dort verglichen mit dem Norden sogar verspätet und eher gemäßigt vonstattenging, belegen die Reformbemühungen der Hamburger

94 | Kerschensteiner 1905, S. 490, Hervorhebung im Original. Hans Cornelius drückt sich in seiner einige Jahre zuvor erschienenen Reformschrift (vgl. Cornelius 1901) nahezu identisch aus und nimmt auch sonst viele Ideen Kerschensteiners zur Umbildung des Zeichenunterrichts vorweg. Das Zeichnen nach geometrischen Vorlagen verwirft Cornelius auf der Elementarstufe jedoch nicht vollständig. 95 | Alle Kerschensteiner 1905, S. 491 f. 96 | Vgl. dazu ausführlich: Jung 2001, Kap. V.

IV.  Sehen lernen

Lehrerschaft, zu der Kerschensteiner in engem Kontakt stand.97 Dort hatte die Protestbewegung schon auf der für alle Fächer höherer Lehranstalten bedeutsamen Schulkonferenz von 1890 wichtige Impulse setzen können.98 Darüber hinaus stand den Kunsterzieherinnen und Kunsterziehern im Norden durch die von Alfred Lichtwark und Karl Götze 1896 gegründete Hamburger Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung eine Plattform zur Verfügung, die man für gemeinsame Aktionen nutzte: Unter dem Titel Das Kind als Künstler veranstaltete der Verein 1898 beispielsweise eine vielbeachtete Ausstellung von Kinderzeichnungen in der Kunsthalle, um die Öffentlichkeit für die angeborenen ästhetischen Vermögen des Nachwuchses zu sensibilisieren. Zudem publizierten die Pädagogen Vorschläge für eine Neuausrichtung des Zeichenunterrichts gemäß den Bedürfnissen, Vermögen und Interessen des Kindes.99 Die Kernpunkte ihrer Agenda formulierte Götze in Wilhelm Reins Encyklopädischem Handbuch der Pädagogik im Rahmen seines Beitrags für das Lemma »Zeichenunterricht«: »Anknüpfung des ersten Zeichenunterrichts an die im Kinde ruhende Kunstanlage, damit Befriedigung des inneren künstlerischen Interesses des Kindes, überhaupt Betonung der künstlerischen Momente während des gesamten Unterrichts und gleichzeitiges Zurückdrängen der wissenschaftlichen Momente, Heranziehung von Lebens- und Naturformen, insbesondere der Pflanze, damit Einschränkung des Ornaments, möglichste Vermeidung abstrakter Lehrmodelle, größte Berücksichtigung der Farbe, Pflege der künstlerischen Darstellung nicht nur durch Zeichnen, sondern auch durch Malen. Im Betriebe des Unterrichts besonders in den oberen Klassen, möglichste Berücksichtigung der individuellen Begabung und Neigung des Schülers.«100

Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Geometrie und das Ornament erhielten die Reformer der 1890er Jahre mitunter auch von unerwarteter Stelle. So hatte der Schweizer Geologe Albert Heim in einem Züricher Vortrag mit dem Titel Sehen und Zeichnen (1894) ebenfalls konstatiert, dass der Zeichenunterricht der Gegenwart sich auf eine ganz »unrichtige Basis« gestellt habe. Heims Lösungsansatz bestand in der Rückbesinnung auf die Natur, denn nur »das direkte Zeichnen nach der Natur ist eine Schule des bewussten Sehens, eine Schule des Beobachtens.«101 Bestätigt fühlte er sich vor allem durch die Ästhetik steinzeitlicher Kunstwerke, die man in Deutschland und der Schweiz seit den Gra97 | Vgl. Kerschensteiner 1926, S. 70 f.; Wehle 1980, S. 179-193. 98 | Vgl. zu dieser Schulkonferenz Koneffke 1973. 99 | Vgl. Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung Hamburg 1898. 100 | Götze et al. 1899, S. 731 f. Gleichlautende Forderungen stellten die Pädagogen schon auf der Schulkonferenz von 1890. 101 | Heim 1894, S. 16 u. 9, Hervorhebung im Original.

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bungen Oscar Fraas an der Schussenquelle (1866) in großer Anzahl entdeckte. Heim selbst hatte 1874 am Schaff hausener Kesslerloch eines der bis heute spektakulärsten Objekte jungpaläolithischer Kunst bergen können:102 einen Lochstab aus Geweih, auf dessen Schaft ein weidendes Rentier naturgetreu eingraviert wurde (Abb. 52). Allein aus der genauen Beobachtung der Wirklichkeit und aus einem tiefen Verständnis des Gegenstandes heraus seien solche »Tierzeichnungen von packender Naturwahrheit« entstanden und nur vermittels einer Renaissance dieses Prinzips im Unterricht könne man in Zukunft erneut auf Zeichnerinnen und Zeichner ähnlichen Formats hoffen, so die Argumentation Heims.103 Abbildung 52: Albert Heim: Steinzeitliche Rentiergravur, in: Heim 1874, Taf. 1 (UBH).

Der Geologe antizipierte damit eine der zentralen Reformforderungen, die wenig später auf dem ersten von insgesamt drei Kunsterziehungstagen, der im September 1901 »etwa 250 Lehrer, Künstler, Beamte, Kunsthistoriker u.s.w. in dem schönen Elbflorenz zusammengeführt« hatte,104 debattiert wurden. Das Oberthema der Konferenz war die bildende Kunst an Vor- und Volksschulen, 102 | Vgl. Heim 1874. 103 | Heim 1894, S. 20. 104 | Lange 1902, S. 5.

IV.  Sehen lernen

und es war ihr Ziel,105 neue Maßnahmen in den Bereichen Lehrerausbildung, Lehrmittelproduktion und Schulhausbau zu erörtern, mit deren Hilfe das Recht eines jeden Menschen auf die Erweckung der »in ihm schlummernden Kräfte der Anschauung und des künstlerischen Genusses« zur Geltung kommen sollte.106 Der Tübinger Ordinarius für Kunstwissenschaft Konrad von Lange war neben Götze und Lichtwark einer der Initiatoren der Tagung. Von Lange publizierte die Ergebnisse der Zusammenkunft wenig später in seiner Schrift Das Wesen der künstlerischen Erziehung (1902) und macht dabei deutlich, dass für ihn der Zeichenunterricht der Gegenwart schon deshalb untragbar war, weil er nicht auf den zwei jahrhundertealten Säulen der bildenden Kunst stand. Denn weder ein »gesteigerte[s] Wertlegen auf den Zusammenhang mit der Natur« noch eine »starke Betonung der künstlerischen Persönlichkeit« sei in den Curricula der Gegenwart erkennbar.107 Stattdessen dominieren »mathematische Belehrungen«, das »einseitige Betonen der äusseren technischen Routine« und das »Herumreiten auf bestimmten Methoden«108 – Verfahren, die bei den Schülerinnen und Schülern letztlich nur Langeweile evozieren und sie dadurch von der Kunst entfremden würden. Die Argumente Götzes, Heims, von Langes und vieler weiterer Kolleginnen und Kollegen führten letztlich auch im Norden zu einer faktischen Umgestaltung der Schwerpunkte und der Didaktik des Zeichenunterrichts.109 Regionale Publikationen der Folgejahre, wie etwa Fritz Kuhlmanns vierteilige Bausteine zu neuen Wegen des Zeichenunterrichts (Abb. 53) mit Heften zum Pinsel- (1903), Gedächtnis- (1903) und Menschenzeichnen (1905) sowie einem Band zum Thema Museum und Zeichenunterricht (1903),110 zeugen noch heu105 | Die späteren Tagungen in Weimar (1903) und Hamburg (1905) kreisten um die Themen »Sprache und Dichtung« sowie »Musik und Gymnastik«. Vgl. dazu Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin 1929; o. A. 1906; o. A. 1904, dazu auch: Muthesius 1904; o. A. 1902. 106 | Lange 1902, S. 6. 107 | Alle Lange 1902, S. 16 f. Lange hatte seine ästhetischen Überzeugungen kurz zuvor in der zweibändigen Schrift Das Wesen der Kunst. Grundzüge einer realistischen Kunstlehre (1901) dargelegt, dazu Prange 1997. 108 | Lange 1902, S. 20. 109 | Diese Entwicklung wurde von der Forschung bereits gut aufgearbeitet, vgl. LutzSterzenbach 2015, S. 216-229; Suthor 2015; Priebe 2010, S. 12-32; Skladny 2012 (2009), S. 166-169; Jung 2001, Kap. IV; Kerbs 1998; Weiss 1996, S. 112-119; Kerbs 1976. Zu den Auswirkungen der Reformpädagogik auf Schule und Unterricht allgemein Tenorth 1992, S. 180-213; Oelkers 2005; Röhrs 1991, S. 68-101; Scheibe 1994, S. 139-170. 110 | Vgl. dazu Teutenberg 2015c; zu Kuhlmanns Schreibunterricht Suthor 2015.

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te von der Aufbruchsstimmung dieser Zeit. Gleiches gilt für die Einrichtung erlebnispädagogischer Freiräume nach dem Vorbild der Wiener Jugendkunstklasse Franz Čižeks, im Zuge derer die alten Zeichensäle in moderne Ateliers voll von unterschiedlichen Medien und Materialien verwandelt wurden.111 Trotz diverser Rückschläge und reaktionärer Phasen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind viele Errungenschaften der Kunsterziehungsbewegung noch immer spürbar. Am Beispiel des Zeichenunterrichts wird damit deutlich, dass Foucaults Bild von der fortschreitenden Disziplinierung der Gesellschaft durch zu diesem Zweck ins Leben gerufene Institutionen und Techniken zu dunkel geraten ist. Denn der Niedergang der Linear- und Geometriezeichenlehren im 20. Jahrhundert, der zugleich auch den Verfall des von ihnen aufrechterhaltenen visuellen Regimes bedeutet, impliziert, dass sich einzelne Zahnräder durchaus wieder aus dem Mahlwerk der Macht lösen und neue Funktionen übernehmen können. Abbildung 53: Fritz Kuhlmann: Das Gedächtniszeichnen und Malen, in: Kuhlmann 1903, Taf. 1 (Privatbesitz).

111 | Vgl. zu Čižek vgl. Heilmann /  N anobashvilli / Teutenberg 2015; Laven 2006, Kap. 3 u. 4; Kelly 2004, S. 81-91; Smith 1996, S. 59-78; Efland 1990, S. 195-199; Bisanz 1985.

Die Anschauung der Kunst

V. Vom Erkalten des Blicks Wahrnehmungsweisen von Architektur und Kunst   19. Jahrhunderts in der ersten Hälfte des

F ormatierte A ugen Es existiert kein Lehrbuch, das den zeichenpädagogischen Augenkult im 19. Jahrhundert pointierter zum Ausdruck bringt, als Caspar H. Tappes Vorlagenwerk für den Ersten Unterricht im Figurenzeichnen von 1825.1 Zum Autor hat sich kaum biographisches Wissen erhalten, nur so viel: Der Lüdenscheider Zeichenmeister war spätestens seit 1813 Mitglied der Nationalmutterloge Zu den drei Weltkugeln und damit Teil einer Sozietät, deren vulgärplatonische Ideologie von einem verklausulierten, an der christlichen, buddhistischen und altägyptischen Religion orientierten Symbolsystem repräsentiert wird. Wenn Tappe also zu Beginn seines knappen Begleittextes das Auge als »das Bild […] des Reinsten« vorstellt, da es wie auch das Feuer für die Lebenskraft als solche stehe, muss man sich wohl damit abfinden, dass diese Assoziation nicht restlos nachvollziehbar ist.2 Für die Entstehungszeit deutlich repräsentativer ist da schon die anschließende These, derzufolge das Sinnesorgan »als Massstab, Mittelpunkt, als Kern und Keim der ganzen Formenwelt anzusehen« sei. Ausgehend von dieser Prämisse beginnt der Unterricht im Figurenzeichnen mit einer minutiösen Formatierung der Anatomie des Auges vermittels der Grundformen Kreis, Rechteck und Dreieck, bevor ausgehend von diesen Figuren in einem zweiten Schritt ein Referenzsystem zur Zeichnung ideal-schöner Gesichter entwickelt wird (Abb. 54), denn in der Wahrnehmung des Autors ist 1 | Vom selben Autor sind noch drei weitere, lose miteinander verbundene Publikationen bekannt: Die Elemente des Zeichnens, vorzüglich des Landschaftszeichnens (1817), Das Bild von Atma oder Grundlinien der Zeichenkunst (1824) sowie Puncte oder Anfangsgründe im Zeichnen (1824). Zu Tappe vgl. Fitzner 2014; Teutenberg 2014b. 2 | Zur Freimaurersymbolik Lennhoff / P osner / B inder 2011. Das Auge wird dort als Symbol der Logenmeister eingeführt und spielt ferner in »das esoterische Moment besonders betonenden Systemen eine Rolle« (S. 96), die jedoch nicht weiter beschrieben wird.

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Die Unter weisung des Blicks

»dasjenige Profil […] das schönste, das über die Hauptformen des Organs gezeichnet ist, welches das Bild der Weisheit und der Vollkommenheit« darstellt.3 Das Vorlagenwerk erweist sich somit als Wanderer zwischen den Extremen: Einerseits gehört es durch seinen Freimaurerbezug sicher zum Skurrilsten, was die Zeichenpädagogik des 19. Jahrhunderts insgesamt zu bieten hat. Andererseits könnte es hinsichtlich seiner Augenobsession kaum konventioneller ausfallen, verbildlicht es doch exakt jene auf den Blick bezogenen Regulationsutopien, die seinerzeit in der Pädagogik so sehr en vogue waren. Abbildung 54: Caspar H. Tappe: Der Augenmensch, in: Tappe 1825, Taf. 4 (Privatbesitz).

Tappes Publikation ist jedoch nicht nur in Bezug auf den vorangegangenen Teil dieser Studie von Interesse. Sie provoziert überdies Fragen nach der Wirkungsgeschichte der pädagogischen Konditionierung des Sehsinns jenseits der klassischen Erziehungswissenschaften und leitet dadurch zu den nächsten Kapiteln der vorliegenden Unterweisung über. Die darin vertretene These lautet wie folgt: Der pädagogische Blick ist ein machtvoller Akteur auf jenem diskursiven Feld, aus dem sich im 19. Jahrhundert die vielen Formalismen in den Geistesund Naturwissenschaften wie auch in der bildenden Kunst erhoben haben. Der 3 | Alle Tappe 1825, Titelblatt.

V.  Vom Erkalten des Blicks

durch die Anschauungspädagogik eingeführte, auf die Grundformen und Proportionen der Dinge gerichtete visuelle Stil trug seinen Teil dazu bei, dass in dieser Phase das Interesse klassischer Beobachtungsdisziplinen an sichtbaren und unsichtbaren geometrischen Figurationen und mathematischen Verhältnissen prosperierte. Diese These lässt sich allerdings nur erhärten, sofern es gelingt, den pädagogischen Blick in jene epochenübergreifende Entwicklung zu integrieren, die Norbert Elias im Rahmen seiner Schrift Über den Prozeß der Zivilisation (1939 / 69) historisiert hat: Der Soziologe erkennt dort in der zunehmenden Vergesellschaftung des westeuropäischen Subjekts vom frühen Mittelalter bis zur Moderne das Resultat einer fortschreitenden Domestizierung des Körpers vermittels sozialer Normen. Entscheidend ist dabei, dass der erörterte psycho- bzw. soziogenetische Wandel für Elias nicht das Ergebnis einer von langer Hand geplanten, rational kalkulierten Regulationsstrategie ist, denn längst nicht alle Anläufe zur »Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung« seien auch erfolgreich gewesen.4 Nur wenn aus Fremdzwängen Selbstzwänge wurden, d. h., wenn ursprünglich von außen auferlegte Disziplinen zur Steuerung und Kontrolle des Trieb- und Affektlebens sich so weit im Subjekt verankerten, dass es sich selbst für ihre Verwirklichung verantwortlich fühlte, spricht Elias von einer nachhaltigen Modellierung des Volkskörpers im zivilisatorischen Sinne. Wenn im Folgenden Betrachtungen und Beschreibungen von Kunst- und Architekturphänomenen herangezogen und auf einen Wandel in der Wahrnehmungskultur des langen 19. Jahrhunderts hin geprüft werden,5 dann immer auch als Indiz dafür, dass sich in dieser Zeit auf sozialer Ebene etwas ereignete, dass Tappes Bildphantasie vom formatierten und formatierenden Auge sehr nahe kommt. Die Kunstgeschichte wird in diesem Zusammenhang viel Raum erhalten, denn diese Disziplin entwickelt im 19. Jahrhundert großen Eifer, ihre Untersuchungsgegenstände ausgehend von visuellen Befunden in stilistische Ordnungen und historische Abfolgen zu überführen. Das Fach bietet dadurch einen reichen Fundus an Wahrnehmungsprotokollen, anhand derer sich Ver4 | Elias 1997-2010, Bd. 3.2 (1997), S. 323. 5 | Pädagogische Passagen, die zu entsprechenden Schlüssen einladen, stehen immerzu unter dem Generalverdacht, nur der eigenen Sache das Wort zu reden, so etwa die Äußerung des Pestalozzi-Mitarbeiters Johann Christoff Buss, der sich bezogen auf die Zeit der Edition des ABC der Anschauung (vgl. dazu Ashwin 1980, S. 12 ff., 28 ff.) erinnert: »Ich wußte vorher nicht, daß die Kunst nur aus Linien bestehe. Jezt stand plötzlich alles, was ich sahe, zwischen Linien, die ihren Umriß bestimmten. Ich hatte in meiner Vorstellung die Umrisse nie vom Gegenstand getrennt, jezt rissen sie sich in meiner Einbildungskraft allgemein von ihm los, und fielen in Ausmessungsformen, die jede Abweichung mir zwar haarscharf bestimmten; aber so wie ich im Anfang nur Gegenstände sah, sah ich jezt nur Linien.« (Pestalozzi 1927-94, Bd. 13 [1932], S. 236, Hervorhebung im Original).

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änderungen der Auffassungsweise über einen langen Zeitraum nachvollziehen lassen. Am Beginn dieser Geschichte stehen unterschiedliche Formen kunstund architekturhistorischen Sehens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die zu adressieren die notwendige Grundlage schaffen soll, um im Anschluss neu hinzukommende Wahrnehmungsstile klar herausstellen zu können.

A spek te der A rchitek tur - und K unstbeschreibung um 1800: W inkelmann , G oe the , H einse  – F iorillo , W aagen , Passavant In Deutschland beginnt die Geschichte der Architektur- nicht anders als die der Kunstgeschichtsschreibung mit Johann Joachim Winckelmann.6 Insbesondere seine 1762 erschienenen Anmerkungen über die Baukunst der Alten lassen sich aufgrund des quellenkritischen, auf empirischen Beobachtungen basierenden Ansatzes als Gründungsurkunde der modernen Architekturhistoriographie lesen.7 Für das Textverständnis ist vor allem ein Umstand entscheidend: War die Geschichte der antiken Baukunst zuvor überwiegend von praktizierenden Architekten verfasst worden,8 so tritt mit Winckelmann jetzt ein ›fachfremder‹ Gelehrter auf den Plan, der sich dazu genötigt sah, seine Expertise in besonderem Maße herauszustellen. Der Autor selbst war sich seiner Außenseiterrolle sehr wohl bewusst, wie seine wiederholte Kritik an den konkurrierenden Darstellungen Vitruvs und Perraults deutlich macht, ebenso wie eine Stelle im Vorbericht der Abhandlung, die zu verstehen gibt: »Ueber das, was ich hier von der Baukunst geschrieben habe, kann ein Gelehrter, welcher die Alterthümer aufmerksam untersuchet, und die erforderlichen Kenntnisse dazu hat, ebenso gründlich, als ein Baumeister, reden.«9 Vor diesem Hintergrund erklärt sich nicht nur der über weite Teile spröde, deskriptive und detailversessene Charakter des Textes, sondern auch seine implizite Distanznahme zu Burkes wenige Jahre zuvor erschienener Enquiry und den zeitgenössischen

6 | Vgl. Haupt 2014. 7 | Vgl. zu den Anmerkungen Testa 2010; Testa 2009; Gross / K unze 2001; Bisky 2000, S. 11-19; Miller 1986; Dummer 1977; Justi 1898, S. 333-336. 8 | Der Jesuitenabt und Diplomat Marc-Antoine Laugier stellt mit seinem zunächst anonym publizierten Essai sur l’architecture (1753) sowie mit den späteren Observations sur l’architecture (1765) eine vergleichbare Ausnahme dar. Vgl. zu den Figuren der Wissenschaftsgeschichte der Altertumsforschung im 18. Jahrhundert Kruft 2013, Kap. 17. 9 | Winckelmann 1996 ff., Bd. 3 (2001), S. 16.

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Spekulationen über die Ästhetik der Monumente bzw. die sublime Wirkung ihrer Ruinen.10 Winckelmanns Untersuchung gliedert sich in zwei Kapitel: Das Erste bildet einen Abschnitt zum »Wesen der Baukunst«, welches er über das Material (Ziegel, Steine, Mörtel), über technische Verfahren (u. a. Gewölbe- und Mauerbau) sowie über die Hinwendung zu konstitutiven Architekturelementen (Säulenordnungen, Türen, Dachformen etc.) zu bestimmen versucht. Der zweite Teil ist der »Zierlichkeit« gewidmet, handelt also von fakultativen Dekorationsund Schmuckformen der Fassade und des Gebäudeinneren. Versucht wird somit weder die Rekapitulation der Leistungen bedeutender Architekten der Antike, noch eine kanonische Zusammenstellung historischer Bauwerke, die einige Jahrzehnte zuvor Johann Bernhard Fischer von Erlach in seiner Stichserie Entwurff einer historischen Architectur (1721) vorgelegt hatte.11 Winckelmanns Interesse galt vielmehr der Autopsie der antiken Baukunst anhand von Originalen, aber auch Zeichnungen, Stichen und Reiseberichten mit dem Ziel, Aussagen über typische Bauformen und Konstruktionstechniken zu treffen, die den klassizistischen Architekten seiner Gegenwart von Nutzen sein sollten. Systematische Beschreibungen einzelner Bauwerke sucht man im Hauptteil der Schrift daher vergebens. Lediglich in der Vorrede finden sich entsprechende Passagen, bezogen auf die Überreste Paestums, die Winckelmann aus eigener Anschauung kannte, jedoch ebenso aus Zeichnungen der Stadtanlage, die Graf Felice Gazzola Mitte des 18. Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte und die Carlo Fèa passenderweise für seine italienische Übersetzung der Anmerkungen nachstechen ließ (Abb. 55).12 Im Zentrum stehen die Tempelanlagen der Ruine, die Winckelmann zu den ältesten und noch dazu besterhaltensten griechischen Gebäuden überhaupt zählt: Beide Tempel seien »Amphiprostyli, das ist, sie haben einen freyen Säulengang rings umher, und vorne und hinten eine freye Halle.« An der Vorder- und Rückseite zählt er jeweils sechs Säulen, an den Seiten beim kleineren dreizehn, beim größeren vierzehn Stützen. Die Cella der Bauwerke sei wie gewohnt von Mauern umschlossen und vom Boden um drei Stufen abgesetzt. Die Cella des größeren Tempels habe zudem vorne und hinten eine »besondere Halle von zwo Säulen«, das kleinere Bauwerk hingegen nur an seiner Schauseite. Alle Säulen seien »dorisch und gereift« und kommen ohne Basen aus.13 Insgesamt belaufen sich die Maße der Tempel laut Winckelmann auf 386 × 96 bzw. 76 × 55 Handbreit. 10 | Eine Ausnahme bilden die wenigen Sätze zu Beginn des zweiten Teils, in denen sich Winckelmann zum idealen Verhältnis von Kernbau und Schmuckformen äußert, vgl. Winckelmann 1996 ff., Bd. 3 (2001), S. 52. 11 | Vgl. dazu zuletzt Neville 2016. 12 | Vgl. Winckelmann 1784; Gross / K unze 2001, S. XXIX. 13 | Alle Winckelmann 1996 ff., Bd. 3 (2001), S. 17 f.

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Abbildung 55: Carlo Fèa: Tempel in Paestum, in: Winckelmann 1784, Taf. III (ZI).

Der Fokus der Architekturbeschreibung liegt demnach auf der Quantifizierung und Kategorisierung des Gesehenen, auf der nüchternen Bezifferung von Maßen und Mengen wie auch auf der korrekten Bestimmung zentraler Bauformen und -elemente. Vergleichbar mit akademischen Architekturtraktaten des 18. Jahrhunderts liegt auch Winckelmanns Arbeit ein mechanistischer Architekturbegriff zu Grunde,14 dessen wichtigstes Organon ein dissoziativer, auf Elementarisierung ausgerichteter Blick darstellt  – nahezu desinteressiert an metaphysischen Fragen der Schönheit und Formpsychologie, die der Autor zuvor in den Gedanken über die Nachahmung (1755) noch mit großer Hingabe verfolgt hatte. Dass ein Gebäude mehr sein kann, als die Summe seiner Teile, sollte erst die nachfolgende Generation von Architekturliebhaberinnen und -liebhabern betonen. Auch sie stellte dabei die Prämisse der eigenen Anschauung vorne an, rückte jedoch ab vom Ideal des sachlich-objektiven Reports zu Gunsten leidenschaftlicher Stimmungsbilder, dargeboten in der überhöhten Form literarischer Ereignisse. Diese Neuakzentuierung tritt zuallererst beim jungen Goethe in Erscheinung. Zu spät kommen dazu jedoch die Schilderungen seiner frühesten Italienreise (September 1786 bis Mai 1788), die der Dichter bekanntlich erst 1816 / 17 in Form eines zweibändigen Reisetagebuchs herausgab.15 Denn wie Andreas Beyer und Norbert Miller konstatieren, hatte Goethe zu diesem Zeitpunkt bereits den Glauben an die Ekphrasis als Medium der Kunstvermittlung verloren und in einer durchaus »gegenromantische[n] Wendung […] ganz auf 14 | Vgl. Kruft 2013, Kap. 13. 15 | Vgl. dazu Beyer / M iller 1992, S. 669-700.

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ein ›sich verströmen‹ angesichts der Kunstwerke und fast völlig auf deren Beschreibung« verzichtet.16 Exemplarisch ist in dieser Beziehung etwa der Brief vom 23. März 1787, in dem auch der Frankfurter seine Eindrücke von Paestum schildert. Abgestoßen von den »stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen« der dortigen Tempel, die im ersten Moment »lästig ja furchtbar« erschienen, muss Goethe dort erst aus der Rolle des Kunstliebhabers in diejenige des Historikers schlüpfen, um die Bauten in aller Kürze wenigstens als Zeitzeugen einer vergangenen Hochkultur würdigen zu können. Zu sehr verwöhnt war sein Blick bereits durch die »schlankere Baukunst« seines geliebten Palladios und die arkadischen Landschaften Claude Lorrains oder Nicolas Poussins, gegenüber denen die natürliche Wirkung der Ruinen unerfreulich abfiel.17 Anders verhält es sich im Aufsatz Von Deutscher Baukunst (1772),18 der nicht nur Goethes literarisches Debüt markiert, sondern auch das erste Mal, dass »ein Gebäude des Mittelalters ins Zentrum ästhetisch-formaler Analyse gestellt und somit in den Rang eines echten Kunstwerks erhoben« wurde.19 Am Beginn der dramaturgisch inszenierten Beschreibung steht keineswegs – wie oft verkürzt angenommen wird – Goethe selbst, sondern ein fiktionaler Ich-Erzähler und erklärter »Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gothischer Verzierungen«, der sich aus Lust am Schauerlich-Hässlichen auf den Weg zum Münster macht. Denn den »Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks« und von dem erlernten klassizistischen Wissen um die verbindlichen Gesetze des Architekturschönen – die »Harmonie der Massen«, die »Reinheit der Formen« – hatte dieser dort nichts anderes zu erwarten, als den »Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers«. An der Kathedrale angelangt, wird der Betrachter jedoch von einer »unerwarteten Empfindung« überrascht: »Ein, ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.« Fasziniert und zugleich intellektuell überwältigt kehrt der Ich-Erzähler noch viele Male zur Kathedrale zurück, um »diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer älteren Brüder, in ihren Werken zu umfassen«, und die Kirche »von allen Seiten, aus allen Entfernungen in jedem Lichte des Tags zu schauen«, so auch an jenem schicksalhaften Abend, an dem sein »durch forschendes Schauen er16 | Beyer /  M iller 1992, S. 662. 17 | Alle Goethe 1985-2013, Bd. 15.1 (1993), S. 237. 18 | Zu Goethes erster Beschreibung des Straßburger Münsters: Frommel 2011; Forssman 2010; Mücke 2010; Arburg 2008, S. 187-199; Bisky 2000, S. 37-43; Niehr 1999, S. 29-63; Kremer 1997; Eck 1994, S. 103-113; Osterkamp 1991, S. 17-21; Liess 1985; Kruft 1982; Eibl 1981; Knopp 1979; Keller 1974; Frankl 1960, S. 417-428; Pevsner 1945; Beutler 1943; Koetschau 1926. 19 | Niehr 1999, S. 30.

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mattetes Aug« im Gegenlicht der Dämmerung endlich wahrnahm, wie die architektonische Mannigfaltigkeit des Baus zu einer in sich geschlossenen, einheitlichen Silhouette verschmolz. Durch dieses Erweckungserlebnis befeuert, erschließt sich dem Betrachter sukzessive die Regelhaftigkeit und die innere Notwendigkeit des Münsters – ein Prozess, den der Dichter in die Erzählform eines Dialogs zwischen seinem Protagonisten und dem Genius der Kirche, Erwin von Steinbach, einkleidet. Am Ende jener ereignisreichen Nacht steht die Bekehrung des Skeptikers zur ›deutschen Bauart‹: »Wie frisch leuchtet er im Morgenduftglanz mir entgegen, wie froh konnt ich ihm meine Arme entgegen strecken, schauen die großen, harmonischen Massen, zu unzählig kleinen Teilen belebt; wie in Werken der ewigen Natur, bis aufs geringste Zäserchen, alles Gestalt, und alles zweckend zum Ganzen; wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit. Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, daß mirs nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, daß in meine Seele ein Tropfen sich senkt, der Wonneruh des Geistes, der auf solch eine Schöpfung herabschauen, und gottgleich sprechen kann: es ist gut!« 20

Goethes Essay steht unverhohlen im Zeichen der Genieästhetik des Sturm und Drang: Diese wendete sich von der klassizistischen Regelpoetik ab und evozierte eine Konkurrenzsituation zwischen Subjekt und Kunstwerk, die der Interpretin, dem Interpreten eine bis an die Grenzen der sprachlichen Formlosigkeit reichende Überbietung des Gesehenen abverlangte.21 Mit anderen Worten: Ein Text über das Architekturgenie Erwin von Steinbach musste im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch selbst genialisch ausfallen und konnte dies nur, insofern die Verfasserin, der Verfasser in der Lage war, den lebendigen Nachvollzug der persönlichen Kunstschau im Rahmen eines literarischen Spektakels darzubieten. Wie Ernst Osterkamp zu Recht herausstellt, wird die Differenz zwischen Bild und Bildbeschreibung im Zuge dessen programmatisch vergrößert: »An die Stelle der dissoziativen Bildbeschreibung des Akademismus, die die Einheit des Kunstwerks in eine additiv nach dem Regelsystem zusammengetragene Folge von Einzelbeobachtungen auflöst, tritt so eine integrale Bildbeschreibung, die die Ganzheit des zu beschreibenden Werks über die Aussprache der von ihm ausgelösten Empfindung einholt.« 22

Auch die Schlüsselstelle des Textes – das Erweckungserlebnis im abendlichen Zwielicht  – bestimmt Osterkamp präzise. Ob der Wesensschau tatsächlich 20 | Alle Goethe 1985-2013, Bd. 18 (1998), S. 113 ff. 21 | Vgl. dazu Fleck 2006; Schmidt 1985; Peters 1982. 22 | Osterkamp 1991, S. 20.

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Goethes eigene Anschauungen vor Ort zu Grunde lagen, ist in der Forschung jedoch umstritten. Die Befürworterinnen und Befürworter der These gehen davon aus, dass der Autor seinen Text bereits während des Jurastudiums in Straßburg (1770-71) fertiggestellt und ihn einige Jahre später unverändert publiziert hat.23 Klaus Niehr hält die plausiblere Vermutung dagegen,24 dass nachträglich konsultierte Architekturtheorien und Graphiken das Fundament des Panegyrikus bilden  – dass also das Ereignis vor der Kirche eine literarische Fiktion darstellt.25 Auf welche Bildquellen Goethe konkret zurückgriff, scheint bislang noch ungeklärt, allerdings dürfte die Bedeutung von Georg Heinrich Behrs Straßburger Münster- und Thurn-Büchlein (1732), das der Dichter (wohl in der dritten Auflage von 1765) besaß,26 beträchtlich sein: Denn nicht nur die ausführlichen Erläuterungen des Oktavbüchleins hätten in ihm die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Kathedrale reifen lassen können, sondern auch das Faltblatt des Grundrisses (Abb. 56), welches die Logik des gebundenen Systems direkt augenfällig macht, und insbesondere die dunkel schraffierte, in Schrägstellung gegebene Ansicht der Südseite (Abb. 57), in der die plastische Vielfalt der Fassade zu einer einheitlichen Fläche reduziert erscheint.27

23 | Vgl. neben Osterkamp (1991) etwa Forssman 2000, S. 7; Liess 1985, S. 97; Frankl 1960, S. 417. Vgl. zu Goethes Straßburger Zeit Müller 1998. 24 | Vgl. Niehr 1999, S. 31-36. Zuvor hatten sich bereits Scherer, Beutler und Zimmermann für eine spätere Entstehung der Schrift ausgesprochen, die auch Kremer (vgl. 1997) behauptet, vgl. Zimmermann 1957; Beutler 1943, S. 25; Scherer 1879, S. 13. 25 | Zu Goethes architekturtheoretischen und ästhetischen Quellen, die hier im Einzelnen nicht besprochen werden können, Mücke 2010; Arburg 2008, S. 187-199; Niehr 1999, S. 29-63; Kremer 1997; Liess 1985; Knopp 1979; Keller 1974; Frankl 1960, S. 417-428. 26 | Vgl. Beutler 1943, S. 26 f. Die Forschung ist diesem Hinweis nicht entschlossen nachgegangen. Niehr (vgl. 1999, S. 49, 52) geht zwar auf das Büchlein ein, bringt es jedoch nicht mit dem Baukunstaufsatz in Verbindung. 27 | Der Stich stammt vom Elsässer Kupferstecher A. D. Dannegger und scheint auf einer Zeichnung Johann Jakob Arhardts von 1672 zu basieren, die heute in der Graphischen Sammlung der Albertina aufbewahrt wird, vgl. Liess 1985, Abb. 2. Dannegger musste auf diese zurückgreifen, da der Blick auf das Münster seinerzeit durch angesetzte Boutiquen, Läden und Hütten verstellt war. Noch Goethe hatte die Kirche unter diesen widrigen Umständen gesehen, vgl. dazu Niehr 1999, S. 49 ff.

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Abbildungen 56 und 57: Georg H. Behr: Grundriss (links) und Südseite des Straßburger Münsters, in: Behr 1765, [Taf. 3] (beide UBH).

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten fand der von Goethe angeschlagene »neue Ton […] in der Geschichte der Bildbeschreibung in Deutschland« viele Nacheiferer.28 Einer von ihnen war Wilhelm Heinse, der in seinem zweibändigen Renaissanceroman Ardinghello und die glückseeligen Inseln von 1787 Eindrücke einer ausgedehnten Italientour verarbeitete.29 Heinses Reise, die er »aus Geldmangel und Lust an körperlicher Bewegung zum größten Teil zu Fuß« unternommen haben soll,30 führte ihn von Juni 1780 bis September 1783 über die Schweiz und Südfrankreich bis zum Golf von Neapel, mit längeren Aufenthalten in Venedig, Florenz und vor allem Rom, wo er insgesamt fast zwei Jahre verbrachte.31 Den Helden seiner Italiänischen Geschichte – ein echter »›uomo universale‹, Maler und Stegreifdichter, auf der Guitarre so geschickt wie mit der Klinge, in allen körperlichen Übungen Meister, Schachspieler, Ingenieur, 28 | Osterkamp 1991, S. 21. Vgl. zur Wirkungsgeschichte des Texts Kremer 1997; Keller 1974. 29 | Vgl. Heinse 1998. Im Juli 1780 hatte er sich, dem Vorbild Goethes nacheifernd, ebenfalls an einer Beschreibung des Straßburger Münsters versucht, vgl. dazu Bisky 2000, S. 49-52; zum Ardinghello Hüfler 2012, Kap. 1; Baeumer 1998; Elliott 1996, S. 127-179. 30 | Vgl. Hock 1969, S. 438. Vgl. zur Person ferner Fork 2007a; Waetzoldt 1986, Bd. 1, S. 117-131. 31 | Vgl. zu Heines Italienreise Lee 2001, Kap. 1; Zeller 1968; Kruft 1967.

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Korsar, schließlich Religionsstifter und Staatsgründer«32 – lässt der Autor dort an einem Dezembernachmittag das Pantheon besichtigen:33 Zunächst betritt Ardinghello den Pronaos des Tempels, dessen hohe unkannelierte Säulen korinthischer Ordnung ihn sogleich empfinden lassen, er käme »in das schönste Plätzchen eines Waldes von lauter hohen herrlichen Stämmen […], die ein Gott zu einer Zeit gepflanzt« habe. Angeregt von dieser Erfahrung führt sein Weg ins Innere des Rundbaus, das ihn sogleich »breit und mächtig […] umfaßt und bedeckt«, und dessen Säulen im feierlichen Dämmerlicht den Eindruck vermitteln, man habe soeben das Adyton eines griechischen Tempels – das »Allerheiligste der Gottheiten« – betreten: »Was dies für eine Ruh ist! wie einen so nichts stört! wie die Rundung mit Liebesarmen empfängt, wie ein leiser Schatten einen umgibt, so daß man das Gebäude selbst nicht merkt! Oben Heiterkeit und Freiheit und unten Schönheit. Überall ist der Tempel schön und harmonisch, man mag sich hinwenden, wo man will; überall wie die schöne Welt in ihren Kreisen von Sonn und Mond und Sternen. Endlich scheint alles lebendig zu werden und die Kuppel sich zu bewegen, wenn man an dem reinen süßen Lichte des Himmels oben durch die weite Öffnung sich eine Zeitlang weidet. Sooft ich mich so ins Stille hinsetze und meinem Gefühl überlasse, werd ich da entzückt wie von einem Brunnquell unter kühlen Bäumen zur heißen Zeit. Es ist das erhabenste Gebäude, das ich kenne«. 34

Die Stelle macht deutlich, dass die baulichen Elemente des Pantheons bei Heinse nur der Initiation intensiver Stimmungen und freier Assoziationen dienen, darüber hinaus jedoch kaum von Bedeutung sind. Kein Architekturraum wird hier geschildert, sondern die Kreation eines spontan errichteten Erfahrungsraums. Das Pantheon wird dabei zu einem magischen Ort verklärt, dessen besondere Qualität gerade darin besteht, dass alles Faktische fast wie von selbst in den Hintergrund rückt und der ungezügelten Selbstschau freien Lauf lässt.35 Einschränkend muss jedoch auch für Heinse angenommen werden, dass in Wahrheit Druckgraphiken rezipiert wurden. Giovanni Battista Piranesis weit verbreitete 135-teilige Stichserie Vedute di Roma (ab 1748) dürfte einen wichtigen Bezugspunkt dargestellt haben, denn dort wird der von Heinse beschriebene kinästhetische Effekt der rotierenden Rotunda besonders deutlich inszeniert (Abb. 58): Durch die Wahl des Bildausschnitts und die starken Hell-Dunkel-Kontraste scheinen sich die Säulen, Gesimse und Kassettenringe 32 | Hock 1969, S. 439. 33 | Vgl. dazu Bisky 2000, S. 52-55. 34 | Alle Heinse 1998, S. 256 f. 35 | Vgl. zu Heinses Beschreibungstechnik Lee 2001; Bisky 2000, S. 49-61; Baeumer 1997, Kap. 1; Sauder 1994; Baeumer 1964, Kap. IV; Rosenfeld 1939; Harnisch 1938, Kap. 1; Sprengel 1930; Jessen 1901.

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des Innenraums wie auf einer Umlauf bahn kreisend auf die Betrachterin, den Betrachter zuzubewegen.36 Abbildung 58: Giovanni-Battista Piranesi: Innenansicht des Pantheons (1790), in: Waddell 2008, S. 266 (ZI).

Der von Goethe und Heinse geprägte Modus der Architekturrezeption, bei dem immer auch implizite Kritik an der oberflächlichen Gelehrsamkeit des Akademismus mitschwingt, findet sich Ende des 18. Jahrhunderts vielerorts – unabhängig davon, ob wie bei Georg Forster vornehmlich gotische oder wie bei Wilhelm Heinrich Wackenroder in erster Linie frühneuzeitliche Bauformen adressiert wurden.37 Zeitgleich brach sich dieser visuelle Stil auch in Gemäldebeschreibungen Bahn – ein kunstliterarisches Genre, das im Zuge der Öffnung fürstlicher Sammlungen und der Einrichtung öffentlicher Museen seit der Spätaufklärung prosperierte. Hubert Lochers Forschungen machen ersichtlich,38 dass insbesondere frühe Galerieberichte – Wilhelm Heinses Schriften Über einige Gemälde der Düsseldorfer Galerie (in: Teutscher Merkur, 1776 / 7 739) oder Friedrich Schlegels Berichte aus dem Musée Napoléon (in: Eu-

36 | Die Stiche Piranesis werden in der Forschung gerne unkommentiert herangezogen, um die Pantheonbeschreibung Heinses zu illustrieren. Die suggestive Kraft der Bilder wird dabei jedoch unterschätzt, vgl. Bisky 2000, S. 52 f.; Heinse 1998, Abb. 23. 37 | Vgl. zu beiden einführend Bisky 2000, S. 181-200. 38 | Vgl. Locher 2007; Locher 2007; ferner: Prange 2004, S. 99-107. Natürlich bot hier die französische Salonkritik Inspiration, vgl. dazu am Beispiel Diderots: Schmitz-Emans 1999, S. 59-88. 39 | Vgl. dazu Wilhelm 2015; Pfotenhauer 1995; Boehm 1991.

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ropa, 1803-0540) – auf jenen Maximen der Ekphrasis basieren, die auch für die dionysische Architekturbetrachtung um 1800 verbindlich waren. Zur gleichen Zeit erhebt sich jedoch auch eine Textgattung, die mit der romantischen Tradition bricht und nach objektiven Kriterien des Kunsturteils sucht: der Galeriekatalog.41 Galeriekataloge – Christian von Mechels Verzeichniß der Gemälde der kaiserlich königlichen Bilder Gallerie in Wien (1781) gilt als wegweisendes Frühwerk der Gattung42 – werden von Kuratorinnen und Kuratoren damals wie heute erstellt, um die Bestände, die Ordnung und die Schwerpunkte einer Sammlung zu dokumentieren. Sie sind systematisch verwand mit den älteren, gewöhnlich nicht zur Publikation vorgesehenen Inventarbüchern von Kunst- und Wunderkammern. Im Unterschied zu diesen aber rechnet der Katalog mit bürgerlicher Öffentlichkeit in der Sammlung und versucht sich über Datenköpfe und Kurzcharakterisierungen an der Vermittlung zentraler Charakteristika eines jeden Ausstellungsstücks. Johann Dominik Fiorillos Publikation der Gemählde-Sammlung der Universität zu Göttingen von 1805 gibt einen Eindruck von den ekphrastischen Standards solcher Kataloge im frühen 19. Jahrhundert: Fiorillo  – seines Zeichens erfolgloser Historienmaler und ab 1799 in Göttingen deutschlandweit erster Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte43 – war ebenda von 1796 an Kustos der neu gegründeten Universitätsgalerie, die einzurichten möglich wurde, nachdem der Celler Jurist und Privatsammler Johann Wilhelm Zschorn der Georgia Augusta ein Jahr zuvor mehr als 270 vornehmlich niederländische Kunstwerke des 17. und 18. Jahrhunderts überlassen hatte.44 Bemerkenswert an Fiorillos Publikation ist vor allem die Einleitung: Dort reagiert der Autor nach eigenem Bekunden auf die unter reisenden Kunstliebhaberinnen und Kunstliebhabern verbreitete Gewohnheit, bei der Bildbetrachtung vorschnell oberflächliche Geschmacksurteile über die Erhabenheit und Schönheit eines Werks zu fällen und dabei Fragen des Sinns und der Verfasstheit geflissentlich zu übergehen. Um diesem Reflex entgegenzuwirken, gibt der Maler den Besucherinnen und Besuchern seiner Galerie eine systematische Anleitung zur vernünftigen Kunstschau an die Hand und legt damit zugleich die eigenen Beurteilungskriterien offen: Zuerst solle man den korrekten »Gesichts- und Entfernungspunct« zum Bild einnehmen; danach sei es entscheidend, sich einen 40 | Vgl. Schlegel 1995. 41 | Vgl. zu den Merkmalen der Textgattung »Galeriekatalog« und ihrer Entstehung Schürmann 2018, Kap. 2; Schürmann 2012; Penzel 2007; Ketelsen 1990. 42 | Vgl. dazu Schürmann 2018, S. 51-61; Meijers 1995. 43 | Vgl. zur Person Betthausen 2007a; Schrapel 2004, Kap. 3; Hölter 1997; Hölter 1993; Dilly 1979, S. 173-183. 44 | Vgl. zur Geschichte der Universitätskunstsammlung Göttingen: Schrapel 2004, S. 75-78; Schnell 2001; Unverfehrt 1987, S. 9-17; Waetzoldt 1986, Bd. 1, S. 287-292.

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»Totaleindruck« vom Gemälde zu verschaffen und anschließend dem Bildinhalt auf den Grund zu gehen. Wichtige Indizien liefern der »Moment[,] den der Künstler gewählt hat, die Einheit des Gedankens, die Handlung der Figuren« sowie der »Grad des Ausdrucks« in ihren Gesichtern. Nachdem der Bildgegenstand auf diesem Wege identifiziert wurde, richtet Fiorillo den Blick auf formale Aspekte. Untersucht werden vor allem die Natürlichkeit der Körperzeichnung, die Plausibilität des Faltenwurfs und die Harmonie der Farbgebung. Erst wenn zu all diesen Punkten objektive Befunde vorliegen, sei es möglich, fundiert über die Qualität eines Werkes zu urteilen und festzustellen, ob sein »Charakter erhaben, rein, untadelich, kunstgerecht, mittelmäßig oder schlecht« ist.45 Schon seit dem Ende der 1790er Jahre war Goethe mit Johann Heinrich Meyer im Dialog über eine ›tabellarische Methode‹ zur objektiven Kunstbetrachtung.46 Im Rekurs auf Anton Raphael Mengs’ Gedanken über die Schönheit und den Geschmack in der Malerei (1762) versuchten beide, ein akademisches Kategoriensystem zu etablieren, das entlang von normativen, überzeitlichen Konzepten wie Erfindung, Anordnung, Ausdruck, Zeichnung und Farbgebung eine Dekonstruktion des Bildganzen bewirken und zu veri- bzw. falsifizierbaren Urteilen führen sollte. Fiorillos Katalog steht diesem apollinischen Zugriff sehr nahe, gleichzeitig erweist sich der Autor jedoch als Pragmatiker, denn er nahm zu keinem Zeitpunkt an, dass die Besucherinnen und Besucher seiner Galerie über die notwendige Muße und Expertise verfügen, eine derart professionelle Kunstschau selbstständig zu leisten. Die einzelnen Einträge des Katalogs nehmen ihnen daher durch konzise Informationen zum Bildinhalt sowie Qualitätsurteile über Zeichnung und Farbgebung viel Augenarbeit ab. Bilder, die den Kustos besonders begeisterten und die er als herausragende Stücke der Sammlung kennzeichnen wollte, werden ausführlich beschrieben. Die meisten Exponate handelt Fiorillo jedoch zügig ab – so etwa Salomon van Ruysdaels Landschaft mit Reisewagen von 1660 (Abb. 59), zu der man lediglich erfährt: »Aussicht einer holländischen Stadt nach der Natur copiert. Im Vorgrunde sind einige Kühe, einzelne Bäume und zwei Wagen, welche den Weg nach der Stadt nehmen, welche in der Ferne liegt. An einem Wagen steht das Zeichen SVR. Wiewohl das Bild eine gute Wirkung macht, so scheint es dennoch nicht die letzte Vollendung erhalten zu haben.« 47

Wie Anja Schürmann zu Recht betont, hat die Textgattung Galeriekatalog »die nachfolgenden Beschreibungsdiskurse der Kunstgeschichte nachhaltig initiiert und geprägt«48 – vor allem durch die dort vorgestellten und erprobten objektiven 45 | Alle Fiorillo 1805, S. VI-IX. 46 | Vgl. dazu Beyer 2006; Osterkamp 1991, Kap. III. 47 | Fiorillo 1805, S. 10 f., Hervorhebung im Original. 48 | Schürmann 2012, S. 170.

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Abbildung 59: Salomon van Ruysdael: Landschaft mit Reisewagen (1660), in: Büttner 2006, Abb. 86 (ZI).

Kriterien der Beschreibung und Beurteilung von Malerei. Frühe Künstlermonographien wie Gustav Friedrich Waagens Buch Ueber Hubert und Johann van Eyck (1822)49 – die erste kunsthistorische Dissertation überhaupt und zugleich eine Inkunabel der historisch-kritischen Niederlandeforschung50  – profitierten besonders von den ekphrastischen Standards dieser Textgattung. Waagen geht darin zunächst ausführlich auf die kulturhistorischen Rahmen- und die malereigeschichtlichen Vorbedingungen der van Eyck’schen Kunst ein, um Erkenntnisse über die Arbeitsumstände und den Charakter der Maler zusammenzutragen. Anschließend wird die Sekundärliteratur zum Thema diskutiert. Das Buch endet mit einem – wenn auch nicht nach stilkritischen, so doch nach kennerschaftlichen Kriterien erstellten – Werkverzeichnis, in dem sich Waagen einzelnen Gemälden, die ihm überwiegend aus der Sammlung Boisserée und dem Pariser Musée Napoléon bekannt waren, intensiver zuwendet. »Das größte und interessanteste Werk« der Brüder ist natürlich der Genter Altar.51 Zur Orientierung gibt der Autor seinen Leserinnen und Lesern zunächst ein (aus heutiger Sicht fehlerhaftes) Schema an die Hand (Abb. 60), dass das Retabel in geöffnetem wie geschlossenem Zustand zeigt und die ursprüngliche 49 | Vgl. zu Waagen: Betthausen 2007i; Bickendorf 2007; Locher 2001, S. 190-195; Geismeier 1995; Dilly 1979, S. 90-95; Waetzoldt 1986, Bd. 2, S. 29-45; Lier 1896; zur Entstehungsgeschichte der Künstlermonographie Schürmann 2018, Kap. 4; Guercio 1996. 50 | Vgl. zu Waagens Van-Eyck-Monographie Kemperdick / R ößler 2014; Bickendorf 2010; Prange 2004, S. 124-129; Guercio 1996, S. 116-145; Bickendorf 1991, S. 359374; Bickendorf 1985; Lunzer 1983, Kap. 3. 51 | Waagen 1822, S. 211.

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Abbildungen 60 und 61: Gustav F. Waagen: Schema des Genter Altars, in: Waagen 1822, S. 212 (UBH), und Gebrüder van Eyck: Anbetung des Lammes (1432-35), in: Herzner 1995, Taf. VI (ZI).

Anordnung der damals über halb Europa verteilten Bildfelder wie auch ihre Größenverhältnisse veranschaulichen soll. Alle Teile der Graphik sind mit arabischen Ziffern nummeriert und mit Kurztiteln versehen. Eine genauere Beschreibung der einzelnen Tafeln erfolgt im Fließtext – so auch zur Anbetung des Lammes im unteren Register der Festtagsseite (Abb. 61), das Waagen mit eigenen Augen in Paris (1815) und Gent (1819) hatte begutachten können: Zu sehen sei eine »Landschaft von der größten Klarheit und Heiterkeit«; im Vorderund Mittelgrund üppig mit Rosen, Lilien und Palmen bewachsen, im Hintergrund vor blauen Bergen mit einem Ausblick auf das himmlische Jerusalem; in der Mitte stehe das Lamm Gottes auf einem roten Altar, umgeben von Engeln, dem Kreuz und der Martersäule; »Versöhnungsblut« fließe aus seiner Brust in einen Kelch; aus den oberen Ecken des Bildes nähern sich Gruppen von Märtyrerinnen und Märtyrern; von unten rücken – getrennt durch einen bronzenen Wasserbrunnen – der weltliche und geistliche Stand heran. »Die Klarheit des Wassers im Brunnen, und die Kreise, welche darin von den herabfallenden Strahlen [des die Szene bekrönenden Heiligen Geistes, TT] erregt werden, sind bis zur Täuschung wahr ausgedrückt.«52 Darüber hinaus gilt für diese Tafel, was Waagen resümierend für den gesamten Altar festhält: »Die Mannigfaltigkeit der Stellungen und Trachten, die tiefe Naturwahrheit und Verschiedenheit in den Formen und dem Ausdrucke der Köpfe, welche die Zahl von 300 übersteigen, die genaue Ausführung vom Größten bis zum Kleinsten, das kräftige und doch zarte Colorit des Fleisches, die unbeschreibliche Lebhaftigkeit und Pracht der Farben, worin alles gleichsam verklärt ist, endlich das Großartige, Umfassende, und dabei dem Sinne

52 | Alle Waagen 1822, S. 218 ff.

V.  Vom Erkalten des Blicks jener Zeit Angemessene der Composition, machen dieses Kunstwerk zu einem der merkwürdigsten aus der ganzen altniederländischen Schule«. 53

Es erschließt sich aus diesen Zeilen direkt, was ihren Autor an der Kunst der van Eycks besonders imponierte, denn der selbst von den Italienern unerreichte Realismus der Malweise im Verbund mit der technischen Brillanz der Ausführung werden bei jeder Gelegenheit hervorgehoben. Damit steht Waagen einerseits in einer langen, von Vasari begründeten Tradition, im Zuge derer die handwerkliche Klasse der vermeintlichen Erfinder der Ölmalerei immer wieder betont wurde. Andererseits setzt er eine in der Kunstgeschichte viel jüngere Entwicklung fort, indem er anders als die introvertierten Romantiker und auch im Gegensatz zur Inventiobegeisterung der Klassizisten der faktischen Verfasstheit des Werks eine noch größere Bedeutung zumisst als vor ihm Fiorillo. Dennnoch darf nicht unterschlagen werden, dass auch Waagen vor dem Hintergrund eines idealistischen Kunstbegriffs urteilt, denn die Malerei der van Eycks wird von ihm vor allem deshalb geschätzt, weil sie der christlichen Glaubenslehre vermittels ihrer technischen Perfektion eine einzigartige Präsenz verschafft. Noch deutlicher kommt letzterer Aspekt in Johann Daniel Passavants Monographie Rafael von Urbino und sein Vater Giovanni Santi zum Tragen, die 1839 in zwei Teilen erschien und die 1858 noch um einen Ergänzungsband bereichert wurde.54 Dort lobt der Nazarener die Qualitäten der Kunst Raffaels in einer mit Waagen vergleichbaren Art und Weise:55 Herausragend sei vor allem die »frische Lebensfülle, diese alles durchdringenden, wahren Grundideen in seinen Darstellungen […], welche denselben die Macht der Wirkung geben, die in der Seele des Beschauers keinen Zweifel gestattet, ihn ganz in dem umschriebenen Kreis bannt und volle Genüge finden lässt.«56 Dieses Talent zur einnehmenden Verbildlichung von Universalien habe sich schon früh offenbart  – wenn auch noch nicht in letzter Vollendung. Beispielhaft dafür sei vor allem die Miniatur Christus auf dem Ölberg – ein heute verschollenes Frühwerk,57 von dem Passavant im Tafelband die einzige überlieferte Abbildung gibt (Abb. 62). Das Gemälde besticht für den Forscher besonders dort, wo es der Betrachte53 | Waagen 1822, S. 225. 54 | Vgl. zur Raffael-Monographie Passavants vgl. Sobieczky 2010; Hellwig 2005, S. 65-71; Osterkamp 2001; Guercio 1996, S. 226-255; Schröter 1990, S. 362-370. 55 | Vgl. zur Person Struckmeyer 2013; Betthausen 2007c; Locher 2001, S. 187-196; Schröter 1990; Waetzoldt 1986, Bd. 2, S. 14-29; Donner von Richter 1887. 56 | Passavant 1839-58, Bd. 1 (1839), S. 349. 57 | Das Bild wird seit über 100 Jahren vermisst, vgl. Golzio 1936, S. 15 f. In aktuellen Gemäldeverzeichnissen wird es daher nicht mehr erwähnt, vgl. Capellen 2001-08.

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rin, dem Betrachter gleich einem Psychogramm Auskunft über die Charaktereigenschaften und inneren Haltungen der Bildfiguren gibt. So sei »in Stellung und Kopf des Heilandes dessen Schmerz und Erhebung sehr ergreifend ausgedrückt«, wie auch »in Petrus das lebhafte, eifrige Temperament nach hergebrachtem Typus.« In Jakobus zeige Raffael zudem präzise »das Jesusähnliche und Edle« seines Charakters und »in Johannes das sanft Liebevolle.« Weit weniger gelungen seien dagegen die boshaften Antagonisten Jesu: »Gemeine und selbst teuflische Charaktere darzustellen«, sei Raffael aufgrund seines jugendlich-liebevollen Charakters, von dem schon Vasari berichtet, unmöglich gewesen. In der bewaffneten Schar des Mittelgrundes zeige der Urbinat daher fälschlicherweise »liebliche und würdige Gestalten« und in seinem Judas sei »keine Andeutung von Verrath zu entdecken«.58 Obgleich maltechnisch, anatomisch und kompositorisch in Vollendung dargeboten, lässt das Bild die Betrachterin, den Betrachter über die schlechten Absichten einiger Figuren im Unklaren und kommt damit seiner zentralen Repräsentations- und Vermittlungsfunktion nicht vollumfänglich nach. Auf Passavant wirkt es dadurch defizitär. Abbildung 62: Raffael: Christus am Ölberg, in: Passavant 1839-58, Bd. 4 (1839), Taf. 10 (UBH).

58 | Alle Passavant 1839-58, Bd. 1 (1839), S. 77 f.

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(G rund -)F ormalismus bei S chlegel , S tieglit z und S chnaase Diese wenigen Beispiele um viele weitere zu ergänzen, würde nicht schwerfallen – wohl aber, durch diese Zusätze wesentlich Neues zur Beschaffenheit der Wahrnehmungskultur in der Architektur- und Kunsthistoriographie des frühen 19. Jahrhunderts beizutragen. So vielfältig sich die Positionen im Einzelnen auch ausnehmen, lassen sich doch mindestens drei wiederkehrende, von den genannten Autoren jeweils unterschiedlich gewichtete Aspekte herausstellen: Ansätze zur literarischen Überschreitung und Überbietung des Gesehenen, Anläufe zur Reglementierung des ästhetischen Eindrucks und auch erste Versuche einer stärkeren Gewichtung technischer Facetten, insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Wirkung bzw. den Sinn eines Kunstwerks. Plädoyers für eine stärkere Berücksichtigung der Form sind in der Zeit um 1800 dagegen weitaus seltener. Nur wenige Ausnahmen lassen sich benennen, naheliegenderweise bezogen auf die Architektur. August Wilhelm Schlegels Kunstlehre,59 die dieser im Rahmen seiner öffentlichen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801-04) zwischen 1801 und 1802 in Berlin vorgestellt hat, ist eine von ihnen. Dort wird die prinzipiell zweckgebundene Architektur – ausdrücklicher als in früheren und späteren idealistischen Systemen60 – als Teil des Kanons der Künste begriffen, denn Schlegel erkennt in ihr eine Vermittlerin zwischen den gebundenen mechanischen und den freien schönen Künsten:61 Bauwerke seien zwar per se der Vorgabe der Nützlichkeit verpflichtet, deswegen jedoch keinesfalls rein utilitaristisch zu deuten, habe doch der Mensch immer auch nach anderen Kriterien als denen der Effektivität und Ökonomie konstruiert. Unter Architektur versteht der Philosoph daher »die Kunst schöner Formen an Gegenständen, welche ohne bestimmtes Vorbild in der Natur, frey nach einer eigenen ursprünglichen Idee des menschlichen Geistes entworfen und ausgeführt werden«, wodurch seine Definition – wie zuvor schon

59 | Vgl. zur Kunstlehre unter besonderer Berücksichtigung von Schlegels Äußerungen zur Architektur Bisky 2000, S. 203-216; Eck 1994, S. 114-124; zur Person Betthausen 2007e; Robson-Scott 1965, S. 146 ff.; Waetzoldt 1986, Bd. 1, S. 252-272; Muncker 1890. 60 | Vgl. zum traditionell niedrigen Stellenwert der Architektur in den idealistischen Systemen der Philosophie Drüeke 1981. 61 | Dennoch stellt die Architektur auch bei Schlegel keine wirklich eigenständige Kunstform dar. Sie wird wie zuvor auch bei Kant und Schelling aus der Plastik abgeleitet und am äußeren Rand der Kunstlehre platziert, in der die Poesie die Spitzenposition einnimmt.

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diejenige Kants62 – auch Gebrauchsgegenstände wie »Altäre, Candelaber, Vasen, Becher, Geschirre aller Art«, einschließt. Um eine ästhetische Wirkung zu erzeugen, müssen Architekturen bei Schlegel ebenso wie alle anderen Kunstformen das Bedeutsame ihrer Erscheinung offenbaren, nicht jedoch – wie etwa die Malerei – durch die Bezugnahme auf die ewigen Ideale des Guten und Wahren, sondern durch die Vermittlung des ihnen zu Grunde liegenden, auf menschliche Bedürfnisse reagierenden Zwecks. Darüber hinaus haben sie sich formal nach der Natur zu richten, wenn auch in erster Linie nicht mimetisch, sondern durch eine Orientierung an natürlichen Gestaltungsprinzipien. Als bekannt setzt Schlegel in diesem Zusammenhang voraus, »daß die Natur im Reich des unorganischen mit geometrischer Regelmäßigkeit producirt, wo sie ungestört wirkt.«63 Demzufolge muss auch der Architekt »zuförderst geometrisch und mechanisch bauen, darin besteht die architektonische Richtigkeit« und mithin das Fundament der Schönheit. Erst auf dieser Grundlage dürfe eine »freyere Ausschmückung« durch Ranken, Blumen oder Laubwerk erfolgen, mit deren Hilfe eine »unverkennbare Anspielung auf das Organische« erreicht werden soll. Die organischen Formen im Pflanzen- und Tierreich wachsen laut Schlegel nicht aufgrund mathematischer Prinzipien, sondern unterliegen einem freien, selbstbestimmten Werden, auf das sich die Architektur beziehen soll, um zumindest partiell wie eine autonome Kunstform zu wirken. In den Worten Caroline van Ecks: »Architecture does not imitate models taken from nature, but it does imitate or follow nature’s methods. Since architecture works with dead matter, it has to obey – to begin with – the mechanical and geometrical laws that govern its use, in order to satisfy the demands of architectural correctness: structural solidity and an adequate performance of its supporting tasks. Once this is done, the architect has the freedom to design ornaments; and these must have the form of an unmistakable allusion to the organic.« 64

Dass dabei jedoch der Zweck nie vom Schmuck überwuchert werden darf, macht Schlegel mit Blick auf »die gewundenen sogenannten Säulen« – etwa Berninis Bronzestützen für den Baldachin (1624-33) über dem Papstaltar im Petersdom (Abb. 63) – deutlich: »Die Säule ist zum Tragen bestimmt und darf daher nicht wie ein Schnörkel aussehen.« Ein letzter Bezug zur organischen Natur solle dann noch durch die symmetrische Gesamtanlage des Bauwerks eingebracht werden. Da das Prinzip der Symmetrie die körperliche Organisation des Menschen und der höheren Tiere bestimme, müsse sie auch allem, »was der menschliche Geist zu bestimmten Zwecken mit Ansprüchen auf schö62 | Vgl. Kant 1902 ff., Bd. 5 (1908), S. 322. 63 | Alle Schlegel 1989, S. 305 ff. 64 | Eck 1994, S. 116.

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ne Form hervorbringt«, unterliegen: »An einem Tempel sowohl als an einem Schrank, Stuhl oder Gefäß verlangen wir zwey gleiche Hälften zu sehen.«65 Abbildung 63: Gian Lorenzo Bernini: Baldachin für den Petersdom, in: Gurlitt 1887, Abb. 142 (ZI).

Schlegels Kunstlehre gelingt es dadurch, im Baukunstdiskurs um 1800 einen neuen Akzent zu setzen: Architekturschönheit wird nicht länger in der Tradition Claude Perraults als zwangsläufiges Resultat exakter und angemessener Proportionen erachtet, sondern als Konsequenz der zur Ausdrucksträgerin erhobenen Form. Vermittels eigener Anschauungen lassen sich Bauwerken seiner Theorie zufolge wichtige Informationen hinsichtlich der ästhetischen Standards vergangener Kulturen entnehmen, wodurch sie zu wertvollen Quellen der Geistesgeschichte der Menschheit werden. Bei Schlegel sind somit viele Leitfragen der Architekturhistoriographie des 19. Jahrhunderts bereits angelegt und seine Kunstlehre hätte leicht zu einem zentralen Bezugspunkt heran65 | Alle Schlegel 1989, S. 308 ff., Hervorhebungen im Original.

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wachsen können – allein, der Wirkungskreis der Schrift war durch ihre Editionsgeschichte stark eingeschränkt: Die Vorlesungen wurden vom »Publikum der besten Gesellschaftskreise« zwar gut angenommen, evozierten jedoch kein Echo in der zeitgenössischen Presse und wurden vollständig erst 1884 durch den Wiener Literaturwissenschaftler Jakob Minor publiziert.66 Entgegen anderslautender Einschätzungen konnte der Text daher in seiner Zeit nicht viel bewirken.67 Darin liegt ein Grund dafür, dass erst Jahrzehnte später weitere formalistische Positionen in der Architekturhistoriographie Fuß zu fassen begannen. Häufig ist dabei zu erkennen, dass sich dieser Prozess vor dem Hintergrund jener Standards rationalen Sehens ereignete, die zeitgleich von der Anschauungsund Zeichenpädagogik in den Wahrnehmungsdiskurs eingebracht wurden. Ein Blick auf das eindrucksvolle, jedoch heute fast vergessene Œuvre Christian Ludwig Stieglitz’ macht diesen Umstand ersichtlich:68 Der Jurist, Architekt, Schriftsteller, Altphilologe und nicht zuletzt passionierte Bauforscher hatte – wie viele frühe Vertreter der noch kaum institutionalisierten Kunstgeschichte – seine Kenntnisse im Bereich der antiken und mittelalterlichen Architektur weitgehend autodidaktisch erworben. Schon Ende des 18. Jahrhunderts trat er mit einem Handbuch zur Baukunst der Alten (1796) in Erscheinung. 1820 folgte seine in zwei Teilen veröffentlichte Studie Von altdeutscher Baukunst: das früheste Überblickswerk zur mittelalterlichen Architektur Deutschlands. Die erstmals 1827 publizierte und kurz vor dem Tode des Verfassers in zweiter, wesentlich erweiterter Auflage (1837) erschienene Geschichte der Baukunst vom frühesten Alterthume bis in die neueren Zeiten führt als klassisches Alterswerk dann alle wissenschaftlichen Interessen zusammen. In dieser Schrift, die zugleich den ersten Versuch markiert, »die ganze Weltarchitektur erläuternd zu beschreiben und in ein System zu bringen«,69 bewertet auch Stieglitz Bau66 | Vgl. Schlegel 1884; zur Editionsgeschichte Minor 1884, S. XIII. Nur ein kleiner ein Auszug, den Schlegel 1808 unter dem Titel Ueber das Verhältniss der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit; über Stil und Manier in der Zeitschrift Prometheus (5. u. 6. Heft) veröffentlichte, war vorab verfügbar. 67 | Eck (vgl. 1994, S. 121) lässt die Editionsgeschichte des Textes außer Acht und erkennt bei Schlegel entscheidende Impulse für die Architekturtheorien Schinkels und Böttichers. 68 | Vgl. zu Person und Werk Kruft 2013, S. 331-334; Niehr 1999, S. 207-211; Philipp 1997, S. 79-105, 139-145; Philipp 1996; Robson-Scott 1965, S. 244-250; Frankl 1960, S. 465 ff.; Schnorr von Carolsfeld 1893. 69 | Philipp 1996, S. 115. Schon in der Geschichte der Baukunst der Alten (1792) hatte Stieglitz versucht, eine globale Perspektive einzunehmen, klammerte dabei jedoch China, Amerika und das zentraleuropäische Mittelalter aus.

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werke als Hieroglyphen der Menschheitsgeschichte, deren Bedeutungsgehalt es durch formorientierte Forschungen zu entschlüsseln gelte: Die Architektur »ist es, die uns die Wege ergründen läßt, auf welchen der Mensch zur vollkommenen Bildung gelangte, da von der Cultur der Völker, sowie von ihren Fähigkeiten, keine gültigern Zeugen auftreten, als ihre Bauwerke. Was von diesen auch nur in Ruinen sich erhielt, spricht das Denken und Wirken ihrer Urheber aus. Und sind sie verhallt, die Lieder der Sänger, vorübergerauscht die Töne ihrer Saiten, so erheben sich, ein ewiges Denkmal, Säulen und Mauern, das Leben der Vorwelt zu bezeichnen.« 70

Gleich zu Beginn entfaltet der Autor eine Ursprungstheorie der Baukunst, die auf Herders antimetaphysischer Genesisinterpretation beruht und die eine Alternative zur Naturhöhlentheorie Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincys wie auch zur Urhüttenthese Marc-Antoine Laugiers darstellt. Denn Herder hatte in seiner bereits erwähnten Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774 / 76) eine neue Exegese der Schöpfungsgeschichte vorgenommen, in der er die Uroffenbarung – die Begründung der Religion durch die Selbstmitteilung des Schöpfergottes gegenüber den ersten Menschen  – nicht entsprechend der dogmatischen Insprirationslehre als ›eingehaucht‹ verstand, sondern als an das menschliche Anschauungs- und Erkenntnisvermögen rückgebunden: Religion geht für Herder »im Ursprung auf die ›sinnliche Ansicht‹ des Universums« zurück.71 Gleiches behauptet Stieglitz nun auch von der Baukunst, deren primitive Anfänge er ebenfalls in den Kreis eines Urvolks verlegt,72 das einst vom Meer umgeben auf den Gipfeln des Hindukuschgebirges gelebt habe – genau dort, wo die Arche gestrandet war. Von dort aus konnten die Frühmenschen beobachten, wie der Schöpfungsplan allmählich Gestalt annahm: wie das Meer verschwand und wie weite, mit Pflanzen bewachsene, von Tieren belebte Täler entstanden. Die Bewohner dieser »Unschuldswelt« standen dem Treiben jedoch nicht passiv gegenüber. Stieglitz unterstellt ihnen vielmehr ein ausgeprägtes Beobachtungsvermögen, durch das sie in der Lage waren, direkte Einblicke »in die innerste Werkstätte der Natur« zu gewinnen.73 Sie erkannten im Zuge dessen auf anschauliche Weise die grundlegenden mathematisch-geometrischen Prinzipien natürlichen Schaffens und bewahrten sich ihre Einsichten vermittels einfacher geometrischer Bilder der wichtigsten Grundformen und Proportionen (Abb. 64). Diese rudimentären Linienzeichnungen seien über Generationen hinweg tradiert wor70 | Stieglitz 1837, S. 7. 71 | Bultmann 1999, S. 161; vgl. dazu auch Kap. 4. 72 | Stieglitz blieb diesem Geschichtsentwurf nicht immer treu, sondern entwickelte im Gegenteil einige alternative Ursprungstheorien der Architektur, vgl. Philipp 1997, S. 83-86. 73 | Alle Stieglitz 1837, S. 10 f.

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den und bildeten auch das theoretische Fundament der Baukunst. Was Herder in seiner Genesisexegese also noch recht abstrakt als angeborene Empfänglichkeit eines unkultivierten Naturvolks für die göttlichen Anteile der Schöpfung beschrieb, das spinnt Stieglitz im Rahmen seiner Architekturgeschichte weiter, indem er dem Urmenschen eine rational-reduktive Anschauungstechnik unterstellte, die ihre Bezüge zum pädagogischen Blick kaum verbergen kann: Denn gleich einer schulischen Anschauungsübung beginnt auch in Stieglitz’ Vorzeitphantasie alles bei der Linie, genauer bei der Horizontalen, die in Verbindung mit der Vertikalen einen rechten Winkel bildet, der wiederum ergänzt durch eine Diagonale das gleichseitige Dreieck ergibt. Von dieser Urform ausgehend habe man dann weitere Grundformen wie das Quadrat, den Kreis und alle möglichen regelmäßigen Polygone entwickelt, ebenso die Raumformen Pyramide, Würfel und Kugel sowie die Schönheitsgesetze Symmetrie und Proportion. Am Ende dieser Entwicklung stand »die wahre Aesthetik der Kunst, die erste und richtigste Anleitung zu schönen Formen und Gestalten der Bauwerke, das Gesetz, dem die Künstler nachgingen bei der Form des Ganzen, wie der einzelnen Theile, bei der Construction, wie bei dem Streben nach dem Schönen.« 74 Abbildung 64: Christian L. Stieglitz: Elementarformen der Architektur, in: Stieglitz 1837, S. 12 (ZI).

Ausgehend von dieser Theorie beginnt der Autor in der Folge einen Gang durch die Architekturgeschichte der Menschheit. Am Beginn seiner Erzählung ste74 | Stieglitz 1837, S. 21, Hervorhebung im Original.

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hen Indien und Ägypten – Kulturen, die Stieglitz für die ältesten der Menschheitsgeschichte hält. Denn als das Urvolk einst auf den Bergketten Zentralasiens in Raumnot geriet, begannen sich Parteien abzuspalten und auf den umliegenden Landflächen zu siedeln. Von Indien, China und dem Kaukasus aus verbreiteten sich die Menschen in langen Wanderungen über die ganze Welt. Im Gepäck hatten sie nicht viel mehr als das in frühesten Zeiten erworbene Allgemeinwissen über Religion, Sprache und Baukunst, welches im Zuge der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Kulturen weiter angereichert wurde und daher in Reinform nur bei sehr alten Völkern anzutreffen sei. Zum Beleg seiner These führt Stieglitz die aus Steinblöcken in eine »pyramidalische Gestalt« gebrachten,75 von quadratischen Mauern gefassten Tempelpagoden Indiens an, die ihm durch Louis Mathieu Langlès’ Monuments anciens et modernes de l’Hindoustan (1811) bekannt waren (Abb. 65). Ebenso genannt werden die zuvor auch von Aloys L. Hirt behandelten Pyramiden der Ägypter (Abb. 66),76 da diese für Stieglitz den kompromisslosesten Bezug zu den Ursprungsformen der Baukunst verkörpern. Denn die Ägypter vermochten es, die Pyramiden von Gizeh nicht in stufenweise angeordneten Stockwerken zu erbauen, sondern in nahezu ununterbrochenen Linien zu erheben. Ihre Grabstätten gelten dem Autor daher noch immer als die deutlichsten »Zeugen von dem ersten Anfange der Kunst« und zugleich als früher Höhepunkt der Architekturgeschichte, denn »in dem Großartigen der Darstellung, in dem Erhabenen der Ausführung, in dem, was mächtigen Eindruck erregte, kam ihnen kein Volk gleich.« 77 Abbildungen 65 und 66: Louis Mathieu Langlès: Tempel-Pagode, in: Langlès 1821, Taf. 28 (links), und Aloys L. Hirt: Ägyptische Pyramide, in: Hirt 1815, Taf. 1 (beide BSB).

75 | Stieglitz 1837, S. 64. 76 | Vgl. Hirt 1815. Auch in Herders religionsgeschichtlicher Abhandlung wird die ägyptische Kultur mit Blick auf die späteren antiken Glaubenssysteme als Urtradition gedeutet, vgl. Bultmann 1999, S. 165-169. 77 | Alle Stieglitz 1837, S. 143.

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Die Einschreibung des pädagogischen Blicks vollzog sich bei Stieglitz auf der Theorieebene, und sie führte den Autor zum Entwurf einer monogenetischen Ursprungstheorie der Kunst und Architektur, die der zuvor von Winckelmann vertretenen polygenetischen Klimatheorie diametral entgegensteht.78 Zeitgleich zu dieser frühen Begegnung von Anschauungslehre und Architekturhistoriographie finden sich jedoch auch Beispiele dafür, dass Architekturliebhaber auf der Anschauungsebene Gebrauch von den durch die Pädagogik um 1800 eingebrachten Techniken des rationalen Sehens machten: Die Rede ist von Karl Schnaase, der zur gleichen Zeit wie Stieglitz mit der Arbeit an seinen in Deutschland über lange Zeit gültigen Standardwerken begann.79 Stieglitz und Schnaase verbinden gleich mehrere Analogien: Beide betrieben ihre kunsthistorischen Forschungen in den Mußestunden eines juristischen Brotberufs und beide legten ein Interesse an global perspektivierten, empirisch fundierten Universalgeschichten der Kunst an den Tag. Zudem eint sie ihr Verständnis der Kunstgeschichte als Indikator für die Entwicklungsgeschichte des Volksgeistes. Die direkteste Beziehung zwischen beiden Forschern ist jedoch in Form einer Rezension gegeben, die Schnaase 1828 anonym im Berliner Conversations-Blatt für Poesie, Literatur und Kritik zu Stieglitz’ Geschichte der Baukunst verfasste:80 Darin würdigt Schnaase das Werk als Novum der Kunsthistoriographie, die zwar dank Winckelmanns, Hirts, Séroux d’Agincourts und auch Cicognaras Vorarbeiten schon einige Überblickswerke hervorgebracht habe, keines jedoch, dass systematisch Kunst- und Menschheitsgeschichte zusammenführe. Darüber hinaus lobt Schnaase den nüch78 | Thiersch (vgl. 1904, S. 39) ist zu entnehmen, dass der formanalytische Blick ausgehend von Stieglitz in den 1860er Jahren auch in der französischen Architekturhistoriographie Fuß zu fassen begann: zunächst bei Emeric Henszlmann, der vom Quadrat ausging (Theorie des proportions appliquées dans l’architecture depuis la XIIe dynastie des rois égyptiens jusqu’au XVIe siècle, 1860), und wenig später auch bei Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, der vom Dreieck aus argumentierte (Entretiens sur l’architecture, 3 Bde., 1863-72, Bd. 1 [1863]). 79 | Henrik Karge war so freundlich, dem Verfasser schon vor dem Satz Einblicke in sein fundamentales Buch über Die Genese der modernen Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert (vgl. Karge 2019) zu gewähren, das u. a. völlig neue Erkenntnisse zu Schnaases Leben und Werk enthält. An dieser Stelle sei ihm für diese kollegiale Geste herzlich gedankt! Vgl. zu Person und Werk ferner Karge 2010a; Karge 2010e; Betthausen 2007g; Bickendorf 2007; Prange 2004, S. 137-144; Karge 2001; Locher 2001, S. 237-240; Waetzoldt 1986, Bd. 2, S. 70-92; Donop 1891; Lübke 1879 (Karge 2019 ist zu entnehmen, dass der Text in Wahrheit nicht von Lübke stammt, sondern von Marianne Wolff, der Witwe des Schnaase-Vertrauten Karl Immermann); Woltmann 1876. 80 | Vgl. Schnaase 1828. Die Zuschreibung des Textes ist das Verdienst Henrik Karges (vgl. 1997).

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ternen Ansatz des Autors, der den Monumenten außereuropäischer Kulturen prinzipiell ohne ästhetische Ressentiments begegne. Was er hingegen ablehnt, ist Stieglitz’ Theorie vom Beginn der Baukunst in »geometrischen Bildern«,81 denn diese könne das Phänomen ›Architekturschönheit‹ kaum erklären und sei »daher nicht zu einem an die Spitze der Kunstgeschichte zu stellenden Princip geeignet.« Schnaase sieht stattdessen eine enge Verbindung von Zeitgeist und Architektur. Darin folgt er nicht unbedingt Hegel,82 sondern eher seinem Berliner Lehrer Friedrich Carl von Savigny, der Anfang des 19. Jahrhunderts versuchte, die staatliche Rechtsordnung auf Grundlage eines von ihm vermuteten kollektiven Rechtsempfindens zu stellen, wodurch er sich Montesquieus (De l’esprit des lois, 1748) und Voltaires (Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, 1756) Konzepten des esprit général bzw. esprit des nations annäherte.83 Architektur ist für Schnaase in jedem Fall: »Darstellung des Volksgeistes als Resultat in allgemeiner, abstrakter Weise […], und die Geschichte derselben muß suchen, die Formen jedes Volks in diesem Sinne zu verstehen, aufzuweisen, wie sie bei höherer Bildung des Volksgeistes bestimmter und reicher wurden, beim Uebergange desselben ihre Bedeutung verloren, und endlich ganz verschwanden.« 84

Vermittels dieses kulturhistorischen Ansatzes eine eigene Geschichte der Kunst und Architektur zu schreiben, muss Schnaase also spätestens seit der Auseinandersetzung mit Stieglitz als Projekt klar vor Augen gestanden haben. Die Verwirklichung des Unterfangens hingegen ließ noch einige Jahre auf sich warten. Zuvor musste Schnaase dem eigenen empirischen Anspruch gerecht werden und zentrale Werke der Kunstgeschichte selbst in Augenschein neh81 | Schnaase 1828, S. 239. 82 | Laut Karge (vgl. 2019) kam Schnaase erst zum Ende seines Studiums in Heidelberg zu Hegel, folgte ihm dann nach Berlin und studierte ca. ein Jahr bei ihm. Er hörte in dieser Zeit Hegels Vorlesungen über die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (publiziert 1817), nicht jedoch seine späteren Vorlesungen über die Ästhetik (1821-26, hg. v. Gustav Hotho 1835-38). Zudem las er ab 1826 die Phänomenologie des Geistes (1807). Eine substantielle Übernahme der Hegel’schen Ästhetik ist daher bei ihm nicht zu erkennen, vgl. Stemmrich 1983. Sein kritisches Verhältnis zu Hegel beschreibt Schnaase überdies auch selbst, vgl. Lübke 1879, bes. S. XXVIII. Ältere Darstellungen, die Schnaase zwanghaft mit Hegel lesen, sind daher mit Vorsicht zu genießen: vgl. Nachtsheim 1984, S. 55-65; Podro 1982, Kap. III; Gombrich 1977; Zeitler 1958; MacMillan 1933; Waetzoldt (1921 / 24) 1986, Bd. 2, S. 70-92. 83 | Vgl. zur Geschichte des Volksgeistbegriffs Großmann 2000, dazu ferner Sloterdijk 1998. 84 | Alle Schnaase 1828, S. 243 f., Hervorhebung im Original.

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men. Aus diesem Grund war er bereits im September 1826 zu einer ersten eineinhalbjährigen Italienreise angetreten, die ihn über Wien, Venedig, Verona, Mantua, Bologna und Florenz schließlich nach Rom führte, wo er fünf Monate im Kreis der deutschen Künstlerkolonie verbrachte. Die Erfahrungen und Eindrücke dieser Grand Tour sollte er später im Rahmen seiner siebenbändigen Geschichte der bildenden Künste (1843-64, Bd. 8 1879 postum hg. v. Wilhelm Lübke) verarbeiten.85 1829 konnte Schnaase dann eine Versetzung an das Landesgericht in Düsseldorf durchsetzen, die ihn in Kontakt mit dem dortigen akademischen Künstler- und Schriftstellerkreis um Wilhelm von Schadow brachte. Außerdem ermöglichte sie ihm eine weitere Studienreise,86 mit deren Hilfe er seine Kenntnisse der nordalpinen Kunstgeschichte zu vervollkommnen gedachte: 1830 ging es von Köln per Dampfschiff nach Rotterdam, Delft und Den Haag, von dort aus weiter nach Leiden sowie ins belgische Antwerpen. Die zu diesem Anlass angefertigten Reiseaufzeichnungen bildeten die Grundlage für das historiographische Debüt Schnaases,87 die Niederländische Briefe von 183488 – nach Paul Frankl »a rather bulky volume of over 500 pages«,89 bestehend aus achtzehn fiktiven Sendschreiben an eine anonyme Kölner Adressatin. Die entscheidenden Äußerungen Schnaases zur Architektur finden sich im achten Brief, in dem sich der Verfasser mit der spätgotischen Liebfrauenkathedrale zu Antwerpen befasst. Der Text zählt zu den meistkommentierten Teilen des Schnaase’schen Œuvres,90 vor allem aufgrund der dort enthaltenen Theoretisierung des architektonischen Raumes,91 die bis zu den ersten einfühlungstheoretischen Zugriffen Wölfflins und Schmarsows Ende des 19. Jahrhunderts ein Unikum dar85 | Vgl. zu Schnaases Geschichte der bildenden Künste Karge 2019; Karge 2013; Karge 2010c; Karge 2010b; Dilly 1979, S. 86-89; Zeitler 1958. 86 | Dazu Karge 2019; Karge 2011; Karge 2002; Karge 1997b. 87 | Auch Locher (vgl. 2001, S. 194 f.) verweist auf die Bedeutung der unmittelbaren Anschauung für die kunsttheoretischen Reflexionen der Briefe. 88 | Vgl. zu den Niederländischen Briefen Karge 2019; Karge 2010d, S. 399-403; Karge 2010a, S. XXIV*-LXVI*; Ridderbos 2005, S. 228 ff.; Karge 2004; Beyrodt 1986; Lunzer 1983, S. 263-272. 89 | Frankl 1960, S. 544, Anm. 9. 90 | Schnaases Beschreibung des Antwerpener Doms fokussieren besonders: Karge 2019 (die mir zur Verfügung gestellte Version des entsprechenden Unterkapitels beabsichtigt Karge noch zu erweitern, indem er auf die zahlreichen Innenraumansichten der Kathedrale aus dem 17. Jahrhundert eingeht, die Schnaase bekannt gewesen sein und die seine Raumanalyse beeinflusst haben sollen); Karge 2010a, S. XLIII*ff.; Karge 1997a; Podro 1982, Kap. III; Frankl 1960, S. 544-552. 91 | Karge spricht gar von der »Entdeckung des architektonischen Raumes«, vgl. Karge 2010a, S. XLIII*; ähnlich zuvor schon Frankl 1960, S. 545.

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stellen sollte.92 Was von der Forschung allerdings außer Acht gelassen wurde, sind die Umstände der Architekturbeschreibung, d. h. der faktische Zustand, in dem der Kunsthistoriker die Kathedrale bei seinem Besuch antraf.93 Dabei dürfte es für das Verständnis der außergewöhnlichen Schilderungen Schnaases nicht unwesentlich sein, dass speziell das Innere des Baus an der Wende zum 19. Jahrhundert eine radikale Veränderung erfahren hatte:94 Zum einen durch die Franzosen, die als Besatzer um 1800 die annähernd 40 kunstvollen Altäre, mit denen diverse Bruderschaften, Handwerkerverbunde und Gilden den Innenbereich seit dem 15. Jahrhundert ausschmückten (Abb. 67), wenig zimperlich entfernt und teilweise in das neue Musée Central des Arts nach Paris überführt hatten; zum anderen durch die in der Folge unausweichliche Renovierung des Innenbaus, die der Antwerpener Stadtarchitekt Jan Blom durchführte, dabei die baulichen Elemente – vor allem die stark beschädigten Kirchenpfeiler  – in Stand setzte und den Innenraum schließlich einheitlich weiß kalkte. Die »Hierarchie, diese Entgegensetzung, diese Durchkreuzung von Ortschaften, die konstituierten, was man [mit Michel Foucault, TT] grob den mittelalterlichen Raum nennen könnte«,95 wurde im Zuge dessen durch ein einheitlich klassizistisches Raumkonzept ersetzt, so dass das Innere der Kathedrale zu Zeiten der Visitation Schnaases erstmals als architektonisches Monument von eigenem historischen und künstlerischen Rang wahrgenommen werden konnte (Abb. 68). Dass sich Schnaase anders als Georg Forster, der in seinen Ansichten vom Niederrhein (Bd. 2, 1791) ausschließlich die im Dom verwahrten Bildwerke bespricht, plötzlich eingehend mit der Ästhetik gotischer Kirchenräume befasst, muss also nicht zwangsläufig durch zeitgenössische Theoriebeiträge – wie etwa durch den von Henrik Karge ins Spiel gebrachten idealistischen Raumbegriff Karl Wilhelm Ferdinand Solgers96 – inspiriert worden sein, sondern resultierte sehr wahrscheinlich aus dem Erscheinungsbild der Kathedrale selbst.

92 | Darauf weist auch Karge (vgl. 2019) hin. Vgl. zu den Methoden der kunsthistorischen Raumanalyse Kemp 2009, Kap. 3. Eine Ausnahme bildet Franz Xaver Geiers »Probeschrift« Ueber den Werth der Formen in der Baukunst (1828), in der Architektur bereits als raumbildend beschrieben und theoretisiert wird. 93 | Vgl. dazu auch Teutenberg 2016b. 94 | Vgl. zur Geschichte des Antwerpener Kirchenraums Manderyck 2009; Aerts 2009; De Rynck 2005; Brabant 1974; Brabant 1972. 95 | Foucault 1992, S. 36. 96 | Vgl. Karge 1997a, S. 415. Karge hat natürlich gute Gründe, auf Solger zu verweisen, da Schnaase in seiner Berliner Studienzeit dessen Vorlesungen besuchte, vgl. Karge 2019.

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Abbildungen 67 und 68: Anonymus: Innenansicht der Kathedrale von Antwerpen (ca. 1631), in: Fabri / van Hout 2009, Abb. 33 (BSB, links), und Paul Lauters: Innenansicht der Kathedrale von Antwerpen (ca. 1830), in: De Rynck 2005, S. 16 (ZI).

Dem jungen Kunsthistoriker war sehr wohl bewusst, wie weit er sich mit seinem Anliegen auf methodisches Neuland vorwagte, stellt er doch gleich zu Beginn der Untersuchung fest, dass die besondere Schwierigkeit der Bestimmung von Architektur- und Raum-Schönheit eben darin liege, dass das Beurteilungskriterium »Mimesis« nicht zur Verfügung stehe. Viele Betrachterinnen und Betrachter würden in ihren Beschreibungen daher allzu schnell auf die Gefühlsebene abgleiten, indem sie die Erhabenheit oder Würde des Gesamteindrucks loben; andere wiederum konzentrieren sich stark auf technische Aspekte und architektonische Details. Schnaase hingegen schreibt in der Tradition Schlegels und versucht, die Bedeutung der architektonischen Form für die Organisation des Ganzen zu klären, um anschließend über den höheren Zusammenhang von »Bau und Überbau« (Warnke), von Kathedrale und Zeitgeist, zu sinnieren. So dürfe man die »einzelnen Theile und Glieder nicht, wie es im ersten Eindrucke auf das Gefühl geschieht, bloß im Ganzen wahrnehmen, sondern man muß sie auch unabhängig anschauen, um ihre besondere Bedeutung zu empfinden, und darnach ihr Verhältniß zum Ganzen zu würdigen. Dann wird man erkennen, daß diese Theile nicht bloße Massen mit numerischen, sondern Körper mit ästhetischen und in gewissem Sinne ethischen Verhältnissen sind.«

Die wesentliche Voraussetzung für Raumschönheit erkennt Schnaase im »Schein der Selbstständigkeit«, den alle Elemente eines architektonischen Ganzen ausstrahlen müssen, denn: »eigentlich architektonische Schönheit entsteht erst, wenn die Wände sich gliedern, wenn einzelne, individualisierte Theile he-

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raustreten und sich wieder zum Ganzen verbinden.« Die Schönheit des architektonischen Raumes geht für ihn also aus einem dialektischen Spiel hervor, das sich innerhalb eines autonomen Systems auf der Ebene der Form vollzieht und an dessen Ende die prinzipiell unversöhnlichen Polaritäten Einheit und Individualität in schöner Mannigfaltigkeit aufgehen. Darin klingt Kants Bestimmung des Kunstschönen aus der Kritik der Urteilskraft (1791) an: eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, eine Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz,97 die Schnaase auch im Kirchenraum wiederzuerkennen versucht, um ihn gemäß den Prämissen der Autonomieästhetik als schön ansprechen zu können. Als entscheidenden Faktor für das Zustandekommen dieses Verhältnisses benennt Schnaase die Grundform der jeweiligen Architektur: So sei man in der Antike prinzipiell nicht in der Lage gewesen, ein »schönes Inneres zu schaffen«, weil die Alten »für die einzelnen Glieder, wenigstens für die bedeutendern [sic], nur die selbstständigen und harten Formen, den Kreis oder die gerade Linie,« kannten. Das Pantheon beispielsweise sei in seiner »Kreisgestalt« innen zwar vollkommen, jedoch keineswegs schön, da dort »Alles in einen unterschiedslosen Punkt zusammen[falle]«.98 Einen völlig anderen Eindruck machen auf Schnaase dagegen Bauwerke, die sich entlang einer Mittellinie erstrecken, denn diese könne einen viel abwechslungsreicheren, lebendigeren Eindruck hervorrufen. Grundsätzlich seien dabei viele vertikale Glieder von Vorteil, da diese dem ohnehin vorhandenen horizontalen Tiefensog der Perspektive »selbstständig entgegentreten, und so Mannichfaltigkeir [sic] gewähren.« Zudem müssen Pfeiler unbedingt den Vorzug vor Säulen erhalten, die Schnaase mit Blick auf die gedrängten, in der Perspektive optisch zu dichten Reihen verschmelzenden Stützenfolgen antiker Tempel und Basiliken als »nur scheinbar verticale Glieder, ihrem Wesen nach horizontal« einstuft.99 Die Pfeilerreihen in einer gotischen Kirche hingegen werden von großen Freiräumen unterbrochen, wodurch die einzelnen Stützen für sich stehen und rein vertikal wirken können. Damit gibt sich der Betrachterin, dem Betrachter »die Linie der Pfeiler, eben weil sie so wenig körperlichen Zusammenhang hat, nur durch getrennte Punkte bezeichnet, mithin ideale, mathematische Linie ist, […] als etwas Unselbstständiges« zu erkennen. Darüber hinaus könne man aufgrund der großen Abstände zwischen den Pfeilern auch gegenüberliegende Stützen optisch aufeinander beziehen, Joche erkennen und diese als rechteckige Segmente des »sogenannten Raumes« verstehen, der dann als »aus mehreren gleichen, auf einander folgenden Flächen« bestehend begriffen werden kann.100 Die Kreuzgewölbe unterstützen diesen Eindruck, indem ihre 97 | Vgl. Kant 1902 ff., Bd. 5 (1908), S. 241. 98 | Alle Schnaase 2010, S. 190 ff. 99 | Alle Schnaase 2010, S. 193 f. 100 | Alle Schnaase 2010, S. 197 f.

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Rippen, die »stets von den Seitenwänden zur Mitte hinstreben und hier in der Spitze eines Dreiecks sich vereinigen,« einzelne Raumeinheiten in der zentralen Grundform des Baus – der »durch die Schlußsteine angedeuteten Mittellinie« – zusammenführen. Der Betrachterin, dem Betrachter gebe sich dadurch »das Ganze als in sich verbundener Körper« zu erkennen,101 in dem zahlreiche Gegensätze produktiv zusammenwirken und letztlich den Eindruck von Schönheit erzeugen. Im Anschluss an diese einleitenden Reflexionen über die notwendigen Bedingungen von Raumschönheit folgt eine detaillierte Beschreibung der spezifischen Gegebenheiten in der Kathedrale zu Antwerpen, in deren »hohen Hallen« der junge Kunsthistoriker zuvor »stundenlang umherging«.102 Dabei zeigt sich, dass Schnaase nicht nur die zum Zwecke allgemeiner architekturtheoretischer Erörterungen errichteten ›Gedankengebäude‹ kraft seines abstrahierenden Blicks in ihre geometrischen Einzelteile zerlegt, sondern den gleichen Modus der Beschreibung auch in Bezug auf reale Bauwerke zur Anwendung bringt: So betont der Autor gleich zu Beginn seiner Schilderung die enorme Schönheit der Perspektive des Antwerpener Doms, die er systemtreu auf die exzeptionell weiten Abstände zwischen den Pfeilern der Kirche zurückführt. Die weiten Zwischenräume macht Schnaase für die »größere Ausdehnung dieser Linie« verantwortlich und zugleich auch für die außergewöhnliche Höhe des Baus. Dass es trotz alledem in der Halle nicht zu einem ermüdenden Eindruck der Leere und Weite komme, schreibt er den sechs an das Hauptschiff angesetzten Seitenschiffen zu, deren zahlreiche, durch Dienste deutlich profilierte und daher vom Licht reizvoll umspielte Pfeiler den Raum füllen und zugleich das Auge der Betrachterin, des Betrachters sanft fortführen. Insgesamt vollziehe »die Bewegung des Ganzen […] zunächst eine gerade Linie« und habe daher »die Kraft unendlicher Verlängerung und also in sich selbst kein Princip des Endes«. Für die notwendige Unterbrechung sorge dann die Intervention des »Kreuzschiff[s]«, das die Form eines Quadrats bilde und das im Hauptschiff regierende »Princip der Unruhe und des Strebens« abmildere.103 Ihr letztgültiges Ende finde die Bewegung des Raumes allerdings nicht in der Vierung, sondern im Chor, der das rhythmische Auf und Ab des Langhauses in seiner Rundung zum Stillstand bringe. Eine besonders schöne Wirkung komme dabei einem Schluss in »Polygonseiten« zu, »weil er nicht, wie die gerade Wand, willkürlich abschneidet, sondern die innere Bewegung selbst sich in sich abschließen läßt«. In Antwerpen, so Schnaase resümierend, »gestaltet sich nun der ganze Raum des Mittelschiffs mit dem Chor vollkommen als ein Innerstes«.104 101 | Alle Schnaase 2010, S. 200, Hervorhebung im Original. 102 | Alle Schnaase 2010, S. 188. 103 | Alle Schnaase 2010, S. 206 ff. 104 | Alle Schnaase 2010, S. 209 f.

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P r ak tische ›K unstformenlehren ‹: W einbrenner , S emper und M e t zger  /  H offstadt Die Arbeiten Stieglitz’ und Schnaases verfolgen für sich genommen sehr unterschiedliche Ziele, treffen sich jedoch in einem wichtigen Punkt: Beide stellten sich der neuen Herausforderung, Architekturgeschichte bzw. -theorie auf Basis eigener Anschauungen zu schreiben, indem sie auf eine Wahrnehmungstechnik Bezug nahmen, die in ihrer Zeit als verlässliche Quelle rationaler Erkenntnisse erachtet wurde. Flankiert werden die Historiker dabei von den Praktikern der Baukunst, die sich zeitgleich ebenfalls auf der Suche nach Elementarformen und Grundprinzipien historischer Architekturstile befanden und die ihre Einsichten vornehmlich über das pädagogische Medium »Architekturlehrbuch« verbreiteten. Eines dieser Manuale ist die dreibändige, unter dem Obertitel Architektonisches Lehrbuch (1810-25) bekannte Publikation des Architekten und Stadtplaners Friedrich Weinbrenner.105 Das Werk besteht aus dreizehn lose aufeinander bezogenen Heften und gilt als das erste originär deutschsprachige Unterrichtsbuch für Studierende der Architektur. Weinbrenner setzt sich darin zum Ziel, die nationale Baukunst und das Kunstgewerbe mit Hilfe der antik-römischen Formsprache zu stärken, die er während eines langen Italienaufenthalts (1792-97) ausgiebig studiert hatte. Anschließend ließ sich der Autor in Karlsruhe nieder und gründete dort 1800 eine private Bauschule, aus der 1825 das erste Polytechnikum Deutschlands hervorging. Zudem war er als badischer Oberbaudirektor für zahlreiche klassizistische Architekturprojekte der Stadt und Region verantwortlich, ein Umstand, der – neben den anhaltenden finanziellen und konzeptionellen Unstimmigkeiten zwischen ihm und seinem Verleger Cotta – die schleppende Publikation des Lehrbuchs bedingte. Im dritten Band finden sich Weinbrenners Gedanken Über die höhere Baukunst, die er mit einem Heft zu Form und Schönheit (1819) einleitet. Der Autor versucht darin, eine »wissenschaftliche Formen- und Verzierungs-Lehre« vorzustellen, die der jungen Künstlerin, dem jungen Künstler als »ästhetische Norm« zur richtigen Beurteilung aller erdenklichen kunsthandwerklichen und architektonischen Objekte dienen soll. Denn Formen, sofern sie klar umrissen und zweckorientiert gewählt wurden, gelten auch Weinbrenner als Quell der Schönheit in der Architektur. Selbstverständlich ist daher für ihn auch, dass der Unterricht in der Baukunst nicht wie bisher bei den Säulenordnungen oder einfachen Grundrissen beginnen kann, sondern stattdessen mit der ästhetischen Bildung und Zusammenstellung von Grundformen einsetzen muss. Konkret gibt Weinbrenner den angehenden Architektinnen und Architekten zur Lösung einer jeden Bauaufgabe einen schmalen Kanon graphischer und geometrischer Elemen105 | Vgl. Weinbrenner 1810-25; dazu Weinbrenner 2015, S. 2-14; Teutenberg 2015a; Evers 2003c; Schumann 2010.

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tarformen an die Hand, die der Autor nach eigenem Bekunden der reduktiven Anschauung »schon vorhandene[r] Gegenstände« verdankt.106 Als kleinstmögliche Einheiten definiert er »die gerade und die Zirkellinie«,107 aus denen er dann einerseits recht-, stumpf- und spitzwinklige und andererseits ellipsen- oder karniesartige Linienverläufe bildet (Abb. 69). Insgesamt kommt er dabei auf acht Linientypen, die das Grundgerüst aller geometrischen Elementarformen bilden und darüber hinaus auch die schöne Gestaltung von einfachen plastischen Objekten wie Trinkgefäßen ermöglichen sollen. Zu bedenken sei dabei nur, dass »einzelne mathematische Formen zwar vollkommen, aber noch nicht schön genannt zu werden verdienen, weil sie, wie z. B. kubische Körper, Kugeln, Cylinder etc. etc. zu wenig Reichhaltigkeit in den Umrissen haben und ohne höhere Bedeutung« seien. Man müsse sie daher vermittels anderer Elementarformen geschmackvoll anreichern und weiterentwickeln, ohne dabei jedoch in gotische Maßlosigkeit zu verfallen. Denn die Kunst- und Bauwerke der Gotik wirken für den Klassizisten Weinbrenner nur dann einigermaßen schön, wenn man sie im »Mondschein« betrachtet, »weil durch das schwache Licht die kleinlichen Theile dem Auge verborgen bleiben und nur die Hauptformen sich herausheben.«108 Darüber hinaus weicht Weinbrenner auch im Falle komplexerer Bauaufgaben nicht von seinem System ab: Denn die Gestaltung von Wohnhäusern und Palästen kann ebenfalls über seinen Kanon an graphischen und geometrischen Grundformen erfolgen, sofern die Architektin, der Architekt bei ihrer Zusammenstellung die Gesetze der Proportion, Symmetrie und Eurythmie beachtet, die Weinbrenner im weiteren Verlauf genau erläutert. Die neunte Tafel im dritten Band des Lehrbuchs zielt darauf, den Studierenden diesen Umstand vor Augen zu führen, indem sie anzeigt, wie aus der regelkonformen Kombination einzelner Grundeinheiten alle möglichen Gebäudetypen entstehen (Abb. 70). Weinbrenners Lehrbuch bildet den Auftakt für eine ganze Reihe weiterer Publikationen zur praktischen Baukunde, in denen die Beobachtung geometrischer Elementareinheiten der Architektur wie auch des Kunsthandwerks zentral ist. Ihre Gemeinsamkeit liegt dabei nicht unbedingt in den erzielten Resulaten, denn diese fallen aufgrund der individuellen Anteile der Sinnestätigkeit mitunter divers aus. Was sie verbindet ist von grundsätzlicherer Natur: eine innere Verwandtschaft des Sehens, ein gemeinsamer Habitus der reduktiven, formanalytischen Wahrnehmung im Zeichen des pädagogischen Blicks.

106 | Alle Weinbrenner 2015, S. 201. 107 | Weinbrenner 2015, S. 204. 108 | Alle Weinbrenner 2015, S. 11. Weinbrenner scheint hier auf Goethes Gotikerlebnis anzuspielen (s. o.).

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Abbildungen 69 und 70: Friedrich Weinbrenner: Grundformen und Linien (links) sowie Grundeinheiten der Architektur, in: Weinbrenner 1810-25, Bd. 3.1 (1819), Taf. 1 (links), Bd. 3.2 (1819), Taf. 9 (beide UBH).

Auch Gottfried Semper zählt zur Riege derer, die sich im 19. Jahrhundert dieser visuellen Technik bedienten. Immer wieder hatte er sich in seinen Schriften mit der Theoretisierung architektonischer Grund- und Ursprungsformen beschäftigt,109 so auch im Essay über Wissenschaft, Industrie und Kunst von 1852.110 Der im Anschluss an die Märzrevolution steckbrieflich gesuchte Demokrat verarbeitet dort seine im Exil gewonnenen Eindrücke von der ersten Londoner Weltausstellung (1851) zu einer bildungspolitischen Programmschrift. Denn was ihm im Crystal Palace augenfällig wurde, war die gravierende Rückständigkeit der deutschen kunsthandwerklichen Erzeugnisse im internationalen Vergleich. Semper reagierte auf diesen Missstand, indem er der Heimat einige Vorschläge zur Stärkung des nationalen Kunstgefühls unterbreitete, mit deren Hilfe er die Prinzipienlosigkeit und formale Willkür in der angewandten Kunst bekämpfen wollte. Eine zentrale Forderung Sempers ist die Rückbesinnung auf die Tatsache, dass allen technischen Künsten bestimmte »Urformen zum Grunde« liegen. Wegweisend sollte eine kunstpädagogische »Stillehre« wirken, deren Grundzü109 | Einen Überblick über Person und theoretisches Gesamtwerk geben Kruft 2013, S. 355-362; Betthausen 2007h; Hildebrand 2007; Evers 2003d; Pevsner 1972, S. 252268; Waetzoldt (1921 /  24) 1986, Bd. 2, S. 130-139; Semper 1880. 110 | Vgl. Semper 1966; dazu Locher 2001, S. 87-95; Ettlinger 1964.

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ge der Autor im weiteren Verlauf des Essays genauer skizziert. In nuce verlangt er, was seinerzeit auch jede Zeichenlehrerin und jeder Zeichenlehrer einforderte: dass nämlich alle Künstlerinnen und Künstler, Kunsthandwerkerinnen und -handwerker, Architektinnen und Architekten in der Ausbildung zunächst mit »den Urmotiven und den aus ihnen abgeleiteten früheren Formen« vertraut gemacht werden, bevor man ihnen anschließend die Regeln zur geschmackvollen Umsetzung und Variation dieser Elementarformen in unterschiedlichen Materialien und Verfahren vermittelt.111 Denn »ohne Zweifel befriedigt es das Gefühl, wenn bei einem Werke, sei es auch noch so weit von seiner Entstehungsquelle entfernt, das Urmotiv als Grundton seiner Komposition durchgeht, und es ist gewiß bei künstlerischem Wirken Klarheit und Frische in der Auffassung desselben sehr wünschenswert, denn man gewinnt dadurch einen Anhalt gegen Willkür und Bedeutungslosigkeit und sogar positive Anleitung im Erfinden. Das Neue wird an das Alte geknüpft, ohne Kopie zu sein, und von der Abhängigkeit leerer Modeeinflüsse befreit.«112

Als Betrachter erwartet Semper vom Kunstwerk, dass es sich visuell auf die ihm notwendigerweise zu Grunde liegenden Elementarformen zurückführen lässt. Im Falle der regellosen deutschen Erzeugnisse scheiterte sein Blick jedoch an dieser Operation. Besonders befriedigt hatten ihn in London dagegen die ausgestellten indischen Produkte (Abb. 71), denn dort registrierte er in allen aktuellen Erzeugnissen – wenngleich auch zu Lasten des individuellen Ausdrucks – die starke Präsenz allgemein gültiger Urmotive der Kunst und Architektur: »Was wir den Völkern von nichteuropäischer Bildung absehen müssen«, schlussfolgert Semper, »ist die Kunst des Treffens jener einfachen, verständlichen Melodien in Formen und in Farbentönen, die der Instinkt den Menschenwerken in ihren einfachsten Gestaltungen zuteilt, die aber bei reicheren Mitteln immer schwerer zu erfassen und festzuhalten sind.«113

111 | Die entsprechenden Gesetzte legt Semper in den »Prolegomena« zum ersten Band des Stils dar (vgl. Semper 1860 /  6 3). Dort werden mit Proportionalität, Symmetrie und Richtung drei ästhetische Kategorien eingeführt und mit den ewigen Bildungsgesetzten der Natur in Verbindung gebracht. Auch dieser Text setzt im Übrigen mit einem Abriss der Krise der zeitgenössischen Kunstproduktion ein. Vgl. zu den »Prolegomena«: Mallgrave 2001; Quitzsch 1962. 112 | Alle Semper 1966, S. 35. 113 | Semper 1966, S. 41.

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Abbildung 71: Gottfried Semper: Indische Teppichmuster, in: Semper 1860 / 63, Bd. 1 (1860), Taf. 4 (UBH).

In den folgenden Jahren beschäftigte Semper dieses Thema kontinuierlich. Zu einem (vermeintlichen) ›Handbuch der praktischen Ästhetik‹,114 das in erster Instanz »Kunstformenlehre« heißen sollte,115 arbeitete der notorische »systembuilder and categorizer«116 seine Reformgedanken aber erst in seinem zweiteiligen, letztlich Fragment gebliebenen Hauptwerk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (1860 / 1863) aus.117 Dort finden sich auch detailliertere Ausführungen zu den von ihm vermuteten Elementarformen der Kunst und Architektur, die darauf schließen lassen, dass ihn sein Anschauungsvermögen in der Zwischenzeit näher denn je an das formale Fundament der Dinge heran114 | Waetzoldt (1986, Bd. 2, S. 131) zählt den Stil zu den »literarischen Mischformen aus Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Archäologie«. Die Klagen über die konzeptionellen und auch stilistischen Mängel der Schrift sind in der Forschung seitdem nicht verstummt. 115 | Vgl. Mallgrave 2001, S. 297 f. 116 | Pevsner 1972, S. 253. 117 | In Bezug auf die Kunsttheorie und Ästhetik des Stils wurden von Seiten der Forschung immer wieder Einflüsse aus der Naturwissenschaft (Cuvier), der Evolutionstheorie (Darwin) und auch der Sprachwissenschaft betont, so dass sich entsprechende Nachweise an dieser Stelle erübrigen, vgl. Schneider 2012; Arburg 2008, Kap. 2.2, bes. S. 270-297; Müller-Tamm 2007; Locher 2001, S. 366-378; Mallgrave 2001, S. 285-318; Podro 1982, S. 44-55; Buttlar 1977; Rykwert 1976; Quitzsch 1962, bes. S. 39-53, 6582; Stockmeyer 1939; Prinzhorn 1908.

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geführt hatte. Im Stil werden nämlich nicht nur alle traditionellen Herleitungen der architektonischen Urmotive aus primitiven Holzbaukonstruktionen oder natürlichen Höhlengebilden als ungenügend abgelehnt. Auch die eigene, ältere Ursprungstheorie vom Herd, dem Dach, der Umfriedung und dem Erdaufwurf als konstitutive Einheiten der Architektur (Die vier Elemente der Baukunst, 1851) wird von Semper weitgehend revidiert.118 Denn in London hatte er bei seinen täglichen Besuchen im Crystal Palace sowie in seiner Funktion als Innenarchitekt der kanadischen (Abb. 72), türkischen, ägyptischen, schwedischen, norwegischen und dänischen Ausstellungsflächen kunsthandwerkliche Produkte aus allen Teilen der Erde studieren und vergleichen können.119 Dabei fielen Semper formale Gemeinsamkeiten und auch Analogien zur Architektur auf, die ihn zur im Stil ausgebreiteten These führten, dass die Wurzeln der konstitutiven wie auch dekorativen Elemente der Baukunst im Kunsthandwerk liegen. Als eigentliche »Urkunst«120 bestimmt er  – anders als Winckelmann, der in der Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) eine »Art von Bildhauerey« an den Anfang stellt121 – das Textilhandwerk,122 wo man es aufgrund des leicht zu verarbeitenden, schmiegsamen und doch zähen Materials erstmals vermocht habe, alle wichtigen Elementarformen auszubilden. Aufgeladen mit symbolischer Bedeutung seien diese dann in einem Prozess der allmählichen Formmigration – später auch als »Stoffwechsel« bezeichnet und gedanklich eng an die Erfindung neuer Techniken der Gestaltung geknüpft123 – in immer neue Medien übertragen worden, so dass sie noch heute die – wenn auch zumeist heimliche – Grundlage aller künstlerischen und architektonischen Erzeugnisse bilden.

118 | Die Elemente wurden zwar in zeitlicher Nähe zur Weltausstellung publiziert, basieren aber im Wesentlichen – wie auch Quitzsch (vgl. 1962, bes. S. 39 ff.) feststellt – auf Gedanken, die weit in Sempers Dresdener Zeit zurückreichen. Als Übergangswerk weist sie zudem aus, dass Semper dort zwar die Abhängigkeit der Umfriedung (Wand) von den Textilien Matte und Teppich erkennt, jedoch »das Prinzip der Bekleidung als ein theoretisches weil chronologisches principium, ein Erstes und ein Ursprung aller Kunst schlechthin, erst im Stil definiert« und ausführt (Arburg 2008, S. 287, Hervorhebungen im Original). 119 | Vgl. dazu Schneider 2012, S. 255-282; Nerdinger / O echslin 2003; Mallgrave 2001, S. 203-215. 120 | Semper 1860, S. 13. 121 | Winckelmann 1996 ff., Bd. 4.1 (2002), S. 6. 122 | Vgl. dazu mit Blick auf anschließende Positionen Prange 2015. 123 | Semper 1860, S. 431.

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Abbildung 72: Gottfried Semper: Kanadischer Ausstellungsbereich, in: Nerdinger / Oechslin 2003, S. 277 (ZI).

Semper unterscheidet in seinem System zwei Linien- und zwei Flächenformen: erstens die Reihung: »ein Gliedern der einfachen und deshalb ästhetisch noch indifferenten Bandform«,124 die man zuerst bei bekrönenden Blätter- und Federkränzen und später bei floral verzierten Keramiken und architektonischen Friesen antreffe und die als Symbol der Begrenzung nach oben bzw. unten wirke; zweitens das Band, welches zwei unterschiedliche Teile miteinander verbinde, indem es sie umrahme, und dessen einfachste Form »die Linie, der Faden von flachem oder kreisrundem Durchschnitte« sei.125 Durch bestimmte Techniken der Verflechtung können aus Bändern jedoch auch komplexere Gebilde wie Kopf binden, Säume oder Gurte entstehen, von denen das ornamentale Deckensystem der griechischen Tempel herrühre. »Symbole der Ungebundenheit« hingegen stellen alle Formen des flatternden Bandschmucks dar, mit denen man die Bewegung des dekorierten Objekts akzentuieren könne.126 »Die tief herabhängenden, mit Troddeln und Schnüren (krossoi) reich verbrämten Kopfbinden (Paragnathides) der persischen Königsmitra«, die Semper durch assyrische Reliefs bekannt waren, stellen für ihn »in dieser Beziehung das Reichste und Würdevollste, was die asiatische Hofettikette« hervorbringen konnte, dar (Abb. 73).127

124 | Semper 1860, S. 14. 125 | Semper 1860, S. 19 126 | Semper 1860, S. 21, Hervorhebung im Original. 127 | Alle Semper 1860, S. 24 f.

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Abbildungen 73 und 74: Gottfried Semper: Assyrischer Herrscherornat (links) und skandinavisches Ornament, in: Semper 1860, S. 23 (links) und S. 83 (beide UBH).

Die erste von Semper benannte flächige Grundform ist dann drittens die Decke, die aus dem menschlichen Bedürfnis nach Schutz und Raumumschließung hervorgegangen und ursprünglich dem Fell der Tiere bzw. der Rinde von Bäumen abgeschaut worden sei. Decken symbolisieren in ihrer umschließenden Funktion Einheit und »Collectivität«.128 Als herabhängender Vorhang seien sie für das konstitutive Element »Wand« in der Architektur vorbildlich gewesen, als liegender Teppich weisen sie Bezüge zum Fußboden und seiner ornamentalen bzw. motivischen Gestaltung auf, und als gespanntes Tuch habe man sie einst auch für den oberen Raumabschluss verwendet.129 Die Decke sei dadurch »vielleicht das wichtigste Element in der Symbolik der Baukunst«,130 weshalb sich Semper mit ihrer ästhetischen Gestaltung auch über knapp 50 Seiten intensiv auseinandersetzt. Die vierte und letzte Grundform in seiner Systematik ist dann die Naht: ein »Nothbehelf, der erfunden ward, um Stücke homogener

128 | Semper 1860, S. 28. 129 | Michael Gnehm verweist auf den Ursprung dieses Gedankens in Böttichers Tektonik der Hellenen (1852), vgl. Gnehm 2004, S. 103. 130 | Semper 1860, S. 28.

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Art, und zwar Flächen, zu einem Ganzen zu verbinden«.131 Sie sei ein Symbol der Zusammenfügung selbstständiger Teile zu einem Ganzen, ohne dass dabei der ursprüngliche Charakter der Elemente verloren ginge. Zuerst seien Nähte bei Gewändern und Decken zum Einsatz gekommen, um Tierfelle, Lederfetzen und Federn mit Sehnen oder Bindfäden zu Flächen zu verbinden. Langsam sei dann »aus dieser Flickerei ein geschmackvolles buntes Stickwerk, ein Ornamentationsprinzip« hervorgegangen,132 das man später ebenfalls in der Architektur aufgegriffen habe (Abb. 74). Semper hatte durch seine These, »dass die Anfänge des Bauens mit den Anfängen der Textrin zusammenfallen«,133 einen in der Folge viel diskutierten, u. a. von Robert Vischer, Alois Riegl und August Schmarsow aufgegriffenen Theoriebeitrag geleistet. Zudem zog der Stil praktische Veränderungen nach sich, indem er die Gründung und Ordnung kunsthandwerklicher Sammlungen etwa durch Rudolf von Eitelberger in Wien (1863) oder Justus Brinckmann in Hamburg (1874) beförderte.134 Das letzte Wort in der Frage nach den Grundformen der Architektur hatte Semper jedoch nicht, denn dieses Thema beschäftigte die Experten beständig weiter. Als besonders produktiv wirkte man dabei auf dem Feld der Neugotik, wie abschließend anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden soll. Schon in der für Deutschland frühesten Schrift zum neugotischen Bauen findet sich eine entsprechende Akzentuierung: Johann Christian Metzgers Gesetze der Pflanzen- und Mineralienbildung angewendet auf altdeutschen Baustyl (1835). Autor und Text sind heute nahezu in Vergessenheit geraten,135 obwohl Metzger seinerzeit ein gefragter Experte auf den Gebieten der Landschaftsarchitektur und Gartenpflege war: In Heidelberg kümmerte er sich als Gartendirektor um die Grünanlagen der Stadt, der Universität sowie des Schlosses. Zudem trat er durch wissenschaftliche Veröffentlichungen in Erscheinung, wie auch durch populäre Schriften zum Wein-, Obst- und Gemüseanbau, etwa: Karl Will, der kleine Obstzüchter (1843), Peter Lang, der verständige Bauer und Bürgermeister (1845) oder Marie Flink, die kleine Gemüsegärtnerin (1845) – allesamt philanthropische Erziehungsromane, »welche die pädagogische Tradition von Pestalozzi, Rousseau und Rudolphi aufgriffen und auf den thematischen Bereich des Gartens exemplifizierten.«136 131 | Semper 1860, S. 78. 132 | Semper 1860, S. 80. 133 | Semper 1860, S. 227, Hervorhebung im Original. 134 | Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Hildebrand 2007. 135 | Hecht (vgl. 1979, Kap. I) zitiert lediglich einige Passagen des Werks. Darüber hinaus wurde Metzger noch im Rahmen zweier regional- bzw. agrarhistorischer Publikationen besprochen: Rink 2008; Schruft 2001. 136 | Scheidle 2008, S. 72.

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Abbildungen 75 und 76: Johann C. Metzger: Gesetz der Kreisteilung in der Natur (links) und Heidelberger Engel der Geometrie, in: Metzger 1835, Taf. 1 (links) und Frontispiz (beide Privatbesitz).

Die Schrift zum »altdeutschen Baustyl« scheint also auf den ersten Blick untypisch für das publizistische Œuvre ihres Verfassers zu sein. Tatsächlich erhält sie jedoch durch ihre botanischen und mineralogischen Spekulationen einen vagen Bezug zu dessen angestammten Themenfeldern aufrecht. Ziel des Textes ist nichts Geringeres als »die Bekanntmachung eines Gesetzes, welches die Alten bei den Formen der Pflanzen und Mineralien beobachtet zu haben scheinen, und bei der Ausführung ihrer Gebäude, zumal bei den sogenannten gothischen Bauten, angewendet haben mögen.«137 Dieses Universalprinzip werde durch die überlieferten Quellen nicht tradiert, denn die mittelalterlichen Architekten und Naturforscher haben es einst in den Bauhütten – seit der Romantik berüchtigte, mit Freimaurerideologie aufgeladene Orte des interdisziplinären Wissenstransfers138 – entwickelt und nur mündlich an auserwählte Individuen weitergegeben. Mit dem Niedergang des Bauhüttenwesens sei daher auch das konstruktive Knowhow der Meister verloren gegangen. Metzger jedoch nimmt nun für sich in Anspruch, »durch Forschungen an alten Gebäuden Merkmale wahrgenommen« zu haben, »die einigen Aufschluss darüber zu liefern scheinen«.139 Konkret handelt es sich um das Gesetz der Kreisteilung, 137 | Metzger 1835, S. III. 138 | Bis weit ins 20.  Jahrhundert lebte in der Forschung die Tradition der Mystifizierung dieser Orte fort, vgl. etwa noch Kottmann 1971. 139 | Metzger 1835, S. VI.

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mit dessen Hilfe man in der Lage ist, Kreise in gleich große Segmente zu zerlegen. Zuerst ist Metzger dieses Prinzip in der Botanik aufgefallen: in der Blütenund Blattstellung der Pflanzen sowie in der Organisation ihrer Samenkapseln, Stängel und Blattformen (Abb. 75). Überall dort könne man sehen, wie Kreisformen durch zwei bis sechs Linien in Halbe, Drittel, Viertel, Fünftel und Sechstel eingeteilt werden und dadurch Winkel von 180°, 120°, 90°, 72° sowie 60° entstehen. Dasselbe Teilungsgesetz beobachtet er auch bei primitiven Kristallen: »Theilt man den Kreis in verschiedene Theile und vereinigt die Theilungspunkte durch gerade Linien, so entstehen Flächen, deren Seitenzahlen der Kreistheilung entsprechen, und setzen wir mehrere solche Flächen zusammen, so entstehen Körper, die den Kernformen der Krystallen gleich sind«.140 Den Beleg dafür, dass auch in der mittelalterlichen Architektur das Kreisteilungsgesetz stillschweigend zur Anwendung kam, findet Metzger in einer Kleinplastik, die über der Eingangstür zum Ruprechtsbau des Heidelberger Schlosses angebracht wurde und die er seinem Aufsatz als Frontispiz voranstellt (Abb. 76):141 Das Wappen über dem Portal zeige zwei Engel, die einen Blätterkranz in den Händen halten, »in welchem sich fünf gleichweit von einander entfernte fünfblättrige Rosen befinden«. Einer der Genien halte zudem mit der rechten Hand einen großen Zirkel, »der in dem Kranze aufsitzt«. Metzger sieht in dieser Zusammenstellung die regelmäßige Fünfteilung des Kreises bezeichnet und deutet das Bildwerk als Hinweis darauf, dass dem gesamten Bauwerk das Kreisteilungsgesetz zu Grunde liegt. Und tatsächlich ergeben Metzgers Messungen, dass die Sehnen des Portalspitzbogens im Winkel von 72° zusammenstehen, also durch die fünffache Teilung des Kreises ermittelt wurden. Der Autor fühlt sich daraufhin in seinem Glauben bestätigt, »dass die Alten bei ihren Bauten, besonders bei Anordnungen von Detailformen, nach gesetzlicher Kreistheilung verfuhren«.142 Angespornt durch seine Entdeckung unternahm er sogleich weitere Analysen, bei denen er das Prinzip auch im Maßwerk, in Kapitelformen, Wendeltreppen, Türmen, Säulen und Dächern mittelalterlicher Bauwerke wiedererkennt. Sogar in Steinmetzmonogrammen seien entsprechende Verweise codiert.

140 | Metzger 1835, S. 10. Auch im »Bau der Thiere« vermutet Metzger (vgl. 1835, S. 10) die Wirksamkeit seines Kreisteilungsgesetzes, fühlte sich jedoch aufgrund mangelnder zoologischer Expertise nicht in der Lage, ein entsprechendes Kapitel zu verfassen. 141 | Dass Metztger immer wieder auf die Architektur des Heidelberger Schlosses Bezug nimmt, liegt daran, dass er sich mit dieser Anlage bereits im Rahmen einer Spezialstudie (Beschreibung des Heidelberger Schlosses und Gartens, 1829), die auch ins Englische übersetzt wurde, auseinandergesetzt hatte. 142 | Alle Metzger 1835, S. 13 f.

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Abbildungen 77 und 78: Carl A. von Heideloff: Albertus Magnus als Begründer der Gotik (links) und Erwin von Steinbach, in: Evers / T hoenes 2003, S. 645 (links) und S. 646 (beide BSB).

Metzgers These vom Kreis als »Grundgestalt« des gotischen Stils wurde von den Theoretikern der Neugotik um 1850 ernst genommen und weitergedacht:143 Carl Alexander von Heideloff etwa bezieht sich in seiner an die Architekten der Gegenwart gerichteten vierteiligen Schrift Der kleine Altdeutsche (Gothe), oder Grundzüge des altdeutschen Baustyles (1849-52) darauf,144 erweitert das Modell jedoch, indem er das Achtort – Quadrat und quadratische Raute kreisförmig umfangen  – als den primären Proportionsschlüssel zur Gotik vorstellt. Der oberste Geometer und Gründervater dieses Stils  – Albertus Magnus  – habe das Grundprinzip einst durch seine Lektüre der Heiligen Schrift und antiker Traktate erarbeitet und es auf das Gebiet der praktischen Baukunst übertragen (Abb. 77), wo seine Thesen u. a. von Erwin von Steinbach aufgenommen worden seien (Abb. 78).145 In der Folgezeit einflussreicher weil um einiges fundierter war jedoch das Gothische A.B.C.-Buch des Juristen und Begründers der Münchner Gesellschaft für deutsche Alterthumskunde (1831) Friedrich Hoffstadt.146 Das zwischen 1840 und 1863 in sieben Lieferungen erschienene, letztlich unvollendet gebliebene 143 | Metzger 1835, S. 2. 144 | Vgl. dazu Isphording 2014, S. 365; Evers 2003a. 145 | Vgl. Heideloff 1849, S. 20. 146 | Dazu Balus 2016, S. 93-96; Teutenberg 2015b; Isphording 2014, S. 343; Kruft 2013, S. 363 f.; Evers 2003b; Müller 1978; Müller 1975.

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Lehrbuch basiert auf langjährigen Studien des Autors zur deutschen Kunst und Architektur des Mittelalters und ist – wie auch Metzgers Text – vom Wunsch der Erschließung und Vermittlung entscheidender Grundformen und Konstruktionsprinzipien der gotischen Formenwelt geprägt. Wie eng sich Hoffstadt dabei am »schätzbaren Schriftchen«147 Metzgers orientierte, belegt schon das vom Autor selbst gestaltete Titelblatt (Abb. 79), denn auch dort werden der Leserin, dem Leser zur Einstimmung die Heidelberger Genien der Geometrie vorgeführt. Darüber hinaus betonen Metzger wie auch Hoffstadt die von der Stilgeschichte losgelöste, freie Entstehung »sowohl der Grund- als Verzierungs-Formen des gothischen Styles«148 aus den »ewigen und unveränderlichen Gesetzen der Geometrie« und berufen sich zum Beleg dieser These auf die Ergebnisse eigenständig betriebener, analytischer Anschauung. Denn »daß geometrische Grundfiguren allen Werken des gothischen Styles zu Grunde liegen, und deren Grundformen bilden, so wie, daß dieselben Grundformen in allen einzelnen Theilen eines ganzen Werkes, und sogar in dessen Verzierungen wiederkehren«, geht auch für Hoffstadt »am klarsten und einleuchtendsten aus der Betrachtung der alten Werke selbst hervor.«149 Dabei erkennt er gleichfalls im Kreis die heimliche Grundgestalt der Gotik, da dessen regelmäßige Teilung die Basis für die korrekte Konstruktion aller möglichen Vielecke darstelle. Unter diesen seien die »Hauptfiguren« des gleichseitigen Dreiecks und des Quadrats die »eigentlichen Schlüssel zum gothischen Style«, da aus »deren Durchkreuzung oder Uebereckstellung über und in einander die wichtigsten Constructionen der Grundformen […] hervorgehen« (Abb. 80).150 Die tatsächliche Berücksichtigung des Kreisteilungsgesetzes komme am deutlichsten in den polygonalen Chorabschlüssen der Kirchen zum Ausdruck, da dort ein Halbkreis durch bauliche Elemente in gleich große Einheiten zerlegt werde. Auf das Quadrat bzw. auf Arrangements desselben zu Vielecken dagegen gingen die Schäfte und Kapitelle der Stützen, die Joche sowie die Türme und auch alle Arten von Gesimsen zurück, wohingegen das Dreieck den Spitzbögen, den Fenstern und Türen und auch den Gewölben zu Grunde liege.

147 | Hoffstadt 1840-63, Bd. 1 (1840), S. IX. 148 | Hoffstadt 1840-63, Bd. 1 (1840), Vorrede. 149 | Anders als Metzger ist Hoffstadt in der Lage, seine Erkenntnisse durch Quellen zu belegen. So führt er das, »so viel der Verfasser weiß, gar nicht gekannte« (Hoffstadt 1840-63, Bd. 1 [1840], S. VIII), im Jahr 1486 gedruckte Fialen-Buch Matthäus Roritzers an, das August Reichensperger wenig später neu edieren wird (vgl. Roritzer 1845). Zudem bildet er im Tafelteil Zeichnungen ab, die u. a. dem ersten Baumeisterbuch Wolf Jacob Stromers entstammen. 150 | Alle Hoffstadt 1840-63, Bd. 1 (1840), S. VI, Hervorhebung im Original.

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Abbildungen 79 und 80: Friedrich Hoffstadt: Heidelberger Engel der Geometrie (links) und gotische Geometrie, in: Hoffstadt 184063, Frontispiz (links) und Taf. 3 (beide UBH).

A usblick : E nt wicklungsgeschichten der F orm von G öller und R iegl Die Publikationen Weinbrenners, Sempers und Hoffstadts geben einen Eindruck davon, wie variantenreich sich der formanalytische Blick in der Architekturhistoriographie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausnimmt. Das gesamte Spektrum der Möglichkeiten bilden die Beiträge jedoch keineswegs ab.151 Im Gegenteil treten bis ins 20. Jahrhundert kontinuierlich neue Ansätze und Theorien auf den Plan, von denen an dieser Stelle wenigstens zwei im Rahmen eines Ausblicks über die Jahrhundertmitte hinaus adressiert werden sollen, bevor der Architekturdiskurs im folgenden Kapitel zu Gunsten anderer Themenfelder ad acta gelegt wird. Zunächst muss in diesem Zusammenhang auf den Architekten und Architekturtheoretiker Adolf Göller eingegangen werden, über den heute nicht viel mehr bekannt ist, als dass er seit den frühen 1880er Jahren Professor am Department für Bauingenieurwesen des Stuttgarter Polytechnikums war und sich in seinen Publikationen überwiegend mit den Themen Architekturschönheit

151 | Balus (vgl. 2016, S. 90-98) stellt mit Leo von Klenze, August Reichensperger und Joseph von Görres weitere Beispiele aus der ersten Jahrhunderthälfte vor, die in diesem Zusammenhang bedeutsam sind, jedoch nicht alle besprochen werden können.

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und Stilgeschichte auseinandergesetzt hat.152 Sein Hauptwerk bildet eine fast 500 Seiten umfassende Studie zur Entstehung der architektonischen Stilformen aus dem Jahr 1888, in der Göller zuvor im Rahmen mehrerer Vorträge153 erörterte Theoreme für eine großangelegte Geschichte der Baukunst nach dem Werden und Wandern der Formgedanken fruchtbar macht. Gleich zu Beginn beklagt der Autor (wohl auch mit kritischem Blick auf Semper), dass man in der Forschung zur Geschichte der Architektur bislang zu viel Wert auf die Erschließung konstitutiver Grundformen und Elementareinheiten gelegt habe. Der Prozess der Formentwicklung, d. h. die Stilgeschichte der Architektur, sei dabei außen vor geblieben. Den »Ursprung der griechischen Tempelformen und des. Wölb- und Strebensystems der gothischen Kathedrale« habe man beispielsweise »schon vielfach erörtert«, nicht jedoch die »Wege, welche etwa die römische Architektur in der Verwerthung der griechischen und etruskischen Formgedanken eingeschlagen hat, um sich zur Weltformensprache abzurunden, oder die Renaissance eingeschlagen hat, um einen abermals reicheren Formenapparat und ihren durchaus veränderten Charakter aus dem Römischen herauszuziehen, oder der Barockstil eingeschlagen hat, um der Ermüdung an den oft verwertheten strengen Renaissanceformen auszuweichen, ohne deren Reiz zu verlieren.«154

Was Göller vorschwebt ist eine Studie, die »ein Bild der ganzen Verzweigung der architektonischen Formenströme« zeichnet und deutlich macht, wie »der formenerfindende Geist das Neue gewann«, indem sie bestimmte »Prinzipien der Gestaltung« ermittelt, die Auskunft über die inneren Gesetzmäßigkeiten der Stilgeschichte geben. Ausdrücklich kritisiert wird dabei der kulturhistorische Ansatz, der »die Verschiedenheit der Bauformen der Völker aus deren Charakter und Weltanschauung« herleitet.155 Denn was bei der Konzentration auf den Symbolgehalt der Architektur unterschlagen werde, sei die formale Abhängigkeit aller späteren Architekturstile von früheren. Um dieses komplexe System stilistischer Verwandtschaftsbeziehungen zu durchschauen, unterscheidet Göller in Anlehnung an Karl Böttichers Tektonik der Hellenen (1852) grundsätz152 | Vgl. zu Person und Werk Onians 2007, S. 108-114; Schmidt 2006, S. 67 ff.; Schwarzer 1995; Mallgrave / I konomoú 1994, S. 39-56. Dort findet sich auch ein Verzeichnis der Schriften (vgl. S. 300) sowie eine kurze Biographie (vgl. S. 320) Göllers. Vgl. zudem Podro 1982, S. 55-58. Die englische und amerikanische Forschung diskutiert ausführlich Göllers Verbindungen zur Architekturtheorie Sempers bzw. zur Psychologie Herbarts, so dass an dieser Stelle nicht intensiver auf entsprechende Parallelen eingegangen werden muss. 153 | Vgl. Göller 1887. 154 | Alle Göller 1888, S. IV f. 155 | Alle Göller 1888, S. V f., Hervorhebungen im Original.

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lich zwei Formtypen: erstens Werkformen (Wand, Decke, Dach, Boden, Stütze, Träger, Fenster, Tür), die als obligatorisch-funktionale Einheiten für die Dauerhaftigkeit und Zweckmäßigkeit von Gebäuden verantwortlich zeichnen; und zweitens Schmuckformen, mit deren Hilfe die Werkformen dem herrschenden Zeitgeschmack gemäß durch ornamentale oder plastische Applikationen (Muster, Pilaster, Gesimse etc.) verschönert werden. Um einen Baustil wie etwa den der italienischen Renaissance als Einheit begreifen und ihn dadurch von anderen Stilen abgrenzen zu können, müsse man folglich bestimmen, welche Werkformen man zu dieser Zeit vorzugsweise künstlerisch gestaltete und welche Schmuckformen dabei wiederholt zum Einsatz kamen. Der Frage nach dem Ursprung der für seine Stilgeschichte so entscheidenden Zierelemente konnte jedoch auch Göller – allem für die Kunstgeschichte des späten 19. Jahrhunderts typischem Interesse am Prozessualen zum Trotz – nicht entrinnen: Der Autor sieht diesbezüglich »die geometrischen Formgesetze oder Grundbegriffe der Raumanschauung« in der Verantwortung, welche der Mensch jedoch entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben nicht von der Natur abstrahiert, sondern eigenständig und eher zufällig entdeckt habe:156 Troglodyten seien allmählich beim Flechten von Weiden, Knüpfen von Netzen oder Töpfern von Gefäßen auf die elementaren Gesetze des Formschönen gestoßen. Diese nutzten sie dann zur Entwicklung aller möglichen Schmuckformen, die auch zur Zierde der ersten primitiven Behausungen des Menschen verwendet wurden. Als wichtigste Grundformen definiert Göller die gerade Linie, den Kreis, die Ellipse sowie die Wellen- bzw. Spirallinie. Darüber hinaus zählt er noch die Reihung identischer Formen in gleichen Abständen, die »Wechselreihung« zwischen »zwei oder drei verschiedenen Gebilden in gleichen Abständen«, die »gesetzmässige Veränderung von Maassgrössen oder Winkelgrössen«, den »Parallellauf gerader oder gekrümmter Linien«, die Symmetrie und schließlich die »radiale Ordnung übereinstimmender Theile um einen Mittelpunkt« dazu. Alles Schöne in der Architektur definiert er im Anschluss daran »als ein theils gleichzeitiges, theils aufeinanderfolgendes Vorstellen vieler solcher Gesetze«: »Je mehr derselben ein Gebilde dem Auge vereinigt darbietet, desto reicher ist es«.157 156 | Göller beruft sich auf die anthropologischen Forschungen Johannes Rankes, vgl. Ranke 1879. Semper hatte zuvor eine gegenteilige These vertreten, indem er im (Körper-)Schmuck ein »sich selbst erklärendes Symbol der Naturgesetzlichkeit« erkannte, und generell betont: »Wo der Mensch schmückt, hebt er nur mit mehr oder weniger bewusstem Thun eine Naturgesetzlichkeit an dem Gegenstande, der er ziert, deutlicher hervor.« (Semper 1856, S. 1 f.) Der Behang betone dabei die Symmetrie des geschmückten Körpers, Ringe sein proportionales Wachstum und Richtungsschmuck schließlich seine Bewegung, vgl. Semper 1856. Vgl. zur Naturgesetzlichkeit der Kunst auch die »Prolegomena« in Semper 1860. 157 | Alle Göller 1888, S. 14, Hervorhebungen im Original.

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Vorgestellt wird damit eine streng formalistische Schönheitstheorie, frei von allen assoziations- und inhaltsästhetischen Facetten. Nur ein Aspekt spielt für Göller neben der Gesetzmäßigkeit des architektonischen Erscheinungsbildes noch eine Rolle für den Schönheitseindruck: die Historizität der Form, d. h. das vom Autor als »Stilgefühl« bezeichnete Empfinden der Abhängigkeit eines Gebildes von früheren Formen.158 Denn Kunstwerke, die völlig regelkonform, jedoch ohne Bewusstsein für Formtraditionen gestaltet wurden, rufen bei Göller ein »Gefühl der Heimathlosigkeit« auf; zu große Übereinstimmungen zwischen alten und neuen Formen wirken dagegen schnell langweilig. Stilgeschichte resultiert demnach aus einer »doppelte[n] Quelle«: aus der prinzipientreuen Arbeit »nach den geometrischen Formgesetzen« auf der einen sowie aus der »Nachbildung« bereits etablierter Formen auf der anderen Seite159 – ein Postulat, durch das Göller in letzter Konsequenz der gesamten Kunst- und Architekturgeschichte den die Architektur und Kunstproduktion seiner eigenen Zeit prägenden Historismus unterstellt. Göller exemplifiziert seine Theorie u. a. am Beispiel des Barockstils:160 »diejenige auf die Renaissance folgende Veränderung der Architektur, welche der nächstliegenden Gestalt der überkommenen Werkformen und schmückenden Zuthaten oder der natürlichen Verbindungsweise beider aus dem Wege ging, um durch Ungewöhnlichkeit und Reichthum der formalen Erscheinung zu reizen«. In diesem Sinne habe zwar jeder wichtige Baustil in seiner Spätphase eine Barockisierung durchlebt. Im Anschluss an die Renaissance jedoch sei diese in besonders »entlegenen Kombinationen und Umbildungen« vollzogen worden, so dass Berechtigung bestehe, von einer neuen Stileinheit auszugehen.161 Barockspezifisch ist für Göller vor allem, dass die Form in ihrer Substanz angegangen wird. Denn hatte man in der Renaissance noch die antik-römischen, »aus wenigen geometrischen Gesetzten kombinirte[n] Formgedanken unverändert auf die neuerfundenen Gebilde übertragen«, so sei im Barock »die Um158 | Göller 1887, S. 18. Die für die ästhetische Wirkung notwendige Verwandtschaft neuer Eindrücke mit vorhandenen »Gedächtnisbildern« hatte Göller bereits in einer Festrede zur Frage Was ist die Ursache der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur? theoretisiert (vgl. Göller 1887, S. 3-48). Der Text wurde auch ins Englische übertragen und dürfte nicht zuletzt aus diesem Grund die bekannteste Schrift Göllers darstellen, vgl. Mallgrave / I konomoú 1994, S. 193-225. 159 | Alle Göller 1888, S. 19 f., Hervorhebungen im Original. 160 | Dass Göller den Barockstil und sogar das Rokoko in seine Stilgeschichte einbezog, zeugt von seinem Bewusstsein für aktuelle Tendenzen der kunsthistorischen Forschung, vgl. Engel 2018. 161 | Wölfflin sollte dieser These wenig später widersprechen, indem er betont: »Der Barock ist aber ein wesentlich Neues, das sich aus dem Vorhergehenden nicht ableiten lässt«, Wölfflin 1888, S. 60.

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bildung mehr und mehr auf die einfacheren Bestandtheile der ererbten Motive, endlich auf das letzte aller Formelemente, auf die gerade oder stätig gekrümmte Linie« ausgeweitet worden. Durch diese transformatorische Geste, diesen barocken »Angriff auf die Geradlinigkeit«, gelang es in vielen Fällen, den Ursprung einer Form fast bis zur Unkenntlichkeit zu kaschieren, wie Göller vermittels einiger Beispiele zu belegen versucht:162 Dabei erkennt er etwa einen neuen Verlauf der »Grundlinien« von Treppenwangen und Brüstungen, die »aus der Geraden in mannigfach geschweifte, oft sogar gebrochene Linien übergehen und sich am Fuss schraubenförmig und in den Horizontalkreis übergehend aufrollen«163 – wie etwa Borrominis Ovaltreppe im Palazzo Barberini (Abb. 81), die Göller in Cornelius Gurlitts kurz zuvor publizierter Geschichte des Barockstiles in Italien (1887) nachschlagen konnte; ebenso wie Berninis Baldachin für den Petersdom (Abb. 63), dessen gewunden-kannelierte Säulen einen weiteren Schauplatz des barocken Kampfes gegen die Linie offenbaren sollen. Was Adolf Göller mit Alois Riegl verbindet,164 ist vor allem ein ausgeprägtes Kontinuitätsdenken, dass sich im festen Glauben an einen teleologischen Verlauf der Stilgeschichte äußert. Hinzu kommt das aus dieser Prämisse resultierende Interesse beider an »dunkle[n] Welttheil[en] auf der Karte der kunstgeschichtlichen Forschung«,165 die zuvor als Verfallsepochen gebrandmarkt worden waren. Diese wissenschafltlichen Grundzüge treten bei Riegl schon in den Stilfragen von 1893 hervor166 – eine auf das Ornament beschränkte motivgeschichtliche Studie, in der erstmals der Begriff »Kunstwollen« fällt.167 Methodisch zentral wird dieser Terminus jedoch erst in der Kunstindustrie (1901),168 da der Autor dort alle künstlerischen Ausdrucksformen des spätantiken Men-

162 | Alle Göller 1888, S. 359 ff., Hervorhebungen im Original. 163 | Alle Göller 1888, 363. 164 | Vgl. zu Person und Werk Cordileone 2014; Olin 2012; Feist 2007b; Rampley 2007; Vasold 2004; Gombrich 2004, S. 14-17; Woodfield 2001a; Wood 2000, S. 9-72; Kemp 1999; Wiesing 1997, S. 57-91; Podro 1982, Kap. V; Sauerländer 1977; Zerner 1976; Pächt 1963; Schlosser 1934, S. 37-49; Dvořák 1929. 165 | Riegl 1901, S. 2. 166 | Zu den Stilfragen Cordileone 2014, S. 85-108; Onians 2007, S. 124-132; Prange 2004, S. 190-195; Locher 2001, S. 387-394; Iversen 1993, Kap. IV; Olin 1992, S. 1-89; Nachtsheim 1984, S. 76-82. 167 | Riegl 1893, S. 20. Vgl. speziell zum Begriff »Kunstwollen« und seinen ideengeschichtlichen Wurzeln im deutschen Idealismus Rampley 2003; Reichenberger 2003; Iversen 1993, Kap. I; Gombrich 1932-35; Sedlmayr 1958; Panofsky 1992. 168 | Vgl. zur Kunstindustrie Vasold 2010a; Woodfield 2001b; Ballantyne 2001; Kemp 2000; Iversen 1993, Kap. V; Olin 1992, S. 129-153; Olin 1984.

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schen und damit das gesamte Formensystem dieser Epoche auf eine gemeinsame »geistige und künstlerische Disposition« zurückzuführen versucht.169 Abbildung 81: Francesco Borromini: Ovaltreppe im Palazzo Barberini, in: Gurlitt 1887, Abb. 170 (ZI).

Den Auftakt der Kunstindustrie macht nicht umsonst ein Kapitel zur Architektur, denn Riegl zufolge offenbaren sich dort »die leitenden Gesetze des Kunstwollens oftmals in nahezu mathematischer Reinheit«.170 Das primäre Charakteristikum spätantiker Baukunst im Vergleich zur älteren Tradition erkennt der Autor im Willen zur »Raumbildung«, d. h. im Hang zur Konstruktion geschlossener Innenräume wie auch zur plastischen Gestaltung der inneren und äußeren Raumgrenzen. Zuvor seien die Menschen – beeinträchtigt durch ein unterentwickeltes Wahrnehmungsvermögen,171 das ihnen alle »Außendinge 169 | Vasold 2010a, S. 368 f. 170 | Riegl 1901, S. 11. 171 | Zu Riegls Raumtheorie entstanden bereits einige Spezialuntersuchungen, vgl. Costa 2015; Fend 2007; Fend 2005. Umstritten ist, ob Riegl eingekleidet in seine Stilgeschichte auch eine Entwicklungsgeschichte der Wahrnehmung vorstellt oder nur von

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verworren und unklar untereinander vermengt« präsentierte – versucht gewesen, zunächst einmal feste, flächige und untereinander wie auch nach außen hin klar abgegrenzte Einheiten zu schaffen, d. h., Kunst- und Bauwerke »in ihrer klaren stofflichen Individualität« zur Anschauung zu bringen. Ein künstlerisches Verhältnis zum Raum, den man als »Negation des Stoffes, und somit ein Nichts« fürchtete,172 konnten die ersten Kulturen des Altertums also nicht aufbauen. Stattdessen konzentrierte man sich auf die Gestaltung der »Flächenoder Eben-Dimensionen der Höhe und Breite (Umriss und Silhouette)«.173 Im »Architekturideal der Altegypter« und besonders im Grabmaltypus der Pyramide komme dieser Schwerpunkt deutlich zum Ausdruck. Denn »vor welche der vier Seiten immer der Beschauer sich hinstellt, sein Auge gewahrt stets bloß die einheitliche Ebene des gleichschenkligen Dreiecks, dessen scharfabschließende Seiten in keiner Weise an den Tiefenanschluss dahinter gemahnen. Gegenüber dieser wohlüberlegten und mit größter Schärfe betonten Begrenzung der äußeren stofflichen Erscheinung in den Flächendimensionen tritt hier die eigentliche gebrauchszweckliche Aufgabe – die Raumbildung – vollständig zurück.«

Die Pyramide ist daher für Riegl »eher ein Bildwerk, denn ein Bauwerk«, und doch: Vollkommen in die Ebene gedrängt waren auch diese Architekturen nicht. Um Zugang zur Grabkammer zu gewähren, kam man nicht umhin, für die Eingänge kleine, kaum sichtbare Vertiefungen in den Baukörper einzulassen, und bezog so die dritte Dimension aller Raumscheu zum Trotz in die Fassadengestaltung ein. Im weiteren historischen Verlauf sollte der Raum sich dann in der Kunst und Architektur des Altertums immer deutlicher bemerkbar machen: So erkennt Riegl in den Bauwerken hellenistischer Zeit erste gewollte

wechselnden Wahrnehmungsstilen bei Ägyptern, Griechen und Römern ausgeht. Sicher ist, dass keine physische Optimierung des Auges im Verlauf des Altertums gemeint ist, sehr wahrscheinlich jedoch eine psychische: Denn bekanntermaßen bezeichnet sich Riegl selbst in wahrnehmungstheoretischen Fragen als Empiristen (vgl. Riegl 1901, S. 19), d. h., er erachtet die Raumwahrnehmung nicht als gegebene, sondern als erworbene Kompetenz (zur Nativismus-Empirismus-Debatte vgl. Hatfield 1990). Die Kunstindustrie kann also durchaus als Versuch gedeutet werden, die zunehmenden Raumwerte in der Kunst und Architektur des Altertums durch die fortschreitende Vervollkommnung des menschlichen Raumsinns zu erklären. Im Übrigen ist bekannt, dass Worringer Riegl in diesem Sinne verstand und davon ausgehend seine Theorie vom Abstraktionsdrang ›primitiver‹ Völker entwickelte, vgl. Worringer 1911, S. 1-28. 172 | Alle Riegl 1901, S. 16 f. 173 | Riegl 1901, S. 19.

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»Tiefenveränderungen«,174 wenn etwa die bis dahin strenge Geschlossenheit der Fassade bei griechischen Tempeln durch Säulenportiken gebrochen wurde. Der letzte Schritt zur vollen Akzeptanz der Dreidimensionalität sei jedoch erst in römischer Zeit vollzogen worden. Bereits das Pantheon zeuge von dieser Entwicklung: einerseits am Außenbau, wo die »ruhelose, tiefensuchende Curve« der Rotunde die Fassade (ansatzweise) aus der Ebene löst und die Betrachterin, den Betrachter auf eine Erstreckung des Baus in die dritte Dimension hinweist; sowie andererseits im Inneren des Tempels, dem »ältesten erhaltenen, völlig geschlossenen Innenraum« der Architekturgeschichte: Denn wohin das Auge im Pantheon auch blicke, es stoße auf »tiefenverändernde Flächen, die sich aber nirgends zur Form abgrenzen, sondern continuierlich in sich selbst zurücklaufen« und dadurch ein deutlich spürbares Raumgefühl evozieren. Die Baukunst der frühen Kaiserzeit hatte damit die »Emancipation des Raumes« vollzogen und zugleich der Spätantike den weiteren Weg gewiesen,175 denn in dieser Epoche verzeichnet Riegl neue gestalterische Lösungen, mit deren Hilfe die Raumwirkung der Kunst und Architektur ins Extreme gesteigert werden konnte. Die wichtigste dieser Maßnahmen ist die »Massencomposition«, durch die sich »die spätrömischen Kirchen nicht mehr als einfache stereometrische Grundformen (Pyramide Würfel, Prisma, Cylinder) dar[stellen], sondern [als, TT] aus mehreren solchen Grundformen componiert, wobei allerdings eine über alle übrigen zu dominieren pflegt.«176 Als bewusst eingesetztes Mittel zur Steigerung der Plastizität sieht Riegl das Prinzip der Massenkomposition abermals zuerst im Inneren des Pantheons verwirklicht: Schon dort werde die Elementarform des Baus – der Mauerzylinder – in der untersten Zone durch dunkel verschattete halbrunde Nischen und rechteckige Seitenräume optisch wie auch faktisch gebrochen. Den eigentlichen Wirkungskreis dieses antik-römischen Gestaltungsprinzips sieht er jedoch außen. Besonders die christliche Basilika stelle alle »Merkzeichen eines Massenbaus zur Schau«: Bei Sant’Apollinare in Classe (Abb. 82) etwa – für Riegl sichtbar durch Ferdinand von Quasts Studie zu den Alt-Christlichen Bauwerken von Ravenna (1842) – treten an allen vier Seiten des zentralen Mittelschiffs Nebenbauten heraus: »an der Façade das Atrium […], an den Flanken die Seitenschiffe […], an der Abschlusswand die Apsis. Das Herausspringen des Bauwerks in seiner Gesammtheit aus der Grundebene ist dadurch wirksam angedeutet« und die totale Verräumlichung des Außenbaus vollzogen.177

174 | Alle Riegl 1901, S. 20 ff. 175 | Alle Riegl 1901, S. 24 ff. 176 | Alle Riegl 1901, S. 16, Hervorhebung im Original. 177 | Alle Riegl 1901, S. 32 f.

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Abbildung 82: Ferdinand von Quast: Sant’Apollinare in Classe, in: Quast 1842, Taf. 10 (BSB).

Auch Adolf Göller und Alois Riegl haben demnach einen Blick für geometrische Grundeinheiten der Architektur. Die Bedeutung dieses Untersuchungsgegenstandes tritt bei beiden jedoch merklich zurück: Werk- und Schmuckform sind in Göllers Architekturgeschichte zwar zentrale Begriffe, was den Autor aber eigentlich interessiert, ist das psychologische Movens der Formgenese. Gleiches lässt sich für Riegl konstatieren: Das Konzept der Massenkomposition ist elementarer Bestandteil seiner Erzählung, nicht jedoch so wichtig, wie

V.  Vom Erkalten des Blicks

die psychologische Fundierung stilgeschichtlicher Prozesse. Damit ist nicht gesagt, dass die Suche nach Grundformen der Architektur um 1900 schlagartig zum Erliegen kommt: Erinnert sei nur an Georg Dehios Untersuchungen über das gleichseitige Dreieck als Norm gotischer Bauproportionen von 1894 (Abb. 83), die er schon ein Jahr später auch auf andere Epochen der Architekturgeschichte ausweitete (Abb. 84); oder an August Thierschs Schrift über Die Proportionen in der Architektur (1893), in welcher der Autor nach »Betrachtung der gelungensten Werke aller Zeiten« zu dem Schluss kommt, »daß in jedem Bauwerk eine Grundform sich wiederholt, daß die einzelnen Theile durch ihre Anordnung und Form stets einander ähnliche Figuren bilden«.178 Für die Geschichte der Kunstgeschichte prägender waren allerdings Positionen, die wie Riegl und Göller Abstand zu statischen Formanalysen suchten und sich mit Bezug auf die zeitgenössische Psychologie um die Historisierung der Formentwicklung bemühten. Im Epilog der vorliegenden Studie wird auf entsprechende Beispiele zurückzukommen sein. Abbildungen 83 und 84: Georg Dehio: Kathedrale von Chartres (links) und Felsendom in Jerusalem, in: Dehio 1894, Fig. 12 (links) und 20 (beide ZI).

178 | Alle Thiersch 1904, 39. Vergleichbar mit Dehio und Thiersch sind Berlage 1908; Hoeber 1906; Drach 1897. Für weitere Beispiele vgl. Graf 1958; Wittkower 1949, S. 139 f.

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VI. Die Hybris des Auges Zur Entgrenzung des pädagogischen Blicks in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts

E in e xpandierender D iskurs Gert Mattenklotts Publikation Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers (1982) enthält ein Kapitel, das den Titel Kalte Augen trägt:1 Ereignisse wie die Erfindung und Verbreitung der Zentralperspektive, die Systematisierung der Überwachung in Gefängnis- und Krankenanstalten sowie die apparative Ergänzung des Sehorgans durch Brille und Fotoapparat werden dort auf wenigen Seiten zu einer Jahrhunderte umspannenden Entwicklungsgeschichte arrangiert, die von einer wachsenden Distanz zwischen Perzeptorin, Perzeptor und Perzept berichtet, einhergehend mit der Entstehung eines zunehmend von den anderen Sinnen isolierten, auf kühle Abstraktion und emotionslose Rationalität verpflichteten Blicks. Die Geschichte der Anschauungspädagogik und der durch sie propagierten visuellen Technik spielen darin (einmal mehr) keine Rolle, obgleich sie dem Argument des Autors ohne Zweifel Nachdruck verliehen hätten. Denn was in der vorliegenden Studie bislang vornehmlich mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Architekturen und kunsthandwerklichen Erzeugnissen dargestellt wurde, ist elementarer Bestandteil des von Mattenklott beschriebenen, bei ihm letztlich in die Katastrophe von Hiroshima mündenden Prozesses der Erkaltung des Sehens, insofern sich im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mathematisch-analytische Wahrnehmungsverfahren wie Filter zwischen die Betrachtenden und das Betrachtete schoben und im Zuge dessen die um 1800 noch so lebendige Leitungsbahn zwischen Auge und Empfindungsvermögen blockierten. Im Rahmen des anstehenden Kapitels soll diese Entwicklung weiterverfolgt werden. Dabei wird nun mit der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts ein Zeitraum anvisiert, der durch drei Phänomene der Entgrenzung des pädagogi1 | Sein Pendant bildet das Folgekapitel zur Geschichte des leidenschaftlich-ungezügelten Sehens, vgl. Mattenklott 1982, S. 47-77, 78-102.

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schen Blicks gekennzeichnet ist: Erstens erweitert sich simultan zum institutionellen Machtzuwachs der Anschauungspädagogik der Anwendungsbereich ihrer Anschauungstechnik: Standen zuvor überwiegend dankbare, weil augenfällig geometrisch organisierte Objekte im Fokus, werden nun auch kompliziertere Ziele wie Körper, Skulpturen und Malereien adressiert. Zweitens nimmt in dieser Phase nicht mehr nur die Kunstgeschichte anteil an der Debatte um Grundformen und Proportionen. Frühe Experimentalpsychologen wie Gustav Theodor Fechner und Theodor Lipps schalteten sich ein und entwickelten Versuchsreihen, mit denen sie der oft proklamierten Ästhetik elementarer Formen und Verhältnisse – und mithin der Validität des pädagogischen Blicks – auf den Grund zu gehen gedachten. Und drittens expandiert der Diskurs um 1900 auch in den Bereich der bildenden Kunst, wo formanalytisches Sehen eine wichtige Voraussetzung für die einsetzenden theoretischen und praktischen Reflexionen über gegenstandslose Malerei darstellt. Am Beispiel Wassily Kandinskys soll in diesem Zusammenhang erörtert werden, wie der pädagogische Blick einen für die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts entscheidenden Rollenwechsel vollzog: vom Produzenten mentaler zum Urheber pikturaler Abstraktionen.

M orphologen der S chönheit : K ämmerer , Z eising und Z immermann Auf gängige Praktiken der Gemäldebetrachtung im frühen 19. Jahrhundert wurde anhand der Beispiele Fiorillo, Waagen und Passavant bereits eingangs des letzten Kapitels verwiesen. Dass der dort zum Ausdruck kommende Beschreibungsschwerpunkt auf dem Bildinhalt auch in der Folgezeit beibehalten wurde, wird etwa in Franz Kuglers frühem Überblickswerk deutlich, dem 1837 in zwei Bänden publizierten Handbuch der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Grossen. Dort stößt der Autor mit Bezug auf die Werke Albrecht Dürers begeistert aus: »[I]ch möchte dieselben am Liebsten als ›Gedichte‹ bezeichnen«,2 und es ist aufgrund dieses Bekenntnisses kaum verwunderlich, dass im anschließenden Werkverzeichnis kaum ein Wort fällt, das nicht der Beschreibung des Sujets gewidmet ist. Ein auf das formale Grundgerüst der Darstellung gerichtetes Sehen ist vor der Jahrhundertmitte dagegen nahezu inexistent, wenngleich es Sonderfälle gibt. Oliver Kase weist auf ein frühes Beispiel hin:3 die ansonsten von der Forschung nicht beachtete Schrift des Malers und Zeichenlehrers am Schwarzburg-Rudolstädter Hof Johann Ernst Ludwig Kämme-

2 | Kugler 1837, Bd. 2, S. 88. 3 | Vgl. Kase 2010, S. 240-249.

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rer Ueber die Composition in Philip Wouwermans Gemaelden zum Unterricht für Liebhaber der Malerei (1789). Interessant ist dieses Buch nicht allein aufgrund der Tatsache, dass es wohl die europaweit erste selbstständig publizierte Abhandlung zur Kompositionstheorie darstellt. Es wartet auch mit einer didaktischen Innovation auf, indem es Radierungen aller vom Autor analysierten Gemälde in den Fließtext einbaut und damit offensichtlich auf die zeitgleich von der Pädagogik proklamierte Notwendigkeit anschaulichen Lernens reagiert. Kämmerers Schrift ist grundsätzlich vom aufklärerischen Anliegen motiviert, akademisches Spezialwissen zu popularisieren und dadurch unter Laiinnen und Laien das allgemeine Niveau wie auch den intellektuellen Ertrag der Kunstrezeption zu heben. Zu Beginn wird die Leserin, der Leser instruiert, dass »die Composition in der Kunst der vornehmste Theil, für den Künstler das wichtigste Geschäfte, und in dem Kunstwerke selbst diejenige Eigenschaft sey, in welcher die höchste Schönheit desselben gesucht werden« müsse.4 Eine gute Komposition, so Kämmerer weiter, »kündiget sich schon von ferne an, durch hervortretende Hauptmassen, die das Auge anziehen, ehe es noch in den Standpunkt kommt, in welchem sich das ganze Gemälde vor ihm aufklärt.«5 Das wichtigste künstlerische Mittel, diesen Effekt zu erzielen, sei die Beleuchtung. Durch sie können Bildfiguren oder Landschaftselemente derart akzentuiert und in Beziehung zueinander gesetzt werden, dass ein Gemälde die für seine ästhetische Wirkung erforderliche rationale Grundordnung erhalte. Als besonders ergiebig erachtet Kämmerer in diesem Zusammenhang das Dreieck, mit dessen Hilfe ein Bild beruhigt und der Blick der Betrachterin, des Betrachters optimal gelenkt werden könne. Eine exemplarische Analyse der Bildanlage von Wouwermans Retour du marché (Abb. 85 u. 86), das um 1655 entstand und heute als verschollen gilt,6 soll diesen Umstand verdeutlichen: In Begleitung eines Hundes sei dort ein »Landmann« mit seiner Frau zu sehen. Auf einem Pferdekarren befahren beide einen holprigen Weg. An der Straßenseite treffen die Reisenden auf eine »Weibsperson«, die einen Säugling stillt, was die Aufmerksamkeit der Frau und insbesondere die des Mannes auf sich zieht. »Die wenigen Figuren bilden eine einzige pyramidenförmige Gruppe«,7 deren unterer Abschluss durch Mutter und Kind auf der linken sowie durch den flankierenden Hund auf der rechten Seite bezeichnet wird. Zuerst falle der Betrachterin, dem Betrachter jedoch die Spitze des Dreiecks ins Auge, die der hochgereckte Kopf der Bäuerin markiere. Durch ihren neugierig hinabstarrenden Blick werde er dann auf die Mutter-Kind-Grup-

4 | Kämmerer 1789, S. 13. 5 | Kämmerer 1789, S. 24. 6 | Vgl. Schumacher 2006, Bd. 1, S. 321. 7 | Kämmerer 1789, S. 45.

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pe am Wegesrand aufmerksam, bevor sein Auge über den Reiter hinunter zu seinem Pferd und schließlich zum Hund weiterwandere. Abbildungen 85 und 86: Philips Wouwerman: Le retour du marché (um 1655), nach Kämmerer, in: Kämmerer 1789, S. 44 (Privatbesitz, links), und Philips Wouwerman: Le retour du marché (um 1655), in: Schumacher 2006, Bd. 2, Abb. 351 (ZI).

Kämmerer präsentiert damit eine für diese Zeit innovative – in enger Abhängigkeit zu den akademischen Unterrichtspraktiken des späten 18. Jahrhunderts entwickelte8 – bildanalytische Methode, die insbesondere Laiinnen und Laien von der voraussetzungsreichen Frage nach dem Sinn der Darstellung zu befreien gedachte. Durchgesetzt hat sich sein Ansatz dennoch nicht,9 was nicht allein an der Dominanz des idealistischen Kunstbegriffs um 1800 gelegen haben mag, sondern auch an der Polemik von Kunstkritikern wie Diderot, der gegen zu deutlich erkennbare Kompositionsschemata im Bild gewettert und ihnen darüber hinaus jede ästhetische Relevanz abgesprochen hatte.10

8 | Vgl. etwa die Methode der Preißlers (s. o.). 9 | Auch Kase (vgl. 2010, S. 249) bemerkt, dass »in dieser gegenstandsübergreifenden Abstraktion […] einer der progressivsten Ansätze in der Bildbeschreibung des 18.  Jahrhunderts« vorliegt. Mit Kämmerer vergleichbare Positionen kann er für Deutschland und Frankreich kaum benennen, ähnlich wie auch Rosenberg (vgl. 2004), der systematisch nach geometrischen Termini in Gemäldebeschreibungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert fahndet. 10 | Vgl. dazu Körner 1988, S. 121-125.

IV.  Die Hybris des Auges

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich an dieser Situation wenig. Einen Wendepunkt markiert dann das Werk Adolf Zeisings  – des Begründers der mathematischen Ästhetik. Zeising studierte ab den frühen 1830er Jahren in Halle und Berlin Philosophie, u. a. beim Hegel-Schüler Karl Rosenkranz.11 1840 erfolgte die Promotion, die jedoch in Zeisings Fall keine wissenschaftliche Lauf bahn einleitete. Geldnöte bewegten den jungen Akademiker vielmehr dazu, eine Lehrerstelle am Gymnasium im anhaltischen Bernburg anzutreten, wo er 1848 in den Rang eines Gymnasialprofessors aufstieg. Als Autor debütierte der leidenschaftliche Demokrat mit system- und sozialkritischer Prosa und Lyrik im Geiste des Vormärz, was ihn in der restaurativen Phase nach der Deutschen Revolution in Ungnade fallen ließ. Nach zähem Ringen gab er daher 1853 seine lukrative Stellung am Bernburger Gymnasium auf – jedoch nicht ohne zuvor mit Regierungsvertretern eine stattliche Abfindung auszuhandeln, die ihm für die nächsten Jahre finanzielle Unabhängigkeit verschaffte. Dieser biographische Umstand war hauptverantwortlich dafür, dass der erfahrene Pädagoge in seiner zweiten Lebenshälfte überhaupt als Kunstforscher in Erscheinung treten konnte. Vor allem eine Errungenschaft begründete dabei Zeisings noch heute anhaltenden Bekanntheitsgrad: die einflussreiche Theorie vom Goldenen Schnitt, den er als leitendes Proportionsprinzip der Natur und bildenden Kunst erstmals in der Neuen Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers (1854) vorstellte und schon ein Jahr später in seinen Aesthetischen Forschungen zu einer normativen Schönheitslehre weiterentwickelte. Entdeckt hat Zeising das Prinzip freilich nicht:12 Das als »Goldener Schnitt« bezeichnete Teilungsverhältnis von Strecken oder Größen, in dem das Ganze zu seinem größeren Teil (Major) im gleichen Verhältnis steht, wie der größere zum kleineren Teil (Minor), war Mathematikern von Euklid über Fibonacci bis zu Kepler durchgängig geläufig13 – was nicht bedeutet, dass es zeitgleich auch in der bildenden Kunst zur Anwendung gekommen sein muss.14 Selbst der Terminus 11 | Vgl. zur Person Ulbrich 2005; Herz-Fischler 2004, bes. Kap. 1; Wecklein 1910. 12 | Vgl. zur Theoriegeschichte des Goldenen Schnitts und zu Zeising: Schoot 2005; Herz-Fischler 2004, Kap. 3; Padovan 1999, Kap. 15; Fredel 1998; Herz-Fischler 1998; Naredi-Rainer 1982, S. 185-201. 13 | Vgl. zur mathematischen Fundierung des Goldenen Schnitts Beutelspacher / P etri 1996; Walser 2009; Huntley 1970; Schenk 1959; Hagenmaier 1958; Baravalle 1950; Hagenmaier 1949; Timmerding 1919; Pfeifer 1885. 14 | Jürgen Fredel diskutiert in seinen Publikationen künstlerisches und kunsttheoretisches Material von der Antike bis zur Frühen Neuzeit und kommt dabei zu dem Schluss, dass der »Rang des GS als ästhetische Proportionsnorm […] eine Erfindung des 19.  Jahrhunderts« ist (Fredel 1992, S. 180), vgl. ferner Fredel 1998, S. 259-295; ähnlich auch Schoot 2005, S. 284. Die Gültigkeit des Goldenen Schnitts als Proportionsnorm der Renaissancearchitektur bestritt zuvor schon Wittkower (vgl. 1960). Dass noch immer Stu-

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technicus entstammt nicht der Feder Zeisings, sondern geht auf den Mathematiker Martin Ohm zurück, der ihn erstmals in der zweiten Auflage seines Gymnasiallehrbuchs Die reine Elementar-Mathematik verwendete.15 Was Zeising allerdings sehr wohl für sich in Anspruch nehmen darf, ist die Hypostasierung des Teilungsverhältnisses zum Universalprinzip der Schönheit. Vollzogen wird dieser Schritt schon auf den ersten Seiten der Neuen Lehre: Denn dort stellt der Autor mit Blick auf seinen wichtigsten Untersuchungsgegenstand die in jeder Hinsicht raumgreifende These auf, dass »der menschliche Körper ein aus einer Uridee hervorgequollener, in allen seinen Theilen und Dimensionen nach einem und demselben Grundverhältniss gegliederter und inmitten der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Formen und der Freiheit seiner Bewegungen ein von vollkommenster Harmonie und Eurythmie durchdrungener Organismus ist […], dass in ihm überhaupt das Grundprincip aller nach Schönheit und Totalität drängenden Gestaltung im Reich der Natur, wie im Gebiet der Kunst enthalten ist und dass es von Uranfang an allen Formbildungen und formellen Verhältnissen, den kosmischen wie den individualisierenden, den organischen wie den anorganischen, den akustischen wie den optischen, als höchstes Ziel und Ideal vorgeschwebt, jedoch erst in der Menschengestalt seine vollkommenste Realisation erfahren hat.«16

Dass sich sein ominöses Schönheitsgesetz dem analytischen Forscherblick am ehesten durch das Studium der Anatomie des menschlichen Körpers offenbart, begründet Zeising in der Einleitung mit dessen Gottebenbildlichkeit. Genauere Informationen zu den Eigenschaften des Universalprinzips erhält die Leserin, der Leser jedoch erst im Anschluss an ein knapp 120 Seiten langes Resümee historischer Erörterungen über Proportionssysteme von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, das kurioserweise Luca Paciolis De divina proportione (1509) – die einzige weitere exklusiv auf den Goldenen Schnitt fokussierte Studie der Neuzeit – unterschlägt. Was folgt, ist die »Entwicklung des eigenen Systems«. Dabei geht Zeising zunächst von der Annahme aus, dass alle Körper der Dingwelt, die einen formal schönen Eindruck machen, immerzu die Dialektik von Unendlichkeit und Einheit zur Anschauung bringen: Unendlichkeit repräsentieren Objekte durch ihre Umrisse, die zwar ihre Form begrenzen, jedoch zugleich aus unzähligen Linien und Flächen bestehen und somit theoretisch unendlich viele Ansichten zulassen. Den »Charakter der Einheit« hingegen

dien erscheinen, die ernsthaft das Gegenteil behaupten, bedarf keiner weiteren Kommentierung, vgl. Hemenway 2008. 15 | Vgl. Ohm 1834-39, Bd. 2 (1835), S. 194. Den Hinweis auf diese Stelle gibt HerzFischler (vgl. 1998, S. 168). 16 | Zeising 1854, S. V, Hervorhebung im Original.

IV.  Die Hybris des Auges

evozieren Körper durch einen »Cardinalpunkt«,17 der innerhalb ihrer Umrisslinien ein klares Zentrum markiere. Das Problem sei nun, dass sich beide Eigenschaften gänzlich voneinander unterscheiden. Träten sie schlicht gleichzeitig an einem Objekt auf, würden sie sich daher konterkarieren. Um schön und vollkommen zu wirken, müssen die Gegensätze von Einheit und Unendlichkeit daher in ein ideales, harmonisches Verhältnis treten, das Zeising nach längerem Deduzieren in der Formel des Goldenen Schnitts erkennt: Denn nur dieser gewähre »die befriedigenste harmonische Vermittlung zwischen der völligen Gleichheit und einer allzu grossen Verschiedenheit der Theile, und stellt dadurch den natürlichsten Uebergang von der Einheit zur Zweiheit und Mehrheit her.«18 Wie schon im Vorwort angekündigt verifiziert Zeising seine Theorie zunächst anhand der Anatomie des Menschen. Dass die Längen- und Breitenmaße wie auch diejenigen der einzelnen Elemente des menschlichen Körpers »aus einer fortgesetzten Theilung […] nach der Regel des goldenen Schnitts hervorgegangen sind«,19 belegt er allerdings nicht durch empirische Untersuchungen des Leibes selbst. Vielmehr nutzt der Privatgelehrte fast ausschließlich bereits publiziertes Bildmaterial. Dieses stammt einerseits aus populären physiognomischen Traktaten wie Carl Gustav Carus’ Symbolik der menschlichen Gestalt (1853),20 sowie andererseits aus Zeichenlehrbüchern: neben den bereits erwähnten Publikationen Preißlers vor allem aus Julien Faus Anatomie des formes extérieures du corps humain (1845) und Karl Christian Schmidts Proportionsschlüssel. Neues System für Verhältnisse des menschlichen Körpers (1849). Im Zentrum des angewandten Teils der Neuen Lehre stehen demnach intentionale, bereits zum Zwecke der Veranschaulichung von Proportionswissen konzipierte Abbildungen, die Zeising auf Grundlage der eigenen Theorie neu vermisst. Dabei erkennt er zunächst, dass die gesamte Körperlänge des Menschen durch einen Goldenen Schnitt auf Höhe des Bauchnabels in einen Minor (Oberkörper) und einen Major (Unterkörper) zerfällt. Der Nabel erscheint ihm »hienach [sic] als der Kern- und Ausgangspunkt der beiden ungleichen, aber verhältnissmässigen Theile, als der Mittelpunkt der proportionalen Gliederung, als der goldene Schnitt des menschlichen Körpers.«21 Anschließend vermisst Zeising Minor und Major gesondert und erkennt, dass auch sie dem Prinzip der stetigen Teilung unterliegen: Der Goldene Schnitt des Oberkörpers verlau17 | Zeising 1854, S. 149. 18 | Zeising 1854, S. 164, Hervorhebungen im Original. 19 | Zeising 1854, S. 174. 20 | In diesem selbsternannten Handbuch zur Menschenkenntnis sucht Carus gleichfalls nach Urmaßen und harmonischen Proportionen des Leibes, schließt jedoch anders als Zeising ausgehend von morphologischen Abweichungen auf charakterliche Dispositionen. 21 | Zeising 1854, S. 176.

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fe durch den Kehlkopf, derjenige des Unterkörpers durch die Knie-Enden. In der Folge differenziert er sein System dann immer weiter aus, indem er auch Kopf, Rumpf, Arme, Beine, Hände, Füße und ansatzweise sogar die Organe des Menschen auf ihre Teilbarkeit durch den Goldenen Schnitt hin untersucht. Am Ende dieses Prozederes steht eine äußerst kleinteilige Skalierung des männlichen Körpers in aufrechter Position, die Zeising seinen Leserinnen und Lesern durch eine eigens dafür angefertigte Graphik vor Augen führt (Abb. 87). Anschließend wird auch das Verhältnis von Höhen- und Breitenmaßen beim Menschen auf das Prinzip des Goldenen Schnitts zurückgeführt. Auch hier beginnt er mit rein theoretischen Erörterungen diverser ästhetischer Relationen von Höhe und Breite, die anhand von geometrischen Grundformen vorgenommen werden (Abb. 88). Faustregel für einen vollkommenen Eindruck sei dabei abermals: »Die kürzere Dimension muss sich zur längeren verhalten, wie diese zur Summe beider.«22 Abbildungen 87 und 88: Adolf Zeising: Das Körpermaß des Mannes (links) und geometrische Formen, in: Zeising 1854, S. 214 (links) und S. 227 (beide ZI).

22 | Zeising 1854, S. 222.

IV.  Die Hybris des Auges

Nach seinen Ausführungen zum menschlichen Leib widmet sich Zeising im weiteren Verlauf der Neuen Lehre dann auch der Maßästhetik anderer Naturerscheinungen: Die Spannweite reicht hier von kosmischen Phänomenen wie Sternbildern oder interplanetaren Distanzen über die Proportionen des Erdballs bis hin zur Morphologie von Kristallen und sogar Pflanzenzellen, die nach Zeising exakt »durch eine nach dem goldenen Schnitt vollzogene Eintheilung des Kreisumfangs« gebildet werden.23 Zuletzt offenbart sich dem Autor sein ästhetisches Prinzip dann auch in der Architektur und bildenden Kunst: Vor allem die Bildhauer der Klassik hätten ihre schönsten Werke exakt nach den Vorgaben des Goldenen Schnitts ausgearbeitet, so der Autor, der diese These in der Folge jedoch abermals nicht durch eigene Messungen am Original belegen kann,24 sondern erneut Abbildungsmaterial aus Zeichenlehrbüchern zur antiken Kunst – Gérard Audrans Les proportions du corps humain (1683) und Giovanni Volpatos Principes du dessein (1786) – zitiert.25 »Am Ueberraschendsten«, stellt Zeising mit Blick auf eine Graphik Audrans fest, »harmonirt das Gesetz mit dem phytischen Apollo« (Abb. 89). Denn die Vermessung dieser Zeichnung ergebe, dass »alle Hauptabtheilungen des Kopfes, des Rumpfes und der Oberschenkelpartie in den Durchschnittslinien des Gesetzes liegen und nur in der Unterschenkelpartie zufolge der Verkürzung einige kleine Differenzen Statt finden.«26 Als Beispiel dafür, dass auch in der Frühen Neuzeit nach den Prinzipien des Goldenen Schnitts gearbeitet wurde, wird hingegen Raffaels Darstellung der Eva angeführt, die Marcantonio Raimondi in einem Kupferstich (um 1510) des Sündenfalls überliefert hatte (Abb. 90):27 Zur Veranschaulichung dient ihm dabei eine entsprechende Skala, die, »um den Eindruck des Bildes so wenig als möglich durch störende Linien zu beeinträchtigen, nur leise in dem Stamme des Baumes angedeutet ist.«28 Abschließend stellt der Privatgelehrte sogar noch den Versuch an, seine Analyse der inneren Verhältnisse auf Bildkompositionen auszuweiten. Erneut dient ihm dazu eine Arbeit Raffaels als

23 | Zeising 1854, S. 339. 24 | 1855 beabsichtigte Zeising, entsprechende Messungen an Werken der Münchner Glyptothek vorzunehmen, scheiterte aber am Veto König Ludwig I., vgl. Wecklein 1910, S. 407. 25 | Vgl. zu Audran einführend Kuhn 2014; zu Volpato / M orghen: Wiesheu 2014. 26 | Alle Zeising 1854, S. 278, Hervorhebung im Original. 27 | Dass gerade Raffael von Zeising und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern (s. u.) immer wieder herangezogen wurde, ist nur ein weiterer Beweis für die allgemein hohe Wertschätzung des Urbinaten im 19. Jahrhundert, vgl. Dohe 2014; Agazzi / D écultot /  H eß 2012. Die Sixtinische Madonna war dabei das wichtigste Referenzwerk, vgl. Ladwein 1993. 28 | Zeising 1854, S. 290.

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Exemplum: Denn die »Hauptabtheilungen« der Sixtinischen Madonna (1512),29 die nach oben durch den Scheitel Marias und nach unten durch die Füße der ihr beigeordneten Bildfiguren Sixtus II. und der heiligen Barbara abschließen, werden durch die Köpfe der seitlichen Figuren genau auf Höhe des Goldenen Schnitts geteilt. Zeisings Gang durch die bildende Kunst endet mit der vielversprechenden Perspektive, dass zusätzliche Analysen weiterer gemeinhin als schön geltender Gemälde, vor allem aus dem Bereich der Landschaftsmalerei, sehr ähnliche Resultate hervorbringen würden. Diese auch zu erbringen, erübrigt sich für ihn allerdings. Denn mit dem Apoll von Belvedere und der Dresdener Madonna hatte er bereits die Schönheit zweier der seinerzeit gefeiertsten Werke der Kunstgeschichte durch die Theorie vom Goldenen Schnitt erklärt. Abbildungen 89 und 90: Adolf Zeising: Apoll von Belvedere (links) und Eva nach Raffael, in: Zeising 1854, S. 279 (links) und S. 289 (beide ZI).

Zeisings Ansatz schlug in der Wissenschaftslandschaft des 19. Jahrhunderts hohe Wellen und auch er selbst suchte in der Folgezeit kontinuierlich nach weiteren Anhaltspunkten für die Gültigkeit seiner Theorie.30 Zu den ersten 29 | Zeising 1854, S. 413. 30 | Studien auf so unterschiedlichen Wissensfeldern wie der Botanik, Kristallographie, Anatomie, Phrenologie, Rassentheorie, Optik, Chemie, Geometrie, Ästhetik sowie Skulptur- und Architekturgeschichte sind überliefert, vgl. die Bibliographie bei Wecklein 1910.

IV.  Die Hybris des Auges

Kommentatoren der Neuen Lehre zählte mit Robert von Zimmermann einer der wichtigsten Kritiker der idealistischen Gehaltsästhetik im 19. Jahrhundert.31 Am 28. Januar 1856 hielt dieser im Kreise der Philosophischen Sektion der Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften einen Vortrag zu Zeisings ästhetischem Universalgesetz, dessen Quintessenz ein knappes Sitzungsprotokoll überliefert: Demnach sprach Zimmermann, nachdem er grundsätzlich die »Wichtigkeit der Proportionalität für die Aesthetik als Formwissenschaft« betont hatte, dem Goldenen Schnitt seine ausdrückliche »Anerkennung in Bezug auf alle Gebiete der Kunst und Natur« aus, woraufhin sich unter den Sektionsmitgliedern »eine lebhafte Debatte« zur Neuen Lehre entwickelt haben soll.32 Die Begeisterung Zimmermanns für den mathematischen Ansatz seines Kollegen ist nicht verwunderlich, verfolgte er doch zur selben Zeit ein verwandtes Projekt, das sich im Laufe der Jahre zu seinem publizistischen Hauptwerk ausweiten sollte und heute als erste, rein formalistische Ästhetik gilt. Geboren wurde er 1824 als Sohn des österreichischen Schulreformers Johann August Zimmermann – ein »gediegener Pädagog«, der dem Vernehmen nach »den nächsten und nachhaltigen Einfluß auf den empfänglichen und mit ungewöhnlichen Geistesgaben ausgestatteten Knaben« ausgeübt hatte und ihm während der Gymnasialzeit sogar als Lehrer vorgestanden war.33 Anschließend trat Zimmermann an der Prager Universität in den Kreis um den Philosophen und Bildungsreformer Franz Serafin Exner ein, der in seiner Eigenschaft als Ministerialrat ab 1848 in Österreich für die »Hebung des gesammten Unterrichtswesens« verantwortlich war und diese Aufgabe im Sinne der Lehre Herbarts sowie mit Blick auf die »bewährten pädagogischen Einrichtungen Deutschlands« zu meistern versuchte.34 Danach verschlug es Zimmermann an die Universität Wien, wo er 1846 seine Dissertation einreichte. Was folgte, war ein Ruf zum Extraordinarius für Philosophie an die Universität Olmütz (1849) sowie ordentliche Professuren in Wien (ab 1852) und Prag (ab 1861). Als Mitglied des kaiserlich-königlichen Unterrichtsrats und Direktor der Prüflingskommission für Lehramtskandidaten engagierte auch er sich zeitlebens für bildungspolitische und pädagogische Angelegenheiten. Das angesprochene Hauptwerk des Philosophen ist seine zweibändige Aesthetik, die 1858 sowie 1865 in Wien erschien. Ihr erster, analytischer Teil besteht aus einer über 800 Seiten starken Revision der »Geschichte der Aestehik 31 | Vgl. zu Person und Werk Bartsch 2017, Kap. 3; Feichtinger 2016; Blaukopf 2000; Bauer 1966, S. 71-76; Münz 1900; Reich 1899; Wurzbach 1891. 32 | Der Sitzungsbericht findet sich in: Abhandlungen der Königlichen Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften 1854-56, S. 52. Ähnlich positiv äußert sich Zimmermann noch Jahre später (vgl. Zimmermann 1858 /  6 5, Bd. 2 [1865], S. 192). 33 | Wurzbach 1891, S. 131. 34 | Prantl 1877.

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als philosophischer Wissenschaft« – eine bis dato beispiellose Pionierarbeit, die auf ihrem Sektor »trotz aller Voreingenommenheiten des Autors noch heute zu den wenigen Standardwerken« zählt.35 Ideologisch vorbelastet ist die Studie vor allem, da Zimmermann sie als überzeugter Herbartianer verfasste und dementsprechend die Entwicklungsgeschichte der Ästhetik von der Antike bis ins 19. Jahrhundert nicht nur direkt auf Herbarts System zulaufen lässt, sondern in ihm auch den krönenden und zugleich zukunftsweisenden Höhepunkt dieses Prozesses erkennt. Den Schluss des ersten Bandes bildet daher eine Diskussion der wenigen ästhetisch relevanten Versatzstücke im Œuvre Herbarts.36 Ihr entnimmt Zimmermann die für den zweiten, systematischen Teil zentrale These,37 dass »die Gegenstände des Geschmacksurtheil [sic] […] nichts anderes als Verhältnisse, Formen«38 sein können und die Programmatik einer Schönheitslehre somit in der »Auffindung und Aufstellung bleibend gefallender Formen« bestehen müsse. Den Grundstein für eine entsprechende »Morphologie der Schönheit« legt Zimmermann bereits in der Vorrede des zweiten Bandes der Ästhetik:39 Dort wird die Form nicht mehr als »das leblose irdene Gefäss eines von Innen aus dasselbe durchleuchtenden und durchwärmenden übersinnlichen Gehalts« gedacht,40 sondern zur eigentlichen und alleinigen Quelle der Schönheit erhoben. Unter Formen versteht der Philosoph jedoch keine ganzheitlichen, von Konturlinien umschlossenen Einheiten. ›Form‹ meint bei ihm wie bei allen Herbartianerinnen und Herbartianern vielmehr immer ein Relationsgefüge von zwei oder mehreren Elementen.41 Einen normativen Kanon an Schönheitsformen, auf den seiner Ansicht nach alle komplexen Formstrukturen der Vorstellung wie auch der Wirklichkeit rekurrieren, stellt Zimmermann dann im zweiten Kapitel seiner Schrift vor:42 Als ästhetische Hauptformen benennt er einerseits eine reine Quantitätsform, nach der die ästhetische Wirkung einer 35 | Allesch 1987, S. 256. Hermann Lotzes deutlich bekanntere Geschichte der Ästhetik in Deutschland (1868) erschien erst zehn Jahre später. 36 | Eine Zusammenstellung dieser Stellen bietet Hostinský 1891. 37 | Vgl. speziell zum systematischen Teil der Ästhetik Bartsch 2017, Kap. 3; Bartsch 2015; Gubser 2006, S. 97-104; Wiesing 1997, S. 27-54; Mallgrave / Ikonomoú 1994, S. 15 ff.; Allesch 1987, S. 255 ff.; Nachtsheim 1984, S. 67-73; Podro 1982, S. 70 ff.; Johnston 1972; Venturi 1937. 38 | Zimmermann 1858 / 6 5, Bd. 1 (1858), S. 768, Hervorhebung im Original. 39 | Alle Zimmermann 1858 /  6 5, Bd. 1 (1858), S. 799, Hervorhebungen im Original. 40 | Zimmermann 1858 / 6 5, Bd. 2 (1865), S. VI f. 41 | Vgl. zum Formbegriff der Herbart-Schule Wiesing 1997, S. 44 ff. 42 | Dass Zimmermanns Formkanon – anders als es der Autor vorgibt – nicht durch rein logische Deduktion entstand, sondern in Wahrheit »nichts anderes als ein Aggregat von ästhetischen Urteilen« ist, die aus »psychologische[r] Selbstbeobachtung« hervor-

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Vorstellung proportional zu ihrer Intensität ansteigt. Und andererseits zwei reine Qualitätsformen: Harmonie, d. h. die überwiegende Identität von Formgliedern, gefalle, wohingegen Disharmonie, der überwiegende Gegensatz von Formgliedern, missfalle. Diese beiden Qualitätsformen zerfallen dann wiederum in jeweils zwei Unterkategorien: Bei harmonischen Relationen unterscheide man zwischen der »Form des Charakteristischen« (§ 106) und der »Form des Einklangs« (§ 112), wohingegen die unschöne Wirkung disharmonischer Verbindungen durch die Formen der »Correctheit« (§ 121) und des »abschließenden Ausgleichs« (§ 145) aufgehoben werden könne. Diese nach Zimmermann objektiv gültigen »ästhetische[n] Grundformen« beschreiben aber immer nur Relationen,43 die aus exakt zwei Elementen bestehen. Erst im anschließenden Kapitel über die abgeleiteten Formen wendet sich der Autor mehrgliedrigen Gebilden zu. Auch in diesem Zusammenhang werden eine ganze Reihe formalästhetischer Prinzipien aufgestellt, die jedoch immer in Abhängigkeit zu den zuvor theoretisierten Grundverhältnissen des Schönen stehen. Im zweiten und dritten Buch wird Zimmermann dann konkreter, indem er seine Theorie anhand schöner bzw. unschöner Phänomene der Natur, des Geistes und der Kunst exemplifiziert. Immer wieder kristallisiert sich im Zuge dieser »verworrenen, unübersichtlichen und zuweilen geradezu widersprüchlichen« Übertragungen eine Grundannahme heraus:44 Anders als für die Gehaltsästhetiker seiner Zeit resultiert Schönheit für Zimmermann nicht aus der Semantik der Form. Entscheidend für einen schönen Eindruck ist allein das Aufscheinen eines der ästhetischen Elementarverhältnisse als solches. So wirkt der Apoll von Belvedere ähnlich wie für Zeising auch auf Zimmermann nicht als Personifikation der sittlichen Reinheit, der Mäßigung oder der Musik schön, sondern ausschließlich als relationales Formgebilde: Die Skulptur gefalle, da »alle Formen des Körpers […] zum Geschlecht der einfach, doppelt und mehrfach gekrümmten Flächen [gehören]; die einen sind Kugel-, die anderen Ellipsoid-, die dritten Parabolid-, Hyperbolyd-, Kreissegmentflächen u. s. w., jede Form für sich gefallend und alle unter einander harmonisch verwandt.«45

gegangen und anschließend absolut gesetzt worden sind, betont Nachtsheim (1984, S. 72). 43 | Zimmermann 1858 / 6 5, Bd. 2 (1865), S. 30, Hervorhebung im Original. 44 | Nachtsheim 1984, S. 72. 45 | Zimmermann 1858 /  6 5, Bd. 2 (1865), S. 214 f., Hervorhebungen im Original.

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W it tstein und R iegel : z wei ›R it ter vom G oldenen S chnit t‹ Die neuere Kunstgeschichte hat weder für den Logizisten Robert von Zimmermann noch für den Maßforscher Adolf Zeising Sympathien auf bringen können. Zimmermann ist nahezu ausschließlich aufgrund seines angeblich stilbildenden Einflusses auf Alois Riegl im Gedächtnis geblieben und wird ansonsten sogar von Wiener Publikationen zur Philosophiegeschichte Österreichs ausgeklammert.46 Und auch Zeising schlägt in erster Linie Ablehnung entgegen: Sein »schlichtweg abstrus zu nennende[r] Text«47 wird als »kuriose Fundgrube für Pseudo- und Halbwahrheiten, Miß- und Unverständnisse, Fehlurteile und Voreingenommenheiten« geschmäht und der Verfasser gar ins Licht eines fadenscheinigen Verführers gerückt, der durch seine Irrlehre nachfolgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler reihenweise »in die falsche Bahn gelenkt« habe.48 Dass diese Kritik in der Sache vollkommen berechtigt ist, steht außer Frage. Denn im Falle Zimmermanns ist es rückblickend tatsächlich schwer zu begreifen, dass ein halbes Jahrhundert nach Kants Kritik der Urteilskraft ein Ästhetiker wieder einen objektiven Schönheitsbegriff vertreten und damit einen der wichtigsten Philosophielehrstühle im deutschsprachigen Raum erobern konnte.49 Und auch Zeisings Neue Lehre, die ihrem Autor u. a. die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie der Naturforscher bescherte, ist von methodischen und argumentativen Mängeln derart überfrachtet, dass sie heute nur noch Kopfschütteln hervorruft. In Anbetracht dieser offenkundigen Defizite umso erstaunlicher wirkt jedoch der eklatante Erfolg, den formreduktionistische Verfahren in der Kunstgeschichte des langen 19. Jahrhunderts feiern konnten – ein Umstand, der nicht allein durch die akademischen Errungenschaften Zimmermanns und Zeisings ersichtlich wird, sondern der sich auch quantitativ bestimmen lässt: Frustriert von der Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit kunst- und naturwissenschaftlicher Studien zu Elementarformen und Proportionsprinzipien hat nämlich der Architekturhistoriker Hermann Graf Mitte des 20. Jahrhunderts eine Bibliographie zum Problem der Proportionen (1958) erstellt,50 deren Resultate in Bezug auf die wachsende Popularität formund maßästhetischer Ansätze Bände sprechen: Grafs Revision der Literaturlage umfasst den Zeitraum zwischen 1800 und 1958 und verzeichnet für die ersten 46 | Vgl. Fischer 1995; zu Zimmermann und Riegl Ionescu 2013; Gubser 2006, S. 97; Wiesing 1997, Kap. 2; Benedikt 1996; Podro 1982, S. 71; Johnston 1972, S. 289. 47 | Tauber 2005, S. 160. 48 | Fredel 1998, S. 17 f. 49 | Auch auf Lambert Wiesing wirkt Zimmermann in diesem Punkt regressiv, vgl. Wiesing 1997, S. 53 f. 50 | Vgl. Graf 1958.

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50 Jahre insgesamt 55 Titel aus den Bereichen Architektur-, Kunst- und Naturforschung in deutscher, englischer und französischer Sprache. In den anschließenden etwa 100 Jahren wächst diese Summe dann sprunghaft auf 900 überwiegend in deutscher Sprache verfasste Schriften an – unter ihren Autorinnen und Autoren auch gefeierte Heroen der historisch-kritischen Kunstgeschichte, wie etwa Jacob Burckhardt, Heinrich Wölfflin oder Erwin Panofsky.51 Erwähnung finden Verirrungen dieser Art in der Literatur zur Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte kaum. Man hat der als peinlich empfundenen Episode der Form- und Maßästhetik vielmehr den Eingang in das kollektive Gedächtnis des Fachs verwehrt. So wirken entsprechende Ansätze auf Leserinnen und Leser heute wie skurrile Randerscheinungen jener bedeutenden Jahrzehnte der Konsolidierung, die rückblickend zur akademischen Etablierung der Disziplin geführt haben. Das Gegenteil ist jedoch zutreffend: Formund Maßforschung ist spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel im kunsthistorischen Diskurs – eine Tatsache, die verdaulicher wird, sofern man sich vor Augen führt, dass auch kunsthistorisches Sehen eine zeitgebundene Operation darstellt, die unter Bezugnahme auf wechselhafte, kulturell bedingte Codes erfolgt. Einer dieser Codes konnte im Rahmen der vorliegenden Studie historisiert werden, und er macht ersichtlich, dass sich die viel gescholtene Form- und Maßforschung letztlich nur einer visuellen Konvention bediente, die in ihrer Zeit als verlässliche Quelle rationaler Erkenntnisse erachtet wurde. Teil der von Graf veranschaulichten, inflationären Entwicklung waren von Beginn an Autorinnen und Autoren, die sich unmittelbar auf Zeising beriefen und sich ihm gegenüber so systemtreu verhielten, dass man sie im späteren 20. Jahrhundert auch als »Ritter vom Goldenen Schnitt« bezeichnete.52 Dieser Orden zerfiel wiederum in zwei Abteilungen: Auf der einen Seite praktisch denkende Reformerinnen und Reformer, die – wie beispielsweise der Mathematiker Theodor Wittstein – ausgehend vom Glauben an die ästhetische Überlegenheit der Formel versuchten, die nationale Künstler- und Handwerkerausbildung umzustrukturieren. 1874 hielt Wittstein dazu vor dem Hannoveraner Kunstverein einen angeblich auf Grundlage 20-jähriger Untersuchungen ruhenden Vortrag mit dem Titel Der goldene Schnitt und die Anwendung desselben in der Kunst, bei dem er betonte, dass wenngleich auch nicht für die Naturwissenschaften, so doch »eben für die Kunst der Zeising’sche Gedanken [sic] nur ein äusserst glücklicher genannt werden« könne.53 Denn auch für Wittstein resultiert der schöne Eindruck eines Kunstgegenstandes maßgeblich aus den Ver51 | Vgl. etwa Panofsky 1915; Wölfflin 1946b; Burckhardt 1920, S. 98-109. 52 | Kayser 1958, S. 13. 53 | Wittstein 1874, S. 4.

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hältnissen, in denen seine einzelnen Elemente zueinander stehen, und auch er sieht in diesem Zusammenhang im Goldenen Schnitt die ästhetischste aller Lösungen. Bewusst oder instinktiv sei diese Regel von allen großen Künstlerinnen und Künstlern befolgt worden: Schon die Rahmung der meisten klassischen Gemälde gehe auf sie zurück und auch die Bildanlage folge ihr in vielen Fällen eindeutig. So liege in Claude Lorrains Landschaften der Horizont vorzugsweise auf Höhe des Goldenen Schnitts und auch die Kompositionen von Raffaels Schöner Gärtnerin (1507 / 08) und Pilotys Ermordung Julius Caesars (1865) basieren nach Wittstein auf dem Gesetz der stetigen Teilung. Darüber hinaus könne man es im Kunsthandwerk an Möbeln, Fenstern sowie Türen beobachten und selbst die schönsten Werke der »Schneiderkunst« bringt der Autor mit der Sectio aurea in Verbindung (Abb. 91),54 indem er den Goldenen Schnitt als verbindlichen und unhintergehbaren »Regulator der Moden« vorstellt: »Wo seinen Weisungen nicht gehorcht wird, da kann die Kleidung wohl immer modern sein, aber sie gefällt nicht, ihre Verhältnisse beleidigen das Auge.«55 Abbildung 91: Theodor Wittstein: Der Goldene Schnitt in der Mode, in: Wittstein 1874, Taf. 1 (BSB).

Ein ausgewiesenes Lehrbuch für Kunsthandwerker, das die mathematischen Grundlagen des Prinzips wie auch sein Vorkommen im Reich der Natur adressiert und zugleich künstlerische Anwendungsgebiete skizziert (Abb. 92), legte dann einige Jahre später (1886) der Gewerbeschullehrer J. Matthias vor. Auch 54 | Wittstein 1874, S. 25. 55 | Wittstein 1874, S. 29.

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er hatte im Sinn, die nationale Kunstindustrie zu fördern sowie der Arbeiterin, dem Arbeiter »viele Zeit, mancherlei Verdruß und Verlust« zu ersparen bzw. ihr, ihm »ein wohlbegründetes Selbstvertrauen« anzueignen.56 Darüber hinaus entwickelte man in dieser Zeit auch Werkzeuge, um die Anwendung des Verfahrens zu erleichtern. Eines von ihnen stellte der Maler und Kunsthandwerker Adalbert Goeringer im Jahr 1893 vor: »das unfehlbare mechanische Instrument, der goldene Zirkel«57 – ein Patent, mit dessen Hilfe sich wie von selbst Abmessungen vornehmen ließen, die Zeisings Schönheitsgesetz exakt entsprachen (Abb. 93).58 Abbildungen 92 und 93: J. Matthias: Der Goldene Schnitt im Möbelbau, in: Matthias 1886, Blatt 18 (links), und Adalbert Goeringer: Zirkelfigur, in: Goeringer 1911, Taf. 1 (beide BSB).

Neben solch praktischen Projekten entstand im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch eine rege theoretische Auseinandersetzung mit dem Goldenen Schnitt. Man spricht rückblickend gar von einer magischen Anziehungskraft, einer »numinöse[n] Faszination«, die das Teilungsprinzip damals »besonders auf den informierten, kenntnisreichen Gelehrten ausübte«.59 In der Kunstgeschichts56 | Matthias 1886, S. IV. 57 | Goeringer 1911, S. 32. 58 | Letztlich gelang es durch diese und andere Initiativen, die sectio aurea als Proportionsschlüssel in vielen Bereichen des Kunsthandwerks zu etablieren. So setzt etwa noch das Kapitel zu den Kompositionsprinzipien in Hermann Pfeifers Standardwerk zur Formenlehre des Ornaments (1926) mit dem Goldenen Schnitt ein, vgl. Pfeifer 1926, S. 74 ff. 59 | Gerlach 1990, S. 37.

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schreibung griff man dabei zunächst jene Beispiele auf, die schon Zeising in der Neuen Lehre behandelt hatte, um dann den Motivkreis stetig zu erweitern. So agierte auch Herman Riegel in seinem seinerzeit sehr gefragten Grundriß der bildenden Künste, der erstmals 1865 erschien und bis 1882 drei weitere Auflagen erlebte.60 Der Doktorvater Wilhelm von Bodes und ehemalige Leiter des Herzog Anton Ulrich-Museums (ab 1871) hatte sich zur italienischen Kunst der Frühen Neuzeit habilitiert (Über die Darstellung des Abendmahles, besonders in der toscanischen Kunst, 1869). Außerdem stammt aus seiner Feder die erste Monographie zum Nazarener Peter von Cornelius (Cornelius, der Meister der deutschen Malerei, 1866), und mit dem Grundriß insofern eine weitere Pionierarbeit, als dass diese pädagogische Schrift die erste systematische Einführung in das Studium der Kunstgeschichte darstellt.61 Im siebten Kapitel des Buchs finden sich Riegels Ausführungen zur Komposition in der bildenden Kunst: Sie werden durch einen Passus eingeleitet, in dem der Autor die vollkommene »Harmonie von Inhalt und Form [,] also eine unbedingte Einheit«, zur Grundbedingung der Kunstschönheit erklärt. Innerhalb dieser Einheit komme es dann darauf an, nicht Gleiches mit Gleichem zusammenzubringen, sondern vielmehr »entgegen stehende Elemente zu einem, nur durch ihre Verbindung möglichen, höheren Zwecke« zu versöhnen.62 Dem formierenden Faktor »Komposition« komme dabei eine entscheidende Rolle zu: Denn nur durch die bedachte Wahl des Kompositionsschemas könne man die notwendige Korrespondenz von Inhalt und Form im Bild erreichen und damit einen schönen Eindruck veranschaulichen. Als wichtigste Kompositionsschemata nennt Riegel zum einen die horizontale Linie, die idealiter immer dann zum Einsatz komme, wenn gleichbedeutsame Bildelemente arrangiert werden müssen. Schöner, weil gegensätzlicher sei aber die »Pyramidalform«,63 mit deren Hilfe sich Bildbestandteile in hierarchi60 | Zur Person Fork 2007b; Blume 1996; Fink 1954, S. 114-122; Zimmermann 1900, dort findet sich auch eine Bibliographie. 61 | Diesen Umstand hat die Forschung bislang übersehen: Riegels Grundriß trägt ab der dritten Auflage (vgl. Riegel 1875) den Untertitel Hülfsbuch beim Studium der Kunstgeschichte. Früher war damit nur Ernst Seemanns Publikation Charakterbilder aus der Kunstgeschichte (1862) erhältlich, welche der Verleger (unter seinem Pseudonym A. W. Becker) ab der dritten Auflage (1869) als Einführung in das Studium ausgab. Dabei handelt es sich jedoch um eine (wohl illegal zusammengestellte) Kompilation von Texten Burckhardts, Kuglers, Waagens etc. zu einschlägigen Epochen der Kunstgeschichte, d. h. nicht um eine Systematik im eigentlichen Sinne. Als erstes Werk dieser Art nennt Dilly, der Riegel nicht erwähnt, Alwin Schultz’ zweibändige Kunst und Kunstgeschichte (1884), vgl. Dilly 2013. 62 | Alle Riegel 1875, S. 94. 63 | Riegel 1875, S. 98.

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sche Verhältnisse bringen lassen. Ein Beispiel, in dem die Vereinheitlichung von Linie und Dreieck eine besonders vollkommene Wirkung erzeuge, erkennt Riegel in »Leonardo’s unsterblichem Abendmahle«. Denn dort habe der Künstler im Bewusstsein um die Feierlichkeit des Ereignisses eine angemessene, streng architektonische Komposition gewählt, in der insgesamt die Horizontale dominiere. Zugleich finde man jedoch auch »rechts und links von dem, die Mitte haltenden Christus zweimal je zwei Gruppen dreier Jünger an[geordnet], deren jede in sich mit der höchsten Meisterschaft, zum Theil sogar in pyramidalem Umriß gegliedert« sei.64 Auf formaler Ebene konnte Leonardo damit zwei gegensätzliche Motive – die Horizontale und das Dreieck – zu einer harmonischen und würdevollen Komposition vereinen. Dass bei dynamischeren Sujets zur Wahrung des Dekorums gänzlich andere kompositorische Mittel eingesetzt werden müssen, betont Riegel direkt im Anschluss: Cornelius etwa habe in seinem (heute zerstörten) Karton Die Apokalyptischen Reiter (Abb. 94), den er ab 1841 für ein letztlich nicht zu Stande gekommenes Fresko an der Nordwand des Berliner Campo Santo entworfen hatte,65 das gesamte Bildpersonal um eine Ellipse herum angeordnet und damit der überlieferten Lebhaftigkeit der Szene vollkommen Rechnung getragen. Abbildung 94: Peter von Cornelius: Die apokalyptischen Reiter (ab 1841), in: Büttner 1999, Abb. 158 (ZI).

64 | Alle Riegel 1875, S. 100 f. 65 | Dazu Büttner 1999, S. 335-342.

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Der Goldene Schnitt ist für Riegel zentral, da er in ihm das ästhetische Leitprinzip erkennt, mit dem sich gegensätzliche Elemente auf rationale Weise zu harmonischen Kompositionen verbinden lassen. Ein erneuter Gang durch die Kunstgeschichte soll der Leserin, dem Leser diese These plausibel machen: Dort könne man das Teilungsprinzip nämlich an allen Werken, »die wir klassisch zu nennen gewöhnt und berechtigt sind, mit einer auffallenden Genauigkeit« beobachten66 – nicht weil die Künstlerinnen und Künstler es bewusst eingesetzt hätten, sondern weil es durch ihr unentwegtes Naturstudium wie von selbst in die bildende Kunst gelangt sei. Perugino beispielsweise habe den Goldenen Schnitt in seinen Madonnendarstellungen ebenso geltend gemacht, wie auch Dürer im Holzschnitt der Heiligen Dreifaltigkeit (1511). Auf »wunderbarste Weise« könne man ihn jedoch an einem »der edelsten Meisterwerke der Kunst« überhaupt beobachten: an Raffaels Sixtinischer Madonna zu Dresden, der Riegel in der Folge eine formale Analyse zuteilwerden lässt, die sich über fünf Textseiten erstreckt und die dabei immer wieder auf ein mit zahlreichen Konstruktionslinien versehenes Schaubild verweist (Abb. 95): Dort zeichnete Riegel zunächst zwei vertikale Linien ein, die das Bild der Länge nach halbieren: einerseits exakt in der mathematischen Mitte (a-b) und andererseits durch das vermeintliche Abbildung 95: Herman Riegel: Konstruktionsgerüst der Sixtinischen Madonna, in: Riegel 1875, S. 86 (ZI).

66 | Riegel 1875, S. 106.

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ästhetische Zentrum – das Gesicht der Madonna – verlaufend (i-k). Ausgehend von dieser »ästhetische[n] Axe« lassen sich sodann Dreiecke in das Bild eintragen, welche die Engel- und Madonnengruppe einrahmen und dadurch belegen sollen, dass das ganze Gemälde generell durch ›Pyramidalformen‹ organisiert wird. Auf der »geometrischen Ax[e]« hingegen findet Riegel alle wesentlichen Teilpunkte des Goldenen Schnitts vor:67 Punkt c markiert diesen für die gesamte Länge des Bildes; Punkt d in der Nähe der Fußspitze Marias teilt den Major entsprechend und Punkt e knapp neben dem linken Auge der Hauptfigur setzt den Goldenen Schnitt im Minor. Dass sich durch die Eintragungen der Dreiecke und Teilungspunkte immer wieder kaum zu leugnende Abweichungen ergeben und das Bild damit an keiner Stelle dem auferlegten Schema genau entspricht, stört Riegel wenig. Er erkennt in diesem Umstand vielmehr »die wunderbare Vereinigung der geometrischen Grundlage mit echt malerischer Freiheit« und damit nur einen weiteren Beweis für das Genie Raffaels, der zwar auf streng rationaler Grundlage gearbeitet habe, es dann jedoch verstand, diese so weit zu verbergen, »daß beim Beschauen des Bildes jeder Gedanke an ein mathematisches Grundschema völlig ausgeschlossen bleibt.«68

F ormpsychologien von F echner bis L ipps Es waren form- und maßästhetische Bestimmungen wie diese, die abseits des Kunstgeschichtsdiskurses Fragen nach dem tatsächlichen Schönheitspotential bestimmter Grundformen und Proportionen aufkommen ließen, und vor allem die frühe Experimentalpsychologie machte es sich zur Aufgabe, auf empirische Weise nach Antworten zu suchen. Pionierarbeit auf dem neuen Feld der empirischen Kunstforschung leistete insbesondere Gustav Theodor Fechner.69 Der spätere Leipziger Ordinarius für Physik (1834-39), Naturphilosophie und Anthropologie (ab 1843) hatte in seiner Jugend zusammen mit seinem älteren Bruder – dem Maler und Graphiker Eduard Fechner – Zeichenunterricht an der Dresdener Akademie genommen.70 Anschließend begann der Psychophysiker seine Kariere mit riskanten Selbstversuchen zur Wahrnehmung von Komplementärfarben und der Beschaffenheit von Nachbildern, die ihm eine der-

67 | Alle Riegel 1875, S. 110 ff. 68 | Alle Riegel 1875, S. 115. 69 | Einblicke in die bewegte Biographie Fechners sowie Orientierung im vielschichtigen und interdisziplinären Gesamtwerk dieses Wissenschaftlers bietet Heidelberger (vgl. 1993). Einführungscharakter haben zudem Arendt 1999; Lennig 1994; Windelband 1910; Wundt 1901. 70 | Vgl. Arendt 1999, S. 17.

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art schwere Augenstörung einbrachten,71 dass er sich ab den 1840er Jahren auf panpsychistische und ästhetische Fragestellungen konzentrieren musste. Dabei stieß Fechner auch auf Zeisings vermeintliches Universalgesetz, mit dem er sich im Rahmen eines Aufsatzes von 1865 Ueber die Frage des goldenen Schnittes erstmals befasste, jedoch im Anschluss an eigene Messungen bezweifelte, dass man die Schönheit der Sixtinischen Madonna wie auch die der übrigen Werke Raffaels durch das Prinzip der stetigen Teilung erklären könne: »Nur bei einer unangemessenen Anlegungsweise des Masses und auch dann nur mit einer Annäherung« lasse sich dort die Sectio aurea nachweisen,72 so dass man insgesamt den Eindruck gewinne, Raffael habe »den goldenen Schnitt vielmehr zu vermeiden als einzuhalten gesucht«.73 Fechner blieb dennoch fasziniert von der Idee, formale und anthropologische Konstanten im Schönheitsempfinden experimentell zu ergründen.74 Schon ein Jahr später trat er in der Programmschrift vom Associationsprincip in der Aesthetik (1866) mit einem entsprechenden Forschungsprojekt an die Öffentlichkeit: Der Text ist für den Schönheitsdiskurs insofern ein Novum, als dass er erstmals nicht für eine deduktive Ästhetik »von Oben herab« plädiert, sondern für eine induktive Schönheitslehre »von Unten herauf« 75 – worin Christian Allesch zu Recht eine »Kampfansage« an die spekulativen Ansätze der idealistischen bzw. formalistischen Vertreterinnen und Vertreter der Zunft erkannt hat.76 Die Aufgabe der neuen Doktrin sei folglich, »die an sich bestehenden Quellen der Lust, des Wohlgefallens, wie die Gesetze ihres Zusammenwirkens festzustellen, und wo möglich zu einer allgemeinsten Quelle, einem allgemeinsten Gesetze, wie Lust und Unlust entstehen, aufzusteigen.« 77 Ein solches Generalgesetz ausfindig zu machen, sollte Fechner zwar nie gelingen. In seiner einige Jahre später erschienenen Vorschule der Ästhetik (1876) präsentierte er jedoch stattdessen gleich eine ganze Reihe allgemeiner ästhetischer Bestimmungen, die allesamt auf Grundlage kunstpsychologischer Experimente ermittelt worden waren.78 Im Zuge dessen kam Fechner abermals auf 71 | Dazu Heidelberger 1993, S. 67-70. 72 | Fechner 1865, S. 102 f. 73 | Fechner 1865, S. 105. 74 | Vgl. zu Fechners psychologischer Ästhetik Allesch 2010; Fredel 1998, S. 18-25; Allesch 1987, S. 303-314; Drüe 1983, S. 74-77; zudem die Beiträge von Uta Kösser (S. 113-129), Monika Ritzer (S. 131-152), Ingo Warnke (S. 153-167) und Ulla Fix (S. 169188) in: Fix 2003. Die ältere Sekundärliteratur wie auch ein Verzeichnis der Schriften Fechners findet sich bei: Altmann 1995. 75 | Fechner 1866, S. 179. 76 | Allesch 1987, S. 303. 77 | Fechner 1866, S. 190. 78 | All diese Prinzipien werden der Reihe nach vorgestellt von Allesch 1987, S. 306 ff.

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den Goldenen Schnitt zurück. Denn ein Teil seiner Forschungen ging der Frage nach, »welche Form- und Farbeverhältnisse überhaupt einen Vorzug der Wohlgefälligkeit vor andern rücksichtslos auf Zweck und Bedeutung, kurz auf Association, in Anspruch nehmen können, und an welchen Bedingungen der Vorzug hängt.« Der Goldene Schnitt war dabei in der Vergangenheit immer wieder als besonders wirkmächtige Proportion eingestuft worden, man habe jedoch versäumt, diese Behauptung empirisch zu belegen. Zudem seien die erörterten Beispiele – Architekturen, Kunstwerke, Körper – zu komplex ausgefallen. Fechner hingegen versuchte, seine Experimente »unter einfachst möglichen Bedingungen anzustellen, wodurch allein die Schlüsse, die sich aus Beobachtungen ziehen lassen, zu einer sicheren Entscheidung geführt werden können.« 79 Abbildung 96: Gustav T. Fechner: Ergebnisse der Rechteckexperimente, in: Fechner 1876, S. 195 (ZI).

Einer dieser ästhetischen Versuche wird im Anschluss näher erläutert bzw. ausgewertet. Er basiert auf der ›Methode der Wahl‹,80 nach der den Versuchspersonen an einer schwarzen Tafel ein Sortiment weißer, unterschiedlich proportionierter Rechtecke (von 1 : 1 bis 5 : 2) vorgestellt wurde – unter diesen auch 79 | Alle Fechner 1876, S. 184 ff. 80 | Zu seinem Methodenapparat äußert sich Fechner an anderer Stelle (vgl. 1871) genauer.

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ein ›Goldenes Rechteck‹, entworfen nach den Verhältnissen der Sectio aurea (34 : 21). Die Probanden hatten nun zu entscheiden, welche Form den schönsten Eindruck machte. Eine Tabelle fasst die erzielten Resultate zusammen (Abb. 96): Aus ihr wird ersichtlich, dass das Goldene Rechteck in summa nicht nur die meisten Stimmen erhielt (Z), sondern darüber hinaus auch von keiner einzigen Versuchsperson verworfen wurde (z). Von dieser Figur aus gehen die Werte dann in beide Richtungen sukzessive zurück. Das Quadrat am einen und das Rechteck im Verhältnis 5 : 2 am anderen Ende der Skala fanden am wenigsten Anklang. Insgesamt kommt Fechner aber aufgrund des eher knappen Ergebnisses – und wohl wissend um seinen unpubliziert gebliebenen Folgeversuch mit Ellipsen, der die Resultate nicht bestätigen konnte81 – zu dem Schluss, dass dem Goldenen Schnitt an sich durchaus ästhetischer Wert zukomme, jedoch nicht in dem von Zeising und seinen Gefolgsleuten vermuteten, extraordinären Maße. Fechners Experimente bilden bis heute den Ausgangspunkt für zahllose psychologische Versuche, die Ästhetik geometrischer Elementarformen zu bestimmen.82 Bislang konnte jedoch keiner jene grundsätzliche Annahme entkräften, die der Urheber des Gedankens bereits in seinem Aufsatz über das ›Associationsprincip‹ geäußert hatte: dass nämlich ästhetische Eindrücke immer Konglomerate von Sinnesdaten und Bewusstseinsinhalten sind und dass Letzteren in diesem Zusammenspiel eine deutlich wichtigere Funktion zukommt. Zu keinem anderen Schluss kam wenige Jahre später auch der Fechner-Schüler Wilhelm Wundt, der in seinem bis 1911 sechs mal aufgelegten und dabei stetig erweiterten Standardwerk – Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874) – eigene sowie von Kollegen erarbeitete Resultate zur Wahrnehmung geometrischer Grundformen, Farben und Lautfolgen vorstellte. Überall fand er dabei Bestätigung für seine generelle These, dass sich ästhetische Urteile aus Minimaleinheiten zusammensetzen: die sogenannten »ästhetischen Elementargefühle«. Aus der kognitiven Kombination vieler solcher ›Elementargefühle‹ sowie unter Einwirkung weiterer Faktoren – insbesondere der Erinnerung – entstehe dann ein wesentlich komplexeres ästhetisches »Totalgefühl […], in welchem solche im weitesten Sinne assoziative[n] Bestandteile dann durchweg die dominierende Bedeutung besitzen.«83 Denn die von objektiven Gegebenheiten ausgehenden Minimaleinheiten legen nach Wundt nur den Grundton des ästhetischen Urteils – schön oder hässlich – fest: Im Fall von räumlichen Gegenständen etwa können Symmetrie und Proportion einen positiven Ausschlag 81 | Die entsprechenden Aufzeichnungen finden sich im Nachlass Fechners, vgl. Fredel 1998, S. 19. 82 | Vgl. Zuletzt etwa Spehar 2017; historische Wegmarken dieser Tradition bei: Ziche 2006; Fredel 1998, S. 22 ff.; Allesch 1987; Drüe 1983. 83 | Wundt 1911, S. 115 f.

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bewirken, ebenso wie für das Auge mühelos nachvollziehbare Konturlinien. Alles in allem sind im komplexen Prozess des ästhetischen Urteils jedoch subjektive Bewusstseinsinhalte wesentlich wirkmächtiger, weshalb es auch – wie Wundt in einem kleinen Seitenhieb auf die Maßforscher der Kunstgeschichte klarstellt – gewiss verkehrt sei, »den Eindruck eines Moses des Michel Angelo auf die Maßverhältnisse seiner Gestalt zurückführen zu wollen«.84 Ganz ähnlich sollte einige Jahre später auch Adolf von Hildebrand in seinem viel gelesenen Essay über Das Problem der Form in der bildenden Kunst (1893) argumentieren:85 Objektive Form- und Maßgesetze, welche die »Daseinsform« der Dinge betreffen, gelten auch ihm als nichtig im Vergleich zu der von vielen weiteren Faktoren abhängigen, erst im Prozess der Wahrnehmung entstehenden »Wirkungsform«.86 »Alle sogenannten Proportionslehren, welche man für die Kunst aufgestellt hat«, sind für Hildebrand folglich hinfällig, denn »die notwendigen Proportionen müssen aus der Gesamtheit des Kunstwerks stets neu geschaffen werden und neu resultieren, nicht aber darf die Gesamtheit die Addition von feststehenden Einzelproportionen sein.«87 Dennoch stand nach Fechners Versuchen die Beobachtung im Raum, dass gewisse Formen und Verhältnisse auf Betrachterinnen und Betrachter schöner wirken als andere. Die Gründe dieser Präferenz boten also nach wie vor Gelegenheit zur Spekulation und an eben jener Stelle schaltete sich zum Ende des 19. Jahrhunderts der Münchner Kunstpsychologe Theodor Lipps ein88 – zuerst in seinem Aufsatz Ästhetische Faktoren der Raumanschauung von 1891. Im Rückbezug auf Robert Vischers Einfühlungsästhetik sowie Hermann von Helmholtz’ Theorie vom unbewussten Schluss versucht Lipps darin,89 die Ästhetik geometrischer Grundformen zu bestimmen, indem er sie als Resonanzkörper jener Empfindungen deutet, die der Mensch aufgrund seiner eigenen körperlichen Organisation immer wieder einholt: »Erfahrung hat es dahin gebracht, daß wir keine Linie sehen können, ohne in ihr eine Kraft thätig, eine Bewegung wirksam zu denken, ohne sie zu zu [sic] fassen als Ausdruck einer Art Lebendigkeit oder inneren Regsamkeit. Auf Grund von Erfahrungen ist die Gerade für uns nicht nur da, sondern sie streckt sich […], die krumme Linie biegt und schmiegt 84 | Diese Stelle findet sich nur in der 5. Aufl. von Bd. 3 (1903) der Grundzüge (S. 126). Sie fiel in der 6. Edition von 1911 der Überarbeitung zum Opfer. 85 | Dazu zuletzt Pinotti 2015 (inkl. aktuellem Literaturverzeichnis). 86 | Alle Hildebrand 1901, S. 30, Hervorhebungen im Original. 87 | Alle Hildebrand 1901, S. 41 f. 88 | Zu Person und Gesamtwerk De Rosa 1990; Henckmann 1985. 89 | Vgl. zu Lipps und Vischer: Jahoda 2005; zu Lipps und Helmholtz: Wagner 2009; zu Lipps Einfühlungstheorie zuletzt Pichler /  M ainberger 2017, S. 387-393, bes. S. 387 f. (inkl. aktuellem Literaturverzeichnis).

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Die Unter weisung des Blicks sich, das stehende Rechteck fasst sich nach innen zusammen und gewinnt so die Fähigkeit, sich frei aufzurichten […], der Kreis drängt nach der Mitte und überwindet mit – nicht ihm, aber uns fühlbarer Anstrengung die natürliche Tendenz des Fortganges in der Tangente u. s. w. So eng ist diese gedankliche Verbindung, daß wir in keinem Augenblick uns von diesen Kräften, diesen Arten der Bewegung und Lebendigkeit ganz losmachen können; immer sind sie im Akte der Wahrnehmung als Begleiter zugegen.« 90

Abbildung 97: Theodor Lipps: Optische Täuschung, in: Lipps 1891, S. 8 (Privatbesitz).

Im einfühlungstheoretischen Entwurf Lipps’ wird die Projektion eigener Körpergefühle zur Quelle ästhetischer Erlebnisse. Denn die Rezipientin, der Rezipient versuche im Zuge der Wahrnehmung unwillkürlich, Formen mit Lebensgefühlen zu versehen, und empfinde Lust daran, wenn diese Operation gelingt, d. h., wenn die Form sich für die Übertragung als empfänglich erweist: »Aesthetischer Genuss ist objektivierter Selbstgenuss«,91 wie Wilhelm Worringer es zwei Jahrzehnte später so prägnant formulieren sollte. Zum Beleg dieser These führt Lipps das Phänomen der optischen Täuschung an, der Betrachterinnen und Betrachter bei der Wahrnehmung geometrischer Grundformen häufig unterliegen. Bei Quadraten etwa sei regelmäßig festzustellen, dass Höhendistanzen überschätzt werden, wie der Psychologe mittels einer Illustration zu verdeutlichen versucht (Abb. 97): Figur 1 zeige ein Quadrat, das mit anderen Rechtecken zu einer vertikal aufstrebenden Formkonstellation verbunden wurde. Es habe die gleichen Ausmaße wie das isolierte Quadrat neben ihm (Figur 1a), und doch 90 | Lipps 1891, S. 6. 91 | Worringer 1911, S. 4, Hervorhebung im Original.

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überschätze man seine Höhe gegenüber der Breite zwangsläufig, da im mehrteiligen Gebilde zwei widerstreitende Kräfte wirken: Die Ausdehnung in die Höhe kämpfe mit der Ausdehnung in die Breite und trage dabei den Sieg davon. Die Betrachterin, der Betrachter nehme die Vertikale folglich als dominantes Prinzip im Formzusammenhang wahr und übertrage ihre Richtung durch einen unbewussten Schluss auf jedes Element der Konstellation: »Das Gebilde als Ganzes scheint sich aufzurichten. Daran nimmt das Quadrat teil.«92 Dass die Betrachterin, der Betrachter das Viereck als auf- und nicht als abstrebend interpretiere, habe wiederum mit der körperlichen Verfasstheit des Menschen zu tun: »Die vertikale Richtung ist in besonderem Maße die Richtung der Aktivität, der eigenen Kräftebethätigung, der positiven Leistung. Die Schwere zieht zu Boden; was der Schwere folgt, verhält sich passiv […]. Alles aber, was aktiv ist oder scheint, liegt uns, als wollenden und darum im eigentlichsten Sinne des Wortes aktiven Wesen besonders nahe«.93

N e t ze und S terne bei H e t zer und K auffmann Für die Form- und Maßforschung war das neue psychologische Interesse an der Ästhetik von Grundformen und Proportionen nicht ohne Risiko. Denn ein auf empirischer Grundlage ruhendes Verdikt hätte ihrem Treiben ein jähes Ende bereiten können, zumal Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker um 1900 für psychologische Erkenntnisse in besonderem Maße empfänglich waren.94 Ein überzeugender Einspruch wurde jedoch nicht vorgebracht: Fechners Versuche hatten die rezeptionsästhetische Relevanz des Goldenen Schnitts eher erhärtet, denn entkräftet, und nach Lipps’ Theorie konnte man Linien, Dreiecken und Quadraten aufgrund der anthropologisch konstanten körperlichen Disposition des Menschen gar den Status überzeitlich wirksamer Schönheitsformen zuschreiben. Formreduktives Sehen blieb aus diesem Grund nicht nur bis weit ins 20. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit im Fach Kunstgeschichte, die Ergebnisse des pädagogischen Blicks wurden dort auch mit wachsendem Stolz zur Schau gestellt. 92 | Lipps 1891, S. 8 f. 93 | Lipps 1891, S. 13. 94 | Dieser Umstand wird von fachgeschichtlichen Studien zu diesem Zeitraum immer wieder betont und muss daher an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Zum Beleg sei exemplarisch nur an die Einschätzung Wilhelm Pinders erinnert: Die Psychologie »sucht uns über Elemente und Gesetze dessen aufzuklären, was Gegenstand der sogenannten ›Geisteswissenschaften‹, d. h. also auch der historischen Forschungen, ist. Dadurch erscheint sie bei den Begriffsanwendungen, die in jenen auftauchen, zur Aufsicht, vielleicht zum Einspruch berechtigt« (Pinder 1904, S. 1).

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In diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert ist die Palette an Kunstgriffen, mit denen man den immerzu unsichtbaren mathematischen Verhältnissen und geometrischen Figuren visuelle Evidenz zu verschaffen gedachte: Überzeugen sollten etwa bis in den Millimeterbereich verfeinerte Maßangaben, wie sie sich in der Doktorarbeit des Dehio-Schülers Walter Lothar Müller(-Wulckow)s zur Konstruktion der Bildarchitekturen in der deutschen Graphik des 15. Jahrhunderts (1911) finden. Denn wie der Autor versichert, sei die enthaltene Analyse der Madonna von Einsiedeln (1466) des Meisters ES nach einer Fotografie des Dresdener Exemplars »genau in Originalgröße« erfolgt: »Plattenrand 20,91 links, 20,68 rechts zu 12,23 oben und 12,31 cm unten.«95 Ludwig Justi hingegen setzte gleich auf die Objektivität des Lichtbildes, indem er den Leserinnen und Lesern seiner Habilitation zu den Konstruierten Figuren und Köpfen unter den Werken Albrecht Dürers (1902) eine maßstabsgetreue fotografische Reproduktion der diskutierten Äskulap-Zeichnung (um 1500) an die Hand gab, welche er zuvor mit einem geometrischen Grundgerüst versehen hatte (Abb. 98).96 Andere wiederum versuchten, über Quantität zu punkten: So etwa der Münchner Architekt Ernst Mössel, der die Plausibilität seiner zahlenmystischen Theorien Vom Geheimnis der Form und der Urform des Seins (1928) anhand einer inflationären Menge an Illustrationen zu steigern versuchte. Nicht weniger als 297 Tafeln werden in seinem über 500 Seiten starken Werk angeführt: darunter Bauwerke, Skulpturen und Bilder von der Antike über das Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit sowie zahlreiche Beispiele aus dem alten Ägypten und der asiatischen Kunstgeschichte – allesamt aufgelöst in lineare Schemata ihrer rudimentären Grundformen und formalen Relationen (Abb. 99).97 Hubert Locher hat den Modus dieser Bilder als »diagrammatische Abstraktion« bezeichnet: Graphiken »zur Analyse der Gestalt eines gegebenen Objekts und zugleich zur Veranschaulichung eines bestimmten Gedankens des 95 | Müller 1911, S. 15. 96 | Dass solche Maßnahmen durchaus Wirkung zeigten, belegt Max Friedländers euphorische Rezension der Schrift: »Mit Freude und dankbarer Befriedigung« weißt er darin darauf hin, dass es Justi gelungen sei, endlich »die Brücke zwischen Dürer’s Thaten und seinen ausgeklügelten Lehren« zu schlagen. »Die Nachweisungen sind fast sämmtlich so überzeugend, dass […] das neue Wissen organisch mit unseren Vorstellungen verwächst, so dass eben Gelerntes mit der Selbstverständlichkeit des stets Gewussten empfunden wird« – ein Charakterzug, der »den besten wissenschaftlichen Darlegungen eigenthümlich« sei (Friedländer 1902, S. 133). 97 | Mössel legte neben dieser umfangreichen Arbeit noch weitere Bücher zum Thema vor: Die Proportionen in Antike und Mittelalter (1926) und die Urformen des Raumes als Grundlagen der Formgestaltung (1931). Sie alle rekurrieren auf die Dissertation aus dem Jahre 1915: Kreisgeometrie. Das Gesetz der Proportion in Antike und Mittelalter. Ihre Drucklegung als Ganzes scheiterte an den widrigen Zeitumständen.

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Interpreten«.98 Ihre zeichenhafte Struktur dient der Demonstration einer zuvor gemachten Beobachtung, die darauf abzielte, »das ästhetische Phänomen zu rationalisieren, eigentlich aber zu unterlaufen. Pointiert formuliert geht es darum, die ästhetische Oberfläche, das eigentlich sinnliche Phänomen gerade nicht zu thematisieren, sondern jenes Unsichtbare aufzudecken, das einer Gestalt und ihrer Wirkung zugrunde liegen würde«. 99

Abbildungen 98 und 99: Ludwig Justi: Konstruktionsgerüst des ÄskulapZeichnung Dürers, in: Justi 1902, Taf. 3 (BSB, links), und Ernst Mössel: Konstruktionsgerüst einer Buddha-Statue, in: Mössel 1938, S. 288 (ZI).

In der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts erfreuen sich diese Diagramme großer Beliebtheit. Kaum jemand setzte sie jedoch kreativer ein als Theodor Hetzer. Hetzer stammte aus der Ukraine,100 verbrachte nach dem Tod des Vaters aber den Großteil seiner Kindheit in der Schweiz und in Freiburg. Dort besuchte er das humanistische Gymnasium und entwickelte zeitgleich den starken Wunsch, Maler zu werden – eine Passion, die ihn ein Leben lang begleiten sollte.101 Zum Zeitpunkt seiner Pensionierung konnte der Schüler Vö98 | Locher 2014, S. 212. 99 | Locher 2014, S. 225, Hervorhebung im Original. 100 | Vgl. zu Person und Werk Betthausen 2007b; Bosch 2005, S. 231 f.; Gross 1981; Olbrich 1975; Gross 1972; Berthold 1961; Klingner 1947 (inkl. Verzeichnis der Schriften). 101 | Auf diese Leidenschaft ist auch ein von Hetzers Schülerinnen und Schülern gerne betontes Spezifikum seiner Lehre zurückzuführen: »[d]ie anschauende Kraft des Künstlers, Formsinn und Farbensinn«, die »in allem, was er gedacht und geschrieben hat, mit

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ges, Wölfflins und Rintelens auf zwei Jahrzehnte Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig zurückblicken, in denen er sich überwiegend mit den Großmeistern der neuzeitlichen Malerei von Giotto bis Goya auseinandersetzte. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit stand jedoch Tizian, dem Hetzer nicht nur seine im Wesentlichen stilkritische Dissertation (Die frühen Gemälde des Tizian, 1915) widmete, sondern auch die erste dezidiert farbhistorische Studie der deutschen Kunstgeschichtsschreibung (Tizian. Geschichte seiner Farbe, 1935). In seinem im Jahrbuch für Kunstwissenschaft erschienenen Aufsatz Über Tizians Gesetzlichkeit (1928) steht jedoch ein anderer Aspekt im Zentrum:102 die Frage, wie die Eigentümlichkeit der Werke des Venezianers zu erklären sei, »daß sie, wo man ihnen auch begegnet, herrschen. Ein Porträt in einem Galeriesaal, das Markusbild in der Sakristei der Salute, die Assunta sind Dominanten im Raum, ziehen den Blick in einer Entfernung auf sich, in der andere Bilder verlöschen, sind mit erstaunlicher Gewalt gegenwärtig. Gleich einer Gottheit ruhen die Bilder in sich selbst, einfach, groß und stark, und immer neues Leben scheint ihnen in strömender Bewegung zu entquellen.«103

Schon Goethe habe dieses Präsenzphänomen vor der Madonna di San Nicolò in Rom (jetzt: Pinakothek des Vatikans) bemerkt und sich darüber in der Italienischen Reise gewundert. Hetzer jedoch will die spezifische Bildwirkung der Gemälde Tizians rational ergründen und benennt drei hauptverantwortliche Prinzipien: Erstens ein achtteiliges »engmaschiges Netz, das jedem Bildteil Lage und Bewegung anweist und das Bildganze als eine gleichmäßige und unauflösliche Einheit erscheinen läßt«; zweitens sei »Tizian Anhänger des Golam Werke gewesen« sein soll, und die er derart auf die Studierenden zu übertragen vermochte, das es ihnen vorkam, »als sähen sie mit neuen Augen. Wie er vom Anschauen ausging, so zielte er am Ende immer wieder auf Anschauung.« (Klingner 1947, S. 8.) Der künstlerische Nachlass Hetzers befindet sich im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg. Vgl. dazu Dombrowski 2008. 102 | Vgl. zu dieser Schrift Berthold 1992. Zitiert wird in der Folge dennoch aus der Erstpublikation, da die Nachlassverwalterin und Herausgeberin der Schriften, Gertrude Berthold, den Aufsatz nicht in die Werkedition aufgenommen hat. Begründet wird diese Entscheidung durch den Umstand, dass Hetzer in puncto Bildorganisation erst später Tizians Abhängigkeit von Giotto erkannt haben soll. In den Augen Bertholds ist der Aufsatz Über Tizians Gesetzlichkeit damit nur ein defizitäres Zwischenspiel. Hetzers Neigung zu der inzwischen allgemein als Humbug verschrienen Lehre vom Goldenen Schnitt für die Nachwelt unkenntlich zu machen, mag jedoch auch ein Beweggrund gewesen. 103 | Hetzer 1928, S. 1. Vor Hetzer hatte auch Riegel Kunstwerke Tizians mit dem Goldenen Schnitt in Verbindung gebracht, vgl. Riegel 1875, S. 109. Eine speziell auf Tizians Bildgeometrie fokussierte Studie lag ebenfalls bereits vor, vgl. Tietze-Conrat 1913.

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denen Schnitts«, woraus sich auch die Achtteilung seines Netzes ergebe; und drittens stehe sein ganzes Schaffen »unter dem Zeichen der formalen und koloristischen Ähnlichkeit«, worunter Hetzer die regelmäßige Wiederholung von Grundformen (Schemata, Faltenwürfe, Schattenflächen etc.) und Farbtönen versteht. »Literarische Belege und solche durch Zeichnungen« kann er dafür zwar nicht anführen, das »Häufige und Regelmäßige der gemachten Beobachtung« biete jedoch keinen Raum für Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Erkenntnisse. Abbildung 100: Theodor Hetzer: Konstruktionsgerüst für Bacchus und Ariadne, in: Hetzer 1928, Abb. 3 (ZI).

Um diese These zu stützen, diskutiert Hetzer eine Reihe von Bildbeispielen. Für die Argumentation zentral ist aber vor allem das Ölgemälde Bacchus und Ariadne (1522-23), welches Tizian zusammen mit weiteren mythologischen Szenen für den Camerino d’Alabastro Alfonso d’Estes angefertigt hatte. Präsentiert wird der Leserin, dem Leser das Bild jedoch nicht in Form einer fotografischen Reproduktion, sondern durch eine von Hetzer eigenhändig zu Papier gebrachte Nachzeichnung (Abb. 100), die mit zahlreichen Konstruktionslinien versehen wurde und augenfällig mache, »mit welcher Strenge die Lineamente in das allgemeine System der Senkrechten, der Wagerechten [sic] und der Diagonalparallelen gespannt sind, wie jetzt nicht mehr nur eini-

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Die Unter weisung des Blicks ge Stellen getroffen werden […], wie vielmehr das Netz anfängt, alles zu bestimmen und dadurch Intensität, ornamentaler Wohlklang, Straffheit, aber auch gleichmäßige Auflockerung gewonnen werden. […] Keine Richtung und Bewegung ist zufällig, jede gesetzlich bestimmt.«

In diesem Zusammenhang sei besonders bemerkenswert, »wie die scheinbar leicht hingelegte Amphora von der einen Hauptdiagonale berührt« werde, »wie diese selbe Diagonale durch das Knie des Bacchus« gehe und anschließend »seine rechte Hand und den erhobenen Arm des Zimbel schlagenden Mädchens« treffe; oder »wie die zweite Diagonale zur Achse des Bacchus« gerate, um die er seinen Schwung Ariadne entgegenführe, »wie sie dann weiter den gesenkten Arm der Zimbelschlägerin« schneide etc. All diese Diagonalen beschreibend nachzuvollziehen und jedes der durch ihre Schnittpunkte markierten »Intensitätszentren« auf seine kompositorische Bedeutung hin zu prüfen, wäre schlicht unmöglich.104 Wichtiger sei ohnehin die Frage, wie Tizian zu seiner präzisen Bildeinteilung kam. Für Hetzer besteht kein Zweifel, dass dabei der Goldene Schnitt eine entscheidende Rolle spielte: Durch ihn werden nicht nur die Einheitlichkeit und der Zusammenhalt der Komposition gesichert; er errege bei der Betrachterin, beim Betrachter auch auf unerklärliche Weise Wohlgefallen und sei damit alles in allem maßgeblich für die eingangs festgestellte Präsenz der Bilder Tizians – »das Zwingende seiner Visionen«105 – verantwortlich. Zur Anwendung komme das Teilungsprinzip beim Venezianer auf dreifache Weise: Teilt man erstens das Bildganze der Länge und Breite nach jeweils im Verhältnis 3 : 8, so entspricht die Höhe der Bildfiguren häufig einem der vier entstandenen Abschnitte: In Bacchus und Ariadne etwa sei der Gott des Weines bis zum Scheitel so groß wie der Minor der Bildlänge, Ariadnes Maß hingegen entspreche ungefähr dem Minor der Bildbreite. Zweitens könne man oft beobachten, dass die Bildfiguren an ihren breitesten Stellen auf eines dieser Segmente rekurrieren. Und schließlich habe Tizian drittens auch bildinterne Zwischenräume durch diese Maße geregelt: Distanzen zwischen einzelnen Körperteilen und Figuren, »Distanzen gewisser Punkte von den Seiten des Rahmens«, wie auch »allgemeine Teilungen der Bildfläche«.106 Gerade diesbezüglich sei Bacchus und Ariadne äußerst lehrreich: Die entscheidende Trennung sei hier die des Bildganzen in einen kleineren linken Abschnitt, der ganz Ariadne gehöre, und einen größeren rechten Teil, der dem BacchusZug Platz biete. Denn durch diesen Goldenen Schnitt erhalte die von Hetzter als »Hauptantithese« des Bildes bezeichnete Konstellation ihre »mathemati104 | Alle Hetzer 1928, S. 4 f., Hervorhebungen im Original. 105 | Hetzer 1928, S. 12. 106 | Alle Hetzer 1928, S. 9.

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sche Bestimmtheit.« Außerdem veranschauliche die asymmetrische Teilung die Hauptbewegung des Bildes von rechts und begrenze sie zugleich, was wesentlich zur Spannung des von Tizian gewählten kritischen Umschlagmoments der Handlung beitrage: »Der Wald weicht zurück. Still steht der Wagen des Gottes; gebannt die Räder durch die teilende, trennende Linie. Bacchus aber als erster überschreitet sie. Noch ist sein Körper ganz im rechten Abschnitt, sein Kopf jedoch bereits im Bereich Ariadnes, unbehindert trifft sie sein Blick.«107 Die Kontinuität der Applikation des Goldenen Schnitts in der Form- und Maßforschung der Jahrhundertwende ist vornehmlich auf die lange Theorie- und Wirkungsgeschichte zurückzuführen, die Zeising dem Konzept unterstellt hatte. Die Sectio aurea ist in dieser Zeit jedoch bei Weitem nicht das einzige gängige analytische Instrument, wie ein abschließender Blick in die Dissertation Hans Kauffmanns verdeutlichen kann:108 Zeitnah zu Hetzer widmete auch er sich den Gestaltungsprinzipien alter Meister. Thema der Qualifikationsarbeit des langjährigen Kölner (1936-56) und Berliner (1957-64) Ordinarius ist jedoch nicht Tizians, sondern Rembrandts Bildgestaltung (1922). Dort sei vor allem ein Grundmotiv bestimmend: lineare Strahlengebilde in Form von Sternen oder Rosetten, die sich ausgehend von einem Kraftzentrum in alle Richtungen des Bildraumes erstrecken.109 Erstmals zur Anwendung gekommen sei dieses Kompositionsschema in Frühwerken des Künstlers. Vor allem bei Darstellungen kunsthandwerklicher Gegenstände wie der Haube Margarete van Bilderbeecqs, die von einem »Diadem zierlicher Palmetten« bekränzt werde (Abb. 101),110 komme es zum Tragen. Später zog Rembrandt es auch zur Organisation von Stillleben heran und unternahm dadurch einen für sein späteres Schaffen folgenreichen Schritt: die »Synthese des Ornaments mit dem Organismus der Körperwelt«.111 Von diesem Zeitpunkt an griffen Stern- und Rosettenformen laut Kauffmann auf alle Bildelemente des Holländers über: Architektur, Licht und Raum seien immer deutlicher von ihnen bestimmt, und sogar den menschlichen Körper habe der Künstler entsprechend seiner zentralen geometrischen Grundform organisiert: 107 | Alle Hetzer 1928, S. 12. 108 | Vgl. zu Person und Werk Feist 2007a; Winner 1986; Simson 1982 / 8 3. 109 | Grundlage der Erörterungen Kauffmanns war die von Wilhelm von Bode und Cornelia Hofstede de Groot zwischen 1897 und 1905 publizierte Edition Rembrandt. Gesamtwerk in 8 Bänden, die wenig später auch in englischer und französischer Übersetzung vorlag. Im Vorwort gibt er zudem preis, dass er auch Gelegenheit hatte, in Holland Originale in Augenschein zu nehmen. 110 | Kauffmann 1922, S. 8. 111 | Kauffmann 1922, S. 11.

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Das erste Beispiel für diese Übertragung sei das Porträt des Predigers Jan Cornelisz Sylvius (Abb. 102): Denn der Eindruck der »zauberhafte[n] Würde des Theologen« gehe zum großen Teil auf die Grundierung des Bildes durch ein sternförmiges Schema zurück: »Beherrschendes Bildmotiv ist die mit erhabener Größe und Klarheit an der vorderen Tischecke wurzelnde Palmette, die gleichsam aus dem Schoß des Mannes hervorwächst und seine ganze Gestalt umfängt, aber auch den Tisch und das Buch zur rechten sich nutzbar macht und in ihnen zum Strahlenfächer von 180 Grad sich abrundet.«112

Abbildungen 101 und 102: Rembrandt: Margarete van Bilderbeecqs (1633, links) und Jan Cornelisz Sylvius (1645), in: Bode / Hofstede de Groot 1896-1906, Bd. 2 (1897), Nr. 97 (links), und Bd. 4 (1900), Nr. 290 (beide ZI).

Die von den Schultern Sylvius’ herabhängenden Pelzsäume seines Mantels, der schlank aufgerichtete Oberkörper des Dargestellten, sein rechter Unterarm bis in die Fingerspitzen hinein, die Hängefalten seines linken Ärmels – kurzum: das komplette Bildnis – folge in seinem Auf bau dem alles durchdringenden Prinzip des Sterns. Was diese spezifische Art der Bildorganisation über den Menschen Rembrandt verrät, d. h. über seine Persönlichkeit wie auch über seine körperlichen Anlagen, ist dann Gegenstand des letzten Teils der Dissertation. Anders als das mathematische Dreiecksschema der Renaissance, das rein rationalem Kalkül entsprungen sei, habe Rembrandt sein Strahlenmotiv nämlich einer angebore-

112 | Alle Kauffmann 1922, S. 32.

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nen, genialen Beobachtungsgabe zu verdanken:113 Ein naturgegebenes, besonders feines Sensorium, mit Hilfe dessen der Künstler seine barocke Umwelt analysieren und darin Sterne und Rosetten als allgegenwärtige Grundformen erkennen konnte. Es war diese »Stärke seines Anschauungsvermögens, die ihn zu komplexen Bildvorstellungen befähigte. Von Strahlung organisiert, schwebte ihm die Einzelgestalt in ihren Zusammenhängen vollständig vor; sein Blick umfaßte auch die räumliche, architektonische und stilllebenhafte Umgebung, die er kraft der Strahlung mit den Menschen in eins sah.«114

Das gestalterische Universalgesetz des Barock, welches den Menschen der Sonne gleichsetzte und ihn zum unangefochtenen Bezugszentrum seines Umraumes erklärte, sei im 17. Jahrhundert nicht nur in der Ornamentik des Kunstgewerbes allgegenwärtig gewesen, sondern auch in der zeitgenössischen Architektur sowie in absolutistischen Garten- und Stadtanlagen. Rembrandt sei jedoch der erste bildende Künstler, der die barocke Grundform auch zur Gestaltung des Menschen herangezogen und dadurch in seinen Porträts vom Zeitgeist durchdrungene, echt barocke Individuen erschaffen habe. Zugleich gebe sich der Maler, den die Forschung gewöhnlich als Außenseiter seiner Epoche wahrnehme, durch diese Eigenheit seiner Werke auch selbst als Barockmensch zu erkennen: als eine Persönlichkeit, die die Weltanschauung ihrer Zeit nicht nur geteilt, sondern vollständig verinnerlicht habe. Man ist versucht, von Kauffmann dasselbe zu behaupten. Die Beiträge Hetzers und Kauffmanns sind Paradebeispiele für den Klimax eines Prozesses, der zu Beginn des vorliegenden Kapitels als »Entgrenzung des pädagogischen Blicks« bezeichnet wurde: Wie die Form- und Maßforscherinnen und -forscher des 19. Jahrhunderts gingen auch sie vollständig intuitiv vor, d. h. ohne Absicherung durch belastbare Text- oder Bildquellen. Was sich in der Zwischenzeit aber sehr wohl gewandelt hat, ist die Anspruchshaltung an die analytische Kraft des eigenen Sehens. Denn waren in der Vergangenheit noch per se geometrisch strukturierte Gebilde oder verhältnismäßig leicht skalierbare Körper und Objekte Gegenstand formanalytischer Betrachtungen, so sind es jetzt ganze Bildfelder, deren Organisation vermittels geometrischer Grundformen und mathematischer Verhältnisse bestimmt wird. Dabei wird die neue Hybris des Blicks vor allem dort ersichtlich, wo formanalytische Betrachtungen ihre angestammten Anwendungsgebiete (Komposition / Ästhetik) überschrei113 | Ein Geniebegriff, der die Ursachen intellektueller und schöpferischer Überlegenheit auf eine besondere Reizbarkeit der Sinnesorgane zurückführt, kursierte zu Zeiten Kauffmanns in der Kunstgeschichte, vgl. Stadelmann 1908, dazu Gockel 2010. 114 | Kauffmann 1922, S. 115, Hervorhebung im Original.

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ten und – wie im Falle Hetzers – auf die eigentlich von der Ikonographie beanspruchte Domäne der Bildnarration übergreifen oder – wie bei Kauffmann – gar in Psychogramme des Künstlers und seiner Epoche münden.115 Exaltierten Spätformen wie diesen sind für gewöhnlich erste Züge des Verfalls inhärent. Und tatsächlich sollte das Fach der Form- und Maßforschung in der Folgezeit immer weniger Toleranz entgegenbringen. Insbesondere die methodischen Standards der Wiener Schule und anderer Zentren der quellenbasierten und zugleich historisch-kritischen Kunstgeschichte stellten die Plausibilität rein visuell erarbeiteter Erkenntnisse massiv in Frage. Erwin Panofsky etwa hatte nicht zufällig in dieser Phase erkannt, »daß gerade die Proportionsforschung allzu häufig der Versuchung unterliegt, aus den Dingen etwas herauszulesen, was sie selbst in sie hineingelegt hat«116 – eine Feststellung, die ihn im Anschluss dazu veranlasste, sich für die Erforschung der historischen Grundlagen der Proportionstheorie wie auch ihres Verhältnisses zum allgemeinen Kunstwollen auszusprechen.117 Keine andere kunsthistorische Studie des frühen 20. Jahrhunderts ist jedoch in Bezug auf dieses Umschlagmoment aussagekräftiger, als Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe von 1915: Denn die Schrift erklärt auf der einen Seite die Rekonstruktion historischer »Anschauungsformen« zur eigenen wie auch zur zukünftigen Kernaufgabe der Disziplin,118 vertraut auf der anderen Seite jedoch noch exklusiv auf die analytische Kraft des zeitgenössischen Blicks. Wölfflins Grundbegriffe übernehmen damit eine Scharnierfunktion zwischen alten und neuen visuellen Paradigmen des Fachs und sagen modernen Leserinnen und Lesern unfreiwillig mehr über den Stand der Wahrnehmungskultur nach 1900 als über den der Renaissance bzw. des Barock.

115 | Auch Theodor Hetzer hatte zum Ende seines Essays die Frage entwickelt, »inwiefern sich […] Tizians Eigenart und zugleich sein Venezianertum bei der Anwendung des Goldenen Schnittes kundtut« (Hetzer 1928, S. 14). 116 | Panofsky 1974, S. 31. 117 | Dass dieses Plädoyer Wirkung zeigte, belegen etwa die Studien Walter Überwassers, der sich zum Ziel setzte, mit dem »Munkeln im Dunkeln« Schluss zu machen und die proportionstheoretischen Quellen stärker in die Argumentation einzubeziehen, vgl. Überwasser 1935, S. 251. International wahrgenommen wurde jedoch vor allem die Kritik Rudolf Wittkowers (vgl. 1949). 118 | Wölfflin 1917, S. 17.

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E xkurs : W assily K andinsk ys B ildhygiene Das zentrale Moment der Bild-Anthropologie (2001) Hans Beltings ist die Definition des Menschen nicht als Herr, sondern als »Ort der Bilder«119 – als Medium und Urheber mentaler Repräsentationen, die er ganz für sich behalten kann, die er jedoch auch in den Realraum zu entlassen vermag, wo sie sich frei verbreiten und am Ende entweder vergehen oder aber den Weg zurück zum Menschen finden, um dort die Entstehung neuer Bilder zu erwirken. Als Conditio sine qua non dieses ikonogenetischen Kontinuums benennt Belting das von subjektiven wie auch kollektiven Faktoren abhängige Vermögen zur Wahrnehmung, das letztlich jeder internen wie auch externen Repräsentation zu Grunde liege. Die vorliegende Studie ist einer der unzähligen Varianten dieses Prozesses nachgegangen, indem sie die (zeichen-)pädagogischen Grundlagen eines für das lange 19. Jahrhundert spezifischen visuellen Trends aufarbeitete und in einem zweiten Schritt nachvollzog, wie Forscherinnen und Forscher der Kunstgeschichte dieser Wahrnehmungskonvention in Form von Beschreibungen und Bildern individuell Ausdruck verliehen haben. Das Ziel ihrer formanalytischen Augenarbeit war das abstrakte Grundgerüst von Kunstwerken, Architekturen und Naturphänomenen. Sie unterscheiden sich in ihrer visuellen Programmatik daher kaum von jenen avantgardistischen Künstlerinnen und Künstlern, die anhand der gleichen Anschauungstechnik Ende des 19. Jahrhunderts auf individuellen Wegen in die Abstraktion vordrangen. Schon häufiger hat man in der Forschung auf Parallelen zwischen dem Zeichenunterricht im Stile des 19. Jahrhunderts und der Kunst der Moderne verwiesen:120 Wolfgang Kemp etwa erkannte in Johannes Ramsauers Zeichnungslehre ein Werk, das »in vielen Beziehungen die Lehre seines Landsmannes Klee und die des Bauhauses« vorwegnehme, und Wolfgang Legler fühlte sich von Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat (1915) an die Anschauungslehre Pestalozzis erinnert.121 Auch Ernst Gombrich ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, da dieser den Rat Paul Cézannes an seinen jungen Kollegen Émile Bernard, »er möge in der Natur einfache, wohlbekannte geometrische Figuren zu sehen suchen, also etwa Zylinder, Kegel und Kugeln«, nicht auf den Einfluss des Kubismus zurückführte, sondern auf traditionelle Lehrmethoden an französischen Zeichenschulen.122 Kaum jemand dachte in der Vergangenheit jedoch intensiver über die Beziehungen von klassischer Pädagogik und moderner Kunst nach als der amerikanische Architekt Norman Brosterman. Denn 119 | Belting 2006, S. 11. 120 | Vgl. über die in der Folge angesprochenen Beispiele hinaus Hofmann 2016; Klee 2016; Nesbit 1986. 121 | Kemp 1979, S. 298; vgl. Legler 2011, S. 133. 122 | Gombrich 2004, S. 259.

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den Schlusspunkt seiner Fröbel-Monographie Inventing Kindergarten von 1997 bildet ein knapp 50 Seiten langer, mit zahlreichen suggestiven Bildvergleichen angereicherter Exkurs in die Kunst und Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, bei dem der Autor in der Kindergartenpädagogik Fröbels die Keimzelle der gesamten Moderne zu erkennen vermeint.123 Dass derartige Engführungen immer mit gravierenden methodischen Problemen zu kämpfen haben und letztlich zu einer simplifizierten Darstellung der nur diskursgeschichtlich einholbaren Zusammenhänge zwischen Kunst und Pädagogik um 1900 führen müssen, liegt auf der Hand. Dennoch ist der Gedanke, die Anschauungs- und Zeichenpädagogik des 19. Jahrhunderts in die Geschichte der Abstraktion einzubeziehen und etwaige Abhängigkeiten am Einzelfall zu prüfen, reizvoll. Denn er erlaubt eine Revision der in Bezug auf die Geschichte der Abstraktion etablierten Supernarrative: einerseits die von den Avantgarden selbst lancierte Erzählung vom revolutionären, in die Befreiung der Modernität überleitenden Traditionsbruch,124 andererseits das Modell der »Evolution«,125 mit dessen Hilfe man in der Kunstgeschichte nach William Turner und Caspar David Friedrich einen kontinuierlichen Prozess der Vererbung und Modifikation progressiver Gestaltungsprizipien nachzuzeichnen pflegt, und nicht zuletzt der »kausal-explikative« Ansatz, nach dem der Abstraktionsprozess auf eine Gemengelage ästhetischer, urbaner und okkulter ›Einflüsse‹ und ›Strömungen‹ im Fin de Siècle zurückgeht.126 Dass eine Hinwendung zur Zeichenpädagogik des 19. Jahrhunderts eine Möglichkeit eröffnet, diese Narrative zu durchbrechen, legen schon die Biographien einiger entscheidender Protagonistinnen und Protagonisten der Moderne nahe: Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an den Pionier der abstrakten Malerei Adolf Hölzel. Jener hatte zu Zeiten seiner Schriftsetzerlehre in Gotha ebenso Zeichenunterricht im Stile des 19. Jahrhunderts erhalten, wie auch während seiner anschließenden Zeit an den Akademien Wien und München.127 Inwiefern sich diese visuellen und zeichnerischen Lehrjahre auf sein lebenslanges Nachdenken über die elementaren Bildungs- und Kompositionsgesetze der malerischen Mittel Linie, Form und Farbe ausgewirkt haben, ist jedoch noch weitgehend unklar. In Hölzels eigener, zwischen 1891 und 1905 betriebener und von vielen Vertreterinnen und Vertretern der Münchner Moderne besuchten Malschule in Dachau jedenfalls hallten die zeichenpädagogi-

123 | Vgl. Brosterman 1997, S. 104-153. 124 | Vgl. zuletzt Dickerman 2012. 125 | Bonnet 2005. 126 | Vgl. dazu am Beispiel Kandinskys: Thürlemann 1986, S. 68; zur Bedeutung aquatischer Metaphern für die Kunsthistoriographie Pfisterer / Tauber 2019. 127 | Vgl. Maur 2003, Kap. 1.

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schen Prinzipien des 19. Jahrhunderts noch nach,128 wie Erinnerungen ehemaliger Schülerinnen und Schüler belegen: So beschreibt etwa die lettische Malerin und Weberin Ida Kerkovius, die 1903 zum Dachauer Kreis zählte, in ihren Erinnerungen an Hölzel (1963) eindringlich die Leitidee des dortigen Unterrichts – ohne sich der langen Tradition dieses Verfahrens bewusst zu sein: »Hölzel ging mit seinen Schülern in die Landschaft hinaus und lehrte sie sehen. Die Landschaft in Dachau enthält schöne Baumgruppen; es galt, sie zunächst zusammenfassend als Flächenformen zu sehen, die dreidimensionale Natur auf zweidimensionale Bildfläche zu übertragen. Um das flächige Sehen zu erleichtern, mussten die Schüler sich schwarze Augengläser anschaffen. Erst nachdem die Flächenformen auf die Bildebene bildhaft verteilt waren, durfte man sie plastisch in Hell-Dunkel gestalten.«129

Abbildungen 103 und 104: Adolf Hölzel: Analytische Zeichnung zu Hans Memlings Madonna mit Kind, Engel und Stifter, in: Biema 1930, S. 23 (links), und Johannes Itten: Analytische Zeichnung zu Meister Frankes Thomasaltar, Anbetung der Könige, in: Adler 1980, o. S. (beide BSB).

Auch spätere Bauhausmeister böten Anlass, die Zusammenhänge von künstlerischer Moderne und klassischer Zeichenpädagogik zu überprüfen:130 Für 128 | Vgl. zur Rolle der ländlichen Künstlerkolonien in der Moderne Ruppert 1998. 129 | Zit. nach Maur 2003, S. 25. 130 | Unbestritten bleiben damit natürlich die starken reformpädagogischen Einflüsse auf diese Institution wie auch ihre Protagonistinnen und Protagonisten, vgl. dazu Wick

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Paul Klees kunstpädagogisches Werk konnten bereits Anleihen aus dem Methodenrepertoire des 19. Jahrhunderts aufgezeigt werden.131 Oskar Schlemmer kam während seiner Ausbildung zum kunstgewerblichen Zeichner in der Intarsienwerkstatt Wölfel & Kiessling gleichfalls mit dem pädagogischen Blick in Kontakt – ebenso wie die zu Volks- bzw. Grundschullehrern ausgebildeten Bauhausmeister Josef Albers und Johannes Itten, von denen letzterer bekanntlich – wie vor ihm auch Hölzel (Abb. 103) – diverse zeichnerische Analysen der Bildgeometrie (und des Rhythmus) alter Meister hinterließ, die den Diagrammen der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker um 1900 augenfällig nahe stehen (Abb. 104).132 Im Falle ihres späteren Kollegen Wassily Kandinsky existieren ebenfalls entsprechende biographische Indizien: Kandinsky zog als bereits 30-jähriger russischer Anwalt 1896 von Moskau nach München, wo er den Beruf des Malers ergriff.133 Schon in Russland hatte die bayerische Landeshauptstadt auf ihn große Anziehungskraft ausgeübt. Ihre Ausbildungsstätten genossen internationales Ansehen.134 Zu diesen zählte natürlich zuallererst die Akademie der Bildenden Künste mit der berühmten, vom »erste[n] Zeichner Deutschlands« geleiteten Klasse für Malerei und Komposition Franz von Stucks,135 aber ebenso ein erfolgreiches Privatunternehmen: die Zeichen- und Malschule des slowenischen Künstlers Anton Ažbe,136 die von 1891 bis 1905 in der Türken- bzw. Georgenstraße ansässig war und die neben Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin ab 1897 auch Wassily Kandinsky augfenommen hat. Dass jedoch die AžbeSchule für die künstlerische Entwicklung Kandinskys deutlich bedeutsamer gewesen sein muss, als seine Zeit bei Franz von Stuck, geht aus dem Umstand hervor, dass Kandinsky in den wenigen Monaten beim Münchner Malerfürsten vornehmlich mündliche Korrekturen eigener Skizzen und Entwürfe entgegengenommen hat.137 Bei Ažbe hingegen erlernte er mit Hilfe etablierter pä2009, S. 210-219. 131 | Vgl. Teutenberg 2014a; Teutenberg 2014b. 132 | Dazu Wick 2012; Wick 2009, S. 176-209. Die Koexistenz von Ittens Zeichnungen und den formanalytischen Diagrammen der Kunstgeschichte konstatieren Wagner 2015; Locher 2014. Auch Kandinsky fertigte unabhängig von Itten ca. 1912 formanalytische Zeichnungen von Gemälden Botticellis an, vgl. Barnett 2006 / 07, Bd. 1 (2006), Nr. 222. 133 | Vgl. zu Kandinskys Biographie zuletzt Hoberg 2008a. Die autobiographischen Schriften verzeichnet Kandinsky 1980. 134 | Vgl. für die Akademie Sternberg /  K irschenmann 2019; ferner Büttner 2006. 135 | Kandinsky 1980, S. 44. 136 | Vgl. zu Person und Werk Ambrozić 1988. 137 | Für basale Zeichenlektionen war an der Akademie ein eigener Vorkurs vorgesehen, den jede Schülerin, jeder Schüler zu absolvieren hatte, bevor sie, er in eine der weiterführenden Klassen kam. Häufig wurden jedoch Ausnahmen gemacht, so etwa im Fall

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dagogischer Verfahren über zwei Jahre (1897-99) das Handwerk des Zeichners von Grund auf. Für Ažbe, der aufgrund seiner praktischen Fertigkeiten, seines einfühlsamen Wesens und seiner großmütigen Art im Ruf stand, ein »großer Pädagoge« zu sein,138 hat Kandinsky in seiner autobiographischen Skizze Rückblicke (1913) nur Lob übrig: »Ein begabter Künstler und ein selten guter Mensch«. Dennoch bilanziert er den Unterricht in der Zeichenklasse des Slowenen negativ. Besonders das Studium der Anatomie, die zeichnerische Arbeit an »übelriechenden, teilnahmslosen, ausdruckslosen, meistenteils charakterlosen, 50 bis 70 Pfennig pro Stunde bezahlten Naturerscheinungen« schildert er im Nachhinein als große Belastung und gravierende Einschränkung seiner künstlerischen Freiheit.139 So schwänzte Kandinsky nach eigenen Angaben häufig den Unterricht und zog mit seinem Malkasten durch Schwabing und den Englischen Garten, um Bilder nach eigener Fasson zu kreieren. Die akademischen Unterrichtsmethoden Ažbes – das soll der Leserin, dem Leser der Rückblicke deutlich werden – konnten ihm nicht zu einer Ausdrucksform verhelfen, die seinen inneren Ansprüchen an zeitgemäße Kunst genügte. Stattdessen nennt der Maler eine bunte Palette anderer Faktoren, die ihm den Weg in die Abstraktion gewiesen hätten: frühkindliche Farberlebnisse, mystische Naturschauspiele, die impressionistische Malerei Claude Monets, Richard Wagners Oper Lohegrin (1850) sowie naturwissenschaftliche Großereignisse wie die Entdeckung subatomarer Teilchen durch den britischen Physiker Joseph John Thomson (1897) und sogar die jahrelange Juristerei in Moskau sei bedeutsam gewesen, denn diese habe ihn schließlich zum abstrakten Denken veranlasst. Die Kandinsky-Forschung ist dieser Eigendarstellung zu häufig gefolgt.140 Ausgeblendet wurden dabei die Tatsachen, dass die teleologischen SchilderunKandinskys, der zunächst an der Aufnahmeprüfung zum propädeutischen Zeichenkurs scheiterte und dann nach einem Jahr privater Vorbereitung von Franz von Stuck direkt in seine Klasse berufen wurde. Vgl. zum Unterricht Franz von Stucks an der Akademie Heilmann 2014; Fahr-Becker 1990; Ludwig 1989. 138 | Ambrozić 1988, S. 92. 139 | Alle Kandinsky 1980, S. 42. Aktstudien aus dieser Zeit finden sich in Barnett 2006 /  07, Bd. 1 (2006) S. 39 f.; Bd. 2 (2007), S. 38-49. 140 | Thürlemann wirft helles Licht auf Kandinskys Strategien der Selbstinterpretation. In Bezug auf die fragliche Stelle erkennt auch er: »Die Art und Weise, wie Kandinsky diese Erlebnisse in seiner Schrift von 1913 meist darstellt […], zeigt deutlich, dass sie dazu dienen müssen, den Schritt zur abstrakten Kunst nachträglich als eine in seiner Persönlichkeit schon früh angelegte ›notwendige‹ Entwicklung zu rechtfertigen« (Thürlemann 1986, S. 74). Dennoch neigt man in der Forschung noch immer dazu, Kandinskys Darstellung ungeachtet ihrer Intentionalität zu übernehmen, vgl. etwa: Hoberg 2008b; Zimmermann 2006; Brucher 1999; Moeller 1994.

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gen des Künstlers nicht nur von Topoi der klassischen Vitenliteratur strotzen, sondern dass sie auch aus einer zeitlichen Distanz von über 15 Jahren verfasst wurden und damit einer Gegenwart entstammen, in welcher der Meister sein »Lebensziel, eine Komposition zu malen«,141 bereits erkannt und erreicht hatte. Dennoch vermochte es Kandinsky durch die abfälligen Äußerungen zu seinen zeichnerischen Lehrjahren die Vorstellung nachhaltig zu unterdrücken, der von ihm co-initiierte Paradigmenwechsel in der europäischen Malerei könnte im Zusammenhang mit den konservativen Verfahren der Zeichenausbildung um 1900 stehen. Der in der Kandinsky-Forschung noch immer verankerte Glaube an die Authentizität und Privilegierung autobiographischer Quellen ließ keinen Widerspruch zu.142 Ein Blick auf das Curriculum der Lehranstalt Ažbes, der durch den Aufsatz Katarina Ambrozićs zur Geschichte und den Schwerpunkten dieser Institution möglich wird, schafft jedoch abseits der Darstellungen Kandinskys Raum für eine neue These.143 Ambrozić reduziert darin die Unterrichtsmethoden des Direktors auf zwei Grundpfeiler: einerseits auf das ›Prinzip der Farbkristallisation’, mit dessen Hilfe Ažbe seinen Schülerinnen und Schülern vermittelte, in breiten Pinselstrichen unvermischte, reine Farben nebeneinander auf die Leinwand zu bringen, so dass sie sich erst im Auge der Betrachterin, des Betrachters mischen.144 Und andererseits das Kugelprinzip: ein für die Ausbildungsanstalt noch wesentlicheres kunstpädagogisches Verfahren, mit dem Ažbe weniger die gestalterischen denn die visuellen Kompetenzen seiner Schülerinnen und Schüler zu stärken gedachte.

141 | Kandinsky 1980, S. 36. 142 | Peg Weiss hat sich zwar zu Beginn der 1980er Jahre intensiver um die Bedeutung der Ažbe-Schule für Kandinskys Schaffen bemüht, vgl. Weiss 1979, Kap. 1. In späteren Arbeiten konzentrierte sie sich jedoch auf Einflüsse aus der Münchner Kunst- und Kulturszene, vgl. Weiss 1982. Kandinskys Bezüge zum Zeichenunterricht werden ansonsten nur mit Blick auf die Kunsterziehungsbewegung und den Kult um die Kinderzeichnung thematisiert, vgl. dazu zuletzt Priebe 2010. Initiiert wurden diese Forschungsansätze vor allem durch eine Ausstellung Jonathan David Finebergs im Kunstbau des Lenbachhauses, zu der ein Katalog wie auch ein Essayband erschienen sind: vgl. Fineberg 1995; Friedel / H elfenstein / F ineberg 1995; ferner Fineberg 1998; Fineberg 1997. 143 | Vgl. Ambrozić 1988. Die Rekonstruktion basiert hauptsächlich auf Schülerberichten, da Ažbe selbst seine Methode nie publiziert hat. Vgl. zur Ažbe-Schule ferner Billeter 2014; Pavlinec 2018. Der übrige Teil der Forschungsliteratur liegt auf Slowenisch vor. 144 | Wie deutlich Kandinsky sich in seinem Frühwerk in puncto Farbgebung als AžbeSchüler zu erkennen gibt, konnte Peg Weiss darlegen, vgl. Weiss 1979, Kap. 1.

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Abbildung 105: Wassily Kandinsky: Stehender Akt mit Bällen (ca. 1897), in: Barnett 2006 / 2007, Bd. 2 (2007), Nr. 3.p21 (BSB).

An das »Prinzip der Kugel«145 erinnert sich Kandinsky in seinen Rückblicken genau, denn dieses didaktische Verfahren war über den gesamten Zeitraum des Bestehens der Ažbe-Schule im Gebrauch und unterlag dabei keinen nennenswerten Modifikationen. Grundsätzlich handelt es sich um eine zeichenpädagogische Methode, die darauf abzielt, die Schülerinnen und Schüler zur korrekten Körperdarstellung anzuleiten. Dazu wurde ihnen von Ažbe vermittelt, dass sich jeder räumliche Gegenstand visuell auf eine oder mehrere Kugelformen reduzieren lässt. Wie sehr sein Lehrgang auf dieser Prämisse beruhte, macht nicht nur der Umstand ersichtlich, dass er eine gemalte Kugel als ›Firmenlogo‹ über dem Eingang seiner Zeichenschule platziert hatte. Er stattete Modelle auch mit Bällen aus (Abb. 105) und bestand ferner darauf, dass an jeder Staffelei des Zeichensaals kleine Kugel-Zeichnungen hingen, auf die immer wieder zurückzukommen war. Durch fortwährende Wiederholung lernten die Teilnehmerinnen 145 | Kandinsky 1980, S. 43.

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und Teilnehmer dieser Kurse unweigerlich, alle ihnen vorgestellten Dinge geometrisch zu durchdringen, um sie anschließend sukzessive weiter zu modellieren: »Ažbe«, so erinnert sich der russische Maler und Kunsthistoriker Igor Emmanuilowitsch Grabar an die Zeit seines Zeichenunterrichts in dieser Institution, »machte die Schüler auf das Grundlegende, Wesentliche aufmerksam und leitete sie an, Details zu vernachlässigen. Wichtig war nur die große Linie und die große Form.«146 Dass Kandinsky die von Ažbe gepredigte reduktionistische Weltsicht durchaus verinnerlicht hatte, implizieren zunächst Aussagen des Künstlers selbst: etwa, wenn er sich daran erinnert, wie er kurz nach seinem Ausscheiden aus der Lehranstalt bei Zeichenübungen im Anatomiekurs des Münchner Universitätsprofessors Siegfried Moilliet plötzlich erkannte, »daß jeder Kopf, wenn er im Anfang auch sehr ›häßlich‹ erscheint, eine vollendete Schönheit ist«, da das »Naturgesetz der Konstruktion, das sich in jedem Kopf so restlos und einwandfrei offenbarte, […] dem Kopf diesen Anstrich der Schönheit« gab. Auch im zeitgleichen malerischen Werk finden sich entsprechende Indizien: Direkt augenfällig wird der neue visuelle Habitus des Künstlers etwa durch den Vergleich des 1898 entstandenen Ölgemäldes Hafen von Odessa (Abb. 106) mit dem im Anschluss an die Ažbe-Zeit angefertigten Bild Kesselbergfall bei Kochel (1900; Abb. 107): Auf der einen Seite ein konservatives, dem russischen Realismus verpflichtetes Stück Marinemalerei; auf der anderen ein auf Ažbes ›Prinzip der Farbkristallisation‹ beruhendes Landschaftsmotiv der Münchner Umgebung. Nicht mehr die präzise Repräsentation der Gegenstandswelt in all ihren Details und Facetten interessiert hier. Das Bild berichtet vielmehr vom neuen Verlangen seines Urhebers, Bäume, Felsen und Wasser zu großen, rudimentären Schemen zusammenzufassen und im Rahmen dieser Flächen ein freies Spiel von Farbe, Linie und Form zu entfalten. All das sind erste Hinweise darauf, dass Kandinskys essentialistisches, von ihm selbst im Rahmen seiner Schriften zu einer genialen Gabe stilisiertes Anschauungsvermögen während der Ausbildungszeit in der Zeichenschule Ažbes Form angenommen hat – gefolgt von der Einsicht, dass in der Kunstgeschichte bislang »kein einziger der großen Meister die erschöpfende Schönheit und Klugheit der natürlichen Modellierung« selbst zum Gegenstand eines Bildes erhoben hatte.147 Das entscheidende Arbeitsinstrument auf Kandinskys Weg in die Abstraktion war jedoch die analytische Zeichnung. Felix Thürlemann unterscheidet diesbezüglich drei konsekutive Entwicklungsschritte: Am Anfang stehen auf Einzelblättern oder in Skizzenbüchern zu Papier gebrachte Versuche der »geometrisierenden Formvereinfachung«, die bereits von einer »ausgeprägt analytisch-abstrahierenden Haltung« zeugen. Teil dieses Korpus sind zum einen 146 | Zit. nach Ambrozić 1988, S. 93. 147 | Alle Kandinsky 1980, S. 43 f.

IV.  Die Hybris des Auges

Abbildungen 106 und 107: Wassily Kandinsky: Hafen in Odessa (1898, links), und Kesselbergfall bei Kochel (1900), in: Turčin 2005, S. 61 (links), und Moeller 1994, Nr. 1 (beide ZI).

Abbildungen 108 und 109: Wassily Kandinsky: Pferdeköpfe (1900-03, links) und Schaf köpfe (1900-03), in: Barnett 2006 / 2007, Bd. 2 (2007), Nr. 7.p1 (links) und 7.p32 (beide BSB).

Landschaftsmotive, die Kandinsky sukzessive von allen überflüssigen Details bereinigte, bis nur noch lineare, gelegentlich mit Notationen der Farbwerte gekennzeichnete Formationen übrigblieben, und zum anderen Tierstudien: etwa die Darstellung eines Pferdes in zunehmender geometrischer Auflösung sowie Skizzen von Schafköpfen, denen die zeichenpädagogische Grundform des Dreiecks eingeschrieben wurde (Abb. 108 u. 109). Um 1909 beginnt Kandinsky dann ausgehend von diesen Ansätzen damit, sein Repertoire durch einen neuen »Transkriptionsmodus« zu bereichern: Die analytischen Zeichnungen

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dieser Jahre sind noch immer objektgebunden, geben nun aber auch Auskunft über die Ausrichtung und Ausdehnung des Bildgegenstandes, ebenso wie über dessen »kompositionelle[s] ›Gewicht‹« vermittels unterschiedlicher Strichbreiten. Im Anschluss an diese Studien folgen in »der Periode zwischen 1910 und 1913, den ›heroischen‹ Jahren der Abstraktion«,148 analytische Verfahren, die ohne konkreten Gegenstandsbezug Bewegungstendenzen von Bildelementen wie auch deren Spannungsverhältnisse zur Anschauung bringen. Die Zeichnungen stehen im Zusammenhang mit den ersten Kompositionen (1910-13) und sind wie diese vom bildhygienischen Grundanliegen Kandinskys bestimmt,149 die ›reinen‹ (d. h. ungegenständlichen) Ausdrucksqualitäten von Formen und Farben zu ermitteln und sie unter dem Paradigma der Reizkontrolle gesetzmäßig zu arrangieren.150 In ihnen kann man ein Novum der europäischen Kunstgeschichte erkennen, aber auch das Korrelat einer starken visuellen Konvention im Zeitalter der Augenhygiene.

148 | Alle Thürlemann 1985, S. 366, Hervorhebung im Original. 149 | Thürlemann (vgl. 1985) betont überdies, dass auch Kandinskys Bauhausunterricht im analytischen Zeichnen hier seinen Ursprung hat, vgl. dazu ferner Poling 1982. 150 | Zu Kandinskys Begriff der Reinheit in Beziehung zu dem der Abstraktion Thürlemann 1986, S. 76.

Epilog

VII. Mythos Rhythmos V on M odellen und M y then der W issenschaf t Wie es um das Verhältnis von Modellen und Mythen der Wissenschaft bestellt ist, erfährt man in Lambert Wiesings phänomenologischer Autopsie Das Mich der Wahrnehmung von 2009: Formal betrachtet haben Mythen und Modelle viel gemeinsam. Denn es handelt sich beiderseits um »erklärende Erdenklichkeiten angesichts rätselhafter, empirischer Vorgaben«, um »Erklärungshilfen, die das Unverständliche auf anschauliche, zumeist bildlich darstellbare Ursprünge zurückführen«, ausgehend von der epistemologischen Prämisse, »daß ein Phänomen verstanden ist, wenn seine Entstehung durch eine bekannte Geschichte erklärt wird.« Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Begriffen wird erst auf der operativen Ebene ersichtlich: Modelle werden zur Erklärung eines konkreten Sachverhalts entwickelt. Löst man ein Modell jedoch von seinem ursprünglichen Bezugssystem und überträgt es auf ein Neues, dann verwandelt es sich laut Wiesing in einen Mythos: Denn das Modell wird im Zuge dieser Zweckentfremdung »als die Lösung einer Frage präsentiert, die es als Modell gar nicht beantworten kann und auch nicht sollte«.1 Der pädagogische Blick der Kunstgeschichte steht beispielhaft für die Transformation eines Modells in einen Mythos. Denn die Disziplin inkorporierte im langen 19. Jahrhundert ein ursprünglich im Rahmen der Anschauungspädagogik entwickeltes Verfahren zur visuellen Rationalisierung einfacher Objekte der Wirklichkeit und applizierte es auf die ungleich komplexeren Anwendungsgebiete der Kunst- und Architekturgeschichte. Es entstand ein wirkmächtiger und äußerst produktiver Wahrnehmungsmythos, dem das Fach noch bis weit ins 20. Jahrhunderts immer wieder erliegen sollte.2 Dennoch ebbt die Konjunktur des formanalytischen Sehens in der Kunstgeschich1 | Alle Wiesing 2009, S. 21 ff. 2 | Locher (vgl. 2014) erinnert in diesem Zusammenhang etwa an die Diagramme Hans Sedlmayrs zu Bauwerken Borrominis (1930 /  3 9), an Rudolf Wittkowers Architekturdiagramme (vgl. Wittkower 1949) und an Max Imdahls analytische Schemazeichnungen etwa zu Rembrandt (1975).

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te nach 1900 ab – eine nicht monokausal zu erklärende Entwicklung, für die im Rahmen der vorliegenden Studie bereits einige Gründe benannt wurden. Ziel des letzten Kapitels der Unterweisung des Blicks ist es, in diesem Zusammenhang eine weitere These einzuführen, indem die Entstehung eines neuen, rasch an Popularität gewinnenden Mythos der Wahrnehmung beschrieben wird: der Rhythmus. Das »Wesen der Moderne überhaupt«, so Georg Simmel in seinem RodinAufsatz von 1909, »ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.«3 In diesem Sinne war die Kunstgeschichte um 1900 ohne Zweifel eine moderne Disziplin, denn auch sie unterlag in dieser Zeit starken Einflüssen von Seiten der Psychologie, die ihre Sehgewohnheiten wie auch ihre Erkenntnisinteressen signifikant verschoben: »weg von materialistischen Denkmodellen, von den Normen der idealistischen Ästhetik und von der Geschichte hin zu menschlichen Empfindungen und Verhaltensweisen, die, ganz allgemein gesprochen, bei der Produktion und Rezeption von Kunst ins Spiel kommen«.4 Vor allem die plötzliche Popularität des Rhythmuskonzepts unter Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern dieser Zeitspanne ist dahingehend aussagekräftig.5 Denn die rasante Konjunktur dieses neuen Leitbegriffs geht auf psychophysiologische Thesen zur Körperlichkeit und Zeitlichkeit des Sehens wie auch zur Relevanz dieser Faktoren für das ästhetische Empfinden zurück – exemplarisch angeführt von Hermann von Helmholtz, der in seinem Vortrag Optisches über Malerei (1871) betont, dass »das letzte Geheimniss [sic] der künstlerischen Schönheit […] wesentlich in dem Gefühle des leichten, harmonischen, lebendigen Flusses unserer Vorstellungsreihen begründet sei, die trotz reichen Wechsels wie von selbst einem gemeinsamen Ziele zufliessen, bisher verborgene Gesetzmässigkeit zur volleren Anschauung bringen, und in die letzten Tiefen der Empfindung unserer eigenen Seele uns schauen lassen.« 6

3 | Simmel 1989-2015, Bd. 12 (2001), S. 34 f., vgl. auch 28 ff. Vgl. zu Simmels und zur Rodin-Interpretation Brabant 2017. 4 | Bushart 2007, S. 147. Vgl. zur Psychologisierung der Kunstgeschichte ferner Pichler / M ainberger 2017, Kap. 5.8; Schützeichel 2013; Curtis / K och 2009 (darin bes. Wagner 2009); Gleiter 2008; Müller-Tamm 2005; Büttner 2003; Mallgrave / I konomoú 1994; Allesch 1987; Nachtsheim 1984, Kap. 5 u. 6. 5 | Vgl. dazu Grave 2016; Blümle 2014; Vasold 2013; Vasold 2012; Vasold 2010b; Schneider 1992; Bräuer 1937; Drost 1919; Russack 1910. 6 | Helmholtz 1876, S. 97.

VII.  Mythos Rhythmos

Rhythmus diente der damaligen Psychologie bzw. Physiologie als Modell zur Beschreibung jener von Helmholtz’ hervorgehobenen Zeitlichkeit körperlicher und kognitiver Prozesse. Inkorporiert in die Kunstgeschichte jedoch wurde auch der Rhythmus zum Mythos: zu einem Pseudomodell, das ästhetische und stilgeschichtliche Zugriffe gestattete, die vor dem Hintergrund des psychologisierten Wahrnehmungsbegriffs um 1900 als zeitgemäß empfunden wurden. Zum Ende der vorliegenden Studie ist vor allem die Frage entscheidend, welche Auswirkungen die neuen Paradigmen der Wahrnehmung auf die alte, formanalytische Betrachtungsweise hatten. In diesem Zusammenhang wird die These vertreten, dass die Rhythmuskonjunktur im Fach keinen Bruch mit den Wahrnehmungsgewohnheiten der Vergangenheit markiert. Vielmehr gilt, was Christine Lubkoll allgemein in Bezug auf historische Zeiträume verstärkter Rhythmusreflexionen konstatiert: Sie kennzeichnen immerzu »Phasen von Übergängen: Rhythmus-Vorstellungen sind Indikatoren für epochale Wahrnehmungsstrukturen; sie dienen der Ordnungsstiftung besonders dann, wenn festgefügte Lebenszusammenhänge sich wandeln, wenn neue technische und soziale Konstellationen veränderte Orientierungsmuster erforderlich machen.« 7 Anhand der Schriften Göllers, Riegls und Kauffmanns wurden bereits Beispiele für die Vermischung des pädagogischen mit dem psychologischen Blick um 1900 angeführt. Dieses Spektrum wird im Folgenden erweitert, um den Nachweis zu erbringen, dass das formanalytische Sehen des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Voraussetzung für die plötzliche Rhythmuskonjunktur (nicht nur) in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts darstellte. Denn es hatte das Auge auf eben jene Grundformen und Proportionen fokussiert, die es nun in rhythmische Bewegung zu versetzen begann.

P ulsierende M assen : W ölfflin , S chmarsow , P inder und Z iegler Wie die Entdeckung der Form nach 1800 so begann auch die Rhythmusevokation in der Kunstgeschichte um 1900 mit Blick auf die Architektur. Keine Rolle spielten dabei allerdings ältere Vorarbeiten etwa Schnaases und Kuglers,8 denn dort fungiert Rhythmus vor dem Hintergrund eines organismischen Architekturbegriffs als Lebendigkeitsmetapher, mit deren Hilfe man die vollkommene Disposition von Bauwerken hervorheben und sie in die Nähe autonom organisierter Lebensformen rücken konnte.9 Für den Rhythmusbegriff der folgenden 7 | Lubkoll 2002, S. 84. 8 | Vgl. Russack 1910, S. 10-50. 9 | Vasold macht für den Rhythmusbegriff Schnaases und Kuglers musikwissenschaftliche Einflüsse geltend, allerdings ohne zwingende Anhaltspunkte, vgl. Vasold 2012.

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Generationen hatte diese genuin romantische Vorstellung keine Bedeutung mehr, so auch nicht für Heinrich Wölfflin, der sich in den Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886) als erster neuerer Kunsthistoriker vorsichtig dem noch fremden Konzept annäherte. In Anlehnung an Wilhelm Wundt hatte vor ihm bereits Robert Vischer in seiner einfühlungstheoretischen Dissertation Ueber das optische Formgefühl (1873) die ästhetische Wirkung optischer Rhythmen hervorgehoben, indem er konstatierte, dass Betrachterinnen und Betrachter mit Vorliebe »Raumerstreckungen [verfolgen], an denen sich eine bestimmte Form in ähnlichen Abständen wiederholt; noch mehr aber solche, an welchen diese Wiederholungen (Hauptformen) durch allerlei methodisch eingeschobene Veränderungen (Theilformen) unterbrochen werden. Hierauf beruht der rhythmische Eindruck der Form, der nichts anderes ist als die wohlige Gesammtempfindung einer harmonischen Reihe von gutgelungenen Selbstmotionen.«10

Dennoch empfand Wölfflin die Übertragung dieses traditionell an die Zeitkünste gebundenen Konzepts auf die Raumkunst Architektur als kühnen Schritt: »Von einem Rhythmus der Folge zu sprechen, scheint gewagt«, räumt er ein, allerdings, »weil wir nun doch einmal eine Folge unterschiedener Teile und damit die Elemente des Taktes vor uns haben, warum sollte da nicht durch stärkere Betonung je des zweiten oder dritten Teils ein Rhythmus entstehn?« Wölfflin jedenfalls erschien diese Feststellung plausibel genug, um sich im weiteren Verlauf seiner Dissertation verstärkt Gedanken über die bauphänomenologische Relevanz des Rhythmus zu machen. Sein erstes Beispiel ist der Stützenwechsel von Säulen und Pfeilern in der Michaeliskirche zu Hildesheim: »Immerhin ist diese Art der Rhythmisierung eine ungewöhnliche; denn von einem stärkern Glied verlangen wir auch eine größere Leistung, was hier nicht der Fall ist. Es bleibt aber noch eine andre Möglichkeit, da wir ja mehrere verschiedengliedrige Folgen nebenund übereinander haben und die schwächern Glieder zwischen die stärkern sich einordnen müssen, wie leichte Begleitungsfiguren in der Musik dem langsamer fortschreitenden Hauptthema. In dem dadurch entstehenden Rhythmus ist in der Tat ein Moment von wesentlicher Bedeutung gegeben, das beim Eindruck des Ganzen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.«

Im Gegensatz zur Gleichförmigkeit des griechischen Tempels, wo optischer Rhythmus nur durch die wechselnde Verteilung von je zwei oder drei Triglyphen pro Säule zu Stande komme, setzt das mittelalterliche Bauwerk also deut-

10 | Vischer 1873, S. 8, Hervorhebung im Original.

VII.  Mythos Rhythmos

lich stärker auf dieses dynamische »Reizmittel«11  – eine Gegenüberstellung, mit der Wölfflin die Perspektive auf eine architekturgeschichtliche Entwicklung eröffnet, während der das Vertrauen in den ästhetischen Wert rhythmisch angelegter Bauformen wuchs. Grund genug für den Kunsthistoriker zu erörtern, welche Wirkung dieses Stilmittel genau zu entfalten im Stande ist. Vor allem ein Aspekt sei in diesem Zusammenhang entscheidend: »Indem hier [in der Architektur, TT] die rhythmischen Wellen auf uns eindringen, uns ergreifen, uns hineinziehen in die schöne Bewegung, löst sich alles Formlose, und wir genießen das Glück, auf Augenblicke befreit zu sein von der niederziehenden Schwere des Stoffes.«12 Wölfflin zufolge erklärt sich der ästhetische Mehrwert des Rhythmus also vor allem durch seine Eigenschaft, im Ensemble architektonischer Massen ein frei waltendes Bewegungsprinzip zum Ausdruck bringen zu können, das als solches die lastende Materialität des Werkstoffes zu transzendieren vermag. Die notwendige Bedingung dafür erkennt der Einfühlungstheoretiker natürlich in der leiblichen Disposition des Menschen, der durch die Körperfunktionen Atmung und Pulsschlag in die Lage versetzt werde, (Selbst-)Genuss an rhythmischen Gebilden zu empfinden: Seit Pseudo-Aristoteles (Problemata physica, 882b) und Galen (De differentia pulsum, IV,9-11) war im Prinzip bekannt, dass diese beiden Vitalfunktionen rhythmisch verlaufen.13 Die Physiologie des 19. Jahrhunderts jedoch war als Erste in der Lage, dieser Erkenntnis auch visuelle Evidenz zu verschaffen und dadurch die Omnipräsenz von Biorhythmen im menschlichen Körper augenfällig zu machen.14 Entscheidenden Anteil daran hatten neu entwickelte Aufzeichnungssysteme wie der Direktsphygmograph des ingeniösen französischen Physiologen Étienne-Jules Mareys (Abb. 110 u. 112).15 Denn die von diesen Apparaturen erstellten Pulsdiagramme gaben Anlass zu der Annahme, jedermann sei durch den Verlauf seiner Körperfunktionen von Haus aus mit dem Prinzip Rhythmus vertraut. Wie die übrigen Gestaltungsprinzipien der Prolegomena konnte Wölfflin somit auch den Rhythmus auf die leibliche Konstitution des Menschen zurückführen und das

11 | Alle Wölfflin 1999, S. 31 f., Hervorhebungen im Original. 12 | Wölfflin 1999, S. 18. 13 | Den Hinweis auf Aristoteles und Galen gibt Aschoff 1992. Eine deutsche Übersetzung der entsprechenden Galen-Stellen findet sich bei Ehrhardt 1940. 14 | Vgl. zum Biorhythmusdiskurs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Wellmann 2010. 15 | Vgl. zu Mareys Aufzeichnungssystemen Braun 1992, Kap. 2; Dagonet 1987, Kap. 1. Vgl. zur Tradition der Aufzeichnung von Körperrhythmen in Liniendiagrammen Golston 2008, bes. S. 12-29; Métraux 2005. Eine Kritik der Erkenntniswerte dieser und anderer Kurven-Diagramme bietet Rieger 2009.

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Ordnungsprinzip dadurch in seine anthropozentrische Symboltheorie der Architektur eingliedern.16 Abbildungen 110 und 111: Étienne-Jules Marey: Direktsphygmograph (links) und Pulsdiagramm, in: Marey 1878, Fig. 142 (links) und 143 (beide BSB).

Die durch Wölfflins Rhythmusevokation eingeführte choreographische Lesart von Bauwerken weitete ihren Wirkungskreis in der Architekturgeschichte der Folgezeit stetig aus. Niemand jedoch hatte an dieser Entwicklung größeren Anteil als der langjährige Leipziger Ordinarius August Schmarsow.17 Denn in seinen Grundbegriffen der Kunstwissenschaft von 1905 wird Rhythmus zu einem von drei zentralen Beurteilungskriterien der Kunst und Architektur erklärt und dadurch zu einem Kernanliegen der Disziplin Kunstgeschichte erhoben.18 Die erste Auseinandersetzung Schmarsows mit dem Rhythmusbegriff fällt jedoch bereits in das Jahr 1896: Am 23. April hielt er vor der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften einen kurzen Vortrag, der direkt an seine Leipziger Antrittsvorlesung vom Wesen der architektonischen Schöpfung (gelesen 1893, publiziert 1894) anschloss. Dort war ihm der Durchbruch zu einer Architekturtheorie gelungen, in deren Zentrum die als Korrelat des menschlichen Körpers gedachte Kategorie Raum stand.19 Im Rahmen seines Vortrags Über den Werth 16 | Vgl. dazu zuletzt Maskarinec 2014. 17 | Vgl. zu Person und Lebenswerk Wieben 2003; Betthausen 2007f, dort wird auch auf die wertvollen biographischen Beiträge der Schmarsow-Schüler Ernst Ullmann, Johannes Jahn und Oskar Wulff verwiesen. Vgl. zudem Mallgrave / I konomoú 1994, S. 5766; Schmarsow 1924. 18 | Vgl. Schmarsow 1998; zu seinem Rhythmusbegriff Vasold 2013; Pinotti 2012; Zug 2006; Vogt-Göknil 1951; Drost 1919, Kap. 4. 19 | Die Literatur zur Entdeckung und Ergründung des Raumes als Kategorie der Architekturtheorie und -forschung durch Schmarsow et al. ist uferlos. Es sei daher lediglich auf die wichtigsten Publikationen der letzten 30 Jahre verwiesen: Costa 2015; Schützeichel 2013; Bering /  R och 2008, Kap. 16; Wagner 2009; Kemp 2009, Kap. 3; Châtelet 2007; Zug 2006; Jaschke 2006; Wagner 2004; Jöchner 2004; Moravánszky 2003, S. 123-147; Švácha 2001; Köhler 1998; Schwarzer 1991; Germann 1990.

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der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde nahm Schmarsow diesen Faden wieder auf, denn auch dort wird die Architektur als »Raumgestalterin« eingeführt, d. h. als »schöpferische Auseinandersetzung des menschlichen Subjects mit seiner räumlichen Umgebung […] nach dem Hausgesetz seiner dreidimensionalen Anschauungsform […], also nach der dreifachen Ausdehnung in die Höhe, in die Breite und in die Tiefe.«20 Was im Vergleich zur Antrittsvorlesung allerdings neu hinzukam, ist die begriffliche und inhaltliche Bestimmung dreier ästhetischer Prinzipien, die laut Schmarsow zur Gestaltung des Architekturraums dienen:21 »in der ersten Dimension waltet die Proportionalität, in der zweiten die Symmetrie, und in der dritten das Moment […] des Rhythmus«.22 Dass Schmarsow diese drei Prinzipien der Kunsttheorie Gottfried Sempers entlehnt hatte, ist offenkundig,23 denn er übernahm dessen Begriffe fast wörtlich und setzte sie ebenfalls in Bezug zur physischen Organisation des menschlichen Körpers.24 Im Unterschied zu seinem Vorgänger hebt Schmarsow jedoch für den Gegenstandsbereich Architektur ein Element der Trias besonders hervor: Das entscheidende Gestaltungsprinzip in der Baukunst sei der Rhythmus, da dieser mit der dritten Dimension nichts Geringeres als die »Lebensaxe des Raumgebildes« bespiele.25 Anders als Proportionalität und Symmetrie lasse sich Rhythmus nicht vermittels mathematischer Verhältnisse und geometrischer Grundformen objektivieren. Als rein psychisches Prinzip sei er vielmehr an die Ortsbewegung der Betrachterin oder des Betrachters gebunden, die bzw. der im »pendelnde[n] Gang« nach vorne eine rhythmische Folge von Wahrnehmungseindrücken erzeuge,26 die ihr, sein Bewusstsein auf ge20 | Alle Schmarsow 1896, S. 44 f., Hervorhebung im Original. 21 | Tatsächlich wird auf die ersten beiden Prinzipien schon in der Antrittsvorlesung kurz eingegangen. Der Begriff Rhythmus taucht dort aber noch nicht auf, vgl. Schmarsow 1894, S. 18. 22 | Schmarsow 1896, S. 59. 23 | Schmarsow verweist selbst auf das begriffliche Instrumentarium Sempers, das dieser zum einen in den »Prolegomena« zum ersten Band des Stils entfaltet hatte (Eurhythmie, Symmetrie, Proportionalität, vgl. Semper 1860, S. V-XLIII), aber auch im Rahmen eines Vortrags Über die formelle Gesetzmässigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol (vgl. Semper 1856). Gerade Letzterer ist für Schmarsows Terminologie wie auch für seine gesamte anthropozentrische Architekturraumtheorie von fundamentaler Bedeutung. 24 | Damit konnte Schmarsow im Übrigen auch bei Robert Vischer anschließen. Denn auch dieser hatte erkannt, »dass alle diese Gesetze der Regelmässigkeit, Symmetrie, Proportion nichts Anderes sind als subjektive Gesetze des normalen Menschenkörpers und nur als solche für die Aesthetik einigen Werth haben«, vgl. Vischer 1873, S. 9. 25 | Schmarsow 1896, S. 58. 26 | Schmarsow 1896, S. 55.

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heimnisvolle Art und Weise zur Totalität eines Raumeindrucks synthetisiere. Die Gestaltungsprinzipien der ersten und zweiten Dimension werden im Zuge der Verzeitlichung des Innenraumes zu Substraten degradiert, aus denen der Rhythmus eigennützig Kraft zieht, um sukzessive seine spezifische ästhetische Wirkung zu entfalten.27 Das Binnenverhältnis seiner drei ästhetischen Prinzipien genauer zu bestimmen, sollte Schmarsow jedoch erst in den eingangs erwähnten Grundbegriffen der Kunstwissenschaft am Übergang vom Altertum zum Mittelalter gelingen.28 Im siebten Kapitel dieser Schrift heißt es zum Rhythmus: »Aber dies dritte Gestaltungsprinzip hat ein Vorrecht vor den übrigen. Es kann sich nicht allein, wie Symmetrie und Proportionalität miteinander, seinerseits mit dieser oder jener verbinden, sondern es vermag sie beide zusammen mit sich zu durchdringen, und den festen Bestand, den sie gewonnen, wieder in lebendiges Geschehen aufzulösen. Es vereinigt die beiden Gesetze durch ein drittes zur höheren Einheit, die als Dominante des dynamischen Vollzuges über alle anderen Mächte hinwegschreitet. Die Gesamtaufnahme eines Kunstwerkes als Erlebnis ist sein Spielraum.«

Dass architektonische Formfolgen von bewegten Betrachterinnen und Betrachtern als rhythmisch organisiert wahrgenommen werden, erklärt sich Schmarsow auch in den Grundbegriffen zunächst über die Motorik des menschlichen Gangs, »denn mit der Ortsbewegung kommt der Rhythmus von vornherein in das Raumgebilde des Menschen«,29 so der Kunsthistoriker, der sich in diesem Punkt auf neueste Forschungen seiner Leipziger Kollegen Christian Wilhelm Braune und Otto Fischer berufen konnte. Denn die beiden topographischen Anatomen hatten nur einige Jahre zuvor im Rahmen ihrer sechsbändigen Publikation über den Gang des Menschen (1895-1904) mit Hilfe chronofotografischer Aufnahmen die rhythmischen Verlaufsmuster des selbigen sichtbar gemacht (Abb. 112).30 Darüber hinaus orientierte sich Schmarsow noch an einer weiteren außerdisziplinären Erkenntnis: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten Ernst Machs tonpsychologische Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres (1865) zum Vorschein, dass der Mensch von Natur aus dazu neigt, objektiv27 | Die Idee, dass »Symmetrie und Proportion […] nur specielle Erscheinungsformen eines höheren Universalmittels der bildenden Kunst [sind]: des Rhythmus«, findet sich später auch in der Kunstindustrie Riegls, der vorgibt, diesen Gedanken der Schönheitslehre Augustinus’ entnommen zu haben, vgl. Riegl 1901, S. 213. 28 | Vgl. zu Schmarsows Grundbegriffen Teutenberg 2015e; Pinotti 2012, S. 13-31; Winkler-Komar 2010; Jaschke 2006; Ikonomoú 1998. 29 | Alle Schmarsow 1998, S. 85 ff. 30 | Vgl. dazu Curtis 2015, S. 44-62; zur Physiologie des Gehens um 1900 Hahn 2015.

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gleichförmige Folgen von Schalleindrücken kraft seines Bewusstseins subjektiv zu rhythmisieren. In seinen Studien zur Psychologie und Aesthetik des Rhythmus von 1894 hatte der Wundt-Schüler und Kollege Schmarsows an der Leipziger Universität, Ernst Meumann, die Forschungen Machs noch vertieft und erkannt, dass gleichwertige Töne von den Probandinnen und Probanden vornehmlich zu Zweier- oder Vierer-, jedoch nur selten zu Dreiergruppen rhythmisiert werden.31 Schmarsow ging auch mit Blick auf diese Studien davon aus, dass Rhythmus als hauseigenes Ordnungsprinzip des Menschen unweigerlich zum Einsatz komme, wenn Wahrnehmungsfolgen über die Sinne aufgenommen und im Bewusstsein zu Vorstellungen weiterverarbeitet werden.32 Abbildung 112: Christian W. Braune u. Otto Fischer: Der Rhythmus des Ganges, in: Braune / Fischer 1899, Taf. 3 (BSB).

Vor diesem neuen epistemischen Hintergrund erscheint es letztlich nur konsequent, dass für Schmarsow die in der Kunstgeschichte des 19. und frühen 31 | Den Hinweis auf Machs und Meumanns psychologische Forschungen zum Rhythmus gibt Fraisse 1992. Auch Pinder diskutiert diese und weitere Positionen, vgl. Pinder 1904, S. 3 f. 32 | Einblicke in die Rhythmusstudien der Psychophysiologie um 1900 erlauben Mainberger 2010, S. 91-110; Golston 2008, bes. S. 12-29. Die Vielfalt und Popularität der psychologischen Rhythmusforschung in dieser Zeit wird ersichtlich durch Ruckmick 1913b.

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20. Jahrhunderts so beliebte Bestimmung konstitutiver Grundformen und Verhältnisse zweitrangig wird. Proportionalität und Symmetrie sind für ihn allein als Taktgeberinnen der von der Betrachterin, vom Betrachter automatisch komponierten rhythmischen Vorstellungsreihen von Bedeutung. Erst einmal als Gliederungsmomente in das »flüssige Medium der zeitlichen Abfolge hineingesetzt«, werden sie sogleich »durch die herrschende Bewegungsrichtung mit fortgerissen, […], wie der entfesselte Strom des Gebirgswassers entwurzelte Baumstämme und weggespültes Geröll mit sich daherwälzt«.33 Abbildung 113: August C. A. Zestermann: Maxentiusbasilika, in: Zestermann 1847, Taf. VI, Fig. 6 (ZI).

Wie diese neuen Prämissen der Wahrnehmung seinen Blick auf historische Bauwerke prägten, macht Schmarsow im Rahmen einer Beschreibung der antiken Überreste der Maxentiusbasilika zu Rom deutlich, deren rekonstruierter Grundriss seinerzeit etwa August Zestermanns Standardwerk über Die antiken und die christlichen Basiliken (1847) zu entnehmen war (Abb. 113): In der Basilica Nova habe jede Besucherin, jeder Besucher ein Mittelschiff betreten, dessen Länge in drei quadratische, von gewaltigen Pfeilern mit vorgelagerten Riesensäulen markierte Kompartimente zerlegt sei:

33 | Schmarsow 1998, S. 91.

VII.  Mythos Rhythmos »Was alle drei zur Gesamteinheit verbindet, ist aber nicht ›Symmetrie der Reihung‹ zu nennen [wie von Riegl in der Kunstindustrie, T T], denn Symmetrie gibt es nur im Nebeneinander, nicht im Hintereinander. Was das Auge wirklich sieht, ist nur die Proportionalität der sich verjüngenden Quadrate an der Bewegungsachse entlang. Der Vollzug durch die Ortsbewegung aber macht aus der proportionierten Reihe den Rhythmus der räumlichen Entfaltung, den wir in der Perspektive vorausahnen und im Fortschreiten genießen. Es sind drei festabgegrenzte, in sich ganz identische Strophen nacheinander. Und der Durchblick beruhigt und klärt diesen Rhythmus zur Harmonie aller Teile.« 34

Schmarsow steht exemplarisch für einen Prozess, der zu Beginn des vorliegenden Kapitels als Vermischung des pädagogischen mit dem psychologischen Blick beschrieben wurde: Die formalistische Konzentration auf Grundformen und Proportionen ist bei ihm noch immer präsent, wird jedoch bereits von einer neuen, kinematographischen Sicht auf die Architektur überlagert, die unter den Bauphänomenologinnen und -phänomenologen der Folgezeit weiter an Popularität gewinnen sollte. Beispielhaft dafür steht der Name Wilhelm Pinder,35 der mit seiner Dissertations- und seiner Habilitationsschrift von 1904 bzw. 1905 zwei Studien zur Rhythmik romanischer Innenräume in der Normandie veröffentlicht hat. Auf einem Spezialgebiet der mittelalterlichen Architekturgeschichte versucht der Verfasser darin, Fortschritte in der Entwicklung rhythmischer »Gruppierungsgrundsätze« nachzuvollziehen.36 Auch er geht dabei davon aus, dass mobile Betrachterinnen und Betrachter durch ihre psychophysische Konstitution architektonische Formfolgen unweigerlich verzeitlichen und als rhythmisch organisiert empfinden. Stärker als sein Lehrer Schmarsow jedoch, macht Pinder neben der rhythmischen Verfasstheit des rezipierenden auch die des schöpferischen Subjekts geltend: Denn durch diese – so seine Theorie – habe sich das Gestaltungsprinzip Rhythmus latent in alle menschlichen Kreationen einschreiben können.

34 | Schmarsow 1998, S. 225, Hervorhebungen im Original. 35 | Über Pinder wird in der Forschung seit dem wegweisenden Essay Robert Suckales über Wilhelm Pinder und die deutsche Kunstwissenschaft nach 1945 (vgl. Suckale 1986) hauptsächlich mit Blick auf seine umstrittene politische Rolle im Dritten Reich und der Nachkriegszeit gearbeitet, vgl. u. a. Pusback 2013; Reudenbach 2013; Bredekamp 2010; Stöppel 2008; ausführlich zu Person und Werk ferner Halbertsma 1992, darin findet sich auch eine der seltenen längeren Auseinandersetzungen mit Pinders Frühwerk über die romanischen Innenräume der Normandie (vgl. S. 15 ff.). Vgl. zudem Bushart 2007. 36 | Pinder 1904, S. 1.

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Bestätigung fand Pinder in diesem Punkt vor allem beim Leipziger Arbeitssoziologen und Nationalökonomen Karl Bücher.37 Dieser hatte 1894 in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über Arbeit und Rhythmus gehalten, den er zwei Jahre später zu einer Monographie ausarbeitete. Bis 1924 erfuhr diese Schrift nicht weniger als sechs Auflagen und wurde im Zuge dessen vom Autor stetig mit neuem Material angereichert. Auf Grundlage ethnologischer Studien betont Bücher darin einerseits – wie im Übrigen schon Johann Georg Sulzer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771-74)38 – die angeborene Tendenz des Menschen, seine Werktätigkeit durch Tänze, Spiele und Lieder rhythmisch zu organisieren (Abb. 114). Zugleich vermutete er, dass sich diese Arbeitsrhythmen unwillkürlich in die technischen und künstlerischen Erzeugnisse des Menschen einschreiben, worauf beispielsweise die Entstehung der Poesie zurückzuführen sei.39 Eine Illustration, die Bücher der sechsten Auflage seiner Schrift beigab, soll diese These erhärten: Zu sehen sei eine »Terrakotta-Gruppe archaischen Stils«,40 in der vier brotknetende Personen bei ihrem Tagwerk von einem taktgebenden Flötenspieler begleitet werden (Abb. 115). Der Autor erkennt darin einen Beleg für seine Theorie von der Omnipräsenz des Rhythmus’ in den Arbeitsabläufen indigener Völker und überlässt es der Leserin, dem Leser zu assoziieren, dass auch die Kleinplastik selbst durch die in der Knetmulde verteilten Brotlaibe rhythmische Qualitäten aufweist. Pinder jedenfalls schloss direkt an Bücher an, erweiterte dessen Thesen aber insofern, als dass er dem nun anthropologisch fundierten Gestaltungsprinzip eine eigene historische Entwicklung zusprach und es damit für stilgeschichtliche Untersuchungen fruchtbar machte.41 Keineswegs immer die gleichen Rhythmen seien nämlich in die Werke des Menschen eingegangen. Dieser habe im Gegenteil je nach Entwicklungsstand primitivere bzw. elaboriertere Formen dieses Prin-

37 | Vgl. Bücher 1899 bzw. 1924; Pinder 1904, S. 5; zu Bücher einführend Wagner-Hasel 2011; zu Arbeit und Rhythmus darin S. 188-194; Cowan 2008, S. 188-198. 38 | »Kein Maler wird den Pensel rhythmisch führen; das neue, das auf jeden Strich entstehet, hat hinlänglichen Reiz das Bestreben zu Fortsetzung der Arbeit anhaltend zu machen: aber wer etwas glatt feilet, oder irgend eine Arbeit zu verrichten hat, deren Einerley durch nichts Neues gewürzt wird, fällt gar bald auf rhythmische Bewegungen« (Sulzer 1777, Bd. 2.2, S. 533). 39 | Vgl. Bücher 1899, S. 358. 40 | Bücher 1924, S. 40. 41 | Auch Riegl experimentierte in der Kunstindustrie mit dem Rhythmus als Stilbegriff, indem er zwischen dem in der antiken Kunst und Architektur dominanten Gestaltungsprinzip des Linienrhythmus und dem Farbenrhythmus spätrömischer Zeit unterschied, vgl. Riegl 1901, Kap. 5.

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zips in seinen Erzeugnissen verwirklicht: »Der Rhythmus wird vom Willen des Schaffenden hergestellt, von seinem Stil gelenkt«, so Pinder.42 Abbildungen 114 und 115: Anonymus: Tanzende Japaner beim Walfang (oben) und Archaische Terrakotta-Gruppe, in: Bücher 1924, Taf. 10 (oben) und 2 (beide BSB).

Im Anwendungsteil der Studie geht der Verfasser dann der Frage nach, inwieweit formale Faktoren im basilikalen Raum bei Betrachterinnen und Betrachtern die Bildung rhythmischer Vorstellungsverläufe begünstigen bzw. anleiten. Das älteste unter diesem Aspekt besprochene Bauwerk ist der im Grenzgebiet zur Normandie gelegene Überrest der alten Kathedrale von Beauvais: das spätkarolingische Basse-Oeuvre. Wie auch jedes andere von Pinder aufgegriffene Beispiel wird der Leserin, dem Leser dieses Gebäude jedoch nicht über Grundrisse oder perspektivische Ansichten veranschaulicht. Als Illustration beigegeben ist lediglich der Stich eines Hochwandsegments, der dem ersten Atlasband (1887) zu Dehios und Bezolds Die kirchliche Baukunst des Abendlandes entnommen wurde (Abb. 116). Innenräume  – dieser Einstellung bleibt Pinder damit 42 | Pinder 1904, S. 6.

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auch auf der Darstellungsebene treu – lassen sich eingedenk der neuen, psychologischen Paradigmen der Wahrnehmung nicht bildlich repräsentieren, ohne dass dabei die für den Raumeindruck entscheidende Tiefendimension entwertet werden würde. Hinsichtlich der adäquaten Vermittlung von Raumerlebnissen setzt Pinder in seinen beiden Studien daher konsequent auf das Zeitmedium Text: So auch im Fall des Basse-Oeuvres, dessen bauphänomenologische Erschließung sich über siebzehn Seiten erstreckt. Abbildung 116: Georg Dehio u. Gustav F. T. von Bezold: System des Basse-Oeuvres, in: Dehio / Bezold 1887, Taf. 85, Nr. 1 (ZI).

Was das Beschreibungsverfahren betrifft, vertraut Pinder auf einen ganz bestimmten Modus: Letztendlich gesucht werden immerzu »Formen – und zwar rhythmische – der Leitung von Sinnesbewegungen«. Zunächst verwendet der Autor jedoch viel Zeit darauf, die baulichen Gestalten und Verhältnisse des Innenraumes gründlich zu erfassen: In Beauvais beispielsweise seien beide Hochwände vollkommen identisch gearbeitet, so als würden sie sich spiegeln. Jede Wand öffne sich in einer Bogenpfeilerstellung in Richtung der Seitenschiffe. Die Bögen seien viermal so breit wie die Pfeiler dick. Die Stützen wiederum weisen einen rechteckigen Grundriss und am oberen Ende abgeschrägte Schaftkanten auf, die ein Kapitell andeuten. Sie stützen Archivolten, die sich durch ihre Fugenschnitte deutlich von der Mauer abheben. Die Obermauer selbst falle dann völlig ungegliedert aus, da sich dort mit hoher Wahrscheinlichkeit ein heute verlorenes Bildprogramm entfaltet habe. Über dieser Fläche finde sich in der Fensterzone eine regelmäßige Folge von bogenförmig abschließenden Öffnungen, die jeweils genau über der Mitte der Bögen in der Arkadenzo-

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ne angebracht wurden. Der Abstand von Fenster und Bogen betrage nur um ein Geringes weniger als die Scheitelhöhe der Arkade über dem Boden etc. Im Anschluss an die Analyse der gegebenen Formen und Verhältnisse im Inneren der Kirche fragt Pinder, »welche Angaben für die Sinnesbewegungen des Subjektes […] nun in diesem objektiven Bestande enthalten« sind. Aufschluss gibt eine imaginäre Betrachterin, ein imaginärer Betrachter, die oder der auf der zentralen Achse des Langhauses platziert wird und sogleich in Richtung Chor marschiert. Entscheidend für den rhythmischen Raumeindruck in Beauvais seien vor allem die Pfeiler: »Der Mensch schreitet entlang, – und regelmässig wechselt in ihm die Vorstellung eines nahen Körpers mit jener der Aufhebung der nahen Masse […]. Dieser regelmässige Vorstellungswechsel ist eine alternierende Reihung, eine einfache Form von Rhythmus.«43 Unterstützt werde dieser Eindruck laut Pinder noch von einigen weiteren Faktoren: etwa durch den Schwung der Archivolten in der Arkadenzone oder die regelmäßige Wiederkehr der Fensteröffnungen im Lichtgaden. Insgesamt fehlen im Basse-Oeuvre jedoch kräftige Vertikalakzente, wie sie die im weiteren geschichtlichen Verlauf entwickelten schlanken Dienste und massigen Pfeiler einbringen können. Denn erst durch solche senkrechten Strukturelemente habe man die basilikalen Innenräume der Normandie in einheitliche Raumgruppen separieren und dadurch dem dominanten Tiefensog des gerichteten Mittelschiffs konsequent entgegenwirken können. Die enorme rhythmische Energie, die diese späteren Kirchen in sich tragen, finde man daher in Beauvais nur in rudimentären Ansätzen verwirklicht. Teil der zu Anfang vor allem von Leipzig aus forcierten Initiative, den Rhythmusbegriff in der Kunstgeschichte zu etablieren, waren jedoch nicht nur Theoriebeiträge und Anwendungsbeispiele. Man bemühte sich auch um eine fachgeschichtliche Fundierung des Prinzips, etwa im Rahmen von Dissertationen zur (vermeintlich) langen kunsthistorischen Tradition des neuen Modeworts. Die Schmarsow-Schüler Hans Russack und Willy Drost beispielsweise erstellten Verzeichnisse einschlägiger Textstellen, die Auskunft über das Rhythmusverständnis vorangegangener Kunsthistorikergenerationen geben sollen.44 Aber auch der Hamburger Architekt und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Fritz Schumacher beteiligte sich an diesem Unterfangen. Denn Schumacher hatte sich 1904 als einer der ersten Autoren überhaupt im Rahmen eines Essays zum Thema Goethe und die Architektur speziell mit den verstreuten Äußerungen des Dichters zur Baukunst befasst.45 Sein Fazit ist eindeutig: Goethe »faßt die Architektur auf als eine besondere Form, in welcher der Rhythmus auf den 43 | Alle Pinder 1904, S. 20 ff. 44 | Vgl. Drost 1919; Russack 1910. 45 | Vgl. Schumacher 1907; Büchsenschuß 2010, bes. S. 7.

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Menschen einwirkt«,46 und ein wesentlicher Teil der Architekturästhetik liege für ihn »in der in Masse gebundenen Form eines Rhythmus«.47 Dass Goethe in Wahrheit das moderne Zauberwort in Bezug auf Bauwerke gemieden hatte, tat dem begrifflichen Begründungswillen Schumachers keinen Abbruch.48 Und auch seine Leserinnen und Leser dürften sich an dieser Kleinigkeit kaum gestört haben, im Gegenteil: Die angeblich lange kunsthistorische Geschichte des Begriffs legitimierte seine Übertragung auf immer neue Anwendungsgebiete. Leopold Zieglers Florentinische Introduktion zu einer Theorie der Architektur und der bildenden Künste von 1912 ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Beispiel:49 Der Philosoph und Schriftsteller verarbeitete in diesem knapp 200 Seiten umfassenden Text urbane, landschaftliche und künstlerische Eindrücke von Florenz, die er während eines vierwöchigen Studienaufenthalts (vom 19. April bis zum 17. Mai 1911) bei seinem Freund, dem Bildhauer Karl Albiker, in der Villa Romana gewann.50 In einer Phase, in der durch Peter Behrens AEG-Turbinenfabrik (1909) und Walter Gropius’ FagusWerk (1911) der Geist des Neuen Bauens im wilhelminischen Deutschland beschworen wurde,51 stellt der Privatgelehrte die Grundsatzfrage: »[W]elches sind jene Gesetze der Architektur, von deren Erfüllung Schönheit, Charakter und ›Stil‹ unserer Wohnstätten abhängt?« Dass diese Prinzipien mit »statischen und stereometrischen Grundsätzen« zusammenfallen,52 wie es seinerzeit die auf Zweckmäßigkeit, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit abzielenden Architekten der Moderne behaupteten, bezweifelt er. Um vollkommene ästhetische Wirkungen zu erzielen, müsse die zeitgenössische Architektur vielmehr »verstehender den Rhythmus der stolzen Bewegung der Vergangenheit aufnehmen und in ihm weiterschwingen«, so Ziegler.53 46 | Schumacher 1907, S. 9. 47 | Schumacher 1907, S. 13. Auch in der Folgezeit finden sich im Übrigen Versuche, die neue rhythmische Wahrnehmungsweise der Kunst und Architektur mit Goethe in Verbindung zu bringen. Ernst Cassirer etwa betont in seinem Aufsatz Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum von 1930: »Was Goethe [im zweiten Kapitel des Faust, T T] von der Dichtung sagt, das gilt von jeder Form der künstlerischen Gestaltung: sie teilt die fließend immer gleiche Reihe des Geschehens ›belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt‹«, Cassirer 1985, S. 101. 48 | Auch neuere Spezialuntersuchungen können keine konkreten Stellen benennen, vgl. Jeziorkowski 2002; ferner keine entsprechenden Einträge in Witte et al. 1996-99, Bd. 4.2 (1998); Zeitler 1918. 49 | Vgl. Ziegeler 1989; dazu Löhneysen 1999; zudem König 2010. 50 | Vgl. zu Zieglers Florenzaufenthalt Schneider-Faßbaender 1978, S. 49 ff. 51 | Vgl. Conrads 1989. 52 | Ziegler 1989, S. 10 f. 53 | Ziegler 1989, S. 61.

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Was genau dieser Ratschlag meint, verdeutlicht der Autor am Beispiel der Ziegelmauerkuppel, mit der Filippo Brunelleschi von 1418 bis 1434 die Kathedrale Santa Maria del Fiore bekrönte (Abb. 117). Denn diese technische Höchstleistung der Baukunst habe man bislang »vornehmlich als eine Angelegenheit der Logik, der Mathematik und Physik« und mithin »als das Ergebnis eines glücklichen Kalküls« gewertschätzt.54 Ziegler hingegen stellt heraus, dass die Ästhetik der monumentalen Überwölbung keineswegs von geometrischen und konstruktiven Gesetzmäßigkeiten ausgeht: Schon das faktische »Gesichtsbilde«, das die Außenseite der Kuppel der Betrachterin, dem Betrachter präsentiere, mache das Gegenteil deutlich: Denn die stabilisierenden 24 Strebepfeiler, Bogen, Quader, Verankerungen, Gewölbchen, Treppen und Ketten seien von außen gerade nicht zu sehen, da Brunelleschi die technische Komplexität seines Meisterwerks hinter dem Sichtschutz einer von profilierten Rippen achtmal gebrochenen Fläche grauroter Ziegel verbarg: »Die Kuppel der Santa Maria del Fiore erregt also deshalb so unaussprechlich gesättigtes Wohlgefallen, weil sie das konstruktive Gesetz der Überwölbung in einer Raumanschauung, in einem formalen Rhythmus von letzter Vereinfachung und Gedrängtheit zum Ausdruck bringt. Dieser Rhythmus des Baukörpers, dieser in Anschaulichkeit umgesetzte statisch-mathematische Gedanke ist genau das, was aus einem konstruktiv richtigen Werke ein Gebilde der Kunst macht.« 55

Abbildungen 117 und 118: Filippo Brunelleschi: Kuppel von Santa Maria del Fiore (1418-34, links) und Fassade des Palazzo Pitti (ab 1458), in: Ziegler 1998, Frontispiz (links) und [S. 197] (beide ZI).

54 | Etwa Fabriczy 1892. 55 | Alle Ziegler 1989, S. 17 ff., Hervorhebung im Original.

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Denselben Effekt erkennt Ziegler wenig später auch am ab 1458 u. a. von Brunelleschi erbauten Palazzo Pitti (Abb. 118): Die Schönheit dieser streng puristischen Architektur beruhe ebenfalls nicht auf mathematisch bzw. statisch korrekt arrangierten Grundformen und Proportionen. Vielmehr besteche auch dieses Gebäude als rhythmisches Ganzes: »Nicht aus Einzelheiten zusammengesetzt, nicht ›komponiert‹, wie der abgeschmackte terminus der RenaissanceÄsthetik lautet, sondern als ein unzerstückelter Formzusammenhang organisiert« stehe es der Betrachterin, dem Betrachter noch heute vor Augen: als »ein Rhythmus von Wänden und Fenstern mit einem nicht durch Rechnung zu ermittelnden Verhältnis von Bogen, Linien, Senkrechten und Wagerechten« sei es »der schöpferischen Eingebung seines Urhebers« entstiegen, so Ziegler.56

R aumrhy thmen bei B rickmann , J aques -D alcroze und A ppia Auch Ziegler ist damit Teil jener Kunsthistorikergeneration, die um 1900 über den ostentativen Hang zum Rhythmus ihr neues Sehen artikuliert: Die alte, auf das formale Grundgerüst der Objekte gerichtete Wahrnehmungstechnik des 19. Jahrhunderts ist ihr nach wie vor eigen, wird jedoch amalgamiert mit einer neuen visuellen Programmatik, die in erster Linie auf die Dynamisierung von Formzusammenhängen abhebt. Wie im Folgenden dargelegt werden wird, leistete Albert Erich Brinckmann – ein Pionier auf dem noch jungen Forschungsfeld der Urbanistik 57 – zu dieser Entwicklung einen entscheidenden Beitrag. Denn der Wölfflin-Schüler hatte dem Rhythmus im Rahmen seiner Schriften zur Stadtbaukunst ein neues Habitat geschaffen, indem er das Konzept von seinem angestammten Bezugsfeld des gebauten Innenraums auf den architektonisch gestalteten Außenraum transferierte. Schon im Rahmen der Habilitation Platz und Monument (1908) hatte sich Brinckmann darum bemüht, urbanistische Fragestellungen in der Disziplin Kunstgeschichte zu installieren, und auch die spätere Studie Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit, die erstmals 1911 erschien und 1921 eine zweite, erweiterte Auflage erfuhr, verfolgt dieses Ziel nachdrücklich. Im Unterschied zur Habilitation jedoch beschränkt sich Brinckmann dort auf den deutschsprachigen Raum und operiert zudem – im Ansatz vergleichbar mit Camillo Sittes Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889)  – mit einem von Wölfflin und Schmarsow inspirierten System ästhetischer Gestaltungsprinzi56 | Alle Ziegler 1989, S. 24, Hervorhebung im Original. Vgl. zu Brunelleschis Rhythmus u. a. am Beispiel der Pazzi-Kapelle wenig später auch Frankl 1912, S. 16. 57 | Vgl. zu Brinckmann als Stadtbauhistoriker Claessens 2013; Brandt 2010; Jöchner 2010; Reinisch 2010; Brandt 2008; Meyer 2000.

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pien. Das vierte Kapitel der Schrift ist dem Phänomen rhythmisch organisierter Höfe, Plätze und Straßen gewidmet. Rhythmus gilt Brinckmann darin ganz allgemein als »das künstlerische Gesetz des bedachten Arbeitens im Stadtbau«,58 d. h. als ein Prinzip, durch das sich unterschiedliche Formwerte derart in Beziehungen zueinander setzen lassen, dass sich ein ästhetisches Stadtraumerlebnis einstellt. Zudem werde »für das Auge […] durch solches Inbeziehungsetzen die Aufnahme des baulichen Gebildes erleichtert, indem dieses, von dem klärenden Gestaltungsprozeß ergriffen, sich in sich gliedert und seine Gesamtwirkungsform für unsere Vorstellung aus einzelnen Abschnitten entwickelt, die in künstlerischer Kausalität […] zueinander stehend nacheinander apperzipiert werden.«

Wesentliche Gliederungsmomente für urbanen Rhythmus erkennt Brinckmann einerseits in den gegebenen architektonischen Massen, jedoch auch – ähnlich wie Riegl in der Kunstindustrie – in den sie umschließenden Freiräumen: »Straßen und Plätze als positive Gebilde aufzufassen, sie als bestimmt begrenzte Luftvolumina statt als formlose Reste zwischen Baublöcken« zu werten und sie in geregelte Beziehungen zu den vorhandenen baulichen Elementen zu setzen, »endlich sogar rhythmische Funktionen in ihrer Raummasse zum Ausdruck zu bringen,« ist für Brinckmann »höchste architektonische Aufgabe im Stadtbau.«59 Denn dieser Rhythmus der Stadt wirke unmittelbar auf ihre bewegten Bewohnerinnen und Bewohner ein, werde von ihnen körperlich nachempfunden und dadurch immer wieder aufs Neue zum Leben erweckt. Am Beispiel der Hauptstraße im mittelfränkischen Erlangen führt der Autor seinen Leserinnen und Lesern diesen Effekt vor Augen: Dazu hatte er eine Grundrisszeichnung (Abb. 119) des Stadtteils entworfen, in welcher er alle Straßen, Plätze und Gebäude zunächst auf ihre rudimentären geometrischen Grundformen reduziert und anschließend durch Schraffuren jene Faktoren kenntlich gemacht hatte, die in Bezug auf den Rhythmus des Stadtraums relevant sind. Nun werde ersichtlich, dass man es in Erlangen mit einer »wechselnde[n] Folge von Straßenabschnitten und Rechteckplätzen zu tun habe, deren Achsen durch beherrschende Monumentalbauten von Kirche und Schloß senkrecht zur Straßenachse orientiert sind«. Entscheidend für den Takt des rhythmischen Erlebnisses (Abb. 120) sei jedoch vor allem die Betonung der Straßenecken durch »Richthäuser«, die Brinckmann als in ihren Fassaden und Grundrissen »gleichmäßig gestaltete Bauwürfel« bezeichnet.60 Denn die kräftigen Kuben trennen einerseits Platz und Straße klar voneinander ab. Sie leiten 58 | Brinckmann 1921, S. 97. 59 | Alle Brinckmann 1921, S. 63 f. 60 | Alle Brinckmann 1921, S. 72.

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durch ihre identischen Fassaden aber auch elegant von Bauwerk zu Bauwerk über und begründen damit die Wahrnehmung einer geregelt voranschreitenden Bewegung: »Das Vorwärtskommen geschieht in einzelnen Absätzen, jeder Raumteil bleibt im Zusammenhang mit dem Ganzen selbständig.«61 Abbildungen 119 und 120: Albert E. Brinckmann: Grundriss der Hauptstraße in Erlangen (links) und perspektivische Ansicht der Hauptstraße in Erlangen, in: Brinckmann 1921, Abb. 57 (links) und 55 (beide ZI).

Brinckmanns Studie gibt einen ersten Hinweis darauf, dass der Rhythmus in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts zunehmend neue Spielflächen eroberte  – ein Prozess, der in Kürze weiterverfolgt werden wird. Die Beiträge des Urbanisten richten sich jedoch nicht nur an ein kunsthistorisch interessiertes Fachpublikum. Insbesondere Stadtplanerinnen und Stadtplaner sollten von seinen Theorien profitieren und den Rhythmus als historisch fundiertes Gestaltungsprinzip annehmen. Brinckmanns Arbeiten verweisen damit auf das weite Feld der Planung und Gestaltung rhythmischer Architekturen in der Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts, das im Folgenden wenigstens anhand eines Beispiels aufgegriffen werden soll: das zwischen 1911 und 1912 verwirklichte Festspielhaus – bzw. die Bildungsanstalt für Rhythmische Erziehung (Abb. 121) 62 – der Gartenstadt Hellerau bei Dresden.63 Erbaut wurde es am nordwestlichen Rand der vom Möbelindustriellen Karl Schmidt und dem Architekten Richard Riemerschmidt errichteten Gartenstadt durch den Reformarchitekten Heinrich Tessenow. Als Schirmherr 61 | Brinckmann 1921, S. 76. 62 | Vgl. speziell zur Bau- und Renovierungsgeschichte des Festspielhauses Müller 2019; Michelis 1991. 63 | Vgl. dazu umfassend Schinker 2013; Nitschke 2009; Nitschke 2005; Arnold 1993; Fasshauer 1997; Dohrn 1908.

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und Finanzier fungierte der Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes Wolf Dohrn. Auf der konzeptionellen Ebene jedoch agierten der Genfer Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze sowie der aus Bern stammende Bühnengestalter Adolphe Appia, die im Festspielhaus Hellerau jahrzehntelange Vorarbeiten synergetisch zusammenführten. Abbildung 121: Anonymus: Hellerau, Festspielhaus (1913), in: Michelis 1991, Abb. 23 (ZI).

Jaques-Dalcroze ist heute vor allem durch seine Methode der rhythmischen Erziehung bekannt, die er auf einem Lehrerposten für Musikgeschichte und Harmonielehre am Genfer Konservatorium entwickelte.64 Ab 1902 begann er, sie dort in einer Sonderklasse auch praktisch zu erproben. Dabei ging es ihm zunächst darum, den Körper des Menschen zum Resonanzmedium für musikalische Rhythmen zu erziehen, um dadurch das Gehör und die Motorik der Schülerinnen und Schüler zu optimieren.65 Später sollte er jedoch den Wirkungskreis seiner Methode immer weiter entgrenzen und in ihr schließlich ein Allheilmittel gegen die »generelle Arrhythmie des menschlichen Lebens« im industriellen Zeitalter erkennen.66 Die natürliche Verbindung von Körper und Geist, die Jaques-Dalcroze aufgrund der technischen Disziplinierung des 64 | Die biographischen Informationen stammen aus Fasshauer 1997, S. 117-123; vgl. zur Rhythmischen Erziehung Jaques-Dalcrozes einführend Cowan 2008, bes. S. 180188; Tervooren 2005, Kap. 2; Günther 1979; Giertz 1975, Kap. I. 65 | Vgl. einführend zu der um 1900 ebenfalls florierenden musiktheoretischen Auseinandersetzung mit Rhythmus Hinrichsen 2005. 66 | Michelis 1991, S. 19; vgl. zu diesem Diskurs grundsätzlich Cowan 2008; Radkau 2000.

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Menschen in der modernen Arbeitswelt als gestört empfand, sollte durch gymnastische Übungen im Zeichen des Rhythmus zu alter Stärke zurückfinden. 1905 trat der Pädagoge im Rahmen eines Vortrags Über musikalischen Schulunterricht auf dem sechsten Schweizer Tonkünstler-Kongress mit ersten Ergebnissen an die Öffentlichkeit. Es folgten Demonstrationsreisen durch Deutschland, die Jaques-Dalcroze 1909 die Aufmerksamkeit Wolf Dohrns und schließlich das Angebot zur Gestaltung eines eigenen Instituts in Hellerau einbrachten. Adolphe Appia hingegen trat zur gleichen Zeit vor allem publizistisch in Erscheinung: Im Rahmen seiner kritischen Programmschrift Die Musik und die Inscenierung (1899) sowie dem daran anschließenden Essay Comment réformer notre mise en scène (1902) stellte er sich entschieden gegen die Verwendung historistisch-naturalistischer Bühnenbilder im zeitgenössischen Theater.67 Denn die illusionistisch gemalten Hintergrundprospekte, die alle Lichtquellen für sich in Beschlag nahmen, die der Zuschauerin, dem Zuschauer keine authentischen Raumerlebnisse erlaubten und die darüber hinaus auch die Interaktion der Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem Bühnenraum boykottierten, galten Appia als überkommene Relikte einer antiquierten Theatertradition, in der Wort und Musik mehr zählten als das Visuelle. Was Appia dagegen vorschwebte, war die Interpretation der Bühne als Interaktionsraum – als Spielfeld voll dreidimensionaler Objekte, das den Schauspielerinnen und Schauspielern zuvor ungekannte Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten bieten sollte, denn: »die Bewegungen des menschlichen Körpers benötigen Hindernisse, um zur Geltung zu kommen. Alle Künstler wissen, daß die Schönheit der Körperbewegungen von der Mannigfaltigkeit der Stützpunkte abhängt, die ihnen der Boden und die Ausstattungsgegenstände bieten. Die Beweglichkeit des Schauspielers lässt sich also nur durch eine geeignete Anordnung der Objekte und des Bodens künstlerisch wirkungsvoll in Szene setzen.« 68

Appias virtuose Bühnenentwürfe der Jahre vor 1900 zeugen bereits deutlich von dieser Bestrebung (Abb. 122): Immer stärker setzt er dort auf zugängliche, abstrakt-dreidimensionale Elemente, die nicht länger die sichtbare Wirklichkeit illusionieren, sondern im Gegenteil suggestiv-atmosphärische Raumsituationen evozieren. Erst nach 1906 allerdings sollte es ihm gelingen, dieser Ten67 | Vgl. Appia 2006; zu Appias Rolle als Reformator der Theaterästhetik Sonntag 2015, S. 332-413; Sonntag 2011; Beacham 2006, dort finden sich auch deutsche Übersetzungen vieler Schriften Appias; ferner Eckert 1998, S. 35-38; Simhandl 1993, S. 12-19; Zutter 1992, S. 21-47; Bablet 1984; Bablet 1982; Volbach 1968; Kreidt 1968, S. 4094; Bablet 1965, Kap. 3. 68 | Appia 2006, S. 161.

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denz den entscheidenden Nachdruck zu verleihen: Im Mai dieses Jahres traf Appia bei einem Besuch in Genf nämlich erstmals auf Jaques-Dalcroze, der ihn mit seiner Methode der rhythmischen Erziehung vertraut machte69 – der Beginn einer regen Korrespondenz und engen Freundschaft. Appia vertiefte daraufhin sein Studium der Lehre Jaques-Dalcrozes durch die Teilnahme an Kursen in rhythmischer Gymnastik. Der Genfer Pädagoge hingegen war nicht nur beeindruckt vom Verständnis Appias für seinen Ansatz. Er begegnete auch dessen bühnenreformatorischen Ansichten mit so großem Interesse, dass er ihn schließlich in die Planungen seines Instituts in Hellerau einschloss.70 Abbildung 122: Adolphe Appia: Landschaft vor Walhalla (1898), in: Beacham 2006, S. A7 (BSB).

Vor allem das Erscheinungsbild des Multifunktionssaals, dessen hochmoderne Lichttechnik vom Maler und Bühnenbildner Alexander von Salzmann geplant wurde, geht zum Großteil auf die Ideen Appias zurück. Gestaltungsgrundlage des bewusst schmucklos gehaltenen rechteckigen Theater- und Gymnastikraums, in dem die Trennung zwischen Zuschauerrängen und Bühne programmatisch aufgehoben wurde, bilden ca. 20 Entwurfsskizzen, die Appia zwischen 69 | Vgl. speziell dazu Beacham 1989, S. 119-126; Stadler 1965; Stadler 1964. 70 | Die Genese der rhythmischen Theaterräume aus der Zusammenarbeit von Appia und Jaques-Dalcroze beschreiben Vicovanu 2013; Salvadeo 2006; Berchtold 2000, Kap. III / V I; Beacham 2006, S. 108-130; Bablet 1997; Brauneck 1995, S. 65-70; Giertz 1975, bes. S. 60-64.

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1909 und 1910 unter dem Titel Espaces rythmiques (Abb. 123) zu Papier gebracht hatte. Sie alle zeigen durch starke Schlagschatten effektvoll inszenierte Arrangements von geometrischen Raumkörpern, die in leeren, weiten Räumen Podeste, Treppen und Schrägen bilden. Diese streng geometrische Ästhetik setzte man mittels frei kombinierbarer Module auch im Theatersaal Hellerau um. Historische Fotografien, die am Rande der anlässlich von Institutsfesten dargebotenen Massenaufführungen entstanden,71 dokumentieren, wie nah Appia seinen Idealvorstellungen gekommen war (Abb. 124). Zugleich zeigen sie, wie sich die einheitlich gekleideten und dadurch vollständig anonymisierten Menschen in Gruppen zusammenfinden und geometrische Elementarformen wie Kreise oder Dreiecke bilden, welche sie entsprechend der Choreographie Jaques-Dalcrozes in rhythmische Bewegungen versetzten. Die eigens auf die gymnastischen Übungen zugeschnittene Bühnenarchitektur Appias unterstützte die Tänzerinnen und Tänzer dabei – nicht nur, weil diese durch das Hinauf- und Hinabschreiten von Treppen unweigerlich rhythmische Bewegungsabläufe darboten, sondern auch durch die Möglichkeit der Staffelung von Darstellerinnen und Darstellern, wodurch die rhythmische Bewegung in die dritte Dimension verlängert werden konnte. Der Raum – das machen die historischen Aufnahmen des Festspielsaals ersichtlich – geriet durch die von Appia und Jaques-Dalcroze regulierte Interaktion von Mensch und Bühne zum geometrischen Substrat des Rhythmus – nicht anders als in den zeitnahen Architekturanschauungen Schmarsows, Pinders und Brinckmanns. Abbildungen 123 und 124: Adolphe Appia: Rhythmischer Raum (1909, links) und Anonymus: Rhythmische Gruppenübung in Hellerau (1912), in: Beacham 2006, S. 89 (links) und Sonntag 2015, Abb. 186 (beide BSB).

71 | Vgl. zum Unterricht, den beiden Schulfesten (1912 / 13) und den Theateraufführungen in Hellerau Beacham 2006, S. 131-159; Giertz 1975, Kap. IV.

VII.  Mythos Rhythmos

I m R hy thmus frei : G rosse , K offka , P e tersen und K auffmann  /  P anofsk y Abbildung 125: Hans Richter: Rhythmus 21 (1921, Film-Stills), in: Richter 1965, S. 31 (ZI).

Das Beispiel der Theaterarchitektur in Hellerau stößt die Tore weit auf zu den vielfältigen Rhythmusbezügen der bildenden Kunst der Moderne. Paul Klee beispielsweise hatte sich sowohl theoretisch als auch praktisch über viele Jahre mit diesem Ordnungsprinzip befasst und es dabei nicht nur zur Entstehungsgrundlage seiner ›Bildorganismen‹ erklärt. Er nutzte das Konzept auch zur programmatischen Verzahnung der Medien Musik und Malerei und rückte es ins Zentrum seiner kunstpädagogischen Lehre.72 Aber auch die Geburtsstunde des ungegenständlichen, antinarrativen Avantgardefilms ist eng mit dem neuen Modewort verbunden, wie Hans Richters Gründungsdokument des absoluten Films  – Rhythmus 21 (1921)  – ersichtlich macht: Ausgeschnittene Papierrechtecke und Quadrate, die der Maler »in gut artikulierten Zeiten und geplanten Rhythmen wachsen und verschwinden, springen oder gleiten« lässt,73 bilden auch dort ein abstraktes Spielfeld für das hypnotische Pulsieren optischer Rhythmen (Abb. 125). Die intermediale Verbreitung des Rhythmus in den Jahrzehnten nach 1900 ist allerdings kein Phänomen, dass sich allein auf die 72 | Vgl. Stooss 2008; Kersten 2005; Dessauer-Reiners 1996. 73 | Richter 1965, S. 29.

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Bereiche Architektur und bildende Kunst beschränkte. Auch in der Kunstgeschichte des fraglichen Zeitraums hat dieser Prozess Spuren hinterlassen, wie im Folgenden anhand von Beispielen der Übertragung des Konzepts auf die Bildkünste dargelegt werden wird. In diesem Zusammenhang auf den Freiburger Ethnologen, Sammler und Ostasienexperten Ernst Grosse zu sprechen zu kommen,74 ist fast unumgänglich, nicht nur, weil Grosses Stimme seinerzeit Gewicht im kunsttheoretischen Diskurs hatte, sondern auch, da seine Schrift über die Anfänge der Kunst (1894) für sich in Ansruch nimmt, Auskunft über die Ursprünge des Prinzips Rhythmus in der bildenden Kunst zu geben.75 Neben der Kosmetik, dem Tanz und der Poesie ist auch das Kunsthandwerk zeitgenössischer Naturvölker Gegenstand dieser Studie. In Abgrenzung zu vielen seiner Kolleginnen und Kollegen erklärte sich Grosse jedoch das Erscheinungsbild der von ihm thematisierten Objekte globaler Provenienz nicht anhand rassenideologischer Vorurteile. Für die Ausprägung ästhetischer Standards maßgeblich seien vielmehr die wirtschaftlichen Bedingungen, in deren Rahmen Volksgruppen gestalterisch tätig sind. Diese Tatsache werde besonders mit Blick auf die kunsthandwerklichen Erzeugnisse sogenannter Jägervölker deutlich: Denn bei diesen Gruppen treffe man nicht nur auf die einfachste Form der Nahrungsproduktion, sondern auch auf die naheliegendste Strategie zur Kooperation: »die physiologisch begründete Arbeitstheilung zwischen den beiden Geschlechtern«.76 Jägervölker bilden damit laut Grosse auf der organisatorischen Ebene die simpelste Form menschlicher Gemeinschaft ab – ein Umstand, der sich in ihrem Kunsthandwerk widerspiegele: »Die Armuth und Rohheit ihrer Motive und Formen ist eine Folge und zugleich ein Bild der ganzen geistigen und materiellen Dürftigkeit, zu der diese Völker durch ihre Productionsform verurtheilt sind. Die Noth, welche durch die karge und unsichere Beute niemals für längere Zeit fern gehalten werden kann, verbietet ihnen, den Blick über den engen Kreis derjenigen Dinge hinaus zu richten, die zu ihrem Wohl und Wehe in der nächsten Beziehung stehen.« 77

Grosse belässt es jedoch nicht bei einer Kritik der in seinen Augen defizitären kunsthandwerklichen Erzeugnisse. Im Gegenteil qualifiziert gerade ihre angebliche Primitivität die Objekte für eine Untersuchung jener gestalterischen Prinzipien, die am Ursprung der künstlerischen Tätigkeit des Menschen stehen und 74 | Biographisches zu Grosse bei Ganslmayr 1966. 75 | Vgl. Grosse 1894; dazu Niess 2016; Leeb 2013, S. 63-72; Basu 2012; Reichle 2012; Damme 2010; Pfisterer 2008. 76 | Grosse 1894, S. 35. 77 | Grosse 1894, S. 148.

VII.  Mythos Rhythmos

von dort aus den Weg in die Kunst der folgenden Jahrhunderte gefunden haben sollen.78 In reinster Form offenbaren sich Grosse diese originären Gestaltungsprinzipien im Ornament, dessen Entwicklung er in zwei Stufen unterteilt: Am Beginn stehe die einfache Nachahmung von Tierformen und -mustern. So finde man etwa unter den Jägervölkern Australiens Schilde, geschmückt mit Vogel-, Eidechsen- oder Schlangenmotiven (Abb. 126), und auch die Inuit haben Messer, Eimergriffe und Pfeilstecker mit Tierornamenten versehen (Abb. 127). In der Verzierung dieser Gebrauchsgegenstände habe man bisher einen Beweis für die »natürliche Vorliebe der einfachsten Menschen für die einfachsten ästhetischen Verhältnisse« erkannt.79 Grosse jedoch betont nun die Abhängigkeit der geometrischen Ornamente von Naturformen und scheint dabei Riegl zu folgen, der kurz zuvor in seiner Geschichte der Ornamentik die These vertreten hatte, dass die ersten Schmuckformen des Menschen »unter Beobachtung der fundamentalen Kunstgesetze der Symmetrie und des Rhythmus« entstanden sind, »nach denen die Natur in der Bildung ihrer Wesen verfährt (Mensch, Thier, Pflanze, Krystall).«80 Für Grosses Riegl-Rezeption spricht ferner, dass er auf der zweiten Entwicklungsstufe der Ornamentik den zunehmend freien Umgang der Jägervölker mit den vom Wiener ins Spiel gebrachten ersten Gestaltungsprinzipien Symmetrie und Rhythmus erkennt. Für das Auftreten von symmetrisch angeordneten Formen macht er die Imitation menschlicher und tierischer Abbildungen 126 und 127: Ernst Grosse: Schilde der Jägervölker Australiens (links) sowie Messer, Eimergriffe und Pfeilstecker der Inuit, in: Grosse 1894, S. 118 (links) und 122 (beide ZI).

78 | Vgl. zu Grosses an Charles Darwin und Herbert Spencer orientiertem, evolutionstheoretischem Geschichtsmodell Leeb 2013, S. 63-72. 79 | Grosse 1894, S. 113. 80 | Riegl 1893, S. 3. Anders als Grosse glaubt Riegl jedoch nicht an die durch Klima und technischen Entwicklungsstand einer Kultur initiierte spontane Entstehung geometrischer Stile. Er plädiert stattdessen für die Tradierung von Formen und Motiven durch Handel (vgl. Riegl 1893, S. 9).

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Körper verantwortlich. Rhythmus hingegen sei »ohne Zweifel durch die Nachahmung technischer Motive in die Ornamentik eingeführt« worden und stamme letztlich wohl aus dem Textilhandwerk. Hinsichtlich der Komplexität in der Anwendung des Rhythmus unterscheidet der Ethnologe wiederum zwei Stufen: Der einfachste Fall liege vor, wenn eine identische Grundform (Punkt, Gerade, Kreislinie) sich fortwährend wiederhole und damit den Eindruck einer Einheit erwecke. Diese simpelste Variante des ornamentalen Rhythmus nehme mit zunehmendem Zivilisationsgrad jedoch ab. In Europa etwa finde man sie nur noch in der Keramik der süddeutschen Volkskunst vor und auch die Jägervölker neigen laut Grosse in ihrer Ornamentik zur »Bildung weit complicirterer Rhythmen.« Diese kommen immer dann zu Stande, wenn eine rhythmische Einheit aus zwei oder mehr Grundformen bestehe. Beliebt sei vor allem die Zickzacklinie: »Sie schmückt die meisten Schilde und Keulen der Australier; sie leuchtet in rother und brauner Farbe fast auf allen Geräthen und Waffen der Mincopie; und auf die Nadelbüchsen, Bohrerbügel und Eimerhenkel der Hyperboräer wird kaum ein anderes Motiv so häufig geritzt als sie.«81 Darüber hinaus stelle auch die rhythmische Musterung eines Gürtels von den Andamanen dieses Grundprinzip überzeugend vor Augen (Abb. 128), wenngleich dort bereits eine noch elaboriertere Spielart des Rhythmus zu erkennen sei: Die beiden übereinander angebrachten Zickzacklinien seien nämlich Teil einer größeren rhythmischen Einheit, in der auch den senkrecht angeordneten Linien eine taktgebende Funktion zukomme. Noch heute seien derart komplexe Ornamentrhythmen in der Kunst und im Kunsthandwerk vielfach im Gebrauch. Den Rhythmus des andamanischen Gürtels etwa könne man auch auf modernen Zimmertapeten antreffen: »Die schrägen Striche auf dem Gürtel wiederholen sich gerade so wie die Blumensträusse auf der Tapete in regelmässigen Zwischenräumen: die Striche wie die Sträusse bilden rhythmische Reihen.«82 Abbildung 128: Ernst Grosse: Gürtel von den Andamanen, in: Grosse 1894, S. 144 (ZI).

81 | Alle Grosse 1894, S. 144 f. 82 | Grosse 1894, S. 142.

VII.  Mythos Rhythmos

Die von Grosse behauptete, anthropologisch konstante Latenz des Rhythmus in der bildenden Kunst war ein Argument mehr für all jene, die um 1900 Beiträge zur zunehmenden Entgrenzung des Prinzips beisteuerten. Hans Cornelius etwa versuchte sich seinerseits im Rahmen eines Lehrbuchs über die Elementargesetze der bildenden Kunst (1908) daran, das »Prinzip der Rhythmik« in die Ornamentik einzuführen und es als Gestaltungsgesetz bei der Gruppierung von Formen zu ornamentalen Einheiten geltend zu machen.83 Wichtiger für die rasante Verbreitung des Rhythmus in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts war jedoch einmal mehr ein Vorstoß aus der Psychologie, genauer: aus der im Entstehen begriffenen Gestaltpsychologie.84 Denn dort hatte man die tonpsychologischen Studien Machs, Wundts und Meumanns, die Rhythmus als körpereigenes Organisationsprinzip der auditiven Wahrnehmung eingeführt hatten, mittlerweile weiter generalisiert: Ansätze dazu waren bereits 1890 vom philosophischen Vordenker der Gestaltpsychologie, Christian von Ehrenfels, im Rahmen seines bahnbrechenden Essays Über Gestaltqualitäten eingebracht worden. Denn in diesem Aufsatz wird Rhythmus als allgemeine Gestaltqualität der Zeitwahrnehmung eingeführt, die greife, gleichgültig ob die Elemente einer rhythmischen Folge »durch Veränderung der Schallstärke, durch Bewegung im Gesichtsfelde, durch Druck oder sonst wie markirt werden«.85 Die Verifizierung der These von Ehrenfels’ erfolgte jedoch erst im Rahmen experimentalpsychologischer Studien zu rhythmischen Gestalten nach 1900. Der in diesem Zusammenhang entscheidende Beitrag stammt von Kurt Koffka, dessen Dissertation aus dem Jahr 1908 speziell dem Phänomen und der Wirksamkeit optischer Rhythmen gewidmet ist.86 Im Mittelpunkt seiner Experimental-Untersuchungen zur Lehre vom Rhythmus stehen die Fragen, »ob durch visuelle Eindrücke allein unwiderstehlich der rhythmische Eindruck hervorgerufen« werden kann, und falls ja,87 wo genau die Grenzen des menschlichen Vermögens zur Wahrnehmung optischer Rhythmen liegen. Um diesen Problemen empirisch auf den Grund zu gehen, entwickelte Koff ka auf Basis des Schumann’schen Zeitsinnapparats (Abb. 129) eine im Text minutiös beschriebene und auch schematisch abgebildete Maschine zur exakten Darbietung rhythmischer Folgen von optischen Reizen (Abb. 130). In verschiedenen Intervallen stellte diese Konstruktion den Versuchspersonen vor dunklem Hin83 | Cornelius 1921, S. 158, Hervorhebung im Original. Vgl. zu den Elementargesetzen Bellin 2015. 84 | Vgl. zur Geschichte der Gestaltpsychologie, ihren Zentren, Themen und Pionieren Ash 1995; zu den Anfängen ferner Lück 2011, S. 80-93; Eckardt 2010, S. 110-117. 85 | Ehrenfels 1890, S. 278. 86 | Ein erster Auszug wurde bereits 1908 selbstständig publiziert, vgl. Koffka 1908. Ein Jahr später folgte dann die Veröffentlichung der gesamten Schrift, vgl. Koffka 1909. 87 | Koffka 1909, S. 10.

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tergrund aufleuchtende Kreisflächen vor Augen. Durch Aufzeichnungen von Kopf-, Fuß- und Atembewegungen wie auch durch anschließende Befragungen ermittelte der Psychologe dann, inwieweit diese Sequenzen als rhythmische Gestalten wahrgenommen und erkannt wurden. Die Resultate waren eindeutig: Koff ka stellte fest, dass sich »Rhythmus […] auf dem Gebiet des Gesichtssinnes ebenso erzeugen [lässt] wie auf dem Gebiet des Gehörsinnes«,88 sowie, »daß nach dem Ergebnis dieser Studie von einem Rhythmus in den Raumkünsten in demselben Sinne wie in Dichtkunst und Musik gesprochen werden« könne.89 Abbildungen 129 und 130: F[.] Schumann: Zeitsinnapparat (links) und Kurt Koff ka: Rhythmus-Maschine, in: Schumann 1898, Fig. 1 (BSB, links), und Koff ka 1909, S. 7 (Privatbesitz).

Koff kas Theorie, die im Anschluss von deutschen wie auch amerikanischen Psychologinnen und Psychologen weiterverfolgt wurde,90 legitimierte damit die uneingeschränkte Übertragung des Rhythmus auf all jene Anwendungsfelder, in denen der Mensch mit einer regelmäßig abgeteilten Folge von Sinneseindrücken konfrontiert wird – so auch auf die Bildkünste. Die damit einhergehende Profillosigkeit des Konzepts wurde von einigen Zeitgenossen Koff kas durchaus kritisch gesehen, etwa vom Philosophen Richard Hönigswald, der sich im Rahmen seiner Abhandlung Vom Problem des Rhythmus (1926) eingedenk der plötzlichen »Transponibilität« dieses Begriffs grundsätzliche Gedanken über die instabil gewordene Beziehung der rhythmischen Gestalt zu ihren fundierenden Elementen machte.91 Und noch heute wirkt die Psychologisierung des 88 | Koffka 1909, S. 104. 89 | Koffka 1909, S. 109. 90 | Für Deutschland vgl. etwa Werner 1927; ferner Ruckmick 1913a; Ruckmick 1917. Im weiteren Verlauf des 20.  Jahrhunderts hat vor allem der französische Psychologe Paul Fraisse in diese Richtung weitergeforscht, vgl. stellvertretend für eine Fülle von Beiträgen Fraisse 1981, Kap. 7. 91 | Hönigswald 1926, S. 11. An Hönigswald sollte später der französische Phänomenologe Henri Maldiney seine Rhythmustheorie anschließen, vgl. Maldiney 2007; zur Verbindung Hönigswald-Maldiney: Blümle 2014.

VII.  Mythos Rhythmos

Rhythmus nach 1900 belastend auf das Prinzip, führt man auf sie doch eine kaum noch korrigierbare inhaltliche Aushöhlung des Begriffs zurück, der aktuell »fast leer, alles- und nichtssagend« erscheint.92 Im Kunstdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts dagegen ist von Rhythmusverdruss nicht viel zu spüren – im Gegenteil: Der Eifer, das Prinzip an immer neuen Gegenständen zu erproben, war voll entfacht, wie sich exemplarisch anhand der 100 Seiten starken Abhandlung des klassischen Archäologen und Sprachwissenschaftlers Eugen Petersen zum Rhythmusbegriff der Antike aufzeigen lässt.93 Den Auftakt der Schrift bildet eine Kritik Petersens an der gegenwärtigen Verwendung des Wortes »bei unseren Kunstschriftstellern.«94 Was störte, war jedoch nicht der inflationäre Gebrauch des Terminus, sondern seine unsachgemäße Verwendung. Denn laut Petersen gingen die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker des frühen 20. Jahrhunderts von einer falschen etymologischen Ableitung des Wortes ῥυθμός (Rhythmus) vom altgriechischen Verb ῥέω (fließen) aus, die wiederum zur Unsitte geführt habe, dass man sogleich von Rhythmus spreche, sobald regelmäßig dahinfließende Linien oder Massen zu erkennen seien. Der Archäologe dagegen plädiert für eine alternative Herleitung des Begriffs von ἐρύω (ziehen),95 wodurch Rhythmus im wahrsten Sinne des Wortes in der bildenden Kunst nur dann vorliege, wenn Rezipientinnen und Rezipienten durch die Darstellung von Wende- oder Endpunkten (Eremia) eines rhythmischen Bewegungszusammenhangs dazu veranlasst werden, sich diesen in Gänze vorzustellen. Das bedeutendste Beispiel dafür stelle laut Petersen Myrons in verschiedenen römischen Kopien überlieferte Bronzestatue des Diskobol vor Augen, deren Rekonstruktionen der Archäologe und Sporthistoriker Bruno Schröder einige Jahre zuvor (1913) kritisch kommentiert hatte (Abb. 131). Bereits die Zeitgenossen des Bildhauers hätten an seinem Hauptwerk insbesondere die darin zum Ausdruck kommenden rhythmischen Qualitäten gelobt, so Petersen.96 Und in der Tat suche die Skulptur »seines Gleichen […] als Beispiel einer Eremia zwischen zwei gegensätzlichen Bewegungen, deren erste die Arsis vollendet und im Begriff ist, in die Thesis überzugehn.« Allein »auf die Bewegung, und zwar auf die rhythmisch veredelte Bewegung«, sei es Myron bei seinem Diskuswer92 | Seidel 2003, S. 291. 93 | Vgl. zur Person Blanck 2001; Studniczka 1928. 94 | Petersen 1917, S. 2. 95 | Zunächst fand Petersen für diese unkonventionelle These durchaus Unterstützung, vgl. etwa Krogmann 1954. Im Anschluss an die Dissertation Ernst Wolfs favorisierte man jedoch wieder die traditionelle Herleitung, vgl. Wolf 1955. Émile Benveniste stützte diese Position mit weiteren Argumenten, vgl. Benveniste 1974. Sie ist seitdem anerkannt, vgl. Seidel 2010, S. 292. 96 | Vgl. Petersen 1917, Kap. VI.

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fer angekommen,97 denn in der Disposition der Statue sei exakt jener Moment eingefangen worden, in dem sich im gesenkten Körper des Sportlers ein Maximum an Kraft angestaut habe, das sich schon im nächsten Augenblick in der nach vorne strebenden Wurf bewegung vollständig entladen werde. Durch den von Myron gewählten Darstellungsmoment führe sich die Betrachterin, der Betrachter daher vergangene und zukünftige Sequenzen eines durch das Auf und Ab des Körpers rhythmisierten Bewegungsablaufs vor Augen. Abbildungen 131 und 132: Myron: Diskobol (MassimiLancelotti, links) und Étienne-Jules Marey: Fechter, in: Schröder 1913, Taf. IV (ZI, links) und Marey 1894, Fig. 99 (BSB).

Wie stark Petersens Myron-Interpretation von der Chronofotografie Albert Londes und Étienne-Jules Mareys abhing (Abb. 132), ist offenkundig.98 Denn Marey hatte in seinem Standardwerk der Chronophysiologie – Le mouvement (1894) – in durchaus provokanter Art und Weise Bildbeispiele aus der Kunstgeschichte zitiert, um den Leserinnen und Lesern das vergleichsweise enorme Präzisionsniveau seines Verfahrens zur Dokumentation von Bewegungsabläufen zu demonstrieren. Forscher wie Petersen nahmen in ihren Studien diesen Federhandschuh auf und versuchten die Künstlerinnen und Künstler der Vergangen-

97 | Alle Petersen 1917, S. 45, Hervorhebungen im Original. 98 | Vgl. Petersen 1917, S. 45. Dass die Chronofotografie schon zuvor ein archäologisches Interesse geweckt hatte, belegt Studniczka 1900.

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heit zu rehabilitieren, indem sie deren elaborierte Strategien zur Bewegungsdarstellung im Bild mit Nachdruck herausstellten.99 Eine vergleichbare Motivation lässt sich auch der Habilitationsschrift über Albrecht Dürers rhythmische Kunst unterstellen, die der bereits angesprochene Kunsthistoriker Hans Kauffmann 1924 publizierte. Ähnlich wie zuvor das Rembrandt-Buch setzt auch die zwei Jahre später erschienene Schrift mit der Feststellung ein, dass man angesichts »der Dürerliteratur der letzten dreißig bis vierzig Jahre […] meinen könnte, die Erforschung der Kunst des deutschen Meisters wäre zum Abschluß gelangt und wir wären zu einer endgültigen Würdigung seiner schöpferischen Leistung vorgedrungen.« Vor allem Moritz Thausing, Anton Springer, Ludwig Justi und Henry Thode sei es zu verdanken, dass das malerische und grafische Œuvre des Nürnbergers mitlerweile vollständig und in stilistische Phasen unterteilt vorliege. Was man im Zuge der kennerschaftlichen Arbeit jedoch versäumt habe, war das Wesen der Werke selbst »mit neuen Augen anschauen lernen«,100 so Kauffmann durchaus bezeichnend. So habe sich bis dato auch kein Bewusstsein für die Tatsache einstellen können, dass Dürer neben der Körper- und Raumdarstellung eben auch ein Meister der Inszenierung des Prozessualen war: Kauffmann hingegen sieht alle »Menschengruppen, die Dürer gezeichnet oder gemalt hat, […] von einer durchgehenden Bewegung beherrscht, und wenn er Bewegung im Bilde sichtbar machen wollte, so ließ er sie in Menschengruppen sich abspielen.«101 Das in diesem Zusammenhang zentrale Gestaltungsprinzip ist natürlich der Rhythmus: Mit seiner Hilfe sei es Dürer gelungen, die von ihm in der Natur beobachteten Bewegungsfolgen an sinnvollen Stellen still zu stellen und sie anschließend über die Kompositionsmodelle des rhythmischen Zyklus bzw. der rhythmischen Periode ins Bild zu setzen: »Er adelte den Rohstoff der Natur durch die Kunstform des Rhythmus. Die Bewegungen, die er gestaltete, sind 99 | In diesem Sinne lässt sich etwa auch Friedrich Rintelens Studie über Giotto und die Giotto-Apokryphen von 1912 verstehen, in welcher der Autor das essentielle Moment in der Malerei des Florentiners nicht länger im Durchbruch zum Naturalismus oder einer neuen Monumentalität der Darstellung erkennt: »Das Wesentliche liegt vielmehr in der freien Art, mit der Giotto die Szenen in die Bildflächen eindringen und sie beleben lässt, mit der er durch den Rhythmus der Anordnung in der Fläche die Szenen zu Bedeutendheit, ihren nächsten Sinn zu Idealität erhebt. Dass die rhythmische Gestaltung der Fläche Selbstzweck zu sein scheint, und dass doch die Melodik in dem Verhältnis der Körper zueinander identisch ist mit dem Wohllaut kräftiger und durchsichtiger Erzählung, das ergibt den besonderen Zauber, der Giottos Bildern ganz allein oder wenigstens in hervorragendem Masse eigentümlich ist« (Rintelen 1912, S. 12). Vgl. zum Giotto-Buch Rintelens: Betthausen 2007d. 100 | Alle Kauffmann 1924, S. 1. 101 | Kauffmann 1924, S. 4, Hervorhebungen im Original.

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rhythmische Bewegungen, und die Gruppen, denen er sie einverleibte, rhythmische Gebilde.« Durch eine überaus abstrakte Definition des Prinzips Rhythmus als »stetige Ordnung verschiedener aber gleichförmiger Glieder«,102 d. h. als regelmäßige Variation eines identischen Grundmotivs, verschaffte sich Kauffmann den notwendigen Handlungsspielraum für die im Anwendungsteil seiner Studie enthaltenen Übertragungen – so auch für seine Interpretation der Illustrationen Dürers für das Gebetbuch Maximilians I. (1513). Dort zeige Dürer eine hohe Sensibilität in Sachen rhythmischer Körperbewegung, die er nach Kauffmann vor allem im Zuge der Arbeit an seinem Fechtbuch (1512) erwarb. Im Vergleich zu älteren Werken sei nämlich hier deutlich zu erkennen, wie sein »empfindlicherer Zeichenstift auf die zartesten Verschiebungen des Körpergewichts und […] auf die Details einzelner Glieder, nicht nur der Beine, sondern auch der Füße« eingehe,103 die für den graduellen Fortschritt von Bewegungen verantwortlich seien; so zu sehen auch in einer Szene, in der sich zwei Menschengruppen gegenüberstehen (Abb. 133): eine Schar von Bauern auf der einen Seite, bereit den Kampf gegen einen Trupp Ritter im rechten Bildfeld aufzunehmen. Beide Gruppen geben in den Augen Kauffmanns den Verlauf einer übergeordneten Bewegung von Anfang bis Ende wieder. Zu den Bauern notiert der Kunsthistoriker im Staccatostil: »Identische Aktion (Ausfall im Schritt) ist in drei Stadien einer Steigerung entwickelt: der ruhige Gang des letzten wird zu leidenschaftlichem Vorstoß des ersten, Schrittweite und Schrittempo wachsen stetig an, und schaffen eine Beschleunigung im Vorwärts«. Der Figur im Zentrum komme dabei nicht nur in räumlicher, sondern auch in kinetischer und dynamischer Sicht eine Vermittlungsfunktion zu. In der Vierergruppe der gegenüberstehenden Ritter erlebe die Betrachterin, der Betrachter dagegen »ein Schulbeispiel mit noch feinerer Differenzierung.« Denn hier sei über verschiedene Stationen abermals das Bewegungsmotiv des Ausfallschritts gegeben, nun jedoch mit dem Schwerpunkt auf dem Moment des Anlaufens: »Mit der Deutlichkeit und Vollständigkeit einer kinematographischen Aufnahme« sieht Kauffmann hier die Momentfolge eines Schritts vom linken Fuß des schwertziehenden Ritters bis zum rechten des Lanzenstoßers verwirklicht.104 Jede Figur der Grafik sei von Dürer also zum Träger einer bestimmten Zeitstufe ihrer Gruppenbewegung auserkoren worden, die sich erst im Auge der Betrachterin, des Betrachters vollzieht. Der Kunsthistoriker resümiert: »Indem Dürer seinen Bewegungsgruppen diese Variation eines Identischen einflößte, die Folgestadien durch stetige Abwandlung eines Grundmotivs auseinander entwickel102 | Alle Kauffmann 1924, S. 7, Hervorhebung im Original. 103 | Kauffmann 1924, S. 32. 104 | Alle Kauffmann 1924, S. 34 f.

VII.  Mythos Rhythmos te, unterwarf er die Sukzession dem Formgesetz des Rhythmus und verlieh den Vorgängen des Lebens künstlerische Gestalt. Seine Bewegungsgruppen wollen als rhythmische Perioden empfunden und gewürdigt sein.«105

Abbildung 133: Alberecht Dürer: Bauern und Ritter aus dem Gebetbuch Maximilian I. (1513), in: Kauffmann 1924, Abb. 6 (ZI).

Erwin Panofsky, der sich 1915 mit einer Arbeit über Dürers Kunsttheorie in die Kunstgeschichte eingeführt hatte, wurde durch Kauffmanns neue These natürlich zu einer Stellungnahme herausgefordert. Hinzu kam, dass ihm eine Kritik der Habilitationsschrift die Gelegenheit bot, selber einen Beitrag zum seinerzeit viel diskutierten Modewort zu verfassen: Das Ergebnis war eine fast 60 Seiten lange Rezension, die Panofsky 1926 im Jahrbuch für Kunstwissenschaft publizierte und die bis heute den sicher gehaltvollsten kunsthistorischen Kommentar zum Thema Bildrhythmus darstellt. Im Kern ist Panofskys Position dennoch schnell resümiert: Was der Hamburger Kunsthistoriker dem Berliner Kollegen vorwirft, ist die unzulässige definitorische Vereinfachung seines Leitbegriffs, verbunden mit einer zu sorglosen und unsachgemäßen Übertragung des Prinzips auf die Kunst und Kunsttheorie Dürers. Panofskys Gegenschrift setzt daher mit einem Kapitel ein, in dem vor dem Hintergrund der aktuellen Gemengelage versucht wird, den inhaltlichen Gehalt des Konzepts wieder schärfer zu bestimmen: »Rhythmus bedeutet – darüber dürfte bei allen modernen Autoren, die diesen Ausdruck überhaupt mit einem bestimmten Begriff verbinden, Einigkeit herrschen  – eine stetige Ordnung optischer oder akustischer Eindrücke in der Zeit.« Besonderes Gewicht hat in diesem Zusammenhang das Wort »Eindruck«, denn den entscheidenden Unterschied zwischen Kauffmanns und Panofskys Rhythmusbegriff markiert die Tatsache, dass letzterer Rhythmen dezidiert als ästhetische Phänomene begreift. Als solche seien sie nie objektiv gegeben, sondern ent105 | Kauffmann 1924, S. 27, Hervorhebungen im Original.

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stünden nur dann, wenn sie »von einem ästhetisch erlebenden Subjekt entweder hervorgebracht oder aufgenommen« werden.106 Das mechanische Ticken einer Uhr oder der Schlag des Herzens etwa seien nicht an und für sich rhythmisch, sondern werden es erst in der ästhetischen Erfahrung der Rezipientin, des Rezipienten. Kauffmann hingegen erkenne im Rhythmus ein auf der Objektebene wirksames Kompositionsprinzip der schrittweisen Variation eines Grundmotivs, wäre dem allerding so, dann: »wäre der Entomologe, der die Unterarten einer Käfergattung zusammenstellt, nicht minder ein Rhythmusforscher, als der Gräzist, der die Abwandlungen des Stammes σχαπ untersucht, – der Botaniker, der die Varietäten der Sumpfdotterblume beschreibt, nicht minder als der Briefmarkensammler, der die verschiedenen Werte der alten Mecklenburger mit dem Ochsenkopf verzeichnet.«

Rhythmus zu kreieren, steht demnach für Panofsky nicht in der Macht der Künstlerin, des Künstlers selbst. Was diese im Bild lediglich erreichen können, ist einerseits, dem rhythmischen Erlebnis durch die Gestaltung von Linienverläufen und die Verteilung von Farbflächen eine objektive Grundlage zu schaffen, und darüber hinaus – diesem Fall wird Panofsky in der Folge verstärkt nachgehen – durch die Anordnung von Bildfiguren »rhythmische Erlebnisse zwar nur zum fiktiven Vollzuge, aber eben doch zum Vollzuge« kommen zu lassen.107 Das in dieser Hinsicht effektivste und zugleich kunstvollste Mittel erkennt Panofsky – wie vor ihm schon Petersen – in der Darstellung von Wendepunkten rhythmischer Bewegungen, die in der Phantasie der Betrachterin, des Betrachters um vergangene und zukünftige Sequenzen erweitert werden. Diese Augenblicke müssten allerdings mit Bedacht gewählt werden, denn es gelte, die Leblosigkeit jener Einzelbilder zu vermeiden, welche die »Momentphotographie« etwa eines Marey gegenwärtig hervorbringe.108 Lebendig wirken auf Panofsky per se unbewegte Bildfiguren nur dann, wenn sie das Potential von Bewegung in sich tragen. Eine rhythmische Aktion durch die Konstellation einer Figurengruppe ins Bild zu setzen sei hingegen nicht möglich, zumindest nicht so, wie Kauffmann es sich vorgestellt hatte, denn »wo etwa ein Trupp angreifender Lanzknechte in der Weise dargestellt ist, daß ein erster die Lanze noch halbschräg nach oben hält, ein zweiter sie zum Angriff einlegt, ein Dritter zustößt usw., da haben wir an und für sich gar keinen Grund, die gleichzeitigen Hand-

106 | Alle Panofsky 1926, S. 136 f. 107 | Alle Panofsky 1926, S. 139 f., Hervorhebungen im Original. 108 | Panofsky 1926, S. 142.

VII.  Mythos Rhythmos lungen dieser ikonographisch verschiedenen Menschen als sukzessive Phasen eines und desselben Vorganges aufzufassen.«109

Um diese Illusion wirkungsvoll zu erzeugen, bedürfe es also einiger Kunstgriffe: Zum einen müssten die Zeitabstände zwischen den einzelnen Handlungssequenzen sehr kurz sein, so dass der Betrachterin, dem Betrachter nahegelegt wird, sie zusammenhängend aufzufassen, und zum anderen sollten die ikonographisch verschiedenen Figuren der Gruppe dynamisch miteinander verbunden sein, d. h., sie müssten sowohl als Leiter einer Gesamtbewegung fungieren wie auch, »jeweils für sich betrachtet, als Träger einer ihnen selber innewohnenden Eigen-Bewegtheit« – ein Phänomen, das Panofsky in Anlehnung an eine Wortschöpfung Franz Wickhoffs aus der Wiener Genesis (1895) als »kontinuierende[n] Stil mit verteilten Rollen« beschreibt und dessen Hauptphase er nicht in der Frühen Neuzeit, sondern im Mittelalter erkennt.110 Die Beiträge Petersens, Kauffmanns und Panofskys stehen exemplarisch für eine bedeutsame Wandlung des Rhythmusbegriffs in der Kunstgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts: Konnten für die Zeit um 1900 noch zahlreiche Beispiele für die enge Verflechtung des neuen, dynamisierenden Sehens mit der (grund-)formalistischen Wahrnehmungskonvention des 19. Jahrhunderts angeführt werden, so setzte sich in den kommenden Jahrzehnten vor dem Hintergrund aktueller psychologischer Thesen zur grenzenlosen Applizierbarkeit des Konzepts ein deutlich liberalerer Umgang durch.111 Der psychologische Blick distanzierte sich währenddessen von der etablierten, jedoch zu dieser Zeit bereits im Schwinden begriffenen formanalytischen Sehweise. Die entscheidende Matrix des Rhythmussehens in der Kunstgeschichte um 1900 ging damit verloren, was schon aus dem Umstand hervorgeht, dass im Zuge der Scheidung der beiden Wahrnehmungskonventionen auch die Rhythmuskonjunktur in der Kunstgeschichte schnell und nachhaltig verflachte.112 Hier und da bot 109 | Panofsky 1926, S. 145. 110 | Alle Panofsky 1926, S. 145 f. 111 | Das bezeugen nicht zuletzt diverse Ansätze der Universalgeschichtsschreibung aus den 1920er Jahren, vgl. etwa Krauß 1929; Wieszner 1929; Cornelius 1925. All diese Autoren versuchen, über die shape of time eines wellenförmigen Rhythmus allgemeine Gesetzmäßigkeiten des historischen Verlaufs herauszustellen, vgl. dazu Teutenberg 2013b; zu diesem Trend in der Geschichtsschreibung des frühen 20.  Jahrhundert ferner Osterhammel 2011, S. 116 ff. 112 | Zusätzlich negativ auf die Möglichkeit einer Rhythmusrenaissance in der Kunstgeschichte wirkte sich auch die ideologische Vereinnahmung des Konzepts zu Zeiten der Weltkriege aus. Einen nationalistisch gefärbten Rhythmusbegriff hatte bereits Wölfflins Assistent Kurt Gerstenberg in seiner Dissertation über die Deutsche Sondergotik (1913)

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der Begriff zwar noch Gelegenheit für allgemeine medientheoretische und rezeptionsästhetische Erörterungen. Die Zeit der großen Spezialstudien zu optischen Rhythmen in der bildenden Kunst und Architektur lief jedoch bereits Ende der 1920er Jahre ab. Panofsky im Übrigen hatte durchaus Anteil an dieser Entwicklung. Denn schon er distanzierte sich in seiner Rezension letztlich von der Anwendung des Prinzips auf die Werke Dürers und konzentrierte sich stattdessen auf ikonographische Fragestellungen. In eben jenen – das hatte Panofsky richtig erkannt – lag die Zukunft der Kunstgeschichte. Und so lässt sich die Rhythmusbegeisterung des Fachs um 1900 durchaus als letzte visuelle Kapriole einer Disziplin wertschätzen, die im 19. Jahrhundert die Erkenntniskraft der eigenen Augen rauschhaft absolut gesetzt hatte und ihre Energie nun in die Erschließung der Sinnebene investierte. Verglichen mit dem langen 19. Jahrhundert wurde von da an im Fach ganz sicher mehr gelesen – aber auch weniger gesehen.

eingeführt: Denn die Eigenwertigkeit spätgotischer Hallenkirchen in Deutschland gegenüber der Kathedralgotik in Frankreich stellt Gerstenberg in dieser Schrift heraus, indem er beiden Bauformen eine unterschiedliche Raumrhythmik attestiert: »Wenn es der Charakter des gotischen Bewegungszuges war, daß er im festen Rhythmus der Schmaljoche vordrang bis in den Chor, so wird durch die gelöstere Haltung der erweiterten Traveen in der Sondergotik der Eindruck einer ohne bestimmtes Ziel arhythmisch fortschreitenden Bewegung bedingt« (Gerstenberg 1913, S. 26). »Eine schwer faßbare Polyrhythmik« (Gerstenberg 1913, S. 105), die Gerstenberg auch in den Knitterfalten der Plastik, den verästelten Ornamenten der Malerei und im trochäischen Takt der deutschen Phonetik wiederfindet und die er daher als typisch für das germanische Kunstwollen des 15.  Jahrhunderts erachtet. Ausgangspunkt dafür dürfte im Übrigen das Dürer-Buch des Doktorvaters Wölfflin gewesen sein: »›Spätgotisch‹ ist ein ungeschickter Name, als ob es sich um einen Stil in seiner Entartung oder Erschlaffung bei diesem Geschmack handelte. Es sind uralte Eigentümlichkeiten des germanischen Formgefühls, die hier genannt wurden. In gewissem Sinn ist dieser spätgotische Stil der deutsche Stil überhaupt« (Wölfflin 1919, S. 237). Nationalsozialisten wie der Erlanger Ordinarius Alfred Stange sollten Gerstenbergs Vorlage später dankbar aufnehmen: In seinem Aufsatz über Arteigene und artfremde Züge im deutschen Kirchengrundriss (1935) erkennt der Autor als Kennzeichen der deutschen Architektur »stets eine rhythmische, spannungserfüllte Bewegung, und diese ist, weil im Blute bedingt, das Bleibende« (Stange 1935, S. 234). Vgl. zum Thema Rhythmus und Rasse um 1900 Golston 2008.

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Die Unter weisung des Blicks

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A bkürzungen der A ufbe wahrungsorte der im B uch zitierten A bbildungen BBF / DIPF BSB UBH ZI

Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung, Berlin Bayerische Staatsbibliothek München Universitätsbibliothek Heidelberg Zentralinstitut für Kunstgeschichte München

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P ersonenregister A Albers, Josef  232 Albiker, Karl  256 Allesch, Christian G.  214 Alpers, Svetlana  25-26, 29, 42, 46 Alsted, Johann H.  41 Ambrozić, Katarina  234 Anker, Albert  83 Appia, Adolphe  261-264 Arhardt, Johann J.  145 Ariès, Phillippe  54 Aristoteles  41, 245 Arndt, Ernst M.  93 Asendorf, Christoph  30 Audran, Gérard  201 Augustinus 248 Ažbe, Anton  232-236

B Bacon, Francis  28-29, 41, 47 Balus, Wojciech  182 Bartolommeo, Fra  15-16 Basedow, Emilie  57 Basedow, Johann B.  55-64, 78 Baudrillard, Jean  75 Bauer, Robert  111 Baxandall, Michael  23-26, 31 Behr, Georg H.  145-146 Behrens, Peter  256 Belting, Hans  229 Beneke, Friedrich E.  70, 94 Benjamin, Walter  22, 29 Benner, Dietrich  58, 109 Benveniste, Émile  271 Bergmann, Leo  112-113 Bernard, Émile  229 Bernini, Gian L.  156-157, 186 Berthold, Gertrude  222 Beyer, Andreas  142

Bezold, Gustav F. T. von  253-254 Bilderbeecq, Margarete van  225-226 Birken, Siegmund von  39 Bismarck, Otto von  86, 115 Blom, Jan  165 Bode, Wilhelm von  210, 225-226 Boehm, Gottfried  31 Bollnow, Otto F.  58 Borromini, Francesco  186-187, 241 Botticelli, Sandro  232 Bötticher, Karl  158, 176, 183 Bourdieu, Pierre  18, 25 Braune, Christian W.  248-249 Breitinger, Johann J.  71 Brinckmann, Albert E.  258-260, 264 Brinckmann, Justus  177 Brosterman, Norman  83-84, 229 Brüggemann, Heinz  30 Brunelleschi, Filippo  257-258 Brunn, Heinrich  13-14 Bryson, Norman  26-27 Bücher, Karl  252-253 Buci-Glucksmann, Christine  29 Burckhardt, Jacob  12, 22, 24, 207, 210 Burke, Edmund  66, 140 Busch, Bernd  30 Buss, Johann C.  139

C Campe, Johann H.  48, 61 Carus, Carl G.  199 Cassirer, Ernst  256 Cézanne, Paul  31, 229 Chardin, Jean S.  31 Chodowiecki, Daniel  56, 59-61 Čižek, Franz  134 Cicognara, Leopoldo  162

Personenregister

E

Clark, Timothy J.  25 Cochin, Charles-Nicolas  49-50 Cohn, Hermann  123-124 Comenius, Johann A.  39-47, 52-53, 58-59, 62, 73, 93-94 Compayré, Jules-Gabriel  125 Condillac, Étienne B. de  48 Cornelius, Hans  128, 130, 269 Cornelius, Peter von  210-211 Correggio, Antonio da  12 Crary, Jonathan  32-33 Cuvier, Georges L. C. F. D.  173

Eberhard, Johann A.  71 Eck, Caroline van  156, 158 Ehrenfels, Christian von  269 Eitelberger, Rudolf von  177 Elias, Norbert  139 Elkins, James  17 Endter, Michael  45 Euklid 197 Evenius, Sigismund  41, 43 Everth, Erich  14 Exner, Franz S.  203

D

F

D’Este, Alfonso  223 Da Vinci, Leonardo  12, 211 Dannegger, A[.] D.  145 Danto, Arthur  24 Darwin, Charles  125, 173, 267 Daston, Lorraine  33 Davis, Whitney  17-18 Dehio, Georg  191, 220, 253-254 Deleuze, Gilles  32 DeMause, Loyd  54 Desault, Yvette  25 Descartes, René  47 Diderot, Denis  148, 196 Didi-Huberman, George  31 Dilherr, Johann M.  39 Dilly, Heinrich  210 Dittes, Friedrich  120 Dohrn, Wolf  261-262 Dreßler, Johann G.  70 Dreßler, W[.] Ch.  46 Drost, Willy  255 DuBois-Reymond, Emil  125 Dupuis, Ferdinand / A lexandre 108 Dürer, Albrecht  95, 194, 212, 220221, 273-275, 278

Falk, Adalbert  113 Falkenhausen, Susanne von  23, 25 Fau, Julien  199 Fèa, Carlo  141-142 Fechner, Eduard  213 Fechner, Gustav T.  194, 213-217, 219 Ferguson, Eugene S.  31 Fibonacci, Leonardo  197 Fichte, Johann G.  85, 93 Fineberg, Jonathan D.  234 Fiore, Quentin  31 Fiorillo, Johann D.  149-150, 153, 194 Fischer von Erlach, Johann B.  141 Fischer, Otto  248-249 Flinzer, Fedor A.  119-123 Forster, Georg  148, 165 Foucault, Michel  32-34, 54, 78, 114, 134, 165 Fraas, Oscar  132 Fraisse, Paul  249, 270 Francke, August H.  46 Frankl, Paul  164 Fredel, Jürgen  197 Freiherr von Stein  85 Friedländer, Max J.  220 Friedrich Wilhelm I.  54 Friedrich, Caspar D.  230 Fritzsch, Theodor  46, 56

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Fröbel, Friedrich  34, 78, 93-98, 100, 102-103, 111, 116, 230

G Galen 245 Galison, Peter  33 Gazzola, Felice  141 Geertz, Cliffort  25 Geier, Franz X.  165 Gerstenberg, Kurt  277-278 Geßner, Heinrich  77 Giotto  222, 273 Gnehm, Michael  176 Goeringer, Adalbert  209 Goethe, Johann W. von  46, 61-62, 64-65, 91, 99, 142-146, 148, 150, 170, 222, 255-256 Göller, Adolf  182-186, 190-191, 243 Gombrich, Ernst  22-23, 25-27, 229 Goodman, Nelson  24 Görres, Joseph von  182 Götze, Karl  131, 133 Goya, Francisco J. de  222 Grabar, Igor E.  236 Gräber, Hermann  123-124 Graf, Hermann  206-207 Gropius, Walter  256 Grosse, Ernst  266-269 Gruner, Gottlieb A.  86 Günther, Karl-Heinz  47 Gurlitt, Cornelius  157, 186-187

H Hager, Fritz-Peter  80 Hecht, Konrad  177 Hegel, Georg W. F.  163, 197 Heidegger, Martin  28-29 Heidelberger, Michael  213 Heideloff, Carl A. von  180 Heiland, Helmut  93 Heim, Albert  131-133 Heimerdinger, Friedrich  117-118

Heinse, Wilhelm  146-148 Helmholtz, Hermann von  22, 125, 217, 242-243 Henry, Charles  32 Henszlmann, Emeric  162 Hentig, Hartmut von  51 Herbart, Johann F.  34, 78, 87-92, 94, 96, 100-102, 120, 183, 203-204 Herder, Johann G.  21, 69-70, 159-161 Herdtle, Eduard  118-119, 130 Hetzer, Theodor  221-225, 227-228 Hildebrand, Adolf von  128, 217 Hillardt, Franz K.  111-112 Hindenburg, Carl F.  91 Hirt, Aloys L.  161-162 Hoffstadt, Friedrich  180-182 Hofstede de Groot, Cornelia  225-226 Hölzel, Adolf  230-232 Homer 104 Hönigswald, Richard  270 Hotho, Gustav  163 Humboldt, Wilhelm von  85, 109

I Imdahl, Max  241 Immermann, Karl  162 Ith, Johann S.  84-85 Itten, Johannes  231-232

J Jahn, Johannes  246 Jaques-Dalcroze, Émile  261-264 Jawlensky, Alexej  232 Jay, Martin  26, 28-29 Jessen, Otto  118 Justi, Ludwig  220-221, 273

K Kämmerer, Ernst L.  194-196 Kandinsky, Wassily  194, 230, 232238

Personenregister

Kant, Immanuel  63-67, 78, 80, 87, 91, 155-156, 167, 206 Karge, Henrik  162-165 Kase, Oliver  194, 196 Kauffmann, Hans  225-228, 243, 273-277 Kemp, Wolfgang  21, 81, 102-103, 108, 229 Kepler, Johannes  25, 197 Kerkovius, Ida  231 Kern, Stephen  30 Kerschensteiner, Georg  128-131 Klee, Paul  229, 232, 265 Klenze, Leo von  182 Koering, Jérémie  34 Koff ka, Kurt  269-270 Kreutzberger, Paul  39 Krüsi, Hermann  80 Kugler, Franz  194, 210, 243 Kuhlmann, Fritz  133-134

L Lairesse, Gerard de  104-105 Lange, Konrad von  133 Lange, Wichard  93 Langlès, Louis M.  161 Laugier, Marc-Antoine  140, 159 Launay, Robert de  49 Lautensack, Heinrich  123 Lauters, Paul  166 Lavater, Johann C.  88 Legler, Wolfgang  103, 229 Leibnitz, Gottfried W.  47 Leopold III.  55 Lessing, Gotthold E.  88 Lichtwark, Alfred  131, 133 Lieberkühn, Philipp J.  70-77 Lipps, Theodor  194, 217-219 Locher, Hubert  148, 164, 220, 241 Locke, John  31, 47-48, 57 Londe, Albert  272 Lorrain, Claude  143, 208

Lotze, Hermann  125, 204 Lowe, Donald M.  31 Lübke, Wilhelm  162, 164 Lubkoll, Christine  243 Ludwig I.  201 Luitpold von Bayern  128 Luther, Martin  41

M Mach, Ernst  248-249, 269 Magnus, Albertus  180 Maldiney, Henri  270 Manghani, Sunil  18 Marey, Étienne-Jules  245-246, 272, 276 Marx, Karl  21 Mattenklott, Gert  19, 193 Matthias, J[.]  208-209 Maximilian I.  275 McLuhan, Marshall  31 Mechel, Christian von  149 Meister ES  220 Meister Franke  231 Memling, Hans  231 Mendelssohn, Moses  66 Mengs, Anton R.  150 Merleau-Ponty, Maurice  22 Metz, Christian  28 Metzger, Johann C.  177-181 Meumann, Ernst  249, 269 Meyer, Johann H.  150 Michel, Gerhard  46 Michelangelo 217 Miller, Norbert  142 Minor, Jakob  158 Mitchell, William J. T.  24, 32 Moilliet, Siegfried  236 Monet, Claude  233 Montesquieu, Charles de Secondat 163 Mössel, Ernst  220-221 Müller-Tamm, Jutta  32

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Die Unter weisung des Blicks

Müller(-Wulckow), Walter L.  220 Myron 271-272

N Nachtsheim, Stefan  205 Napoleon Bonaparte  76, 85, 109 Neudörfer, Johann  41 Neufchâtel, Nicolaus  41-42 Neumann, Gerhard  32 Neumann, Matthäus  46 Nicolovius, Georg H. L.  85 Niehr, Klaus  145 Noeldechen, Daniel H.  70 Novalis 93

Piranesi, Giovanni B,  147-148 Plamann, Johann E.  85-86 Poussin, Nicolas  143 Prandtl, Antonin Jun.  11-16 Prandtl, Antonin Sen.  11 Prandtl, Hans  11 Prandtl, Wilhelm  11 Preißler, Johann D.  92, 196, 199 Preyer, William T.  125 Pseudo-Aristoteles 245 Purkinje, Jan E.  99-100

Q Quast, Ferdinand von  189-190 Quincy, Antoine C. Q. de  159

O Oesterle, Günter  32 Ohm, Martin  198 Oldenburg, Alexander von  107 Oldenburg, Peter von  107 Ostenwalder, Fritz  77 Osterkamp, Ernst  144 Otto, Friedrich  110-112

P Pacioli, Luca  198 Panofsky, Erwin  21, 24-25, 28, 207, 228, 275-278 Passavant, Johann D.  153-154, 194 Perez, Bernard  125 Perrault, Claude  140, 157 Perugino, Pietro  212 Pestalozzi, Johann H.  34, 76-88, 91-93, 95-96, 99-107, 109-110, 117, 120, 139, 177, 229 Petersen, Eugen  271-272, 276-277 Pfeifer, Hermann  209 Pfisterer, Ulrich  34 Piloty, Carl T. von  208 Pilz, Kurt  45 Pinder, Wilhelm  219, 249, 251-255, 264

R Raffael  12-14, 153-154, 201-202, 208, 212-214 Raimondi, Marcantonio  201 Ramsauer, Johannes  106-110, 229 Ranke, Johannes  184 Réaumur, René A. F. de  74 Reichensperger, August  181-182 Rein, Wilhelm  110-111, 131 Rembrandt  225-227, 241, 273 Ricci, Corrado  125 Richter, Hans  265 Richter, Hans-Günther  102 Riegel, Hermann  210-213, 222 Riegl, Alois  21, 24, 26, 29, 177, 186191, 206, 243, 248, 251-252, 259, 267 Riemerschmidt, Richard  260 Rink, Friedrich T.  63 Rintelen, Friedrich  222, 273 Rodin, Auguste  242 Romanowa, Katharina P.  107 Roritzer, Matthäus  181 Rorty, Richard  29 Rosenberg, Raphael  196 Rosenkranz, Karl  197

Personenregister

Rossmäßler, Johann A.  72 Rousseau, Jean-Jacques  46, 48-52, 54-55, 57-59, 62, 66, 78, 91, 177 Rudolphi, Caroline  177 Russack, Hans  255 Ruysdael, Salomon van  150-151

S Salzmann, Alexander von  263 Salzmann, Christian G.  62-63, 86 Sarasin, Philipp  100 Savigny, Friedrich C. von  163 Schadow, Wilhelm von  164 Schelling, Friedrich W. J.  93, 103, 155 Schiller, Friedrich  65-67 Schinkel, Karl F.  158 Schivelbusch, Wolfgang  30 Schlegel, August W.  155-158, 166 Schlegel, Friedrich  148 Schlemmer, Oskar  232 Schmarsow, August  164, 177, 246251, 255, 258, 264 Schmid, Heinrich  12 Schmid, Johann J.  103-107, 109-110 Schmidt, Karl  260 Schmidt, Karl C.  199 Schnaase, Karl  162-169, 243 Schreber, Moritz  101-102 Schröder, Bruno  271-272 Schultz, Alwin  210 Schumacher, Fritz  255-256 Schumann, F[.]  269-270 Schürmann, Anja  150 Sedlmayr, Hans  186, 241 Seemann, Ernst  210 Semler, Johann S.  70 Semper, Gottfried  171-177, 182-184, 247 Senebier, Jean  73-74 Séroux d’Agincourt, Jean B. L. G.  162 Seurat, Georges  32

Simmel, Georg  30, 242 Sitte, Camillo  258 Sixtus II.  202 Skladny, Helene  91, 103 Smith, Marquard  18 Solger, Karl W. F.  165 Spencer, Herbert  267 Springer, Anton  273 Stahl, Konrad  91 Stange, Alfred  278 Stapfer, Philipp A.  77 Stein, Arthur  78 Steinbach, Erwin von  144, 180 Sternberger, Dolf  31 Stieglitz, Christian L.  158-163, 169 Stiehl, Ferdinand  110, 113 Stoy, Johann S.  62 Stromer, Wolf J.  181 Strzygowski, Josef  12 Stuck, Franz von  232-233 Stuhlmann, Adolf  114-119, 121-125 Stuve, Johan  62, 71 Suckale, Robert  251 Sully, Clifford  126 Sully, James  125-130 Sulzer, Johann G.  71, 252 Süvern, Johann W.  85, 109 Sylvius, Jan C.  226

T Tappe, Caspar H.  137-139 Tessenow, Heinrich  260 Thausing, Moritz  273 Thiersch, August  162, 191 Thode, Henry  273 Thomson, Joseph J.  233 Thürlemann, Felix  233, 236, 238 Tizian  26, 222-225, 228 Trapp, Ernst C.  56 Tröhler, Daniel  77 Turner, William  230

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Die Unter weisung des Blicks

U Überwasser, Walter  228 Ullmann, Ernst  246

V Valéry, Paul  29 van Eyck, Hubert / Johann  151-153 Vasari, Giorgio  153-154 Vasold, Georg  243 Viollet-le-Duc, Eugène E.  162 Virchow, Rudolf  124 Virilio, Paul  20 Vischer, Robert  177, 217, 244, 247 Vischer, Theodor  128 Vitruv 140 Vives, Juan L.  41 Vöge, Wilhelm  221 Volpato, Giovanni  201 Voltaire 163

W Waagen, Gustav F.  151-153, 194, 210 Wackenroder, Wilhelm H.  148 Wagner, Anselm  27 Wagner, Richard  233 Warnke, Martin  166 Wartofsky, Marx W.  24 Weber, Bärbel  80 Weinbrenner, Friedrich  169-171, 182 Weishaupt, Heinrich  118-119, 130 Weiss, Peg  234 Werefkin, Marianne von  232 Wickhoff, Franz  277 Wiesing, Lambert  206, 241 Winckelmann, Johann J.  140-142, 162, 174 Wittgenstein, Ludwig  23 Wittkower, Rudolf  228, 241 Wittmann, Barbara  102 Wittstein, Theodor  207-208 Wolf, Ernst  271 Wolff, Marianne  162

Wölfflin, Heinrich  12-13, 21-22, 26, 29, 34, 164, 185, 207, 222, 228, 244-246, 258, 277-278 Wolke, Christian H.  56, 59 Worringer, Wilhelm  188, 218 Wouwerman, Philips  195-196 Wulff, Oskar  246 Wundt, Wilhelm  216-217, 244, 249, 269

Z Zeising, Adolf  197-203, 205-207, 209-210, 214, 216, 225 Zestermann, August  250 Ziegler, Leopold  256-258 Zimmermann, Johann A.  203 Zimmermann, Micheal F.  32 Zimmermann, Robert von  203-206 Zschorn, Johann W.  149

D ank Mein größter Dank gilt meinen beiden Lehrern Ulrich Pfisterer und Michael F. Zimmermann, von denen ich Sehen gelernt habe – wie auch, über das Sehen nachzudenken. Richard Woodfield, Matthew Rampley, Dominik Brabant und Jutta Teutenberg haben das Manuskript der Dissertation kritisch begutachtet. Auch dafür bin ich dankbar. Der Gerda Henkel Stiftung möchte ich zudem für die großzügige finanzielle Förderung dieser Publikation durch ein Promotions­ stipendium, die Übernahme der Kosten für das Lektorat sowie der Druck­kosten ebenfalls herzlich danken.

Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

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Chris Goldie, Darcy White (eds.)

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