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German Pages 220 [221] Year 2013
Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute
Beiträge zur rationalen Theologie Begründet von Falk Wagner † Fortgeführt von Ulrich Barth und Jörg Dierken
Band 21
Andreas Kubik / Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.)
Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute Eine Debatte im Horizont von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 0723-3191 ISBN 978-3-631-64790-5 (Print) E-ISBN 978-3-653-03605-3 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-03605-3 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2013 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Dieses Buch erscheint in der Peter Lang Edition und wurde vor Erscheinen peer reviewed. www.peterlang.com
Vorwort der Herausgeber Der vorliegende Band ist aus zwei Wurzeln entstanden. Er enthält zum einen Beiträge, welche in einer ersten Fassung beim Symposium der SchleiermacherGesellschaft im Oktober 2008 in Wittenberg, das der „Kurzen Darstellung“ gewidmet war, vorgetragen wurden. Er geht zum anderen auf ein Blockseminar zurück, das die Herausgeber in der Pfingstwoche 2010 an der Universität Rostock unter dem Titel: „Die Einheitlichkeit des theologischen Wissens (Theologische Enzyklopädie)“ abhielten. Während die Blockveranstaltungen in der Pfingstwoche häufig mit geringen Teilnehmerzahlen zu kämpfen haben, war dieses Seminar vergleichsweise sehr gut besucht. Dieser Umstand, aber mehr noch die Reaktionen der Teilnehmenden, die durch die Bank die Unübersichtlichkeit des Studiums und die Frage nach der Einheit theologischen Wissens formulierten, boten den eigentlichen Anlass für dieses Buch, mit dem die Studierenden des damaligen Seminars zugleich herzlich gegrüßt sein sollen. Zwei der hier versammelten Beiträge sind bereits an anderem Ort erschienen; wir danken den Autoren sowie dem Verlag Mohr Siebeck und dem Verlag des Martin-Luther-Bundes für die Erlaubnis des Wiederabdrucks. Wir danken Herrn Professor Dr. Ulrich Barth und Herrn Professor Dr. Jörg Dierken für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Buchreihe „Beiträge zur rationalen Theologie“. Herrn Michael Rückert vom Verlag Peter Lang danken wir für die zuvorkommende und flexible verlegerische Betreuung, und Herrn stud. theol. Kristian Herrmann (Rostock) für die routinierte Erstellung der Druckvorlage. Die Schleiermacher-Gesellschaft e.V., die Evangelische Kirche in Deutschland, die Union Evangelischer Kirchen in der EKD, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern haben namhafte Beihilfen zu den Druckkosten geleistet und damit das Erscheinen des Bandes bedeutend erleichtert. Auch hierfür sagen wir unseren herzlichen Dank. Rostock/Neustadt an der Donau, im August 2013 Andreas Kubik Michael Murrmann-Kahl
Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber ................................................................................... 9 I. Historische Erkundungen Martin Laube Das Wesen des Christentums als Organisationsprinzip der Theologie. Überlegungen im Anschluss an die ‚Kurze Darstellung’ Friedrich Schleiermachers .................................................................................. 29 Folkart Wittekind Das Verhältnis von Theologie und Kirche nach Schleiermacher ............... 55 Constantin Plaul Theologie unter den Bedingungen der Moderne. Die Bedeutung von Schleiermachers ‚Kurze Darstellung’ für eine Theorie der Theologie mit Blick auf Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften....................................................................... 105 Andreas Kubik Wahrheitserkenntnis oder Zweckorientierung? Emanuel Hirschs Kritik an Schleiermachers Theologiebegriff und ihre mögliche Bedeutung für das Theologiestudium ............................................... 129 II. Gegenwärtige Perspektiven Walter Sparn Zwischen Reformstau und Desinteresse. Veränderungen im Theologiestudium und ihre Bedeutung für den kirchlichen Dienst in Deutschland ....................................................................... 151 Michael Murrmann-Kahl Zwischen Religionskritik und Fundamentalismus - Versuch einer Ortsbestimmung der Theologie........................................................ 163
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Inhaltsverzeichnis
Christian Senkel Zwischen Schleiermacher und Bologna.................................................... 187 Dietrich Korsch Zweihundert Jahre nach Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums“: Wie unterscheidet sich die Theologie von anderen wissenschaftlichen Disziplinen? .................................. 203 Autorenverzeichnis ................................................................................... 217
Einleitung: Viele Fächer – keine Einheit? Andreas Kubik / Michael Murrmann–Kahl I.
Theologische Studienreform ohne Theologie
Enzyklopädie ist in gewisser Hinsicht immer ein Krisenphänomen.1 Ob die Menge des materialen Wissens unüberschaubar wird und deshalb in einer Real– Enzyklopädie gebändigt werden soll, ob der Umriss oder der innere Zusammenhang eines einzelnen Fachs undeutlich geworden sind und daher eine knappe, möglichst konzise Formal–Enzyklopädie neue Klarheit geben soll, oder ob schließlich der strukturelle Aufbau der geistigen Tätigkeit überhaupt undeutlich wird und deshalb eine neue Universal–Enzyklopädie provoziert wird – stets machen sich Bedürfnisse nach Überblick, nach Schau des Zusammenhangs oder nach der Mitte eines geistigen Gebietes geltend, welche durch enzyklopädische Bemühungen verschiedenster Art befriedigt werden sollen. Nun befindet sich die abendländische Theologie seit dem Durchgang durch Aufklärung und klassische Moderne im Grunde in einer Art Dauerkrise.2 Es kann von daher nicht verwundern, dass die enzyklopädische Frage „Was ist Theologie?“ immer wieder aufs Neue gestellt wird.3 Den bislang letzten wirkmächtigen Versuch, hier eine einheitliche Antwort zu finden, stellt die Bewegung der sogenannten ‚Dialektischen Theologie‘ um Karl Barth und Rudolf Bultmann dar, die die Leitformeln des Neuprotestantismus: „Religion“ und „Geschichte“ auf „Offenbarung“ und „Kirche“ umzustellen trachteten. Dieser Versuch bestimmte die Studien– und Ausbildungspraxis über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Heute muss nüchtern – und unabhängig von allen positionellen Einstellungen – konstatiert werden, dass er sich als Episode erwiesen hat. Seither gibt es zumindest in der deutschsprachigen evangelischen Theologie über ihren Gegenstand und ihre Methode keine einheitliche Auffassung und Auskunft mehr. Zwar mag man sich im Bedarfsfall auf die historische Methode zurück1
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Für die Begriffsgeschichte von „Enzyklopädie“ ist nach wie vor unersetzlich Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn 1977. Erst kürzlich hat sich Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 3, den von Ernst Troeltsch und Emanuel Hirsch geprägten Begriff der „Umformungskrise“ zur Kennzeichnung der Lage des westlichen Christentums erneut zu eigen gemacht. Vgl. etwa Falk Wagner, Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989.
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ziehen, wenn nach dem wissenschaftlichen Charakter von Theologie gefragt wird. Aber dies bedeutet noch lange nicht, dass man sich damit schon zufrieden gibt oder dass die systematische und praktische Theologie damit auskommen könnten. Denn diese Disziplinen haben es mit den Gegenwartsfragen und Geltungsproblemen der Theologie zu tun, die sich nicht allein historisch behandeln lassen. Wie aber dann? Ersichtlich fällt unter die Enzyklopädiethematik sowohl die Suche nach der Einheit der (evangelischen) Theologie wie auch nach der konkreten Ausgestaltung der Einzeldisziplinen und nach ihrem Verhältnis zueinander. Weitgehend verfährt man angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit darüber, was denn nun das Wesen der evangelischen Theologie in der postbarthianischen Ära ausmache,4 so, dass man diese Schwierigkeiten an die einzelnen, Studierende oder Lehrende, adressiert: Er oder sie müsse sich eben selbst einen Reim auf das machen, was ihm oder ihr an Widersprüchlichem und Konträrem an den theologischen Fakultäten institutionalisiert begegnet. In gewisser Weise folgt evangelische Theologie damit dem gesellschaftlichen Trend: die (wissenschaftlichen) Erfolge werden als Karrierechancen personalisiert und die Verluste (an Einheit, Überblick und Orientierung) sozialisiert. Dass man mit einer solchen Strategie den ‚sicheren Gang einer Wissenschaft‘ schwerlich antreten kann, liegt auf der Hand. Aufmerksame Beobachter konnten kürzlich eine auffällige „Enzyklopädieabstinenz“5 der gegenwärtigen evangelisch–theologischen Landschaft feststellen. Auf den ersten Blick scheint gerade dieser Vorwurf unsinnig. Es dürfte kaum eine Periode der deutschsprachigen Theologiegeschichte gegeben haben, in der so viel zu Fragen des Status und der Rolle der Theologie als Wissenschaft publiziert wurde.6 Doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass es dabei über4
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Siehe nur die höchst unterschiedlichen Antworten der Theologen auf die Umfrage der „Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“, gesammelt in: Wolfgang Huber (Hg.), Was ist gute Theologie?, Stuttgart 2004. Dazu ist nur so viel zu sagen: Solange man keine Auskunft darüber erhält, was evangelische Theologie ist, wird es auch schwierig werden, über deren Güte zu debattieren. Georg Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923. In: Christian Danz et al. (Hg.), Tillich und Nietzsche (= IJTF, Bd. 3), Münster 2008, 141–173, hier: 141. Vgl. die immense Literatursammlung seit den frühen 1990er Jahren bei Georg Pfleiderer, „Theologie als Universitätswissenschaft“. Recent German Debates and What They (Could) Learn from Schleiermacher. In: Brent W. Sockness/ Wilhelm Gräb (Hg.), Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, Berlin/New York 2010, 81–96, hier: 81–83; dazu Stefan Alkier/ Hans–Günter Heimbrock (Hg.), Evangelische Theologie an Staatlichen Universitäten. Konzepte und
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wiegend lediglich um einen ganz bestimmten Ausschnitt des Sachproblems geht, nämlich um die Stellung, welche die Theologie im Konzert der Wissenschaften und als Teil der Universität innehat. An sich ist die Debatte schon alt; als einer der ersten hat sie der Philosoph und spätere erste Rektor der neu gegründeten Berliner Universität Johann Gottlieb Fichte angestoßen, welcher dafür plädierte, den praktischen Anteil der Theologie aus der Universität herauszuverlagern und den wissenschaftlichen Anteil unter Philologie, Philosophie und Geschichte aufzuteilen.7 Ihre erneute Dringlichkeit hat sie durch den ”serious political and economic pressure“8 unserer Tage gewonnen. An den Debattenbeiträgen fällt zunächst auf, dass es in der Regel Theologen selbst sind, die sich in ihr zu Wort melden9 und allerlei Argumente für die Wichtigkeit der Theologie, vor allem in der Organisationsform einer eigenen theologischen Fakultät, anführen: sei es die historische Verflochtenheit der Theologie mit dem Werden der modernen Universität überhaupt, die Abbildung der universitas litterarum an der theologischen Fakultät in nuce, der religionshermeneutischen Beitrag zur Gesellschaft, den eine Theologie als Kulturtheorie erbringe, den liberalisierenden, Fundamentalismus hemmenden Effekt, den eine universitär gebildete Funktionselite auf die religiöse Kommunikation hat oder sei es schließlich gar der Hinweis auf verborgene Absolutheitsprätentionen anderer Wissenschaften oder zumindest die Thematisierung einer ‚offenen Frage Gott‘ an der Universität – Gründe für die öffentliche Stellung der Theologie, die zumindest den Theologinnen und Theologen selbst einleuchten, finden sich genügend. Ohne Zweifel handelt es sich dabei um einen äußerst wichtigen Problemkreis; und es wäre schon um ihrer Selbstklärung willen nicht günstig, wollte sich die Theologie aus ihm zurückziehen. Dennoch hat seine Diskussion nach unserer Einschätzung inzwischen doch merklich an Schärfe verloren. Im Hintergrund standen zuletzt ohnehin eher ökonomische Überlegungen. Doch das Einsparpotential scheint inzwischen weitgehend erschöpft; die Barriere der Staats–
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Konstellationen Evangelischer Theologie und Religionsforschung, Göttingen 2011; Jens Schröter (Hg.), Die Rolle der Theologie in Universität, Gesellschaft und Kirche, Leipzig 2012. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt (1807), in: Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Bd. VIII, Berlin 1971, 94– 204; hier 136–140. Pfleiderer, Universitätswissenschaft, a.a.O., 84. Eine Ausnahme stellt etwa der Beitrag von Wolfgang Frühwald, Theologie als Wissenschaft. Zum Streit der Fakultäten in der modernen Wissenschaft. In: Reiner Kaczyinsky (Hg.), 55 Jahre herzogliches Georgianum. Jubiläumsfeier 10.–14. Dezember 1994, München 1995, 39–53, dar.
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Kirchen–Verträge ist für Wissenschaftspolitiker, sofern sie sich an kurzfristiger Haushaltsarithmetik orientieren, zu umständlich zu überspringen, als dass man sich tiefer in die Materie einarbeiten wollte. Selbst ausgemachte Kritiker scheinen die Existenz theologischer Fakultäten und Institute als historische, nicht weiter erhebliche Skurrilität hinzunehmen. Gütekriterien der Wissenschaft, auch wenn sich die Theologie im Ganzen nur grummelnd auf sie einlässt, sind derzeit die sogenannte ‚Drittmittelstärke‘ oder Einbindungen in interdisziplinäre Forschungsverbünde. Angesichts dieser Entwicklungen – zu denen Stellung zu nehmen einen eigenen Gesprächsgang erforderte10 – haben die extrem elaborierten wissenschaftstheoretischen Begründungen der Theologie der 1970er und 80er Jahre11 beinahe etwas Anrührendes. Dazu kommt aber ein anderer, gewichtigerer Punkt: Der gesellschaftlich inzwischen breit akzeptierte religionspolitische Wille, islamische und jüdische Theologie an den staatlichen Universitäten zu verankern,12 lässt das an den christlichen Theologien erprobte und bewährte Modell13 nunmehr als attraktiv und vorbildlich erscheinen: „Die Gesellschaft hat […] vitales Interesse daran, die Religionsgemeinschaften in den universitären Diskurs auch institutionell einzubinden.“14 Beide Umstände nehmen zumindest mittelfristig einigen Legitimationsdruck von der Theologie. 10 Vgl. einleitend Stefan Kühl, Entzauberung des Fetischs. In: Süddeutsche Zeitung vom 4.1.2013 [auch online unter www.sueddeutsche.de; Abruf am 6.7.2013, 16:30 MESZ], der völlig zu Recht darauf hinweist, dass eingeworbene Drittmittel für sich noch keine Forschungsleistung darstellen, sondern zunächst bestenfalls die Prämiierung einer Idee bedeuten. 11 Vgl. etwa Gerhard Sauter, Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie. In: Ders. et al (Hg.), Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion. Materialien – Analysen – Entwürfe, München 1973, 211–332; Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (1973), Frankfurt a. M. 1977; Gerhard Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1977; Helmut Peukert, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung (1976), Frankfurt a. M. 21988. 12 Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Berlin 2010. 13 „Die Situation von religiös–weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften erfordert nicht nur Personen, die über die Religionen aus der Beobachterperspektive Bescheid wissen, sondern auch solche, die die Prozesse religiöser Bildung in den Kirchen, Bildungsinstitutionen und religiösen Gemeinschaften aus der Partizipationsperspektive kritisch und konstruktiv begleiten können.“ (Christoph Schwöbel, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig 2013, 11–20, hier 17.) 14 Wissenschaftsrat, a.a.O., 62.
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Damit aber fällt auf, dass sich ein anderer, kaum weniger ehrwürdiger Fragekreis in letzter Zeit deutlich im Abseits der Debatte befunden hatte: die Frage nach der inneren Einheit des Theologiestudiums, seinem Aufbau und dem inneren wie äußeren Bezugspunkt der einzelnen Fächer. Noch in den 1970er Jahren wurden unter dem Stichwort „Studienreform“ zum Teil erbitterte Diskussionen geführt,15 an denen sich übrigens auch die Studierendenschaften intensiv beteiligten, die allerdings – man muss es wohl so deutlich sagen – weitgehend einfach verpufft sind. Während nun die damalige Debatte unter dem Eindruck der Kirchenaustrittswelle, der ’68–Bewegung, der sogenannten empirischen Wendung der praktischen Theologie und ähnlicher Strömungen durchaus inhaltlich motiviert war, erleben wir heute einen beinahe umgekehrten Vorgang: Eine schleichende Veränderung des Theologiestudiums findet faktisch und praktisch statt, aber sie ist beinahe gänzlich von staatlichen Vorgaben bestimmt, die in keiner Weise theologiespezifisch sind, sondern lediglich exekutieren, was allgemeiner wissenschaftspolitischer Trend ist. Dazu gehören unter anderem: x der so genannte „Bologna–Prozess“ und alles, was damit zusammenhängt, etwa die Modularisierung und Internationalisierung von Studiengängen sowie die angestrebte Verkürzung der Studiendauer bzw. die Unterteilung des Hochschulstudiums in zwei Phasen; x die Zunahme von religionspädagogischen Lehramtsstudiengängen und der enorme Zuwachs an Lehramtsstudierenden außerhalb theologischer Fakultäten; x die Einrichtung von Bachelor– und Masterstudiengängen ohne klares Berufsziel unter Mitwirkung von theologischem Personal und theologischem Inhalt. Hinzu kommen weitere drängende Gesichtspunkte: Die Situation des Christentums in der Moderne erfordert im Grunde eine permanente Ausweitung des Stoffs und der Methoden, mit denen sich die theologische Ausbildung zu befassen hat: Das außereuropäische Christentum tritt zunehmend in den Gesichtskreis, christlich–jüdische Dialoge fordern vertiefte Beschäftigung mit dem Judentum in Geschichte und Gegenwart. Grundkenntnisse in Islam und Buddhismus – nicht nur hinsichtlich der heiligen Texte, sondern auch hinsichtlich der in Deutschland und Europa gelebten Formen – werden heute eigentlich von jeder theologisch tätigen Person erwartet. Die zunehmende religiöse Pluralisierung zwingt zum Studium von Esoterik und neopaganen Bewegungen, neben die historische Methode sind längst semiotische, kulturhermeneutische, diskurskriti15 Vgl. etwa das Themenheft „Theologiestudium“: Evangelische Theologie Bd. 39, Heft 4 (1979). Der damalige geschäftsführende Herausgeber Manfred Josuttis schreibt im Editorial bereits resümierend, dass „so etwas wie Studienreform nicht mehr auf der Tagesordnung steht.“ (275)
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sche und andere mehr oder weniger valide Theoriedesigns getreten. Schließlich fordern Gesellschaft und zum Teil auch die Studierendenschaft immer wieder einen verstärkten Anwendungsbezug des Wissens. All dies ist für den inneren Aufbau des Theologiestudiums und für die Frage nach der Einheit oder zumindest dem Zusammenhang der Theologie hochgradig herausfordernd. Doch so beredt die Evangelische Theologie sich in der Frage ihrer universitären und gesellschaftlichen Selbstverortung gibt, so schweigsam ist sie hinsichtlich einer inhaltliche Begleitung und Reflexion dieser doch wahrlich nicht nebensächlichen Entwicklungen. Natürlich wird weiterhin Studieneingangsliteratur produziert, welche zumeist auf eine praktische Einführung in faktisch bestehende Studienlandschaften hin konzipiert ist.16 Dagegen ist auch nichts zu sagen. Doch kann solche Literatur ein theoretisch gesättigtes und auf praktische Veränderung abzielendes Nachdenken über eine inhaltlich begleitete und nicht lediglich institutionell erzwungene Studienreform nicht ersetzen. Die Theologie droht die theologische Begleitung und Ausmünzung eines derzeit ohnehin ablaufenden Prozesses zu verpassen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die These von der ‚Enzyklopädieabstinenz‘ dann doch als erstaunlich hellsichtig. Eine kurze historische Reminiszenz mag diesen Zusammenhang noch kräftiger ausleuchten. Im Zuge der intensiven Studienreformdebatte um 190017 beklagte Paul Drews im Jahre 1910 die widersprüchliche Doppeltendenz, die darin bestehe, dass zwar einerseits der Stoffumfang ungeregelt ausgeweitet werde: Es „wird eine immer größere Last auf der Jünger Hälse gewälzt und fast niemand rührt den Finger, sie ihnen tragen zu helfen.“18 Andererseits aber ergehe der Ruf nach stärkerer Praxisanwendung, die Drews mit der lakonischen Bemerkung kommentiert: „Nicht Wissenschaft, sondern Praxis, Technik, das ist die Losung unsrer Zeit. Wir werden amerikanisiert.“19 Er appelliert an die Kollegen, durch geschickte didaktische Reduktion des Stoffs und durch Konzentration des wissenschaftlichen Studiums auf die Belange des gegenwärtigen Christentums zumindest einige Abhilfe zu schaffen. Eine wirkliche inhaltliche Position ist damit noch nicht bezogen. Aber in seiner Diagnose und in seinem Insistieren darauf, dass die Probleme des theologischen Studiums sich nicht von allein lösen werden, erscheint er nachgerade schreiend aktuell.
16 Den Versuch, die Einführung unter konsequenter Berücksichtigung enzyklopädischer Aspekte zu konzipieren, unternehmen aber Eve–Marie Becker/ Doris Hiller (Hg.), Handbuch evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang, Tübingen 2006. 17 Vgl. Cornelia Queisser, Paul Drews’ Programm einer empirischen Theologie, Diss. Theol. Rostock 2013, 194–205. 18 Paul Drews, Das Problem der praktischen Theologie, Tübingen 1910, 4. 19 A.a.O., 5.
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Unter diesen Voraussetzungen mag es als gewagt erscheinen, sich gut zweihundert Jahre nach der – sich der neueröffneten Berliner Universität verdankenden – „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ (1811)20 von der Auseinandersetzung mit diesem Text entscheidenden Gewinn zu versprechen. Doch bleibt Schleiermachers Enzyklopädieentwurf nach wie vor ein zentraler Bezugspunkt für diese Fragestellungen. Seine Bedeutung besteht „in der klaren Erfassung der neuzeitlichen Konstitutionsbedingungen des Fachs Theologie“21 bis in die Gegenwart. Dabei wendet sich Schleiermacher, der selber schon auf ältere Lehrbücher zu diesem Thema22 aufbauen konnte, gegen die beiden möglichen Missverständnisse von Theologie, nämlich „gegen die Auflösung der Einzeldisziplinen in ein zusammenhangloses Fächeraggregat“ einerseits und gleichermaßen gegen eine solche Art von Verwissenschaftlichung andererseits, „welche der Theologie den Zusammenhang mit Glauben und Kirche raubte“.23 Seine „Kurze Darstellung“ kombiniert theologische Wissenschaftstheorie, Propädeutik und die Einführung in den inneren („organischen“) Zusammenhang der Theologie; das macht ihren besonderen Reiz aus. In dieser Zielsetzung bleibt seine Enzyklopädie wegweisend, und zwar unabhängig davon, ob man diese Ziele bei ihm selber als erreicht beurteilt oder nicht und ob man in der eigenen Gegenwart meint, von ihr mit guten Gründen abweichen zu müssen.24 20 Interessanterweise spielte die höchst aphoristische erste Auflage der „Kurzen Darstellung“ in der zeitgenössischen Rezeption und in Schleiermachers selbst gehaltenen Vorlesungen (als Vorlage) zum Thema eine weit größere Rolle als die heute bekanntere und eingängigere, aber weitgehend umgearbeitete zweite Auflage von 1830. Gleichwohl fanden beide Fassungen durch Schüler und Freunde Schleiermachers weite Verbreitung. Siehe dazu auch die informative historische Einleitung von Dirk Schmid in: Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg. v. Dirk Schmid, Berlin New York 2002, 2–50. (Der dort abgedruckte Text der beiden Auflagen von Schleiermachers „Kurzen Darstellung“ ist text– und seitengleich mit der Ausgabe der Kritischen Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 6, Berlin/New York 1998, 243–446.) Zu den Rezensionen der ersten Auflage siehe ausführlich D. Schmid, a.a.O., 16 ff; dagegen gab es kaum Besprechungen der zweiten Auflage; a.a.O., 41. 21 So Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 223–234, hier 225. 22 Gemeint sind Johann August Nösselt, Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Halle 21791, und Gottlieb Jakob Planck, Einleitung in die theologische Wissenschaften, Leipzig 1794f: siehe D. Schmid, a.a.O., 3. 23 Kurt Nowak, Schleiermacher, a.a.O., 234. 24 Kritisch zur zweiten Auflage äußerte sich 1832 David Friedrich Strauß, der an Schleiermacher durchaus in Hegelscher Manier bemängelte: „(…) allein da dieser Grundgedanke nicht der immanente Begriff der christlichen Religion und Theologie, sondern nur ein äußerer Zweck der letzteren, nämlich die Kirchenleitung, war, (…) : so konnte kein
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Diese Stärke kann man noch einmal vor dem gut hundert Jahre später entworfenen Wissenschaftssystem Paul Tillichs profilieren. Einerseits scheint Tillichs Zugriff angesichts des Aufstiegs der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert und der Debatten um „Historismus“ und „Geisteswissenschaften“ enzyklopädisch weiter gefasst zu sein als Schleiermachers theologische Enzyklopädie. Er konzipiert ein „System der Wissenschaften“25 von Denk–, Seins– und Geisteswissenschaften, innerhalb dessen die Theologie verortet werden soll, was allerdings in der Durchführung nicht ohne Spannungen und Gewalttätigkeiten abgeht.26 Demgegenüber wird aber andererseits die Theologie als „theonome Systematik“ normativ enggeführt27, welche Bestimmung ohnehin nur auf dem Hintergrund sehr spezifischer weitreichender Vorannahmen sinntheoretischer (unbedingter Gehalt in bedingten Formen) und religionsphilosophischer (schöpferischer Geist) Art einleuchten kann. Selbst wenn man Tillichs Prämisse einmal hypothetisch übernimmt, dass jede Einzelwissenschaft als ganze eine Sinngebung erforderlich mache, so folgen daraus jedoch noch lange nicht die Weiterungen, „dass (a) diese Leistung in Form einer Wissenschaft zusammengefasst werden kann, und dass (b) es eben eine (…) Theologie ist, die das leistet“!28 Vollends einen Rückschritt an Differenzierungsvermögen gegenüber Schleiermacher stellt die „Wort Gottes“–Theologie im enzyklopädischen Entwurf Rudolf Bultmanns dar. Indem alle Disziplinen der Theologie von vornherein auf das normative Konstrukt des „Kerygmas“ vereidigt werden sollen, wird die neutestamentliche Theologie de facto zur Leitwissenschaft erhoben, deren inhaltliche Führungsrolle von den anderen Subdisziplinen klaglos anzuerkennen ist: „Das Thema der neutestamentlichen und systematischen Theologie ist also im Grunde das gleiche: die begriffliche Explikation des christlichen Selbstverständnisses bzw. des eschatologischen Geschehens, wie es sich im Glauben für den Glauben bezeugt. Die neutestamentliche Theologie expliziert dieses Geschehen in der Interpretation des Neuen Testaments, und zwar so, daß die Aktu-
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wahrhafter Organismus, sondern nur ein, wenn auch äußerst klug eingerichtetes, Aggregat der theologischen Wissenschaften herauskommen.“ Zitiert bei D. Schmid, a.a.O., 44f. Paul Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923). In: Ders., Frühe Hauptwerke. GW I, Stuttgart 1959, 109–293. Zur Diskussion und Kritik: Gunther Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, 142–161; Paul Ziche, Orientierungssuche im logischen Raum der Wissenschaften. Paul Tillichs System der Wissenschaften und die Wissenschaftssystematik um 1900, in: Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, hg. v. Christian Danz,(= Tillich – Studien Bd. 9 ) Wien 2004, 49–68. Paul Tillich, GW I, a.a.O., 276. So ganz richtig Paul Ziche, Orientierungssuche, a.a O., 67.
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alität dieses Geschehens verständlich wird. Die systematische Theologie expliziert dieses Geschehen so, wie es sich in der Gegenwart bezeugt, und zwar so, daß sie dieses gegenwärtige Geschehen als das im Neuen Testament bezeugte verständlich macht.“29 Das ist ersichtlich tautologisch gedacht, sodass auch der praktischen Theologie wiederum aufgegeben wird, die „jeweils sachgemäße Form der Verkündigung auszuarbeiten“ und dies natürlich im Anschluss an die exegetische und systematische Theologie.30 Aus diesen Gründen erscheint auch im Vergleich mit konkurrierenden Entwürfen die Schleiermachersche Konzeption als die tragfähigere und der sinnvollere Bezugspunkt, wenn man nach konstruktiven Lösungen der oben angesprochenen, vielfältigen Probleme der evangelischen Theologie in der Gegenwart sucht.31
II.
Die Diskussionsbeiträge dieses Bandes
Die hier vereinigten Aufsätze sind in zwei thematische Gruppen untergliedert. Die erste Gruppe versammelt Studien, welche in historischer Perspektive nach dem sachlichen Gehalt von Schleiermachers Theologiebegriff fragen. Sie suchen diesen im Gespräch mit der bisherigen Forschung einerseits durch konzentrierte Textinterpretation, andererseits durch Kontrastierung mit wichtigen Stationen 29 Rudolf Bultmann, Theologie als Wissenschaft, in: ZThK 81, Tübingen 1984, 447–469, hier 464. Bultmanns Alpirsbacher Vortrag vom 5. Juni 1941 fasst Grundgedanken seiner seit 1926 in Marburg wiederholt vorgetragenen Enzyklopädievorlesung zusammen. Diese Vorlesung ist posthum ediert worden: Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. v. Eberhard Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984. Zum Hintergrund dieser Vorlesungen siehe Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 22009, 207–216. Zur theologischen Problematik und Kritik vergleiche Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, (= BHTh Bd. 92) Tübingen 1996, 113–202, hier besonders 137ff. 30 Bultmann, Theologie als Wissenschaft, a.a.O., 467. 31 Vgl. auch die wichtigen, allerdings eher am Wissenschaftsorganisator Schleiermacher orientierten Beiträge des Bandes von Wilhelm Gräb/ Notger Slenczka (Hg.), Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011; dazu Christian Albrecht, „Religiöses Interesse“ und „wissenschaftlicher Geist“. Zur Grundlage von Schleiermachers Theologiebegriff und ihren Implikationen. In: Schröter (Hg.), Rolle der Theologie, a.a.O., 121–134. – Veröffentlicht werden sollen auch die Beiträge der Arbeitstagung zur theologischen Enzyklopädie, die am 17./18.2.2012 unter dem Titel „Zusammen denken – Die theologischen Fächerkulturen und das Ganze der Theologie“ an Schleiermachers Entwurf entlang in Neuendettelsau stattfand.
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der Theoriegeschichte zu erheben und zu sichern. Die zweite Gruppe ist daran interessiert, mit Schleiermacher – und auch über ihn hinaus – zu bestimmten gegenwärtig drängenden Fragen von theologischer Ausbildung und Theologiestudium Stellung zu nehmen. Die erste Gruppe wird eröffnet durch den Beitrag von Martin Laube. Er zeigt zunächst auf, dass Schleiermachers berühmte Formel von der Theologie als ‚positiver Wissenschaft‘ falsch verstanden wäre, wenn man sie lediglich auf ihre Funktionalität für die ‚Kirchenleitung‘ bezöge. Durch diesen Bezug wird in der Tat die formale Einheit der Theologie hergestellt. Aber jene Formel bezieht sich zugleich auf die innere Einheit des materialen Gegenstandes der Theologie: das Christentum. Gerade in der Verschränkung dieser beiden Aspekte liegt nach Laube die besondere Leistungsfähigkeit von Schleiermachers Ansatz. Zur historisch–kritischen Konstruktion des Wesens des Christentums tragen philosophische, historische und praktische Theologie je auf ihre Weise bei. Allerdings gelinge es Schleiermacher noch nicht, die historische Standortbedingtheit seiner eigenen Wesenskonstruktion zu durchschauen. Hier hilft eine Besinnung auf den berühmten Wesensaufsatz von Ernst Troeltsch weiter. Wie jeder geistige Gegenstand erst durch die motivierte Beobachtung konstituiert wird, so auch das Christentum: Die Wesenskonstruktion ist durch das Interesse an der Wesensgestaltung bedingt. Dies führt aber wieder zu Schleiermacher zurück: ‚Wissenschaftlicher Geist‘ und kirchliches ‚Interesse‘ sind keine Gegensätze, sondern fordern sich nach Schleiermacher geradezu gegenseitig. Gerade das kirchliche Interesse an der Förderung des Christentums provoziert die Frage danach, wie dieses ‚Christentum‘ denn eigentlich wissenschaftlich zu beschreiben ist. Seine Erforschung wiederum führt gleichsam von selbst auf die Frage nach seinen auch heute noch förderungswürdigen Elementen. Folkart Wittekind erörtert in seinem umfangreichen Beitrag zunächst einmal ausführlich die Voraussetzungen von Schleiermachers theologischen Enzyklopädie, indem er an gewichtigen Autoren vorwiegend des 18. Jahrhunderts der Verbindung von Kirche und Theologie nachgeht und an Georg Calixt, Lorenz von Mosheim, Johann Salomo Semler, Lessing und Kant bestimmte Typenbildungen in diesem Verhältnis aufzeigt. Vor diesem Hintergrund kann er dann die Eingangsbestimmungen insbesondere der ersten fünf Paragraphen (nach der 2. Auflage 1830) von Schleiermachers „Kurzer Darstellung” profilieren. Ihm kommt es dabei darauf an, den umfassenden Bezug der Theologie nicht nur und allein auf die Kirche, sondern zugleich auch auf die jeweilige Gegenwartskultur deutlich zu machen. Gerade letzterer Aspekt findet sich in der Rezeptionsgeschichte Schleiermachers gerne unterschlagen. In dieser Perspektive plädiert Wittekind abschließend für die „Vielteiligkeit“ der Aufgaben und der binnenkirchlichen („Kirchentheologie“) wie allgemein gesellschaftlichen und kulturel-
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len Bezüge („Kulturtheologie“) heutiger Theologie, die sich gegenseitig ergänzen müssen.32 In seinem Aufsatz geht Constantin Plaul akribisch den möglichen Einflüssen Schleiermachers auf Wilhelm Dilthey nach, wobei er plausibel machen kann, dass die „Kurze Darstellung” in formaler Hinsicht als Blaupause für die Entwicklung einer geisteswissenschaftlichen Enzyklopädie überhaupt gedient hat. Freilich haben sich die universitären Bedingungen, unter denen Dilthey seine umfassend konzipierte Theorie der Geisteswissenschaften zu entwickeln versucht, darin geändert, dass sich inzwischen die eigenständige Fachwissenschaft der Geschichte institutionalisierte, die sich bereits in heftigen Methodendebatten um den „Historismus“ (Politik– versus Kulturgeschichte, sogenannter „Lamprecht–Streit“) befindet. Darüber hinaus unterscheidet sich Diltheys grundsätzlich metaphysikkritische Zugangsweise von Schleiermachers Bemühungen um die Einheit und Differenzierung der evangelischen Theologie. Gleichwohl zeigen sich erstaunliche Parallelen insbesondere in der von Schleiermacher vorbildlich angelegten Dreiheit von philosophischer, historischer und praktischer Theologie, die bei Dilthey als geisteswissenschaftliche Trias von theoretischem (Theoreme), historischem (Tatsachen) und praktischem Bestandteil (Regeln) der Erkenntnis wiederkehrt. Plaul spricht sich in dieser Perspektive für eine historisch– hermeneutische Grundausrichtung auch der gegenwärtigen Theologie aus. Andreas Kubik untersucht die bislang in der Forschung übersehene Kritik an Schleiermachers Theologiebegriff durch Emanuel Hirsch. Obwohl sich Hirsch lobend über die ‚Kurze Darstellung‘ äußert, bringt er dennoch eine Reihe scharfer Einwände gegen sie vor. Diese gewinnen ihr Gewicht erst durch die Rekonstruktion des Ansatzes von Hirschs eigener Enzyklopädie, welche im Begriff der Rechenschaft von der Erkenntnis der Gewissenswahrheit ihr Zentrum hat. Während für Schleiermacher Theologie ein zur Religion sekundär hinzutretendes Interesse ist, folgt sie für Hirsch bereits aus dem reflexiven Charakter des christlichen Glaubens selbst. Doch hat dieser an sich bedenkenswerte Einwand bei Hirsch die Folge, dass die realen Erscheinungsformen des christlichen Glaubens allesamt dem Kriterium ihrer ‚Umformungstauglichkeit‘ unterworfen werden, um einer gedanklichen Rechenschaft standhalten zu können. Dabei wird die faktische Pluralität des Christentums zugunsten der reinen Innerlichkeitsfrömmigkeit im Stile Kierkegaards zurückgeschnitten. Zur heute unabweisbaren Aufgabe der Theologie, zum sensiblen, gleichberechtigten und hermeneutisch versierten 32 Die Beiträge von Martin Laube und Folkart Wittekind werden in ihrer ursprünglichen Form als Referat auf dem Symposium der Schleiermacher–Gesellschaft 2008 bereits besprochen bei Pfleiderer, a.a.O. Beide Texte sind für die Veröffentlichung noch einmal durchgesehen und überarbeitet worden.
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Umgang mit christlicher Pluralität anzuleiten, scheint Schleiermachers Enzyklopädie ungleich mehr beitragen zu können. Walter Sparn beschreibt zu Beginn der zweiten Gruppe – in Ermangelung valider empirischer Daten zum Thema – anschaulich aus eigenem Erleben die Veränderungen, die sich hinsichtlich des Studiums und der Theologiestudierenden und schließlich angesichts der Bologna–Reform in den letzten fünfzig Jahren ergeben haben. Dabei fällt der dramatische Einbruch bei der Zahl der Interessierten fürs Pfarramt seit den späten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Die Modularisierung des Studiums scheint die Tendenz eher noch zu verstärken, einen Gesamtzusammenhang des theologischen Studiengangs aus den Augen zu verlieren. Die vermeintlichen Erfordernisse der Berufsausbildung (und des Arbeitgebers Kirche) dominieren den bislang kulturwissenschaftlichen Charakter des Studiums. Entsprechend scheint sich die ohnehin nur noch lockere Bindung der Einzeldisziplinen an ein enzyklopädisches Modell des Wissens vom bisherigen im weiten Sinne hermeneutischen Typus zu einem kombinatorischen Typ des Erwerbs von „Kompetenzen“ zu bewegen. Der Beitrag von Michael Murrmann–Kahl geht von der Beobachtung aus, dass sich die Religion unter modernen Bedingungen mit zwei spezifischen Reaktionsmustern konfrontiert sieht: Einmal bildet sich im Protestantismus angesichts der dauerhaften Verunsicherung durch die historische Kritik ein Biblizismus–Fundamentalismus heraus, der den Wortlaut der Bibel und bestimmte religiöse Inhalte sakrosankt stellen will. Allerdings wird der Fundamentalismusbegriff später soziologisch beerbt und erheblich ausgeweitet, so dass er auf alle Religionen und sogar nichtreligiöse Phänomene („Öko– Fundamentalismus“) angewendet werden kann, wobei dieser Begriff dann oft auf unklare Weise deskriptive und normative Elemente vermengt. Das andere Extrem bildet die aus der Aufklärung hervorgegangene „radikal–genetische” Religionskritik, die Religion überhaupt als Verirrung des menschlichen Geistes erweisen und als aus nichtreligiösen Faktoren erzeugtes „Epiphänomen” herleiten will. Es wird nun vorgeschlagen, diese beiden extremen Erscheinungsformen als innere Polarität des modernen religiösen Bewusstseins selbst zu begreifen, das zwischen Gewissheit und Absolutheitsansprüchen einerseits und radikalem (Selbst–) Zweifel andererseits hin und her schwankt. Entsprechend wird für ein solches Theologieverständnis plädiert, das diese internen Aporien des religiösen Bewusstseins bearbeitet, und infolgedessen sollte das Theologiestudium zu einem aufgeklärten und gebildeten Umgang mit Religion(en) anleiten. Praktischen Fragen des Studiums widmet sich Christian Senkel. Er weist zunächst darauf hin, dass die Bologna–Reform durchaus plausible Verbesserungen der Lehre intendierte; manche Passage auch des theologischen Curriculums erschien in ihrem grellen Licht überarbeitenswert. Insbesondere auf die Einfüh-
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rungsveranstaltungen in das theologische Studium entsteht ein äußerer Druck, der aber nach Senkel durchaus inhaltlich umgelenkt werden kann. Hierzu entwirft er – unter Zuhilfenahme Schleiermacherscher Maximen, aber ohne dessen inhaltliche Entscheidungen zu übernehmen – einen neuen Plan einer theologischen Propädeutik, die von vornherein nicht einfach positivistisch das Bestehende abbildet, sondern in enzyklopädischem Geist einen „Ort theoretischer Neugierde“ bilden soll – ohne freilich deshalb selbst enzyklopädische Debatten zu führen, wofür im Propädeutikum gar nicht der Ort ist. Ein solches Propädeutikum setzt freilich aufseiten der Lehrenden voraus, dass es in seinem Gewicht erkannt und in der Vorbereitung entsprechend gewürdigt wird. Denn enzyklopädische Belastbarkeit entsteht bei den Studierenden nur, wenn sie von Anfang an eingeübt wird. Dietrich Korsch schließlich wählt einen institutionsanalytischen Zugang zur Aufhellung der Enzyklopädieproblematik und stellt in seinem Beitrag zweierlei heraus: einmal dass Schleiermachers Entwurf der „Kurzen Darstellung“ nirgends realisiert wurde und zum anderen dass die Wissenschaftlichkeit der Theologie de facto ausschließlich an der historischen Methode festgemacht wird, wenn auch mit einem kulturpraktischen Anspruch und einer konfessionellen Prägung verbunden. Der schönen Baummetapher Schleiermachers zufolge wird hier die Theologie weitgehend auf den historischen „Körper“ reduziert, wogegen die philosophische „Wurzel” und die praktische „Krone“ ortlos bleiben. Indes kommt auch Korsch nicht ohne Reflexion auf ein wie immer bestimmtes „Wesen“ des evangelischen Christentums aus, wenn er die Binnen– (Institution Kirche) und externe Relevanz der wissenschaftlichen Theologie als Kommunikation des Evangeliums einerseits und Reflexion des gesellschaftlichen Interesses an Religion andererseits beschreibt, wobei er gegenwärtig eher mit dem zunehmenden Auseinandertreten dieser beiden Bereiche rechnet.
III. Impulse im Hinblick auf eine inhaltliche Studienreform Praktische Folgerungen aus den vorgestellten Beiträgen zu ziehen kann hier der Ort nicht sein. Der Überblick wäre jedoch unvollständig, wenn er nicht ebenso kurz einige Denkanstöße im Hinblick auf eine Studienreform enthielte, welche tatsächlich theologischen Sacherwägungen und nicht lediglich äußeren wissenschaftspolitischen Zwängen entspringen würde. Die Systemlogik des Prozesses der Modularisierung fordert erstens eine Aufwertung des so genannten Grundwissens. Dagegen scheint man erst einmal nichts haben zu können. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch die Frage, ob sich solches ‚Grund‘–Wissen überhaupt sinnvoller Weise verbindlich festlegen
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lässt. Was ist denn theologisches Grundwissen, und wer sagt, dass gerade dies das grundlegende Wissen sei? Jede solche Festlegung transportiert bereits Vorentscheidungen über das, was zum Wesentlichen des Christentums zu zählen ist und was im Hinblick auf das Studium, aber auch inhaltlich als kanonisch im Wortsinne (also als Richtschnur) zu gelten hat. Dieser Prozess ist studientechnisch möglicherweise nicht zu vermeiden, aber dann müsste auch gerade darüber diskutiert werden. Denn die Gefahr dürfte nicht auszuschließen sein, dass bestimmte Wissensbestände einfach mangels Konsens über eine Alternative zu ‚dem‘ Grundwissen werden (etwa die Bibelkunde oder bestimmte Begriffsschemata der altprotestantischen Lehrbildung). Der Durchgang durch die oben genannten Beiträge legt jedoch gerade keine Positivierung von vermeintlichen ‚Grundlagen‘ nahe, sondern im Gegenteil die Problematisierung dieses Vorgangs – auch im Theologiestudium selbst. Die Diskussion darüber, was zum Kern des Christentums gehört und wie man mit der faktischen Pluralität von Christentumsverständnissen umgeht, darf nicht bloß vor dem Hintergrund eines vermeintlichen Konsenses über Grundtexte entschieden werden wollen. Der Rückgriff auf vermeintlich der Diskussion entzogenes Grundwissen erweist sich selbst als eine undurchschaute Form von theologischer Positionalität, die gewissermaßen ‚amtlich‘ festgeschrieben ist. Ähnliches gilt, zweitens, auch für die Spannung von Stoffausweitung und Stoffreduktion. Bereits Paul Drews hatte in dem oben zitierten Text darauf aufmerksam gemacht, dass jede weitere Aufnahme eines Wissensgebiets – sei es in inhaltlicher, sei es in methodischer Hinsicht – im Grunde voraussetzt, dass anderes Wissen für weniger wichtig erklärt wird, wenn sie nicht einseitig zu Lasten der Studierenden gehen soll. Drews hatte hierbei für sein eigenes Fachgebiet (die Praktische Theologie) überaus aktuelle und bemerkenswerte Vorschläge gemacht.33 Auch dieser Prozess der Stoffgewichtung im Hinblick auf das Studium impliziert eine ganze Reihe von Annahmen über das gegenwärtige Christentum sowie über die Aufgaben des hauptamtlichen Personals. Über ihn gälte es genauso zu diskutieren wie über das ‚Grundwissen‘. Hierbei stellt sich dann die Frage, ob es nicht inzwischen eines ganz neuen Zuschnitts der theologischen Fächer überhaupt bedarf. Hat sich die aus dem 19. Jahrhundert stammende Einteilung in fünf ‚Kernfächer‘, die zumeist auch ausstattungstechnisch festgeschrieben sind, und eine Reihe scheinbar verzichtbarer ‚Nebenfächer‘ – darunter 33 Sein Plädoyer für die Aufnahme von Kirchenkunde, Religionssoziologie und –psychologie in das Gebiet der Praktischen Theologie – um 1900 revolutionär – wurde ergänzt durch die Option, den praktischen Teil der homiletischen und katechetischen Ausbildung ganz in die zweite Ausbildungsphase zu verlagern, also die entsprechenden Seminare aus dem Curriculum des Theologiestudiums zu streichen; vgl. Drews, Problem, a.a.O., 50–83.
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etwa Christliche Kunst und Kultur, Interkulturelle Theologie, Konfessionskunde, Religionswissenschaft oder andere34 – nicht grundsätzlich überlebt? Vertieft nachzudenken wäre, drittens, auch über die Rolle der Kirchlichkeit für die Theologie insgesamt. Schleiermacher hatte im Bezug auf die ‚Kirchenleitung‘ das einigende Band der Theologie – nicht aber den Grund ihrer Wissenschaftlichkeit – gesehen. Die (Landes–) Kirchen sind darüber hinaus auch diejenigen Größen, welche in Schule und Universität die positive Religionsfreiheit nach Art. 4.2 und Art. 7.3 GG wahrnehmen. Hier herrscht natürlich weiterhin Bildungs– und Aufklärungsbedarf, der an dem verärgerten Erstaunen vieler Lehramtsstudierende, wenn sie erfahren, dass sie Kirchenmitglieder sein müssen, um Religion unterrichten zu dürfen, nur seinen höchst sprechenden Ausdruck gefunden hat. Indes stellt sich die Frage, wie dieser Bezug auf die Kirche heute theologisch auszulegen ist. In den letzten Jahren wurde innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland von oben ein sogenannter ‚Reformprozess‘ unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ angestoßen.35 Dieser Reformprozess ist immer in der Gefahr, berechtigte Interessen der Kirche als äußerer Organisation (Mitgliederzahlen, Finanzaufkommen, betriebswirtschaftliche Managementstrukturen usw.) mit eigentlich religiösen Anliegen zu verwechseln. Dazu würde dann einen Tendenz passen, das Theologiestudium als höhere Berufsausbildung der kirchlichen Funktionselite anzusehen. Umso wichtiger wäre es demgegenüber, die von Schleiermacher betonte wechselseitige Verwiesenheit des Kirchenbezugs auf das Christentum als inhaltlichen Gegenstand des Studiums nachdrücklich herauszustellen. Denn die Kirche ist – nach Dietrich Rösslers eindrücklichen Analysen36 – heute eben nur noch eine Realisierungsform des Christentums, zugleich allerdings diejenige, an welcher die Aufrechterhaltung einer christlichen Deutungskultur auch im privaten und öffentlichen Christentum in gewisser Weise hängt, insofern sie die Kontinuität der religiösen Kommuni34 Diese – durch keine aktuelle christentumsthereotische Reflexion mehr begründete oder begründbare – Einteilung hat ja die ganz handfeste Konsequenz, dass die anderen Fächer bzw. die entsprechenden Lehrstühle bei den Sparrunden als erste dem Rotstift zum Opfer fallen – bzw. inzwischen über weite Strecken bereits gefallen sind. 35 Vgl. Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, hg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover 2006. 36 Vgl. Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin New York 1986, 78– 102, 267ff. Siehe dazu und dem korrespondierend die empirische Erschließung der an Kirche Teilnehmenden und deren Einstellungen durch Klaus–Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1997. Diese Untersuchungen haben ihre Brisanz nicht zuletzt darin, dass sie aufzeigen, wie der faktische religiöse Einstellungsreichtum sich so gar nicht mehr kirchlichen Vorgaben fügen will – und zwar auch unter den Getauften, ja bis weit in die Pfarrerschaft hinein.
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kation (nicht etwa des Glaubens selbst) garantiert. Anders gesagt: Der Kirchenbezug der Theologie wäre von Schleiermacher her zu eng ausgelegt, wenn er sich in einem Theologiestudium bloß für die Kirche niederschlagen würde. Schließlich, viertens, sind in den letzten Jahren zunehmend Studiengänge mit theologischem Inhalt entstanden, welche nicht das Pfarr– oder Lehramt zum Ziel haben. Sofern diese nicht auf einen ganz speziellen Fragekreis hin konzipiert wurden (z.B. Theologie der Diakonie), stellt sich die Frage, wie diese Studiengänge theologisch–enzyklopädisch eigentlich zu deuten sind. Die Theologie bietet ohne Zweifel immer wieder allgemein interessante Lehrveranstaltungen an. Aber hinsichtlich jener Studiengänge stellt sich noch einmal verschärft die Frage, wie deren innerer Zusammenhang eigentlich begründet ist. Im Grunde verantworten theologische Fakultäten und Fachbereiche hier Studiengänge, die wissenschaftssystematisch eher als ‚Religionskunde des Christentums‘ anzusehen sind. Das Erfreuliche daran ist, dass theologische Fakultäten offensichtlich zunehmend (wieder) als ‚religionsfähig‘37 eingeschätzt werden. Auch dass die Theologie inzwischen eine gern gesehene Teilnehmerin in interdisziplinären Forschungszusammenhängen ist, verdankt sie nicht der historischen Bedeutsamkeit theologischer Fakultäten oder ihrer Bekenntnistreue, sondern einzig und allein ihrer kulturellen religionshermeneutischen Kompetenz. Doch beide: die neuen Studiengänge und die interdisziplinären Verbünde verlangen im Grunde danach, die Aufgabe und den inneren Zusammenhang der Theologie neu zu bedenken, und zwar gerade im Hinblick auf die religionshermeneutische und kulturwissenschaftliche Kompetenz hin. Was dies freilich für den Kirchenbezug bedeutet, ist bislang alles andere als klar. Hält man sich nur diese vier Punkte vor Augen – weitere ließen sich unschwer anfügen –, so drängt es sich geradezu von selbst auf, an einen unseres Erachtens äußerst wichtigen, aber kaum diskutierten Reformvorschlag zu erinnern. Falk Wagner hatte schon in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Dominanz der sachorientierten, professionalisierten ‚Theologentheologien‘ in der evangelischen Theologie und im Studium eingehend kritisiert, da für die Ausbildung zur Pfarrerin oder zum Religionslehrer die sachlich–dogmatische und historische Ausrichtung gerade nicht zureiche.38 Die „Lehrer der Religion“ müssten gerade die Übersetzung des christlichen Traditionsbestands in die jeweilige Gegenwart und zeitgenössischen Problemlagen leisten. Dagegen ziehe 37 In Analogie zu dem berühmten Buchtitel von Volker Drehsen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994. 38 Falk Wagner, Christsein als Beruf. Lehrer der Religion in der Moderne?, in: Christsein als Beruf. Neue Perspektiven für theologische Karrieren, hg. v. Christian Friesl, Innsbrucks Wien 1996, 208–226, hier 209ff.
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die „an Texten orientierte Sachdominanz (…) ein dem neuhumanistischen, d. h. dem historisch–philologischen Bildungsideal verpflichtetes Verständnis des Theologiestudiums nach sich“.39 Darum plädierte Wagner für eine auf die Erfordernisse der alltagspraktischen Religiosität angelegte Ausbildung und legte einen ausgearbeiteten Reformvorschlag des Theologiestudiums vor.40 Die grundsätzliche Gliederung in eine „religionstheoretische“ und eine „christentumsgeschichtliche“ Abteilung dient im Kern der Reduktion des Umfangs der historisch–exegetischen Fächer und der Aufwertung der an Gegenwartsfragen orientierten Disziplinen, mithin der Umstellung „von der amtskirchlich und sachdominant fixierten Theologentheologie auf eine die personale und soziale Lebenspraxis der Individuen thematisierende und reflektierende Religionstheologie“41. In der christentumsgeschichtlichen Abteilung folgt Wagner übrigens der Gliederung Schleiermachers in historische, systematische und praktische Theologie, allerdings mit der deutlichen Verschiebung, dass man am gewählten Aufriss eher die historische Theologie als „Wurzel“, die systematische (philosophische) als „Stamm“ und die praktische als „Krone“ bezeichnen müsste – zumindest insofern, als auch für Wagner hier der Zielpunkt liegt im Sinne der Ausbildung alltagstauglicher religiöser Kompetenzen. Wagners Vorschlag zur Neuausrichtung des Theologiestudiums wurde weder rezipiert noch diskutiert. Darin mag sich das Beharrungsvermögen des status quo der theologischen Disziplinen aller Reformanstrengungen zum Trotz zeigen. Denn dem Theologiestudium heute ist offensichtlich die Grundspannung eingestiftet, einerseits seine Wissenschaftlichkeit vornehmlich aus den historischen Fächern und einem überholten neuhumanistischen Bildungsideal zu beziehen und andererseits zugleich den Ausbildungserfordernissen zum Beruf eines „Lehrers der (gegenwärtigen!) Religion“ mit ihren Alltagsbelangen obliegen zu müssen.42 Wie – vor allem von den Studierenden – mit dieser grundsätzlich in sich gegenläufig angelegten Interessenlage und Spannung umgegangen werden soll, bleibt eines der großen Geheimnisse des gegenwärtig institutionalisierten Studienganges Evangelische Theologie. Daraus resultiert die Notwendigkeit, eine grundsätzliche Debatte über diese Fragen anzustoßen, für die die Beteiligung möglichst vieler wünschenswert wäre.
39 A.a.O., 210. Siehe auch ders., Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 48–74. 191–246. 40 Falk Wagner, Metamorphosen, a.a.O., 243–246. 41 A.a.O., 238. 42 Dies wurde schon von Ernst Troeltsch beschrieben, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, Tübingen 1907, 68, 79 Anm. 48.
I. Historische Erkundungen
Das Wesen des Christentums als Organisationsprinzip der Theologie. Überlegungen im Anschluss an die ‘Kurze Darstellung’ Friedrich Schleiermachers Martin Laube I. Dem Urteil Emanuel Hirschs zufolge hat die Kurze Darstellung1 unter den Schriften Friedrich Schleiermachers „fast [...] als das größte Kunst–und Meisterwerk“2 zu gelten. Denn zum ersten Mal trete hier „die neue Gestalt, welche die Theologie in der Arbeit vieler Geschlechter angenommen hat, mit der Klarheit eines Ganzheitseindrucks vor uns hin“3. In der Fassung, die sie durch Schleiermacher erhalten habe, sei die Theologie eine den übrigen vergleichbare „moderne Universitätswissenschaft“4 geworden. „Wie weit ist der Weg von jener altprotestantischen Anschauung [...] bis hieher gewesen. Aber nun ist er zurückgelegt, und die Brücken, über die er geführt hat, sind dem Abbruch verfallen“5. Hirsch fasst damit die epochale Bedeutung von Schleiermachers Entwurf bündig zusammen. Zwar gehört seine Kurze Darstellung in den Zusammenhang einer theologischen Reformdebatte, die längst im Gange ist und deren Linie über Gottlieb Jakob Planck und Johann August Nösselt bis zurück zu Johann Salomo Semler reicht6. Doch erst Schleiermacher gelingt es, die verschiedenen Problemfäden so miteinander zu verknüpfen, dass daraus das Bild einer neuen theologischen Gesamtlage entsteht. Auf diesem Hintergrund entwickelt er ein Verständnis der Theologie als Christentumswissenschaft, das seiner mustergültigen Problemschärfe, mehrdimensionalen Theorieanlage und integrativen Leistungs1 2 3 4 5 6
Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg. von Dirk Schmid, Berlin 2002. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denken, Gütersloh 31964, Bd. 5, 356. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Hans–Joachim Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm (1986), in: ders., Schleiermacher–Studien, hg. von Hermann Fischer, Berlin 1996, 285–305. Einen ausführlichen Überblick gibt die Studie von Leonhard Hell, Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie, Mainz 2000.
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fähigkeit wegen nach wie vor als maßgeblicher Bezugspunkt theologischer Selbstverständigung zu gelten hat. Den Nerv dieses Neuansatzes bildet eine gleich mehrfache Ausrichtung der Theologie auf den Gegenstand des Christentums7. Die Theologie sei als „positive Wissenschaft“8 der Förderung des christlichen Lebens verpflichtet und gewinne erst dadurch ihren disziplinären Zusammenhalt. Ein solches „Interesse am Christenthum“9 setze allerdings zugleich ein entsprechendes „Wissen um das Christenthum“10 voraus. Daraus ergebe sich die Aufgabe einer umfassenden Wesensbestimmung des Christentums; diese wiederum sichere nicht nur die Wissenschaftlichkeit der Theologie, sondern gebe zugleich den einzelnen Disziplinen ihr je eigenständiges Profil. Das gelte zum einen für das Zusammenspiel der drei Hauptdisziplinen von Philosophischer, Historischer und Praktischer Theologie, zum anderen aber auch für die historische Teildisziplin der Dogmatik. Ihr obliege es, durch den Aufweis der durchgängigen Bezogenheit des christlichen Erlösungsbewusstseins auf die Person Jesu als Erlöser die zuvor philosophisch gewonnene und historisch bewährte Wesensbestimmung des Christentums systematisch zu entfalten11. Das Wesen des Christentums wird sonach von Schleiermacher erstens als wissenschaftstheoretisches Konstruktionsprinzip, zweitens als enzyklopädisches Organisationsprinzip, drittens als dogmatisches Darstellungsprinzip und viertens als praktisches Gestaltungsprinzip der Theologie in Anschlag gebracht. Im Hintergrund steht ein deutliches Gespür für die krisenhaften Umbrüche, welche mit dem Übergang des Christentums in die Neuzeit verbunden sind. Schleiermacher sucht daraus die entsprechenden Konsequenzen für das Selbstverständnis der Theologie und ihrer Aufgabe zu ziehen. Die prinzipientheoretische Approbation des Christentumsbegriffs verdankt sich dem Interesse, die Theologie durch eine breit angelegte Revision ihres enzyklopädischen Profils auf die weitreichenden Herausforderungen der eigenen Gegenwart einzustellen. Zwei Aspekte verdienen dabei besondere Beachtung. Schleiermacher reagiert zum einen auf die vielfältigen Folgewirkungen des neuzeitlichen Auseinandertretens von Kirche und Christentum. Die in der Karriere des Christentumsbegriffs selbst verschlüsselte Emanzipation der individuellen Frömmigkeitspraxis und ihrer sozialen Gestaltungsformen von den Vorga7
Vgl. zum folgenden die in jeder Hinsicht brillante und vorzügliche Studie von Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. 8 Friedrich Schleiermacher, KD2 §1, 139. 9 Friedrich Schleiermacher, KD2 §8, 143. 10 Friedrich Schleiermacher, KD2 §10, 144 11 Vgl. dazu Markus Schröder, Kritische Identität des neuzeitlichen Christentums 87f.
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ben der kirchlich–dogmatischen Tradition12 mündet in eine zunehmende Pluralisierung der christlichen Religionskultur. Diese Entwicklung beschränkt sich keineswegs nur auf den Bereich der inneren Privatreligion, sondern findet ihren Niederschlag in einander widerstreitenden Versuchen, die das gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Leben prägende öffentliche Signatur des Christlichen jeweils selbständig zu bestimmen. Die Theologie sieht sich damit vor eine neue Herausforderung gestellt. Ihr Gegenstand ist ihr nicht mehr unmittelbar ‘gegeben’; statt dessen wächst ihr nun die Aufgabe zu, jenen Zusammenhang des Christlichen überhaupt erst zu rekonstruieren, der durch den Rahmen der kirchlich–dogmatischen Überlieferung allein nicht mehr gewährleistet ist. Der Schwerpunkt der theologischen Arbeit verlagert sich so auf eine historisch– systematische Beschäftigung mit der geschichtlichen Welt des Christentums unter der Zielsetzung, einen Begriff dessen zu erarbeiten, was gegenwärtig als Realisierungsgestalt des Christlichen in Anspruch genommen werden kann. Schleiermacher ratifiziert diesen Perspektivenwechsel, indem er die Theologie konsequent als Wissenschaft vom Christentum begreift und sie auf die Aufgabe ausrichtet, im Zusammenspiel ihrer Disziplinen eine Bestimmung seines eigentümlichen ‘Wesens’ vorzunehmen. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass diese Wesensbestimmung nicht die Gestalt einer begrifflichen Deduktion annehmen kann, sondern den Übergang zu einer historischen Erfassung der eigenen Gegenwart voraussetzt. Das zweite Motiv für Schleiermachers Neufassung des Theologiebegriffs bildet die fundamentale Grundlagenkrise, in welche die zeitgenössische Theologie durch die Destruktion der klassischen Ontotheologie, den Siegeszug der modernen Naturwissenschaften und – nicht zuletzt – die Durchsetzung des historischen Bewusstseins geraten war. Der Übergang von Gott zum Gottesbewusstsein zwingt zur Verabschiedung des traditionellen Offenbarungsbegriffs, die Annahme eines kausalen Naturzusammenhangs mündet in die Auflösung des Wunderbegriffs, und die Ausbildung der historisch–kritischen Methode unterminiert die Geltung des überkommenen Schriftprinzips. Solchermaßen ihrer bisherigen erkenntnismethodischen Fundamente beraubt, wird der wissenschaftliche Status der Theologie zunehmend prekär. Damit droht zugleich die für den Protestantismus charakteristische Balance zwischen Christentum und Wissenschaft aus den Fugen zu geraten. „Soll der Knoten der Geschichte so auseinander gehn? das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben“13 12 Vgl. dazu Trutz Rendtorff, Art. Christentum, in: GG 1 (1968), 772–814. 13 Friedrich Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke, in: ders., Theologisch–dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von Hans–Friedrich Traulsen, Berlin 1990 (KGA I/10), 307–394, 347.
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– in diese programmatische Frage kleidet Schleiermacher seine Einsicht, dass mit dem Wissenschaftsanspruch der Theologie zugleich der Vermittlungsanspruch des Christentums auf dem Spiel steht. In der Folge zeigt er sich nachdrücklich darum bemüht, die Theologie durch einen tiefgreifenden Umbau ihrer prinzipientheoretischen Grundlagen auf ein neuartiges und den zeitgenössischen Wissenschaftsstandards entsprechendes Fundament zu stellen. Nun gehört die reflexive Besinnung auf das eigene Tun zwar von jeher zu den Merkmalen christlicher Theologie. Mit dem Übergang zur Neuzeit erhält sie jedoch einen charakteristisch veränderten Zuschnitt. Es geht jetzt nicht mehr nur um den Ort der Theologie im Horizont der Wissenschaften, sondern zugleich um ihre innere Einheit angesichts der auseinander strebenden Vielfalt der Disziplinen. Die Verselbständigung der historischen Fächer einerseits und das Aufkommen der Praktischen Theologie andererseits lassen zunehmend die Frage dringlich werden, was den theologischen Zusammenhalt der einzelnen Disziplinen begründet. Es macht gerade die Pointe von Schleiermachers Ansatz aus, dass er beide Aufgaben miteinander verknüpft. Den Schlüssel dafür bietet ein doppelt angelegter Theologiebegriff: Die Theologie wird formal als ‘positive Wissenschaft’ klassifiziert und zugleich material auf das Christentum ausgerichtet. Während der funktionale Aspekt vornehmlich die Einheit der Theologie und die ‘Theologizität’ ihrer Disziplinen sichert, begründet das substantiale Moment den Status der Theologie als einer vollgültigen Wissenschaft14. Die Hinwendung zum geschichtlichen ‘Positum’ des Christentums markiert dabei nicht nur den Verzicht auf bisher in Anspruch genommene supranaturale Erkenntnisvoraussetzungen, sondern eröffnet zugleich den Anschluss an die methodischen Standards der modernen Geschichtswissenschaft. Die von Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts hellsichtig diagnostizierte Grundlagenkrise der Theologie hat sich in der Gegenwart, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, signifikant verschärft. Mag auch die gängige Säkularisierungsthese, welche den Anbruch der Moderne mit dem Untergang der Religion gleichsetzt, in dieser Schlichtheit nicht haltbar sein, so sind doch massive Phänomene sozialer Entkirchlichung und kultureller Dechristianisierung nicht zu übersehen. Der Knoten zwischen christlicher Tradition und moderner Kultur scheint ebenso unaufhaltsam auseinander zu gehen, wie umgekehrt der Theologie ihr Gegenstand – das Christentum – zunehmend abhanden kommt. Die Aufgabe, die eigene Gegenwart nicht aus dem theologischen Zugriff zu entlassen, sondern als Realisierungsgestalt des Christentums zu begreifen, gewinnt gerade-
14 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. von Walter Sachs, Berlin 1987, 21.
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zu hypertrophe Züge und setzt immense theoretische und hermeneutische Anstrengungen voraus. Innerhalb der Theologie wiederum haben sich die zentrifugalen Tendenzen der einzelnen Fächer derart zugespitzt, dass nur mehr der institutionelle Rahmen den übergreifenden Zusammenhang aufrecht zu erhalten scheint. Die von jeher zu beobachtende Spannung zwischen den historischen und systematischen Disziplinen hat sich nachgerade zu einer Diastase verfestigt. Darin wirkt sich das unbewältigte Problem des Historismus aus; dessen prinzipielle Infragestellung des Normativen führt auf beiden Seiten dazu, den spannungsvollen Zusammenhang von Genese und Geltung zunehmend auseinander brechen zu lassen. Am anderen Rand des Spektrums setzt die Praktische Theologie zu einem überzogenen Emanzipationsgestus an. In ihrem Bemühen, endlich als vollgültige wissenschaftliche Disziplin anerkannt zu werden, kündigt sie alle Bezüge zu ihren Nachbardisziplinen auf und meint, sich als alleinigen Sachwalter einer gegenwartsorientierten Wahrnehmung des Christentums präsentieren zu können. Im Hintergrund dieser Verselbständigungstendenzen steht eine anhaltende Legitimationskrise der Theologie als universitärer Wissenschaft, welche durch den aktuellen Siegeszug des kulturwissenschaftlichen Paradigmas zusätzliche Brisanz erhält. Der Theologie wird hier nicht nur eine kompromittierende Nähe zur Kirche unterstellt; mehr noch hat sie mit der verbreiteten Einschätzung zu kämpfen, in ihrem Vorgehen auf eine wissenschaftlich inakzeptable ‘dogmatische Methode’ verpflichtet zu sein. Die historischen und praktischen Disziplinen reagieren auf diesen Vorwurf mit einer entschiedenen Absetzbewegung: Sie propagieren den methodischen Anschluss an ihre jeweiligen Referenzwissenschaften und entschlagen sich aller theologischen Geltungsansprüche. In der Folge lastet die Verantwortung für die gegenwärtige Krise allein auf der Systematischen Theologie. Doch auch sie vermag dem Sog des Historismusproblems mit seiner suggestiven Diastase von Geschichte und Normativität kaum zu entrinnen: Entweder zieht sie sich auf die kleinmütige Aufgabe historischer Anamnese zurück oder setzt zu einem übersteigerten Gestus assertorischer Positionalität an. Im einen Fall regiert eine geltungsvergessene Historisierungsmethodik, im anderen Fall eine geltungsversessene Gewissheitsrhetorik; im einen Fall gibt es nur Fragen, im anderen Fall nur Antworten. Die solchermaßen zugespitzt skizzierte theologische Gesamtlage lässt es geraten erscheinen, den Blick erneut auf Schleiermachers enzyklopädischen Entwurf zurückzulenken – und zwar nicht lediglich in historisierender Absicht, sondern mit dem systematischen Interesse, an der Wiege des neuzeitlichen Theologieverständnisses nach verschütteten Hinweisen oder unausgeschöpften Einsichten zu fragen, welche der gegenwärtigen Aufgabe theologischer Selbstverständigung fruchtbare Impulse zu geben vermögen. Das wird keinesfalls auf
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dem Wege gelingen, Schleiermachers Entwurf unmittelbar mit den aktuellen Herausforderungen kurz zu schließen. Sein Rang als Klassiker des neuzeitlichen Protestantismus bewährt sich jedoch darin, dass er die nach wie vor gültige Beschreibung der Probleme vorgibt, an der sich auch alle Versuche, zu anderen als den von ihm vorgeschlagenen Lösungen zu kommen, messen lassen müssen. In diesem Sinne soll im folgenden zunächst Schleiermachers Entwurf der Theologie als einer ‘Wissenschaft vom Christentum’ zur Darstellung kommen (II.), bevor in einem zweiten Schritt einige tastende Überlegungen angestellt werden, wie es vielleicht gelingen kann, die Kurze Darstellung fruchtbar auf die gegenwärtige Lage zu beziehen (III.).
II. „Die Theologie [] ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d.h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum“15 – bereits in diesem ersten Paragraphen seiner Kurzen Darstellung deutet Schleiermacher die Pointe seines enzyklopädischen Entwurfs an. Auf der einen Seite überführt er „die Frage: Was ist Theologie? in die Frage: Wozu gibt es Theologie?“16 und leitet daraus die Bestimmung der Theologie als positiver Wissenschaft ab, welche durch den funktionalen Bezug auf eine ihr vorfindliche religiöse Praxis konstituiert sei. Auf der anderen Seite hält er zugleich an der Angabe eines spezifischen Gegenstandes der Theologie fest. Die Praxis, mit der es die Theologie zu tun habe, sei die Praxis der christlichen Religion; insofern lasse sich die Theologie zugleich als Wissenschaft vom Christentum auffassen. Schleiermacher verschränkt mithin einen formal–funktionalen und einen material–substantialen Aspekt; eben darin liegt die besondere Leistungsfähigkeit seines Ansatzes begründet. Zum Verständnis der damit verbundenen Konsequenzen bedarf es einer kurzen Erinnerung an die im Hintergrund stehende Wissenschaftssystematik. Schleiermacher unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Arten von Wissenschaften. Auf der einen Seite stehen die reinen Wissenschaften, die sich philosophisch–spekulativ herleiten lassen, auf der anderen Seite die positiven Wissenschaften, die um die Lösung einer praktischen Aufgabe willen ausgebildet 15 Friedrich Schleiermacher, KD2 §1, 139. 16 Hans–Joachim Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 292.
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werden. Für die Begründung der reinen Wissenschaften geht Schleiermacher zurück auf die Idee des Wissens. Sie lässt sich nur im Modus einer irreduziblen Duplizität von spekulativem und empirischem Wissen fassen und setzt insofern als letzte Grenze eine Differenz von Idealem und Realem voraus17. Daraus gewinnt Schleiermacher zum einen die Unterscheidung zweier Gegenstandsbereiche – Ideales und Reales –, zum anderen die Unterscheidung zweier Erkenntnisformen – Spekulation und Empirie. Werden beide Unterscheidungen wechselseitig miteinander verknüpft, ergibt sich ein viergliedriges System der Wissenschaften mit spekulativer Ethik und empirischer Geschichtskunde einerseits sowie spekulativer Physik und empirischer Naturkunde andererseits. Hinzu kommen die auf der Seite der Vernunftwissenschaften zwischen Spekulation und Empirie vermittelnden kritischen und technischen Disziplinen; über dem Wissenschaftsgefüge steht schließlich die Wissenschaftslehre der Dialektik. Dieses System der Wissenschaften ist allerdings nicht identisch mit dem geschichtlich gewachsenen Aufbau der Universität, sondern hat seinen Ort allein in der philosophischen Fakultät. Die übrigen Fakultäten repräsentieren einen anderen Typus von Wissenschaft. Sie entspringen nicht dem Begriff des Wissens selbst, sondern sind aus unterschiedlichen praktischen Bedürfnissen heraus entstanden: „Alle nothwendigen Wissenschaften fasst die Philosophie zusammen wogegen die übrigen Facultäten positive Wissenschaften enthalten. So bezweckt die Medicin die Herstellung des menschlichen Körpers in seinen NormalZustand, die Jurisprudenz die Hervorbringung des Rechtes, die Theologie die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft. Alle diese Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines hervorbringen wollen“18.
Anders als die reinen Wissenschaften sind die positiven Wissenschaften mithin durch ihren externen Zweckbezug gekennzeichnet. Sie stellen in sich keine homogene Einheit dar, sondern verdanken ihre Entstehung dem wissenschaftlichen Bearbeitungsbedarf einer bestimmten Praxis und gewinnen allein dadurch ihre innere Geschlossenheit. Entsprechend heißt es im Zusatz zum ersten Paragraphen der Kurzen Darstellung: 17 Schleiermacher entfaltet seine transzendentale Strukturtheorie des Wissens in der Dialektik. Diese liegt allerdings nur in unveröffentlichten Vorlesungsmanuskripten vor und stellt daher vor anspruchsvolle Rekonstruktionsaufgaben; vgl. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik, 2 Bde., hg. von Andreas Arndt, Berlin 2002 (KGA II/10,1–2). – Eine komprimierte Darstellung findet sich bei Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 128–138; vgl. darüber hinaus Ulrich Barth, Der Letztbegründungsgang der Dialektik. Schleiermachers Fassung des transzendentalen Gedankens, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 353–385. 18 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, §1, 1.
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Martin Laube „Eine positive Wissenschaft überhaupt ist [...] ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft nothwendigen Bestandtheil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind“19
Für die Theologie macht Schleiermacher diese praktische Aufgabe an der Kirchenleitung fest. Darunter ist keineswegs nur das institutionell gebundene und pfarramtlich organisierte Handeln zu verstehen, sondern in betonter Weise „[a]lles, was in Beziehung auf die christliche Kirche geschehen soll“20. Nun bestimmt Schleiermacher gerade die evangelische Kirche als „eine Gemeinschaft des christlichen Lebens zur selbständigen Ausübung des Christenthums“21. Folglich kommt der Kirchenleitung die Aufgabe zu, durch die Förderung des christlichen Lebens zugleich zu einer solchen selbständigen Ausübung anzuleiten. Schleiermacher hat also alles andere als eine Verkirchlichung der Theologie im Sinn. Vielmehr geht es ihm umgekehrt darum, die Theologie vermittels der Praxis der Kirchenleitung auf die Praxis des Christentums selbst bezogen sein zu lassen. Damit nimmt er zugleich das neuzeitliche Auseinandertreten von Kirche und Christentum auf, ohne doch beide Seiten auseinander fallen zu lassen: So wie einerseits das Christentum in seiner kirchlichen Gestalt nicht aufgeht, ist doch andererseits die Kirche unerlässlich zur Ausbildung und Pflege einer selbständigen Wahrnehmung des Christentums. Allerdings ist es nicht schon die Eigendynamik der religiösen Praxis selbst, welche zur Ausbildung einer Theologie Anlass gibt: „[D]er christliche Glaube an und für sich bedarf eines solchen Apparates nicht“22. Vielmehr entsteht die Nötigung zur Theologie erst auf einer bestimmten Stufe der geschichtlichen Entwicklung und setzt einen entsprechenden Komplexitätsgrad des Christentums voraus. Das Christentum stellt im Zuge seiner fortschreitenden Ausdehnung und internen Ausdifferenzierung vor eine Vielzahl anspruchsvoller Leitungsaufgaben, zu deren Bewältigung es eines systematisch entfalteten Regel–und Steuerungswissens bedarf23. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Theologie zwar auf die praktische Aufgabe der Kirchenleitung bezogen ist, an der Praxis der Kirchenleitung selbst aber nicht teilnimmt. Sie 19 Friedrich Schleiermacher, KD2, §1 Zs., 140. 20 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, §1, 1. 21 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. I/13, hg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850, 62. 22 Friedrich Schleiermacher, KD2, §5 Zs., 142. 23 Vgl. dazu Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 102.
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vermittelt lediglich diejenigen „wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“24. Mit der Klassifikation als positiver Wissenschaft stellt Schleiermacher das Verständnis der Theologie auf eine neue Grundlage. Sie wird nicht mehr auf ein exklusives Erkenntnisprinzip, einen spezifischen Gegenstand oder eine besondere Methode zurückgeführt, sondern durch die Angabe ihrer Funktion definiert. Zugleich bestätigt er so die neuzeitliche Grundunterscheidung von Theologie und Religion, welche die Theologie in den Status einer nachgeordneten Reflexion auf die ihr vorgängige religiöse Praxis einrücken lässt. Allerdings versteht sich diese Praxis keineswegs von selbst. Der Theologie ist ihr Gegenstand nicht in dem Sinne ‘gegeben’, dass sie ihn lediglich phänomenologisch zu beschreiben hätte. Unter neuzeitlichen Bedingungen steht sie vielmehr vor der Aufgabe, denjenigen religiösen Praxiszusammenhang überhaupt erst zu rekonstruieren, der durch seine sichtbare geschichtliche Erscheinungsform allein nicht mehr gewährleistet ist. Schleiermacher reagiert auf diese Sachlage, indem er der funktionalen Bestimmung des Theologiebegriffs die materiale Aufgabe einer Wesensbestimmung des Christentums zur Seite stellt. Genau betrachtet, setzt schon die Ausrichtung auf die Belange der Kirchenleitung ein hinreichendes „Wissen um das Christenthum“25 voraus. Denn „es wäre eine Thorheit wenn sich einer anmaßen wollte eine leitende Thätigkeit ohne einen Begriff zu haben vom Gegenstande derselben, und eine noch größere, wenn er das wollte ohne zum klaren Bewusstsein was das Christenthum sei bei sich entwikkelt zu haben und sich bewußt zu sein“26.
Vor dem Hintergrund der rasanten Differenzierungs–und Pluralisierungsprozesse des neuzeitlichen Christentums gewinnt diese Aufgabe freilich eine zusätzliche Dringlichkeit. Sie mündet in die Verpflichtung, eine wissenschaftliche Theorie des Christentums auszuarbeiten, welche es erlaubt, in der Vielgestaltigkeit der geschichtlich–sozialen Wirklichkeit das hervortreten zu lassen, was als das eigentümliche „Wesen des Christenthums“27 in Anspruch genommen werden kann. Mit dieser Formel allein ist die besondere Pointe von Schleiermachers Ansatz allerdings noch nicht erfasst; Sie besteht vielmehr in dem Unterfangen, das Wesen des Christentums weder dogmatisch setzen noch spekulativ deduzieren, 24 Friedrich Schleiermacher, KD2, §5, 142. 25 Friedrich Schleiermacher, KD2, §10, 144. 26 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 24. 27 Friedrich Schleiermacher, KD2, §10 Zs., 144.
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sondern auf dem Weg einer historisch–kritischen Rekonstruktion seines geschichtlichen Erscheinungszusammenhangs bestimmen zu wollen. Gerade die programmatische Ausrichtung auf das Verfahren einer historischen Wesensbestimmung ist es, welche der Theologie den Anschluss an das methodische Niveau der zeitgenössischen Wissenschaften sichern soll. Der Wesensbegriff lässt dabei von Anbeginn eine mehrfache Prägung erkennen. Zum einen erfüllt er die individualitätstheoretische Funktion, „das eigentümliche Prinzip einer geschichtlichen Ganzheit“ anzugeben, welches diese „von allen gleichartigen Gebilden charakteristisch unterscheidet“28. Zum anderen dient er als geschichtsphilosophische Kategorie und bezeichnet die den einzelnen geschichtlichen Erscheinungen zugrunde liegende und sie zu einem sich entwickelnden Ganzen zusammenbindende ‘Kraft’29. Das hat entsprechende Konsequenzen für die Auffassung des Christentums: Schleiermacher nimmt es als ein historisches Individuum in den Blick und schreibt ihm zugleich den Charakter eines geschichtlichen Organismus zu. Das bedeutet: Dem Christentum eignet nicht nur eine besondere Eigentümlichkeit im Vergleich zu anderen Glaubensweisen, sondern überdies eine strukturierende „Kraft“30, welche den inneren Zusammenhang seiner einzelnen Erscheinungsformen konstituiert. Schleiermachers Methodologie der Wesensbestimmung gehört in den Gesamtzusammenhang seines theologisch–philosophischen Systems und wird durch weitgespannte erkenntnistheoretische, wissenschaftssystematische und geschichtstheoretische Überlegungen abgesichert. Diese gilt es im folgenden zumindest andeutungsweise zu umreißen31. Den Ausgangspunkt bildet die Einsicht in das hermeneutische Grundproblem aller historischen Erkenntnis: Sie hat es mit individuellen Phänomenen zu tun, deren eigentümliches ‘Wesen’ weder durch begrifflich–deduktive noch durch empirisch–induktive Verfahrensweisen angemessen erfasst werden kann. Beide Methoden verfehlen die besondere Eigenart ihres Gegenstandes; denn wie vom allgemeinen Begriff kein Weg zur individuellen Vielfalt führt, lässt sich umgekehrt aus den empirischen Erscheinungen kein allgemeiner Wesensbegriff gewinnen. Das Individuelle kann „als Einzelnes nicht construiert [...], aber als das Wesen in sich schließend auch nicht blos empirisch erkannt“32 werden. Im Hintergrund steht die von Kant übernommene These einer prinzipiellen Zweistämmigkeit der Erkenntnis. Nur durch das 28 Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 170. 29 Zu Schleiermachers Parallelisierung des Wesens– mit dem Kraftbegriff vgl. aaO., 159– 163. 30 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 37. 31 Vgl. dazu Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 124– 183. 32 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 35.
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Zusammenwirken von intellektueller Spontaneität und organischer Rezeptivität kommt es zur Anschauung33 eines einzelnen Gegenstandes. Erkenntnis ist insofern stets „ein gemeinschaftliches Product der Vernunft und der Organisation des Denkenden“34; außerhalb dieses Zusammenspiels bleibt der Verstand eine leere Form und die Wahrnehmung ein blinder Inhalt. Damit wiederholt sich hier jene elementare Duplizitätsstruktur, die bereits im Zusammenhang der Idee des Wissens hervorgetreten war. Sie durchzieht Schleiermachers gesamte Theorieanlage und prägt alle Erkenntnisbereiche und Wissensformen. Für die Aufgabe historischer Erkenntnis ergibt sich daraus die Schlußfolgerung, dass nur ein zwischen Spekulation und Empirie vermittelndes Verfahren zum Ziel führen kann. „Die Auffassung des Individuellen“, erklärt Schleiermacher, „muss [...] aus beydem gemischt seyn“35. Freilich könne eine solche ‘Mischung’ immer nur annäherungsweise gelingen, da sich unter den Bedingungen der duplizitären Struktur des Wissens eine vollständige Deckung von Begriff und Erscheinung niemals erreichen lasse. Folglich habe die gesuchte Vermittlung im Modus eines fortwährenden „Gegeneinanderhaltens“36 beider Seiten zu geschehen, und genau darin bestehe zugleich der ‘kritische’ Charakter historischer Wesenserkenntnis37. Diese vermittelnde Zwischenlage findet in Schleiermachers Wissenschaftssystematik ihren Niederschlag. Den ‘kritischen’ Disziplinen kommt hier die Funktion zu, den methodischen Graben zwischen der spekulativen Ethik auf der einen und der empirischen Geschichtskunde auf der anderen Seite zu überbrücken. So hat es die spekulative Ethik mit der Aufgabe zu tun, die allgemeinen Begriffe und Strukturen herauszuarbeiten, in denen sich das geschichtliche Leben vollzieht. Im Gegenzug wendet sich die empirisch verfahrende Geschichtskunde den einzelnen historischen Ereignissen zu. Doch während die spekulative Ethik nur formale Verstehenskategorien entwickelt und kein materiales Wissen aus sich heraussetzt, bleibt umgekehrt die empirische Geschichtskunde bei einer bloßen Faktensammlung stehen und vermag kein Wissen um geschichtliche Zusammenhänge auszubilden. Es bedarf mithin einer wechselseitigen Vermittlung der geschichtskundlich gewonnenen Einzeldaten mit dem von der Ethik konstruierten Strukturzusammenhang der Geschichte. Eben dafür steht in Schleierma33 Schleiermacher versteht unter ‘Anschauung’ das sachhaltig bestimmte Denken; vgl. ders., Dialektik (1811), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1986, 15. Sein Begriff der Anschauung weicht damit von der kantischen Fassung ab. 34 Friedrich Schleiermacher, Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1814/15), hg. von Andreas Arndt, Hamburg 1988, §92, 17. 35 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 35. 36 Friedrich Schleiermacher, KD2, §32, 152. 37 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 35.
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chers Wissenschaftssystematik die historische Kritik. Ihr Hauptgeschäft besteht darin, das empirisch gegebene Einzelwissen auf ein spekulatives Begriffsnetz zu beziehen, um durch Abgrenzung und Vergleich das individuelle Wesen einer geschichtlichen Erscheinung ausmitteln zu können. Damit ist der Rahmen skizziert, innerhalb dessen Schleiermacher die Aufgabe einer Wesensbestimmung des Christentums methodisch umsetzt. Zugleich bietet sie ihm den Schlüssel für eine enzyklopädische Auffächerung des theologischen Fächerkanons. Während sich hier im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Einteilung in vier Hauptfächer durchgesetzt hatte38, unterscheidet Schleiermacher nur drei Disziplinen: die Philosophische, die Historische und die Praktische Theologie. Diese Dreiteilung findet ihre Begründung darin, dass jede Disziplin einen besonderen Beitrag zur gemeinsamen Aufgabe der Wesensbestimmung des Christentums leistet. So ist zunächst die Philosophische Theologie damit befasst, einen vorläufigen Wesensbegriff des Christentums aufzustellen. Ein solcher Wesensbegriff lasse sich ebenso wenig „rein wissenschaftlich“39 konstruieren als „bloß empirisch“40 gewinnen; vielmehr gelte es, ihn durch ein kritisches „Gegeneinanderhalten“41 von historischer Einzelwahrnehmung und spekulativer Begriffsarbeit zu ermitteln. Die Philosophische Theologie ist mithin durch eine elementare Vermittlungsaufgabe gekennzeichnet: Auf der einen Seite hat sie ihren Ausgang bei dem zu nehmen, „was im Christenthum geschichtlich gegeben ist“42, und dieses nach Maßgabe auffälliger Besonderheiten zusammenzufassen. Auf der anderen Seite obliegt ihr die Aufgabe, durch Rückgang auf die philosophische Begriffsebene und Aufsuchen der adäquaten Differenzierungsprinzipien den allgemeinen Ort des Christentums nicht nur „im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes“43, sondern auch „in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen“44 zu bestimmen. Damit ist der Anschluss an die philosophische Religionstheorie gegeben. Deren zeitgenössische Wende zum Subjekt schlägt sich darin nieder, „dass der allgemein–begriffliche Ort des Christentums in einer Theorie des religiösen Bewußtseins aufgesucht wird“45. Die Philosophische Theologie hat es insofern zwar „größtentheils mit 38 Vgl. etwa Gottlieb Jakob Planck, Einleitung in die Theologischen Wissenschaften, Göttingen 1794. 39 Friedrich Schleiermacher, KD2, §32, 152. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 AaO., §21, 148. 44 Ebd. 45 Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 229.
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Begriffsbestimmungen zu thun“46; gleichwohl kann sie mit Recht als eine „kritische Disciplin“47 gelten, da sie die induktive Schematisierung des gegebenen Mannigfaltigen mit der deduktiven Gegensatzbildung des übergeordneten Begriffs in Beziehung zu setzen sucht. Das Christentum wird also gerade „nicht aus dem höheren Begriff abgeleitet, sondern [...] historisch vorausgesezt, und bekommt durch jene Ableitung nur seinen bestimmten Ort in dem Complexus aller frommen Gemeinschaften“48. Innerhalb der Philosophischen Theologie unterscheidet Schleiermacher sodann zwischen den beiden Disziplinen der Apologetik und der Polemik. Während erstere nach außen eine „richtige[] Darstellung von dem Wesen des Christenthums“49 gibt, zielt letztere auf eine Kritik der „krankhaften Abweichungen“50 nach innen. Beide Disziplinen sind in der Reichweite allerdings dadurch beschränkt, dass ihre Begriffe nur vorläufige Geltung beanspruchen können. Das ergibt sich aus der Eigenart des kritischen Verfahrens, nur eine hypothetisch–konstruktive Formel bereitzustellen, die am geschichtlichen Gesamtphänomen des Christentums bewährt werden muss. Eben diese Aufgabe erfüllt die Historische Theologie mit ihrer Ausrichtung auf „die geschichtliche Kenntniß des Christenthums“51. Der kategorialen Grundlegung des Christentumsbegriffs tritt nun die materiale Darstellung der Christentumsgeschichte zur Seite. Zwar setzt schon die philosophische Wesensbestimmung einen Rückgang auf die Ebene des Historischen voraus; dieser bleibt jedoch auf eine bloß chronistische „Kenntniß des historischen Verlaufs“52 beschränkt und wird dem geschichtlichen Gesamtphänomen des Christentums nicht gerecht. Vielmehr eröffnet überhaupt erst die Philosophische Theologie die Möglichkeit zu einer solchen umfassenden Anschauung des Christentums. Trotzdem würde sie ihrerseits „ganz willkührlich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte alle ihre Säze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen“53. Denn ihr Wesensbegriff hat nur vorläufigen Charakter und bedarf zu seiner Vervollständigung einer historisch arbeitenden Perspektive, welche nach der kategorialen Grundlegung nun das individuierende Prinzip des Christentums zu ermitteln sucht. Die Aufgabe einer historischen Wesensbestimmung des Christentums kann mithin erst dann als eingelöst gelten, wenn die kritische 46 47 48 49 50 51 52 53
Friedrich Schleiermacher, KD2, §24 Zs., 149. Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 33. AaO., 36. Friedrich Schleiermacher, KD2, §40, 155. Ebd. AaO., §70, 67. AaO., §252, 228. AaO., §254 Zs., 229.
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Wesensformel „am Nach–und Nebeneinander des geschichtlichen Gesamtzusammenhangs ihrer Erscheinungen“54 eine angemessene Bewährung gefunden hat. Philosophische und Historische Theologie gelangen insofern „nur mit und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit“55. Vom materialen Bestand her betrachtet bildet die Historische Theologie den „eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums“56. Sie umfasst die Exegetische Theologie, die Kirchengeschichte sowie die Dogmatik und die kirchliche Statistik. Die Einordnung der letzten beiden, „dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“57 verpflichteten Disziplinen in die Historische Theologie begründet Schleiermacher mit dem geschichtlichen Charakter des Christentums, insofern dieses „nur als Ergebniß der Vergangenheit begriffen werden kann“58. Freilich erschöpft sich die Aufgabe der Dogmatik nicht darin, lediglich die zu einer gegebenen Zeit in einer bestimmten Kirchengemeinschaft geltenden Lehrbestände zusammenzutragen und in ihrem systematischen Zusammenhang darzustellen59. Vielmehr kommt ihr im Rahmen der Wesensbestimmung eine sehr viel herausgehobenere Funktion zu. Diese erhellt jedoch erst bei einem Blick auf die geschichtsphilosophische Seite des Wesensbegriffs. Schleiermacher zufolge ist das Wesen des Christentums „nicht blos eine abstracte Vorstellung [...], sondern eine der geschichtlichen Erscheinung innewohnende Kraft“60. Sie bildet den konstitutiven Grundimpuls der geschichtlichen Entwicklung, verbindet die verschiedenen Ausdrucksformen zu einem Ganzen und lässt das Christentum als einen individuellen Organismus erscheinen. Damit aber reicht die Ebene des begrifflichen Vergleichs nicht mehr aus, um das Wesen des Christentums angemessen bestimmen zu können. Vielmehr gilt es darüber hinaus, die individuelle Eigentümlichkeit seiner geschichtlichen Gestalt von jener einheitsstiftenden Wirkkraft her aufzuschlüsseln. Das kann geschehen, indem ein äußeres mit einem inneren Individuationsmerkmal verknüpft wird. Geschichtliche Ganzheiten sind äußerlich durch einen bleibenden Bezug auf ihren jeweiligen Anfangsimpuls geprägt; im Fall des Christentums ergibt sich daraus die religionsgeschichtlich erhebbare Rückbindung an die Person des Stifters. Seine innere Entsprechung findet dieses Merkmal in einer durchgängigen Bezogenheit des christlichen Bewusstseins auf die Person Jesu als Erlöser. Indem nun der Dogmatik die Aufgabe zukommt, diese durchgängige Bezogenheit vermittels einer entspre54 55 56 57 58 59 60
Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 157. Friedrich Schleiermacher, KD2, §254, 229. AaO., §27, 150. AaO., 207. AaO., §26, 150. Vgl. aaO., §97, 177. Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 37.
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chenden Rekonstruktion der dogmatischen Bestände zur Darstellung zu bringen, leistet sie einen entscheidenden Beitrag zur historischen Bewährung des philosophischen Wesensbegriffs des Christentums. Allerdings ist dabei die vorgenommene Umkehrung zu beachten: „Nicht mehr die Dogmatik bestimmt die Wahrnehmung des historischen Christentums, sondern die historisch reflektierte Wesensbestimmung gibt der Dogmatik allererst ihr Konstruktionsprinzip an die Hand“61.
Die Praktische Theologie schließlich bereitet den Übergang von der Wesensbestimmung zur Wesensgestaltung des Christentums vor. Anders als die Philosophische und Historische Theologie vermittelt sie keine Kenntnisse über das Christentum, sondern formuliert „Kunstregeln“62 für die Praxis des kirchenleitenden Handelns. Sie steht damit gleichsam zwischen Theorie und Praxis. Auf der einen Seite hebt Schleiermacher deutlich heraus, dass die Praktische Theologie als Theorie der Praxis von der Praxis selbst unterschieden ist63. Ihre Aufgabe besteht in der Ausbildung einer „Methodologie der Kirchenleitung“64 als der „Anweisung wie etwas vollbracht werden müsse“65. Insofern obliegt der Praktischen Theologie wohl das Aufstellen von Regeln, nicht aber deren Anwendung66. Auf der anderen Seite jedoch setzt sie eine kritische Analyse der gegenwärtigen Lage des Christentums bereits voraus: „Die Praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben“67.
61 Ebd. 62 Friedrich Schleiermacher, KD2, §265, 234. – Zu Schleiermachers Unterscheidung zwischen Kenntnissen und Kunstregeln vgl. auch ders., Theologische Enzyklopädie, 8. 63 Vgl. dazu Schleiermachers berühmte Formel: „[P]raktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die Theorie der Praxis“ (ders., Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt), 12. – Entsprechend bemängelt er am Namen der Praktischen Theologie, dass „der Ausdruck praktisch den Gegensatz zu theoretisch einschließt, welcher nicht existirt, da ja die praktische Theologie selbst eine theoretische ist“ (ders., Theologische Enzyklopädie, 25). 64 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 252. 65 AaO. 25. 66 Diese Regeln sind ohnehin als ‘Kunstregeln’ so verfasst, dass „die Art und Weise ihrer Anwendung auf die einzelnen Fälle nicht schon mit bestimmt ist“ (Friedrich Schleiermacher, KD2, §265, 234). 67 Friedrich Schleiermacher, KD2, §260, 232.
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Sie ist mithin nicht selbst an der Erarbeitung eines Wesensbegriffs beteiligt. Entsprechend kommt ihr lediglich der Status einer „Technik“68 oder „Kunstlehre“69 zu. Gleichwohl bildet der in der Philosophischen und Historischen Theologie erarbeitete Wesensbegriff das inhaltliche Kriterium für die praktisch–theologische Strukturierung des kirchenleitenden Handelns. Insofern ist er „nicht nur theoretische Grundkategorie zum geschichtlichen Verstehen des Christentums, sondern auch praktischer Leitbegriff zum besonnenen Einwirken auf das Christentum“70. Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Philosophischer, Historischer und Praktischer Theologie lässt also durchaus einen inneren Richtungssinn erkennen. Die drei Disziplinen bauen in systematischer Weise aufeinander auf und stehen in einem Verhältnis der „gestuften Fundierung“71 zueinander: Die Philosophische Theologie bildet „die Wurzel der [...] Theologie“72, die Historische Theologie den „eigentliche[n] Körper“73 und die Praktische Theologie „die Krone des theologischen Studiums“74. Trotzdem ist Schleiermacher daran gelegen, im Gegenzug die prinzipielle Gleichrangigkeit aller drei Dsiziplinen zum Ausdruck zu bringen75. Sie setzen einander wechselseitig voraus, nehmen sich gegenseitig in Anspruch und beinhalten einander in vermittelter Weise. Die Historische Theologie schließt „die 2 andern auf geschichtliche Weise in sich. Werden wir nun nicht ebenso sagen müssen, dass die praktische Theologie die 2 andern enthält auf technische Weise, und dass die philosophische Theologie beyde andern in sich schließt, aber nur implicite, weil sie die Principien enthält? Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß [...] Kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist“76.
Es kann also keine Disziplin den beiden anderen als die ‘eigentliche’ übergeordnet werden; vielmehr haben alle drei im gleichen Maße Anteil an der die Theologie insgesamt konstituierenden Aufgabe.
68 69 70 71 72 73 74 75 76
Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie, 25. Ebd. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 120. Hans–Joachim Birkner, Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 295. Friedrich Schleiermacher, KD2, §26, 67. AaO., §36, 68. AaO., §31, 67. Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen von Martin Rössler, Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Berlin 1994, 56–60.133–146. Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie,28
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Mit seinem enzyklopädischen Entwurf gelingt es Schleiermacher, der Theologie eine dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis entsprechende Fassung zu geben, welche zugleich ihre disziplinäre Einheit und Selbständigkeit zu sichern erlaubt. Mochte es bisher so scheinen, als gefährde der Anschluss an die geltenden wissenschaftlichen Standards die spezifische Eigenart der Theologie, so kehrt Schleiermacher die Sachlage schlichtweg um. Als positive Wissenschaft ist die Theologie dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht über eigene, nur ihr zukommende Erkenntnisprinzipien oder Wissensbestände verfügt, sondern auf allgemeine Ressourcen zurückgreift und diese nach Maßgabe ihres spezifischen Funktionsbezuges zusammenordnet. Schleiermacher setzt damit an die Stelle des scheinbaren Gegensatzes von ‘wissenschaftlichem Geist’ und ‘kirchlichem Interesse’ ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis: Erst der funktionale Kirchenbezug begründet den Status der Theologie als selbständiger Wissenschaft; umgekehrt ermöglicht erst der wissenschaftliche Charakter der Theologie eine geordnete Wahrnehmung des kirchlichen Praxisinteresses77. Auf diese Weise gelingt es ihm zugleich, die für die neuzeitliche Entwicklung der Theologie charakteristische methodische und inhaltliche Ausdifferenzierung in ihren Begriff einzuholen. Die Theologie ist recht verstanden kein einzelnes Fach, sondern vielmehr „ein Ensemble von Fächern, die ihrerseits jeweils zu anderen wissenschaftlichen Fächern in einem Verhältnis der Nachbarschaft und der Konkurrenz, der Arbeitsgemeinschaft und der Arbeitsteilung stehen“78. Ihren inneren Zusammenhalt gewinnen die einzelnen Fächer daraus, dass sie einen je spezifischen Beitrag zum Wesensbegriff des Christentums leisten, der seinerseits die Grundlage bildet für die praktische Tätigkeit der Kirchenleitung. Insofern macht sich auch hier wieder Schleiermachers funktional–materiale Doppelbestimmung der Theologie bemerkbar. Während die formale Einheit der theologischen Disziplinen durch den funktionalen Praxisbezug gewährleistet wird, liegt die materiale Einheit in der gemeinsamen Ausrichtung auf die Wesensbestimmung des Christentums begründet79. Beide Seiten fordern einander; erst in ihrer wechselseitigen Verschränkung konstituieren sie die vollgültige Einheit der Theologie als Wissenschaft vom Christentum zur Förderung des Christentums.
77 Vgl. Friedrich Schleiermacher, KD2, §12 Zs., 144. 78 Hans–Joachim Birkner, Die „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, 294. 79 Vgl. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums, 109.
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III. Die besondere Pointe von Schleiermachers enzyklopädischem Entwurf besteht in der konsequent historischen Fassung der Aufgabe einer Wesensbestimmung des Christentums. Obgleich Schleiermacher in der Durchführung auf einen spekulativen Begriffsrahmen zurückgreift, lässt sein Ansatz doch einen durchgängig ‘antispekulativen’ Akzent erkennen. Weder beabsichtigt er, die geschichtliche Besonderheit des Christentums philosophisch zu deduzieren, noch zielt er umgekehrt auf eine Aufhebung der Historie in den Begriff. Sein Interesse geht vielmehr in die entgegengesetzte Richtung. Indem er die Wesensbestimmung an das methodische Verfahren einer kritischen Vermittlung von Spekulation und Empirie bindet, sucht er die Strukturierungsleistung des philosophischen Begriffs für eine Aufwertung der empirischen Geschichtsforschung in Anspruch zu nehmen und diese so in ihr wissenschaftliches Recht einzusetzen. Schleiermacher verankert damit die historische Methode in der theologischen Prinzipienlehre; sein enzyklopädisches Programm lässt sich als der Versuch deuten, das klassische Vernunftparadigma mit der Herausforderung des modernen geschichtlichen Denkens zu vermitteln. Diese Beobachtung soll nun den Ausgangspunkt bilden für einen weiteren Überlegungsgang, ob und in welcher Weise Schleiermachers Bestimmung der Theologie als Wissenschaft vom Christentum auch für die gegenwärtige Aufgabe theologischer Selbstverständigung fruchtbar gemacht werden kann. Einige vorläufige Andeutungen müssen hier genügen. Die enzyklopädische Debatte hat jüngst durch zwei neu vorgelegte Entwürfe frischen Aufwind erhalten. Ingolf U. Dalferth schlägt vor, die Theologie als Interpretationspraxis der Kommunikation des Evangeliums zu begreifen80; Konrad Stock wiederum entwirft ein Verständnis der Theologie als Theorie der christlichen Gewissheit81. Im einen Fall steht das Interesse im Vordergrund, die Theologie kulturwissenschaftlich zu öffnen, ohne ihre offenbarungstheologische Fundierung preiszugeben; im anderen Fall handelt es sich um den Versuch, auf dem Boden einer eigentümlichen Umbildung Schleiermacherscher Motive die Theologie als Grund–Wissenschaft eines substantialen Ursprungsverhältnisses zu reetablieren. Beide Ansätze erreichen jedoch nicht die inhaltliche Spannweite 80 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004. – Sein Ansatz wird diskutiert in ders. (Hg.)., Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen, Leipzig 2006. 81 Vgl. Konrad Stock, Die Theorie der christlichen Gewissheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005. – Eine Vorfassung bietet sein entsprechender TRE–Artikel; vgl. ders., Art. Theologie III. Enzyklopädisch, in: TRE 33 (2002), 323–343.
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und integrale Vermittlungsfähigkeit, welche Schleiermachers mehrdimensionalen Theologiebegriff auszeichnet. So entgleitet Dalferth der Versuch Schleiermachers, das Verhältnis von ‘wissenschaftlichem Geist’ und ‘kirchlichem Interesse’ als wechselseitigen Steigerungszusammenhang auszulegen. Statt dessen hält er vorrangig an dem Interesse fest, das normative Eigenrecht der Theologie zu sichern. Trotz aller Offenheit, welche das semiotisch–hermeneutische Interpretationskonzept zunächst suggeriert, verpflichtet er sie schließlich doch zur Übernahme der „responsorische[n] Interpretationsperspektive des Glaubens“82. Damit werden Schleiermachers Bemühungen, die Umstellung von der dogmatischen auf die historische Methode voranzutreiben, storniert. Dalferths Versicherung freilich, der wissenschaftliche Status der Theologie werde so gar gestärkt83, kann dann nur mehr rhetorischen Wert beanspruchen. Stock wiederum übersieht durch seine Fixierung auf eine ahistorisch angesetzte Gewißheitsdimension nicht nur Schleiermachers methodische Hinwendung zur Geschichte; zudem gerät ihm dessen inhaltlicher Ausgriff auf die geschichtliche Wirklichkeit des Christentums aus dem Blick. Das zeigt sich zum einen an seiner eigentümlich sterilen Aufteilung der theologischen Disziplinen, welche die historische Frage lediglich als Hilfsindex der Wahrheitsfrage behandelt, zum anderen an dem Umstand, dass er die Theologie ihrer hermeneutischen Weite entkleidet und statt dessen auf die „transzendental[e]“84 Aufgabe beschränkt, die „kategoriale[] und ontologische[] Natur“85 des christlichen Wirklichkeitsverständnisses offen zu legen. Gegenüber diesen beiden neueren Entwürfen besteht der unübertroffene Vorzug von Schleiermachers Ansatz gerade darin, dass er die sich abzeichnende methodische Wende vom spekulativen Begriff zur historischen Kritik nutzt, um die Theologie zu einer umfassenden Wissenschaft von der geschichtlichen Wirklichkeit des Christentums umzugestalten. Allerdings markiert diese Stärke nun zugleich auch seine Schwäche. Denn unter den Bedingungen der reflexiven Zuspitzung des historischen Bewusstseins – wenn also im Fortgang des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein des Historischen sich selbst als etwas Historisches zu begreifen lernt86 –, vermag das Verfahren einer kritischen Vermittlung von
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Ingolf U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis, 122. Vgl. aaO., 142f. Konrad Stock, Die Theorie der christlichen Gewißheit, 16. AaO., VIII. Zu dieser Charakterisierung der historistischen Grundeinsicht, welche als Resultat der historistischen Aufklärung zugleich die in ihrem Problemstand bis heute unabgegoltene ‘Krise des Historismus’ auslöst, vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a.M. 1983, 54f. – Einen verlässlichen Überblick über das Problem des Historismus bietet die mittlerweile schon klassische Studie von Otto Gerhard Oexle,
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spekulativem Begriff und empirischer Historie nicht mehr zu überzeugen. Wohl legt Schleiermacher mit seiner geschichtsmethodologischen Umsetzung der kantischen Zweistämmigkeitsthese den Grundstein für eine wissenschaftliche Etablierung der historisch–kritischen Forschung. Doch zugleich wird diese Forschung an die Voraussetzung eines spekulativen Begriffsrahmens gebunden, der seinerseits dem historischen Zugriff entzogen bleibt. Schleiermacher entfaltet eine Methodologie der Wesensbestimmung, die zwar ihren Gegenstand einer historischen Beobachtung aussetzt, die eigene Beobachtungsperspektive jedoch konsequent enthistorisiert. Auf diese Weise gelingt es ihm, an einer stabilen Unterscheidung von Genese und Geltung festzuhalten – allerdings um den Preis, seiner eigenen Einsicht in die Geschichtlichkeit nicht nur des theologischen Gegenstandes, sondern auch der Theologie selbst die Spitze abzubrechen. Die Konsequenzen dieses Vorgehens schlagen sich in der materialen Durchführung der Wesensbestimmung nieder. Schleiermacher greift für den begrifflichen Rahmen seiner historischen Wesensbestimmung auf eine subjektivitätstheoretisch gearbeitete Religionstheorie zurück. Sie führt dazu, das Wesen des Christentums in einer bestimmten Prägung des christlich–religiösen Selbstbewusstseins zu verankern, die dann in einem zweiten Schritt mit der geschichtsphilosophisch postulierten Rückbindung an die Person des Religionsstifters vermittelt wird. Schleiermacher schreibt so die pietistisch–aufgeklärte Tendenz fort, das Wesen des Christentums vorrangig an die religiöse Subjektivität zu knüpfen und in der Folge auf die – hegelisch gesprochen – Dimension des subjektiven Geistes einzuschränken87. Die neuzeitliche Emanzipation dieser Subjektivität, welche sich in der Karriere des Christentumsbegriffs spiegelt, befördert jedoch zugleich im Gegenzug eine zunehmende Verselbständigung der geschichtlichen Realisierungsdynamik des Christlichen. Sie beginnt sich zunehmend von der Rückbindung an eine innerlich beteiligte Subjektivität abzulösen. Es erscheint mehr als fraglich, ob diese Dimension des objektiven Geistes mit den Mitteln einer Theorie des religiösen Bewusstseins angemessen eingeholt werden kann. Eine Historisierung des subjektivitätstheoretischen Begriffsrahmens, welche diesen selbst auf seinen geschichtlichen Ort hin durchsichtig macht, könnte hier dazu verhelfen, eine vorschnelle Verengung des Blickwin„Historismus“. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, 4172. 87 Zur Tradition der Frage nach dem Wesen des Christentums vgl. Rolf Schäfer, Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen?, in: ZThK 65 (1968), 329– 347; sowie neuerdings Friederike Nüssel, Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Albrecht Beutel, Volker Leppin (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“, Leipzig 2003, 15–32.
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kels zu vermeiden. Unterbleibt eine solche Korrektur, droht die historisch angesetzte Wesensbestimmung in eine dogmatische Schieflage zu geraten. Davon legt jedenfalls die verbreitete Gewohnheit des 20. Jahrhunderts Zeugnis ab, die historische Frage nach dem Wesen des Christentums nur mehr als dogmatische Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens zu behandeln88. Eine Weiterführung des Schleiermacherschen Programms setzt also voraus, das Verfahren der historischen Wesensbestimmung auf die durch die Historismuskrise indizierte reflexive Verschärfung des historischen Problembewusstseins einzustellen. An die Stelle des kritischen ‘Gegeneinanderhaltens’ von Begriff und Historie muss damit eine rückhaltlose Historisierung auch des philosophischen Begriffs treten. Das bedeutet: Es kollabiert zum einen die säuberliche Differenz von Genese und Geltung. In dem Maße, in dem sich die historische Beobachtung auf den historischen Beobachter selbst zurückwendet, verliert dieser seinen archimedischen Standpunkt und gerät in jenen geschichtlichen Strom, der – wie Karl Mannheim metaphorisch formuliert –, „sowohl in jenem Teile, auf den wir uns richten, als auch da, von wo aus wir ihn selbst betrachten, ein gewordener und werdender, ein stets beweglicher ist“89. Damit werden auch die Begriffsmuster und Deutungskategorien, die ein historischer Beobachter in Anschlag bringt, zu historisch relativen Erscheinungen: Sie können auf ihren historischen Kontext befragt und in das Licht möglicher Alternativen gestellt werden. Das wiederum hat zur Folge, dass zum anderen auch die vermeintlich sichere Unterscheidung von Theorie und Gegenstand ins Wanken gerät. Denn nun wird sichtbar, dass jede historische Beobachtung abhängig ist von der vorausgesetzten Perspektive des jeweiligen Beobachters – mehr noch: dass jeder historische Gegenstand erst durch eine solche Beobachtung zu dem Gegenstand wird, als der er beobachtet wird. Die Pointe der reflexiven Zuspitzung des historischen Bewusstseins besteht insofern in einer Pluralisierung der kopernikanischen Wende Kants für den Bereich historischer Erkenntnis. Das hat Folgen für die mögliche Rede von einem Wesen des Christentums. Sie lassen sich am Leitfaden jener vier Momente aufschlüsseln, die Ernst Troeltsch im Zuge seiner Analyse des Wesensbegriffs namhaft macht90. So sei
88 Vgl. etwa Friedrich Gogarten, Was ist Christentum?, Göttingen 1956; Gerhard Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1959; Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1961; Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin 1995, 49–80. 89 Karl Mannheim, Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 52 (1924),1–60, 45. 90 Vgl. zum folgenden die im Blick auf die methodologischen Probleme einer Wesensbestimmung des Christentums nach wie vor unübertroffene Abhandlung von Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“? (1903), in: ders., Gesammelte Schrif-
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der Wesensbegriff erstens eine „historische[] Abstraktion“91. Troeltsch nimmt damit Schleiermachers kritische Theorie historischer Wesenserkenntnis auf, betont aber zugleich deren grundsätzlich konstruktive Komponente: „Der einheitliche Gedanke des Wesens existiert doch überhaupt nur im Denken des zusammenfassenden Historikers“92. Zweitens erfüllt der Wesensbegriff eine eminent kritische Funktion: „Er ist nicht bloß Abstraktion aus den Erscheinungen, sondern zugleich Kritik an den Erscheinungen“93. So betrachtet, steht er im Dienste einer doppelten Unterscheidung; vermittels seiner gilt es, das Unwesentliche zu ignorieren und das Wesenswidrige zu verurteilen94. Troeltschs Interesse richtet sich auf die Frage nach dem Maßstab solcher Kritik; sie aber lasse sich letztlich nur durch den Verweis auf die „Mitwirkung unfassbarer, persönlicher Betrachtungen“95 beantworten. Insofern kommt zum konstruktiven Charakter historischer Wesenserkenntnis nun ihre perspektivische Standortgebundenheit hinzu. Die beiden weiteren Momente des Wesensbegriffs sind komplexerer Natur. Der Wesensbegriff bezeichnet drittens keine unveränderliche Idee, sondern „ein sich entwickelndes geistiges Prinzip“96. Auf den ersten Blick schließt sich Troeltsch hier an Schleiermachers These an, dass jeder geschichtliche Organismus ein dynamisches Prinzip voraussetzt, das am Anfang rein zutage tritt und den weiteren Fortgang der Entwicklung bestimmt. Das Wesen des Christentums finde so in der Person Jesu seine vollgültige Darstellung, während allein dessen universale Realisierung der Geschichte vorbehalten bleibe. Dieses Modell wird jedoch von Troeltsch in zwei Punkten entscheidend modifiziert. Zum einen korrigiert er das einlinige Abhängigkeitsverhältnis von Ursprung und Folgewirkung. Beides dürfe nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zwar sei der Rückbezug auf die „klassische Zeit“97 des Auftretens Jesu unverzichtbar, doch habe der christliche Geist „im Wandel der Zeiten, Verhältnisse und Aufgaben, der wissenschaftlichen und praktischen Weltzustände sehr verschieden weiter gewirkt und großartige Neubildungen und Umbildungen hervorgebracht“98. Damit hängt zugleich der andere Punkt zusammen: Gerade weil das Christentum im
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ten, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1922, 386– 451. AaO., 393. AaO., 406. AaO.,407 (im Original gesperrt). Vgl. aaO., 410. AaO., 407. AaO., 418. AaO., 413 AaO., 416.
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Lauf seiner geschichtlichen Entwicklung „Neues und Fremdes“99 in sich aufgenommen habe, könne sein Wesen nicht in eine einfache Formel zusammengefasst werden. Der Wesensbegriff müsse vielmehr „eine Oszillation zwischen mehreren Grundgedanken enthalten“100.Troeltsch schafft damit die Voraussetzungen, um – weit über ihn hinaus – nicht nur die Unterstellung eines einfachen Wesensbegriffs, sondern die Auffassung des Christentums als eines historischen Individuums überhaupt zu verabschieden. Unter den historistischen Bedingungen einer konsequenten ‘Deontologisierung’ der Geschichte erscheint es obsolet, an der Annahme dynamisch–individueller Wesenheiten festzuhalten. Das Christentum kann daher nicht mehr, wie noch Troeltsch unterstellt, als sich wandelnde Ausdrucksgestalt einer lebendigen „geistige[n] Triebkraft“101 vorgestellt werden. Statt dessen hat auch hier die Forderung Max Webers zu greifen, die wissenschaftliche Arbeit nicht an den „‘sachlichen’ Zusammenhänge[n] der ‘Dinge’“102, sondern an den „‘gedanklichen’ Zusammenhänge[n] der ‘Probleme’“103 auszurichten. Das neuzeitliche Christentum bezeichnet insofern keinen vorfindlichen Gegenstand, sondern eine spezifische Deutungsperspektive, welche es erlauben soll, in der unübersichtlichen Vielfalt des individuellen und sozialen Lebens das herauszuheben und zusammenzufassen, was als Erscheinungsform des Christlichen in Anspruch genommen werden kann. Anders gewendet: Es ‘gibt’ das Christentum nicht als empirisch quantifizierbare Größe, sondern nur als – zudem strittiges – Resultat seiner konkurrierenden Deutungen. Das vierte Moment des Wesensbegriffs besteht für Troeltsch schließlich in seiner Funktion als normatives Gestaltungsideal. Damit rückt jetzt das historistische Grundproblem des Verhältnisses von Normativität und Geschichte in den Vordergrund; zugleich laufen hier alle bisherigen Erörterungen zusammen. Die Frage nach dem Wesen des Christentums, so Troeltsch, mag zwar historisch an99 Ebd. 100 AaO., 421. – Im Weiteren schränkt Troeltsch die Vielzahl unterschiedlicher ‘Grundgedanken’ auf einen alles durchziehenden Dualismus ein: „Das Wesen des Christentums enthält also in sich eine Polarität und seine Formel muß dualistisch sein. Es gleicht – um ein von Ritschl in etwas anderem Sinn gebrauchtes Bild zu verwerten – einer Ellipse, die nicht wie der Kreis ein Zentrum, sondern zwei Brennpunkte hat. Das Christentum ist Erlösungsethik mit einer Verbindung optimistischer und pessimistischer, transzendenter und immanenter Weltbetrachtung, mit schroffer Entzweiung und innerer Verbindung von Welt und Gott, der prinzipielle und doch in Glaube und Tat immer von neuem aufgehobene Dualismus“ (aaO., 421f.). 101 AaO., 418. 102 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, 146– 214, 166. 103 Ebd.
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gesetzt werden. Gleichwohl geschieht jede historische Arbeit aus einem dezidierten Gegenwarts–und Zukunftsinteresse heraus; insofern schließt sie notwendig eine subjektive Perspektive und „persönliche Stellungnahme“104 ein. Damit aber drängt sich stärker noch als bisher die Frage auf, „wie denn der gerade zum Zweck einer objektiven Klärung gesuchte Ausgangspunkt rein historischer Betrachtung zu dieser Anerkennung der im Ergebnis mitwirkenden stark subjektiven Faktoren sich verhalte“105. Für Troeltsch liegt hier „der eigentliche Knoten des ganzen Problems“106. Dieser aber sei, fährt er sogleich fort, „überhaupt nicht auflösbar“107. Statt dessen komme es darauf an, „die beiden zu verknüpfenden Fäden in vollster Gewissenhaftigkeit und Umsicht zu spinnen“108. Auf den ersten Blick erscheint diese Auskunft wenig hilfreich; bei näherem Hinsehen jedoch enthält sie Troeltschs entscheidende Einsicht: Das Verhältnis zwischen historischer Wesenserkenntnis und subjektivem Gestaltungsinteresse entzieht sich einer additiven Aufschlüsselung; vielmehr verschränken sich beide Aspekte wechselseitig. Troeltschs bekannte Formel dafür lautet: „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung“109. Freilich gilt es diese Formel in ihrem doppelten Sinne zu verstehen. Auf der einen Seite hebt Troeltsch darauf ab, dass jede historische Wesensbestimmung mit ihrer subjektiven Perspektivität zugleich ein normatives Gestaltungsinteresse impliziert; Das Konstruktivitätsmoment historischer Erkenntnis wird so in verschärfter Weise aufgenommen und zugespitzt. Auf der anderen Seite jedoch gilt Troeltschs Interesse nicht nur der Subjektivität des Objektiven, sondern zugleich der gegenläufigen Objektivität des Subjektiven: „Ist aber so die Wesensbestimmung eine Tat, so ist sie selbst nicht mehr bloß ein Urteil über die Geschichte, sondern geradezu ein Stück der Geschichte. In ihr vollzieht sich der Fortschritt als die Weitergestaltung des Historischen für die Zukunft, und die Wesensbestimmung ist selbst ein Bestandteil der historischen Fortentwicklung“110.
Troeltsch dringt damit im Gewand einer Analyse des Wesensbegriffs zum innersten Nerv des Historismusproblems vor111. Hatte die relativierende Dynamik des Historischen zunächst zu der Einsicht geführt, dass sich kein normativer Geltungsanspruch seiner kritischen Historisierung entziehen kann, so wird nun 104 105 106 107 108 109 110 111
Ernst Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums“?., 426. AaO., 428. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 431. AaO., 429. Vgl. aaO., 433f.: „[D]as Problem, mit dem wir es [...] zu tun haben, ist kein anderes als das große, allgemeine Problem des Verhältnisses von Historie und Normen überhaupt“.
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deutlich, dass im Gegenzug keine historische Betrachtung frei ist von normativen Implikationen und geschichtlichen Konsequenzen. Das Problem des Historismus besteht insofern weniger im diastatischen Auseinandertreten von Genese und Geltung als vielmehr im Zusammenbruch ihrer stabilen Unterscheidung. Für das Verständnis der Theologie und ihrer Aufgabe zieht Troeltsch daraus selbst die entscheidende Konsequenz: „Die Wesensbestimmung ist die Krone und zugleich die Selbstaufhebung der historischen Theologie, die Vereinigung des historischen Elementes mit dem normativen oder doch dem Zukunft gestaltenden der Theologie“112. Der doppelte Richtungssinn der Formel Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung findet hier seinen sichtbaren Niederschlag; gleichwohl bleibt dessen Umsetzung in die konkreten Vollzüge theologischer Arbeit bloße Andeutung und entbehrt eines tragfähigen enzyklopädischen Rahmens. Schleiermachers Entwurf vermag diese Lücke zu schließen; gerade unter den nun skizzierten veränderten Bedingungen entfaltet sein Theologiebegriff damit eine überraschende Aktualität und Leistungsfähigkeit. Den Schlüssel bietet die formal–materiale Doppelkonstitution der Theologie als Wissenschaft vom Christentum zur Förderung des Christentums. Denn diese Zweipoligkeit erlaubt es, das von Troeltsch betonte Wechselverhältnis von Wesensbestimmung und Wesensgestaltung im Begriff der Theologie selbst zur Geltung zu bringen. Sie steht auch als ‘Wissenschaft vom Christentum’ in keiner neutralen Distanz zu ihrem Gegenstand; vielmehr unterstreicht ihr Charakter als ‘positive Wissenschaft’ den elementaren Sachverhalt, dass die Theologie innerhalb des Christentums selbst ausgebildet wird – und zwar mit der Aufgabe, als interne Selbstreflexionsinstanz die zukünftige Gestaltung des Christentums zu fördern. Der Zusammenhang von Wesensbestimmung und Wesensgestaltung erhält insofern auch seinen von Troeltsch beabsichtigten strikten Sinn: Gerade weil die Theologie dem Christentum selbst zugehört, ist die theologische Wesensbestimmung zugleich christliche Wesensgestaltung. Im Gegenzug eröffnet sich daraus die Möglichkeit, die theologische Wesensbestimmung des Christentums von einer nichttheologischen Religions– oder Kulturwissenschaft des Christentums hinreichend zu unterscheiden. Zwar erarbeitet sie kein anderes Wissen als andere Wissenschaften, wohl aber sie stellt dieses Wissen in andere Zusammenhänge und begründet damit ihre disziplinäre Selbständigkeit113. Doch nicht nur in der Grundlegung, sondern auch in der Durchführung erweist sich Schleiermachers enzyklopädischer Entwurf als hochgradig innovativ 112 AaO., 433. 113 Vgl. dazu Christian Albrecht, Kulturverstehen als theologische Bildungsarbeit. Wissenschaftsgeschichtliche und religionshermeneutische Aspekte einer „Kulturgeschichte des Christentums“, in: ders., Bildung in der Praktischen Theologie, Tübingen 2003, 51–98, 58.
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und anschlussfähig. Troeltschs Diktum von der „Selbstaufhebung“114 der historischen Theologie bringt das zentrale Ergebnis seiner Analyse des Wesensbegriffs auf den Punkt: Historische Kritik und systematische Konstruktion lassen sich nicht säuberlich voneinander trennen. So wie die Perspektive systematischer Konstruktion stets einer kritischen Historisierung ausgesetzt ist, nimmt umgekehrt die historische Rekonstruktion immer schon ein systematisches Geltungsinteresse in Anspruch. Folglich bedarf es eines Theologieverständnisses, das Kritik und Konstruktion nicht gegeneinander ausspielt, sondern als die beiden Pole eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses in Anschlag bringt. Schleiermachers enzyklopädische Umsetzung seiner ‘kritischen’ Methodologie bietet dafür den geeigneten Rahmen. Denn ihm ist gerade daran gelegen, auf hierarchische Abstufungsverhältnisse zu verzichten und im Gegenzug die prinzipielle Gleichrangigkeit und wechselseitige Verwiesenheit der theologischen Disziplinen herauszustellen. Philosophische, Historische und Praktische Theologie leisten jeweils einen spezifischen Beitrag zur gemeinsamen Aufgabe, das Wesen des Christentums zu bestimmen. Insofern setzen sie einander wechselseitig voraus und greifen im Vollzug gleichberechtigt ineinander. Auch wenn also die Theologie auf eine ihr vorgängige Praxis bezogen ist, fügen sich deren Einzelmomente doch erst als Resultat einer gemeinsamen Anstrengung aller theologischen Disziplinen zu einer begriffenen Gestaltungsform des Christlichen zusammen. Um diese Einsicht in den engen Zusammenhang der theologischen Disziplinen auch unter den Bedingungen ihrer faktischen Verselbständigung zur Geltung bringen zu können, bietet es sich schließlich an, zwischen theologischen Reflexionsperspektiven einerseits und ausdifferenzierten Fachdisziplinen andererseits zu unterscheiden. Das würde die Möglichkeit eröffnen, den pragmatischen Gründen zur Ausbildung und Etablierung selbständiger Arbeitsbereiche Rechnung zu tragen, ohne den Zusammenhang der theologischen Gesamtaufgabe aus dem Auge zu verlieren. Dieser käme dann darin zum Ausdruck, dass in jeder Disziplin alle Perspektiven eine Rolle spielen – aber in jeweils unterschiedlicher Brechung und Gewichtung. Sie verlieren so den verhängnisvollen Nimbus isolierter Spezialbereiche und erscheinen als den faktischen Arbeitsvollzügen geschuldete Schwerpunktbildungen, die nur im Modus anhaltender Verschränkung ihre relative Selbständigkeit behaupten können. Es versteht sich von selbst, dass mit dieser Skizze nur ein grober Rahmen angedeutet ist, der seiner inhaltlichen Ausarbeitung und Bewährung erst entgegensieht. Das freilich kann an anderer Stelle geschehen.
114 Ernst Troeltsch, Was heißt „Wesen des Christentums?“, 433.
Kirche und Theologie in Schleiermachers Enzyklopädie Folkart Wittekind 1.
Einleitung
Die die Enzyklopädie1 einleitende Definition Schleiermachers, Theologie sei eine positive Wissenschaft und als solche nur gerechtfertigt und existent als Funktion der Kirche, ist bis heute Bezugspunkt unterschiedlichster Theologieprogramme. In der Debatte darüber, ob damit die Wissenschaftlichkeit der Theologie adäquat ausgedrückt ist, ist der Inhalt des von Schleiermacher selbst dabei verwendeten Kirchenbegriffs wenig berücksichtigt worden.2 Im Folgenden soll der Hintergrund dieses Kirchenbegriffs herausgearbeitet werden und damit ein bisher wenig beachteter Aspekt in den Mittelpunkt gerückt werden: die auf die Kultur und die Geschichte bezogene Bedeutung der Kirche3 und damit auch des enzyklopädischen Theologieverständnisses.4
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Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, KGA I/6 (hg. von Dirk Schmid), 1. Auflage 1811 = ebd. 243–315; 2. Auflage 1830 = ebd. 317–446. Vgl. die Nachschrift der Vorlesung vom Wintersemester 1831/32 durch David Friedrich Strauß, ediert von Walter Sachs, Berlin u.a. 1987. Ich zitiere die Nachschrift mit dem Kürzel ThEnz (Strauß), die ‚Kurze Darstellung’ selbst unter bloßer Angabe der Paragraphenzahl, nötigenfalls mit Angabe der Auflage. Als Beispiel für die stattgefundene Verdrängung siehe Rudolf Bultmann: „Seit Schleiermacher hat sich eine Umkehrung vollzogen: Die Theologie gilt in erster Linie als Wissenschaft vom Glauben als einer Haltung des frommen Individuums“ (Rudolf Bultmann, Theologie und Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg. von Matthias Dreher und Klaus W.Müller, Tübingen 2002, 157). Emanuel Hirsch hat in seinem Spätwerk besonders auf dieses Element der Gesamtkonzeption Schleiermachers hingewiesen, vgl. insbesondere seine Erläuterungen in dem von ihm herausgegebenen Band Schleiermacherscher Predigten: Friedrich Schleiermacher, Dogmatische Predigten der Reifezeit, Berlin 1969, 347–398. Der Theologiebegriff der Enzyklopädie bezieht sich in erster Linie auf die Einheit und Organisation des gesamten möglichen theologischen Wissens. Er darf nicht vorschnell mit dem Begriff der Systematischen Theologie kurzgeschlossen werden. Darauf hat besonders hingewiesen Christoph Dinkel, Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin u.a. 1996, 43 Anm. 63. Vgl. auch die daraus resultierende Kritik einer Vereinnahmung Schleiermachers für ein offenbarungstheologisches Kirchenkonzept, aaO. 45f. Die bekannten Lehnsätze aus der Einleitung in die Glaubenslehre (als systematische Theologie) repräsentieren nicht das Ganze des in der Enzyklopädie gemeinten Programms.
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Vielteiligkeit und Zusammengesetztheit der Theologie sind der entscheidende Schlüsselbegriff (vgl.§ 4) eines interdisziplinären Programms der Erforschung des wechselseitigen Beeinflussungs– und Abhängigkeitsverhältnisses von christlicher Religion und Kultur. Heute kann das Programm weiterentwickelt werden: Es geht um die Transformation der Religion und des Christentums in einer sich wandelnden kulturellen Umwelt. Säkularisierung und Sakralisierung können als prozessuale Extrempunkte einer dauernden Neubestimmung des Verhältnisses gesehen werden. Theologische Forschung muß sich darauf einlassen, es mit sprachlichen Symbolisierungen sich ablösender Mentalitäten ohne fixe anthropologische Konstanten zu tun zu haben. Religion in der Moderne ist einem Prozeß unterworfen, in dem sich Ausdrucksformen ausdifferenzieren und sprachlich–handlungsbezogene Symbolisierungen jenseits konfessioneller Identitäten immer reicher werden. Hans–Joachim Birkner hat in seinen maßgeblichen Interpretationen des Enzyklopädieprogramms5 die Funktionalität der Wissenschaftsdefinition betont, den Kirchenbegriff als die bestimmte theologische Funktion jedoch an den Rand gedrängt. Infolge der Funktionalität ist Theologie eine praktische Wissenschaft wie Medizin oder Jura.6 Theologie bezieht sich also, so Birkner, praktisch auf die Religion des Menschen. Damit wird die philosophische Anthropologie zum zentralen, eigentlich gemeinten Gehalt und Bezugspunkt der Theologie als Wissenschaft. So wird der entscheidende historisch–kulturbezogene Sinn der Programmformel Schleiermachers zum Verschwinden gebracht. Es ist zu zeigen, dass aufgrund des aufklärerischen Hintergrundes des Kirchen– und Theologieverständnisses eine rein wissenschaftstheoretische Interpretation der Enzyklopädie nicht ausreicht, dass vielmehr im Kirchenbegriff selbst historische und kulturphilosophisch–ethische Ideen bezüglich des Verhältnisses von Kirche und Kultur mitgedacht sind. Das Christentum ist nicht bloß die historische kontingente Anknüpfung für eine allgemeine Religionswissenschaft und die Kirche fügt nicht bloß an eine grundsätzlich religionsphilosophisch konstruierte Wissenschaft den Praxisbezug an, wie man aus Birkners Rekonstruktion des 5
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Hans–Joachim Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher–Interpretation (1974), in: ders., Schleiermacher–Studien, Berlin–New York 1996, 157–193 (darin bes. Abschn. VI.: Die ‚Kurze Darstellung’ und ihr Programm der ‚Philosophischen Theologie’, aaO., 174–191); ders., Schleiermachers ‚Kurze Darstellung’ als theologisches Reformprogramm (1986), in: aaO., 285–305; sowie ders., Vorwort, in: ThEnz (Strauß), VII–XI. „Schleiermacher überführt die Frage: Was ist Theologie? In die Frage: Wozu gibt es Theologie? Er versteht sie als ‚positive Wissenschaft’, die konstituiert wird ... durch den Bezug auf eine vorgegebene Aufgabe und Praxis, die wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf.“ (Birkner, Schleiermachers Kurze Darstellung [wie Anm. 5], 292.)
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Enzyklopädieprogramms schließen könnte. Sondern das Christentum in seiner historischen Gestalt als christliche Kirche ist für Schleiermacher ein notwendiges Moment der ethischen (kulturphilosophischen) Gesamtkonstruktion der modernen Gesellschaft. Im Kirchenbegriff verbinden sich allgemeine anthropologische Vermögenskonstruktionen mit historischen Rekonstruktionen zur Entwicklung der Kultur. Nicht die Religionsphilosophie, sondern die Ethik ist der Rahmen der enzyklopädischen Bestimmung des Theologiebegriffs. Da aber Schleiermacher auch die Religionsvermögenslehre mit Lehnsätzen aus der Ethik begründet, muß genauer gesagt werden: Nicht eine anthropologisch konstruierte Religionsphilosophie, sondern eine ethisch–kulturphilosophisch konstruierte historische Kirchenlehre ist der eigentliche Rahmen der Theologie als Wissenschaft.7 Im Gegenzug zu heutigen Kontroversen über den Theologiebegriff ist zu sagen, dass für Schleiermacher die Betonung der Historizität und Kontingenz des Christentums als einer bestimmten Gestalt der Religion (noch) nicht der anderen Meinung widerspricht, dass die Gesellschaft insgesamt einer religiösen Organisation bedarf, um dem Wesen des Menschen fortschreitend gerecht zu werden. Christliche Kirchenleitung ist ein zur Vervollkommnung der Menschheit selbst notwendiger und entscheidender Leitgesichtspunkt des menschlichen Handelns in der gegenwärtigen Kultur.8 7
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Auch Heinrich Scholz kommt in seiner Einleitung zu der Edition der ‚Kurzen Darstellung’ (1910, Nachdruck Darmstadt 1982, XII–XXXVII) zu einer Ablehnung bzw. Uminterpretation von Schleiermachers Kirchenbegriff. Denn mit der Kirche als Bezugspunkt scheint die anthropologische Allgemeingültigkeit der Religion ausgeschlossen. Es sei „ein der Wissenschaft fremdes, die Reinheit der Forschung bedrohendes Motiv“, das „die Theologie zu ruinieren droht“ (XXVIII). Deshalb ist eine individualistische Korrektur der im Kirchenbegriff gemeinten Religion nötig: Kirchenleitung sei nichts anderes als „die charaktervolle Pflege evangelischen Geistes und evangelischer Gesinnung“ (XXIX). Damit geht allerdings der Bezug auf die geschichtliche Institution und ihre kulturelle Tradition verloren. Für Schleiermacher steht dagegen der Kirchenbegriff (noch) mit ein für die Allgemeinheit der Religion. Er ist die notwendige kulturphilosophische Organisationsform des allgemeinen religiösen Gefühls, wie der Staat für das Rechtsbedürfnis. M.E. ist Birkners Auslegung darin für den nachschleiermacherischen Umgang paradigmatisch (wie Bultmann oben in Anm 1), dass er den von Schleiermacher bestrittenen Bezug der Theologie auf den christlichen Glauben (dieser „bedarf an und für sich dieses Apparates nicht, weder zu seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele, noch auch in den Verhältnissen des geselligen Familienlebens“, KD § 5, Scholz 2) über den Religionsbegriff doch wieder einzuführen versucht. Birkner versteht Theologie wesentlich als philosophische Religionsanthropologie, der Wesensbegriff der Frömmigkeit rückt in die Begründung der Theologie ein (weshalb ihm die Einleitung in die Glaubenslehre als kleine Ausführung des Enzyklopädieprogramms gilt). Doch Schleiermacher erklärt nicht die philosophische Theologie zur Grundlegung der Theologie als Wissenschaft, sondern die
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In einem ersten Teil soll der Hintergrund, der Bezug der Theologie auf Kirche in den Theorien besonders des 18. Jahrhunderts, dargestellt werden (I). Anschließend soll der Text der ersten Paragraphen aus der Enzyklopädie9 erläutert werden (II). In einem weiteren Teil geht es um die mögliche Bedeutung des Programms unter heutigen Bedingungen. Ich will versuchen, Ansätze zu einer theologischen Kulturhermeneutik aus Schleiermachers kulturphilosophischem Kirchenbegriff herauszulesen (III).
I. Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund der Verbindung von Kirche und Theologie Dass sich überhaupt der Theologiebegriff über den der Kirche und nicht über den des individuellen Glaubens bzw. über den Religionsbegriff organisiert, ist nicht spezifisch für Schleiermacher. Es ist dieser Bezug vielmehr überhaupt im 17. und 18. Jahrhundert ein Durchgangspunkt der Modernisierung der Theologie, weil sie sich mittels des Kirchenbegriff von einem alten, Theologie und Glaube über die Vorstellung einer Wissenschaft vom Inhalt des Glaubens, einer Systematisierung der in der Bibel gegebenen und auch für den einfachen Glauben maßgeblichen Offenbarungsgehalte vermischenden Verständnis ablöst. Verschiedene Aspekte dieser Ablösung sollen genannt werden. Denn bereits in der theologischen Tradition ist der Theologiebegriff mehrdeutig. Auf diese Elemente der Ausdifferenzierung des Theologiebegriffs in der protestantischen Tradition bezieht sich Schleiermacher mit seinem enzyklopädischen Programm. Ausgangspunkt ist die altkirchliche und mittelalterliche Bindung der Theologie an den Gottesglauben selbst, die in der altprotestantischen Bearbeitung des Theologiebegriffs zunächst übernommen wird. In allem Glauben teilt Gott dem Menschen durch Offenbarung sein eigenes Wissen von sich selbst mit. Glaube ist selbst bereits Theo–Logie, insofern Glaube als Wissen, als Erkenntnis Gottes verstanden ist.10 Zwischen Glaube und Theologie wird so nicht prinzipiell unter-
historische Theologie zum eigentlichen Körper: In ihr wird der Ort der Kirche in der Geschichte (ursprungs–, verlaufs– und gegenwartsbezogen) analysiert. 9 Hinzuzuziehen ist außer den beiden Auflagen der Kurzen Darstellung die Vorlesungsnachschrift von David Friedrich Strauß aus dem Wintersemester 1831. Auf die Edition dieser Nachschrift stützt sich die Untersuchung von Martin Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, Berlin u.a. 1994. 10 Vgl. David Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707; Neudruck Darmstadt (WBG) 1971. Teil I, 3ff. Zitiert nach Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, Berlin/Leipzig 1951, 302. Zu den Zusammenhängen dieses Theologieverständnisses
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schieden. Beides sind abgestufte Weisen eines menschlichen, abgeleiteten Wissens von Gott. Und zwar abgeleitet von jenem einen wahren urbildlichen Wissen, welches Gott von sich selbst besitzt. Dieses urbildliche Wissen wird übertragen auf andere Geistwesen, wobei diese Übertragung auf zwei Weisen geschieht und so eine doppelte Form von abbildlicher Theologie ergibt. In Engeln und Seligen realisiert sich Gottes Wissen von sich selbst auf unmittelbare und vollkommene Weise. Doch im geschichtlich lebenden Mensch geschieht dies prinzipiell nur vermittelt und unvollkommen. Diese Unvollkommenheit bestimmt also die menschliche Gotteserkenntnis auf Erden, sie kann auch durch die wissenschaftliche Arbeit der Theologie niemals ganz überwunden werden. Zugleich wird in diesem Verständnis darauf hingewiesen, dass dieses defizitäre irdische Wissen auch als Vorstufe der wahren Gotteserkenntnis gelten muß. Dadurch ergibt sich die – wenn hier auch ausschließlich eschatologisch gemeinte – gedachte Möglichkeit einer Überwindung der unvollkommenen religiösen Erkenntnis des Menschen. Die menschliche Theologie muß sich noch entwickeln hin zur Übereinstimmung mit der wahren, unmittelbaren und vollkommenen Erkenntnis Gottes. I.1.
Theologie als Profession in der Kirche
Trotz dieser engen Bindung der Theologie an den Glauben ist im reformatorischen Sinn immer auch auf die Eigenständigkeit des schlichten Glaubens und seine Suffizienz zur Heilsvermittlung hingewiesen worden. Dem gegenüber steht dann eine Professionalisierung des eigentlichen Theologiebegriffs. In diesem Sinn hat die Theologie kirchlich–soziologisch–apologetischen Charakter. Denn es kann unterschieden werden zwischen einfachem Glauben und wissenschaftlicher Theologie. Zur individuellen Erlangung des Heils reicht der einfache Glaube völlig aus, er braucht keine wissenschaftliche Theologie. Das eigentliche theologische Wissen dagegen zeichnet sich durch zwei Komponenten aus: Zunächst ist es eine Steigerung des im Glauben selbst angelegten Wissens. Es ist nicht von einer anderen Art, sondern eine größere Quantität des gleichen Wissens. Diese quantitative Steigerung macht die genaue Unterscheidung von wirklich heilsnotwendigem und nicht heilsentscheidendem Wissen undeutlich. Zugleich kann man sagen, dass dieses gesteigerte Wissen für diejenigen notwendig ist, die sich professionell mit der Lehre des Glaubens nach außen und nach innen beschäftigen. Theologie wird so zum Berufswissen für diejenigen, die entweder Glauben zu (immer größerem) Wissen verhelfen (also den Pädagogen in der mit dem Platonismus und der mittelalterlichen Offenbarungslehre vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 1, 1988, 11–18.
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Kirche), oder aber den Glauben gegenüber philosophischen oder fremdkonfessionellen Angriffen verteidigen.11 I.2.
Theologie als Wissenschaft in der Kirche
Eine Unterscheidung innerhalb der Professionalisierung vollzieht sich da, wo das Wissen, das die wissenschaftliche Theologie behandelt, als von einer anderen Art als das im Glauben implizierte Wissen verstanden wird.12 Dafür steht die Theologie des Helmstedters Georg Calixt. So lässt sich eine differente Notwendigkeitsbehauptung für die Theologie entwickeln. Individueller (Heils)Glaube als personale Gewissheit und allgemein geltendes, historisch vermitteltes Wissen über Gott haben unabhängig voneinander Bestand. Heil und theologische Erkenntnis sind je für sich möglich, ohne eine interne Ableitungs– oder Begründungsbeziehung. Denn die Gotteserkenntnis wird ja allgemein vorausgesetzt, 11 Vgl. entsprechend den Einwand von Christoph Markschies, Wissenschaft und Gesellschaft. Schleiermachers Universitätsprogramm kontextualisiert, in: Wilhelm Gräb / Notger Slenzka (Hgg.), Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011, 51–70, 69: „Erstens darf man die Originalität des Schleiermacher’schen Konzeptes … auch nicht überschätzen, vor allem im Blick auf seine enge Koppelung der Universitätstheologie mit der Berufsausbildung – diese Orientierung steht in einer Tradition, die wir uns am Beispiel Melanchthons deutlich gemacht haben.“ 12 Johannes Wallmann, Zwischen Reformation und Humanismus. Eigenarten und Wirkungen Helmstedter Theologie unter besonderer Berücksichtigung Georg Calixts, in: ders. Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 61–86 (urspr. ZThK 1977) bes. 72–73: Calixt wird hier bewertet als singuläre Position, indem er Glaube und Theologie wissensbezogen unterscheidet. Darin sei er höchstens als Vorläufer Schleiermachers zu sehen. Aber Wallmann bleibt hinsichtlich einer historischen Behauptung der Abhängigkeit vorsichtig, weil es einen Traditionsabbruch zwischen Calixt und Semler gebe, und nur der letztere für Schleiermacher entscheidend sei. Calixt fällt damit aus historisch begründbaren Rezeptionszusammenhängen heraus. Nicht nur die alte Vorstellung der Übereinstimmung von Glaube und Theologie, sondern auch die aufklärerische Vorstellung einer rationalen Vernunftreligion, die in Theologie ein– und übergeht, habe gegen die Semlersche Differenzierung von Theologie und Glaube gestanden. Wallmann muß deshalb Semler theologisch gegen seinen Lehrer Baumgarten als innovativ und neu absetzen. (Vgl. S. 77.) Vgl. dagegen die (ältere) Forschung, z.B. Leopold Zscharnack, Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rationalismus und der kritischen Theologie, Giessen 1905, 282: „Er war im Grunde nicht hinausgeschritten über seinen Lehrer Baumgarten, bei dem er … dieselbe Trennung von Theologie und Religion entdeckte, und der innerhalb des Systems Fundamentalartikel ersten und zweiten Ranges … kannte. Es war das im wesentlichen dasselbe, was Semler meinte.“
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weil Gott im Wissen (wahrhaft und allgemeingültig) erkannt werden kann. Nur für das Heilserleben des einzelnen sündigen Menschen ist daneben Sündenvergebung und Heilszusage möglich und notwendig. Wissensbezogen, aber qualitativ und nicht bloß quantitativ, wird zwischen Glauben und Theologie unterschieden.13 Glaube als Wissen ist etwas anderes als Glauben als Heilszueignung. Dabei kann bei Calixt die Grundlage dieses allgemeingeltenden Wissens noch nicht exakt zugewiesen werden: Seine Allgemeingeltung könnte sowohl Resultat einer vernünftigen Erkenntnis, aber auch einer gesellschaftlichen Geltung in der Kirche, aber auch einer historischen Tradierung im Kontext des Christentums, schließlich auch der kommunikativen Vermittlung in der Gemeinde sein. Es geht um den gegebenen Bestand des christlichen Glaubens in seiner ganzen historisch–soziologischen Gestalt als Lehre der Kirche. Glaube als Wissen kann in der Pädagogik der Kirche erworben werden, so ist er immer (auch) historisch vermittelt. Zwar zielt für den Menschen dieses Erwerben durchweg auf die (durch den Geist geschehende) Eingießung des Heilsglaubens. Aber die Aneignung des Wissens und seine Vermehrung kann prinzipiell von diesem Ziel unabhängig geschehen. Dies bedeutet für die Theologie als Wissenschaft, dass sie (als Wissenschaft) allein aufbaut auf dem vermittelten Wissen und davon lebt, dieses systematisch zu präzisieren. Die Kirche ist die Institution, innerhalb derer das grundlegende Wissen über Gott allgemein pädagogisch vermittelt wird. Die theologische Wissenschaft ist eine systematische Weiterentwicklung dieser äußeren Mitteilung.14 Dies kann auf der Ebene der christlichen 13 „Im strengen und eigentlichen Sinn geht daher allein diejenige Lehre unter dem Namen der Theologie, welche erklärt, beweist und verteidigt (explicat, probat et defendit). Die ist nicht Sache jedes Gläubigen, und hat sie auch nicht jeder nötig. [...] Daraus ist offenkundig der Unterschied zwischen der Fertigkeit (habitus) des Glaubens, des erworbenen wie des eingegossenen, und der Fertigkeit der Theologie im strengen Sinne. Diese ist [...] den Lehrern eigentümlich [...]“ (Georg Calixt, Apparatus theologicus (1628), zit. nach Emanuel Hirsch, Hilfsbuch [ wie Anm. 10 ], 301). 14 Johannes Wallmann hat dagegen den Unterschied betont. Er sieht durch Calixts Theologiebegriff einen entscheidenden Unterschied auch zwischen wissenschaftlicher Theologie und Kirche aufgebaut. Vgl. dazu ders., Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen 1961: Calixt etabliere eine ‚grundsätzliche Artverschiedenheit’ (107) von Glaubenswissen und Theologie, einen ganz anderer Umgang mit den gleichen Wissensgehalten. Deshalb gebe es auch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Theologie und Verkündigung: Die letztere bringt Menschen zum christlichen Glauben ohne zu erklären, Theologie hingegen erklärt Glauben für solche, die schon Christen sind. Wallmann sieht das als Vorläufer von Schleiermachers Unterscheidung des Theologen im engeren Sinn und Kirchenregiment bzw. Kleriker: „Calixt läßt aber die Theologie nicht durch die Bezogenheit auf die Verkündigung, sondern auf die weitere Aufgabe des ‚praestare in ecclesia’ konstitutiert sein. Damit aber ist der orthodoxe Begriff der
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bzw. kirchlichen Volkspädagogik ohne größeren Aufwand erfolgen, während die Universität zur größtmöglichen wissenschaftlichen Absicherung fortschreitet. In der Bindung an die allgemein–rationale Gotteserkenntnis, an die pädagogische Weitergabe eines als allgemeingeltend anerkannten Wissens und der entsprechenden Abgrenzung zu anderem Wissen ist die Theologie die Berufswissenschaft der kirchlichen Lehrer. I.3.
Theologie als religionspraktisches Identitätsbewusstsein der Kirche
Im Übergang zur Aufklärung kommt es zu einer weiteren Ausdifferenzierung. Es wird die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens und Denkens erkannt und auf die Unterscheidung von Glauben und Religion angewendet.15 Damit entsteht die Möglichkeit, auf dem Gebiet der Religion die symbolisch– erkenntnisbezogenen Bestandteile des Glaubens je als verschiedene geschichtliche Ausdrucksgestalten zu sehen. Lorenz von Mosheim, bei dem diese Unterscheidung von Religion und Glaube auftaucht, hat sie folgendermaßen gerechtfertigt. Glaube selbst benötigt nur rudimentäres und anfangshaftes Wissen. An dieses rudimentäre Wissen kann einerseits die Theologie anknüpfen, indem sie es begründend und ableitend zu einem Ganzen der Erkenntnis erweitert. So wird der Glaube erst in der Theologie kunstfertig und vollständig. Damit nimmt Mosheim die Calixtsche Unterscheidung auf und verschärft die Anforderungen an die Rationalität und Wahrheit des theologischen Wissens. Doch daneben steht eine ganz andere Entwicklung, mit der aus dem Glauben Religion entsteht. So ist der Glaube als unmittelbares, unreflektiertes Wissen einfacher Glaubenswahrheiten die Ermöglichungsbedingung für die Religion als praktische Verehrung Gottes. Denn Religion „bezeichnet Gestalt und Art der Verehrung Gottes“16. Religion ist ein praktischer Kulturfaktor, sie prägt sich aus im Kult, in reTheologie als einer Glaubenswissenschaft durchbrochen und faktisch bereits der Grundgedanken des Schleiermacherschen Theologiebegriffs der Kurzen Darstellung vorweggenommen. Schleiermacher hat mit seiner Behauptung einen direkten Vorgänger in Calixt.“ (aaO. 147). 15 Dahinter steht die Debatte über die Assimilation Jesu an das Wissen seiner Zeit. Zunächst im Kontext der naturwissenschaftlichen Neuentdeckungen wichtig, wird die Assimilation von Spinoza auf die Glaubensvorstellungen selbst übertragen. Damit wird die historische Doppellektüre der Glaubenswahrheiten der Bibel möglich, die von Schleiermacher in eine allgemeine Hermeneutik überführt wird. Vgl. Lutz Danneberg, Schleiermacher und das Ende des Akkomodationsgedankens in der hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ulrich Barth / Claus–Dieter Osthövener (Hg.), 200 Jahre ‚Reden über die Religion’, Berlin u.a. 2000, 194–246. 16 Lorenz von Mosheim, Elementa theologiae dogmaticae, Nürnberg 1758, zit. nach der Übersetzung von Emanuel Hirsch, Die Umformung des christlichen Denkens in der Neu-
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ligiösem Verhalten, in religiöser Moral. Verschiedene Religionen können sich so je auf ihre fundamentalen Glaubenswahrheiten beziehen. Die Theologie ist in der Mosheimschen Lesart also von der Religion selbst prinzipiell geschieden, die alte Unterscheidung von fundamentalen und nichtfundamentalen Artikeln bekommt hier einen neuen, modernen religionstheoretischen Unterbau. Denn die personale Gewissheit wird nicht mehr gleichsam als ein internes Moment der Gotteserkenntnis verstanden, sondern als ein eigenes, das Wissen des Glaubens teilhaft in sich integrierendes Seligkeitsbewußtsein. Es geht damit in der Theologie nicht mehr um ein wahres Wissen, dass zudem noch je individuell angeeignet werden muß. Sondern es geht um die (Selbst)Beschreibung individueller Gewissheit, die notwendig auch auf symbolisch verwendete Wissensbestände zurückgreifen muß. Auch wenn Mosheim selbstverständlich eine bestimmte Art der Gottesverehrung für vernünftig und angemessen hält, wird damit unter der Hand der apologetische Kirchen– und Theologiebegriff historisiert. Denn als in der Geschichte veränderliche Art des Ausdrucks und der Gestaltung des Glaubens wird hier erstmals die Religion von der Gotteserkenntnis unterschieden, auch wenn diese vorausgesetzt bleibt.17 Zwar nimmt Mosheim in der genauen Bestimmung der Aufgabe der Theologie die alten Bestimmungen wieder auf. Die wissenschaftliche Ausarbeitung der bereits im rohen Glauben gegebenen Gehalte in der kirchlichen Theologie hat den bereits bekannten doppelten Zweck, einerseits die innerkirchliche Identitätsstiftung und –weitergabe, andererseits die Apologetik und Polemik nach außen. Doch neben der Aufnahme der alten Differenzierungen ist die Verhältnisbestimmung von Glauben, Wissen und Theologie komplizierter geworden. Denn es lässt sich denken, dass sich die Verteidigung des christlichen Wissens auf eine bestimmte Gestaltung der Religion in der Geschichte bezieht. Die theologische Wissenschaft betreibt nicht mehr (nur) ein ewiges Wissen zur Widerlegung menschlicher Irrtümer. Sie ist vielmehr zunächst an das Christentum als eine notwendig besondere Religion in der Geschichte gebunden. Auch wenn dieses Christentum bei Mosheim zweifellos noch als wahre Religion vorgestellt wird, wird eine Entwicklung deutlich, in der über den Religionsbegriff das Christen-
zeit. Ein Lesebuch (1938), Tübingen 1985, 8. Obwohl Mosheim die inhaltlichen Bestimmungen Calixts zu einem apologetischen Theologiebegriff präzise aufnimmt (vgl. das Zitat oben Anm. 13, bei Mosheim s. Hirsch 8), hat Hirsch ihn doch den aufklärerischen Weiterentwicklern der Theologie zugerechnet. Vgl. dazu Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 2, 354–370. 17 „Mithin ist die Religion Frucht des Glaubens und der Theologie und verhält sich zur Theologie so, wie sich Schlüsse zu ihrem Prinzip verhalten.“ Ebd.
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tum als eine besondere positive, historisch–kulturell sich abgrenzende Gestalt der Religion neben anderen verstanden werden kann. I.4.
Theologie als historische Kritik an der kirchlichen Lehre
Semler hat die Unterscheidung Mosheims von Religion als geschichtlich– sozialer Praxis und individuellem Heilsglauben aufgenommen. Er hat sie dadurch verschärft, dass er beiden Bereichen eine eigene Form der Theologie zuschreibt. Und er hat diese beiden Formen der Theologie kritisch im Sinne der Aufklärung mithilfe der Wahrheitsfrage beurteilt. Im individuellen Heilsglauben ist eine wahrheitsgebundene Theologie mit angelegt. In der religiösen Praxis hingegen ist die dazugehörige Theologie durch die historischen Umstände als partikular und kontingent erkennbar. Die Identität des Heilsglaubens, also der Privatreligion, ist durch die allgemeine Wahrheit der moralreligiösen Gehalte gegeben, diese Identität ist unhistorisch und allgemeingültig. Aber die Identität der gesellschaftlichen Religionspraxis ist an die historische Gestalt der bestimmten Religion gebunden.18 Religiöse Praxis ist ein von der Gesellschaft und der Obrigkeit dominierter Bereich festgelegter Kommunikation, sie ist Teil der historischen Umstände des Lebens. Die Theologie im Kontext der Privatreligion ist vernunftbestimmt, dagegen die Theologie als Bestandteil der öffentlichen Religion dient der Identitätsbestimmung der jeweiligen Kirche, sie ist historisch und kontingent, sie könnte im Zuge der aufgeklärten Religionskritik auch durch Priesterbetrug zustandegekommen sein. Infolgedessen ist der historische Ursprung des Christentums wichtig. Denn hier stoßen für Semler beide Religionsarten aufeinander. Dadurch wird die Bedeutung der Historie in Semlers Theorie undeutlich, weil er die historische Forschung selbst zur kritischen Unterscheidung von Wahrheit und gesellschaftlicher Konvention bzw. (bloß) historischer Praxis benutzt. In der Entwicklung des Christentums bei Jesus und im Urchristentum ist die Differenz von wahrer Privatreligion und gemeinschaftlich–historischer, funktionaler Religion selbst ablesbar. Die Unterscheidung von Religion und Theologie resultiert aus der
18 Die doppelte Form der Theologie hat besonders betont Reinhold Rieger, „Privattheologie“ – ein widersprüchlicher Begriff Johann Salomo Semlers?, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119, 2008, 358–379. Er hat in seiner Deutung insbesondere auf die institutionelle Gestalt der öffentlichen Religion hingewiesen: Der von Semler gemeinte Gegensatz laute nicht so sehr individuell gegen allgemein, sondern freie Ausdruckssprache individueller Evidenz gegen institutionell–historisch festgelegte Ausdruckssprache der Identität der Kirche (vgl. 369).
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Akkomodationsleistung Jesu.19 Diese prägt jede historische Gestalt des Christentums von Anfang an. Nur der Kern der Lehre Jesu ist moralisch und wahrhaftig, deshalb vom Heiligen Geist eingegeben. Jede historische Ausdrucksgestalt dieses Glaubens ist geschichtlich geprägt und an die Tradition der Lehre gebunden. Damit wandert die Differenz von Religion und Glaube in das Christentum selbst ein, es hat einen wahren Kern und eine falsche geschichtliche Hülle. Damit kann die strukturelle Ausdifferenzierung Übergewicht über die Frage gewinnen, ob das Christentum die wahre Religion ist. Denn es gibt grundsätzlich zwei Theologien, die gegeneinander stehen. Neu ist die Zuordnung der wahren Theologie. Die Allgemeingültigkeit der wahren Theologie wird an den individuellen Glauben gebunden. Es handelt sich nicht bloß um eine individuelle Heilsgewissheit, sondern diese wird über die Idee der moralischen Religion selbst theoretisch wahrheitsfähig. Dadurch ist die Theologie der Privatreligion zugeordnet und doch zugleich wahr. Denn sie ist Ausdruck der wahren individuell am Heilsglauben orientierten Religion, sie ist moralisch–vernünftig, umfasst die ursprüngliche Offenbarung der Bibel und gebührt dem „denkende[n] Privatchristen“20. Die Theologie der kirchlichen Wissenschaftler, Lehrer und Apologeten hingegen ist an die historische Identität des Christentums (an die Mosheimsche Religionspraxis) gebunden und dadurch nicht strikt allgemeingültig. Die Religion als individuelle, moralische Gewissheit integriert die vernünftige Theologie (die für Semler selbst von einem christologischen Offenbarungsgeschehen abhängt), während ihr eine öffentliche, kirchlich bestimmte und geschichtlich gebundene Religion gegenübersteht, in der die Theologie identitätsstiftend ist, aber nur überkommene, tradierte, für Semler äußerliche Glaubenssymbole verteidigt. Die traditionelle Theologie des Christentums ist also eine zunehmende Dogmatisierung weiterentwickelter religiöser Vorstellungskomplexe. Die Kritik an dieser Theologie, die den Inhalten der moralischen Vernunftreligion nicht entspricht (Trinität, Sündenfall, Stellvertretung) löst die alte Stufung von inhaltlich rohem (Heils–)Glauben und wissenschaftlicher Form auf und führt zu einer neuen Zuordnung. In dieser dient die traditionelle Theologie allein der gegenwärtigen Öffentlichkeit der Religion, sprich der Kirche als einer ge19 Vgl. Hartmut H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums: Ein Beitrag zur Erforschung der Theologie Semlers, Würzburg 1988. Schulz zeigt ähnlich wie Wallmann auf, wie Semler die Unterscheidung von Religion und Theologie aus der Akkomodation Jesu entwickelt (93–98, vgl. auch 87) und damit die damals übliche kirchenhistorische These einer besseren oder idealen Ursprungsgestalt des Christentums ablehnt. 20 Johann Salomo Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater, Leipzig 1787, zit. nach E.Hirsch, Umformung S.23.
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sellschaftlichen Einrichtung des aufgeklärten Staates. Damit entsteht die Zuordnung der Theologie als einer traditionsgebundenen Wissenschaft zum Kirchenbegriff als einer bestimmten öffentlichen Religionskultur. Theologischer Lehrbegriff und Symbole dienen nur zur Gründung und Identität besonderer einzelner, zeitlich und räumlich separierter Kirchen bzw. auch hier nur ihrer äußerlichen Verfassung. Sie entstehen als historische Gebilde durch die Einwilligung der (jeweiligen) Mitglieder in die Bestimmtheit der Gehalte, nicht in ihre Wahrheit. Die „äußerliche Religionsübung beziehet sich stets auf eine öffentliche versammlete Menge, die in einer einzelnen Zeit und an Einem Orte jetzt zusammenkommt“21. Damit wird Mosheims Vorstellung der Religion als geschichtlicher Praxis radikalisiert. Semler verbindet die Öffentlichkeit und Kirche mit der strikten Zeit– und Ortsgebundenheit des Kirchenglaubens. Dagegen stellt er die Privatreligion als dieselbe zu aller Zeit, normlos, unentlastbar, christlich– universal und aber zugleich individuell entwickelbar hin zur Realisierung der vernünftigen Moralreligion.22 Semler hat die Differenz zwischen der Privatreligion und der öffentlichen Religion für das Christentum historisch–genetisch versucht zu erklären. Er zeigt, wie es im Christentum zur Kirche, zum Kanon und zur Verwendung kirchlicher Symbole und Lehrbestände gekommen ist. Christus und Apostel haben keine Glaubensnorm (Symbol) aufgestellt, sondern Glaubensaussprüche nur verwendet, um jeden Menschen auf seiner Stufe der (religiös–moralischen) Entwicklung abzuholen und weiterzubringen. Erst bei wachsenden Zahlen, wenn eine individuelle Ansprache nicht mehr möglich ist, kommt es zu einer allgemeineren öffentlichen Erklärung des Glaubens als eines Erkenntnissymbols der vielen, sich nicht persönlich kennenden Christen. In diesem Moment trennen sich Kleriker und bloße Gemeindeglieder, es entsteht eine Überlieferung der Identitätsformeln und damit zugleich ein Kirchenregiment, dass dazu dient, die einmal ausgegebenen Symbole an die nächste Generation der Kleriker weiterzugeben. Hier hat Schleiermacher angeknüpft mit seinem Verständnis einer historischen Religionsgemeinschaft, seiner Differenz von unmittelbarer religiöser (z.B. fami-
21 Semler, aaO. (Hirsch aaO.), 25. Vgl. Fr. Schleiermacher, Der christliche Glaube 1821– 22, § 1: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden Lehre.“ (Studienausgabe 1984, 9). Schleiermacher nimmt also Semlers Historisierung auf, teilt aber gerade nicht seine Einschätzung, dass es sich dabei nur um die ‚äußerliche’ Religionsübung handelt. 22 Vgl. zu den Aspekten der Differenz von Religion und Theologie bes. Gottfried Hornig, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen, Tübingen 1996, 160–179, sowie 180–209.
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liärer) Kommunikation und öffentlicher Kirche sowie seiner Bindung des Unterschieds von Leitung und Mitglied an die zahlenmäßige Entwicklung der Kirche. Aus Semlers Entstehungstheorie für die Glaubensnormen folgt: Die wahren Glaubenden benutzen die Identitätssymbole des Christentums nur als äußerliche Verständigungsform. So werden bereits bei Jesus und in der Urgemeinde die „alten historischen Redensarten nur als Hülle und Gemälde angesehen, worunter die moralischen Christen lauter allgemeine Wahrheiten selbst fanden und zu ihrer jetzigen inneren moralischen Wohlfahrt immer mehr anwendeten.“23
Die Kommunikation der moralischen Christen auch innerhalb der feststehenden Symbolik der Kirche steht deshalb unter zwei Gesichtspunkten, einmal dem Wissen um die Unzulänglichkeit der historischen Lesart der Symbole und Dogmen, dann aber unter dem der Beförderung des jetzigen Zustands. Die Perfektibilität der Religion wird bei Semler so zu einer praktischen Anforderung an die Gegenwart, sowohl die inhaltlich–gegenständliche Tradition zu kritisieren, dann den jetzigen moralisch–religiösen Entwicklungsstandpunkt aufzufinden, als auch ihm eine (privatreligiöse) Norm zielorientierend einzupflanzen. Allerdings ist die Kirche als öffentlich–staatliche Anstalt an diesem Prozeß nicht beteiligt.24 I.5.
Theologie als geschichtsphilosophische Konstruktion des Ziels der Kirche
Wie schwierig es unter dem Rationalitätsverständnis der Aufklärung ist, der historisch gegebenen Kirche einen Sinn abzugewinnen, zeigt der Umgang Lessings mit den verschiedenen Religionen.25 Lessing bietet mit seiner entwicklungsge23 Semler, aaO. (Hirsch aaO.), 26. 24 Vgl. Martin Laube, Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion bei Johann Salomo Semler. Zur neuzeittheoretischen Relevanz einer christentumstheoretischen Reflexionsfigur, in: Zeitschrift für Theologiegeschichte 11 (2004), S. 1–23. Hinsichtlich der Semlerexegese beschreibt auch Martin Laube die Trennung von öffentlicher und privater Religion (15), um ihr dann eine neuzeittheoretische, reflexive Wendung zu geben – dies allerdings auf Kosten der Einheitlichkeit des Theologiebegriffs selbst: er müßte dann hinsichtlich der Privatreligion als reflexive Darstellung, hinsichtlich der Kirche als kommunikative Mitteilung von Lehre verstanden werden (vgl. 19). 25 Vgl. Karl–Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998; Rudolf Laufen, Gotthold Ephraim Lessings Religionstheologie: Eine bleibende Herausforderung, in: Diözese 55, 2003, 49–59. Im Streit zwischen Kuschel und Laufen, ob die Menschheitsreligion eine Stufe innerhalb der einzelnen Religionen darstellt oder eine Überwindung aller positiven Religionen, ist eine vermittelnde Lösung anzunehmen. Lessing hielt (wie das Christentum, so auch) die positiven Religionen für so interpretierbar, dass sie in sich auf die Vernunftreligion hin durchsichtig werden können. Als historisches Gebilde wird auch die Vernunftreligion mit
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schichtlichen Einordnung einen Gegenentwurf zu Semler. Hegel hat sich Lessing angeschlossen, während Schleiermacher dagegen Semler folgt. In seiner ‚Erziehung des Menschengeschlechts’ hat Lessing versucht, der Semlerschen Lesart der Kirche, der reinen Kontingenz ihrer äußerlichen Identität und der Forderung zu ihrer enthistorisierenden Durchsichtigmachung auf die moralische Religion hin eine bewusst positive Deutung der Religionsgeschichte entgegegenzusetzen. Die äußerliche, öffentliche, kirchliche Religion und ihre Theologie sind auch inhaltlich zum Ziel der Durchsetzung der wahren Religion hingeordnet und insofern notwendig. Zusammengefaßt wird dies bereits als neue Idee der Auslegung der Religionsgeschichte in der Vorrede: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können und noch ferner entwickeln soll“?
Der Satz versucht gegen Semlers Festlegung der Religionen auf ihre gesellschaftliche Funktion und äußere Identität auch den positiven Religionen einen wahrheitsbezogenen Sinn abzugewinnen. Er wendet sich damit kritisch gegen die Semlersche Tendenz, die äußere Religion sich selbst (bzw. der staatlichen Obrigkeit) zu überlassen. Lessing ist der Meinung, dass auch die öffentliche Religion kritisch reformierbar sein soll. Dies wird ihm zum Anstoßpunkt für die Demokratisierung und Aufklärung der gesamten Gesellschaft. Daß Offenbarung Erziehung des Menschengeschlechts sei, wird also als Lösung der aufklärerischen Schwierigkeit mit den unvernünftigen Religionsgehalten gesehen. Nicht nur der einzelne entwickelt seine moralische Religion, sondern auch die geschichtliche Menschheit als ganze. Die festgeschriebene Identität und Verschiedenheit der Kirchen, die bei Semler daraus resultiert, dass sich ihre Mitglieder auf bestimmte Symbole kontingent einigen, wird in eine weltgeschichtliche Realisierungsfunktion der Religionen zur Beförderung des Vernunftglaubens überführt. Sie erfüllen in ihrer Abfolge eine notwendig einzuhaltende Ordnung der Erziehung, die jeder Religion einen sinnvollen Ort in der Geschichte zuweist. Der Zusammenhang besteht in der Notwendigkeit einer geschichtlichen Entwicklung. Denn nur in einer solchen geschichtlichen Entwicklung kommt das Menschengeschlecht zu dem ihm bestimmten Ziel. Die Entwicklung der Religi-
den Entwicklungsgestalten in der Geschichte zusammenhängen. Lessings Interpretation der Religionsgeschichte in der „Erziehung des Menschengeschlechts“ zeigt auf, wie sich Lessing den Umgang mit den ‚positiven’ Offenbarungsgehalten (z.B. der Christologie) vorstellt. Auf die entstehende Aporie im Umgang mit der jeweiligen bestimmten Religion weist bereits hin: Georges Pons, Lessings Auseinandersetzung mit der Apologetik, in: ZThK 77, 1980, 381–411, bes. 397.
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onen und Kirchentümer ist auf dieses Ziel der Vervollkommnung der Menschheit, der Bewusstwerdung ihrer Bestimmung hin angelegt. Die Schwierigkeit einer solchen Deutung besteht, wie der Text der ‚Erziehung des Menschengeschlechts’ zeigt, in einem Doppelten. Zunächst muß Lessing selbst die Abfolge und die Entwicklung der Religionen als Ausfluß der Vorsehung Gottes deuten. In den Religionen selbst wird ihre vernünftige Ausrichtung nicht durchsichtig bzw. erst dann, wenn die historische Identität der jeweiligen Religion schon keine große Rolle mehr spielt. Das zeigt sich zweitens daran, dass die einzelnen Inhalte der Religion einer ziemlich gewaltsamen Uminterpretation in Richtung auf das moralische Endziel der Entwicklung unterworfen werden müssen, wie es Lessing an den trinitarischen, christologischen und sündentheologischen Bestandteilen der altkirchlichen Lehre unternimmt. Bei Lessing werden also der historische Identitätsaspekt der auf die Religionskultur und die bestimmte Kirche bezogenen Theologie und der wahrheitsbezogene Aspekt der vernünftigen, menschheitlichen Entwicklung nicht ausgeglichen. Innerhalb der Religionen selbst kann es kein Bewusstsein für die Entwicklung hin zur Wahrheit geben. Dies entwickelt erst der aufgeklärte Religionsphilosoph, der die Religionen von außen ordnet. Genau diese Schwierigkeit wird Kant mit seinem doppelten Theologieverständnis aufzufangen versuchen. I.6.
Theologie als pädagogische Arbeit am Wesen der Kirche
Kant hat die durch die Entwicklung von Mosheim zu Semler, aber auch durch den Gegensatz von Semler und Lessing erreichte Ausdifferenzierung der Theologie in die Grundlagen seiner Religionsphilosophie aufgenommen. Es gibt eine Theologie, die gemäß der Semlerschen Idee für die historische Identität des Christentums einsteht, diese erforscht und legitimiert. Daneben gibt es eine Theologie, die für die allgemein–moralische Wahrheit des Kirchenglaubens einsteht und diesen versucht, auf diese Wahrheit hin durchsichtig zu machen. Bezüglich der Wahrheitsfrage teilt also Kant nicht Semlers Zuweisung zur Privatreligion, sondern versucht mit Lessing die Wahrheitsfähigkeit auch der Kirche insgesamt festzuhalten.26 Allerdings hat Kant das Programm Lessings gleichsam entmythologisiert: Die Lenkung der Religionsgeschichte ist nicht ein Akt der Vorsehung, sondern selbst historische Aufgabe der Menschen. Alle Formen historischer Kirchenstiftung sind eine durchaus menschlich–weltliche Angelegenheit. Damit kann dann auch der tatsächlichen Identität der Kirchen eine positive Funktion zugeordnet werden. Dafür steht die Idee der 26 Vgl. Peter Henrici, Philosophische Kirchenmodelle der Neuzeit, in: Internationale katholische Zeitschrift "Communio" 39, 2010, 652–664, 659.
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Vehikelfunktion des Kirchenglaubens für die wahre Religion. Die bei Semler in die individuelle Religion verlegte Durchsichtigkeit der religiösen Symbole wird von Kant als Aufgabe auf die ganze Kirche übertragen. Die Kirche als historische Institution dient dazu, die Geschichtlichkeit der Existenz und die moralische Bestimmung des Wesens des Menschen miteinander zu verbinden. Die Umwege und „Seitenschritte“ von Lessings göttlicher Erziehung des Menschengeschlechts werden damit bei Kant in eine innerweltliche Kirchenvervollkommnungsaufforderung überführt. Religion organisiert sich notwendig in Form historisch gebundener Institutionen. Diese sind deshalb weder rein kontingent und unwahrhaftig (wie bei Semler), noch auch durch eine göttliche Einwirkung hin auf das menschheitliche Ziel zu überwinden (wie bei Lessing), sondern sie sind der Ort des Durchsichtigmachens der historischen Religion auf die wahre Vernunftreligion hin. Kant übernimmt die Anlage der Theorie Semlers und knüpft an dessen Nachweis einer historischen Gründung und Identität der Kirchen an. Aber er gesteht der Kirche selbst als geschichtlicher Institution eine vernünftige Wahrheit zu. Er hebt Semlers Gegensatz von Privatreligion und öffentlicher Religion in die Kirche selbst hinein auf. Er verflüssigt den Gegensatz von äußerlicher Kirchenidentität und moralischer Interpretation in eine innere Entwicklungsabfolge. Es ist diese Weiterentwicklung, an die Schleiermachers eigene Aufnahme Semlers anknüpft, wenn er Kirchenleitung in erster Linie als eine Gestaltungsaufgabe begreift – auch wenn er Kants aufklärerische Orientierung an einer wahren Religion aus der Organisation der Theologie eliminiert. Die historische Notwendigkeit der Kirche begründet Kant mit der Verpflichtung der Menschen zu einem „moralischen gemeinen Wesen“, also einer öffentlichen Körperschaft der Realisierung des Guten. Deshalb bedarf es einer „gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form, die an sich zufällig und mannigfaltig ist, mithin ohne göttliche statuarische Gesetze nicht als Pflicht erkannt werden kann.“
Offenbarung als Begründung kirchlicher Gehalte ist also der Ausdruck für die Verbindung von Moral mit Geschichte in Gestalt der unableitbar kontingenten Kirche, der jeder zugehört. Diese Verbindung selbst ist prinzipiell, notwendig und dauerhaft, also nicht bloß ein Entwicklungsschritt. Insofern ist Kants Überführung von Kirche in Reich Gottes keine historische Entwicklung, sondern letztlich eine strukturelle Ausdifferenzierung innerhalb der geschichtlich– moralischen Existenz des Menschen in der Gemeinschaft. Anders gesagt: Die historische Kirche ist immer das notwendige Vehikel zur Erreichung des morali-
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schen Glaubens.27 Damit aber diese strukturelle Funktion, also ihr Vehikeldasein für sie selbst, durchsichtig wird, sind die konkrete geschichtliche Gestalt der Kirche und ihre Gehalte dauerhaft der Verbesserung bedürftig. Die Schriftbindung der (moralisch interpretierbaren) Religion wird in diesem Kontext von Kant gegen die reine Traditionsbindung (wie bei Semler) als Garant für die Geschichtlichkeit der jeweiligen Religion gedeutet. Moralität muß sich historisch– gemeinschaftlich realisieren und an Tradition anknüpfen. Dagegen ist Semlers zeitunabhängige Wahrheit der Privatreligion ein bloßes Konstrukt. Im öffentlichen Kontext, also der geschichtlichen Durchsetzung der Moralreligion, besteht jede bestimmte Religion notwendig aus scheinbar unvernünftigen, weil historisch gebundenen und kontingenten Elementen (die zugleich ihre jeweilige historische und soziologische Identität ausmachen) und aus ihrer Interpretierbarkeit im Sinne der Moralreligion.28 27 Vgl. Martin Leiner, Überwindung und Reform der gegebenen Kirchen. Zu Kants Rede von der Kirche, in: Werner Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 159–190, bes. 174: Zwar wird durch die moralische Überführung die geschichtliche Kirche der unsichtbaren Kirche angenähert, aber wegen der Schwächen des Subjekts muß auch die empirische Kirche bleiben. Udo Kern (Immanuel Kants Ekklesiologie: Kirche als "Freistaat" und "allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung" in der "Liebenswürdigkeit" und "Fröhlichkeit" ihres Stifters, in: Udo Kern (Hg.), Kirche – Amt – Abendmahl. Beiträge aus heutiger lutherischer Sicht, Hamburg 2004, 73–113) stellt fest, dass Kant sowohl vom Aufhören als auch vom Nichtaufhören des Kirchenglaubens spricht (vgl. 90). 28 Daniel Weidner (Kants Säkularisierung der Philosophie, die politische Theologie der bürgerlichen Gesellschaft und die Kritik der Bibel, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 59, 2007, 97–120) hat sich zu Recht gegen die vorschnelle theologische Beanspruchung Kants als eines genuin christlichen Denkers gewehrt und auf die philosophisch–kritischen Elemente der kantischen ‚Religionsphilosophie’ hingewiesen. Insbesondere die Religionsschrift habe durchgehend einen (von den Theologen unterdrückten) ironischen Subtext in der Aufnahme theologischer Sprache. Kant habe sich dem Erlaubten soweit wie nötig angepasst und jeweils die politische Kritik an der christlichen Religion philosophisch bis an den Rand des Möglichen getrieben. Erst in der Schrift über den Streit der Fakultäten habe er rückblickend die wissenschaftstheoretische Ebene gewonnen, von der aus die Überlegenheit der Philosophie völlig deutlich werde. Auch die Differenz von authentischer und doktrinaler Theologie habe ihren Sinn in der inneren Aushöhlung der Theologie durch die Philosophie, zumal die Funktion und jeweilige Bedeutung der Differenz bei Kant durchaus schwankend sei und von Schrift zu Schrift variiere. Zu der von Weidner damit allerdings unterdrückten Verbindung von Religionsdeutung und Geschichtsphilosophie bei Kant vgl. Ulrich Barth, Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori. Ernst Troeltschs Auseinandersetzung mit Kant (1992), in: ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 359–394, bes. 371–382.
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Die Interpretierbarkeit der historisch gegebenen Religion (hier natürlich: des Christentums) bildet entsprechend den Übergang zu Kants Überlegungen zum Wissenschaftscharakter der Theologie. Er unterscheidet entsprechend den beiden Elementen Moral und Geschichte den Schriftausleger und den Schriftgelehrten. Der erste bietet gemäß der aufgeklärten Tradition eine freie Interpretation der Religionsurkunden im Sinne der moralischen Religion. Wortlaut, Autorintention oder historischer Kontext sind hier prinzipiell weniger wichtig als die „Endabsicht, bessere Menschen zu machen“29. Der zweite hingegen, also der exegetische Theologe, interpretiert die Urkunde im historisch–soziologischen Kontext als Identitätsstiftungsdokument für seine eigene gegenwärtige Kirche. Dies braucht nämlich das Volk, um eine Kirche zu werden, also den innerkirchlichen Reformprozeß der historischen Religion in die moralische, zugleich aber in diesem Werden selbst historische Religion zu überführen. Der Schriftausleger ist „allein authentisch und für alle Welt gültig, der zweite aber (sc. der Schriftgelehrte) [ist] nur doktrinal, um den Kirchenglauben für ein gewisses Volk zu einer gewissen Zeit in ein bestimmtes sich beständig erhaltendes System zu verwandeln“30.
Diese Selbsterhaltung des Systems, also des Kirchenglaubens, ist notwendig, um für das Volk an seinem jeweiligen historischen Ort einen Anknüpfungspunkt seiner moralischen Besserung herzustellen. Das bedeutet aber, nimmt man den historisch–moralischen Doppelcharakter des praktisch–vernünftig begründeten Gemeinwesens Kirche ernst, dass beide Formen von Theologie notwendig zusammengehören, um einerseits die Anbindung an die Zeit, andererseits die normative Moralität zu gewährleisten. Damit ist dann bereits in Kants Kirchen– und Theologieverständnis die Doppelfunktion der Theologie angelegt, die Schleiermacher in seinem Wesensbegriff aufgehoben hat. Das heißt: Der authentische, also eigentliche, vernünftig auf Gott bezogene Theologe muß die Realisierungsbedingungen der Religion in der Kirche mitbedenken. Und der doktrinale Theologe hätte nicht den Erhaltungsauftrag für eine bestimmte Kirche, wenn ihre Funktion nicht die dauernde Realisierung der moralischen Gemeinschaft in der Welt wäre. Identität, Erhaltung und Entwicklung werden von Kant in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. Auch Schleiermachers Kirchenbegriff knüpft nicht ausschließlich an die Traditionalität und Doktrinalität der bestimmten Kirche an (also an Semler), sondern an die logische Zusammengehörigkeit der religiösen Wesensbestimmung mit der histori29 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793, A 152. 30 Kant, Religion, A 157. Im Erhaltungsbegriff zeigt sich die Kontinuität des Denkens über die Theologie als Funktion der Identitätsstiftung für eine bestimmte, zeitlich und örtlich gebundene historische Kirche zwischen Semler, Kant und Schleiermacher.
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schen Existenzform in Form einer geschichtlichen Entwicklungsabsicht (also an Kants und Lessings Umformung des Semlerschen Programms). Auch Schleiermacher überführt die Identitätsfrage in eine Erhaltungsabsicht und unterstellt diese in einem weitergehenden Schritt einer entwicklungsbezogenen Zielbestimmung. Jedoch denkt Schleiermacher dieses Ziel nicht wie Lessing und Kant (und Hegel) als Realisierung von Wahrheit, sondern als kulturgeschichtliche Durchdringung und Verbreitung der Religion.
II. Kirche und Theologie in Schleiermachers ‚Kurzer Darstellung’ Damit stehen wir an dem Ort, von dem aus Schleiermacher seine neue Konzeption der Theologie als einer auf die Kirche bezogenen Wissenschaft entworfen hat. Berufungen auf sein Programm neigen dazu, ihn von der aufklärerischen Theologie abzusetzen, die Trennung der Religion vom Moraldiskurs, die Bestreitung jeglicher rationaler Vernunftreligion und die geschichtliche Anbindung der Religion zum Begründungsdokument einer idealistisch–romantischen, in der Tendenz historistischen, auf den Positivismus der Moderne bezogenen Christentumstheorie zu machen. Auf dem Hintergrund der aufgezeigten Entwicklung wäre dagegen zu sagen, dass es Schleiermacher mit der Kirchenbindung von vornherein um ein Entwicklungskonzept der Religion geht, das durch nicht bloß identitäts–, sondern auch zielbestimmte Handlungsabsichten gesteuert wird. Handlungen zur Erhaltung der Kirche gelten zugleich der vernünftigen Durchdringung der Gesellschaft mit Religion im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung. Diese Orientierung an einer kulturphilosophischen (ethischen) Entwicklung der Geschichte ist auch mitzulesen, wenn Schleiermacher in der ‚Kurzen Darstellung’ ein Konzept für die Theologie als Wissenschaft der Kirche entwickelt. Genau genommen ist Theologie gar nicht bloß eine Funktion der Kirche, sondern eine Funktion des menschlichen Kulturgeistes, der sich in den verschiedenen Funktionen und Organisationsformen ausprägt und sowohl auf ihre Autonomisierung als auch ihre gegenseitige Durchdringung hinarbeitet. Der kulturphilosophisch angelegte Kirchenbegriff Schleiermachers steht damit für eine Integralfunktion von Kants authentischer und doktrinaler Theologie. Die Institution Kirche ist ein Teil der humanen Gesellschaft und eingebunden in ihre zivilisatorische Entwicklung. Schleiermachers Überlegungen zur Einleitung in die theologische Enzyklopädie sind deutlich dreigeteilt. Zunächst wird die Theologie auf die Kirche bezogen und diese Verbindung näher definiert (§§ 1–8). Der zweite Teil der Einleitung widmet sich dem menschlichen Subjekt, das die Theologie als Wissen-
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schaft betreibt. Hier steht am Beginn die ideale Leitfigur des Kirchenfürsten (§ 9). In diesem Teil nimmt Schleiermacher die Funktion der Enzyklopädie als einer Einführung in das Theologiestudium auf. Es geht um die Frage: Wer sollte Theologie studieren, auf welche persönlichen Anforderungen sollte er sich einstellen. Im dritten Teil der Einleitung wird aus dem Einheitsbegriff die Aufteilung der Theologie in die Philosophische, Historische und Praktische Theologie abgeleitet (1.Aufl. §§ 20ff; 2.Aufl. §§ 18ff.) Studienpraktische Fragen wie Bücherkunde und Literaturrecherchemöglichkeiten, die sonst behandelt werden, scheidet Schleiermacher dabei aus der enzyklopädischen Einführung in die Theologie aus. Im Folgenden geht es ausschließlich um den ersten Teil dieser Einleitung, also um die Anbindung der Theologie an die Kirche. In Bezug auf diese acht Paragraphen wiederum ist eine deutliche Teilung zu erkennen. Die entscheidende These, die allerdings inhaltlich nur die vorherigen Begründungen auf das Christentum anwendet und zusammenfasst, findet sich in § 5. Die restlichen drei Paragraphen (§§ 6–8) klären den näheren inhaltlichen Zusammenhang von Handlungsabsicht und Wissensbestandteilen, also den praktischen Teil der ursprünglichen Definition aus § 1. II.1. Theologie als positive Wissenschaft (§ 1) Im ersten Paragraph der Kurzen Darstellung bezeichnet Schleiermacher die Theologie als eine positive Wissenschaft. Ihr wissenschaftlicher Zusammenhang gründet in der Beziehung auf eine bestimmte Religion. Diese Beziehung wird in § 1 aufgestellt, um andere Formen einer wissenschaftstheoretischen Einordnung der Theologieverständnisse abzuweisen. Vom Begründungs– und Definitionsanspruch her weist der Paragraph systematisch auf den nächsten hin. Denn dort wird grundsätzlich die Entstehung von Theologie in den Religionen historisch hergeleitet und somit ihr Sein als Wissenschaft begründet. Doch welche Abgrenzung ist für den ersten Paragraph entscheidend? Drei Weichenstellungen sind erkennbar. Zunächst: Bei der praktischen Ableitung geht nur um die Einheit der Theologie als Wissenschaft, nicht um die Wissenschaftlichkeit ihrer einzelnen Erkenntnisse. Sodann: Als praxisbezogene Wissenschaft ist die Einheit der Theologie keine theoretische. Und drittens: Der Bezug auf eine bestimmte positiv gegebene Religion schaltet jeden anthropologisch–allgemeinen Religionsbegriff aus der Begründung der Wissenschaftlichkeit der Theologie aus. Auffällig ist, dass einerseits noch nicht der Inhalt der Beziehung der Theologie auf die jeweilige Religion genannt wird, und andererseits auch der Kirchenbegriff, der sich im Folgenden als entscheidend herausstellen wird, noch
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nicht fällt. Da zudem der zweite Paragraph die Entstehung von Kirche und Theologie strikt parallelisiert, wird man den Sinn von § 1 in der rein formalen Zuweisung der Theologie zum Bereich der praktischen Wissenschaften erblicken. Welche praktische Funktion dabei erfüllt wird (nämlich die Erhaltung der Kirche), wird noch nicht genannt. Ohne den Verweis auf § 5, der ja ausdrücklich eine inhaltliche Bestimmung des im ersten Paragraphen Gesagten sein will, sollte man sich nicht auf Schleiermachers Theologiebegriff berufen. In den mündlichen Erläuterungen von 1831 hat Schleiermacher im Kontext der Zuweisung an nichtphilosophische Fakultäten formuliert: „Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines hervorbringen wollen.“ „So bezweckt … die Theologie die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft.“31
Die Einordnung der Theologie in die praktische Wissenschaft erweist sich damit als hochvoraussetzungsreich. Zwar braucht man hier auf religionsphilosophische Begründungsprobleme nicht einzugehen, da der christliche Glaube einfach vorausgesetzt wird. Allerdings taucht dann sofort die Frage auf, warum er erhalten werden soll. Wenn Schleiermacher Religion mit Medizin und Recht parallelisiert, so zeigt sich, dass er von der anthropologischen Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Glaubens ausgeht. Wie das Recht immer historisch–positiv ist und gleichwohl an die notwendige Form menschlichen Zusammenlebens im Staat gebunden, so ist auch das Christentum historisch bestimmt, aber zugleich als Ausdruck der Religion notwendig. In der Vorlesung schlägt Schleiermacher deshalb vor, den Ausdruck Theologie durch kirchliche Wissenschaften zu ersetzen. Für Schleiermacher enthält diese Bezeichnung nichts Partikulares, Sondergruppenspezifisches oder Geheimbündlerisches. Vielmehr denkt er, dass die Kultur einer menschlichen Gesellschaft notwendig eine allgemeine wissenschaftliche Beförderung der Religion braucht, aber dies nur in der historischen Fassung der jeweiligen Kirche. Er sieht die Bezeichnung parallel zum Begriff Rechtswissenschaft, der sich auch nur auf das positive Recht einer bestimmten Gesellschaft bezieht. Das ist der eigentliche Sinn der Zuweisung der Theologie zu den praktischen Wissenschaften in § 1, wie ihn der § 5 in der besonderen Form für die abendländische Kultur und das Christentum dann benennen wird. In der Beziehung der Theologie als Wissenschaft auf die Erhaltung des Christentums sind deshalb (wie der Vortrag der Vorlesung zeigt) alle Probleme bereits enthalten, die in den folgenden Paragraphen verhandelt werden.
31 ThEnz (Strauß), 1.
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Schleiermacher weist in der Vorlesung darauf hin, wenn Theologie als rationale philosophische Metaphysik definiert werde, so gelte, „für die Kirche gienge sie verloren“32. Das zeigt, dass seine theologische Fakultät ganz im genannten Sinne parallel zur Rechtswissenschaft und in der Aufnahme der aufklärerischen Theologie für eine anthropologische Begründung und Zweckmäßigkeit der positiven Kirche eintritt. Schleiermacher denkt im Begriff der bestimmten Glaubensweise die anthropologische Beziehung auf das allgemeine religiöse Vermögen des Menschen (und seine Notwendigkeit) bereits mit. Die Aufgabe der Erhaltung der christlichen Kirche ist für ihn also immer auch Beförderung des religiösen Bewusstseins in der Menschheit. Die historische Positivität der bestimmten Glaubensweise ist kein Gegensatz zu einem allgemeinen anthropologischen Religionsbegriff. Nur verweigert sich Schleiermacher der aufklärerischen Idee einer Überführung und Reinigung von positiver Religion hin zu einer rationalen Religion der Menschheit.33 II.2. Der Ursprung von Kirche und Theologie (§ 2) Der § 2 eröffnet die Trias der Paragraphen, die den Bezug von Theologie und Kirche erklären. Die Theologie wird direkt angeschlossen an Thesen über den Ursprung (§ 2), die Struktur (§ 3) und die Entwicklung der Kirche (§ 4). Damit nimmt Schleiermacher den dargestellten aufklärerischen Diskurs über das Thema „Theologie und Kirche“ auf. Denn die drei Paragraphen beschreiben auch den Bezug der Theologie auf die Identität der Kirche, auf die Absicht der Erhaltung der Kirche und schließlich auf das Ziel, zu dem hin sich sich die Kirche entwickelt. 32 Ebd., 2. 33 Veränderungen der zweiten Auflage betreffen die Ersetzung des Religionsbegriffs. Könnte man zunächst vermuten, dass Schleiermacher damit die innerreligiöse Ausdifferenzierung vor Augen hat, also die Bindung der Theologie an Konfessionen stärken will, so spricht der bleibende Nachsatz, der ja von einer (einheitlichen?) christlichen Theologie redet, dagegen. So ist zu vermuten, dass es Schleiermacher hier noch einmal auf die historische Bestimmtheit der Religion ankommt, die mit dem allgemeinen Religionsbegriff angesichts des aufklärerischen Sprachgebrauchs nicht ausreichend geschützt war. Dies gilt gerade dann, wenn man sich die entwicklungsmäßige Verbindung des Christentums hin zur Vernunftreligion wie bei Kant vorhält. So würde die erläuternde Einschiebung auf die Schwierigkeit hinweisen, die Schleiermacher mit seinem scheinbar klaren Aufbau bekommt: Ist das Gottesbewusstsein allgemein, die Theologie als Wissenschaft aber prinzipiell nur auf eine „bestimmte Gestaltung des Gottesbewusstseins“ bezogen, so bleibt die hier abgewiesene Frage nach einer Verbindung von Religionsphilosophie und Theologie gerade im Begriff der bestimmten Religion doch erhalten.
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Die Organisation einer theologischen Wissenschaft ist nicht von Natur aus und von Anfang an in den einzelnen Glaubensweisen gegeben. Sondern nur sich stärker verbreitende Religionen, die über den Glauben von einzelnen und die unmittelbare Kommunikation des Glaubens in der Familie hinausgehen, bedürfen der kirchlichen Organisation und damit auch der Theologie. Hier wird also (nach dem Abweis der spekulativ–theoretischen Theologie in § 1) ebenfalls ein Theologieverständnis verneint, das die Theologie in irgendeiner Weise im Bezug auf den Glauben als Gegenstand, als eine direkte Funktion seiner Selbstdurchsichtigkeit, als sein notwendiges Implikat oder als seine denkende Prolongation zu organisieren versucht. Theologie ist eine Funktion der Kirche, nicht des Glaubens. Könnte nun die Kirche in diesem Sinne nicht ausreichend begründet sein in der Kommunikation von Glauben, in seiner Mitteilung? Auch davon setzt sich Schleiermacher ab, indem er Semlers Entstehungstheorie für die christliche Kirche aufnimmt. Die Kirche, auf die sich die Theologie bezieht, ist nicht bloße Kommunikation des Glaubens, sondern sie ist geschichtlich institutionalisierte Organisation im gesellschaftlichen Kontext. Denn Theologie ist nicht bereits notwendig, wenn eine Religion im familiären Kreis kommmunikativ gelebt und praktiziert wird, sondern sie wird erst dann notwendig, wenn diese Kommunikation im Laufe der Zeit eine außerhalb der direkten Glaubenskommunikation liegende feste (Lehr– und Kultus–)Gestalt entwickelt und eine über die Individuen hinausreichende Religionsgemeinschaft entsteht. Nur von dieser Größe ist die Theologie abhängig. Eine solche Kirche ist der von der Privatkommunikation entfremdete, äußerlich gewordene und institutionalisierte Geschichtsleib einer bestimmten Religion.34 Und eine Kirche bildet sich erst da, wo die Darstellung und der Ausdruck religiöser Gefühle von der unmittelbaren Funktion und der Situation dieser Expressivität losgelöst und zur Mitteilung von Religion ohne Mitdarstellung des individuellen religiösen Gefühls benutzt werden. Damit gewinnt die Kirche bereits in diesem zweiten Paragraphen einen unmittelbaren Bezug zur öffentlichen Kultur. Theologie als Wissenschaft bezieht sich allein auf diese Öffentlichkeitsfunktion, mit der die geschichtliche Identität 34 Diesen Aspekt hat zu Recht betont Wilhelm Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe. Friedrich Schleiermachers Verständnis der Praktischen Theologie, in: Günter Meckenstock / Joachim Ringleben, Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin u.a. 1991, 147–172. Allerdings ist die kontingente soziale Kirche nicht so sehr einer an sich notwendigen humanen Religion entgegengesetzt, als vielmehr der direkten Glaubenskommunikation im privaten Austausch. Bei dieser liegt die Identität im gelebten Glauben selbst. Die bewusste Frage nach der Identität ergibt sich notwendig erst dann, wenn Glaubenslehre und Kultgewohnheit als feste Bestände außerhalb direkter privater Mitteilung auftreten.
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und Weiterentwicklungsmöglichkeit der bestimmten Religion überhaupt erst gegeben ist. Schleiermacher erklärt die Entstehung von Theologie allein aus den organisatorischen und kontrollierenden Bedürfnissen der Religionsgemeinschaften selbst. Denn die sich von der direkten Glaubenskommunikation abgelöst habenden festen Formen der Lehrüberlieferung und Kultpraxis bedürfen der kritischen Begleitung. Gerade sofern sich aber solche festen Formen herausgebildet haben, ist zugleich notwendig (statt des Bezugs auf den Glauben und seine interne Kommunikation) der Bezug zur Kultur, zu ihren sprachlichen Formen, zum Verhalten der Gesamtgesellschaft und zur geschichtlichen Situation hergestellt. Mit § 2 wird also deutlich die Semlersche Erklärung der christlichen Kirchenentstehung aufgenommen. Sie wird im kantischen Sinne einer Historisierung der ethischen Selbstbestimmung des Menschen verallgemeinert zu einer religionsgeschichtlichen Gesetzmäßigkeit. Dabei wird sie einerseits zugleich des Semlerschen Verdachts eines notwendigen institutionellen Verlusts der Wahrheit entkleidet, andererseits geschieht dieser Verlust bei Schleiermacher durch die Loslösung von der unmittelbaren religiösen Darstellungsfunktion des Ausdrucks. Schleiermacher hält die Kirche aber auch von der kantischen Forderung einer Verwandlung der historischen Identität hin zur Vernunftreligion frei. Die so entstandene ‚Kirche’ setzt ihre gegebene Identität voraus. Sie stützt sie durch Verteidigung nach außen und durch Bildung und Dogmatisierung nach innen. Das meint Schleiermacher mit ‚Selbständigkeit’, womit er ebenfalls die Semlersche und Kantische Funktionszuschreibung der Theologie als einer Erhaltung der Identität in der Geschichte aufnimmt. Nicht weniger Kirche, sondern mehr Bewusstsein der eigenen institutionellen Autonomie als Kirche (und unabhängig von der Frage nach dem wahren Glauben), so lautet Schleiermachers Rezept gegen die aufklärerische Kritik. Die Identität der Kirche ist in Lehre und Kultusformen wohl kontingent gegeben, aber dadurch wird sie zugleich erst (als Erhaltung) selbst zur Aufgabe der Theologie. Und deshalb richtet sich diese erhaltende Theologie nicht auf den Glauben selbst, sondern auf die identitätsdarstellenden und –steuernden Lehr– und Kultformen, die sich im Umfeld der jeweiligen Kultur herausbilden. Theologie als ‚kirchliche Wissenschaft’ ist eine kulturtheoretische, im Schleiermacherschen Sinne ethische Größe, gerade indem sie sich auf historische Institutionen bezieht. Die alte Ansicht der Theologie als einer Wissenschaft der Glaubenswahrheiten wird aus der grundlegenden wissenschaftlichen Organisation der Theologie herausgehalten. Folgerichtig ist in einem formal allgemeinen Sinn eine solche Theologie als Wissenschaft für jede auch inhaltlich unwah-
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re35 Gestalt einer Religion denkbar, die die Größe einer Kirche entwickelt hat.36 Die Aufnahme der alten ‚berufsbildenden’ Funktionen Apologetik und Pädagogik dient bei Schleiermacher nicht dem Glauben, sondern der Kirche selbst.37 II.3. Die Differenz von Theologie und Glauben in der Kirche (§ 3) Geht man gemäß § 2 davon aus, dass eine bestimmte Religion groß genug geworden ist, um eine Kirche und eine Theologie auszubilden (Ursprungsthese), so treibt der nächste Paragraph (§ 3) nun die Ausdifferenzierung weiter in Richtung auf eine bleibende Strukturbeschreibung. Denn die Ausbildung der Theologie spielt nicht für alle Glaubenden der jeweiligen Kirche eine Rolle. Das wäre nach 35 In der Enzyklopädie–Vorlesung erklärt Schleiermacher gegen den Versuch, die Theologie als Wissenschaft an die wahre Religion (des Christentums) zu binden, dass jeder Form von organisierter Religion und ihrer Theologie eine zumindest anfangshafte Form der Wahrheit zukommt. Insofern ist eine Wissenschaftlichkeit jeder möglichen, durch kirchlichen Bezug zustandegekommenen Theologie zuzugestehen. Gegenüber dem möglicherweise falschen Inhalt des Gottesbewusstseins borgt sich also hier die Theologie ihre Wissenschaftlichkeit aus dem Bezug auf die Kultur, aus den unbestreitbar möglichen historischen Kenntnissen über die eigene Religion und aus der technischen Wissensbehandlung ihres Kults. Das kann für Schleiermacher selbst in einer irrenden Religion nicht prinzipiell falsch sein. 36 Zu fragen ist, ob Schleiermacher auch hier in der zweiten Auflage die Beziehung auf die Positivität der jeweiligen Religion abschwächt, indem er statt dem ‚Sein’ jeweils verschiedener Theologie nurmehr ihr ‚Seinkönnen’ behauptet. Dann würde sich auch hier schleichend die einheitliche inhaltliche Begründung der Theologie in einem allgemeingültigen Gottesbewusstsein religionsphilosophisch in die Organisation der Theologie eindringen. In der Vorlesung von 1831 gesteht er zu – gegen die Abzweckung auf die positiven Religionsgemeinschaften –, dass das „Gottesbewußtseyn der MittelPunkt unseres ganzen Gebietes“ (ThEnz (Strauß), 2) sei. Damit zeigt sich, dass Schleiermachers Kirchenbindung der Theologie nicht gegen die anthropologische Begründung der Religion argumentiert, sondern sie in die historisierend–positive Betrachtung der Geschichte mit einbezieht. Sie ist gleichsam nur ein Teilbereich der Organisationsform der Theologie als Ganzes, die aus der Beziehung auf die Kirche, auf ihre Selbstorganisation und auf ihre Beziehungen zur Kultur resultiert. 37 In der Religionsphilosophie der Glaubenslehre benennt Schleiermacher einen weiten Gesamtkomplex möglicher Ausdrucksformen zwischen schlichter Mimik und elaborierter wissenschaftlicher Theologie. Die Theologie ist an die Ausbildung einer Wortkultur innerhalb der Religion gebunden. Theologie ist hier ein Epiphänomen der worthaften, an Erzählung, Gebet und Predigt erkennbaren Kommunikation von Religion. Die enzyklopädische Organisation und Bestimmung der Theologie ist selbst ein Ausdruck der Kirche gewordenen, Geschichte bildenden Ausdrucksgestalt eines bestimmten Glaubens. Nicht nur die Theologie, sondern auch die Auffassung ihrer wissenschaftlichen Gestalt gibt es nur im Plural.
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dem vorher Bestimmten nicht ausgeschlossen. Man könnte annehmen, dass die Angehörigen einer Religion dann, wenn diese Religion eine Theologie ausgebildet hat, alle an dieser Theologie teilhaben müssen. Dagegen stellt Schleiermacher die Ausdifferenzierung von Kirchenleitung und Masse.38 Theologie ist bleibend kein Element des Glaubens selbst, sondern nur einer neben dem Glauben herlaufenden reflexiven Aufmerksamkeit auf die im Glauben benutzten historischen Kommunikationsformen, deren der Glaube sich für seine Mitteilung bedient. Hier geht es also um ein eigenes Identitätsbewusstsein für die (nach § 2 sich historisch als eigene Mitteilungsgröße ausgebildet habende) Kirche. Diese strukturelle Differenz kleidet Schleiermacher in die Aussage, Theologie sei nicht für alle, sondern nur für die Leitenden wichtig. Denn der Glaube einzelner kann innerhalb der Kirche existieren, ohne an der Arbeit an dieser Kirche Anteil zu haben. Er benutzt sie dann gleichsam nur. Ebenso wäre eine Weise der Leitung der Kirche – und deshalb dann auch Theologie – nur uneigentlich zu nennen, die nur die überlieferten Formen repetiert. Denn hier wäre die Identitätsfrage nur praktisch aufgenommen. Damit erklärt sich Schleiermachers weitergehende Behauptung, dass die Ausdifferenzierung von Amt und Masse einerseits sowie das Entstehen von Theologie sich gegenseitig bedingen. Denn das Amt (im eigentlichen Sinn einer identitätsbewussten Leitung) entsteht genau da, wo einzelne bei der Kommunikation des Glaubens dessen feste Formen selbst der kritisch–vernünftigen Betrachtung im Bezug auf eine vorausgesetzte Identität unterziehen. Leitung ist damit die Absicht der Theologie, wie umgekehrt eine jede solche Leitung der vernünftigen Reflexion auf die geschichtlich festgewordenen Kommunikationsmittel bedarf. Leitung und Theologie sind beides gleichursprüngliche Elemente des reflexiven Gewahrwerdens der stattgehabten Institutionalisierung der Religion und der damit gegeben kritischen Identitätsfrage. Theologie entsteht also nicht bereits als Element der Kirche selbst (§ 2), sondern erst in ihrer reflektierenden Betrachtung. 39 Erst diese, nicht die Kirche selbst, konstitutiert die Theologie als Wissenschaft.40
38 Vgl. zum ganzen Paragraphen den grundlegenden, allerdings sich auf den Text der ‚Praktischen Theologie’ Schleiermachers beziehenden Aufsatz von Eilert Herms, Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment, in: Ulrich Köpf (Hg.), Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung, Tübingen 2001, 203–280 (auch in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 320–399). 39 Wegen dieser bleibenden institutionell–gesellschaftlichen Komponente in der Reflexion kann man Schleiermachers Vorstellung von Kirchenleitung nicht einfach als kommunikative Kompetenz verallgemeinern. Vgl. als Beispiel für diese Auffassung Eberhard
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Was ist danach Kirchenleitung? Die erste Auflage formuliert rein prädikativ, dass Theologie nur solchen zukomme, „welchen und sofern sie die Kirche leiten“. Daraus lässt sich bereits erkennen, dass Schleiermacher nicht rein auf personale Profession setzt, sondern einen handlungsbezogenen, intentionalen Begriff von Kirchenleitung entwickelt. Dieser Begriff ist zunächst von den gegebenen Konzepten einer berufsspezifischen Theologie innerhalb der Kirche abzusetzen.41 In § 3 nimmt Schleiermacher diejenigen Teile des aus der Orthodoxie überlieferten Theologiebegriffs auf, die nicht auf ein Ineinander von Glaube und Theologie zielen, sondern an der kirchlichen Lehr– und Verteidigungssituation hängen und den Abstand des einfachen Glaubens zum wissenschaftlichen Umgang betonen. Dieses überkommene Theologieverständnis bleibt allerdings doch immer auf den Glauben bezogen, weil sie die im Glauben gemeinten Lehrwahrheiten verteidigen. Davon setzt Schleiermacher sich ab. Kirchenleitung als theologische Aufgabe bezieht sich nicht auf Verteidigung und Verbreitung des Glaubens, sondern nur auf die Kirche selbst, auf ihre bereits gewordene (§ 2) Autonomie. Schleiermacher wendet die alte Theologiefunktion für die Lehrer und Verteidiger der Kirche selbstreflexiv und verbindet so eine Handlungsabsicht mit der geschichtlichen Entwicklung der Kirche in der Kultur. Damit entsteht Kirchenleitung42 durch die Verbindung von Identitätsbewußtsein und bewusster situativer, auf Erhaltung dieser Identität gerichteter Lenkung. Semlers Hauschildt, Das Verhältnis von Praktischer und Systematischer Theologie in Schleiermachers ‚Kurzer Darstellung’, in: PTh 45, 2010, 71–77. 40 Weshalb es einseitig ist, Schleiermachers Theorie systemtheoretisch im Sinne einer sich selbst steuernden Kirche zu lesen. Damit wäre die (selbst)kritische Frage nach der Identität unterbelichtet. Theologie ist nicht direkt ein Steuerungsmechanismus der Kirche (die 2. Auflage gesteht die Existenz von Kirchen ohne eigentliche Theologie ausdrücklich zu), sondern bezieht sich auf die wissenschaftliche Reflexion ihrer historischen Identität. 41 Vgl. oben das Zitat von Markschies, Anm. 11. 42 In dem Zusatz in der zweiten Auflage wird Kirchenleitung von jeder bestimmten hierarchischen Struktur und Ordnung innerhalb der Kirche losgelöst. Mit dem „Ausdruck Kirchenleitung“ (§ 3 2. Aufl.) wird die Beschreibung aus der ersten Auflage terminologisch fixiert. Dort war noch der Zusatz in § 8 nötig geworden, nach dem Kirchenleitung in einer Tätigkeit besteht, „durch welche die Kirche wirklich erhalten und weiter gebildet wird.“ Auch in § 7 formuliert Schleiermacher um: Von dem offeneren „Trieb, zum Wohl der Kirche gesetzmäßig wirksam sein“ hin zur Benennung „Willen, bei der Leitung der Kirche wirksam zu sein“. Der Ausdruck ‚Kirchenleitung’ verdeckt allerdings für heutige Leser eher die eigentlich gemeinten geschichtlichen, entwicklungs– und kulturbezogenen Elemente. Kirchenleitung oder Kirchenregiment ist von vornherein nicht technizistisch– amtsbezogen oder innerkirchlich–hierarchisch gemeint, sondern allein auf die Beförderung der Kirche als Ganzes in Geschichte, Kultur und Gesellschaft gerichtet. Die Grundlage dieses Handelns aber ist das historische Identitätsbewusstsein hinsichtlich der jeweiligen Kirche.
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kirchliche Identitätsfunktion der Theologie wird mit der kantischen Idee der bewussten geschichtlichen Gestaltungsabsicht verbunden. Die wissenschaftliche Beschreibung der Identität der Kirche hängt also nicht an der bloßen Feststellung der historischen Gestalt der Kirche. Sondern wenn dieses Identitätsbewusstsein nicht bloß historische Wissenschaft, sondern ein Element des kirchlichen Bewusstseins selbst ist, dann ist es unmittelbar mit der Absicht der Erhaltung der Kirche verbunden. Schleiermacher sieht also die Theologie als eigene Form des wissenschaftlichen Selbstbewusstseins der Kirche wesentlich konstituiert durch die Verbindung von Identitätswissen mit erhaltender Handlungsabsicht. Diese Handlungsabsicht ist der eigentliche einheitliche Bezugspunkt der Theologie als Wissenschaft. (Zugleich ist damit im Gedankengang der ‚Kurzen Darstellung’ der entscheidende Punkt auf dem Weg zur Definition und Organisation der Wissenschaftlichkeit der christlichen Theologie erreicht.) Sie nimmt, insofern sie ein bewusstes Handeln für die Kirche voraussetzt, die deskriptive und erhaltende Funktion der doktrinalen Theologie Kants auf. Formal folgt Schleiermacher also Kants Verbindung von Identität und Gestaltung im Begriff der historischen Kirche und bindet damit sowohl Semlers als auch Kants Doppelformen von Theologie wieder zu einer zusammen. Inhaltlich aber verbindet er sie nicht mit der religionsgeschichtlichen Entwicklung hin zur wahren Vernunftreligion, sondern mit der Entwicklung der Religion innerhalb der menschlichen Gesamtkultur. Damit leitet sie dann nicht wie Kants authentische Theologie zu einer aufgeklärten, menschheitlichen Kirche hin, sondern bleibt auf die Eigenart der jeweiligen Kirche positiv bezogen, bedenkt aber deren Durchsetzung im Rahmen einer kulturphilosophischen Theorie des gegenseitigen Verhältnisses der verschiedenen menschlichen Handlungsweisen. Zusammenfassend kann auf die Vorlesung von 1831 hingewiesen werden. Hier hat Schleiermacher in der Erläuterung des § 3 die verschiedenen Momente des Kirchenleitungsbegriffs zusammengestellt: „Die Kirchenleitung ist also die Thätigkeit der Wenigen, welche im Besitz des geschichtlichen Bewußtseyns sind, um die Identität und die Mittheilung des Glaubens zu erhalten.“
§ 3 verbindet Identitätsbewusstsein mit darauf gerichteter Handlungsintention. Theologie als kirchliche Wissenschaft ist organisiert durch das Wechselverhältnis dieser Elemente. Das ist der entscheidende Baustein für die Definition der Theologie als Wissenschaft. Die Einschränkung auf die ‚Wenigen’ ist eine Konsequenz der Trennung von Glauben und bewusster Identitätsreflexion. Der Glaube selbst ist im Prinzip ohne Wissen von seiner Geschichte möglich.43 Das 43 Es wäre an dieser Stelle vielleicht angebrachter, zwischen verschiedenen Weisen des Geschichtsbezugs zu unterscheiden. Es gibt den Geschichtsbezug im Glauben, der sich
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geschichtlich gesteuerte Identitätsbewusstsein, das für die Erhaltung leitend sein muß, entsteht erst mit der Entwicklung einer kirchlichen Institution in der Gesellschaft, wie es § 2 beschrieben hat.44 Folgende Elemente sind im Begriff der Kirchenleitung enthalten: Voraussetzung einer historischen und institutionellen Autonomie der Kirche in Bezug auf ihre überindividuellen Lehr– und Mitteilungsformen, historisches Identitätsbewusstsein dieser Kirche in Differenz zum unmittelbaren Identitäts– und Geschichtsbezug des Glaubens selbst, Erhaltungsabsicht in Unterscheidung von rein geschichtswissenschaftlichen Identitätsuntersuchungen, institutionsbezogene Handlungsabsicht im Feld kulturell geprägter kirchlicher Lehre und Praxis, schließlich der Bezug auf die allgemeine Wissenschaft der Kultur. Damit wird zuletzt die aufklärerische Idee einer Vervollkommnung der Religion selbst umgewandelt in die einer kulturellen Vervollkommnung als Durchdringung der Gesellschaft mit Religion, die von der Bestimmtheit der jeweiligen positiven Religion ausgeht. (Das erläutert § 4.) Exkurs: Ist die Aussage von § 3 unprotestantisch? Diese Vermutung kann mit der hier gegebenen historisch–soziologischen und reflexionsbezogenen Deutung des Paragraphen zurückgewiesen werden. Zugleich kann der Textbestand der Vorlesung erklärt werden, in der Schleiermacher den Protestantismus geradezu als kirchengeschichtliche Realisierung seines Trennungsprogramms von Leitung und Laien ausgibt.45 Denn zwar bildet sich der Unterschied aus mit der wachsenden Größe der Kirche nach ihrer Entstehung. Doch idealiter ist der Unterschied auch wieder aufzuheben, und dies geschieht im Protestantismus. Das erläutert Schleiermacher in der Vorlesung von 1831. Im Unterschied zum Staat, der durch die Differenz von Obrigkeit und Regierten definiert ist, handelt es sich bei der professionellen Kirchenleitung tatsächlich nur um ein Übergangsphänomen, das durch die geschichtliche Entwicklung der Kirche entsteht.46 Im Prinzip im Christentum auf die Besonderheit der historischen Person Jesu Christi bezieht, und es gibt den Geschichtsbezug auf die historische Identität des christlichen Glaubens, der sich auf die kirchliche Institution richtet. Beides ist aber wiederum m.E. strikt zu unterscheiden von einer im Schleiermacherschen Sinne eher spekulativ zu nennenden Überhöhung dieses Geschichtsbezugs zu einer Erkenntnis von Geschichtlichkeit überhaupt im Glauben. Dabei dürfte es sich eher um eine Hineindeutung aus Theoriekontexten des 20. Jahrhunderts handeln – unabhängig von der Frage, ob das systematisch richtig ist oder nicht. Vgl. das Zitat von Stroh in Anm. 48. 44 „Es kommt hiebey an auf die geschichtliche Bedeutung und Stätigkeit.“ ThEnz (Strauß), 3. 45 Vgl. auch den Hinweis Schleiermachers in den Marginalien KGA I/6, 327 sowie den Verweis des Herausgebers auf die ThEnz (Strauß), 4. 46 „Allerdings kann in einer kirchlichen Gemeinschaft nicht ein Gegensaz wie von Obrigkeit und Unterthan bestehen, aber doch ein Gegensaz von mehr Selbstthätigen und mehr Empfänglichen, und jene sind die KirchenLeitung.“ (ThEnz (Strauß), 224) Die Nach-
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ist die Kirche durch die freie und gleiche Kommunikation ihrer Glieder charakterisiert. Die Konsequenz daraus ist, dass diese Ungleichheit zwischen Leitung und ‚normalen’ Mitgliedern in der Kirche eigentlich zum Verschwinden bestimmt ist. Indem die protestantische Kirchenleitung in den Synoden an das allgemeine Wissen auch der sogenannten Laien angebunden wird, wird der Protestantismus zu einer bewussten Realisierung des Programms: In einer Kultur, in der das humane Wissen allgemein wird und sich die Bildungsunterschiede zwischen den Menschen verwischen, wird es zwar weiterhin notwendig eine staatliche Differenz zwischen Regierung und Regierten geben, aber nicht ebenso eine Differenz von Kirchenoberen und Kirchenvolk. . Obwohl also gemäß der These47 von §3 der Glaube für sich selbst keiner Theologie bedarf, so ist doch in einer kulturphilosophisch weiterentwickelten Kirche (wie dem westlichen Christentum) eine andere Schlußfolgerung zu ziehen. Nicht wegen seines Glaubens, aber wegen seiner kulturellen Bildung und der Verbindung des historischen Wissens mit der Kirche hat jeder Christ implizit an der Kirchenleitung Anteil. Die Realisierung des Protestantismus ist so ein Element der aufklärerischen Kulturverbreitung und Bildung der einzelnen. In einer wissensmäßig fortgeschrittenen Kultur, in der ein historisches Bewusstsein allgemein geworden ist, macht sich der einzelne Glaubende immer schon Gedanken über die Identität seiner Kirche und bringt diese in sein Handeln zur Erhaltung seiner Kirche ein. Der Protestantismus steht also für die Vereinigung einer humanen Wissenskultur mit der (in Schleiermachers Theologie durch den Rückbezug auf die historische Person Christi garantierten) unveränderten und unveränderbaren christlichen Frömmigkeit. In das reflexive Wissen um die jeweilige Kirche wird damit der Bezug auf die Umwelt und die geschichtliche Situation hineingeführt.48 schrift bietet zum § 236 (Kirchliche Statistik) eine historische Herleitung verschiedener ‚Regierungsformen’ im Christentum. Vgl. zum weiteren, allgemeinen Modell der Differenz von Selbsttätigen und Empfänglichen als Grundlegung leitender Praxis in Schleiermachers Kulturphilosophie die ausführlichen Hinweise bei Eilert Herms, Kirchenregiment (wie Anm. 39), 203–209. 47 Schleiermacher formuliert dies in der Erläuterung zu § 5 in der zweiten Auflage, aber es liegt der Ausdifferenzierung im Kirchenbegriff bereits von Anfang an zugrunde. 48 Mit dem Kulturaspekt und der handlungstheoretisch–intentionalen Grundlegung geht Schleiermachers Kirchenleitungskonzept über systemtheoretisch–kybernetische Absichten hinaus. Vgl. dazu die Beiträge von Christoph Dinkel: Die Kirche in die Zukunft führen. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, in: Evangelische Theologie 58, 1998, 269–282; sowie ders., Kirche gestalten (wie Anm. 4). Denn wer ist das Subjekt einer „sich selbst steuernden Kirche“ (ders., Die Kirche in die Zukunft führen, 275)? Die
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II.4. Vielteiligkeit der Theologie als Folge des geschichtlichen Ziels der Kirche (§ 4) Theologie entstand, so § 3, aus der Verbindung von Identitätsbewußsein für die jeweilige Kirche (nämlich der Identität ihrer vom Glauben abgelösten geschichtlichen Kommunikationsformen) mit der Absicht der Erhaltung dieser Identität, also einer strikt institutionsreflexiven und ebenfalls nicht direkt auf den Glauben oder die Religion zu beziehenden Absicht. In § 4 wird nun die geschichtliche Entwicklung erklärt, in der die Erhaltung stattfindet, ihr Ziel und der Bezug auf die Kultur, in der das Christentum lebt.49 Entwicklung und Ziel der Weise, wie sich die Kirche auf die Kultur bezieht und wodurch die Erhaltungstätigkeit selbst gesteuert wird, wird in einem doppelten Entwicklungsgedanken formuliert. Einerseits häuft die Kirche ein reicheres Binnenwissen durch Adaption kulturellen Wissens an, sie „entwickelt“ sich „fortschreitend“. Anderseits „verbreitet“ sich die Kirche über die „Sprach– und Bildungsgebiete“ der Kultur. Die Durchdringung der gesamten Kultur mit Religion ist eine kulturphilosophische Wendung des universalgeschichtlichen Realisierungsgedankens. Dabei ist gerade um der Erkennbarkeit und Kommunizierbarkeit der Religion in der Gesellschaft willen die Erhaltung ihrer kirchlichen Organisationsform notwendig. Der Fortschritt besteht nicht in einer Veränderung der Identität der Kirche, sondern in der allgemeinen Durchsetzung dieser bestimmten Kirche in der Gesellschaft. Das ist das Ziel der geschichtlichen Entwicklung, die vom Menschen bewusst gestaltet wird. Die bestimmte Kirche übernimmt dabei die Funktion einer notwendigen historischen Ausprägung der Kritik bleibt auch dann, wenn die protestantische Beteiligung der Laien an der Kirchenleitung (trotz des Begriffs der ‚Freien Geistesmacht“) rein als quantitative Erweiterung des leitenden Personenkreises interpretiert wird (vgl. ders., Kirche in die Zukunft führen, 273f.). Auf der anderen Seite ist eine existenzialontologische Ausweitung des Handlungsbegriffs zu vermeiden: Es geht bei der Kirchenleitung nicht um den „Ursprung“ alles intentionalen Handelns in der „Bearbeitung unhintergehbarer Grundaufgaben menschlicher Existenz“ (Ralf Stroh, Das Ganze im Blick behalten. Überlegungen im Anschluß an Schleiermachers Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft, in: Wilfried Härle (Hg.), Befreiende Wahrheit, Marburg 2000, 205–215, 209). Denn wieder gerät das an der Wahrnehmung nicht des Glaubens, sondern seiner geschichtsprägenden Kommunikation hängende kulturell–geschichtliche Realisierungsprogramm aus dem Blick, wenn man die Institution Kirche für „die vor– und überinstitutionelle Praxissituation des christlichen Glaubens“ (aaO. 212) beiseite setzt. 49 Vgl. Johannes M. Dittmer, Theologie und Kirchenleitung als Funktionen des christlich– religiösen Interesses im Kontext von Sprach– und Verstehensprozessen, in: Hermann Deuser (Hg.), Theologie und Kirchenleitung, Marburg 2003, 167–187, bes. 178f.
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Religion. Die Frage, ob es in einer Gesellschaft mehrere grundsätzlich verschiedene Kirchen oder auch gar keine Religion geben kann, stellt sich Schleiermacher nicht. (Auch ein Staat mit mehreren gleichzeitigen unterschiedlichen Rechtsvorstellungen wäre undenkbar.) Dahinter wird also die Gesamtanlage der Ethik Schleiermachers sichtbar, in der die ethischen Gemeinschaftsfunktionen parallele und gleichzeitige Ausprägungen und Durchdringungen der Kultur insgesamt darstellen.50 Die Anbindung der Kirchenleitung an die Kulturgeschichte bringt gegenüber den vorherigen Theorien Veränderungen mit sich. Mit Semler richtet zwar Schleiermacher die Theologie nicht am Glauben, sondern an der Institution Kirche aus. Aber gegen Semlers Anbindung der Identität der Kirche an die Selbsterhaltungsfunktion des Staates, also eine Kirchenleitung als Mittel der Innenpolitik, wird die reine Selbstbezüglichkeit kirchlicher Lenkung gesetzt. Die Kirche beharrt auf ihrer Identität um ihrer selbst willen. Dies ist aber nicht ein Merkmal falscher oder bleibend unvernünftiger historischer Bindung, sondern (mit Kant) ein notwendiges Element des Glaubens als einer geschichtlichen Größe. Gegenüber Lessing wird an der bleibenden Identität der Kirche trotz aller Veränderung festgehalten. Es gibt keine Überführung der Kirche in Richtung auf eine andere, vollkommene Religion. Die wissenschaftliche Organisation der Theologie bleibt an das Bestehen der Identität der Kirchen gebunden. Gegenüber Kants Daueranspruch einer inneren Überführung der historischen in authentische Religion fällt aber der Begriff einer wahren Religion als Ziel der Kirche gerade aus. Kirchenleitende Theologie orientiert sich nicht an einem allgemeinen Reich–Gottes– Begriff, sondern nur an der Selbstorganisation der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Dabei ist aber diese ‚Selbstorganisation’ nicht bloß auf die innere Leitung der Kirche bezogen, sondern auf die fortschreitende gegenseitige Durchdringung dieser bestimmten Religion und der jeweiligen Kultur. Positivität, Identität, Selbstbezüglichkeit, Kulturbindung und Steuerungsfunktion sind gleichmäßige Elemente des Schleiermacherschen Theologiebegriffs in seiner Verbindung mit der Kirche.
50 Die Bindung der Kirche an die Kultur ergibt sich aus der Ethik, vgl. die Zusammenfassung bei Eilert Herms (Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment, wie Anm. 39, 260): „So verhält sich auch das christlich–fromme Gemeinschaftsleben zur Gemeinschaft des staatlichen Lebens, des wissenschaftlichen Lebens und zu der Gemeinschaft des allgemeinen bürgerlichen Verkehrs nicht als zu ihr äußerlichen Sphären, sondern ist mit ihnen ursprünglich in der Einheit des Zusammenlebens verbunden; sie lebt gleichzeitig mit ihnen allen, durch sie bedingt und sie alle bedingend. In jedem der einzeln thematisierten ‚äußeren’ Verhältnisse geht es um diese in der Einheit des Lebens begründete und sich vollziehende unauflösliche Wechselbedingung.“
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An dieser bestimmten Sicht der Entwicklung der Kirche in der Kultur hängt entsprechend die daraus folgende Form der Wissenschaftlichkeit der Theologie. Die Kirche ist die institutionelle Organisationsform der Religion innerhalb der geschichtlich sich vervollkommnenden, durchdringenden, ausdifferenzierenden Kultur. Die Vernetzung in diese Kultur hinein begründet die wissenschaftliche Ausdifferenzierung der Theologie. Trotz der Anbindung an die Kirchenleitung kann damit geschlossen werden, dass die jeweilige wissenschaftliche Organisation der Theologie ein Ergebnis der allgemeinen kulturellen Entwicklung einerseits, der Kirchlichkeit dieser Kultur andererseits ist. Eine wissenschaftlich gesteuerte Form des Identitätsbewusstseins ist selbst erst in einer Kultur möglich, die sich der Unterschiede von mythischem und wissenschaftlichem Bewusstsein bewusst ist. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie wird damit ganz aus den alten Bahnen einer Reinigung, Klärung, Verteidigung oder Begründung des Glaubens selbst herausgenommen. Es geht um die Einheitsstiftung für diejenigen historischen Mitteilungs– und Kommunikationsformen, mit denen der individuelle Glaube sich institutionell in der Kultur erhält und verbreitet. Schleiermacher trifft anhand der kulturellen Entwicklung des Abendlandes die Aussage, dass die christliche Theologie wissenschaftlich gesehen „die gebildetste“ (im Sinne von „ausgebildetste“) ist. Die Verbindungen innerkirchlicher Kommunikation zu und ihre Anreicherung mit humanen, historischen, soziologischen und ästhetischen Inhalten hat im Christentum einen menschheitsgeschichtlichen Höchststand erreicht. Es ist zu sehen, dass diese These unabhängig von der Wahrheitsfrage besteht, aber die Möglichkeit einer Absolutheit des Christentums auch nicht ausschließt. Die Aussage, die Schleiermacher an dieser Stelle (nämlich der Verbindung zur humanen Kultur) über die sich ergebende Organisation der Theologie trifft, weist deshalb besonders auf ihre Vielteiligkeit hin. Die bereits im ersten Paragraph der Enzyklopädie gesuchte Einheit des Theologiebegriffs findet hier ihren Widerpart. Einheit und Vielteiligkeit stehen dabei gegen die aufklärerische Wahrheits– und Rationalitätsforderung sowie die sich daraus ergebende Idee der Transformation der Religion. Sie stehen für die kulturtheoretische und geschichtliche Vernetzung des Theologiebegriffs entgegen der wahrheits– oder absolutheitstheoretischen. Die Theologie begleitet nicht das Wahrwerden der Religion, sondern ihre geschichtliche Ausbreitung in der Gesellschaft. Die Ansprüche an die Einheit sind deshalb so formal, weil die Theologie selbst ein Abbild der reicher werdenden Beziehung von allgemeinem Wissen und der Organisation kirchlichen Wissens und Handelns bildet. Die christliche Theologie integriert vielfältige Formen des Weltwissens in einem auf die Kirche bezogenen Sinne. Eine inhaltliche Organisation dieses Wissens ist deshalb nicht möglich. Der Bezug auf die Kirche bleibt ein veränderbares, auszugestaltendes äußeres
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Organisationsprinzip, und die Durchdringung der Kultur mit Religion schließt der Theologie immer neue Bereiche auf, in Bezug auf die sie sich selbst klärt und bestimmt. Die wissenschaftliche Bindung der modernen Theologie an die christliche Kirche entspricht also einer Sicht, in der die abendländische Kultur durch das Christentum geprägt ist, so dass die Theologie als historische Kulturwissenschaft des institutionell organisierten Christentums an der allgemeinen Wissenschaftlichkeit der historischen Selbstbesinnung der modernen Kultur Anteil hat.51 Jede Kirchenleitung arbeitet an der Aufgabe, das anthropologische Prinzip des Gottesbewusstseins in seiner bestimmten historischen Fassung in der Kultur zu verbreitern und zu verallgemeinern. Die Wissenschaftlichkeit der Theologie hängt an der von Schleiermacher dabei einfach vorausgesetzten Verallgemeinerungsfähigkeit. Schleiermachers kulturphilosophische Fundierung des Bezugs von Christentum und Wissenschaft ist eigentlich eine historisierte, auf die Geschichte des Abendlandes bezogene und kulturphilosophisch verallgemeinerte Fassung des universalen Rationalitätsanspruchs der Theologie. Dieser universale Rationalitätsanspruch wird dabei nicht (mehr) über die Inhalte einer allgemeinen vernünftigen Glaubenslehre erhoben, sondern über das ethische (kulturphilosophische) Bild einer vollständigen gegenseitigen Durchdringung von christlicher Kirche und Kultur. In § 4 wird unterschieden zwischen zwei Ideen: Zunächst der einer historischen Identität der christlichen Kirche. Auf dieser baut die Theologie auf. Ihre beabsichtigte Erhaltung ist der Grund dafür, dass die Organisation der christlichen Theologie von einem zusammenhängenden einheitlichen Gesichtspunkt aus erfolgen kann, wodurch erst die Theologie zu einer einzigen, in sich zusammenhängenden Wissenschaft wird. Zum andern aber steckt dahinter die Idee einer Vervollkommnung der Kultur insgesamt als Darstellung der verschiedenen ethischen Vermögen des Menschen, die sich in der historischen Entwicklung der 51 Schon Heinrich Scholz hat vermerkt, dass „die synthetischen Bestrebungen Schleiermachers“ (Einleitung, wie Anm.6, XXXIV) (also die Einordnung der Theologie in die Ethik bzw. die Kulturwissenschaften) seit der ersten Besprechung getadelt bzw. nicht verstanden wurden. Das Problem hat sich seit der Dialektischen Theologie und einer neuen Begründung der Wissenschaftlichkeit der Theologie, die auf dem Offenbarungsbegriff als Alleinstellungsmerkmal beharrt, verschärft. Bultmanns theologische Enzyklopädie von 1927 vernachlässigt Außenbezüge der Theologie zugunsten einer formalen Analyse des Glaubensbegriffs, aus der sich alle theologische Wissenschaft ableiten können soll. Dagegen stehen bewusst relativistische, kulturgeschichtliche oder religionswissenschaftliche Konzepte. Schleiermachers ursprüngliche Idee vermittelt beides – die Eigenständigkeit der Theologie im Kontext eines anthropologischen Religionsbegriffs und ihre Zugehörigkeit zu einer geschichtlichen (Entwicklungs)Theorie der menschlichen Gesellschaft.
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Gesellschaft sowohl in ihrer eigentlichen Gestalt ausprägen als auch die anderen gesellschaftlichen Organisationssysteme durchdringen. Dass die historische Gestalt der jeweiligen Religion mit ihrer Gründung gleichsam bestimmt und fixiert ist, widerstreitet in Schleiermachers Sicht nicht der allgemeinen Entwicklung in der gegenseitigen Beziehung der kulturellen Weltgestaltungs– und Deutungssysteme. An dieser Stelle ist die Entwicklung des 20. Jahrhunderts Schleiermacher nicht gefolgt. Vielmehr wird theologisch die Bestimmung der Identität des Christentums antihistorisch, antisoziologisch und antikulturell verschärft. Die Gründung der Theologie auf die Identität des Christentums führt zu einer Interpretation, die die Freiheit der Theologie von den kulturellen Rahmenbedingungen einklagt. Wer sich dagegen wendet, hat die Schwierigkeiten, dass bei einer bewusst kulturtheologischen Anlage der Theologie entweder die Identitätsfrage ungeklärt bleibt, oder zu einer vorauseilenden theologischen Bestimmung des Kulturbegriffs im Ganzen fortgeschritten werden muß.52 Doch sind diese moder52 Neben Tillichs klassischem Konzept sind hier auch neuere Varianten der dialektischen Theologie zu nennen, die Schleiermachers christliche Geschichtstheologie mit der Offenbarungstheologie Barths verbinden wollen. Vgl. Franz Christ, "Zur Lösung einer praktischen Aufgabe": mit Schleiermacher die theologische Existenz verstehen, in: Theologische Zeitschrift 2010, 223–249. Christ schließt das zunächst human– allgemeingültige, für alle Kirchen in der Geschichte geltende Enzyklopädieprogramm kurz, indem der gesamte geschichtliche Geist zum sich verwirklichenden Christusgeist in der Schöpfung erklärt wird. Um der Verbindung von Schleiermacher und Barth willen muß der Kirchenbegriff offenbarungsgeschichtlich aufgeladen werden. Christ bezieht sich zudem auf einen Vorschlag Jüngels zur Einheit der Theologie: Schleiermachers Begriff der Theologie, sie sei eine praktische Wissenschaft, setze als Kriterium der Einheit der Theologie, sie müsse Praktisch–werden–können. Diese Uminterpretation gilt der (Rück–)Überführung des weiten enzyklopädischen Theologieverständnisses Schleiermachers in das der systematischen Theologie als ihr eigentliches Zentrum. Zwar kann durchaus die ganze christliche Kirche als „Fortsetzung des von Christus ausgehenden neuen Gesamtlebens, also seiner erlösenden Tätigkeit“ (aaO. 237) verstanden werden. Allerdings werden schon dabei die realen geschichtlichen Entwicklungsmöglichkeiten zugunsten einer offenbarungstheologischen Konstitutionstheorie unterschlagen. (Vgl. als Kritik Hirsch, Erläuterungen (wie Anm. 3) 373: „Die idealistische Herkunft zeigt sich in dem …Gedanken, dass alles, was … geschieht, … [sich vollbringt] rein durch Menschen, rein durch Entfaltung und Läuterung natürlich menschlicher Anlagen und Kräfte, also auch rein durch menschliches Handeln und Wirken“.) Aber es ist kaum möglich, für alle Kirchen der Geschichte zu formulieren: „Die Kirche aber ist nach Schleiermacher zutiefst nur aus der Inkarnation und das heißt christologisch zu verstehen.“ (Christ, aaO. 237) Theologie und Kirchenleitung einfach in das Geschehen der Kirche einzuziehen und sie damit direkt als Fortsetzung der Selbstmitteilung Christi (ebd.) zu adeln, vermischt Historie und Dogmatik.
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nen Alternativen im Schleiermacherschen Sinn für ein Gesamtbild der theologischen Wissenschaft, die sich auf die Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft bezieht und ihr zukünftiges Geschick im Auge hat, unbrauchbar. Für ihn ergibt sich die bleibende Bedeutung und Berechtigung der Theologie aus ihrer Bezogenheit auf die anthropologische Begründung der Religion im ethisch– kulturphilosophischen Kontext. Eine Gesellschaft ohne Religion, eine zukünftige abendländische Geschichte ohne Existenz christlicher Kirchen ist für ihn undenkbar.53 II.5. Die Einheit der Theologie als Ermöglichung zielgerichteten Handelns (§ 5) § 5 enthält die entscheidende Definition der Theologie, sie sei „der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnis und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist“.
Obwohl sie rein als formale Konsequenz aus dem vorherigen erscheint, ist doch zu ihrem Verständnis im Schleiermacherschen Sinn die in den vorigen Paragraphen (d.h. der §§ 2–4, nicht § 1) gegebene inhaltliche Diskussion mitzulesen. Die Definition ruht auf den vorherigen allgemeinen Begriffen Religion, Kirche, Kirchenleitung, Kultur („Sprach– und Bildungsgebiete“) und Geschichte („Entwicklung und Verbreitung“) auf und fasst sie als die Bestimmung der christlichen Theologie zusammen.54 (In der 2.Auflage wird dies verdeutlichend „sonach“ ergänzt). Die Absicht des Leitens der Kirche wird mit dem Begriff Kirchenregiment beschrieben. Auch in ihn gehen die Vorüberlegungen ein: Kirchenregiment ist kein hierarchisch–organisatorisch–bürokratischer Akt, mit dem die Kirche sich in sich (und möglicherweise gegen ihre Mitglieder) erhält, sondern die kulturphilosophisch–zukunftsbezogene Steuerung des vielgestaltigen wechselseitigen Durchdringungsprozesses von Kirche und Kultur. Das Regiment unterscheidet sich von der allgemeinen Leitungsabsicht (die auf die Erhaltung gerichtet ist) nur dadurch, dass es eine zusammenstimmende Handlungsabsicht der verschie53 Wegen der formal–allgemeinen, kulturphilosophischen Anlage der Kurzen Darstellung ist Schleiermachers universal–anthropologische, schöpfungstheologisch begründete Überzeugung von der prinzipiellen Unüberbietbarkeit des Christentums hier zurückzustellen. Diese Überzeugung begründete für ihn allerdings zugleich eine innerweltlich– geschichtliche Hoffnung auf die allgemeine Durchsetzung des Christentums in der gesamten menschlichen Zivilisation. 54 In der Vorlesung 1831 bemerkt Schleiermacher ausdrücklich, dass in § 5 „aus allem Bisherigen die Definition der christlichen Theologie gegeben“ (ThEnz (Strauß), 8) wird.
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denen Glaubenden in Bezug auf ihre Kirche formuliert.55 Dieses Zusammenstimmen setzt also ein Bewusstsein von der Gesamtidentität der jeweiligen Kirche voraus und von ihrer notwendigen Abgrenzung gegen andere. In der Aufnahme von § 4 könnte man sagen, dass die Theologie für das Christentum zugleich auch ein Beweis dafür ist, dass es hinter das historische Stadium seiner reflexiven Selbsterhellung kein Zurück gibt. Da andere Religionen dieses möglicherweise noch vor sich haben, bezieht sich die Theologiedefinition in § 5 in besonderer Weise auf die christliche Theologie. Zugleich erweist sich Schleiermacher vorausschauend (auf das 19. Jahrhundert) als Wegbereiter einer konfessionsbezogenen historischen Symbolik, wobei er aber einerseits (gegen engere konfessionelle Apologetik) eine gemeinsame evangelische Kirche fordert, andererseits diese gerade durch ihren Gegensatz gegen die katholische Kirche bestimmt sieht. Neu ist die Bestimmung, wie sich Theologie herstellt beim kirchenbezogenen Handeln. In der ersten Auflage führt Schleiermacher den Gedanken ein über die Vorstellung einer „Anwendung“ von Kenntnissen im Handeln (zum Zwecke des Kirchenregiments). Mit der Handlungsabsicht werden die verstreuten Wissensbestandteile, die in dieses Handeln eingehen, zu einem einheitlich organisierten, weil auf dieses Handeln bezogenen Wissen. Die Handlungsabsicht konstituiert den Zusammenhang der Theologie als Wissenschaft. Sie stellt aber nicht diese theologischen Kenntnisse erst her, sondern setzt sie voraus und benutzt sie. Die Handlungsabsicht konstitutiert also nur die wissenschaftliche Einheitlichkeit der Kenntnisse als Theologie, nämlich einer einheitlichen Wissenschaft, die auf die Kirche bezogen ist (und nicht einfach in die Vielfalt des von der Kirche historisch, philologisch, kultpraktisch zu Wissenden zerfällt). Die Steuerungsabsicht hin zu einer Erhaltung und Verbreitung in der Kultur unterscheidet die christliche Theologie von einer religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem historischen Gebilde des christlichen Glaubens und der christlichen Kirche. Die kulturtheoretische Einbindung der Kirche in die Organisationsform des menschlichen Geistes überhaupt (auf der Grundlage der Ethik) ersetzt dabei die aufklärerische Zielbestimmung der vernünftigen Religion. Zu beachten ist, dass alle Kenntnisse, die in das kirchenleitende Handeln eingehen, damit als theologisch qualifiziert werden. Theologie als Wissenschaft ist ein Sammelname für die Kenntnisse, mit denen das Kirchenregiment zu tun bekommt, der „Inbegriff“. Nur daraus entsteht die Einheit der Kenntnisse als theologischer. Indem nicht inhaltlich, sondern nur im auf Handeln bezogenen Sinn Wissen zu theologischem Wissen wird, kann auch verschiedenartiges Wissen unter diesen Zweck gefasst werden. Diese mögliche Verschiedenartigkeit 55 Vgl. ThEnz (Strauß), 8.
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widerstreitet nicht der Wissenschaftlichkeit, in der die einzelnen Teile doch zu einem Ganzen zusammenhängen. Die Theologie bleibt damit offen für weitere Entwicklungen, sie bekommt einen diagnostisch–deskriptiven Kulturbezug. Aber erst im Handeln für die Kirche wird das Umfeld der Kirche, der kulturelle und geschichtliche Rahmen, in einer theologischen Weise als Ganzes präsent. Wissen als theologisch zu verstehen, setzt damit ein Differenzbewusstsein von Kirche und Kultur voraus, es konstituiert aber gleichzeitig das Wissen um die pragmatische Zusammengehörigkeit beider, also das Bild einer Kultur, in der die kirchlich organisierte und insofern als historisch identisch verstandene Religion einen selbstverständlichen Teil der gesamtkulturellen menschlichen Tätigkeiten darstellt. Der Paragraph ist also weit davon entfernt, eine kirchliche Funktionalisierung von Theologie auf Kosten ihrer Wissenschaftlichkeit zu fordern, sondern er beschreibt die immer schon vorausgesetzte Wechselseitigkeit von kirchenbezogenem (nämlich christlichen Glauben erhaltendem) Handeln und darin impliziertem Wissen über die historische Identität des Christentums einerseits sowie die Gesellschaft, in der es sich verbreitet, andererseits. Darum ist diese Identität nicht kulturell festgeschrieben, sie erweist und gestaltet sich immer neu in der Durchdringung der Lebenswelt mit christlichem Geist. Christliche Theologie macht christliches Kirchenregiment möglich, weil sie die wissenschaftliche Fassung derjenigen Wissenselemente bietet, die in allem kirchenleitenden Handeln immer schon impliziert sind. Die Theologie ist selbst ein Teil der Geschichte der positiven Religion in der jeweiligen Kultur. Nur so bleibt geschichtliche Entwicklung möglich und zugleich auf historische Identität bezogen. Die Entwicklung der christlichen Religion in der abendländischen Kultur ist analog der Entwicklung des positiven Rechts zu denken. Immer neue Aufgaben und Ausdehnungen in einer sich immer weiter differenzierenden Gesellschaft sind zu bearbeiten. Die Theologie ist dem Wesen nach die gedankliche implizite Begleitung dieses Prozesses, so Schleiermachers entscheidende Definition. Für die Kirche wäre deshalb die Amputation der universitär betriebenen Theologie nicht das Ende – nichts spricht dagegen, Kirchenleitung auf eine selbstgemachte und in eigener Regie betriebene ‚Theologie light’56 zu stützen. Andererseits zeigt sich, dass jedes kirchenleitende Handeln immer schon auf komplexen Überlegungen zur Entwicklung, Gestalt und Identität des Christentums in der Gesellschaft aufruht, die in einer professionellen wissenschaftlichen Spezialisierung 56 So die Frage von Friedrich Wilhelm Graf: „Wozu also noch protestantische Universitätstheologie, wenn die evangelische Kirche ihren Theologiebedarf zunehmend mit hausgemachten light–Produkten deckt?“ (ders., Wozu noch Theologie? (2000), in: ders., Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 249–278, 258).
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am besten verwaltet werden können. Es wäre in Schleiermachers Konzeption nicht erklärbar, warum Recht (und Medizin) universitäre Wissenschaften sein können, die Theologie aber nicht. Die wechselseitige Implikation von Wissen und Zwecksetzen in allem auf die Existenz des Christentums in der Kultur bezogenen Handeln ist also die Grunddefinition und die bleibende Anbindung der Theologie an die Entwicklung kirchlicher Organisation. Die Theologie ist eine Funktion der Selbstorganisation der Religion in ihrer positiven Gestalt als christliche Kirche in der abendländischen Kultur, verstanden als Wissenschaft zur Bewahrung der historischen Identität des Christentums im Kontext eines Handelns, das die Einprägung des Christentums in die Kultur beabsichtigt. II.6. Zusammenfassung (§§ 1–5) Die Positivität der Theologie als Wissenschaft bezieht sich nicht bloß auf die gegebene Institution der christlichen Kirche, sie ist nicht im aufklärerischen Sinn bloß doktrinale Wissenschaft. Schleiermachers Definition ist inhaltlich gefüllter, weil sie Bestandteile der vernünftigen Religionsverbesserung, der ‚authentischen’ Wissenschaft der Religion in sich aufnimmt. Dies erreicht er dadurch, daß sich die Definition auf das Handelnwollen zum Wohle des Christentums in der Kultur der Gegenwart bezieht. So gesehen ist die Theologie als Ganzes eine Kunstlehre und als diese positiv.57 In dieses Handelnwollen gehen die Aspekte der Öffentlichkeit der Religion, der Kirchenleitung und der geschichtlichen Entwicklung sowie zuletzt im Christentum einer religionstheoretischen normativen Steuerung dieser Entwicklung gleichmäßig ein. Schleiermachers Theologiebegriff nimmt die bis dahin im Kontext von Religion und Kirche behandelten Themen auf. Er verweigert bewusst einen Aufbau der Theologie auf den Glauben und bezieht ihre Einheit als Wissenschaft allein auf die Existenz einer historisch institutionalisierten öffentlichen Kirche. Der § 3 spielt hier eine zentrale Rolle, weil er zwischen dem Glaubensbezug der Theologie und ihrem Kirchenbezug strikt unterscheidet.58 Nur der letztere garantiert die Einheit der 57 Vgl. die Erläuterung zu § 1 in der 2. Auflage. 58 Gegen Christoph Schwöbel (Was leistet die wissenschaftliche Theologie für die Kirche, in: Hermann Bahr (Hg.), Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie – Dokumentation der XIV. Konsultation, EKD–Texte 90, Hannover 2007, 67–93), der die einleitenden Paragraphen der Kurzen Darstellung m.E. gegen den Text als Begründung der Theologie auf den Glauben liest: „Auf Grund dieser konstitutiven Beziehung der christlichen Theologie und der christlichen Kirche auf den christlichen Glauben gilt Schleiermachers Definition der Theologie in § 5 der ‚Kurzen Darstellung’“ (aaO. 68). Im § 5 ist aber von Glauben gar nicht die Rede, vielmehr vermerkt der Zusatz zu § 5 in der 2. Auflage gerade: „…der christliche Glaube an und für sich bedarf eines solchen Apparates [sc. der
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theologischen Wissenschaft. Damit sollte eigentlich jeder Dogmatisierung des Theologieverständnisses der Riegel vorgeschoben werden. Schleiermacher verstärkt den schon bei Kant wahrnehmbaren Zug zu einer Historisierung der moralisch–vernünftigen Religionsentwicklungsgeschichte und überführt sie in eine immanente, auf die Kultur bezogene innere Entwicklungstheorie des Christentums. Die Theologie ist das reflexive und immanent immer schon vorliegende Steuerungsprogramm der historischen Entwicklung der Kirche in der Kultur, welche durch das Ziel der gleichmäßigen Durchdringung des Lebens ethisch– kulturphilosophisch normiert ist. Schleiermacher verknüpft die aufklärerische Entwicklungsbehauptung statt mit der Glaubenswahrheit mit der kirchenleitenden Funktion und darin zugleich die Öffentlichkeitsfunktion der Kirche mit der innerweltlichen endgültigen Duchsetzung der Religion in der Gesellschaft. Ziel der Theologie als Wissenschaft ist die verantwortete Praxis zur besseren Durchsetzung des Christentums im kulturellen Kontext. Allgemeine, philosophisch–vernünftige Elemente gehen selbstverständlich in dieses Steuerungsprogramm ein, so dass die Alternative von universaler Wissenschaftlichkeit und positiver kirchlicher Bindung für Schleiermachers Programm nicht existiert. Sie ergibt sich erst, wenn man die in dem Kirchenbegriff zusammengesetzten Elemente der historischen Identität und der praktischen Weiterentwicklung und Zweckbestimmung in Richtung einer religionsphilosophischen Begründung und anthropologischen Konstitution von ‚Religion’ wieder auseinander nimmt.59 Theologie] nicht, weder zu seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele, noch auch in der Verhältnissen des geselligen Familienlebens.“ Es kommt Schleiermacher also gerade auf die Differenz von Glaubensgemeinschaft und Glaube an. Insofern ist das Vorkommen des Wortes ‚Glaubensgemeinschaft’ für Kirche nicht ein Hinweis auf die konstitutive Funktion des Glaubens, sondern steht genau für die Differenz von historisch–öffentlicher Institution und privatem Glauben. ‚Denkender Glaube’ ist nicht das Konzept, das hinter Schleiermachers enzyklopädischem Theologieverständnis steht. Kritisch würde ich meinen, dass ‚Denkender Glaube’ ein theologisches Programm der Inanspruchnahme und Besetzung gelebter Religion zugunsten ontologischer und universaler Allgemeinheitsansprüche philosophischen Inhalts ist. Eine Theologie kann nicht modern sein, die sich an dieser Stelle (gegenüber dem Glauben) nicht selbstkritisch begrenzt und sich verdeutlicht, dass es sich bei dieser Reflexionsbehauptung konstitutiv um ein Konstrukt der Theologie handelt. 59 Die Kritik an der kirchlichen Bindung der Theologie hat eine lange Tradition in der evangelischen neuzeitlichen Theologie. Vgl. im heutigen Kontext z.B. Friedrich Wilhelm Graf, Wozu noch Theologie? (wie Anm. 57). Auch Graf geht von einer sich ausdifferenzierenden Kontextualisierung der theologischen Wissenschaft aus. Die Kirche ist gegenüber der Universität, der Kultur, der Politik oder der Gesellschaft nur eines der möglichen Felder, in denen die Theologie als Wissenschaft rechenschaftspflichtig ist. Historisch leitet Graf die Diagnose her, dass eine binnenkirchliche Gebrauchstheologie und ein
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III. Die „Vielteiligkeit“ der Theologie heute III.1. Vielteiligkeit als Ziel der Theologie bei Schleiermacher Der Kirchenbegriff organisiert die Einheit der Theologie. Doch zum Verständnis der Schleiermacherschen Darstellung sind zwei Erweiterungen notwendig: Einerseits muß ‚Kirche’ selbst im Kontext einer kulturphilosophisch–ethischen Gesamtsicht der menschlichen Vermögen gelesen werden. Jedes offenbarungstheologische oder nur auf den Glauben einer bestimmten Anzahl von Menschen bezogene Verständnis ist aus diesem ethischen Kirchenbegriff fernzuhalten. Kirche und Religion (Gottesbewusstsein) sind notwendig verbunden über die Idee einer historisch–kontingenten Realisierung des Religionsvermögens in den verschiedenen positiven Religionsgemeinschaften innerhalb der geschichtlich gegebenen Kulturen. Sodann: Erst die Handlungsabsicht zugunsten der Verbreitung der jeweiligen Religion konstituiert die Theologie als einheitliche Wissenschaft. Damit ist die inhaltlich–geschichtliche Verbindung von Kirche und Kultur in die Begründung der Theologie hineingelegt. Schleiermacher übernimmt einerseits den aufklärerischen Gedanken einer auf die Identität der Kirche bezogenen Erhaltungsabsicht, er übernimmt aber auch die Idee einer geschichtlichen Dauerverbesserung der Kirche, die er allerdings nicht auf die Identität des jeweiligen Glaubens selbst, sondern auf die Verbreitung der Kirche in der Kultur anwendet. Schleiermachers Kirchenbegriff ist damit eine Funktion der Ethik, also der Wissenschaft von der Organisation des menschlichen Geistes in der Geschichte. Das historische Ziel ist bei Schleiermacher doppelt belegt: Einerseits handelt es sich um das allgemeine formale Ziel einer Durchdringung der jeweiligen Kultur mit Religion, eben in Form einer Verbindung der jeweiligen Religionsgemeinschaft mit der jeweiligen Geschichte. Andererseits enthält die enzyklopädische Organisation des Theologiebegriffs damit nur den formalen Rahmen für Schleiermachers historische Sicht des Christentums, das er nicht als historisch relativ und vergänglich ansah, sondern als unüberbietbare, anthropologisch wahre und geschichtlich prinzipiell unverlierbare endgültige Erfüllung des religiösen Weakademisch selbstbezüglicher Theologiediskurs in einen kaum mehr vermittelbaren Gegensatz getreten sind. Die Theologie als universitäre Wissenschaft muss sich in dieser Situation auf die Kritik der kirchlichen Theologie konzentrieren, indem sie die Differenz von empirischer Kirche und unsichtbarer idealer Kirche bewusst hält. Graf verzichtet jedoch auf die Bestimmung dieser ekklesiologischen Norm, er setzt an ihre Stelle vielmehr den Verweis auf die individuell gelebte Religion. Die universitäre Theologie ist eine verstehende Religionshermeneutik gegenwärtiger religiöser Lebenspraxis. In dieser nicht normativen und nicht auf die Identität der Religion bezogenen Verfahrensweise korrigiert sie die Auswüchse einer selbstbezogenen Kirchentheologie.
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sens des Menschen. In seiner Sicht auf das Christentum vermischen sich kulturgeschichtliche, zivilisatorische und absolutheitsbezogene, geschichtlich– eschatologische Ideen des Reiches Gottes. Dafür bietet die theologische Enzyklopädie nur den formalen wissenschaftstheoretischen Rahmen, auch wenn das Christentum zugleich historisch diejenige Form von Religion darstellt, in der erst eine solche Theologie entwickelt worden ist. Der in der Enzyklopädie von Schleiermacher verwendete ethisch– kulturphilosophische Kirchenbegriff hat für die Theologie die Funktion, die Einheit sowie die sich geschichtlich weiter entwickelnde Vielteiligkeit ihres Inhalts zu garantieren und zu erklären. Wegen der sich kulturell ergebenden Durchdringung des Lebens mit der jeweiligen Religionsform können immer neue Bereiche des kulturellen Lebens zum Inhalt der Theologie werden. Neben (und in) den historischen Blick auf die Kirche und ihre Identität hat Schleiermacher deshalb eine diagnostisch–deskriptive kirchliche Soziologie der Gegenwart gestellt, die den (enger werdenden) Zusammenhang der institutionell organisierten Religion mit anderen Formen institutionell organisierten menschlichen Zusammenlebens beschreibt. Schleiermacher hat damit den Weg geöffnet für eine Beschreibung der sich wandelnden Gestalt jeder Religion in der Geschichte. Seine Überlegungen haben den Vorteil, dass sie einen Raum für Transformationen lassen, weil diese nicht als Abweichungen von der historischen Identität einer Religion interpretiert werden müssen, sondern als Ergebnis einer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung. Schleiermacher muß diese geschichtliche Entwicklung nicht immer schon deshalb als schlecht ansehen, weil sie notwendig die Ursprungssituation einer Religion verlässt. Andererseits negiert er ebenso die aufklärerische Absicht, der Religion eine Entwicklungsnorm abstrakt vorzugeben. Die reine philosophische Konstruktion einer wahren Vernunftreligion ist nicht geschichtlich realisierbar und deshalb spielt sie für seine Sicht der Geschichte der Kultur keine Rolle. Dazu kommen die für die Beurteilung der Lehre in der Religion maßgeblichen Ideen Schleiermachers, die in der Einleitung in die Enzyklopädie noch gar nicht angesprochen sind, wie die Entwicklung der Darstellung des religiösen Gefühls von mimischem zu rhetorischem und wissenschaftlich–systematischem Ausdruck. Während die Entwicklung die Veränderung des Ausdrucks erlaubt, bleibt der Bezug auf das einheitliche Wesen der Religion, das in der jeweiligen Gestimmtheit des religiösen Gefühls liegt, gewahrt. Schleiermacher hat damit keine Schwierigkeit, die geschichtliche Entwicklung der Religion in sein Theologieverständnis mit einzubeziehen. Er entwirft prospektiv die Möglichkeit einer Theologie, die sehr viel reicher sein wird, als es die inhaltlichen Überlegungen seiner eigenen historischen Theologie zu erkennen geben. Dazu wird im 19. Jahrhundert die Ablösung einer rein auf die
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Logik der Gedanken gerichteten Dogmengeschichte zugunsten einer umfassenden Ideengeschichte, aber auch die Einbeziehung der Sitte und der Mentalitäten in Form einer auf die Organisation des Lebens gerichteten historischen Religionskunde gehören. ‚Vielteiligkeit’ ist also ein Programm zur historischen, entwicklungsgeschichtlichen Pluralisierung des Kulturbezugs der Religion, der in der Theologie aufgearbeitet und wissenschaftlich begleitet wird. Deshalb läuft Schleiermachers Programm in der Enzyklopädie auf die gleichgewichtige Einbeziehung der kirchlichen Statistik in das Korpus der theologischen (kirchlichen) Wissenschaft hinaus. Diese kirchliche Statistik besteht aus zwei Teilen. Der erste ist konzipiert als eine vergleichende Konfessionskunde, die die Verschiedenheit der Konfessionen mit den Verschiedenheiten der jeweiligen Kultur darstellt. Und der zweite beschreibt die Außenbeziehungen der Kirche in der Gesamtgesellschaft. Die vielfältigen Beziehungen der Theologie auf die Kultur einer Zeit werden von Schleiermacher insbesondere für den Staat und für die Wissenschaft genannt. Das zeigt allerdings, dass er in seiner Ethik eher von fixen institutionellen Einheiten zur kulturellen Realisation der verschiedenen menschlichen Vermögen ausgeht. Entsprechend ist die kirchliche Statistik in erster Linie als eine empirische Soziologie der Institutionen ausgerichtet. Die Differenz von Religion, Recht und Wissenschaft wird dabei von Schleiermacher vorausgesetzt. Die Theologie richtet sich auf die kirchlich institutionalisierte Religion in der Geschichte – und ihre Differenz zu anderen institutionalisierten Großformationen des Bewusstseins. So bewahrt sie die Identität der christlichen Religion. III.2. Vielteiligkeit und Identitätsvoraussetzung Schleiermachers kulturgeschichtliche Vielteiligkeitsbehauptung funktioniert auf dem Hintergrund einer festen Identität der jeweiligen Religionen, die im Wesentlichen durch historischen Rückgang auf ihre Ursprungsgestalt eruiert werden kann.60 Diese einfache Identitätsbehauptung aber ist mit der zunehmenden Unbestimmtheit des zugrunde liegenden Religionsbegriffs einerseits, mit der Anerkennung einer grundsätzlichen historischen Wandlungsfähigkeit historischer Gebilde wie den Kirchen fraglich geworden. Die Identitätsbestimmung wird dadurch zu einer eigenen Aufgabe der Theologie. Zugleich unterwirft sich auch die Theologie in der Bestimmung der Identität dem historischen Wandel. Die fort60 Zur methodischen Frage der Wesensbestimmung und ihrer Anwendung auf das Christentum bei Schleiermacher vgl. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996.
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laufende Bestimmung der Identität als Aufgabe der Theologie ist damit selbst ein Bestandteil und ein Ausdruck des Wandels der Religion. Die Identität (des Christentums) ist auch in der theologischen Wissenschaft nicht festschreibbar. Die Bestimmung der Identität der Religionen wird problematisch durch die Unsicherheit bezüglich der Religion selbst. Der Religionsbegriff selbst neigt, mehr noch als andere innerweltlich funktionale Vermögen des Menschen, zu einer kritischen Auflösung. Wie sich die inhaltliche Begründung der Religion durch den Gottesgedanken, die Idee des Absoluten oder Unbedingten als höchst konstruktiv erwiesen hat, so ist auch die anthropologische Begründung der Religion inzwischen der grundsätzlichen Infragestellung ausgesetzt. Als empirisches Indiz für diese Schwierigkeit kann die zunehmende faktische Religionslosigkeit in Europa gelten, die in anthropologischen Theorien kaum erklärt werden kann. Sie muß als bewusste Verdrängung der Religion oder als Unbewusstheit über das eigene Wesen des Menschen interpretiert werden. Einen Ausweg gibt es nur, wenn die allgemeine religiöse Basis im Bewusstsein aufgelöst wird durch die Begrenzung der Religion auf die bewusste Verwendung religiöser Symbole, auf die bewusst religiöse Selbstdeutung der einzelnen. Religion ist nicht notwendig im Wesen des Menschen angelegt, sondern sie ist eine von vielen Möglichkeiten der menschlichen Kultur, dem Sinn und dem Erleben von Sinngewissheiten Ausdruck zu verleihen. Wie die menschheitsgeschichtliche Erforschung der Religion z.B. in der Achsenzeitdebatte ergeben hat, sind durchaus Modelle denkbar, Religion als historisch gegebene und historisch verschwindende Ausdrucksgestalt einer bestimmten Transzendenzkonstruktion zu verstehen, die für die menschliche Entwicklung und für die Entwicklung des menschlichen Selbstverständnisses phasenweise wichtig war. Verliert die Religion aber so ihre Dignität als ein gegebenes besonderes Feld menschlichen Fühlens, so werden religiöse Äußerungen zu besonderen inhaltlichen Darstellungsformen kulturellen Handelns und Deutens überhaupt. Die Differenz von symbolischem Ausdruck der Religion und der festen anthropologischen Basis (im Bewusstsein), mit der die Aufklärer die Vernunftkritik einerseits und die Verbindlichkeit der religiösen Aussagen andererseits zusammengebunden haben, ist selbst ein modernes philosophisch–theologisches Konstrukt. Dieses Differenzkonstrukt kann aber heute nicht einfach nur zurückgenommen werden, sondern es muß weiterentwickelt werden zugunsten der Differenz von symbolisch–religiösem Ausdruck und symbolisch–religiöser Produktion. Religiöse Symbole beziehen sich nicht auf ein außerhalb ihrer liegendes menschliches Bewusstseinsvermögen, das auch ohne diesen Ausdruck existent wäre. Sondern religiöse Symbole beziehen sich darstellend genau auf diese Produktion dieser Symbole durch den Menschen.
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Dieser Bezug nun ist selbst durchaus wiederum als Konstrukt einer theologischen Wissenschaft von der Religion zu beurteilen. Auch dieses Konstrukt erlaubt einerseits die Aufnahme der wachsenden Religionskritik, insbesondere in ihrer neuzeitlichen grundsätzlich–genetischen Fassung. Andererseits hält es an einer reflexiven Form der Gegenstands– und insofern Wahrheitsbindung des religiösen Ausdrucks fest. Es pluralisiert aber diese Gegenstandsbindung, indem es sie als reflexive Funktion beschreibt, die innerhalb vielfältiger, inhaltlich durchaus verschiedener religiöser Symbolsysteme auftreten kann. Die Identität der Religion wird damit auf die Ebene des bewussten reflexiven Gebrauchs der jeweiligen symbolischen Gehalte gehoben. ‚Religion’ wird zur Bezeichnung einer besonderen Weise reflexiver Aufmerksamkeit auf die symbolisch verfahrende Selbstdeutung des Menschen, zu einer besonderen Art Tiefenschichtreflexion kultureller Produktionen. Die abendländische Kultur ist durchsetzt mit christlichen Symbolen und Gehalten. Löst man die Voraussetzung einer fixen Identität der christlichen Religion ‚hinter’ diesen Symbolen und Gehalten auf, so kommt man zu einem Blick auf die Kulturgeschichte, der mehr an den Transformationen und neuen Gebrauchs– und Funktionsweisen symbolischer Produktionen interessiert ist. Die christliche Religion ist ein starkes integratives Bindemittel für die Herausbildung eines zivilisatorisch zusammenhängenden europäischen Geistes gewesen. Sie dominiert bis heute das Selbstverständigungsgeschehen abendländischer Zivilisation. Das heißt aber nicht, dass es eine einheitliche christliche Identität ‚gibt’. Sondern gerade mit Blick auf die gegenwärtigen Wandlungsprozesse ist eine offene(re) Beschreibung religiöser und christlicher Symbole, Gehalte und Verhaltensweisen notwendig. Gerade die Ablösung des Abendlandes von der allgemeinen Geltung der Religion erlaubt die Herausarbeitung der Bedeutung der symbolischen ‚Substanz’ christlich–religiöser Sprache. Soziologische, politische, rechtliche Funktionen lösen sich von der Gültigkeit des christlichen Glaubens ab und werden selbständig formulierbar, insofern auch neu allgemein zurechenbar. Auch den Atheisten und den Angehörigen fremder Religionen wird selbstverständlich die Anerkennung einer Gesellschaft zugemutet, die nach eigener Aussage nicht rein gegeben ist, sondern sich von transzendenten Voraussetzungen abhängig fühlt, die sie nicht selbst gemacht hat – die also nur im Modus der Deutung überhaupt gegeben sind. Auf der anderen Seite reduzieren sich überlieferte religiöse Deutungsmuster auf individuelle Sinnsetzungen, und auch die neokonservative Beschwörung transzendenter Gegebenheiten und Größen wird in der Außenwahrnehmung zum Stilmittel einer geschmäcklerisch– ästhetischen Selbstdarstellung ohne allgemeine Überzeugungskraft. Bezogen auf die gegenwärtige Problematik sowohl religiöser als auch christlicher Identität wird man der heutigen Organisation der Theologie den Vorwurf
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nicht ersparen können, weiterhin auf überholten festen Vorgaben aufgebaut zu sein.61 Schleiermacher hatte sein Konzept in der Forderung einer vergleichenden Konfessionskunde und einer Erforschung der Außenbeziehungen der Theologie münden lassen. Damit hatte er den Wandel im Selbstverständnis der Religionen und Konfessionen und ihre Transformation im historischen Geschehen immerhin mitten in die geisteswissenschaftliche Erfassung der Gegenwart eingeholt. Beides hat bis heute jedoch nur in Randgebieten der theologischen Wissenschaft Aufmerksamkeit gefunden.62 Die klassische Organisation der Theologie dreht sich weiterhin um die gegebenen Identitäten und weniger um die historischen Funktionen christlicher Symbolproduktionen. Sie ist an dem Gegensatz von Christentum und anderen Religionen interessiert, und nicht an den parallelen kulturgeschichtlichen Entwicklungsgestalten von ‚Religion’ oder an den offenen Transformationsmöglichkeiten der Religion (des Christentums) im Gebiet kultureller Selbstverständigung. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass sich neben und außerhalb z.B. der neutestamentlichen Wissenschaft eine eigene und eigenständige religionswissenschaftliche Erforschung antiker Kulturen etabliert. Sowenig wie es auf der anderen Seite verwunderlich ist, dass es kaum wirkliche interdisziplinäre Forschungen auf dem Grenzgebiet zwischen Kultur und Religion gibt. Ganz im Gegenteil, die wenigen existenten theologischen Ansätze innerhalb der Systematischen und Praktischen Theologie scheinen sich zunehmenden zu apologetischen, einfach vereinnahmenden oder strikt abgrenzenden Unternehmungen zu entwickeln. Auch hier erstaunt es nicht, wenn in Deutschland Germanisten und Historiker sich zunehmend ein eigenes Bild von der christlichen Religion machen. Das zwar allein ist noch nicht das Problem, aber es ist kritisch die zunehmende Unwilligkeit der Theologie zu konstatieren, sich auf solche Außensichten überhaupt noch zu beziehen. Dabei wäre es dringend 61 Michael Moxter, Riskierte Wirklichkeit. Warum braucht Religion Theologie?, in: ThLZ 128, 2003, 247–260, 259: Es darf „das protestantische Religionssystem nicht auf einseitige Stabilisierung von Identität setzen. Es muss … das Bestehende immer auch labilisieren.“ Das geschieht durch die Reflexion der Theologie. Sie hält „religiöse Kommunikation geschmeidig“, passt sie aktuellen Bedürfnissen und kulturellen Kontexten an, weist gegenüber identitätsstiftenden Zweckbestimmungen des Kirchenbezugs immer wieder auf die Veränderungen und kulturelle Anschlussnotwendigkeiten hin. Denn statt sich allein im Horizont des Vertrauten zu halten, dürfe der Protestantismus auf „gewagte Transformationen“ (ebd.) nicht verzichten. 62 Vgl. Klaus Tanner, Theologie im Kontext der Kulturwissenschaften, in:83–98, 96: „Wenn Theologen sich auf die faktisch vorhandene Vielfalt von Ausdrucksgestalten religiöser Kommunikation einlassen, wird sich das Themenspektrum erweitern. Literatur, bildende Kunst, Architektur genauso wie Fragen der Alltagskultur und der politischen Kultur erhalten dann einen höheren Stellenwert gegenüber der nach wie vor dominanten Orientierung an der Produktion von Theologen für Theologen.“
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nötig, in einem offenen interdisziplinären Gespräch die Probleme oft sehr vereinfachter, überholter Religionsverständnisse z.B. in der Germanistik und Geschichtswissenschaft, aber auch der Soziologie oder der Philosophie anzusprechen. Dazu wäre es aber ebenfalls nötig, sich von den eigenen fixen Vorgaben eines theologisch definierten Identitätskonzepts von (christlicher) Religion zu lösen und den interdisziplinären Diskurs als Folge und Spiegel eines offenen geschichtlichen Transformationsprozesses der Religion in der modernen Gesellschaft aufzufassen. III.3. Vielteiligkeit und Ausdifferenzierung der Theologie Schleiermacher versuchte, die geschichtliche Entwicklung offenzuhalten für einen kulturellen Gestaltwandel der Religion. Er konnte dies einräumen, weil er gerade im Gegenzug zu Lessing und Kant auf der bleibenden Identität der jeweiligen Religion hinter ihrer wechselnden Gestalten beharrte.63 Damit allerdings ergibt sich das Problem, das eine tatsächliche geschichtliche Transformation der Religion nicht gedacht werden kann. Das ergibt sich im ethischen Modell Schleiermachers schon dadurch, dass ein Ende der Religion oder ihre Ersetzung durch andere kulturelle Deutungsfunktionen prinzipiell nicht möglich ist. So wird für eine gegenwartsgemäße Theologie die Idee einer offenen geschichtlichen Entwicklung zum Prüfstein. Kann eine Form von Theologie so projektiert werden, dass tatsächliche, wesenhafte Transformation und Veränderung mit ihrer Hilfe beschrieben werden kann? Diese Frage wird hier vorsichtig formuliert, ohne einen allgemeinen Anspruch für alle mögliche Theologie damit zu erheben. So wird es denkbar, dass verschiedene Weisen theologischer Wissenschaft gleichzeitig gegeben sein können.64 Eine kirchliche Theologie, die der Anknüpfung an die Tradition verpflich63 Das Modell wird bis heute benutzt. Vgl. Dittmer, Theologie (wie oben Anm, 49), der einerseits die kulturelle Oberfläche der Kommunikation betont, in der andererseits die religiöse Tiefenschicht erst durch gebildete Interpretation herzustellen ist. Auch hier wird letztlich eine vorgegebene Identität der christlichen Religion („auf der Ebene der Textgrammatik“ 184, unter Bezug auf Dalferths Hermeneutik) beansprucht. 64 Eine solche Pluralisierung der Theologie selbst hat in expliziter Anknüpfung an Schleiermachers Wissenschaftskonzept Wolfgang Huber in seiner konzeptionellen Festrede für die Bochumer Theologie gefordert: ders., Unverzichtbare Theologie – ihr Beitrag für Universität, Kirche, Gesellschaft, in: Reinhard Göllner, Markus Knapp (Hg.), Kirche der Zukunft – Zukunft der Kirche, Münster 2006, 231–242. Hubers Rückgriff erweist sich als eigenständige Relecture, die Schleiermacher modernisiert für eine postmoderne Situation, in der es nicht mehr um die Korrektur einer rein rationalen Theologie hin zur praktisch–historischen Christentumswissenschaft, sondern um den Kampf einer hermeneutisch–kulturwissenschaftlich verfahrenden theologischen Wissenschaft und einer identi-
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tet ist und die Identität des Christentums zu bewahren sucht, und eine offenere kulturhermeneutisch verfahrende Theologie, in der die Identitäts– als Wesensfrage aufgegeben wird, können nebeneinander existieren.65 Eine solche kulturhermeneutische Theologie, die nicht mit festen Identitätsvorgaben arbeitet, sondern auf ergebnisoffene Transformationsprozesse gerichtet ist, bedarf gleichwohl einer eigenen Strukturierung. Diese richtet sich auf eine Kategorisierung und historische Anordnung verschiedener Veränderungsbewegungen zwischen Religion und anderen kulturellen Deutungsformen. Die Erarbeitung dieser verschiedenen Beziehungen muß von einzelnen, inhaltlich beschreibbaren Sachgebieten ausgehen. Es bedarf zunächst historisch– empirischer Beschreibungen von Austauschmöglichkeiten zwischen religiösen Inhalten, Werten und Leitideen und anderen, sich entweder aus der Religion ausdifferenzierenden oder aber eigenständig konstituierten kulturellen Deutungsformen. Ausdifferenzierung und autonome Übernahme, Säkularisierung und Sakralisierung, Funktionsverschiebung bei gleicher Semantik oder umgekehrt Funktionserhaltung bei ganz verschiedener Semantik sind solche Prozesse. Kulturelle Deutungsformen können Religion ersetzen wollen, indem sie sie ausschließen oder an sie anknüpfen, sie können aber auch in sich religiöse Muster absorbieren, ohne dies beabsichtigt zu haben. Solche wechselseitigen Rezeptionsprozesse können wiederum aufeinander zurückwirken und so den Prozeß der Wandlung zusätzlich dynamisieren. Moralisch–theologische Fragen rund um Recht, Staat und Wirtschaft, transzendenzbezogene Begründungsformen in den jeweiligen symbolischen Formen, Darstellungs– und Vollzugsaspekte in künstlerisch–ästhetischen Werken können Ausgangspunkt solcher kulturhermeneutischer Fragestellungen sein. Theologieintern würde das bedeuten, dass Schleiermachers wesensbezogene religionsphilosophische Grundlegung der historischen Religionen– und Konfessionskunde umzuformen wäre in eine reflexive Theorie der Benutzung und Produktion religiöser Symbole. Diese Theorie leitet den Gebrauch religiöser Symbole aus der Geschichte her und verfolgt die Stadien reflexiver Verinnerlichung und verinnerlichter Vergegenständlichung. Diese Theorie kann stehen für eine täts– bzw. profilbezogenen Kirchentheologie geht. Huber interpretiert Schleiermachers wechselseitiges Implikationsverhältnis von theologischem Wissen und praktischem Handeln als eine freie Zuordnung zweier eigenständiger, nebeneinander existierender Größen. 65 Es gibt auch Stimmen, die die Möglichkeit einer solchen Theologie ganz verneinen. Vgl. Dinkel, Kirche gestalten (wie Anm. 4), 7: „Die Theologie kann sich die vornehme und kritische Distanz zu den Kirchen nicht mehr leisten.“ Hier wird mit einem Ende der Theologie gedroht, wenn diese nicht durch die Stellung der Kirchen in der Gesellschaft gestützt werde.
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Grundlegung der Kategorien und Strukturen von Säkularisierungs– und Transformationsprozessen. Sie ist aber selbst zugleich nur ein Beispiel für diesen historischen Prozess, weil sie die Geschichte der Religion inhaltlich rekonstruiert im Bezug auf die Umformungen der Dogmatik. Insofern beansprucht sie nicht, im alten Sinn eine religionsphilosophische Grundlegung der Theologie zu sein. Vielmehr wäre zugleich in ihr eine Theorie dafür zu entwickeln, dass auch die Transformationsprozesse der Religion der Pluralisierung der modernen Lebenswelt unterworfen sind.66 Damit wird zugestanden, dass außerhalb des dogmatischen Denkens über Religion die Religion auch in vielen anderen Formen der Symbol– und Sinnproduktion des Menschen aufgenommen und umgeformt wird. Eine Vielfalt bereichsspezifischer Säkularisierungs–, Sakralisierungs– und Transformationsprozesse von Religion im Kontext der dauernden Ausdifferenzierung der Lebenswelt wäre gleichzeitig anzuerkennen und zu beschreiben. So kommt es zu einer neuen, jenseits der Identitätsfrage anzusiedelnden Vervielfältigung der Formen der Theologie. Ihre Grundlage ist die Vermutung, dass in der Reflexivität der verschiedenen gesellschaftlichen und symbolischen Deutungssprachen und –systeme religiöse Bestände verflüssigt, religiöse Bezüge verschieden gedeutet und religiöse Funktionen parallel umgeformt werden. Darin kommt es zu einer Wechselwirkung zwischen der Reflexivität der Religion und der Reflexivität der einzelnen symbolischen Formen der Kultur. Bezogen auf das Theologiestudium und die Theologie als Wissenschaft leitet das zu der Frage über, ob die alte Einheits– und Identitätsfrage der Theologie, die Schleiermacher mit dem Kirchenbegriff zu klären versucht, unter gegenwärtigen Bedingungen noch für das Verständnis der Wissenschaftlichkeit der Theologie leitend sein kann. Schleiermacher sieht, dass ohne Bezug auf die Kirche die Theologie in eine Vielfalt verschiedener Wissenschaft zerfällt. Heute besteht eher umgekehrt das Problem, dass die Absetzung der Theologie von den anderen Human–, Geistes– und Geschichtswissenschaften den Bezug auf die anderen Wissenschaften vergessen macht und so die Wissenschaftlichkeit der Theologie hinter die theologieinterne Beschwörung ihrer Identität zurücktritt.67 66 Vgl. dazu die Anmerkungen Christian Grethleins (Ertrag der Konsultation aus Sicht der wissenschaftlichen Theologie, in: Hermann Bahr (Hg.), Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie – Dokumentation der XIV. Konsultation, EKD–Texte 90, Hannover 2007, 94–98), der das Fehlen der Pluralisierungsthematik vermisst und die Anerkennung einer anderen, kritischen Außenperspektive auf die Theologie in dem Gespräch der Theologie über sich selbst einfordert. 67 Identität und Kritik können sich in der Funktion des Kirchenbegriffs auch verbinden, wie offenbarungstheologische Beschreibungen des Wissenschaftscharakters der Theologie zeigen. Ulrich Körtner (Die Frage nach der Frage, auf die die Theologie die Antwort ist, in: 407–423) nimmt Friedrich Wilhelm Marquardts Formulierung auf, grundsätzlich sei
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Nicht nur in Bezug auf das Studium der Theologie wäre zu überlegen, ob nicht immer neben der Theologie eine der (anderen) ‚Ursprungswissenschaften’ des in die Theologie aufgenommenen Wissens zu berücksichtigen wäre. Auch inhaltlich wäre zu fordern, dass die theologischen Wissenschaften wieder mehr im engeren interdisziplinären Austausch ihre Probleme auffassen und beschreiben, im Sinne der oben beschriebenen Offenheit für identitätsverändernde kulturelle Entwicklungen.
die Beschreibung und Festlegung des Gottesgeschehens in affirmativen Sätzen der theologische Beitrag zu einer totalitären Hermeneutik und zur Unterdrückung des sich bekennenden und kämpfenden Menschen (421). Die Kritik an dieser (jeder) totalitären Hermeneutik ist keine menschliche Möglichkeit, sondern nur gegeben innerhalb der „Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung“ (420), also in der christlichen Kirche. (Solche Formulierungen provozieren wissenschaftstheoretisch immer die Rückfrage, wer eigentlich – einmal vorausgesetzt, die Transzendenzsetzung der notwendigen Fundamentalkritik an menschlicher Erkenntnis ist sinnvoll und richtig – diese kritische Erinnerungsspur aufzeigt und verwaltet, wer das geschichtliche Leben hinter der Aussage identifizieren und benennen darf. Nur – kirchliche – Theologen?) Bei Hans Martin Rieger (Theologie als Funktion der Kirche. Eine systematisch–theologische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirche n der Moderne, Berlin 2007) wird diese theologiekritische Selbstreferenz der Kirchenfunktion durch eine metadogmatische Reformulierung der Kreuzestheologie im Gefolge Iwands begründet und eingelöst. Vgl. auch Ulrich Kühn, Die Kirche als Ort der Theologie (1984), in: ders., Die eine Kirche als Ort der Theologie, Göttingen 1997, 38–55.
Theologie unter den Bedingungen der Moderne. Die Bedeutung von Schleiermachers ‚Kurzer Darstellung’ für eine Theorie der Theologie mit Blick auf Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften Constantin Plaul Es dürfte zum Wesen der Geistes– und Kulturwissenschaften gehören, dass sie in einer ständigen Reflexion über dieses Wesen begriffen sind. In der jüngeren Diskussion lassen sich diesbezüglich mindestens vier Problemkreise aufweisen – die freilich nicht immer randscharf voneinander zu trennen sind, sondern zum Teil stark ineinander greifen: der Streit um einen angemessenen Oberbegriff für diese Wissenschaftsgruppe, die Frage nach ihrem geschichtlichen Ursprung, die Auseinandersetzung um die Bedeutung methodischer Kontrolliertheit ihres Vorgehens sowie die Problematik des Historismus.1 Angesichts der hohen Aktualität, die genannte Punkte gegenwärtig besitzen, mag es überraschen, wie früh sie bereits eine erste Bearbeitung gefunden haben, waren doch schon die wissenschaftstheoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht durch analoge Problemstellungen geprägt. Diesbezüglich kann paradigmatisch auf die Arbeiten Wilhelm Diltheys verwiesen werden, dem wir eine in hohem Maße ausgereifte Theorie der Geisteswissenschaften verdanken, die auch das Folgemodell der Kulturwissenschaften nachhaltig geprägt hat. Schon bei ihm lassen sich die vier Problemdimensionen wiederfinden: Obwohl Dilthey häufig eine nicht hinreichend reflektierte Verwendung des Ausdrucks ‚Geisteswissenschaften‘ zugeschrieben wird, ist er sich der Fraglichkeit desselben durchaus bewusst und wählt ihn erklärtermaßen in Ermangelung eines besseren Ersatzbegriffes;2
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Vgl. dazu die Arbeiten von Gunter Scholtz zu Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, vor allem: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1991; Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1995; Die Theorie der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, Heft 4 (1999), 309–315; Theorie der Geisteswissenschaften. Stellungnahme zum Meinungsstreit, in: Die Philosophie in ihren Disziplinen. Eine Einführung. Bochumer Ringvorlesung vom Wintersemester 1999/2000, hg. v. Burkhard Mojsisch/Orrin F. Summerell, Amsterdam/Philadelphia 2002, 263–278. Vgl. GS I, 5f. (Aus Diltheys Gesammelten Schriften wird zitiert, indem erst die römische Band– und dann die arabische bzw. römische Seitenzahl genannte wird.) Bekanntlich übernimmt Dilthey den Terminus ‚Geisteswissenschaften‘ der deutschen Ausgabe (1849)
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zur Geschichte der Geisteswissenschaften hat er ausgiebige Studien vorgelegt; die Frage nach einem angemessenen Verfahren, das der Klasse der nicht mit der Natur befassten Wissenschaften ihre methodologische Integration sichert, kann als eines der zentralen Anliegen seines Denken bezeichnet werden; und dass keine Selbstverständigung unter Absehung des jeweiligen Geworden–Seins erfolgen kann, stellte für Dilthey eine unhintergehbare Einsicht modernen Geschichtsdenkens dar. Ein entscheidender Unterschied zwischen seiner und der späteren Lage dürfte gleichwohl darin zu erblicken sein, dass ihn das Desiderat abschließender Problemlösungen weniger pessimistisch stimmte als dies heute mitunter der Fall zu sein scheint. Jedenfalls hätte er der Einschätzung einer ‚Krise der Geisteswissenschaften‘, wie sie sich im 20. Jahrhundert herausgebildet hat und letztlich bis heute anhält, sicherlich nicht ohne weiteres zugestimmt. Nun besitzt auch Diltheys Konzeption einen problemgeschichtlichen Hintergrund. Neben den vielen Einflüssen, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, kann derjenige Schleiermachers wohl als einer der wichtigsten gelten. Nicht nur dass Dilthey bei einer Vielzahl von dessen Schülern studiert hat, nicht nur dass er schon früh an der Edition von dessen wissenschaftlich– schriftstellerischem Werk maßgeblich beteiligt war und nicht nur dass er schon bald zu einem der führenden Schleiermacher–Forschern avancierte, auch in sachlicher Hinsicht gibt es bedeutende Entsprechungen zwischen beiden Autoren. Um nur einige zu nennen: Es lassen sich Nähen im Philosophieverständnis nachweisen, es gibt gewisse Parallelen zwischen Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften und Schleiermachers Philosophischer Ethik, in zentralen Punkten seiner Psychologie zeigt Dilthey sich von Schleiermachers Subjektivitätstheorie beeinflusst, und es ist bekannt, dass Dilthey dessen Hermeneutik überaus geschätzt hat. Einen bisher kaum beachteten Aspekt dieses problemgeschichtlichen Verhältnisses stellen hingegen die Berührungspunkte zwischen Diltheys Geisteswissenschaftskonzeption und Schleiermachers Kurzer Darstellung des theologischen Studiums (1811/1830) dar. Im Rahmen seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883) hat Dilthey jenem Buch eine emphatische Würdigung zuteil werden lassen, indem er es geradezu als Muster aller Enzyklopädie herausgestellt hat. Nimmt man diese ausdrückliche Wertschätzung zum Anlass, nach weiteren Überschneidungen zwischen Schleiermachers Theorie der Theologie und Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften Ausschau zu halten, so lassen sich einige bemerkenswerte Beobachtungen machen. Letztere werden
von John Stuart Mills, A System of Logic (1843), in der Jacob Schiel den Begriff ‚moral sciences‘ mit ‚Geisteswissenschaften‘ übersetzt hat.
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den Hauptgegenstand der folgenden Ausführungen bilden. Freilich treten die entsprechenden Ähnlichkeiten nur dann in den Blick, wenn von inhaltlichen Momenten weitgehend abgesehen wird und die Gemeinsamkeiten vor allem auf formaler Ebene gesucht werden. Es soll also nicht etwa unterstellt werden, die Philosophie der Geisteswissenschaften wäre gleichsam theologisch unterwandert. Allein um Entsprechungen im Methodologischen soll es gehen. Ehe hierfür strukturelle Analogien in Betracht gezogen werden, die sich in genannter Hinsicht zwischen Schleiermacher und Dilthey aufzeigen lassen (II.), soll zunächst Diltheys eigener Ansatz skizziert und seine explizite Bezugnahme auf Schleiermachers Kurze Darstellung vorgestellt werden (I.). Schließlich soll der Vergleich dadurch präzisiert werden, dass auch auf gleichwohl bestehende Unterschiede zwischen dem Wissenschaftsverständnis Schleiermachers und Diltheys hingewiesen wird (III.).
I. Dilthey wurde der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zunächst vor allem über seine eben erwähnte Schrift bekannt. Dabei lassen sich seine Überlegungen zum Programm einer Grundlegung des Studiums der Geschichte und Gesellschaft biographisch weit zurück verfolgen. Anfängliche Hinweise finden sich bereits in der nur kurz nach Absolvierung seines Studiums verfassten Arbeit zu Schleiermachers Hermeneutik und ihrer Vorgeschichte, der sogenannten Preisschrift (1859). Auch die fünf Jahre später erfolgende Promotion, berührt diese Frage in wesentlichen Punkten.3 Einen ersten publizistischen Kulminationspunkt fand diese Entwicklung in der 1875 unter dem Titel Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat veröffentlichten Arbeit. In der Einleitung nimmt Dilthey also einen, wenn nicht den zentralen Gegenstand seines Denkens in Angriff: eine philosophische Besinnung auf den Zusammenhang und die gemeinsame Basis der Geisteswissenschaften. Darüber hinaus ist auf einen weiteres Motiv für deren Abfassung hinzuweisen: 1870 hatte Dilthey den ersten Band seiner Studie zum Leben Schleiermachers veröffentlicht, in der er sowohl Schleiermachers frühe Entwicklung nachzuzeichnen als auch dessen geistesgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten
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Der Titel der – in Latein verfassten – Abhandlung lautet: De principiis ethices Schleiermacheri. Sie besteht aus zwei Teilen, in denen Dilthey Schleiermachers Ethik zunächst in die Geschichte dieser Disziplin einordnet, um sie sodann systematisch zu rekonstruieren. Letztgenannter Teil ist – in Diltheys eigener Übersetzung – abgedruckt in GS XIV/2, 339–357.
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sucht. Ein zweiter Band war geplant, der eine systematische Rekonstruktion von Schleiermachers Denken bieten sollte.4 Wie Dilthey in der Vorrede zur Einleitung festhält, ergab sich im Zuge der Vorarbeiten hierfür, „daß die Darstellung und Kritik des Systems von Schleiermacher überall Erörterungen über die letzten Fragen der Philosophie voraussetzten. So wurde die Biographie bis zum Erscheinen des gegenwärtigen Buches zurückgelegt, welches mir dann solche Erörterungen ersparen wird“ (GS I, XX). Diltheys erste größere Ausarbeitung seiner Theorie der Geisteswissenschaften steht werkbiographisch also in engem Zusammenhang seiner konstruktiv–kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermacher. An den Anfang der Abhandlung stellt Dilthey den gegenwartsdiagnostischen Befund, dass „[d]ie Wissenschaften, welche die geschichtlich– gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, … angestrengter als je zuvor geschah ihren Zusammenhang untereinander und ihre Begründung [suchen]“ (GS I, 4). Die Frage nach der inneren Einheit und der gemeinsamen Grundlage der vielfältigen mit der soziokulturellen Welt befassten Disziplinen zählt für Dilthey zu den drängendsten Problemen seiner Zeit,5 auf die er mit seinem Projekt einer ‚Kritik der historischen Vernunft‘ eine Antwort zu geben sucht. Sein Unternehmen ist dabei nicht rein wissenschaftlicher Natur, sondern wird mit den „praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft“ in enge Verbindung gebracht: Es ist Dilthey um den „Zweck einer Berufsbildung“ der „leitenden Organe“ zu tun, womit das gesamte Spektrum akademischer Ausbildung in den Blick genommen ist. Die klassische Unterscheidung von höherer und niederer Fakultät spielt keine Rolle mehr, sondern Dilthey richtet sich mit seinem Werk an alle, die „sich mit der Geschichte, der Politik, der Jurisprudenz oder politischen Ökonomie, der Theologie, Literatur oder Kunst beschäftigen … Diese Einleitung möchte dem Politiker und Juristen, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfassenden Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, schließlich die Arbeit seines Lebens gewidmet ist“ (GS I, 3). Diltheys bekannte Forderung nach einer
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Diesen zweiten Band hat Dilthey niemals fertiggestellt. Die Entwürfe dazu finden sich jetzt in GS XIV 1/2. Hier hat auch die Preisschrift Aufnahme gefunden, vgl. XIV/2, 660– 787. „Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche der in den kleinen griechischen Politien im 5. und 4. Jahrhundert vor Christo ähnlich ist, als die Umwälzungen in dieser Staatengesellschaft die negativen Theorien des sophistischen Naturrechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der sokratischen Schulen über den Staat hervorbrachten“ (GS I, 4).
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erkenntnistheoretisch–psychologischen, logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften kommt vor diesem Hintergrund zu stehen. Er meint damit nicht, einen völlig neuen Gesichtspunkt in die Wissenschaftsdebatte einzuführen. Denn zwar sei in den Wissenschaften der menschlichen Welt das Bewusstsein um ihre Zusammengehörigkeit und ihr gemeinsames Fundament nur ungenügend ausgebildet – wie Dilthey besonders im Kontrast zu den entsprechenden Errungenschaften auf dem Gebiet der Naturwissenschaften illustriert. Gleichwohl erblickt er im Drang nach Systematizität ein wesentliches Element in der Geschichte der Geisteswissenschaften, das mit ihrer sozialen Funktionalität aufs Engste zusammenhängt. Dilthey veranschaulicht dies anhand der Entstehung von Jurisprudenz, Rhetorik und Politik in der Antike. Hierbei geht er von Rationalisierungsprozessen aus, in Folge derer die für eine Gesellschaft elementaren Funktionen zunehmend professionalisiert wurden: Die zunächst allenfalls kunstfertige Ausführung bestimmter sozial relevanter Aufgaben erfuhr eine szientifische Vertiefung, die sich im „Fortgang zu umfassenden wissenschaftlichen Theorien“ niederschlug. Letztere wurden zur Grundlage aller beruflichen Schulung, woraus sich dann ein „Bedürfnis der Übersicht über das für solche Vorbildung Erforderliche“ entwickelte. Dies wiederum machte eine Reflexion auf die „Systematik derjenigen Wissenschaften des Geistes, welche die Grundlage der Berufsbildung der leitenden Organe der Gesellschaft enthalten, sowie die Darstellung dieser Systematik in Enzyklopädien“ erforderlich. Hierin erblickt Dilthey ein „Grundverhältnis[ ]“ (GS I, 22), das sich an jeder einzelnen Geisteswissenschaft aufweisen lasse. Die Frage nach der Einheit der unterschiedlichen Disziplinen ist folglich nicht erst ein modernes Phänomen, wenn sie auch unter den Bedingungen gesteigerter sozialer Ausdifferenzierung eine neue Herausforderung darstellt. In diesem Zusammenhang kommt er nun auch auf Schleiermachers Kurze Darstellung zu sprechen, der er eine herausragende exemplarische Bedeutung beimisst. Dilthey zufolge wird „die natürlichste Form dieser Enzyklopädien … immer die sein, welche mit dem Bewußtsein von diesem Zwecke [sc. jener Übersicht über die für die Berufsausführung erforderlichen Bildungsgrundlagen] aus den Zusammenhang gliedert“, wie „Schleiermacher meisterhaft an der Theologie gezeigt hat“ (GS I, 22).6 Dilthey geht es dabei um die Funktion der Kur
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In einer Anmerkung weist Dilthey neben nochmaliger Erwähnung Schleiermachers auch auf die ,Juristische Encyklopdie (1853) Leopold August Warnkönigs, auf die ,Encyklopädie der Staatswissenschaften (1859) von Robert von Mohl sowie auf die ,Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1877) August Boeckhs hin, vgl. GS I, 22, Anm. 2.
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zen Darstellung für die Geisteswissenschaften überhaupt, weswegen er von den in ihr zum Ausdruck kommenden theologischen Fragen im engeren Sinne absieht. Es sind zwei Aspekte, auf die er in diesem Zusammenhang hinweist: Einerseits stellt er die Besinnung auf die systematische Form der Wissenschaft heraus, andererseits macht er darauf aufmerksam, dass solche Einheit letztlich mit der gesellschaftlichen Aufgabe der betreffenden Disziplin eng zusammenhängt. Es nimmt nicht Wunder, dass er hierfür auf Schleiermachers Enzyklopädie verweist, spielen in ihr beide Sachverhalte doch in der Tat eine zentrale Rolle. Schleiermacher selbst7 hatte bei der Ausarbeitung einer Theorie der Theologie, wie er sie in der Kurzen Darstellung8 entwirft, vor der doppelten Herausforderung gestanden, einerseits den Zusammenhang der theologischen Wissenschaft aufzuzeigen, andererseits aber zugleich deren interner Ausdifferenzierung gebührend Rechnung zu tragen. Denn im Zuge ihrer neuzeitlichen Entwicklung hatte sich auch die Theologie zunehmend aufgefächert, woraus zugleich eine Intensivierung der Beziehung ihrer spezialisierten Teilbereiche zu den entsprechenden außertheologischen Nachbarfächern resultierte. Hinzu kam, dass sich viele der vormals noch ganz innerhalb der Theologie angesiedelten Disziplinen emanzipiert hatten und nun als eigenständige Wissenschaften auftraten. Angesichts dieser Lage war die Frage nach der Einheit der Theologie weder durch den Rückgang auf ein besonderes theologisches Erkenntnisprinzip noch durch den Bezug auf einen bestimmten Gegenstandsbereich mehr zu beantworten.
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Vgl. im Folgenden Hans–Joachim Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, in: Helge Hultberg u.a. (Hg.): Schleiermacher in besonderem Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte in Dänemark: Vorträge des Kolloquiums am 19. und 20. November 1984, Kopenhagen/München 1986, 59–81; wiederabgedruckt in: Hans–Joachim Birkner: Schleiermacher–Studien, eingel. u. hg. v. Hermann Fischer. Mit einer Bibliographie der Schriften Hans–Joachim Birkners von Arnulf von Scheliha, Berlin/New York 1996, 285–305; Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Berlin/New York 1994; Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996, 100–123; Ulrich Barth: Theorie der Theologie (dieser Text wird den Abschnitt 3.5.2.3.1 des von Martin Ohst herauszugebenen Schleiermacher– Handbuchs bilden, das demnächst bei Mohr & Siebeck erscheinen wird. Ich danke Herrn Barth für die Möglichkeit einer Vorabeinsicht). Beide Auflagen der Kurzen Darstellung sind in der Kritischen Gesamtausgabe [=KGA] abgedruckt. Die erste von 1811 befindet sich in KGA, Abt. I, Bd. 6, 243–315; die zweite von 1830 findet sich an angegebenem Ort 317–446. Im Folgenden bezieht sich die Seitenangabe der Zitate aus der Kurzen Darstellung [=KD] auf die zweite Auflage. Sie erfolgt in der Regel direkt im Haupttext, wobei allein die Paragraphenzahlen genannt werden.
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Schleiermacher löst das Problem dadurch, dass er die Theologie als „eine positive Wissenschaft“ definiert, „deren Theile zu einem Ganzen verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d.h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum“ (KD § 1).9 Für eine solche Wissenschaft ist es Schleiermacher zufolge konstitutiv, dass die von ihr umgriffenen wissenschaftlichen Teilbereiche ihre Zusammengehörigkeit nur insofern haben, als „sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind.“ (KD § 1). „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist“ (KD § 5). Die Einheit des theologischen Wissenschaftszusammenhangs ergibt sich Schleiermacher zufolge also durch den Bezug auf die Kirchenleitung. Allerdings redet er damit nicht etwa einer Klerikalisierung der Theologie das Wort. Denn zum einen wird durch die kirchliche Ausrichtung nicht die Wissenschaftlichkeit, sondern bloß die Einheit der Disziplinen begründet, zum anderen geht aus § 1 deutlich hervor, dass Schleiermacher den Begriff der Kirche in einem weiten Sinne fasst, indem er ihn mit der kulturellen Größe ‚Christentum‘ in enge Verbindung bringt.10 In der Durchführung der Kurzen Darstellung ist Schleiermacher dann ganz auf das „Formale[ ]“ gerichtet, d.h. er bietet keinen Überblick über die Inhalte des theologischen Studiums, sondern will lediglich „die Bedeutung der einzelnen Teile und ihr[en] Zusammenhang“11 aufzeigen.12 Dilthey hat diese Verschränkung von Reflexion auf den Zusammenhang einer Wissenschaft mit deren soziokulturellen Funktion unmittelbar eingeleuchtet. Auch wenn er insofern über Schleiermacher hinausgeht, als er nicht mehr nur für die ‚positiven Wissenschaften‘,13 sondern letztlich für alle Geisteswissenschaften postuliert, dass sie ‚in der Praxis des Lebens selber erwachsen‘,14 erachtet er Schleiermachers Entfaltung einer Theorie der Theologie geradezu als mus
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Den Begriff der ‚positiven Wissenschaft‘ übernimmt Schleiermacher bekanntlich aus der siebten von Schellings. Vorlesungen über die Methode akademischen Studiums (1802). Vgl. Ulrich Barth: Theorie. KGA I.6, 321f. Birkner hat deswegen von einer „‚formalen‘ Enzyklopädie“ gesprochen, ders.: Reformprogramm, 291. Zum theologiegeschichtlichen Hintergrund von Schleiermachers Enzyklopädie vgl. Marianne Schröter: Enzyklopädie und Propädeutik in der halleschen Tradition, in: Pietismus und Neuzeit. Bd. 35. Göttingen 2009, 115–147. Schleiermachers Begriff der ‚positiven Wissenschaft‘ impliziert notwendig den Gegenbegriff einer ‚reinen Wissenschaft‘, die gerade nicht aus praktischen Bedürfnissen erwachsen sind, vgl. KD § 1 Erl. Vgl. auch GS I, 4, 378.
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tergültiges Beispiel enzyklopädischer Darstellung. Dem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Systematizität habe Schleiermacher mit seinem Theologieprogramm eindrucksvoll Rechnung zu tragen gewusst. Freilich konnte dessen Enzyklopädie für Dilthey dann nicht den letzten Schritt bedeuten, da sie zwar exemplarisch vorführt, wie eine wissenschaftssystematische Einheitsreflexion aussehen kann, sie dies jedoch lediglich für den Bereich der Theologie leistet. Einer Philosophie der Geisteswissenschaften ist es demgegenüber darum zu tun, „solche Versuche überschreitend[ ] die Gesamtgliederung der Wissenschaften zu entdecken“ (GS I, 22).
II. Im Folgenden soll es nun darum gehen, allgemeine Berührungspunkte zwischen Schleiermachers theologietheoretischer und Diltheys geisteswissenschaftlicher Konzeption ausfindig zu machen. Dabei kommen die anvisierten Überschneidungen – wie gesagt – nicht auf inhaltlicher Ebene zu stehen, sondern es geht um Ähnlichkeiten, die sich zwischen Schleiermachers Theorie der Theologie und Diltheys Methodologie der Geisteswissenschaften auffinden lassen. (a) Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung einer auffallenden Ähnlichkeit zwischen der Struktur des Aufbaus der Kurzen Darstellung und Diltheys Benennung dreier methodologischer Grundzüge aller Geisteswissenschaften. In der Einleitung hat er diesen Sachverhalt prononciert formuliert. Dort heißt es in Abschnitt VI: Die Geisteswissenschaften … verknüpfen in sich drei unterschiedliche Klassen von Aussagen. Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt. Tatsachen, Theoreme, Werturteile und Regeln: aus diesen drei Klassen von Sätzen bestehen die Geisteswissenschaften. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung in der Auffassung, der abstrakt–theoretischen und der praktischen geht als ein gemeinsames Grundverhältnis durch die Geisteswissenschaften. (GS I, 26, Hvh. v. Verf.)
Dilthey geht von drei „Zwecken der Geisteswissenschaften“ (GS I, 27) aus, denen jeweils eine spezifische Methodik entspricht. Jeder Geisteswissenschaft ist gleichsam eine Signatur eingeschrieben, der zufolge sie erstens eine Erarbeitung historisch gegebenen Stoffes erbringt, zweitens theoretische Urteile über strukturelle Zusammenhänge bildet und drittens praktische Folgerungen für den in
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Frage stehenden Bereich zu ziehen unternimmt. Diese dreifache Gliederung ist für Diltheys wissenschaftliches Vorgehen zeitlebens von Bedeutung geblieben.15 Dabei tritt sein kulturwissenschaftlich–reflektierende Zugangsweise an dieser Stelle insofern deutlich heraus, als alle diese „Zwecke der Geisteswissenschaften … nur … vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden [können]“. Die drei Aussageklassen bzw. methodischen Zugangsweisen sind also nur vermöge der „Kunstgriffe des Denkens“ (ebd.) unterschieden, die den Komplex geisteswissenschaftlichen Arbeitens in die genannten Teile zerlegt.16 Angesichts der Begriffskette ‚Tatsachen/ Theoreme/ Werturteile und Regeln‘ mag man nicht sogleich versucht sein, an Schleiermachers Kurze Darstellung zu denken. Hingegen erinnern die Gliederungsstichworte des ‚historischen Bestandteils‘, des ‚theoretischen Bestandteiles‘ und des ‚praktischen Bestandteiles‘ – in formaler Hinsicht – durchaus an Schleiermachers Theorie der Theologie, nämlich an die darin gebotene „Trilogie“ (KD § 31) von ‚philosophischer Theologie‘, ‚historischer Theologie‘ und ‚praktischer Theologie‘. Dilthey bietet zwar eine andere Reihenfolge, aber er konzipiert eine Struktur geisteswissenschaftlicher Methodologie, die ebenfalls dreigliedrig angelegt ist und deren Elemente – mit gewisser Vorsicht – jeweils auf Schleiermachers Konzeption abgebildet werden können: Wie dieser setzt auch Dilthey hinsichtlich der einzelwissenschaftlichen Durchdringung des geschichtlich–gesellschaftlichen Lebens einen Doppelzugang aus historischen und kategorialen Auffassungsweisen voraus, denen zugleich eine praktische Dimension zugeordnet wird. Was das im Einzelnen bedeutet, wird noch zu klären sein. (b) Eine weitere Parallele ergibt sich, wenn der Blick nochmals auf Schleiermachers Antwort auf das Problem der Einheit der Theologie zurück gelenkt wird. Wie gesehen qualifiziert er sie zunächst als eine ‚positive Wissenschaft‘ und stellt den Zusammenhang der in ihr versammelten wissenschaftlichen Teilbereiche darüber her, dass sie gemeinsam an der Lösung einer praktischen Auf
15 Das ließe sich anhand seiner konkreten Durchführungen zur Poetik und Pädagogik aufweisen. Es liegt aber auch dadurch klar auf der Hand, dass Dilthey in seinem ,Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) ausdrücklich Bezug auf die entsprechende Stelle der Einleitung nimmt, vgl. GS VII, 87. 16 Der Begriff der Abstraktion ist bei Dilthey mehrdeutig. Auf der einen Seite kann er pejorativ gebraucht sein, etwa im Zusammenhang der ‚abstrakten Schule‘. Auf der anderen Seite verwendet Dilthey ihn selbst in affirmativer Weise, wobei wiederum mindestens drei Ebenen unterschieden werden können: Er kann als methodischer Operator dienen, und zwar, erstens, sowohl für die Differenzierung von Geistes– und Naturwissenschaften bzw. die Entfaltung eines mehrdimensionalen wissenschaftssystematischen Entwurfes als auch, zweitens, für die Strukturierung der Methodologie der Geisteswissenschaften; drittens kann er ebenso für das zweite der drei methodologischen Elemente stehen.
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gabe, nämlich der Kirchenleitung, arbeiten. Damit ist jedoch nur eine notwendige und keine hinreichende Einheitsbedingung gegeben. Denn „in einer zweckmäßigen Tätigkeit“ kann sich die Leitung der Kirche wiederum „nur durch Aneignung jener [sc. wissenschaftlichen] Kenntnisse … äußern“ (KD § 8). Obwohl der Kirchenbezug für den funktionalen Zusammenhang der Theologie eine entscheidende Bedeutung besitzt, ist er selbst wiederum von einer Bestimmung dessen abhängig, was überhaupt Gegenstand eines solchen ‚kirchenregimentalen‘ Handelns sein kann. Zwar sind die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven erst durch ihre gemeinsame Bezogenheit auf die Kirche innerlich verbunden, aber die kirchenleitende Technik ist nicht denkbar ohne ein „Wissen um das Christentum“ (KD § 10, Hvh. v. Verf.). Der formale Zusammenhang einer funktionalen Theorie der Theologie kommt folglich nicht ohne den materialen Zusammenhang einer Theorie des Christentums aus. Die wissenschaftliche Rekonstruktion des geschichtlich–positiven Bezugspunktes fällt dabei ausschließlich in die Sphäre der philosophischen und historischen Theologie: Erstere liefert eine Bestimmung des Wesens desselben,17 letztere bringt es in seinem geschichtlichen Verlauf zur Darstellung. Noch unabhängig von praktischen Implikationen reflektieren beide den in Frage stehenden Gegenstand und sind diesbezüglich nur der Logik der Wissenschaft verpflichtet. So basiert die Theologie, wie alle anderen Wissenschaftszweige auch, auf den transzendentalen und methodologischen Voraussetzungen der Dialektik sowie den geschichtstheoretischen Grundlagen der Philosophen Ethik.18 Bei Dilthey findet sich eine Akzentuierung der drei Aussageklassen der Geisteswissenschaften, die der eben beschriebenen Funktionsdifferenz zwischen philosophischer und historischer Theologie auf der einen und praktischer Theologie auf der anderen Seite durchaus entspricht. Auch für ihn ist „der Zusammenhang der Werturteile und Imperative unabhängig von dem der zwei ersten Klassen“ (GS I, 26), also dem des ‚historischen‘ und ‚theoretischen Bestandteils‘. Diese Differenz kann er auch urteilstheoretisch formulieren, wobei er sich zur Veranschaulichung der Sphäre des Politischen bedient: Die „Geisteswissenschaften [enthalten] neben der Erkenntnis dessen, was ist, das Bewußtsein des Zusammenhangs der Werturteile und Imperative … Ein politisches Urteil, das eine Institution verwirft, ist nicht wahr oder falsch, sondern richtig oder unrichtig, insofern seine Richtung, sein Ziel abgeschätzt wird; wahr oder falsch kann
17 Vgl. KD § 21. Der Begriff des Wesens ist dabei nicht in essentialistischem Sinne zu verstehen, sondern steht als zusammenfassender Ausdruck für die wesentlichen Merkmale einer Sache. 18 Auf die die Abhängigkeit der Theologie von der Ethik weist Schleiermacher mehrfach hin, vgl. KD §§ 23.29.35.37.
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dagegen ein politisches Urteil sein, welches die Beziehungen dieser Institution zu anderen Institutionen erörtert“ (GS I, 27, Hvh. v. Verf.). Aussagen, die auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt werden können, kommen auf der Ebene von Tatsachenerfassung und Theoriebildung zu stehen. Praktische Urteile hingegen können sich allenfalls als zweckdienlich oder unzweckmäßig erweisen. Obwohl die Geisteswissenschaften in gesellschaftsrelevanten Aufgaben gründen, gehört eine sich von unmittelbar praktischen Interessen freie haltende wissenschaftliche Bearbeitung somit wesentlich zu ihrem Geschäft. (c) Eben genannte disziplinsystematische Differenzierung macht es möglich, die sachlichen Berührungspunkte zwischen Schleiermacher und Dilthey hinsichtlich einer spezifischen Problematik weiter zu verfolgen, und zwar im Blick auf die Analogizität zwischen dem Verhältnis von philosophischer und historischer Theologie und der Beziehung des theoretischen und historischen Bestandteils der Geisteswissenschaften. Diesbezüglich sei auf zwei Aspekte hingewiesen: Der erste betrifft die Vergleichbarkeit von kategorialer Grundlegungsfunktion der philosophischen Theologie mit der Fundierungsleistung, die der theoretische Bestandteil der Geisteswissenschaft erbringt; der zweite Aspekt bezieht sich auf die Ähnlichkeit zwischen der kritischen Funktion der historischen Theologie und der Leistung derjenigen Klasse geisteswissenschaftlicher Aussagen, die es mit der geschichtlichen Darstellung zu tun hat. Zunächst zu ersterem. In Schleiermachers Konzeption werden von der philosophischen Theologie die „theologischen Prinzipien“ (KD § 67 Erl.) bereitgestellt, weswegen sie von ihm auch als „die Wurzel der gesamten Theologie“19 bezeichnet worden ist. In Form einer Wesensbestimmung bildet sie einen prinzipiellen Begriff des Christentums aus und ermöglicht dadurch nicht nur die kirchenleitende Praxis, sondern durch die Bereitstellung „leitende[r] Begriffe“ (KD § 252 Erl.) auch die „geschichtliche Anschauung des ganzen Verlaufs“ (KD § 65 Erl.) der christlichen Religion. Denn ohne kategoriale Grundlage wäre die historische Theologie gar nicht in der Lage, aus der Mannigfaltigkeit des Stoffs relevante Gesichtspunkte und Gegenstände auszuwählen, derer sie für ihre Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung bedarf. „[D]ie wissenschaftliche Behandlung des geschichtlichen Verlaufs in allen Zweigen der historischen Theologie setzt die Resultate der philosophischen Theologie voraus.“ (KD § 252) Diltheys geisteswissenschaftliche Methodologie verhält sich hierzu insofern analog, als auch er von einer kategorial grundlegenden Funktion des theoretischen gegenüber dem historischen Bestandteil ausgeht. Zur Erläuterung dieser Problematik sollen Überlegungen zur „geisteswissenschaftlichen Methode“ (GS V, 341) herangezogen werden, die Dilthey seiner Schrift Das Wesen der Philo
19 KGA I.6 253.
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sophie (1907) vorangestellt hat und in denen der genannte Sachverhalt besonders klar zu greifen ist. Wie der Titel schon sagt, ist es Dilthey in ihr um eine Wesensbestimmung der Philosophie zu tun, die im Blick auf deren „geschichtlichen Tatbestand“ (GS V, 340) entwickeln werden soll. Hierbei stößt Dilthey auf das Problem, dass „man schon wissen zu müssen [scheint], was Philosophie sei, wenn man mit der Bildung dieses Begriffes aus Tatsachen anfängt“ (GS V, 343). Dilthey spricht diesbezüglich auch von einem „Zirkel“, der „unvermeidlich“ (GS V, 344) ist und darin besteht, dass dasjenige, was durch geschichtliche Besinnung erst auf den Begriff gebracht werden soll, in gewisser Weise bereits vorausgesetzt werden muss. Denn zwar kann „[d]er Begriff der Philosophie … ganz so wie der der Kunst oder der Religiosität oder des Rechts nur gefunden werden, indem aus den Tatbeständen, welche sie bilden, die Beziehungen der Merkmale abgeleitet werden, welche den Begriff konstituieren“; aber hierbei wird „schon eine Entscheidung darüber vorausgesetzt, welche … Tatbestände als Philosophie zu bezeichnen sind“. Das bedeutet: Wenn man nicht „bereits im Besitz von Merkmalen war“ (GS V, 343), ist es überhaupt nicht möglich, aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen eine heuristisch sinnvolle Auswahl zu treffen. Diese erkenntnisleitende Funktion bedienen „Allgemeinbegriffe“ bzw. „Allgemeinvorstellungen“ (GS V, 342.343), in denen „Zusammenhänge“ abstrahiert sind, „an denen Gleichförmigkeiten, innere Struktur und Entwicklung aufgezeigt werden können“ (GS V, 342). Sie gehören demnach in den theoretischen Bereich der Geisteswissenschaften, der das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit entwickelt. „Das wissenschaftliche Denken hat nun den in diesen Allgemeinvorstellungen bereits enthaltenen Schematismus zu seiner Grundlage.“ (GS V, 343) Wie bei Schleiermacher die philosophische Theologie der historischen ihr kategoriales Fundament bereit stellt, so bilden bei Dilthey die Allgemeinbegriffe der theoretischen Ebene die Ermöglichungsbedingungen historischer Forschung. Auf einen Unterschied, der sich in dieser Frage zwischen Schleiermacher und Dilthey nichtsdestoweniger feststellen lässt, wird weiter unten zurückzukommen sein. Der zweite Vergleichsaspekt betrifft die kritische Funktion der historischen Rekonstruktionsarbeit. In der ersten Auflage der Kurzen Darstellung hat Schleiermacher die historische Theologie bekanntlich als „de[n] eigentliche[n] Körper“20 des theologischen Studiums bezeichnet, womit nicht nur deren Bedeutung für die praktische, sondern auch für die philosophische Theologie zum Ausdruck gebracht ist. Für letztere ist die historische Theologie deshalb unver-
20 KGA I.6, 254.
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zichtbar, weil sie als deren „Bewährung“ (KD § 27) fungiert.21 Jene „würde ganz willkürlich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte, alle ihre Sätze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen“ (KD § 254 Erl.). Diese Relativierung erklärt sich aus dem wissenstheoretischen Status des Wesensbegriffs: Die philosophische Theologie hat – in Gestalt ihrer Unterdisziplin der ‚Apologetik‘ – „für das eigentümliche Wesen des Christentums eine Formel“ (KD § 44) aufzustellen, die durch ein „kritisches Verfahren … gefunden“ wird. Mit letzterem bezeichnet Schleiermacher eine solche Methode der Begriffsbildung, die weder rein spekulativ noch gänzlich empirisch vorgeht, sondern beide Elemente vereint und auf dem Wege eines induktiv–deduktiven Verfahrens Begriffe entwirft. Diese irreduzible Verbindung von Deduktion und Induktion verleiht dem gesamten Prozess der Begriffsbildung einen grundsätzlich konstruktiven Charakter, so dass seine Resultate lediglich den Status von Hypothesen haben. Daraus ergibt sich die Forderung, dass die aufgestellte Wesensformel der philosophischen Theologie „sich erst im Gebrauch vollständig bewähren“ (KD § 44 Erl.) kann. Philosophische und historische Theologie können demnach „nur mit– und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen“ (KD § 254). Wiederum analog dazu verhält sich Diltheys Einschätzung der Bedeutung des historischen Bestanteiles für den theoretischen. In seiner zuletzt herangezogenen Schrift will Dilthey einen „Wesensbegriff“ der Philosophie entwickeln, der „das Bildungsgesetz aussprechen [würde], das in der Entstehung jedes einzelnen philosophischen Systems wirksam ist“ (GS V, 339). Hierfür ist auf den geschichtlichen Tatbestand der Philosophie zurückzugehen, was jedoch nur möglich ist unter Zuhilfenahme einer kategorialen Vorformung durch theoretische Allgemeinbegriffe. Dabei gilt es allerdings in Rechnung zu stellen, dass zwar „[d]as wissenschaftliche Denken nun den in diesen Allgemeinvorstellungen bereits enthaltenen Schematismus zu seiner Grundlage“ hat, dass es aber „seine Richtigkeit erst der Prüfung unterwerfen [muß]. Denn es ist gefährlich für die Geisteswissenschaften, diese Allgemeinvorstellungen hinzunehmen, da das Auffinden von Gleichförmigkeiten und Gliederung davon abhängig ist, ob auch wirklich ein einheitlicher Sachverhalt in ihm zum Ausdruck kommt“ (GS V, 343). Unabhängig von den – noch zu zeigenden – Verschiebungen, die sich bei Dilthey im Blick auf Genese und Status der grundbegrifflichen Kategorien ergeben haben, kann hinsichtlich der Beziehung zwischen historisch–empirischem und abstrakt–theoretischem Aspekt der geisteswissenschaftlichen Methodologie festgehalten werden, dass nicht nur letzterer ersteren kategorial bedingt, sondern dass das historische Element den theoretischen auch einer kritischen Sichtung
21 Die praktische Theologie wiederum erfährt durch die historische ihre „Begründung“ (KD § 27, vgl. §§ 8.26).
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unterzieht. Wie bei Schleiermacher sind die die geschichtliche Anschauung leitenden Kategorien nicht streng apriorischer Natur, sondern besitzen einen hypothetischen Charakter, woraus ihre prinzipielle Revidierbarkeit sowie ihre konstitutive Angewiesenheit auf empirische Erfüllung resultieren.22 Folgendes kann hier festgehalten werden: Die von Dilthey entworfene Struktur geisteswissenschaftlicher Methodik entspricht in gewisser Weise dem Aufbau und der Gliederung von Schleiermachers Kurzer Darstellung (a). Sowohl bei Dilthey als auch bei Schleiermacher zeigt sich eine zweigliedrige Anordnung der drei methodischen Ebenen, so dass zwischen der praktischen Zielsetzung der in Frage stehenden Wissenschaft und ihrem theoretischen Verfahren unterschieden werden kann (b). Geht man dabei dem Wechselverhältnis von historischem und philosophisch–theoretischem Element weiter nach, so zeigt sich zwischen Dilthey und Schleiermacher schließlich insofern eine Parallele, als beide von einer konstitutiven wechselseitigen Bezogenheit der zwei Teilbereiche ausgehen (c).23 Angesichts dieser auffallenden Berührungspunkte lässt sich meines Erachtens fragen, ob Schleiermachers Enzyklopädie Dilthey – in wohlbestimmter Hinsicht – nicht als Blaupause für seine Konzeption einer geisteswissenschaftlichen Methodologie gedient haben könnte. Eine abschließende Antwort wird in diesem Zusammenhang zwar nicht gegeben werden können. Aber Diltheys emphatische Würdigung dieses Buches sowie die beobachteten Überschneidung zwischen beiden Konzeptionen legen eine solche Vermutung durchaus nahe. Es wäre auch nicht wenig plausibel, Schleiermachers Theorie der Theologie gleichsam
22 In Diltheys „erkenntnistheoretische[m] Fallibilismus“ haben Helmut Johach und Frithjof Rodi dann geradezu ein wesentliches Merkmal von dessen Denken erblickt, vgl. dies.: Vorbericht der Herausgeber, in: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd., XIX, Göttingen 1982, IX–LVII, bes. XXV. 23 Hinsichtlich der letztgenannten Problematik war bereits auf die Bezüge zu Schleiermachers ,Dialektik hingewiesen worden. Dass Dilthey die dabei zutage tretenden Punkte tatsächlich auf Schleiermacher zurückführt, hat er ausdrücklich festgestellt. So spricht er in den handschriftlichen Zusätzen zu seiner Abhandlung ,Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) von „dem von Schleiermacher zuerst methodisch entwickelten Zirkel menschlicher Erkenntnis …, aus welchem dessen Dialektik die Unvollendbarkeit menschlichen Wissens, den höchst provisorischen Charakter desselben ableitet“ (GS VIII, 160.). Bezüglich des damit zusammenhängenden „Problem[s], wie die Einteilung der Begriffe zu immer größerer Allgemeinheit erhoben werden könne, da sie doch die schematische Grundlage aller allgemeinen Urteile (Gesetze) über das Wirkliche bilden“ hat DIlthey außerdem festgehalten, dass es „die Logik erst in Schleiermacher [erfaßte]“ (Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen (1900), GS II, 375).
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als prototypischen Entwurf geisteswissenschaftlichen Arbeitens überhaupt heranzuziehen. Denn die Verhältnisbestimmung von pragmatischer Funktionalität und wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung ließe sich auch für andere systemische Bereiche der soziokulturellen Welt durchführen – und genau in diese Richtung hat Dilthey sein wissenschaftsphilosophisches Programm dann ja auch entwickelt.
III. Die bisher herausgearbeiteten Berührungspunkte dürfen freilich nicht so interpretiert werden, als ob Schleiermachers und Diltheys Wissenschaftsprogramme einfach deckungsgleich wären. Dafür haben sich die Parameter zu Diltheys Zeiten doch zu stark verschoben. Eine umfängliche Darstellung der vielfältigen Faktoren, die hierbei zu bedenken wären, kann an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden. Wir beschränken uns beispielhaft auf die gesteigerte Bedeutung der Geschichte. Zwar hatte die Geschichtsschreibung schon im 18. Jahrhundert begonnen24, ihre eingeschränkte Funktion als Hilfswissenschaft von Jurisprudenz und Theologie oder auch als Instrument der Staats– und Reichshistoriographie abzustreifen, wodurch es zu einer zunehmend höheren Gewichtung des historischen Wissens kam, wie etwa an der Ausbildung von ‚Philosophien der Geschichte‘ abgelesen werden kann. Gleichwohl erfuhr die Geschichtsproblematik im Verlauf des 19. Jahrhunderts – das man schon früh als das „historische Jahrhundert“ (Eduard Schmidt) bezeichnet hat – dann noch einmal eine Dramatisierung: Die geschichtsphilosophischen Konstruktionen, wie sie insbesondere von Kant bis Hegel entworfen worden waren, überzeugten nicht mehr25; man hielt an der Universalität des Geschichtsproblems fest, gab aber den Versuch auf, den geschichtlichen Gesamtzusammenhang spekulativ zu entwerfen; die positive Einzelforschung gewann zunehmend an Bedeutung; und wissenschaftsinstitutionell trat die Historie nunmehr als eigenständiges Fach auf. Diese Umstellungen spiegeln sich in Diltheys Arbeiten deutlich wider. In der Vorrede zur Einleitung stellt er die „Anschauung von geschichtlichem Wachstum[ ] als dem Vorgang in dem alle geistigen Tatsachen entstehen“ als diejenige Einsicht der „histori
24 Vgl. dazu Gunter Scholtz: Art. ,Geschichte/.III. Der G–Begriff vom Humanismus bis zur Aufklärung, in: HWPh Bd. 3, 352–361. 25 Vgl. Ders.: Art., Geschichte, Historie. IV Deutscher Idealismus, Romantik und historische Schule, in aaO.,361–371.
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sche[n] Schule“26 heraus, hinter die nicht mehr zurück gegangen werden kann. Der darin enthaltene „universale[ ] Geist der Geschichtsbetrachtung“ (GS I, XVf.) habe aber nicht nur die Abstraktionen der Aufklärung überwunden, sondern letztlich auch jede „von metaphysischen Begriffen getragene Philosophie der Geschichte … widerlegt“ (GS I, XVII). Dilthey zufolge hat es sich als unmöglich erwiesen, die Einheit des geschichtlichen Lebens begrifflich zu fixieren. Diese könne lediglich aus dem „Zusammenwirken der Einzelwissenschaften“ aufgehellt werden, die „die einzigen Hilfsmittel der Erklärung der Geschichte“ (GS I, 94) sind, wobei dieser Erklärungsprozess letztlich als unabschließbar gedacht werden muss. Ob Schleiermachers Philosophische Ethik als Beitrag zu einer Philosophie der Geschichte zu verstehen ist, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Die neuere Forschung tendiert dazu, dies eher zu verneinen,27 Dilthey selbst aber betrachtet Schleiermacher durchaus als Vertreter einer geschichtsphilosophischen Konzeption. Besonders klar hat er dies in der Einleitung ausgesprochen, wo er – neben Comte und Hegel – auch ihn dafür kritisiert, in „Formeln … das Gesetz der Geschichte auszudrücken“. Der Gedanke des „Hindurchdringen[s] der Vernunft durch die Natur bei Schleiermacher“ ist aber, so Dilthey, „nur ein ärmlicher und unzureichender Ausdruck der machtvollen Wirklichkeit“ (GS I, 96).28 Es muss hierbei auf sich beruhen bleiben, inwieweit Dilthey Schleiermacher damit gerecht wird. Deutlich ist der Abstand, den Dilthey selbst zwischen seiner eigenen Geschichtsauffassung und derjenigen Schleiermachers konstatiert. Ein anderer Differenzpunkt zwischen beiden ist leichter zu greifen. Dieser bezieht sich weniger auf eine Divergenz in der philosophischen Grundeinstellung, sondern ist eher wissenschaftshistorischer Natur und betrifft die Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft als ein eigenständiges Fach. Für Schleiermacher gliedert sich die Bearbeitung des geschichtlichen Geschehens noch in die Felder der spekulativen und empirischen Geschichtsauffassung (philosophische Ethik und Geschichtskunde) sowie deren Vermittlung in den kriti
26 „Dies Wort in einem umfassenden Sinne genommen“ (GS I, XV). 27 Im Artikel „Geschichtsphilosophie“ aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie findet Schleiermacher überhaupt keine Erwähnung, vgl. Ulrich Dierse/Gunter Scholtz: Art. Geschichtsphilosophie, in HWP, Bd. 3, 416–438. Wilhelm Gräb hat in seiner Arbeit zu Schleiermachers Geschichtskonzeption ebenfalls keine Philosophie der Geschichte diagnostiziert, sondern stattdessen von einer „Strukturtheorie der Geschichte“ gesprochen, vgl. ders.: Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 8; 48–55. 28 Eine analoge Kritik findet sich bereits in Diltheys Preisschrift: Bei Schleiermacher ziehe sich „[d]er Verlauf der Geschichte … in eine schematische Linie, das überall gleiche Vernunftwerden der Natur, zusammen.“ (GS, XIV/2, 722).
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schen und technischen Disziplinen (positive Einzelforschung). Eine wissenschaftsinstitutionell selbständige Geschichtsforschung ist in diesem Aufbau nicht angedacht. Zu Diltheys Zeiten ist eine solche hingegen vorhanden, weswegen er ihr, wie gesehen, eine besondere Stellung im Kosmos der geisteswissenschaftlichen Fächer zuweist. Obwohl Dilthey die Disziplin der Geschichte mit der Klasse der übrigen Geisteswissenschaften zusammen aufzählt, kommen beide nicht auf der gleichen Ebene zu stehen: Während es ersterer darum zu tun ist, die geschichtliche Wirklichkeit auf die in ihr sich realisierenden individuellen Gestalten und Gestaltungen hin zu betrachten, leisten letztere eine Differenzierung derselben in zeitübergreifende Strukturzusammenhänge, die in ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeit auf induktive Weise erschlossen werden. Ab den frühen 1890er Jahren hat Dilthey diese Funktionsdifferenz dann durch die Unterscheidung von ‚Geschichte‘ und ‚systematischen Geisteswissenschaften‘ auf den Begriff gebracht.29 Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass diese wissenschaftstheoretische Grundunterscheidung lediglich relativer Art ist. „Die Geschichtsschreibung ist an jedem Punkt bedingt vom Wissen über die in den geschichtlichen Verlauf verwebten systematischen Zusammenhänge“; umgekehrt „ist der Fortschritt in den systematischen Geisteswissenschaften immer bedingt gewesen durch … die Ausbreitung des Verstehens in einem weiteren Umfang von Äußerungen des historischen Lebens“ (GS VII, 143f.). Für Dilthey sind die Geisteswissenschaften also dadurch charakterisiert, dass in ihnen das geschichtliche Verstehen und die Ermittlung struktureller Gesetzmäßigkeiten in einem konstitutiven Wechselbezug miteinander stehen. Weder kann der Historiker der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis entraten30 noch vermag die systematische Erschließung soziokultureller Teilbereiche rein strukturalistisch vorzugehen. Vor diesem Hintergrund führt Dilthey dann auch die Auseinandersetzung mit der spekulativen Geschichtsphilosophie.31In diesem Zusammenhang bildet also die „Auffassung des Singula
29 Vgl. etwa seine Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96), GS V, 255.257. Im ,Aufbau ist diese Differenzierung dann klarer herausgearbeitet, vgl. vor allem GS VII, 141–146; 160ff. 30 Gegenüber Rankes „tiefe[m] Verlangen … nach der objektiven Wirklichkeit“ hält Dilthey in der ,Einleitung fest, dass „dies Verlangen … sich mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der psychischen Einheiten, aus denen diese Wirklichkeit besteht,“ sowie mit der Erkenntnis „der dauernden Gestaltungen, die in der Wechselwirkung derselben sich entwickeln und Träger des geschichtlichen Fortschritts sind, ausrüsten“ muss (GS I, 94). 31 Dieser wirft er vor, das Geschichtsganze in einer solchen Weise zu konstruieren, in der das geschichtlich „Singulare[ ] einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktionen“ (I, 91) bildet, nicht jedoch in seinem Eigenwert wirklich zur Geltung gebracht wird. Diesem Ansatz hält Dilthey dann sein häufig zitierte Forderung entgegen: „Spricht man von einer
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ren, Individualen … so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten“ (GS I, 26), wobei er statt von ‚Gleichförmigkeiten‘ oder ‚gleichförmigem Verhalten‘ auch dezidiert von ‚Gesetzen‘ sprechen kann.32 Im wissenschaftstheoretischen Diskurs an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nimmt Dilthey damit eine gewisse Sonderstellung ein. Holzschnittartig lassen sich hier zwei Grundhaltungen unterscheiden, von denen seine Konzeption sich abhebt. Auf der einen Seite stehen die Vertreter der klassischen Historiographie des 19. Jahrhunderts33. In Form eines gemäßigten Traditionalismus wollte man, die als ‚ungeschichtlich‘ kritisierte Anschauung der Aufklärung überwinden, indem das kontinuierliche Wachstum von Nation, Volk und Staat in den Blick genommen wurde. Auch wenn dabei im Anschluss an Herder das Menschlich–Allgemeine anvisiert wurde, stand eine auf nationale Politik bezogene Geschichtsschreibung vielerorts im Vordergrund (Savigny, Ranke, Treitschke). Dem gegenüber kommt auf der anderen Seite eine historiographische Richtung zu stehen34, die weniger das Politisch–Nationale, als vielmehr die Vielfalt aller übrigen soziokulturellen Gegebenheiten zum Thema der Geschichtsschreibung erhob und schon früh unter dem Titel ‚Kulturgeschichte‘ firmierte (Adelung, Herder, Burckhardt). Seit Buckles History of Civilisation in England (1857– 1861) und der sich daran anschließenden Diskussion verengte sich letzterer Begriff aber immer mehr zu einer historiographiepolitischen Kampfformel, die so
Philosophie der Geschichte, so kann sie nur historische Forschung in philosophischer Absicht sein“ (GS I, 92, vgl. I, 94; GS V, 35f.). Angesichts dessen ist aber klar, dass eine „Erkenntnis des Ganzen der geschichtlich–gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (I, 95) lediglich eine regulative Idee geisteswissenschaftlicher Forschung darstellen kann. 32 Dies ist besonders gut greifbar in der Schrift ,Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vgl. GS V, 34.47.48.51 et passim. Darin sind aber nicht etwa nur die Nachwehen eines frühen positivistischen Einflusses auf Dilthey zu erblicken. Auch der reife Dilthey geht von Gesetzmäßigkeiten innerhalb der geschichtlichen Wirklichkeit aus und kann beispielsweise von „Gesetze[n] der Religionsgeschichte“ (GS II, 55), „Gesetze[n] des wirtschaftlichen Lebens“ (GS V 257), den „gesetzliche Beziehungen“ der Psychologie, der Ästhetik und der Linguistik (ebd.), oder auch von dem „Gesetz der Poesie“ (GS VII, 85) sprechen. Zu Diltheys geschichtstheoretischem Kausalitätsdenken vgl. auch Frithjof Rodi: Pragmatische und universalhistorische Geschichtsbetrachtung. Anmerkungen zu Diltheys Skizzen einer Historik, in: Jerz Krakowski/Gunter Scholtz: Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus, Wroclaw 1996, 119–134. 33 Vgl. Gunter Scholtz: Art. ,Geschichte, Historie. IV [siehe Anm. 24]. 34 Vgl. ders.: Art. Geschichte, Historie. V. Das spät– und nachidealistische G.–Verständnis im 19. JH.; HWPh Bd 3, 371–380; VI. 20. Jh. – 1. Kultur–G., Neukantianismus, Lebensphilosophie, Kultur– und G.–Pessimismus, Neuhegelianer, Historismusproblem, Universal– G. Existenzphilosophie; in: aaO., 380–384
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wohl für die Abkehr von einer Betrachtung des Geschichtlich–Individuellen als auch für die Forderung nach Anwendung strenger Gesetze im geschichtlichen Bereich stand. 1890–1895 veröffentlichte Karl Lamprecht dann die ersten fünf Bände seiner Deutschen Geschichte, deren Verriss durch Georg von Below in der Historischen Zeitschrift 1893 das Fanal zum sog. Methodenstreit bildete.35 Weite Teile der etablierten Historikerzunft stellten sich gegen Lamprecht, wobei ihm vorgeworfen wurde, die herausragende Rolle der politischen Ereignisgeschichte zu unterminieren, aufgrund seiner wirtschafts– und sozialgeschichtlichen Einstellung eine materialistische Geschichtsauffassung zu vertreten und in der empirischen Detailarbeit vielen Fehleinschätzungen zu unterliegen. Darüber hinaus aber warf man Lamprecht vor, mit der Frage nach Gesetzmäßigkeiten im historischen Verlauf einer geschichtspositivistischen Denkweise anzuhängen. So kann auch Wilhelm Windelbands bekannte Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften36 als philosophischer Gegenentwurf zur ‚kulturgeschichtlichen Methode‘ verstanden werden. Zu Beginn des Aufbaus spielt Dilthey auf diese Debatte sichtlich an,37 wobei er darauf hinweist, diesbezüglich einen eigenen Standpunkt einzunehmen.38 Dieser lässt sich zunächst auf inhaltlicher Ebene beschreiben: Zwar stellt auch für Dilthey die politische Geschichte einen bedeutenden Zweig der Historiographie dar.39 Aber wie er schon in der Einleitung deutlich macht, ist damit nur ein Teilbereich benannt, dem ein anderer notwendig zur Seite steht. Denn für Dilthey
35 Luise Schorn–Schütte: Karl Lamprecht, Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984; vgl. daneben die Darstellung Hans Schleiers, auch wenn dieselbe aufgrund der zeitgeschichtlichen Umstände ihrer Entstehung manche ideologischen Querschläger enthält, ders.: Der Kulturhistoriker Karl Lamprecht, der „Methodenstreit“ und die Folgen, in: Karl Lamprecht. Alternative zu Ranke. Schriften zur Geschichtstheorie, Leipzig 1988, 7–45. 36 Bekanntlich hat Windelband diese Unterscheidung in der 1894 anlässlich seiner Rektoratsübernahme der Universität Straßburg gehaltenen Rede ,Geschichte und Naturwissenschaft eingeführt. 37 „In den letzten Dezennien haben über die Natur– und Geisteswissenschaften und besonders über die Geschichte interessante Debatten stattgefunden“ (GS VII, 79). 38 „… ohne in die Ansichten einzugehen, die in diesen Debatten einander gegenübergetreten sind, lege ich hier einen von ihnen abweichenden Versuch vor, das Wesen der Geisteswissenschaften zu erkennen und sie von den Naturwissenschaften abzugrenzen“ (GS VII, 79). 39 In seiner 1875 veröffentlichen Schrift ,Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat kann er die Geisteswissenschaften insgesamt auch als moralisch–politische Wissenschaften bezeichnen GS V, 31 passim. Zudem hat er eine große Studie zu Friedrich dem Großen vorgelegt (vgl. GS III, 83– 205).
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hat alle wissenschaftliche Bearbeitung der geschichtlich–gesellschaftlichen Wirklichkeit der Differenzierung zwischen ‚Kultursystemen‘ und ‚äußeren Organisationen‘ Rechnung zu tragen. Jene stehen für diejenigen Sozialformen, in denen sich eine freie Übereinstimmung zwischen dem Handeln der individuellen Subjekte ergibt (Religion, Wissenschaft, Kunst etc.). Letztere bezeichnen das Feld derjenigen gesellschaftlichen Institutionen, in den die Menschen in eine zwangs– und gewaltbasierte Vergemeinschaftung treten (Familie, Staat, Verwaltung etc.). Dilthey macht jedoch deutlich, dass diese Unterscheidung lediglich auf dem abstraktiven Vollzug zweier Betrachtungsperspektiven basiere,40 so dass letztere nicht rein voneinander geschieden werden könnten.41 Und „[d]ieselbe Richtung der Abstraktion ist wirksam, wenn die politische Geschichte von der Kulturgeschichte unterschieden wird“ (GS I, 64). Aber auch in methodischer Hinsicht steht Dilthey zwischen den Fronten. Denn für ihn sind alle Geisteswissenschaften nicht nur auf die Erfassung individueller Sachverhalte, sondern auch auf die induktive Ermittlung historischer Regelmäßigkeiten verpflichtet, wie aus der Trias der drei Aussageklassen in den Geisteswissenschaften bzw. deren beiden ersten Gliedern deutlich hervorgeht. Dilthey folgt also weder der sog. kulturhistorischen Schule in ihrer Vernachlässigung bzw. Abneigung gegen das Individuelle in der Geschichte noch verritt er eine Auffassung nach Art Windelbands, die die Annahme von Gesetzmäßigkeiten innerhalb des geschichtlichen Bereichs strikt ablehnt.42 Dilthey ist es, wie gesehen, immer auch um einer ‚Erklärung der Geschichte‘ zu tun, die auf der Basis einzelwissenschaftlicher Erfahrungsstrukturierung Gesetze der geschichtlichen Welt aufzuweisen sucht. Freilich müssen diese ihrem logischen Status und ihrer Geltung nach anders verfasst sein, als es die der Naturwissenschaften sind. Vor dem Hintergrund des eben Dargelegten erfährt die in den Abschnitten I. und II. herausgearbeitete Nähe zwischen Schleiermacher und Dilthey durchaus eine gewisse Relativierung. So trägt Dilthey den Weiterentwicklungen, wie sie sich im Zuge der historiographischen und kulturwissenschaftlichen Debatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergeben haben, Rechnung und steht folglich der metaphysischen und geschichtsphilosophischen Grundlage des Schleiermacherschen Denkens nicht unkritisch gegenüber. Die Rolle der Ge
40 Vgl. GS I, 64. 41 Vgl. GS I, 77. 42 Direkt gegen Windelband gerichtet hält Dilthey in seinen Beiträgen zum Studium der Individualität (1895/96) fest: „Es sind Gleichförmigkeiten, gesetzliche Beziehungen, was diese systematischen Geisteswissenschaften“ – Dilthey nennt hier paradigmatisch Psychologie, Wirtschaft, Linguistik, Ästhetik – entwickeln“ (GS V, 257).
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schichte ist bei ihm massiv aufgewertet, und das Wechselverhältnis zwischen geschichtlicher Analyse und systematischer Reflexion hat eine enorme Steigerung erfahren. Äußerlich wird dies schon daran deutlich, dass die historische Dimension in der methodologischen Trias bei Dilthey an erste Stelle rückt. Eine tiefergehende Folge dessen besteht darin, dass Dilthey davon Abschied nimmt, die kategorialen Grundlagen spekulativ zu konstruieren, sondern stattdessen in einer pragmatisch–hermeneutischen Einstellung darauf abstellt, die entsprechenden Grundbegriffe immer schon vorzufinden.43 Wenn Dilthey dennoch an Schleiermachers theologietheoretischem Aufbau Maß nehmen konnte, so deshalb, weil ihm hierdurch ein Rahmen vorgegeben war, der es ermöglichte, die Grundfunktionen geisteswissenschaftlichen Arbeitens in einer differenzierten Einheit darzustellen. Wie auch immer der Unterschied zwischen Dilthey und Schleiermacher näher zu bestimmen ist: dessen Aufweis von drei wissenschaftlichen Grundeinstellungen der Theologie konnte Dilthey durchaus als Orientierung für seine geisteswissenschaftliche Methodologie dienen. Freilich abstrahiert er hierbei von Metaphysik und Theologie und macht von der Kurzen Darstellung lediglich funktionalen Gebrauch.
Unabhängig von der Frage, inwieweit Dilthey von Schleiermachers Kurzer Darstellung beeinflusst sein mag: Im Blick auf Schleiermacher machen die aufgezeigten Parallelen deutlich, dass dieser bereits viele derjenigen Probleme im Blick hatte, die sich auch später noch als Grundfragen der Geistes– und Kulturwissenschaften herausgestellt haben. Diesbezüglich seien abschließend vier Punkte festgehalten. (a) Schleiermacher trägt dem Umstand zunehmender Ausdifferenzierung und Spezialisierung Rechnung: Auf der einen Seite sieht sich die Theologie, wie jede Wissenschaft, vor die Herausforderung gestellt, die Eigenlogik ihres Standpunktes auf eine solche Weise zur Geltung zu bringen, dass darüber nicht der Zusammenhang mit den umgebenden Wissenschaftszweigen aus dem Blick gerät. Denn die komplizierte und komplexe Wirklichkeit ist nur im interdisziplinären Zugang angemessen zu bearbeiten. Auf der anderen Seite muss deutlich gemacht werden, inwiefern es überhaupt noch berechtigt ist, in Bezug auf die Theologie von einer Einheit auszugehen, angesichts des Umstandes, dass sie sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Teildisziplinen zerlegt, de
43 In den „Einzelwissenschaften des Geistes … hat die Weisheit vieler Jahrhunderte eine Zerlegung des Gesamtproblems der geschichtlich–gesellschaftlichen Wirklichkeit in Einzelprobleme vollbracht“ (GS I, 93).
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ren jeweilige Methoden und Gegenstandsbezüge auf den ersten Blick nicht immer auf eine gemeinsame Zielperspektive hinzudeuten scheinen. Auf dieses immer noch aktuelle Problem reagiert Schleiermacher, indem er sowohl die innere Verbundenheit der unterschiedlichen theologischen Fächer aufzeigt als auch die Beziehung der Theologie zu den übrigen Wissenschaften auf vielfältige Weise herausstellt. (b) Sodann ist auf die Unhintergehbarkeit einer geschichtlichen Grundausrichtung auch aller theologischen Forschung hinzuweisen. Kein Gegenstand der soziokulturellen Welt kann hinreichend erfasst werden, ohne dass sein Gewordensein mit in Betracht gezogen wird. Hier ist keine reine Ableitung aus übergeschichtlicher Warte möglich. Jeder gegenwärtige Zustand verdankt sich einer Vergangenheit, und keine Gegenwartsanalyse kommt ohne Besinnung auf dieselbe aus. Nachdem sich das historische Bewusstsein einmal Geltung verschafft hat, lässt es sich nirgends sistieren, und die Suche nach einem festen Sein, das der Relativität und Pluralität enthoben wäre, hat sich als vergeblich herausgestellt. Mag Schleiermacher in den Augen der Späteren in dieser Frage vielleicht noch zu unbefangen gewesen sein: Die prinzipielle Notwendigkeit des Einbezugs einer historisch–kritischen Problembehandlung hat auch er schon deutlich erkannt. (c) Die Arbeit am geschichtlichen Stoff stellt dabei keine bloße Faktenklauberei dar, sondern ist immer schon kategorial gesteuert, sofern sie überhaupt etwas als etwas thematisieren will. Hierin ist der – im weiten Sinne des Wortes – hermeneutische Grundzug aller Geisteswissenschaften zu erblicken. Ohne eine grundlegende Deutungsperspektive blieben alle Beschäftigungen mit der Wirklichkeit blind. Man wird an Schleiermacher die Frage stellen können, ob er nicht ein kategoriales Gerüst entworfen hat, das dem Wandel des geschichtlichen Verlaufs nicht genügend Tribut gezollt hat. Aber dass er den Gedanken der letzten Positivität aller kulturellen Größen – und damit auch der christlichen Religion – verschränkt hat mit einem an Kant geschulten Bewusstsein von der Geformtheit aller Auffassung derselben, stellt eine bleibende wissenstheoretische Einsicht dar. (d) Schleiermacher macht schließlich deutlich, dass der Gesamtzusammenhang der Theologie in einer Spannung zwischen wissenschaftlichen Anspruch und Bedürfnis nach Orientierung zu stehen kommt. Hierin dürfte eine wichtige Wegweisung für alle Fragen nach der Relevanz der Theologie für Kirche und Gesellschaft zu erblicken sein. So wie letztlich alle Geisteswissenschaften aus bestimmten soziokulturellen Bedürfnissen erwachsen, so besitzt die Theologie einen genuinen Bezug zur lebensweltlichen Einstellung des Menschen. Dabei macht es keinen Sinn, beide Seiten gegeneinander auszuspielen: Eine Theologie, die auf die Fragen ihrer Zeit keine Antworten mehr bietet, wird sich als obsolet erweisen; Akteure auf dem religiösen Feld, die ohne wissenschaftliches Begleitwissen agieren, werden auch nicht zweckdienlich bescheid wissen können. An solche Überlegungen schließen sich
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dann auch alle Grundsatzfragen zu einem zeitgemäßen und zweckdienlichen Aufbau des Theologiestudiums an. Die immer häufiger zu beobachtende Tendenz, den Bildungsgang des theologischen Novizen zur bloßen Ausbildung reduzieren zu wollen, basiert entweder auf einer Unterschätzung der Herausforderungen, die der Beruf im kirchlichen Dienst stellt, oder sie erweckt den Verdacht, ideologisch motiviert zu sein.
Wahrheitserkenntnis oder Frömmigkeitshermeneutik? Schleiermachers Theologiebegriff und seine enzyklopädische Relevanz angesichts der Kritik Emanuel Hirschs Andreas Kubik Wissenschaft lebt unter anderem vom Einspruch gegen geltende Positionen; und doch gibt es auch Formen des Einspruchs, welche nichts mehr zu lernen geben, sondern Positionierungen grundsätzlicher Art herausfordern. Schleiermachers Theologiebegriff, wie er ihn in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums entworfen hat, gilt als Epoche machend. Er ist freilich auch immer wieder heftig kritisiert worden. Wer die Theologie im Begriff einer exklusiven Offenbarung oder in einer spekulativen Gotteslehre begründen wollte, musste den Entwurf des Berliner Theologen natürlich zurückweisen, wenn auch um den Preis einer zunehmenden – freilich da und dort auch gewollten – Entfremdung der Theologie von den sie umgebenden Plausibilitätsstandards. Den klassischen Rang von Schleiermachers Entwurf hat solche Fundamentalkritik nur vorübergehend in Frage stellen können. Längst ist die Evangelische Theologie zur Erörterung dieses perspektivenreichen Werks zurückgekehrt1; und erst kürzlich hat der damalige Vorsitzende des Evangelisch– theologisch Fakultätentages insbesondere den berühmten § 5 der Kurzen Darstellung2 als „sachlich nach wie vor grundlegend“3 bezeichnen können. Zumindest für den gegenwärtigen Lernprozess scheinen daher solche Einsprüche erwägenswerter, welche sich im Großen und Ganzen in dem von 1
2
3
Vgl. Wilhelm Gräb/ Notger Slenczka (Hg.), Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig 2011. – Hinzuweisen ist auch auf die Arbeitstagung zur theologischen Enzyklopädie, die am 17./18.2.2012 unter dem Titel „Zusammen denken – Die theologischen Fächerkulturen und das Ganze der Theologie“ an Schleiermachers Entwurf entlang in Neuendettelsau stattfand. Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe hg. von Heinrich Scholz, ND Darmstadt 1993 [im Folgenden zitiert als KD mit Angabe des Paragraphen im Haupttext]. Ich beziehe mich durchgängig auf die zweite Auflage dieses Textes: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche […] nicht möglich ist.“ Christian Grethlein, „Theologien und Religionswissenschaften an deutschen Hochschulen“ – Anfragen des Wissenschaftsrates an den Evangelisch–theologischen Fakultätentag. In: ZThK 105 (2008), 352-386, hier 360, Anm. 17.
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Schleiermacher vermessenen Gelände bewegen, dabei aber hier und da eigene Wege gehen. Zu diesen ist ganz sicher die Position des Göttinger Theologen Emanuel Hirsch zu zählen, deren Stellung zu Schleiermachers Theologiebegriff die Forschung bislang übersehen hat. Anders als hinsichtlich seiner politischen Verortung4 ist die theologische und theologiegeschichtliche Einordnung Hirschs alles andere als einfach. Hirsch begann seine universitäre Karriere als Mitglied der so genannten ‚Lutherrenaissance‘, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg Furore machte. Sie erhoffte sich von einem Rückgriff auf die religiöse Energie insbesondere des jungen Luther die vermeintliche bürgerliche Erschlaffung der Vorkriegstheologie auf den vom Evangelium eigentlich anzustrebenden Glaubensernst hin zu überwinden. In der Absage an die Theologie der Kaiserzeit hatte sie ihre negative Gemeinsamkeit mit anderen ‚Aufbrüchen‘ nach dem Ersten Weltkrieg. Schleiermacher kam hier aber gleichsam als der Ahnherr all dessen zu stehen, was man meinte ablehnen zu müssen.5 Auch Hirsch ging in seiner Frühzeit durchaus hart mit ihm ins Gericht. Seine Meinung änderte sich aber spätestens mit seinem Wechsel von der kirchengeschichtlichen auf die systematische Professur im Jahr 1936. Schleiermacher wird nun vielmehr zum Vorbild eines souveränen Umformungstheologen, auf dessen Nachfolge sich Hirschs eigenes Theologieprogramm ausdrücklich festlegt.6 Umso aufschlussreicher dürfte es 4 5
6
Vgl. Matthias Lobe, Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1996. Vgl. auch das Zerrbild Schleiermachers, das Thomas Mann seinem Serenus Zeitblom in den Mund legt: „Ungern würde ich es sehen, wenn man mich […] für einen durchaus irreligiösen Menschen hielte. Das bin ich nicht, halte es vielmehr mit Schleiermacher […] der die Religion […] einen im Menschen vorhandenden ‚Tatbestand‘ nannte. Nicht mit philosophischen Sätzen also habe die Wissenschaft von der Religion es zu tun, sondern mit einem innerlich gegebenen, seelischen Faktum. Das einnert an den ontologischen Gottesbeweis, der mir immer von allen der liebste war, und der von der subjektiven Idee eines höchsten Wesens auf dessen objektives Dasein schließt.“ (Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde [1947], Frankfurt a.M. 1947, 120). An diesen Ausführungen stimmt ungefähr nichts, aber die Art und Weise, wie Schleiermacher in manchen Teilen des Bürgertums um 1900 verstanden wurde, mögen sie recht treffend darstellen. „Diese christliche Rechenschaft folgt von den beiden Wegen, welche einer geschichtskritischen und dogmenkritischen Theologie offen stehen, nicht dem Wege Hegels, welcher die preiszugebenden Legenden und Mythen gleichnishaft ausdeutet als Vorstellungsform metaphysischer Einsicht, sondern dem Wege Schleiermachers, welcher bei jeder überlieferten […] Vorstellung die Frage nach der Rückübersetzung in das zugrunde liegende Herzens- und Gewissenserlebnis stellt“ (Emanuel Hirsch, Christliche Rechenschaft, 2 Bde., Tübingen 1989, Bd. I [im Folgenden zitiert als CR mit Bandnr. und Seitenzahl], 5).
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sein, die Abweichungen und Korrekturen im Theologieverständnis gegenüber dem Vorbild zu verfolgen, um daraus Gesichtspunkte für die enzyklopädische Debatte der Gegenwart zu gewinnen.
1.
Hirschs Würdigung von Schleiermachers Enzyklopädie
Die theologische Enzyklopädie scheint auf den ersten Blick ein Fachgebiet zu sein, dem Emanuel Hirsch ungewöhnlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Lediglich einmal, nämlich im Sommer 1923 hat er eine einstündige Vorlesung über „Die Probleme des theologischen Studiums“ gehalten,7 aus der aber keine Veröffentlichung erwachsen ist. In seiner großen Theologiegeschichte sind aus der Theoriegeschichte vor Schleiermacher – abgesehen von August Hermann Franckes Programm der Studienreform8 – lediglich einige Titel vermerkt oder gelegentlich mit einem kommentierenden Halbsatz versehen worden.9 Die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert fällt bei ihm völlig aus.10 Woher rührt dieses auffällige Schweigen? Unkenntnis scheidet bei Hirsch als Grund aus. Ebenso darf man aber den Verdacht zurückweisen, er habe der enzyklopädischen Fragestellung als solcher keine besondere Bedeutung zugemessen. Dies zeigt nicht zuletzt die Möglichkeit, aus seinem systematischen Hauptwerk selbst den Grundriss einer theologischen Enzyklopädie zu rekonstruieren. Es wird vielmehr einen sachlichen Grund geben: Hirsch scheint im Hinblick auf eine aktuelle systematische Auseinandersetzung keiner dieser Schriften besonders viel zugetraut zu haben – abgesehen eben von Schleiermacher. Dessen Kurze Darstellung hat er für unvergleichlich gehalten: Sie ist nach seinem Urteil „der einzige bedeutende Versuch, den Gesamtorganismus aller theologischen Wissenschaften im systematisch durchdachten Zusammenhange von einer klaren und einfachen Grundanschauung her zur 7 8
Vgl. Arnulf v. Scheliha, Emanuel Hirsch als Dogmatiker, Berlin/New York 1991, 458. Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949ff.), 5 Bde., Waltrop 2000 [= GW Bd. 5–9], Bd.2, 162–169 [im Folgenden mit dem Siglum ThG und der Bandnummer im Haupttext]. 9 So etwa zu Johann Franz Buddeus‘ Isagoge historico-theologica in theologiam universam (a.a.O., 320); gänzlich fehlen August Hermann Niemeyer und Johann August Nösselt; nicht mit ihren Einleitungen in das theologische Studium tauchen auf Lorenz von Mosheim, Johann Salomo Semler oder Gottlieb Jakob Planck. Vgl. insgesamt zur theologischen Enzyklopädie vor Schleiermacher den Überblick bei Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006, 345–348. 10 Vgl. dazu Alfred Eckert, Einführung in die Prinzipien und Methoden der evangelischen Theologie, Leipzig 1909, 23–51.
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Darstellung zu bringen“. (ThG V, 348). Sie zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie sich aller „unreinlichen Mischungen von Glaubensvoraussetzungen und wissenschaftlichen Grundsätzen“ (ThG V, 349) enthält. Auch innerhalb des Schleiermacherschen Œuvres kommt ihr eine herausgehobene Stellung zu; unter seinen Werken ist sie „fast dasjenige, das man als das größte Kunst– und Meisterwerk empfindet.“ (ThG V, 356) Die hier und da anklingende Reserve in der Darstellung ist nicht geeignet, diese Urteile zu beeinträchtigen, sondern erklärt sich erst aus den Einwänden Hirschs, die sich allerdings mitunter zu einer recht scharfen Kritik auswachsen, der wir uns nunmehr zuwenden wollen.
2.
Hirschs Einwände gegen Schleiermachers Theologiebegriff
Zunächst seien zwei Punkte genannt, an denen Hirsch Einwände nicht erhoben hat, obwohl es scheinbar nahe gelegen hätte. Schleiermacher ist immer wieder für sein funktionales Theologieverständnis11 kritisiert worden. Hieran stößt sich Hirsch aber nicht: Die meisten Universitätswissenschaften sind nach Hirsch „mit Berufszwecken verbunden“ (CR I, 19), und somit hat auch die Theologie eine unaufgebbare funktionale Dimension: „Sie ist auf Bedürfnis und Ausübung des Predigerberufs bezogen.“12 (Lf § 4B)13 Zum zweiten ist bei Hirsch immer wieder der „Ausfall der Ekklesiologie“14 diagnostiziert worden; von daher würde es nahe liegen, dass Hirsch Bedenken gegen die ‚Kirche‘ als einigenden Bezugsrahmen Schleiermachers anmelden würde; auch dies ist nicht der Fall. Hirschs eigenes ekklesiologisches Denken ist bislang noch nicht genügend aufgearbeitet;15 so viel ist aber leicht erkennbar, dass seine Kirchenkritik sich 11 Vgl. etwa Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, 247–255. 12 Emanuel Hirsch, Leitfaden zur christlichen Lehre (1938) [im Folgenden zitiert als Lf. mit der der Nr, des entsprechenden Paragraphen, wenn es sich um den seinerzeit veröffentlichten Text handelt im Gegensatz zum Siglum CR, das sich auf die posthum veröffentlichten handschriftlichen Anmerkungen bezieht.] 13 Eher könnte man zurück fragen, ob die deutliche pastoraltheologische Einfärbung dieser Bestimmung nicht eine gewisse Verengung gegenüber Schleiermachers Begriff des „Kirchenregiments“ darstellt. 14 von Scheliha, Dogmatiker, a.a.O., 452. 15 Dies gilt trotz der Arbeiten von Matthias Lobe, Der Protestantismus als religiöser Subjektivismus. Emanuel Hirschs Kritik des religiösen Institutionalismus. In: Arnulf v. Scheliha/Markus Schröder (Hg.); Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart 1998, 103–117; und Kirsten Huxel, Die Kirchentheorie Emanuel Hirschs. In: ZThK 103 (2006), 49–76, die beide zu wenig den ekklesiologischen Eigenintentionen Hirschs nachgehen.
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stets auf die Kirche als Binderin der Gewissen richtet, aber niemals die Notwendigkeit einer sichtbaren Kirche bestreitet, welcher die Theologie zuarbeitet.16 Die These vom Ausfall der Ekklesiologie bei Hirsch erscheint mir von daher etwas überpointiert. Damit aber zu den Einwänden, wie sie der Textbefund im dogmatischen Hauptwerk Hirschs, der Christlichen Rechenschaft, hergibt. Zunächst seien die drei Hauptmonita benannt, bevor wir anschließend nach ihrem Zusammenhang fragen. (a) Zunächst kritisiert Hirsch die spezifische Art des konfessionellen Charakters von Schleiermachers Theologie. Nach Hirsch hat die systematische Theologie grundsätzlich „notwendig überkonfessionellen Charakter“ (Lf §13B). Dies ist zunächst gegen zwei Missverständnisse zu verwahren. Zum einen ist Hirsch in seinem konkreten konfessionellen Denken ein weitaus strengerer Kritiker der „Papstkirche“ (passim) als Schleiermacher. Und zum anderen hat auch die funktionale Ausrichtung der Theologie bei Hirsch faktisch konfessionellen Charakter: Der Theologe „richtet seinen Willen auf die Klärung der Lehrformung insbesondere derjenigen Kirche, deren werdende Prediger er erzieht.“(Lf § 13A) Aber, und das ist der Kern des Einwandes, die Konfessionszugehörigkeit ist eben auch bloß ein Faktum und gehört damit lediglich zu den unhintergehbaren Ausgangspunkten, zur „geschichtliche[n] Bedingtheit der eignen Arbeit“ (ebd.) Es ist aber eben nicht mehr als ein Faktum. Der Vollzug des systematischen Nachdenkens selbst hingegen weiß sich „durch keine Kirchenlehre gebunden“ (Lf § 13B). Überkonfessionelles Denken hätten im Protestantismus allein die Herrnhuter und im Prinzip auch Albrecht Ritschl befördert. Aber „Schleiermacher [...] hat einen ganz klerikal kirchlichen Begriff vom dogmatischen Denken und bleibt damit hinter den Pietisten zurück.“ (CR I, 38) Es ist nicht auf den ersten Blick deutlich, was Hirsch genau vor Augen hat. In seiner Theologiegeschichte charakterisiert Hirsch die Glaubenslehre wie folgt: Schleiermacher „verzichtet von vornherein auf freien eigengeprägten Ausdruck des persönlichen Glaubens in schöpferischer Lehrgestaltung“ – so schätzt wohl Hirsch seine eigene Dogmatik ein – „und gibt der Dogmatik ein positiv–historisches Gepräge“ (ThG V, 317). Die nähere Erläuterung dieser Gesamteinschätzung deckt sich nun bis ins Detail mit extrem scharfen Stellungnahme gegenüber der positiven Dogmatik in der Christlichen 16 In der Regel wird Hirschs Selbstanspruch, lediglich die umgeformte Lehre von der Kirche zu bieten (vgl. CR I, 141; Lf § 94 M 1.2), nicht beachtet. An Kierkegaard weiß Hirsch zu bemängeln, er sei „nicht fähig, sich klar zu machen, daß eine ausgeformte und den Bedingungen geschichtlichen Fortbestehens angepasste kirchliche Gemeinschaft […] die einzige Möglichkeit darstellt, das Evangelium von Jesus Christus durch die Jahrtausende zu tragen“ (ThG V, 485).
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Rechenschaft: „Der systematische Theolog, der sich auf das Ziel begrenzt, die überlieferte Lehre seiner Konfession zu durchleuchten, zu rechtfertigen, allenfalls vorsichtig fortzubilden [...], hat die Freiheit des Jüngers Jesu verkauft und sich zum Menschenknecht gemacht.“ (Lf § 13B) Eben dies scheint nun, nimmt man die bereits zitierte handschriftliche Erläuterung hinzu, in der sein Name fällt, mit dem ‚klerikal kirchlichen‘ Dogmatikbegriff Schleiermachers gemeint zu sein. Im Hintergrund steht möglicherweise der § 207 der Kurzen Darstellung, in dem Schleiermacher es für wichtig erachtet, „in allen Hauptlehrstücken orthodox“ zu sein. In jedem Fall aber ist eine Differenz im grundlegenden Verständnis von Dogmatik markiert: Während Schleiermacher es sich zur Aufgabe macht, die „in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltende Lehre“17 darzustellen, hält Hirsch nur die individuelle dogmatische Rechenschaft überhaupt noch für möglich: „Die systematische Theologie ist stets von einem vor sich selbst verantwortete Mitteilung an andere, die damit machen, was ihnen recht und gut dünkt.“ (CR I, 17; Hvg. A.K.). (b) Der zweite Einwand betrifft das Verhältnis von Dogmatik und erbaulicher Rede. Expressis verbis richtet er sich gegen den § 198 der Kurzen Darstellung (vgl. CR I, 20). Nach dem eingangs Gesagten kann sich die Kritik nun nicht darauf richten, dass Schleiermacher überhaupt einen Nutzen der Dogmatik für das Predigtamt annimmt. Ferner lobt Hirsch ihn dahingehend, dass Schleiermacher darüber hinaus „einen nicht bloß der erbaulichen Rede dienenden Zweck der dogmatischen Theologie anerkennt“ (CR II, 172). Aber beide von Schleiermacher vorgenommenen Zweckbestimmungen – Beurteilung der Kirchenlehre und Normierung der Predigt – werden nach Hirsch auf „praktische kirchliche Aufgaben“ (ebd.) bezogen, und eben das sei „das Falsche“ (ebd.). Hirschs Unbehagen ist also dadurch evoziert, dass Schleiermachers Theologiebegriff in der funktionalen Perspektive aufzugehen scheint. Dagegen behauptet Hirsch: „Das dogmatische Denken wird nur von denen recht getrieben, die nach einem Wozu dabei nicht fragen, die es einfach drängt, Klarheit des Selbstverständnisses im Glauben zu haben um der Klarheit selbst willen.“ (Ebd.) Genau dies Moment könne Schleiermacher mit seinem Theologiebegriff nicht zur Geltung bringen. Hirsch gesteht ihm zwar zu, dass er als Person dieses Streben gehabt und daher dogmatische „Verbesserungsmöglichkeiten“ (ebd.) immer wahrgenommen habe. Das ändert aber nichts an dem Gesamturteil: „Er stellt sich die Sache [...] zu pragmatistisch vor.“ (Ebd.) Was fehlt, ist nach Hirsch mithin das radikale, rein der ‚Wahrheit‘ hingegebene
17 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube, 2. Auflage (1830/31) , hg. von Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 [im Folgenden CG2], Leitsatz zu § 19, 119.
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Umformungspathos,18 das seinen eigenen Entwurf auszeichne. Schleiermacher könne die Souveränität, die ihn als Umformungstheologen persönlich charakterisiert, nicht seinem Theologieprogramm einstiften. (c) Damit kommen wir zum dritten Punkt, bei dem sich schon abzeichnet, dass er als systematischer Haupteinwand zu gelten hat. Er betrifft das Verhältnis von Glauben und Theologie. Schleiermachers bahnbrechende Einsicht in die ursprüngliche Unabhängigkeit der Religion von aller Metaphysik, die Hirsch an und für sich teilt,19 führt nach ihm aber dazu, dass bei ihm das „theologische Wissen [...] dem lebendigen christlichen Glauben gegenüber etwas Fremdes und Neues“ (CR I, 15) darstellt. Durch die im Studium erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten tritt „der Theolog dem Laien als der allein urteilsfähige Fachmann gegenüber[], der der Wissende ist und Nichtwissende vor sich hat.“ (Ebd.) Ausdrücklich hat Hirsch hier § 5 der Kurzen Darstellung vor Augen.20 Nach Schleiermacher seien jene Kompetenzen im Prinzip etwas dem Glauben Äußerliches. Hirsch gesteht dies nicht zu. Das Proprium der Theologie besteht seiner Meinung nach lediglich in der „Form kunstmäßigen Wissens“ (ebd.) Grundsätzlich hat aber seiner Meinung nach der Glauben in sich eine Tendenz zum Reflexivwerden, zum gedanklichen und sprachlichen Ausdruck. Demnach ist die Universitätstheologie nichts anderes als der ins Methodische erhobene Impuls nach Selbstklärung des christlichen Glaubens: „Der Theolog tut das, was er als Christ ohnehin tut, was jeder Christ ohnehin tut, nur auf kunstmäßige Weise.“ (Ebd.) Systematisch ruht diese Kritik auf dem tiefer liegenden Vorwurf, bei Schleiermacher sei „das Gottesverhältnis nicht als Wahrheitserkenntnis in sich schließend bestimmt.“ (Ebd.) Wir stehen hier an der elementaren Scheidelinie zweier unterschiedlicher Theologieprogramme.21 Laie und Theologe begegnen sich bei Hirsch – bildlich gesprochen – auf derselben Ebene als zwei nach Wahrheit Fragende, wobei der eine lediglich etwas reflektierter und belesener ist 18 Zu Hirschs Begriff einer „Umformung“ des christlichen Denkens in der Neuzeit vgl. Martin Zerrath, Vollendung und Neuzeit. Transformation der Eschatologie bei Blumenberg und Hirsch, Leipzig 2011, 148–159. 19 „Der erste, der die beiden Urbeziehungen am Gottesbewußtsein [scil. in Wissenschaft und Frömmigkeit] begrifflich sauber unterschieden hat, ist Schleiermacher in seiner Dialektik gewesen.“ (CR I, 210). 20 In der Handschrift oder der Transskription der Handschrift steht fälschlich „§ 3“ (CR I, 15). 21 Vgl. dazu Ulrich Barth, Gott – Die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher. In: Joachim Ringleben (Hg.), Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1991, 98–157.
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als der andere, während sie sich bei Schleiermacher als Wissender und Unwissender – und des Wissens auch gar nicht Bedürftiger – begegnen. Dadurch spricht Schleiermacher in Hirschs Lesart den Nicht–Theologen im Prinzip die Möglichkeit zur Beurteilung der Lehraussagen ab, während es nach seiner eigenen Auffassung „dem Laien unbenommen [bleibt], das, was ihm der Theolog zu bieten hat, zu beurteilen.“ (CR I, 16). Fragt man nach dem Verhältnis dieser drei Kritikpunkte, so wird deutlich, dass der zuletzt genannte derjenige ist, von dem auch die andern beiden abhängen. Das überkonfessionelle Pathos des ersten ist davon getragen, dass Hirsch unter Absehung von allen konfessionellen Vorgaben „rein christliche Wahrheit aussprechen“ (CR I, 38) möchte. Der zweite Einwand der Zweckfreiheit kann bestimmt werden als beruhend auf dem „Drang [...], christliches Wahrheitsbewußtsein in menschlicher Wahrhaftigkeit mit dem menschlichen Wahrheitsbewußtsein zu einigen.“ (CR II, 172) Letztlich beruhen also die Differenzen im Theologiebegriff auf einem abweichenden Verständnis davon, was Religion ist, eine Abweichung, die schon daran kenntlich wird, dass bei Hirsch eine zeittypische Reserve gegenüber dem Religionsbegriff erkennbar ist: Er bevorzugt den Terminus „Gottesverhältnis“. Religion ist nach Hirsch ein Reflexionsprozess, in dessen Vollzug der Mensch sich selbst unter der Hinsicht seiner Bezogenheit auf Gott thematisiert und dabei sich selbst durchsichtig wird – in der Selbsterkenntnis der „Gewissenswahrheit“ (vgl. Lf § 49). Bevor diese Kritikpunkte im Einzelnen erwogen werden, möchte ich zuvor kurz die enzyklopädischen Folgerungen aufzeigen, die sich für Hirsch aus seinem Theologieverständnis ergeben.
3.
Hirschs eigene Enzyklopädie – ein Rekonstruktionsversuch
Nach dem Gesagten dürfte unmittelbar einleuchten, dass die Einheit der Theologie nach Hirsch nicht in ihrer funktionalen Dimension gesucht werden kann. Dieser vorgeordnet ist ihr Charakter als „von jedem Zwecke gelöstes reines Erkennen der Wahrheit“ (Lf § 4A), den sie im Prinzip mit jeder Wissenschaft teilt. Ihr ureigenes Sachgebiet ist – hierin geht Hirsch mit Schleiermacher konform – das Vorliegen des christlichen Glaubens, folglich kann als Einheit der Theologie das Erkennen der christlichen Wahrheit bestimmt werden. Diese Bestimmung hat nun vier Relevanzdimensionen, unter denen sie betrachtet werden kann. Zunächst nimmt sie, wie bereits angesprochen, nur den ursprünglichen Impuls auf, welcher dem Glauben als solchem innewohnt. Eine
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neue, je eigene Glaubenserkenntnis „vollzieht sich ganz von selbst in jedem Menschen, der persönlich glaubt.“ (Lf § 3A). Die zweite Dimension betrifft den kunstmäßigen Charakter der Theologie. Indem die Theologin das vertieft und methodisiert, was dem Glauben schon für sich eigen ist, leistet sie etwas, das jeder Glaubende tun möchte, aber wegen seiner Lebensumstände in der Regel nicht leisten kann. Das heißt, die Fachtheologie leistet ein „stellvertretendes Denken“ (CR I, 17) mit dem Ziel, „auf dem religiösen Gebiet andern eine Hilfe zu werden“ (ebd.) Die Theologie versucht, in langer Einzelarbeit jene Wahrheitserkenntnis zu klären und davon ‚Rechenschaft‘22 abzugeben. Sie tut dies in der Hoffnung, dass andere sich in ihrem Klärungsbedürfnis in dieser Rechenschaft wiederfinden. Drittens muss sich die Theologie in dieser Funktion aber öffentlich legitimieren, um dem Verdacht, ein klandestiner Weltanschauungsbetrieb zu sein, entgegentreten zu können. Sie tut dies, indem sie in ihrer Rechenschaftsarbeit zugleich für die Öffentlichkeit christentumshermeneutisch wirkt: „Der wissenschaftliche Charakter der systematischen Theologie liegt darin, daß solche Rechenschaft [...] eine große geschichtliche Erscheinung, nämlich die der christlichen Religion, nach ihrem Wesen dem Verständnis von jedermann aufschließt“ (CR I, 30f.) Diese öffentlichkeitswirksame Leistung hängt freilich davon ab, dass die Gesellschaft überhaupt ein Interesse an dem avisierten Verständnis hat. Dies ist nun auf jeden Fall in historischer Perspektive gar nicht anders denkbar. Aber nach Hirschs Meinung ist das Christentum auch „wichtig genug [...] in der Gegenwart, daß solche Aufgabe zu lösen auch wissenschaftlich wertvoll ist.“ (CR I, 31) Klar ist allerdings auch, dass diese gesellschaftliche Gegenwartsrelevanz kontingenter Natur ist. Doch von anderen Strategien zur Begründung der Zugehörigkeit von Theologie zur Universität macht Hirsch keinen Gebrauch.23 22 Die beste Bestimmung des schwierigen Begriffs der ‚Rechenschaft‘ ist vielleicht diese: „Rechenschaft ist da, wo ein lebendiger Mensch von einem ihn persönlich Betreffenden und im Gewissen sich Bezeugenden in einer andern das Verstehen ermöglichenden strengen Sachlichkeit klare und bestimmte Mitteilung macht.“ (CR I, 30) 23 Um es deutlich zu sagen: Wenn sich die Gesellschaft gegen die Weiterführung theologischer Fakultäten und Institute entscheidet, kann sich die wissenschaftliche Theologie auf den Kopf stellen und ihre angebliche Unverzichtbarkeit in der universitas litterarum behaupten, so viel sie will. Nach Hirsch ist lediglich die gesellschaftliche Gegenwartsbedeutung einer Religion hinreichender Grund für die organisatorische Einrichtung theologischer Fakultäten. Ironischerweise gibt ihm die aktuelle Einführung islamischer Theologien in Deutschland Recht, welche durch die gesellschaftliche Bedeutung des Islam in Deutschland und nicht durch die Selbstzuschreibung wissenschaftlicher Relevanz durch islamische Theologen bedingt ist.
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Viertens schließlich nimmt Hirsch die funktionale Perspektive auf: Theologie dient dem Predigerberuf, sie ist eine „Berufsausrüstung, aber nicht im Sinne der Technik [...], sondern der Bildung des Menschen zu einer seinem Dienst gemäßen Kräftigkeit und Tiefe des Seins und der Erkenntnis.“ (CR I, 20). Die Leistung der Theologie in Bezug auf den Pfarrberuf ist also eher indirekter Natur als Bildung einer Persönlichkeit, welche zur Lösung der anstehenden Aufgaben in der Lage ist. Der unmittelbare Nutzen der Dogmatik besteht darin, dass sie „einen Schatz geprägter Erkenntnis, an dem die erbauliche Rede ihre Norm, ihre Erprobung auf echte Christlichkeit finden kann“ (CR II, 172), zur Verfügung stellt.24 Wie aber vollzieht sich jenes „Erkennen der christlichen Wahrheit“ nun konkret? Alle christliche Sozialisation vollzieht sich in einem auf bestimmte Weise geprägten Sprachraum, dessen Ausgestaltung von der spezifischen Frömmigkeitstradition der Familie, der peer–groups, der Region oder des Kulturkreises abhängt. Da aber jedes persönliche Erkennen neu anfängt, setzt es sich zu den Formeln der Überlieferung in ein zugleich kritisches und konstruktives Verhältnis. Das individuelle christliche Bewusstsein findet sich in dieser oder jener Sprachtradition ‚ausgedrückt‘ oder eben nicht, verbessert hier und da, gebraucht eigene Worte, kann mit dieser oder jener Vorstellung ‚gar nichts mehr anfangen‘. Dieses Phänomen führt Hirsch zu der These: „Alles persönliche Erkennen der christlichen Wahrheit geschieht so, daß dem Menschen in Aneignung oder Abstoßung ein Verhältnis zu den überlieferten Formungen christlicher Wahrheitserkenntnis entsteht.“ (Lf § 6A)25 Mit der Überlieferung sind natürlich nicht nur, vielleicht nicht einmal primär dogmatische Aussagen im technischen Sinne gemeint: Auch „Predigt, Gebet, Lied, Sitte usw. sind Lehrmitteilung.“ (CR I, 24). Hirsch legt Wert auf die Feststellung, dass er damit keineswegs eine normative Vorgabe macht, welche festschreibe, dass es zu einer Umformung des christlichen Denkens zu kommen habe, sondern er stellt lediglich fest, dass dies der faktische Lauf der Dinge ist: Das Programm einer Umformung der christlichen Lehre nimmt lediglich etwas auf, was bereits im Fluss des Frömmigkeitslebens selbst angelegt ist ( vgl. CR I, 154). 24 Das ist äußerst unmittelbar gemeint: Jede Predigtaussage sollte „an den Lehrformeln Martin Luthers kontrolliert“ (Emanuel Hirsch, Predigerfibel [1964], neu hg. und eingeleitet von Andreas Kubik, Waltrop 2013, 116) werden. 25 Das Studium muss diesen Prozess nach Hirsch aufnehmen und unterstützen, auch nach seiner destruktiven Seite hin. So schreibt er etwa der Vorlesung über die Alte Kirche folgende Funktion zu: Es „ zerstörte mir – wie dies Kolleg es muß, wenn es recht gelesen wird – den Kinderglauben, den ich mir bis dahin hatte bewahren können. “ Aus Emanuel Hirsch, Zum Geleit. In Karl Holl, Christliche Reden, Gütersloh 1926, III – VIII; hier VI.
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Motor der Umformungsarbeit ist dabei das von Hirsch so genannte allgemeine Wahrheitsbewusstsein. Dieser schwierige Terminus meint den Inbegriff all der „Erkenntnisse, die uns unerschütterlich gewiß sind jenseits alles Verhältnisses, das das Christliche zu ihnen hat“ (CR I, 23); ein Inbegriff, der sich zu einem „Gesamtbild“ verdichtet, das sich in der Gegenwart als ‚neuzeitliches‘ Wahrheitsbewusstsein artikuliert. Am ehesten wird man das allgemeine Wahrheitsbewusstsein daher als eine wissenssoziologische Größe verstehen. Erkenntnisse, die zu ihm gehören, können sich im Fortgang der Wissenschaft durchaus als falsch herausstellen; entscheidend ist ihr Charakter gegenwärtiger unbefragter Gewissheit. Dazu gehören etwa Dinge wie: dass die Erde sich um die Sonne dreht, dass menschliche Geistestätigkeit ein chemisches Korrelat im Gehirn hat, dass Herztransplantationen möglich sind, dass das Unbewusste eine Rolle bei der persönlichen Willensbildung spielt, dass der Mensch in irgendeiner Weise zur Evolutionskette gehört usw.26 Für das christliche Empfinden ist beinahe noch gravierender die lebensweltliche Abschattung dieses Wissens, das auch dann noch gilt, wenn kaum jemand dessen derzeitige wissenschaftliche Begründungen nachvollziehen kann. Soll sich nun ein neuer, gegenwärtiger Ausdruck des christlichen Wahrheitsbewusstseins bilden, so muss sich dieser so gestalten, dass die Glaubende sich selbst als eine mit sich einige Person verstehen kann. Und das ist nur möglich, wenn sie ihr allgemeines Wahrheitsbewusstsein, das sie immer schon mitbringt, wenn sie sprachlichen Ausdruck für den Glauben sucht, nicht künstlich verleugnen muss. Das bedeutet nicht, dass das allgemeine Wahrheitsbewusstsein als „objektive Lehrnorm“ (CR I, 154) etabliert würde, sondern es ist lediglich als ein unhintergehbares Ausgangsfaktum der christlichen Wahrheitserkenntnis benannt. Seine nötigende Kraft bestreiten zu wollen hätte nach Hirsch etwa genauso viel Sinn wie der Sprache vorzuwerfen, dass sie eine zwar veränderliche, aber doch zwingende Grammatik mit sich führt. Ist Theologie nun nichts als der methodische und umfassende Vollzug dieses ursprünglichen Erkenntnisvorgangs, so ergibt sich daraus folgende Einteilung. Die Rechenschaft von der christlichen Wahrheit ist die Hauptaufgabe der Theologie; die systematische Theologie mithin ihre Mitte.27 Dieser 26 Zu Unrecht sieht Eilert Herms, Emanuel Hirsch. In: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Profile des Luthertums im 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, 302–320, die politische PluralismusUnfähigkeit Hirschs in der vermeintlich gewaltsam konstruierten Einheitlichkeit des neuzeitlichen Wahrheitsbewusstseins begründet. Herms verkennt den wissenssoziologischen Charakter dieser Größe, die im Übrigen ohnehin gar nicht statisch ist, sondern sich inhaltlich dauernd verändert. 27 Es geht um das Programm der Rechenschaft als „regelgeleiteter Selbstdurchsichtigkeit im Gottesverhältnis.“ (von Scheliha, a.a.O., 439).
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Hauptaufgabe wachsen zwei Voraufgaben zu. Die eine besteht in der genauen Kenntnis der christlichen Überlieferung, mithin der neutestamentlichen Exegese28 einerseits und der Kirchen– und Dogmengeschichte (unter Einschluss der Frömmigkeitsgeschichte) andererseits. Die andere Voraufgabe besteht darin, das allgemeine Wahrheitsbewusstsein allererst innerlich durchsichtig zu machen. Denn auch dies ist dem Glaubenden als solchen nicht auf reflektierte Weise präsent. Diese zweite Voraufgabe ist methodisch weit schwieriger zu handhaben, denn es bedarf der Verständigung darüber, welches denn die entscheidenden Faktoren beim Aufbau des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins sind. Hirsch hat sich dazu nicht explizit geäußert; aus den Auseinandersetzungen in der Christlichen Rechenschaft und in der Theologiegeschichte und nicht zuletzt aus seiner Textsammlung Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit von 1938 kann man ersehen, dass nach seiner Meinung vor allem die kritische Philosophie und die moderne Geschichtswissenschaft zu den das allgemeine Wahrheitsbewusstsein prägenden Geistesbewegungen gehören; in geringerem Umfange auch Erkenntnisse aus der Ökonomie, der Psychologie und der empirischen Naturwissenschaft. Eine damit zusammenhängende Frage ist, wie sich diese Aufgaben eigentlich im Curriculum des theologischen Studiums niederschlagen sollen. Hirsch hat dazu, soweit ich sehe, keine direkten Angaben gemacht. Man darf aber vermuten, dass mit seinen Studienbüchern, seiner Theologiegeschichte und seiner Dogmatik in etwa der von ihm für nötig gehaltene Stoff im Hinblick auf die Klärung des neuzeitlichen allgemeinen Wahrheitsbewusstseins dargeboten wird. Vermutlich hätte er dafür plädiert, diese Klärungsaufgabe innerhalb der klassischen theologischen Veranstaltungen vorzunehmen und nicht etwa den Fächerkanon zu erweitern. Alle Fächer müssen in gleicher Weise mit dem Bewusstsein der Hauptaufgabe arbeiten. 28 Die Wissenschaft vom Alten Testament ist bei Hirsch nur insoweit inbegriffen, als dieses einerseits den unverzichtbaren Verstehenshintergrund des NT, andererseits wirksamer Teil der Kirchengeschichte ist. Insofern aber geht das AT „jeden Christen an“ (Lf § 14 M.4) und muss folglich auch Teil der theologischen Ausbildung sein. – Insgesamt kann Hirschs Verständnis des Alten Testaments deshalb nicht überzeugen, weil er dessen schiere Vielstimmigkeit stets darauf hin presst, dass es „als Ganzes vom Standort der nachexilischen jüdischen Volks- und Religionsgemeinde“ (Emanuel Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (1936), neu. hg. von Hans Martin Müller, Waltrop 2006, 111) und das bedeutet: dem „Gesamtsinn“ (ebd.) nach als Religion des Gesetzes zu verstehen sei. – Originell hingegen ist seine Forderung, die griechische Antike verbindlich ins Curriculum aufzunehmen: „Der Theolog muß die griechische Tragödie kennen. Sie ist neben dem Alten Testament das tiefste außerchristliche religiöse und ethische Dokument, das wir haben.“ (CR II, 242)
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Bleibt noch nach der Rolle der Praktischen Theologie zu fragen. Im Prinzip lassen sich alle Universitätswissenschaften hinsichtlich ihrer zweckfreien und ihrer zweckgebundenen Dimensionen befragen. Die praktische Wissenschaft sieht Hirsch ganz allgemein bestimmt „durch den Zusammenhang jener Tätigkeit, für deren Ausübung man eine wissenschaftliche Anweisung verlangt.“ (Lf § 8B). Diese Tätigkeit ist, wie schon öfter angeklungen, vor allem im Pfarrberuf zu sehen. Doch auch dieser kann nach Hirsch nicht mehr einfach seinen alten gemütlichen Gang gehen, sondern muss sich ganz der Umformungsaufgabe stellen, wenn auch auf eigene Weise. Die Pfarrerin unterscheidet sich darin nicht wesentlich vom Dogmatiker, auch sie möchte eine ‚Hilfe‘ sein bei der je individuellen Klärung der Einzelnen in ihrer christlichen Wahrheitserkenntnis.29 Dementsprechend ist Praktische Theologie nichts anderes als Besinnung auf die Umformungsaufgabe im Lichte der pfarramtlichen Berufsaufgaben. Genau so ist dann auch Hirschs gewichtigstes Wort zur Praktischen Theologie, die Predigerfibel, aufgebaut, nämlich im Hinblick auf die Predigt über Bibeltexte.
4.
Stellungnahme
Die Stellungnahme zu Hirschs Rezeption von Schleiermachers Theologieprogramm kann unter zwei Leitfragen geschehen. Zum einen: Basieren die Einwände auf einer zutreffenden Einschätzung von Schleiermachers Meinung? Und zum zweiten: Was ist sachlich von der Kritik zu halten? Doch bevor wir uns den drei monita anhand dieser Fragen noch einmal zuwenden, sei zunächst ein Vergleich beider Enzyklopädie–Programme im Ganzen vorgenommen. In einer Gesamtansicht stellen sich die Unterschiede gar nicht so gravierend dar, wie man nach den zum Teil recht scharfen Angriffen hätte vermuten können – was unsere ursprüngliche Einschätzung bestätigt. Es sind im Gegenteil relativ große Ähnlichkeiten festzustellen. Dies gilt umso mehr, wenn man dem Hinweis Markus Schröders folgt, nach dem bei Schleiermacher der funktionalen Einheit der Theologie die inhaltliche Einheit im Wesen des Christentums korrespondiert.30 Denn auch nach Hirsch besteht eine Aufgabe der Theologie darin, „das Wesentliche vom Unwesentlichen [...] zu unterscheiden.“ (Lf § 6B) Ebenso war von Hirsch die funktionale Perspektive gewahrt worden. Hirschs Pathos der inneren Freiheit von der Überlieferung hat 29 Vgl. die kurze pastoraltheologische Skizze Lf § 96A sowie CR II, 152f. 30 Vgl. Markus Schröder, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996, 100–123.
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seine Entsprechungen in Schleiermachers Begriffen von der historischen Notwendigkeit der Heterodoxie (KD §§ 203–211) und der „freien Geistesmacht“ (KD §§ 328–334). Hirschs Ausweitung oder zumindest Neubestimmung des traditionellen Fächerkanons in der Reflexion auf das allgemeine Wahrheitsbewusstsein hat darin sein Vorbild bei Schleiermacher, dass dieser die Darlegung des Wesens des Christentums auch „im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen“ (KD § 21) forderte, die in der Philosophischen Ethik ihre gemeinsame Reflexionsgestalt finden. Schließlich: Hirschs Konzeption der Theologie als ‚Universitätswissenschaft‘ setzt die gesellschaftliche Relevanz des Christentums – d.h. aber: der Kirche31 – voraus. Im Lichte dieser Gemeinsamkeiten sind nun noch einmal jene Einwände zu betrachten. Mit Bezug auf den ersten können wir uns dabei sehr kurz fassen. Er ist in der vorgetragenen Schärfe haltlos und kann wohl nur psychologisch aus der Existenz des Dogmatikers Hirsch Mitte der 30er Jahre erklärt werden.32 In seinem sachlichen Gehalt bezieht er sich letztlich auf die wissenssoziologische Reichweite des dogmatischen Anspruchs. Hirsch ist ein engagierter Verfechter der rein individuellen Dogmatik, während Schleiermacher den Glauben der evangelischen Kirche in seinem gesamten Umfang zur Darstellung bringen will: Dogmatik muss auch frömmigkeitshermeneutisch die Motive der jeweiligen Lehrbildungen sondern und deren Spielbreite ausmessen.33 Beide Typen haben ihre spezifischen Vor– und Nachteile; dass aber der zweite einen Ausverkauf an christlicher Freiheit darstellen soll, kann nur eine hypertrophe Selbstinszenierung meinen. Was den zweiten Einwand angeht, so kann zunächst konstatiert werden, dass Hirsch wohl einen etwas zu statischen Begriff von „Kirchenleitung“ bei Schleiermacher voraussetzt. Schon Heinrich Scholz hatte festgestellt, dass neben dem Motiv der Kirchenleitung – man sollte wohl besser sagen: es ergänzend und 31 „Das geschichtliche Bedürfnis nach einer Kirche […] liegt offen am Tage. […] Was geschichtlich bestehen will, bedarf eines Geschichtsleibes.“ (CR II, 129) 32 Gemeint ist damit seine persönliche Einsamkeit und seine verzweifelte Sehnsucht nach einer Nationalkirche, welche die alte Gestalt der evangelischen Kirche transzendieren und letztlich sogar die konfessionelle Spaltung Deutschlands überwinden sollte (vgl. CR II, 122–125). 33 Dies wird in der Ekklesiologie besonders deutlich; vgl. etwa die Kontroversen über die Wirksamkeit der Taufe, die Schleiermacher wie folgt resümiert: Es zeigt sich, „wie weit die Meinungen über Werth und Wirksamkeit der Taufe auseinander gehen können, ohne daß wir berechtigt wären weder die nach der einen noch die nach der anders Seite hin am weitesten auseinandergehenden für unchristlich zu erklären.“ (Friedrich Schleiermachers, CG2, § 136.4)
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präzisierend – das Motiv des „Interesse[s] am Christentum“34 geltend gemacht wird. Die ‚zweckfreie‘ Erledigung der Sachaufgabe, wie sie Hirsch vorschwebt, ließe sich wahrscheinlich noch unter Schleiermachers Begriff der Kirchenleitung verrechnen. Sein eigentliches Gewicht erhält der Einwand vielleicht erst im Hinblick auf die Konsequenzen für das Theologiestudium: Was soll der eigentliche Motor des Studiums sein: die Orientierung an der ‚Wahrheit‘ oder an Schleiermachers Einheitsgesichtspunkt, der Beziehung auf die kirchenleitende Tätigkeit?35 Wir werden noch einmal darauf zurückkommen. Damit zum dritten, der in systematischer Hinsicht als der eigentliche Haupteinwand zu gelten hat. Man kann eine gewisse Stichhaltigkeit dieser Anfrage nicht leugnen. In der Tat scheint das Verhältnis von „Einsicht und Glaube“ (CR II, 5) bei Schleiermacher nicht eben unproblematisch zu sein. Genau ließe sich die Stichhaltigkeit dieses Einwandes nur erwägen, wenn man dieses Verhältnis im Kontext von Schleiermachers Gesamtwerk erörtert. Andeutungsweise lässt sich Folgendes sagen: Man muss bei Hirsch unterscheiden zwischen Theologie als Universitätswissenschaft und Theologie als ursprünglicher Reflexion des Glaubens. Seine Kritik, dass bei Schleiermacher Theologie dem Glauben gegenüber etwas Äußerliches ist, kann sich eigentlich nur auf das zweite richten. Schleiermacher spricht dem Laien nun durchaus nicht ab, dass er des theologischen Interesses fähig wäre, aber tatsächlich scheint ihm dies im Verhältnis zur Frömmigkeit selbst rein kontingenter Natur zu sein: Die Laien können Theologen sein „zu ihrem Vergnügen, und dieß wäre gut.“36 34 Heinrich Scholz, Einleitung. In: Ders. (Hg.), Schleiermacher: Kurze Darstellung, a.a.O., XXX. „Also nicht Erziehung zur Kirchenleitung, sondern zum Verständnis des Christentums das Endziel, und der methodische Erwerb dieses Verständnisses, mit allen Voraussetzungen und Folgerungen, das organisierende Prinzip und der substantielle Kern aller theologischen Forschung und Wissenschaft!“ ( XXXf.); dies alles ist mit Bezug auf KD § 84.147.313 gesagt. Scholz’ Auslegung ist dahingehend etwas einseitig, als das „Interesse am Christentum“ nicht nur ein hermeneutisches, sondern auch ein auf Fortentwicklung zielendes Interesse meinen dürfte. 35 Um das Missverständnis einer bloßen Reproduktion der Funktionselite durch das Theologiestudium vorzubeugen, sei erstens noch einmal auf die kirchenleitende Funktion der freien Geistesmacht verwiesen (vgl. KD § 328), und zweitens darauf, dass Schleiermacher die Kirchenleitung bereits bei der freien Meinungsäußerung der einzelnen Christen – Theologen oder nicht – zur Verbesserung des kirchlichen Wesens beginnen lässt. So heißt es in einer originellen Auslegung des ‚Amts der Schlüssel‘: „[A]uf ursprüngliche und formlose Weise übt jeder Einzelne durch sein Urtheil über das was in der Gemeine geschieht und durch Lob und Tadel selbst das Strafamt aus“. (CG2, § 145.2). 36 Friedrich Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie (1832/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. von Walter Sachs, Berlin/New York 1987, 4.
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Von Haus aus denkt sich Schleiermacher den Glauben und das ‚Glaubenswissen‘ aber wohl tatsächlich ganz getrennt: Der „Werth des christlichen Glaubens [besteht] in der Lebendigkeit und Wirksamkeit des Gottesbewußtseyns [...], was alles in gleicher Vollkommenheit vor sich gehen kann ohne eine Theologie. Nur dieß besorgt die Theologie, daß die Momente des christlichen SelbstBewußtseyns sich richtig in Gedanken ausdrücken, was aber für den christlichen Glauben nicht wesentlich ist.“37
Vom Phänomen her scheint Hirsch mir richtig gesehen zu haben, dass so etwas wie ein elementares Sich–Gedanken–machen und Worte–finden–wollen über den eigenen Glauben die christliche Frömmigkeit oft, vielleicht immer begleitet. Dies geschieht gelegentlich in einem mitunter mühevollen Sicht–zurecht–legen der Dinge, mit unbeholfenen Spekulationen darüber, wie das mit der Trinität nun eigentlich genau zu verstehen sei, mitunter aber auch mit erstaunlich souveränem Verwerfen bestimmter tradierter Gehalte, welche Souveränität sich etwa beim Sprechen eines eigenständig umformulierten oder gekürzten Apostolikums im Gottesdienst zeigt. Die Frage ist, ob man diesen primären Reflexionen von Seiten der theologischen Professionaliät mit einer Verstärkung der Umformungsimpulse reagiert, oder ob nicht eher ein gelassenes Geltenlassen38 angebracht ist. Letzteres würde in der Tat die Kluft zwischen Theologen und Laien festschreiben, wie Hirsch es Schleiermacher vorwirft. Die Frage ist nur, ob diese Kluft im ersten Fall weniger dramatisch gefühlt würde. Denn der Laie könnte vermutlich in Hirschs Konzept der ihn leitenden Hand des Umformungstheologen doch nicht entbehren. Dazu kommt noch ein anders geartetes Bedenken gegenüber Hirsch, das sich an die Diskussion des ersten Einwandes anschließt. Seine Verweigerung gegenüber der konfessionellen Dogmatik auch im Sinne Schleiermachers und sein Insistieren darauf, nichts als „Jünger Jesu Christi“ (Lf § 13B) sein zu wollen, hat nicht nur methodischen Charakter, sondern ist letztlich auch eine Frage der bevorzugten Frömmigkeitsgestalt. Die ganze Vielfalt evangelischer Frömmigkeitstypen kommt in Hirschs Dogmatik nicht als Vielfalt in den Blick, weil sie alle der Frage nach ihrer Umformungstauglichkeit unterworfen werden. Da bleibt dann aber schließlich nur noch die leicht resignierte Innerlichkeitsfrömmigkeit des kierkegaardischen Einzelnen übrig.39 Hirschs Vorwurf 37 A.a.O., 10. 38 Denn in der Kirche „geltend“ ist nach Schleiermacher alles, was „wenn auch nur in einzelnen Gegenden derselben als Darstellung der gemeinsamen Frömmigkeit gehört wird ohne Zwiespalt und Trennung zu veranlassen“.“ (CG2, § 19.3) 39 Dies zeigt sich besonders plastisch in Hirschs Erzählwerk, das zur Gänze auf diesen Frömmigkeitstypus hinausläuft.
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kehrt sich gegen ihn selbst; das wahrheitsbasierte Umformungspathos führt zu einer anderen Form von theologischem Überlegenheitsanspruch. Denn die theologische Aneignungs– und Abstoßungsarbeit ist zugleich der Königsweg zur religiösen Verinnerlichung: Daher ist „die Religiosität der großen Theologen meist innerlicher und reiner gewesen [...] als die durchschnittliche ihres Zeitalters.“ (CR I, 17) Damit taucht die soeben eingezogene Differenz zwischen Laien und Theologen an anderer Stelle unvermutet wieder auf. Schleiermachers relativ scharfe Gegenüberstellung von Laien und Theologen kann nur um den Preis relativiert werden, dass Hirsch stattdessen in religiöser Hinsicht eine Wertdifferenz zwischen ‚der Verflachung des Christlichen‘ (dem gewöhnlichen Kirchenchristentum) und dem ‚eigentlich Christlichen‘ (der Gott stille haltenden Existenz des Einzelnen; vgl. ThG V, 485) etabliert. In diesem Lichte ergibt Schleiermachers klare Unterscheidung von Glauben und Theologie wieder sehr viel Sinn.
5.
Ausblick
Wie übersetzt man Schleiermachers Einheitsbestimmung der Theologie einer in sich zusammenstimmenden Kirchenleitung, wenn man den Vorwurf des ‚Klerikalischen‘, den Hirsch ihr macht, für unzutreffend hält? Die ‚Leitung‘ kann ja nur den Zweck haben darauf hinzuwirken, die empirische Realität des Christentums immer stärker seinem ‚Wesen‘ anzugleichen.40 Das Ziel ist also die geregelte Fortentwicklung des Christentums im Hinblick auf das, worum es beim Christentum eigentlich geht. Jede leitende Tätigkeit lässt sich daraufhin befragen, welches Bild ihr von dem zugrunde liegt, was das Entscheidende am Christentum sei.
40 Am Rande der angesprochenen Neuendettelsauer Tagung [wie Anm. 1] warf Volker Leppin die Frage auf, ob beim überragenden Altphilologen Schleiermacher nicht noch ein gehaltvoller Begriff von ousia im Hintergrund stehe, der es unmöglich mache, sich den Wesensbegriff heute unbefangen zu eigen zu machen. Dieser Frage wäre in einer eigenen Untersuchung zu klären; möglich wäre auch, dass aufgeklärter Sprachgebrauch die Quelle darstelle: Die Neologie sprach von ihren Voraussetzungen her häufig von dem „wesentlichen Christenthum“ (vgl. etwa Johann Joachim Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und dessen Beförderung, Berlin 1773 (im Rahmen der kritischen Spalding-Ausgabe hg. von Tobias Jersak, Tübingen 2002), 144 (Orig. Pag.); auch die Formel „Wesen des Christentums“ findet sich bereits (etwa Johann F.W. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, hg. von W.E. Müller, Hannover 1991, 278).
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Bei dieser Bestimmung fällt freilich sofort ins Auge, dass die Meinungen darüber heutzutage – und nicht erst heutzutage – weit auseinander gehen. Soll sich das Christentum wieder stärker seinen jüdischen Wurzeln nähern? Ist festere Bekenntnistreue gefragt? Soll es vermehrt politisch aktiv werden oder gerade nicht? Muss es sich spirituell erneuern oder sich wieder als ethische Kraft erweisen? Soll es sich auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse einlassen oder diesen gerade widerstehen? Der Fragenkatalog wird noch um einiges umfangreicher, wenn man den Blick über den nationalen, konfessionellen oder kontinentalen Tellerrand hinaus wagt. Man kann sagen: Sowohl der innere Zustand des Christentums als auch der konzeptuelle Zugriff auf denselben ist rettungslos plural. ‚Christentum‘ ist eine Reflexionskategorie, die höchst heterogene Materialbestände unter sich begreift. In dieser Situation scheint es sich anzubieten, auf Meta–Kriterien zurückzugreifen. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch diese bereits in den Sog der Pluralität hineingezogen oder ihrerseits intern plural verfasst sind. ‚Schriftgemäßheit‘ oder ‚Zeitgemäßheit‘ – um diese beliebten Schlagworte als Beispiel heranzuziehen – mögen solche Meta–Kriterien sein, auf die man sich äußerlich leicht verständigen würde. Doch dürfte eine nähere Betrachtung, was genau damit gemeint sein soll, nur noch einmal die Spannbreite abbilden, die zu übergreifen sie gerade angetreten waren. Die einzig sinnvolle Konsequenz scheint mir darin zu liegen, diese Pluralität zum festen Ausgangspunkt jeder enzyklopädischen Bemühung zu machen. Das Hauptziel des Studiums würde dann darin bestehen, diese Pluralität der ‚Christentümer‘ zunächst wahrzunehmen, historisch zu begreifen, Verfahren zu ihrer dogmatischen und ethischen Rekonstruktion zu entwickeln und Berufskompetenz dann dahingehend zu fördern, mit dieser Pluralität im pastoralen, pädagogischen oder anderem theologischen Alltag umgehen zu können. Kirchenleitendes Interesse an der Fortentwicklung des Christentums heißt also zunächst ein diese Pluralität selbst nicht dementierendes ‚Pluralitätsmanagement‘.41 Dessen Ziel, das in seiner praktischen Umsetzung eine große Kunst darstellen dürfte, besteht nach Schleiermacher gerade darin, aus der Wahrnehmung der vielen möglichen „entgegengesezte[n] Tendenzen“42 gerade das Attribut einer zusammenstimmenden Leitung hervorzubringen (vgl. KD § 5), welche also die divergierenden Ansichten über die Richtung, in die sich das Christentum fortentwickeln sollte, nicht ins Unrecht setzt und trotzdem 41 Dieser Ausdruck steht hier vorläufig in Ermangelung eines besseren. Geprägt wurde er m.W von dem katholischen Pastoraltheologen Paul Zulehner, ohne dass ich mir hier dessen Implikationen zu eigen mache. 42 Schleiermacher, Enzyklopädie Nachschrift Strauß, a.a.O., 9.
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daran orientiert ist, einen gemeinsamen Möglichkeitsraum pluraler christlicher Entfaltung zu erhalten. In diesem Sinne kann Schleiermacher sagen: „Eine ausgebildete Theologie hält die Kirche zusammen.“43 Nun zeigt es sich natürlich, dass zu den vielfältigen Frömmigkeitsgestalten, mit denen christliche Professionalität konfrontiert ist, auch solche gehören, die sich selbst als auf ‚Wahrheit‘ hin orientiert verstehen. Diese werden nicht dadurch ernst genommen, dass sie gleichsam frömmigkeitshermeneutisch ‚besiegt‘ werden, sondern dass ihnen gegenüber (oder mit ihnen) das Moment der ‚Rechenschaft‘ zur Geltung gebracht wird. Denn solche Formen der Religiosität werden sich – in der einen oder anderen Weise – stets auf das spannungsvolle Verhältnis von Christentum und moderner Welt beziehen. Das Problem einer ‚Umformung‘ des christlichen Denkens ist ja, wie Hirsch richtig festgestellt hat, nicht von außen an das Frömmigkeitsleben herangetragen, sondern entsteht aus diesem selbst. Der reflektierte Umgang damit setzt dann bei den Theologen in der Tat Selbstklärungsprozesse voraus – oder provoziert solche –, die ebenfalls Ziel der theologischen Ausbildung sein müssen. Mit einer etwas gewagten Analogie könnte man sagen: So, wie man nur an einer positiven Religion lernen kann, was ‚Religion‘ überhaupt ist, so kann man nur an Wahrheitsansprüchen, die einen selbst tangieren, lernen, was eine auf Wahrheit zielende Glaubenshaltung ist. Der Gedanke eines Pluralitätsmanagements bedeutet also keineswegs den Verzicht auf eine eigene inhaltliche Positioniertheit; nur weiß die Theologin sie in ihrer Relativität einzuordnen und unterläuft nicht der Gefahr, „die persönliche Einstellung als die allein gültige und einforderungswürdige zu bewerten.“44 In der beruflichen Lebenswelt ist dieser Umstand immer dann von Belang, wenn Pastorin, Lehrer oder ein anderer Theologe selbst Akzente oder Schwerpunkte setzen, Auswahlen treffen oder Impulse geben. Eine theologisch professionell tätige Person lebt und arbeitet also in einer ebenso reizvollen wie anspruchsvollen Spannungseinheit: Sie muss zugleich frömmigkeitshermeneutisch versiert und persönlich inhaltlich engagiert sein, ohne eins gegen das andere auszuspielen.45 In Bezug auf die Zusammenarbeit mit Laien schlägt sich jene Spannungseinheit wie folgt nieder: Die theologisch–professionelle Aufgabe 43 Ebd. 44 Frank Thomas Brinkmann, Praktische Homiletik. Ein Leitfaden zur Predigtvorbereitung, Stuttgart 2000, 37. 45 Obwohl Hirsch in seiner Theologiegeschichte eine erstaunliche Anempfindungsfähigkeit in Bezug auf Frömmigkeitsstile beweist und in seiner Dogmatik in die Spannung seines antinomischen Religionsbegriffs durchaus viele Formen der Religiosität einzeichnen kann, werden diese in systematischer Hinsicht letztlich doch allesamt dem Kriterium seines eigenen Frömmigkeitsideals unterworfen.
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Andreas Kubik
besteht darin, basalen und möglicherweise unbeholfenen Artikulationsformen von Interesse an der Fortentwicklung des Christentums mit geschulter begrifflicher Kompetenz weiter zu helfen – und nicht etwa diese zugunsten der eigenen Positionalität zu überspielen. Das bedeutet wiederum nicht, keine haben zu dürfen, wohl aber, sich selbst in die Pflicht zu nehmen, dass die eigene Meinung sich nicht bloß aufgrund des Herrschaftswissens und der theologischen Deutungsmacht durchsetzt. Aus diesen Bestimmungen ließen sich für Fragen der Studienreform einige Ideen entwickeln. Diese beträfen eher am Rande Fragen der konkreten Lehrinhalte oder des Fächerzuschnitts als vielmehr den theologischen Habitus, den das Theologiestudium anstreben möchte – ein Thema, das sowohl Schleiermacher als auch Hirsch in ihren Theologiekonzeptionen mit verhandelt haben.46 In beiden Fällen läuft es darauf hinaus, das Theologiestudium als einen spezifischen Modus der freien ‚Bildung‘ zu organisieren. Dass die aktuellen Studienreformen eher einen ‚verschulten‘ Habitus erzeugen und somit einem Bildungsinteresse im eminenten Sinne nicht gerade zuarbeiten, wird inzwischen vielerorts beklagt und ist vermutlich nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Spätestens hierin liegt ein wichtiger Grund dafür Studienreform endlich als genuin theologisches Thema wiederzugewinnen, wenn es eines solchen noch bedurft hätte.
46 In der Duplizität von religiösem und wissenschaftlichem Interesse liegt ein solche Habitus-Konzept begründet, das Schleiermacher am Ende jedes Kapitels der Kurzen Darstellung mit den Tugenden und Eigenschaften, welche sich beim Theologiestudenten ausbilden sollen, kurz ausfaltet. Für Hirsch vgl. CR I, 7.
II. Gegenwärtige Perspektiven
Zwischen Reformstau und Desinteresse Veränderungen im Theologiestudium und ihre Bedeutung für den kirchlichen Dienst in Deutschland1 Walter Sparn 1.
Die Beobachtersituation
Im Folgenden versuche ich, die aktuelle Lage der evangelischen Theologie in Deutschland im Blick auf die Frage zu beschreiben und zu bewerten, ob und inwiefern das gegenwärtige akademische Studium dieses Faches (noch) im Interesse der evangelischen Kirchen und ihrer Leitungen ist oder nicht. Eine solche Beschreibung muss notgedrungen pauschalisieren, und sie ist in hohem Maße subjektiv, und zwar leider über das grundsätzlich unvermeidliche Maß hinaus. Denn es gibt m. W. keine kontinuierliche und für Deutschland repräsentative Wahrnehmung der neueren Entwicklung, weder im Blick auf ihre institutionellen noch auf ihre personellen Aspekte. Es gibt immerhin in jeder deutschen Landeskirche regelmäßige Gesprächskontakte zwischen Kirchenleitungen und theologischen Fakultäten bzw. kirchlichen Hochschulen. Die Kirchenleitungen haben, in unterschiedlichem Umfang und in verschiedener Intensität, auch Kontakt mit den Theologiestudierenden, die ihrerseits locker in landeskirchlichen Konventen organisiert sind und in Kontakt mit dem jeweiligen Prüfungsamt oder auch mit der Synode stehen. Es existiert eine „Gemischte Kommission“, die von allen Fakultäten und den Kirchenämtern beschickt wird und gemeinsame Empfehlungen für die Organisation des Theologiestudiums und für die jeweils nötigen Verhandlungen mit den für Hochschulen zuständigen staatlichen Stellen erarbeitet. Diese Kommission hat z.B. festgestellt, dass ein reguläres Pfarramtsstudium die Kenntnis der drei alten Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein einschließt und daher mehr als die üblichen 8 + 1 Semester (vier Studienjahre) umfasst. Das ist ebenso wichtig wie vor einiger Zeit die Forderung dieser Kommission, dass die fünf so genannten „klassischen“ Disziplinen der Theologie (Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie) in jeder Fakultät mit zwei voll ausgestatteten Lehrstühlen vertreten sein müssen. Diese Forde1
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Hans–Martin Weiss (Hg.), Lutherische Kirche in der Welt. Jahrbuch des Martin Luther–Bundes, Erlangen 2011, 101 – 113. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
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Walter Sparn
rung ist in der Tat fast überall verwirklicht; die jüngste Novellierung des Staatskirchenvertrages in Bayern beispielsweise schreibt das ausdrücklich fest – allerdings um den Preis, dass theologische Lehrstühle außerhalb von Theologischen Fakultäten eingezogen wurden. So kann ich auf juristische, konzeptionelle und natürlich auf quantitative Daten, z.B. auf die Studierendenstatistiken, zurückgreifen, nicht aber auf qualitative Daten. Es gibt m.W. keine empirischen Untersuchungen über die psychische, soziale und religiöse Befindlichkeit von Theologiestudierenden und ihr Verhältnis zu den Kirchen; das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD, das ich um Auskunft gebeten habe, hat solche Untersuchungen auch nicht durchgeführt. So bin ich auf eher zufällige, mit mehr oder weniger Kolleginnen und Kollegen geteilte Informationen, Gespräche und Eindrücke angewiesen. Immerhin erstrecken sich meine eigenen Erfahrungen über fast fünfzig Jahre, meine Studienzeit seit WS 1961/1962 einbezogen, und sie wurden an vielen Orten gemacht: Tübinger Stift, Bonn, Göttingen, Bayreuth, Erlangen, Großbritannien, Tschechien, Skandinavien, Südafrika, Tansania und USA.
2.
Die Theologiestudierenden
Vor dem Hintergrund einer hohen institutionellen Stabilität sowohl auf Seiten des Staates als auch der Kirchen haben sich in den letzten Jahrzehnten, im Kontext der Bildungsreformen seit den sechziger Jahren, große Veränderungen vollzogen. Die Zahl der Theologiestudierenden erhöhte sich bis in die Mitte der achtziger Jahre im nationalen Durchschnitt – im damaligen Westdeutschland – mindestens auf das Fünffache (viele Theologen wechselten allerdings in andere Fächer, v. a. in die Soziologie, Politologie, Psychologie). Nicht anders als die Universitäten im Ganzen wurden auch die (westdeutschen) theologischen Fakultäten seit den sechziger Jahren erweitert, durchschnittlich wohl auf das Doppelte an Personal und Sachmitteln; die „klassischen“ Fächer wurden durch Lehrstühle (C 4) und Dozenturen (C 3) verstärkt (in Erlangen auf insgesamt fünf Professuren für Systematische Theologie, d. h. für Dogmatik, Ethik und Reformierte Theologie); auch neue Fächer wurden ausdifferenziert (in Erlangen waren das Religions- und Missionswissenschaft, Ostkirchenkunde, Christliche Archäologie, Christliche Publizistik). An den Universitäten und Fachhochschulen ohne Theologische Fakultät wurden ebenfalls zusätzlich oder ganz neu Professuren für die Ausbildung von Schullehrern und Sozialarbeitern eingerichtet (z.B. drei theologische, dazu zwei religionswissenschaftliche Lehrstühle in Bayreuth). Seit Mitte der achtziger Jahre fiel die Zahl der Theologiestudierenden dann sehr stark ab und erreichte um 2003 einen Tiefpunkt, der die Fakultäten weit
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unter die „Auslastungsquote" (ein neues Maß der hochschulpolitischen Bewertungskategorien) drückte. Aufgrund dessen, aber auch aufgrund der politisch gewollten Sparmaßnahmen nach der Wiedervereinigung, wurde seit den neunziger Jahren die Zahl der fakultären Lehrstühle reduziert, die der außerfakultären erst recht, die C 3-Dozenturen wurden abgeschafft; die Kirchlichen Hochschulen in der früheren DDR wurden geschlossen (im Westen blieben Bethel/Wuppertal und Neuendettelsau). Doch ist die so genannte „Betreuungsrelation" in der Theologie immer noch deutlich besser als in anderen Fächern, vor allem in den Fächern der „Philosophischen“ oder „Kulturwissenschaftlichen“ Fakultäten: In der Theologie kommen auf einen Dozenten zwischen 12 und 20 Studierende. Seit etwa sieben Jahren nimmt die Zahl der Theologiestudierenden wieder leicht zu und pendelt sich wohl auf den Personalbedarf der Landeskirchen und der Bundesländer ein, die ja Monopolarbeitgeber sind. Die Frequenz der Fakultäten ist sehr unterschiedlich, die Zahl der Studierenden kann 150, aber auch 1000 betragen, ohne dass man alle Ursachen dafür benennen oder die wahrscheinlichen Ursachen verlässlich gewichten könnte. Dabei spielen, anders als früher, „Schulhäupter“ keine Rolle mehr. Eine der klar benennbaren Veränderungen bei den Theologiestudierenden stellt die Steigerung des Anteils der Frauen dar; aus maximal 10 % um 1960 sind jetzt über 50 % geworden. Ebenfalls benennbar ist die Steigerung des Anteils derer, die auf ein Lehramt hin studieren, gegenüber den Studierenden fürs Pfarramt, die jetzt weniger als 50 % betragen. Eine wichtige, erst anlaufende Veränderung ist die Entstehung einer dritten Säule (neben dem Pfarramts- und dem Lehramtsstudium): die mit der Theologie oder Teilen davon zusammenhängenden, aber nicht auf das kirchliche oder staatliche Examen führenden Studien z.B. der Religionswissenschaft, der Publizistik, der Archäologie oder anderer religious oder cultural studies. Die Studierenden anderer Berufspläne leben und denken oft in nur lockerem Zusammenhang mit der (für kirchliche und staatliche Berufe ausbildenden) Theologie; sie nehmen nicht an den (sonst verpflichtenden) Einführungsveranstaltungen teil, und nur selten tauchen sie in der allgemeinen Studienberatung auf. Ob die anderen beiden Gruppen homogener sind, lässt sich nur schwer sagen, ebenso, wie sich die seit einer Generation in unserer Gesellschaft laufenden religiösen, sozialen und intellektuellen Veränderungen bei den Theologiestudierenden niederschlagen. Auch über die finanziellen Umstände weiß man nichts Präzises; es scheint, dass weniger bezahlte Nebenarbeit nötig ist als in anderen Disziplinen (aber für etwa ein Drittel ist sie nötig oder doch nützlich). Das hängt wohl auch mit der sozialen Herkunft der allermeisten aus der Region (Familienanschluss) bzw. aus der ökonomischen Mittelschicht und dem sozial sensiblen bürgerlichen Milieu zusammen. Die starke regionale Bindung der meisten Pfarr-
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amts- und Lehramtsstudierenden trägt ebenfalls zur Stabilität bei; die Mobilität hat vermutlich abgenommen. Immerhin setzt sich eine gewisse Zahl auch internationalen und interkulturellen Erfahrungen durch Erasmus-Programme, universitäre Partnerschaften oder kirchliche Partnerschaften mit Kirchen in der Dritten Welt aus. Im Blick auf das intellektuelle Profil lässt sich durchweg eine Verschiebung erkennen, die teils mit der Reform der gymnasialen Oberstufe seit den siebziger Jahren, teils mit den medialen Veränderungen seit den neunziger Jahren zu tun hat. Zum einen ist ganz klar, dass das Theologiestudium nicht mehr für die intellektuell und sprachlich Brillantesten interessant ist (mit Ausnahmen natürlich). Die Abiturnote der Theologiestudierenden hat sich in meiner Generation um mindestens (in meinem Erfahrungsbereich mehr als) einen Punkt abgesenkt; bei den (noch von der Schule initiierten) Bewerbungen um Stipendien sind so gut wie nie künftige Theologen dabei. Natürlich können auch junge Leute mit der Abiturnote „3“ gute Pfarrer werden, aber ihr intellektueller und wissenschaftlicher Anspruch tritt hinter andeen Ambitionen zurück. Das geht so weit, dass auch Theologen ernstliche Probleme mit dem Deutschen und mit korrekter Orthografie haben – und das nicht für besonders problematisch halten. Apropos Theologen: Es wird ein geschlechtsspezifisches Leistungsgefälle erkennbar. Die weiblichen Lehramtsstudierenden sind längst nicht mehr ,,Schmalspurtheologen“, wie man dummerweise früher sagte, sondern sind oft leistungsbereiter und leistungsstärker als die männlichen Pfarramtsstudierenden. Das religiöse Profil der Theologiestudierenden der letzten Zeit kann ich mangels seriöser Untersuchungen nur sehr vage und subjektiv beschreiben. Zwei Aspekte scheinen mir deutlich: einmal die fast erstaunlich fraglose landeskirchliche Loyalität, zum anderen das relativ unangefochtene Verhältnis zur kulturellen Umwelt. Die existenzielle Arbeit hat sich von dogmatischen Orientierungsaufgaben (Entmythologisierungsdebatten etwa sind längst Vergangenheit!) zu ethischen Problemen, hier wiederum weniger die klassisch politischen als die sozialen und vor allem ökologischen verlagert. Wichtiger als früher ist die erkennbare Pflege der individuellen und frei sich vergemeinschaftenden Frömmigkeit geworden. Der Träger der religiösen Sozialisation, die zum Theologiestudium führt, scheint vor allem die singende und betende Jugendgruppe zu sein, weniger der Pfarrer und selten der Religionslehrer. Die Theologiestudierenden leiten sehr häufig eine solche Jugendgruppe in ihrem Heimatort, in dessen Dunstkreis sie also meist bleiben. Auch kraft landeskirchlicher Zugehörigkeit, „lutherische“ Studierende definieren sich nur ganz selten über konfessionelle Parameter wie die Bekenntnisse, sie tun das vielmehr über ihre narrativ-erbauliche Bibel- und Jesusfrömmigkeit und über ihre (weniger traditionelle als reformerische) gottesdienstliche Aktivi-
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tät. Das bedeutet in aller Regel große ökumenische Offenheit und religiöse Toleranz auch gegenüber nichtchristlichen Religionen, sofern sie überhaupt „Spiritualität“ verkörpern und affektiv überzeugend ausstrahlen. Auf der anderen Seite geraten Identitätsmarker wie der gemeinchristliche trinitarische Gottesglaube oder die reformatorische Verbindung von Frömmigkeit und verstehender Bildung in den Geruch, etwas Übertriebenes, Verkopftes oder Ausdruck von rechthaberischem Überlegenheitsdünkel zu sein; die normative Orientierung tendiert dagegen aber doch nicht selten biblizistisch.
3.
Die Theologie
Es ist selbstredend völlig ausgeschlossen, dass ich Ihnen ein Gesamtbild auch nur der deutschsprachigen Theologie vor Augen führe, auch wenn die seit etwa zweihundert Jahren vergleichsweise stabile Organisation der Forschung und Lehre in sich selbst verwaltenden Fakultäten den Anschein eines wohlbestimmten und übersichtlichen Rahmens theologischer Arbeit erweckt. Die disziplinäre Struktur der Theologie ist insofern nach wie vor wesentlich, als sich die davon abgeleiteten Prüfungs-, Promotions- und Habilitationsordnungen, aber auch die Praxis der Berufungen von Dozenten daran orientieren. Das wird für den wissenschaftlichen Nachwuchs dann ein Problem, wenn sich die Forschung von solchen „Schubladen“ weg entwickelt hat – dies ist der Fall und ist eigentlich auch gewollt, denn ein wichtiges und erwiesenermaßen sinnvolles Ziel der neueren Wissenschaftsförderung ist das methodisch und thematisch interdisziplinäre Arbeiten. Auch in der Theologie ist die wissenschaftliche Entwicklung einerseits geprägt durch Differenzierung der traditionellen Perspektiven (z.B. Judentum und Hellenismus im Neuen Testament, Dogmatik und Ethik in der Systematischen Theologie, Gemeindepädagogik in der Praktischen Theologie). Andererseits organisiert sich die theologische Forschung jetzt fast durchweg in kooperativen und interdisziplinären (auch nichttheologische Fächer wie z.B. die Germanistik, Musik- oder Kunstgeschichte einbeziehenden) Projektgruppen. Auch werden solche Gruppen nicht nur von etablierten Professoren getragen, sondern zugleich auch von Nachwuchswissenschaftlern und fortgeschrittenen Studierenden, z.B. in (leider modisch so genannten) „EliteStudiengängen“, in Graduiertenschulen (seit kurzem auch in Deutschland verpflichtend) oder den aus Drittmitteln finanzierten, äußerst effektiven Graduiertenkollegs. Die wirklich produktive theologische Forschung findet nur zum kleinen Teil am einzelnen Schreibtisch statt, sondern in Gestalt von Kooperation und Diskussion – und sie muss eigens, durch jeweils bei den forschungsfördern-
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den Institutionen einzuwerbende „Drittmittel“ finanziert werden, was freilich sehr viel Energie erfordert. Die traditionelle disziplinäre Struktur der evangelischen Theologie ist auch für diese selbst defizitär geworden. Denn die Enzyklopädie, wie sie sich seit der altprotestantischen Orthodoxie und dann im Neuprotestantismus herausgebildet hat, beansprucht kategoriale Voraussetzungen, die problematisch geworden sind. Das gilt vor allem für die Begriffe des theologischen „Systems“, des „Wesens“ von Theologie und des „organischen“ oder „funktionalen“ Zusammenhangs ihrer Elemente z.B. für den Zweck der „Kirchenleitung“, wie das D. E. F. Schleiermacher formuliert hat. Dies zu begründen war eine wichtige Aufgabe der Systematischen Theologie, die sich dabei philosophischer Kategorien bediente. Seit einiger Zeit ordnet sich aber keine theologische Disziplin dem theologischen „System“ oder, wie es heute heißt, der „Fundamentaltheologie“ der Systematischen Theologie ein und unter. Die wenigen aktuellen Versuche einer theologischen Enzyklopädie (auch im englischsprachigen und im römischkatholischen Bereich sind es sehr wenige) sind theoretisch respektable Konstrukte mit vielen Postulaten und doch wenig Pragmatik und können die Einheit der real betriebenen Theologie nicht zureichend begründen. Das ist ungewohnt und verunsichert, ist aber kein ganz großes Unglück – christliche Theologie wurde viele Jahrhunderte lang und wird auch heute in nichtwestlichen Kirchen in anderen Horizonten als einem wissenschaftstheoretischen getrieben. Wichtig ist es aber, unsere westliche Situation wahrzunehmen, um nicht weiter an religiöser und kultureller Nutzbarkeit zu verlieren. Ein wesentlicher Aspekt des beschriebenen Defizits ist der Verlust eines in der Neuzeit überaus starken theoretischen Paradigmas, der Hermeneutik. Natürlich gibt es nach wie vor keine christliche Theologie ohne irgendeine Form der Hermeneutik im Sinne des methodisch ausgewiesenen Verstehens überlieferter, sprachlich und kulturell fremder Texte; dies so gut ausgebildet zu haben, ist ein Ruhmesblatt evangelischer Theologie und gehört weiterhin zu ihren spezifischen Existenzbedingungen. Für ihre Zukunft sehr wichtig ist es aber, produktiv damit umzugehen, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Hauptrichtung der schulischen und geisteswissenschaftlichen Bildung vom historisch-hermeneutischen Typus, mit dem die evangelische Theologie besonders eng liiert war und ist, wegbewegt hat hin zum analytisch-kombinatorischen Typ des Erwerbs von Wissen und Können. Neugiermotiviertes Lesen und verstehende Aneignung treten deutlich zurück hinter schlagwortgeleitetem Finden und verwertbarem Kompilieren. Das Internet, das alles überhaupt Wissbare zum Herunterladen bereitzuhalten scheint, hat diese Verschiebung massiv verstärkt. Nicht zufällig sind die Präsenzbibliotheken, auch wenn sie (wie meist) sehr gut sind, überaus schwach besetzt.
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Das in allen Geisteswissenschaften lange Zeit leitende hermeneutische Paradigma im Sinne eines Grundmusters nicht nur des Verstehens von Texten, sondern von ganzen Kulturen und zwischen Kulturen ist wegen seiner „essentialistischen“ (theoretisch idealistischen, praktisch imperialen) Voraussetzungen seit einer Generation in Misskredit gekommen; dafür ist „Post-moderne“ übrigens ein viel zu allgemeiner und auch irreführender Begriff. Die evangelische Theologie täte sich einen ganz schlechten Dienst, wenn sie versuchen würde, ihrerseits wieder eine metaphysische Basis ihrer Wissenschaftlichkeit bereitzustellen (das römische Lehramt allerdings versucht genau dies, doch mit fatalen theologischen Folgen). Trotzdem ist es problematisch, dass die Philosophie, früher wesentlich für die Artikulation des theologischen Selbstverständnisses, für die meisten Theologen kein Gesprächspartner mehr ist; das „Philosophicum“ ist zwar noch eine Prüfung, die Theologiestudierende vor dem Examen ablegen müssen, aber es wird auch von den Fakultäten ziemlich desinteressiert behandelt. An die Stelle der klassisch-modernen, idealistischen Hermeneutik sind andere Muster und Zugänge zu den Themen der Theologie und überhaupt zur Kulturhermeneutik getreten: sozialwissenschaftliche, psychologische, semiotische, phänomenologische, auch diskursanalytische. Ihren Wert für die Theologie kann ich hier nicht diskutieren; wichtig ist aber die Einsicht, dass ein Theologe, wenn er sich nicht wieder in bloß postularischer Theorie verschanzen will, nicht nur mit einem einzigen, alles einheitlich erfassenden Paradigma arbeiten kann, sondern mit mehreren Modellen und Mustern theologischen Wissenserwerbs arbeiten muss – alles andere wäre schlechte Simplifizierung zum Schaden der Theologie. Diese Pluralität der Perspektiven ist für eine lutherische Theologie auch theologisch zu bevorzugen – gegenüber systematischem Monismus, in dem jede mögliche religiöse Erfahrung und Frage immer schon beantwortet ist (das genau zu begründen, wäre ein eigenes Thema). Dies schließt nicht aus, sondern umso mehr ein, dass sich die Theologinnen und Theologen neu darüber verständigen müssen, auf welcher Ebene ihres Denkens und Kommunizierens sie in allen ihren spannungsvollen Verschiedenheiten doch eine „Theologie“ betreiben. Tun sie das nicht (oder beruhigen sie sich bei der viel zu vagen Behauptung, sie betrieben ,,kirchliche“ Theologie), dann wird der aktuelle Missstand nicht behoben, dass die Disziplinen sich nur sehr schlecht gegenseitig zur Kenntnis nehmen und sich nicht gegenseitig ernstgenommen fühlen. Die aktuelle Folge davon scheint mir, dass drei Theologien nebeneinanderher leben: die Exegetische und Historische Theologie, die in sich eine Systematische und eine Praktische Theologie entwickelt; die Systematische Theologie, die eine eigene Geschichtsschreibung pflegt und einen eigenen Praxisbezug behauptet; die Praktische Theologie, die davon gar nichts hält und ihrerseits eine eigene Sicht der Geschichte und insbesondere eine eigene Dogmatik und Ethik
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entwickelt. Diese defizitäre Lage wird dadurch noch verschärft, dass es außerhalb der Fakultäten Theologien durchaus anderen methodischen und dogmatischen Zuschnitts gibt, so zum Beispiel in den sozialethisch fokussierten evangelischen Fachhochschulen, aber auch in so genannten ,,Freien theologischen Hochschulen“ (Basel, Friedenau, Krelingen).
4.
Theologischer Unterricht
Die traditionelle disziplinäre Struktur der Theologie wird in allerjüngster Zeit freilich erneut beansprucht, nämlich durch massive Veränderungen in der akademischen Didaktik. Massiv sage ich, weil ich selbst das Theologiestudium völlig unreguliert absolviert habe, auch ohne Studienberatung – man musste nur das Abschlussexamen bestehen. In den achtziger Jahren wurde die Studienberatung und ein Einführungsseminar zu Beginn des Studiums, dann ein Studiengespräch in der Mitte des Studiums verpflichtend gemacht; letzteres wurde bald eine reguläre Zwischenprüfung. Das enzyklopädisch angelegte Einführungsseminar sollte die Verbindung des Studiums mit der persönlichen Motivation und mit der Praxis in Kirche und Schule knüpfen. Das gelang nur sehr begrenzt, weil der angestrebte Überblick über die theologische Arbeit unter den eben beschriebenen Bedingungen gar nicht möglich war, vielmehr die vielen und disparaten Themen bloß addiert und die Studierenden auf diese Weise überfordert wurden. Die aktuelle Situation ist das Ergebnis des so genannten Bologna-Prozesses, in dem eine politische top-down-Strategie das deutsche, wenigstens in den Geisteswissenschaften im Sinne Humboldts nur an den Rändern regulierte Studiensystem auf Bachelor- und Master-Studiengänge umstellte und das Abschlussexamen durch durchgehend studienbegleitende Prüfungen ersetzt hat. Sinn und Unsinn dieses Unternehmens kann ich hier nicht diskutieren, brauche es auch nicht, insofern sich alle drei früher so genannten „Oberen Fakultäten“ (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) geweigert haben, ihr bisheriges Studium auf einen angeblich berufsqualifizierenden Bachelor-Studiengang zu reduzieren. Auch die Kirchen widerstanden der Versuchung, einen Bachelor für eine Art clerus minor einzurichten (ich sage Versuchung, weil die Zahl der akademisch voll ausgebildeten Pfarrerinnen und Pfarrer in Zukunft kleiner werden muss, weil diese nicht bezahlt werden können). Dennoch hat „Bologna“ auch für die Theologen zwei weitreichende Folgen. Die eine ist die durchgehende Modularisierung mit studienbegleitenden Prüfungen (es gibt aber noch eine Abschlussprüfung), die eine bloß kombinatorische Anhäufung von Wissen begünstigt und zugleich einen viel höheren Grad an Kanonisierung des theologischen Wissens etabliert. Das hat auch Vorzüge: Man
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kann die Studierenden auf diese Weise zwingen, z. B. auch einmal einen Augustin-Text zu lesen (was sie sonst möglichst vermeiden). Dem stehen aber viele Nachteile gegenüber. Man bekommt beispielsweise eine Übung über die lutherischen Bekenntnisschriften nur schwer in ein Modul hinein – und ohne dieses besucht sie niemand, weil den Gesetzen „Bolognas“ entsprechend alle Studierenden fast nur das tun, was optimale Prüfungen verspricht. Für durchschnittliche Studierende verschiebt sich das Ziel der breiten theologischen Bildung und eines (fast) zweckfreien religionskulturellen Gedächtnisses auf die Ausbildung von bestimmten, von späteren Arbeitgebern gewünschten Kompetenzen. Die neue Didaktik und ihre Medien, die auch große Vorzüge haben können, sind auf diesbezügliche Effizienz eingestellt (z.B. wenn eine Powerpoint-Präsentation das Mit- und Nachdenken fast ausschließt). Die andere Folge „Bolognas“ geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Für die sehr interessierten und sehr gescheiten Studierenden sind jetzt MasterStudiengänge oder, schon erwähnt, „Elite-Studiengänge“ eingerichtet, in denen komplexe Probleme auf sehr hohem wissenschaftlichen Niveau und unter Beteiligung der beteiligten Disziplinen und unter äußerst aktiver Mitarbeit der Studierenden bearbeitet werden. Bis hin zur optimalen Betreuungsrelation von z.B. 1: 7 und zur tatsächlich intensiven Betreuung ist dieser Aufbau von Orientierungsund Urteilsfähigkeit genau das, was Humboldt vorschwebte. Themen solcher echten „Seminare“, in denen Lösungen nicht schon vorgegeben, sondern aufgrund präzisierter Fragestellungen erarbeitet werden, sind z.B. „Schuld und Sühne“ oder „Ethik der Textkulturen“; leider kann ich das jetzt nicht näher beschreiben. Nicht vergessen darf ich jedoch, dass die evangelischen Kirchen der Bundesrepublik ein Begabtenförderungswerk finanzieren (stark unterstützt vom Staat), das evangelische Studierende in ihrem wissenschaftlichen und sozialen Vermögen fördert, nicht nur finanziell, sondern auch durch interdisziplinäre Fortbildung: das Evangelische Studienwerk Villigst. Dieses Werk unterstützt natürlich nicht nur Theologen, sondern Studierende aller Disziplinen, Studierende, die für Bildung im evangelischen Sinne stehen, einschließlich politischer und sozialer Verantwortlichkeit. Als einziges der deutschen Förderungswerke hat es überdies ein Programm für osteuropäische Studierende aufgelegt und trägt besonders zur interkulturellen und interreligiösen Kenntnis und Verständigung bei.
5.
Kirchenleitungen und akademische Theologie
Man kann wohl sagen, dass die deutschen Landeskirchen auf alle diese Entwicklungen auf der Ebene der theologiepolitischen Grundsätze sehr verlässlich rea-
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gieren. Der reformatorischen Verknüpfung von Bildung und Frömmigkeit (eruditio et pietas) entsprechend, haben sie viele Versuche verhindert, die akademische Theologie, statt sie als die Reflexionsform des christlichen Glaubens zu pflegen, zur unkritischen Glaubens- oder Kirchen-lehre zu depotenzieren und aus der Universität auszugliedern; auch von den Kirchlichen Hochschulen wird nicht erwartet, eine „kirchennähere“ Theologie zu verkörpern, sondern auf der Höhe der Zeit und auf Augenhöhe mit den Gebildeten kritisch und selbstkritisch wissenschaftliche Theologie zu treiben. So haben in Ländern, in denen Staat und Kirche wohlwollend kooperieren, die Einspar-Diktate und die Mahnungen der Rechnungshöfe (wegen „mangelnder Auslastung“) die theologischen Fakultäten verhältnismäßig milde getroffen. Aus meinem Erfahrungsbereich kann ich das auch im Blick auf die Zustimmung der Kirchenleitung zur administrativen Eingliederung der Theologischen Fakultäten in eine (alle Kulturwissenschaften umfassende) „Philosophische Fakultät“ bestätigen: Der theologische Charakter des Departments Theologie in Erlangen ist staatskirchenvertraglich bekräftigt und in seinem personellen Bestand sogar besser gesichert worden, als das bisher der Fall war. Zugleich legt diese Kirchenleitung – auch unabhängig von diesem Vorgang – die Bekenntnisbindung der Professoren weniger eng aus; zwar sind die meisten unter ihnen ordinierte evangelisch-lutherische Pfarrer, aber es gibt auch Armenier und Baptisten. Die Probleme liegen woanders, nämlich darin, dass die Kirchenleitung die Fakultäten zwar als Ausbildungsinstitutionen beansprucht und pflegt, weniger oder gar nicht jedoch als Institutionen theologischer Orientierung für die Kirche und für die Kirchenleitung. Das tritt etwa darin zutage, dass die Fakultäten mancherorts nicht um Gutachten zu theologischen Entscheidungen gefragt werden, mit der Begründung, dass sie unterschiedlich votieren oder die kirchenpolitischen Ziele der Kirchenleitung möglicherweise gerade nicht unterstützen könnten. Ziemlich krass wurde die Diskrepanz zwischen den (in diesem Fall ökumenischen) Zielsetzungen von Bischöfen und den Begründungsansprüchen der akademischen Theologie bei der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ von 1999. Aber auch abgesehen davon haben sich in den Landeskirchenämtern seit einiger Zeit quasi theologische Agenturen gebildet, die man, etwas unfreundlich, als „Stabstheologie“ der Kirchenleitungen und der von ihnen besetzten Gremien bezeichnen kann, die jedenfalls kaum mit theologischen Fakultäten rückgekoppelt sind. Manche kirchenleitenden Gremien scheinen die theologischen Fakultäten als praxisferne, rechthaberische Störenfriede auf Distanz halten zu wollen. Und es gibt ja auch Professoren, die nur ein sehr kühles Verhältnis zur Landeskirche ihrer Fakultät haben. Etwas anders liegen die Dinge im Verhältnis zwischen den Kirchenleitungen und den Theologiestudierenden. Seitdem eine kirchliche Karriere bzw. die Vor-
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bereitung darauf in der Regel nicht mehr als intellektuell attraktiv gilt und nachdem die Gewissheit einer Aufnahme in den Kirchendienst durch die (aktuellen, aber auch langfristig demographisch bedingten) finanziellen Entwicklungen großen Zweifeln ausgesetzt wird, sehen sich die Kirchenleitungen sogar auf EKD-Ebene genötigt, aktiv für den Pfarrberuf zu werben; dabei wird der kulturwissenschaftliche Charakter des dazu befähigenden Theologiestudiums eher abgeblendet. Es gibt dann eine Tendenz der engeren Bindung der Pfarramtsstudierenden an die jeweilige Landeskirche. Während diese Beziehung früher eher formal war und sich auf die Pflicht zu Gemeinde- und Industriepraktika beschränkte, greift jetzt die Personalführung schon ins Studium ein. Außer der Beratungstätigkeit der Fakultäten, die ja auch existenzielle Probleme ernst nimmt, und der Teilnahme an den Hochschulgemeinden bietet etwa die ELKB (Evang.Luth. Kirche in Bayern) eine gut ausgestattete spirituelle „Begleitung Theologiestudierender“ an Besonders heikel ist der Vorbehalt der Kirchenleitungen, die Kandidatinnen und Kandidaten trotz Bestehens des Theologischen Examens (das rechtlich ja von ihnen, nicht etwa von den Fakultäten verantwortet wird!) noch einem zusätzlichen Assessment zu unterwerfen (dessen Parameter nicht theologisch evaluiert werden). Man darf gespannt sein, welche Relativierung des Studiums, nach derjenigen durch manche Predigerseminare, der Ausbau dieses kirchenleitenden Instrumentes mit sich bringen wird. Es wäre nun unfair, wenn ich mich gegenüber den Theologischen Fakultäten weniger kritisch äußerte als gegenüber Kirchenleitungen, denn auch im Blick auf die Studierenden sind erhebliche Defizite auch der akademischen Theologie zu konstatieren. Ich möchte drei hier gestellte Aufgaben abschließend benennen. Sie laufen alle auch darauf hinaus, dass sich die Theologischen Fakultäten aktiv in die Debatten um die anstehenden, vielleicht sehr tief gehenden Kirchenreformen und die diffusen Diskussionen über das zukünftige Pfarrerbild einbringen sollten. Eine erste Aufgabe betrifft die Veränderungen der persönlichen Frömmigkeit: Nach meiner Beobachtung ist die Spiritualität der Theologiestudierenden meist kaum weniger subjektivistisch und synkretistisch als die ihrer Altersgenossen – das relative Recht dieser Individualisierung nicht theologisch zu artikulieren und zur Geltung zu bringen, führt zu einer bloß äußerlichen Akzeptanz der institutionellen Objektivität (z.B. des trinitarischen Dogmas, der Confessio Augustana, der Liturgie usw.) und kann in Konfrontation mit der realen Spiritualität in der Gemeinde (und erst recht in der Gesellschaft) umkippen in neuerlichen Modernismus, der dann die „toten“ oder „destruktiven“ Dogmen abschaffen will oder außer Gebrauch setzt. Eine zweite Aufgabe betrifft die religiösen Veränderungen in den Gemeinden der künftigen Pfarrer und Pfarrerinnen: Die religiöse Pluralisierung in libe-
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ralen und säkularen Gesellschaften wirkt sich auch innerhalb der Kirchen aus, von der akzeptierten Vielfalt der Frömmigkeitsstile über die faktische ÖkumenePraxis an der Basis bis hin zur Akzeptanz esoterischer und fremdreligiöser Elemente auch in der stark kirchenverbundenen Frömmigkeit – wenn die theologische Ausbildung nicht dazu instandsetzt, religiöse Innovationen und traditionale Normativität produktiv in Beziehung zu setzen, wird die Leitungsfähigkeit des ordinierten Amtes sehr schnell absinken. Eine dritte Aufgabe betrifft die religionskulturelle Situation der künftigen Pfarrer und Pfarrerinnen: Weil die Symmetrie von Religion und Gesellschaft in Europa wohl endgültig Vergangenheit ist (sofern wir nicht muslimisch werden), kommt viel darauf an, den christlichen Glauben als ein spezifisches kulturelles Phänomen, vergleichbar anderen Religionen (und daher friedlich mit ihnen koexistierend), sowohl verständlich zu machen als auch in seiner autonomen Logik zu unterscheiden. Dafür genügt es nicht (mehr), in der einen Hand die Bibel und in der anderen die Zeitung zu halten – diese vielsprachige Zeitung muss man auch lesen können. Die seit einiger Zeit eingeführte Verpflichtung auf religionswissenschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit hin muss daher ergänzt werden um die breite kulturhermeneutische Orientierungsfähigkeit.
Zwischen Religionskritik und Fundamentalismus – Versuch einer Ortsbestimmung der Theologie Michael Murrmann–Kahl Einleitend sei mit ein paar Schlaglichtern zur aktuellen Situation begonnen. Gerhard Simpfendörfer stellte vor einigen Jahren im „Deutschen Pfarrerblatt“ die interessante Diagnose, dass die neuprotestantische Theologie seit der Aufklärung die Wahl zwischen Skylla und Charybdis habe, nämlich zwischen liberaler Verflüchtigung der Bibel und protestantischem Fundamentalismus. Die evangelische Kirche heute, so der Befund, dämmere dahin „in einem undefinierbaren Halbdunkel – von keiner Kirchenleitung gelichtet – zwischen populistischem Fundamentalismus und undefinierter Liberalität“.1 Abgesehen davon, dass die verwendeten Termini „Fundamentalismus“ und „Liberalismus“ höchst klärungsbedürftig sind, dürfte sich das uneindeutige Changieren von Kirchen und Theologien der komplexen und diffusen Umwelt des Religionssystems in der Moderne verdanken, so dass sich ein eindeutiges kirchenleitendes Handeln oder gar eine profilierte Theologie keineswegs von selbst versteht. Die prekäre Gesamtsituation der Geisteswissenschaften einschließlich der Theologie wurde unlängst (Anfang Mai 2010) in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von Alexander Graue sehr schön beschrieben, der über eine Jubiläumsveranstaltung zu Friedrich D. E. Schleiermachers Universitätskonzept an der Berliner Humboldt–Universität berichtete. „Kann der gemeine Philosoph, Philologe oder Kunsthistoriker mit etwas Glück noch auf Respekt durch die Gebildeten unter seinen Verächtern zählen, so hat es der Kollege von der theologischen Fakultät (…) bedeutend schwerer. Stehen die anderen Geisteswissenschaften unter dem Verdacht der Nutzlosigkeit, so wird der Theologie ihre Stellung als Wissenschaft streitig gemacht.“
Gerade dasjenige, was an der Theologie als „wissenschaftlich“ gelten kann, verdankt sich meist anderen Fächern: Auch wenn zugegeben wird, dass die Theologie historische und hermeneutische, also doch wissenschaftliche, Erkenntnisse hervorgebracht hat, bleibt die Frage im Raum, „ob sich das, was an der Theologie wissenschaftlich ist, nicht sehr gut auf andere Fächer verteilen lässt“. Sind schließlich „die darüber hinausgehenden Inhalte der Theologie nicht besser in
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Gerhard Simpfendörfer, Islamismus und Protestantismus, in: Deutsches Pfarrerblatt 107 (2007), 269–272, hier 269.
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einer bekenntnisneutralen Religionswissenschaft aufgehoben“?2 In diesem Kontext erinnert Graue denn auch an die berühmte Theologiebestimmung Schleiermachers: „Die Theologie sei eine positive Wissenschaft, sofern sie eine praktische Notwendigkeit hat, den der Kirchenleitung. Ohne diesen praktischen Bezugspunkt, den jede positive Wissenschaft auszeichne, zerfalle sie in Philologie, Ethik und Geschichte.“3
So sehr solche Situationsbeschreibungen einleuchten mögen, bieten sie dennoch gewissermaßen nur die halbe Wahrnehmung. Denn unter neuzeitlichen Bedingungen sehen sich nicht nur die Theologie ihrer Wissenschaftlichkeit bestritten und die Geisteswissenschaften zunehmend in die Defensive gedrängt, sondern die Religion(en) selbst einer grundsätzlichen Kritik ausgesetzt. Dabei ist es nicht um die vielfältigen innerreligiösen Kritik– und Erneuerungsbewegungen zu tun, sondern um die vom verstorbenen Wiener Systematiker Falk Wagner (1939 – 1998) so bezeichnete „radikal–genetische“ Religionskritik. „Radikal“ ist sie, weil sie nach der Wurzel der Religion fragt, „genetisch“, insofern sie die Herleitung von Religion unternimmt. Der entscheidende Punkt liegt bei dieser Spielart der modernen Religionskritik in dem Versuch, die Religion(en) aus religionsexternen Faktoren zu generieren: „Im Zuge der religionskritischen Erklärung und Begründung von Religion soll die Religion selbst aufgelöst werden.“4 Damit wird Religion als ein dem Menschen wesenswidriges Selbstmissverständnis entlarvt, als Ideologie (falsches Bewusstsein) und Ausdruck von Entfremdung, und
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Alexander Graue, Unabhängig und nur der Wissenschaft verpflichtet, in: FAZ Nr. 109, 12. 05. 2010, Beilage „Forschung und Lehre“, N 6. Vgl. schon die kritische Bilanz von Friedrich W. Graf, Im Meinungsstreit mitbestimmen, in: Nachrichten der Evang.–Luth. Kirche in Bayern 47 (1992), 281–283. Falk Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 11–16, 28–46, 47–67. Ibid.; vgl. dazu, Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811), Einleitung 1., 3., 5., in: ders., KGA. Erste Abteilung Bd. 6, Berlin New York 1998, 243–315, hier 249. Vgl. auch die zweite Auflage §§ 1, 3 und 5, a. a. O., 325– 328. Unter externem Druck sind diese Anfragen inzwischen für die Theologie als Wissenschaft aktuell geworden: vgl. Christian Grethlein, „Theologien und Religionswissenschaften an deutschen Hochschulen“ – Anfragen des Wissenschaftsrats an den Evangelisch–theologischen Fakultätentag, in: ZThK 105 (2008), 352–386. Siehe auch schon: hg. v. Ingolf U. Dalferth, Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen, Leipzig 2006. Falk Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 90.
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zu einem epigenetischen Phänomen herabgestuft. Mit anderen Worten: Religion gilt als eine Verirrung des (menschlichen) Geistes.5 Die binnenreligiöse Streitfront zwischen Fundamentalismus und Liberalismus findet sich also zusätzlich mit der religionsexternen Bestreitung des Sinns von Religion überhaupt konfrontiert. Insofern nun Theologie in wie auch immer näher bestimmter Form Differenzierungs– und Reflexionsleistungen zu erbringen hat, die sich zwar auf Religion beziehen, aber nicht unmittelbar mit ihr identifiziert werden können, muss sie sich in diesem Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Destruktion der Religion(en) positionieren. In dem Maße, in dem es ihr dabei gelingt, gedankliche Komplexität aufzubauen, vermag sie auch Simplifikationen abzubauen. Dies soll im Folgenden in drei Schritten geschehen. Zunächst soll dem Phänomen des Fundamentalismus nachgegangen werden.(1.) Daran schließt sich als strikte Gegenposition die moderne Religionskritik an.(2.) Zuletzt soll versucht werden, die gemeinsame Wurzel für diesen ersichtlich nicht zufälligen Gegensatz zu thematisieren und in einen Bezug zu setzen zu Grundfragen der theologischen Enzyklopädie.(3.)
1.
Die Suche nach einem Fundament im Glauben
In der Gegenwart ist man rasch bereit, mit dem Fundamentalismusvorwurf zu hantieren. Man denkt primär an Muslime und den sogenannten „Islamismus“. Angesichts dieser Tatsache ist es angebracht, an die Herkunft dieses Terminus zu erinnern, zumal er eine spezifisch protestantische Genese hat. Vor hundert Jahren erschienen von 1910 bis 1915 die zwölf Bände „The Fundamentals. A Testimony to Truth“ in Chicago. Die darin enthaltenen 90 Artikel entfalten ein spezifisches Theorie–Ensemble US–amerikanischer Theologen, die sich 1919 zur „World’s Christian Fundamentals Association“ zusammenschlossen. Dabei werden drei typische Dimensionen miteinander verbunden: einmal evangelikale Glaubensvorstellungen aus der amerikanischen Erweckungsbewegung, sodann konservative politische Überzeugungen im Sinne eines US–amerikanischen Patriotismus („America back to God“) und schließlich der erklärte Wille zur politisch–institutionellen Durchsetzung dieser Vorstellungen. Speziell auf der Ebene des Glaubens werden fünf „fundamentals“ festgeschrieben, die jeglicher Kritik entnommen sein sollen: die Irrtumslosigkeit der Schrift (Verbalinspiration), Jungfrauengeburt, die Gottheit Jesu Christi, soteriologisch das stellvertretende 5
Das Gegenteil darzutun war für Schleiermacher bekanntlich die Aufgabe der Theologie: siehe ders., Kurze Darstellung des theologischen Studiums (2. Auflage 1830) § 22, KGA Erste Abteilung Bd. 6, hg. v. Dirk Schmid, Berlin New York 1998, 320–446, hier 334.
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Sühnopfer Jesu Christi und schließlich eschatologisch seine leibliche Auferstehung und Wiederkunft. Der alles tragende Ausgangs– und Angelpunkt ist natürlich die unterstellte Irrtumslosigkeit der Schrift, worin sich der Angriffspunkt deutlich verrät: man votiert gegen das, was man als „liberal“ empfindet und verwirft, nämlich die historisch–kritische Erforschung der Bibel, außerdem die Offenheit gegenüber den Naturwissenschaften und Sozialreformen, Stadtgesellschaft und die Säkularisierung (Trennung von Staat und Kirche). Auch wenn sich in Europa diese exakte Festlegung auf aufzählbare „fundamentals“ so nicht durchgesetzt hat, werden analoge Anschauungen hier durchaus vertreten. Wenn man die Stärke oder Intention dieses „Fundamentalismus“ beschreiben soll, kann man die Elemente nennen, die sich gewiss auf protestantische Traditionen zurückbeziehen lassen: die Konzentration auf die heilige Schrift und ihr Zentrum (Gott, Jesus Christus), die Verantwortung für den „Gottesdienst im Alltag der Welt“, ein eindeutiger christlicher Lebensstil, also ein Modell verbindlicher Lebensführung des einzelnen, und in der Politik daher die Tendenz zu theokratischen Gesellschaftsmodellen. Die Schwäche dieser Vorgehensweise liegt in der nur abstrakten Negation der historischen Kritik, in der letztlich willkürlichen inhaltlichen Auswahl der genannten „fundamentals“, die künstlich gegen Zweifel und Kritik immunisiert werden müssen, und dem Unvermögen, mit dem pluralistischen Charakter moderner Gesellschaften auszukommen.6 Seine eigentümliche Karriere hat der Fundamentalismusbegriff aber erst in den letzten dreißig Jahren angetreten, in dem er zur umfassenden Deutekategorie mutierte. Insbesondere in der Politologie und Soziologie (Gilles Kepel, 1991) wird er dazu verwendet, um innerhalb der modernen Gesellschaften der Intention nach strikt antimodernistische Bewegungen zu beschreiben, was übrigens die Verwendung moderner Techniken durch solche Bewegungen nicht ausschließt.7 Dadurch wird der Begriff in zweierlei Hinsicht generalisiert: Zum einen werden unterschiedliche Frömmigkeitsbewegungen innerhalb vieler Religionen als „fundamentalistisch“ eingestuft, so dass der Terminus von seiner spezifisch protestantischen Herkunftsgeschichte abgelöst erscheint. Man kann innerhalb des 6
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Vgl. Thomas Meyer, Artikel „Fundamentalismus“, in: Wörterbuch der Religionssoziologie, hg. v. Siegfried R. Dunde, Gütersloh 1994, 92–98. Stephan H. Pfürtner, Fundamentalismus. Die Flucht ins Radikale, Freiburg et al. 1991, hier 47 ff. Volker Drehsen, Der Traum vom „Überchristentum“. Protestantischer Fundamentalismus als kritische Reaktion auf den religiösen Diskurs der Moderne, in: ders., Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994, 286–312. Dazu Gilles Kepel, Die Rache Gottes, (dt.) München 1991. „Die“ Moderne ist freilich nicht einlinig, sondern entfaltet äußerst ambivalente Wirkungen, auf die die Fundamentalismen reagieren: so ganz richtig Stephan Pfürtner, a. a. O., 93 ff.
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Christentums fundamentalistische Protestanten und Katholiken finden, aber eben auch in anderen Religionen fundamentalistische Muslime oder Juden. Der französische Soziologe Gilles Kepel hat so die fundamentalistischen Strömungen in den Religionen seit 1975 darzustellen versucht, verbunden mit der These, dass sie alle „die Gesellschaftsordnung durch eine längst überfällige Umgestaltung wieder auf eine sakrale Grundlage stellen“8wollen. Entscheidend ist dabei die Voraussetzung, dass die wie immer näher bestimmte theokratische Gesellschaftsordnung nur mittels eines grundsätzlichen Bruches mit der gegenwärtigen modernen Gesellschaft (Demokratie, Pluralismus, funktionale Differenzierung) hergestellt werden könne: „Anstelle einer sich ihrer Lebensmacht und Grenzen bewussten Alltagsbewährung des Glaubens tritt der (…) Traum“ einer „unangefochten herrschenden, alle Bereiche des gesellschaftskulturellen Lebens umfassenden, die Welt– und Lebensanschauungen eindeutig programmierenden und das Identitätsverständnis des Menschen verbindlich stützenden“ Religion.9
Daraus resultiert die spezifische Gewaltbereitschaft der Vertreter solcher Positionen. Zum anderen wird aber auch eine allgemeine Denkhaltung als fundamentalistisch charakterisiert, die sich im Umfeld der „New Age“ – Bewegung gebildet hat, aber auch innerhalb der Ökologiebewegung (, für die man die letzteren Debatten um die Klimaveränderung heranziehen könnte). Hier steht „Fundamentalismus“ in erster Linie für die antiaufklärerischen und antimodernistische Affekte, aber auch für politische Optionen der Experten, die demokratischen Mehrheitsentscheidungen entzogen werden sollen. Man kann zwar einwenden, dass man sinnvoller Weise von „Fundamentalismus“ nur dort sprechen kann, wo ein eindeutiges Fundament nachweisbar ist, das zumindest ein funktionales Äquivalent für die fünf „fundamentals“ darstellt. Dann wäre eine Anwendung nur auf solche Religionen sinnvoll, die sich auf einen schriftlichen Kodex beziehen (wie etwa Thora, Bibel oder Koran). Diese Präzisierung hat aber nicht verhindern können, dass der Fundamentalismusbegriff in einem sehr weiten und oft auch vagen Umfang selbst für im engeren Sinne nichtreligiöse, politische und soziale, Phänomene verwendet wird. Fundamentalismus als „moderner Antimodernismus“ ist auch in der protestantischen Theologie selbst in abgeschwächter und unterschwelliger Form durchaus verbreitet. Friedrich Wilhelm Graf hat im Zusammenhang mit dem „antihistoristischen Gegenschlag“ in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Folgen der von Karl Barth und seinen Mitstreitern vollzogenen 8 9
Gilles Kepel, a. a. O. 1991, 13–28, hier 14, vgl. 18 und die Zusammenfassung, 271 ff. Volker Drehsen, Der Traum vom „Überchristentum“, a. a. O., 308.
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„Redogmatisierung“ der Theologie hingewiesen. Er benennt drei lang anhaltende und weiterwirkende Folgen zumindest für die deutschsprachige Theologie: Erstens sei in den Köpfen vieler Theologen und Kirchenleitungen der Eindruck hängen geblieben, „dass sich die Probleme, mit denen sie in Kirche und Gesellschaft konfrontiert sind, mit Hilfe der Dogmatik lösen lassen“. Komplexe Orientierungsprobleme der Gesellschaft sollen dann möglichst eindeutig „aus der Schrift“ und „vom Bekenntnis her“ beantwortet werden. Die daraus resultierenden Äußerungen sind daher „häufig durch ein heilloses Durcheinander von dogmatischer Semantik, pauschalisierender Situationsbeschreibung und frommer Appellsprache geprägt“.10 Die Hauptdifferenz zum typischen Fundamentalismus liegt allerdings in der Regel in der Anerkennung der modernen, pluralistisch verfassten Gesellschaft11, so dass der „fromme Appell“ die Stelle theokratischer Optionen einnimmt. Zweitens habe diese Redogmatisierung zum Abbruch des interdisziplinären Gesprächs geführt und schließlich drittens kirchenleitendes Handeln erschwert. Denn für jede soziale Organisation gelte: „Erfolgreiches Handeln bedarf präziser, empirisch gesättigter Analysen der Bedingungen und möglichen Folgen des Handelns.“ Auch wenn man solche scharfe und pointierte Problemanalyse nicht umstandslos teilen mag, lässt sich doch die folgende Beobachtung oft verifizieren: Pfarrer und Pfarrerinnen verbinden häufig realistisches Alltagswissen und theologische Orientierungen nur noch äußerlich und zufällig: „Sie handeln aus plausiblen Gründen eher pragmatisch, geprägt durch die Erfahrung, dass reflektiertes Durchwursteln zumeist erfolgversprechender ist als die Umsetzung irgendwelcher ‚eindeutiger’ theologischer Weisungen.“12
– „Reflektiertes Durchwursteln“ – das könnte vielleicht auch eine treffende Beschreibung dessen sein, wie die religiösen Individuen und insbesondere Virtuosen (Profis) mit den mehr gefühlten als reflektierten Verwerfungen der und in der theologischen Enzyklopädie faktisch umgehen.
10 Friedrich W. Graf, a. a. O. 1992, 282. Vgl. schon ders., Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre (1988), jetzt in ders., Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 111–137. Dazu auch Falk Wagner, Zur gegenwärtigen Lage, a. a. O., 114–157. 11 Diese Anerkennung hat freilich auch lange gedauert bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts: vgl. Wagner, Zur gegenwärtigen Lage, 158–179. 12 Friedrich W. Graf, a. a. O. 1992, 283.
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2.
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Zur fundamentalen Bestreitung von Religion
Während sich Vertreter der umstrittenen Religion in unterschiedlichen Varianten der Selbstbehauptung und Begründung abmühen, bewertet die radikal– genetische Religionskritik Religion überhaupt als Selbstmissverständnis des Menschen. Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass (nur) Menschen Religion haben.13 Warum ist das so? Religion wird hier so betrachtet, dass sie als anthropologisch gerade nicht notwendig verstanden ist, weil sie in entfremdeten Zuständen wurzele. Religion wird als Epiphänomen religionsexterner Bedingungen erklärt, sei es der Gattung, Klassenlage, psychischen Mechanismen oder der Bildungsgeschichte und Evolution des Menschen. Dabei setzt diese Form der Religionskritik durchaus bei religiösen Selbstaussagen an. Insofern das religiöse Bewusstsein sich als abhängig von einem göttlichen Grund behauptet, wird es durch seinen „Gegenstand“ bestimmt. Das religiöse Bewusstsein entäußert sich im Glaubensvollzug an den Inhalt seines Glaubens, wenn es zum Beispiel Gott als den Grund seines Daseins aussagt (traditionell: Schöpfung und Erhaltung). Dabei, und das ist für das Folgende allerdings entscheidend, reflektiert es diese seine Tätigkeit, den Vollzug seiner Selbst–Entäußerung, nicht. Seine Eigentätigkeit und Produktivität bleibt ihm selbst verborgen. Gerade in der Beobachtung dieses „blinden Flecks“ liegt der Ansatz für die Religionskritik. So sieht etwa Ludwig Feuerbach in seiner gattungsgeschichtlichen Genese14 „Gott“ als die irrtümliche Vergegenständlichung und damit auch Verdinglichung des Wesens des Menschen selbst an: „Die Religion ist der Traum des menschlichen Geistes.“15 Angesichts der grundsätzlichen Differenz zwischen dem menschlich–endlichen Einzelwesen, dem beschränkten und sterblichen Individuum, und der faktisch unendlichen Gattung, von individueller Besonderheit und Gattungsallgemeinheit, projiziert man fälschlicherweise dieses unendliche Gattungswesen gleichsam „an den Himmel“. Die Religion verlegt mithin das eigentliche Wesen des Menschen außerhalb des Menschen.16 Durchschaut man aber den Mechanismus des Gegensatzes zwischen Gattungsallgemeinheit und individueller Begrenztheit (Nichtigkeit), dann ist „Gott“ nicht nur ein Produkt der menschlichen Selbsttätigkeit, ein Vernunftgedanke (so schon Kant), sondern 13 Vgl. Günter Dux, Erkenntniskritik der Religion. Denken, was unabweisbar ist, in: Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, hg. v. Christian Danz / Jörg Dierken / Michael Murrmann–Kahl, Frankfurt a. M. 2005, 31–53, hier 41: „Die Religion ist mit dem Menschen entstanden.“ So auch Ludwig Feuerbach, a. a. O. (Anm. 14), 37. 14 Siehe Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (3. Aufl. 1849), Stuttgart 1998. 15 Ludwig Feuerbach, Vorrede zur zweiten Auflage (1843), a. a. O., 26. 16 Siehe Ludwig Feuerbach, a. a. O., 53.
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eine überflüssige und irreführende, nicht notwendige Projektion, die zur Erklärung des wahren Sachverhalts nichts beiträgt. Die Religion als das durchaus mit Schleiermacher verstandene „Bewusstsein des Unendlichen“17, mithin als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“18, stellt sich in Wahrheit als eine Thematisierung der Selbstbeziehung des Menschen heraus: „Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich zum Gegenstand dieses vergegenständlichten, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens; er denkt sich, ist sich Gegenstand, aber als Gegenstand eines Gegenstands, eines andern Wesens. (…) Der Mensch ist ein Gegenstand Gottes.“19
Karl Marx hat diese Diagnose Feuerbachs unverändert aufgegriffen und lediglich sozioökonomisch gewendet.20 Demnach entstehe die Religion aus und thematisiere sie zugleich die unzureichenden sozialen Zustände. Als das berühmte „Opium des Volkes“ ist sie in einem Zuge Protest gegen die ungerechten Verhältnisse einerseits und diese Verhältnisse kompensierender und verschleiernder Trost andererseits. Damit trägt sie im Effekt zur Rechtfertigung des Bestehenden bei. Religion als der ideologische Ausdruck der gesellschaftlichen Unrechtsverhältnisse, als falsches Bewusstsein, müsste demnach mit der Revolutionierung der Gesellschaft verschwinden. Aus dieser durchaus unzutreffenden Annahme resultierte dann der oft militante Atheismus des „real existierenden Sozialismus“. Auch Friedrich Nietzsches lebensphilosophischen Kritik liegt die selbstverständliche Voraussetzung zugrunde, religiöse Vorstellungen als eine „Fiktions– Welt“ aufzufassen.21 Der Ursprung von Religion wurzele in extremen Machtgefühlen, die der Mensch allerdings nicht ertrage und deshalb außerhalb seiner selbst als Gottheiten projiziere. Alles Große und Starke werde vom Menschen als „übermenschlich“ konzipiert. Darin besteht wiederum die Selbstentfremdung des Menschen von sich. Der entscheidende Akzent liegt für Nietzsche aber nicht in diesem Projektionscharakter als solchem, sondern vielmehr in der Frage, welche Funktion die Gottheiten für die Erhaltung und vor allem Steigerung des menschlichen Lebens erfüllt. Darum wird gerade diejenige Religion scharf kritisiert, die ihre Werte nicht aus dem „Willen zur Macht“, also der Lebenssteigerung, bezieht, sondern aus der Ohnmacht, dem Ressentiment und „Sklavenauf17 Ludwig Feuerbach , a. a. O., 38. 18 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion (1799). Zweite Rede, Hamburg 1958 (Nachdr. 1970), 22–74, hier 30. (PhB 255) Vgl. auch Ludwig Feuerbach, a. a. O., 48 ff. 19 Ludwig Feuerbach, a. a. O., 76. 20 Siehe dazu Falk Wagner, Was ist Religion?, a. a. O., 96 ff. 21 Falk Wagner, Was ist Religion?, 98–106.
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stand“ der Moral. Die christliche Religion gilt Nietzsche bekanntlich als „Widerspruch des Lebens“ und „nihilistisch“ schlechthin, als lebensverneinend. So kann er sich in scharfen Invektiven gegen das Christentum ergehen, wenn er zum Beispiel formuliert: „dies hybride Verfalls–Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence–Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben“.Von daher bildet Nietzsches berühmte „Umwertung aller Werte“ eine offensichtliche Gegen–Religion zum Christentum aus.22 Sigmund Freuds psychoanalytische Genese der Religion ist ebenfalls vom Impetus der Aufklärung des Menschen über sein Selbstmissverständnis getragen.23 Freud sieht in „Gott“ nur den nach der sinnlichen Form gebildeten menschlichen Vater, so dass der Religion im Kern ein infantiles Vaterbild zugrunde liegt. Angesichts des postulierten, in ödipalen Farben gemalten Vatermords in der Urhorde muss das durch den Mord erzeugte Schuldbewusstsein beschwichtigt werden. Die Gefühlsambivalenz gegenüber dem Vater, Liebe und Hass zugleich, kontinuiert sich aber, so dass der „Sohnestrotz“ in immer neuen Opferhandlungen kompensiert werden muss. Insofern misslingt die Aufhebung des Schuldbewusstseins. Für das Christentum folgt aus dieser Ausgangslage: Die Tat des Vatermordes wird zwar einerseits durch den versöhnenden Opfertod Jesu anerkannt, zugleich aber mit der Ersetzung des Vatergottes („Jahwe“) durch den Sohn („Jesus Christus“ als Kyrios) immer wieder erneuert, so dass die den Sohn als Gott verklärenden Brüder (also die Anhänger Jesu) vom Verhängnis des Schuldbewussteins eingeholt werden. Das ursprüngliche Schuldbewusstsein wird nur verdrängt, nicht aufgelöst. Insofern kann dann Freud Religion auch als kollektive „Zwangsneurose“ interpretieren. Religiöse Vorstellungen werden wiederum als Ideologie begriffen, die bei Freud im Illusionsbegriff beinhaltet ist. Illusionen bieten eben nur Wunscherfüllungen angesichts realer Differenzerfahrungen wie Leid, Not, Ohnmacht, Tod. Sie gaukeln eine Lösung nur vor, das heißt, in ihnen triumphiert das Lust– über das Realitätsprinzip. Daher kommt es Freud zufolge darauf an, diesen Mechanismus zu durchschauen und zum Realitätsprinzip zu gelangen. Schließlich hat zuletzt der emeritierte Freiburger Soziologe Günter Dux eine umfassende geistesgeschichtliche Genese der Religion vorgelegt, die in einem „konzilianten Atheismus“ terminiert. Damit fasst er die bisher skizzierten religionskritischen Bemühungen zusammen, indem es ihm ganz grundsätzlich um die 22 Zitiert bei Falk Wagner, Was ist Religion?, 103. 23 Vgl. dazu Sigmund Freud, Kulturtheoretische Schriften. Studienausgabe Bd. IX (1974), Frankfurt a. M. 1986, hier besonders Totem und Tabu (1912 / 13), 291–444, und Die Zukunft einer Illusion (1927), hier 139–189. Siehe dazu Falk Wagner, Was ist Religion?, 260–283.
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„Kritik der Logik, der sich Religionen bedienen“ geht.24 Dux geht von der Grundsituation des nachwachsenden Gattungsmitglieds aus: Jedes Kind muss immer wieder dieselben Aufbau– und Bildungsleistungen erbringen. Dies geschieht bekanntlich im engen Kontakt zu einer Bezugsperson (Mutter–Kind– Dyade): „Das Zuhandeln der bedeutsamen anderen, vor allem der Mutter als der sorgenden Bezugsperson, ist in der frühen Ontogenese die Bedingung dafür, dass das nachwachsende Gattungsmitglied überhaupt Handlungskompetenz und mit ihr jede andere soziokulturelle Kompetenz auszubilden vermag.“25
Aufgrund dieser basalen Ausgangslage bildet jedes nachwachsende Gattungsmitglied zwangsläufig zunächst auch dieselben Kategorien aus, in denen es die Welt wahrnimmt. So entsteht überall das „subjektivische Schema“, das seinen Skopus darin hat, dass alles, was geschieht, als Wirkung einer Handlung, einer handelnden Person, interpretiert wird. „Objekte werden strukturell so wahrgenommen, als wären sie handlungsmächtig, Ereignisse so, als gingen sie aus einem handlungsmächtigen Agens hervor (…).“26 Die Objektwelt der Natur und des Sozialen wird deshalb vom Menschen zunächst immer auf die Tätigkeit natürlicher oder eben übernatürlicher „Subjekte“ zurückgeführt. Diesen Mechanismus der basalen Handlungslogik hatte schon Nietzsche erkannt, wenn er zum Beispiel schreibt: „Hinter dem Donner steht der Donnerer.“27 Dieser Vorgang ist unvermeidbar, weil eben in der Ontogenese das nachwachsende Gattungsmitglied immer nur durch einen kompetenten anderen als ein handlungsfähiges Subjekt lernen kann. Dux geht darüber hinaus von der Parallelität von Ontogenese und Phylogenese aus. Die „Welt“ insgesamt wird so erfahren und (sozial) interpretiert, dass man hinter ihr subjektive Agenzien am Werk vermuten muss. Religion macht dies dann insbesondere in ihren Schöpfungsvorstellungen ausdrücklich, wenn sie die „Welt“ auf das Handeln und Wirken eines überweltlichen Akteurs, eben „Gott“, zurückführt.28 Der Schlüssel zum Verständnis der Religion liegt dann 24 Günter Dux, Erkenntniskritik der Religion, a. a. O. 2005, 32. Dass Dux das religionskritische und antimetaphysische Erbe seit der Aufklärung antreten will geht schon aus seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1975 hervor: siehe Günter Dux, Diesseits des historischen Materialismus. Zur Soziologie der Weltanschauung, in: KZfSS 27 (1975), 201– 223. 25 Ibid., 42. 26 Ibid., 43. 27 Vgl. auch den Hinweis von Dux auf Nietzsche, a. a. O., 47. 28 Günter Dux, a. a. O., 43: „Religionen artikulieren ein Weltverständnis, dem die subjektivische Struktur als Grundverfassung unterliegt. Jede Religion lässt die Geschehnisse in
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wiederum in ihrer Funktion, die Dux nicht zufällig als Funktion fürs menschliche Sinnverlangen bestimmt: „Dazu bietet eine Welt, die in einer subjektivischen Logik verstanden wird und in der subjektivische Mächte (…) das Geschehen bestimmen, reichen Anhalt. Denn eine Welt, deren eigene, immanente Prozessualität eine subjektivische Struktur aufweist, ist eine in sich sinnhaft verfasste Welt.“29
Erst im Übergang zur Moderne wird nun diese subjektivische Weltauffassung durch eine neue Logik, nämlich die formal–operationale Kompetenz (mathematische Relationen), mithin durch die naturwissenschaftliche und technische Naturbeherrschung, gebrochen. Die Allmacht des subjektivischen Schemas wird durch die modernen Bildungserfahrungen abgelöst und die Unterstellung subjektivischer Agenzien in allen Bereichen ortlos. Die Naturwelt wird entgöttert (Kant: „Dasein unter Gesetzen“), allen Geistes und Sinns entsetzt, und Schöpfungsmythen haben an ihr keinen Anhalt mehr. Der rationale Anhalt an einer von Göttern oder Gott durchwalteten Welt ist abhanden gekommen. „Im säkularen Verständnis der Moderne stellt sich das subjektivisch–sinnhafte Handeln des Menschen wie eine Enklave in einem sinnfreien Universum dar.“30 Der Verdacht, dass „Gott“ nur eine Hypostasierung menschlicher Handlungssubjektivität darstellt, ist nicht mehr zu entkräften. Da aber das Definiens der religiösen Wirklichkeitsauffassung schlechthin die Logizität des subjektivischen Schemas ist, proklamiert Dux unter den Bedingungen der Moderne das „Ende der Religion“.31
der Welt und schließlich die Welt selbst auf subjektivische Agenzien: Götter, Geister oder sonst subjektivische Mächte konvergieren.“ 29 Ibid., 44 30 Ibid., 45 31 Siehe dazu schon Günter Dux, Die Logik der Weltbilder, Frankfurt a. M. 1982, hier besonders 290 ff; ders., Die ontogenetische und historische Entwicklung des Geistes, in: Der Prozeß der Geistesgeschichte, hg. v. Günter Dux / Ulrich Wenzel, Frankfurt a. M. 1994, 173–224; ders., Für eine Anthropologie in historisch–genetischer Absicht, in: ebenda, 92–115. Siehe auch die Darstellung bei Falk Wagner, Was ist Religion?, 199– 203. Zur Diskussion und Kritik die Beiträge in: Ende der Religion – Religion ohne Ende? Zur Theorie der „Geistesgeschichte“ von Günter Dux, hg. v. Falk Wagner / Michael Murrmann–Kahl, Wien 1996; vom Vf., Leben, Natur und Freiheit am Beispiel der Kontroversen um den freien Willen, in: Leben – Verständnis. Wissenschaft. Technik, hg. v. Eilert Herms, Gütersloh 2005, 397–410, hier 404 ff. Daran anschließend Christian Danz, Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen–Vluyn 2005, 131–158.
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Emphatisch wird die prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden Logiken, des subjektivischen Schemas und des formal–relationalen Vermögens, beschworen. Diese Kritik wird pointiert vorgetragen: „Solange die subjektivische Logik auf der abstraktiven Ebene des Welt– und Selbstverständnisses in Geltung bleibt, wird die Legitimation der Religion dadurch gewonnen, dass der mundane Kontext verlassen und die Welt von einem subjektivischen Absoluten bestimmt gesehen wird. Die pristine Logik infiltriert gleichsam die säkulare. Das jedoch ist folgenreich. Denn von ihr geht eine Form der Gegenaufklärung aus, die für die subjektivische Logik neben der säkularen Geltung beansprucht, obgleich in gar keiner Weise einsichtig wird, wie innerweltlich die Annahme einer Eingriffskausalität mit dem säkularen Wissen in Einklang zu bringen sein könnte.“32
Die Bedeutung der hier vorgetragenen Kritik liegt in den beiden Elementen, mit denen Dux die religionskritischen Bemühungen zum Abschluss bringt: Einmal arbeitet er sich nicht mehr an bestimmten inhaltlichen Vorstellungen der Religion ab, sondern rekonstruiert die jeder Religion zugrunde liegende Logik. Diese wird nicht nur mit dem „subjektivischen Schema“ identifiziert, sondern auch deren Genese aus der kulturellen „Nulllage“ eines jeden nachwachsenden Gattungsmitglieds aufgezeigt. Zum anderen kann Dux pointiert die Unvereinbarkeit der pristinen und der modernen Logik seit der mathematisch– naturwissenschaftlichen Weltbeherrschung dartun, so dass jeder Versuch und Anspruch einer absolutistischen Logik als überholt oder bewusst inszenierte „Gegen–Aufklärung“ durchschaubar geworden ist. Wir haben Religion und religiöses Bewusstsein bis jetzt gleichsam von zwei Extrempositionen aus betrachtet und beleuchtet: von der unmittelbaren religiösen Selbstbehauptung und der radikal–genetischen Kritik her. Sie verhalten sich zueinander wie die berühmten feindlichen Zwillinge oder die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Beide Positionen können sich durch das Auftreten ihres Gegenteils in ihrer eigenen Wahrnehmungsweise jeweils bestätigt fühlen. Für den radikalen Religionskritiker wie etwa Dux stellt der Fundamentalismus die genannte „Gegenaufklärung“ par excellence dar: „In der absolutistischen Logik (…) haben sich früh schon durch die Fixierung auf ein Absolutes konstitutionelle Schwierigkeiten Ausdruck verschafft, mit dem sozialen Wandel umzugehen. Das in der Moderne heraufgeführte Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Prozess des sozialen Wandels stellt die Religion kognitiv vor unüberwindliche Probleme.“33
32 Günter Dux, Erkenntniskritik der Religion, a. a. O., 48. 33 Günter Dux, Die Religion im Prozess der Säkularisierung. Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im politischen Fundamentalismus, in: ÖZS 26 (2001), 61–88, hier 71.
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Dass die Fundamentalisten in einer aufgeklärten Welt noch gar nicht angekommen sind, wird ihnen auch sonst gerne bescheinigt. Interessanterweise findet dieser Fundamentalismus gerade bei der technischen Intelligenz wie Naturwissenschaftlern und Ingenieuren großen Anklang. Das ist insofern auffällig, als sie die Vertreter des endlichen Verstandesdenkens sind, die man seit Hegels Zeiten gewissermaßen einer nur halbierte Aufklärung zuordnen kann.34 Der nur rechenhaften und technischen Natur– und Weltbeherrschung fehlt die Dimension der Vernunft. Offenbar neigt man dann dazu, diese gleichsam halbierte Aufklärung aufgrund der bleibenden Sinnbedürfnisse mit einem ebenso eindimensionalen und verkürzten Religionsverständnis zu kompensieren. Für diese Beschreibung spricht die Tatsache, dass sich gerade Fundamentalisten der modernen Technik ganz selbstverständlich bedienen – vom Internet bis hin zur angestrebten „grünen Atombombe“ der Islamisten. Allerdings besteht die Schwäche dieser Position darin, dass sie allen Zweifel künstlich ausblenden und unterdrücken muss. Genau das bleibt unter den reflexiven Bedingungen der Moderne unglaubwürdig. Demgegenüber wirkt der Religionskritiker für fundamentalistische Vertreter wie die Inkarnation des typisch westlichen Werteverfalls und der Dekadenz, der gottlosen und atheistischen Welt, die sich anschickt, endgültig zum Teufel zu gehen, sollte sie nicht doch noch durch theokratische Experimente zu retten sein. So ist es kein Wunder, dass die Selbstbehauptung der Religion und ihre Bestreitung sich unversöhnlich gegenüberstehen.
3.
Die theologische Aufgabe im Widerstreit von Fundamentalismus und Religionskritik
Nun wäre es ganz und gar vermessen und überheblich, wollte die christliche Theologie von sich behaupten, sie könnte die skizzierten Probleme und Kontroversen der Religion(en) lösen. In einem ersten Schritt kann man sie freilich beschreiben und ihre Herkunft und Heraufkunft schildern. Damit wird zunächst einmal im Medium zum Beispiel historischer und soziologischer Methoden eine 34 Siehe Falk Wagner, Christentum und Moderne (1990), in: ders., Religion und Gottesgedanke, Frankfurt a. M. 1996, 247–268, hier 261 zur „Dialektik der Aufklärung“: „Das die Moderne steuernde und durchsetzende Subjekt sei die verkürzte und halbierte Rationalität des technisch–instrumentellen Verstandes, dessen abstraktes Identitätsprinzip einzig und allein den Mechanismen einer quantitativen Rechenhaftigkeit und Verwertbarkeit verpflichtet sei. Diese Verstandeskultur der ökonomisch–technisch verwertenden Rationalität orientiere sich nicht an der Freiheit, den Interessen und Bedürfnissen der Individuen, sondern ihr erster und letzter Imperativ ziele auf die systematische Selbsterhaltung.“
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Form von Distanzierung geleistet. Tatsächlich ist das eine gängige Vorgehensweise, dass die Theologie solche Reflexionsleistungen erbringt, die sich auf die lebensweltlichen Erscheinungen und auch Verwerfungen der Religion(en) beziehen. Dieses Charakteristikum wird im Auge zu behalten sein. Im Folgenden ist ein Schritt über die bisher skizzierte Problemlage zwischen Fundamentalismus und Religionskritik hinaus zu tun. Es ist gezeigt worden, dass der Angelpunkt von Selbstbehauptung wie Kritik der Religion die interne Verfasstheit des religiösen Bewusstseins darstellt. Sie besteht darin, dass sich das religiöse Bewusstsein von einem (göttlichen oder transzendenten) Grund als abhängig aussagt, der natürlich inhaltlich unterschiedlich gefüllt werden kann. In dieser Selbstaussage und in diesem Selbstverständnis liegt aber die spezifisch eigene Produktivität des Bewusstseins verborgen, den die Religionskritik bewusst macht. Sagt sich das religiöse Bewusstsein als ein solches aus, das sich Gott verdankt, so macht die Religionskritik die Gegenrechnung auf, dass eben dieser Gott seine Existenz und Geltung in Wirklichkeit dem religiösen Bewusstsein verdankt. Das Begründungsgefälle: Gott ist der Grund, das Bewusstsein ist begründet, wird ins Gegenteil umgekehrt: das Bewusstsein ist der Grund, Gott ist begründet. Der Grund ist in Wirklichkeit von Gnaden des Begründeten. Gott als „begründeter Grund“ ausgesagt ist natürlich ein Selbstwiderspruch. Deshalb muss die Religionskritik die Faktoren und Mechanismen aufdecken, die zu dieser Prinzipienverwechslung führt. So weit, so bekannt. Der nächste Schritt besteht in der Einsicht, dass dem durchschnittlichen religiösen Bewusstsein diese Problemlage keineswegs unbekannt ist. Wer einmal versucht, aufmerksam auf die Vorgänge des eigenen Bewusstseins zu achten, wird vermutlich auf diese Schwankungen im eigenen Bewusstsein selber treffen: Einerseits wünscht man sich gerade die religiöse Unmittelbarkeit und Gewissheit, das fraglose Gegründetsein in Gott. Man möchte, ohne Zweifel haben zu müssen, glauben. Man kennt selbst diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Einfachheit, nach dem Absoluten. Insofern enthält jedes religiöse Bewusstsein dieses rein affirmative Moment in sich, das als Extremposition des Fundamentalismus nach außen tritt: das Bewusstsein des Absoluten springt ins absolutistische Bewusstsein um. Dasselbe lässt sich entsprechend auch vom Zweifel behaupten. Zweifel sind den meisten religiösen Menschen nicht fremd. Sie sind auch nicht einfach als Defiziterfahrung abzubuchen. Vielmehr enthält das religiöse Bewusstsein selbst schon diese Spannung in sich, dass es sich sozusagen selbst nicht über den Weg traut. Wie, wenn dieser Einwand doch zutreffen sollte, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde schafft?35 Paul Tillich hat im Anschluss an 35 „Der Einwand, ein gefühlter oder bloß geglaubter Gott könnte fiktiv, eingebildet und somit illusionär sein, ist nicht zu entkräften.“ So Falk Wagner, Christentum und Moder-
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die neuzeitlichen Subjektivitätstheorien seit Descartes und Hegel die Bedeutung des Zweifels gerade für den Glauben hervorgehoben und sogar die Gedankenfigur von der „Rechtfertigung des Zweiflers“ ausgebildet. Tatsächlich kann dem grundsätzlichen und methodischen Zweifel kein Inhalt, kein „fundamental“ entzogen werden, so dass das Bewusstsein am Ende sich auf sich selbst zurückgeworfen sieht: es kann an allem zweifeln, nur nicht daran, dass es selbst zweifelt. Deswegen versuchte Descartes von der Selbstevidenz des „ich denke“, des „cogito“, aus, die weiteren Schritte zur gewissen Erkenntnis zu plausibilisieren. Tillichs Votum läuft entsprechend darauf hinaus, dass nicht der Glaube stark ist, der sich allem Zweifel gegenüber abstrakt negativ verhält und abschottet, sondern vielmehr derjenige, der die Momente des Zweifels und der eigene Negativität in sich zu integrieren vermag.36 In einer Zwischenüberlegung ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass diese Spannungen freilich nicht auf ein und derselben Ebene zu verorten sind. Während die religionskritischen Argumente und Herleitungen offenkundig die kognitive Ebene von Religion betreffen, weist das tief sitzende Bedürfnis, sich „als bejaht zu bejahen“ (Tillich) und zu erleben ersichtlich auf eine emotionale Tiefenschicht. Die letztere wird von dem auf der kognitiven Ebene Einsehbaren wohl nicht einfach außer Kraft gesetzt. Diesen innerpsychischen Selbstwiderspruch fasste der große russische Dichter F. M. Dostojewski einmal in die paradoxe Formulierung, er glaube umso fester, je mehr Argumente er dagegen habe. Dass ein solcher Widerstreit überhaupt möglich ist, könnte eben daran liegen, dass die emotiven Schichten viel breiter und tiefer verwurzelt sind als die kognitive, die man eher als „Spitze des Eisbergs“ verstehen könnte. Jedenfalls ist zu ne, a. a. O., 258. Das religiöse primär als Gottesbewusstsein aufzufassen ist gewiss angesichts der Selbstauslegung der religiösen Praktikanten für die Religionen des Judentums, Christentums und Islam berechtigt. Aber selbst der Buddhismus entbehrt nicht des Unbedingtheits– und Unendlichkeitsbezugs, auch wenn dieser sich nicht in der Gestalt einer Gottheit verfestigt. Schleiermachers Religionsbestimmung als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ bleibt daher in ihrer Weite unübertroffen. Diese Fähigkeit zum immanenten Transzendieren ist zweifellos die Stärke des religiösen Bewusstseins, zugleich aber auch die Quelle seiner spezifischen Gefährdung. 36 Paul Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: Paul Tillich. Ausgewählte Texte, hg. v. Christian Danz/ Werner Schüßler / Erdmann Sturm, Berlin New York 2008, 124–137. Ders., Der Mut zum Sein, in: ders., Sein und Sinn, GW Bd. XI, Stuttgart 2. Aufl. 1976, 11–138, hier besonders 117 ff. Dazu: Jörg Dierken, Gewissheit und Zweifel. Über die religiöse Bedeutung skeptischer Reflexion bei Paul Tillich, in: Theologie als Religionsphilosophie, hg. v. Christian Danz, Wien 2004, 107–133, hier 113 ff, 126 ff; und die Beiträge von Folkart Wittekind, Arnulf von Scheliha und Gunther Wenz, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), hg. v. Christian Danz / Werner Schüßler, Wien Berlin 2008, 39–65, 67–84, 85–116.
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überlegen, ob man diesen unterschiedlichen Schichtungen im religiösen Bewusstsein nicht mehr Aufmerksamkeit schenken müsste, als das in der Regel geschieht.37 Meine These besteht sonach darin, dass die Spannung, der Gegensatz und die Kontroverse von Fundamentalismus und Kritik zur Binnenstruktur des religiösen Bewusstseins selbst gehört.38 Zumindest versuchsweise und experimentell könnte jeder die Aufmerksamkeit auf diese Polarität einmal zu fokussieren unternehmen. In der Tat kann man jeden Pol vereinseitigen und absolut setzen und damit treten die schon genannten Phänomene auf. Sie ließen sich durchaus mit Tillichs Gegeneinander von Autonomie und Heteronomie rekonstruieren. Ohne diese speziellen Begriffe an dieser Stelle selbst diskutieren zu wollen39 entspräche die radikale Religionskritik genau der sich selbst verabsolutierenden Endlichkeit, der sich selbst absolut setzenden endlichen Formen, die Tillich an der Autonomie kritisiert. Wo alles nur in die Perspektive des Produziertseins gerückt wird, geht die Tiefendimension des absoluten Sinngehalts verloren. Durch diesen Selbstabschluss im endlichen Verstandesdenken wird der heteronome Gegenschlag geradezu herausgefordert. Er bringt zu Recht die Dimension des Unbedingten wieder ins Spiel, allerdings in einer verzerrten Weise, in der ganz bestimmte und nur begrenzte religiöse Inhalte bzw. in „heiligen Schriften“ verdingliche Gehalte ihrerseits unmittelbar absolut gesetzt werden. Damit hat man schon das Phänomen des Fundamentalismus erfasst. Gegen die Komplexität der modernen Welt wird darum auf Programme zur sozialen Entdifferenzierung und Nivellierung gesetzt. Dies sind aber beides einseitige Wahrnehmungen ein und desselben Sachverhalts, der in der Binnenstruktur des Bewusstseins angelegt ist, in seiner unumgänglichen Produktivität. So gilt es für die neuzeitliche Religionsphilosophie 37 Vgl. vom Vf., „Credo, ut intelligam“. Zur Wechselwirkung systematisch–theologischer Reflexionsleistungen und Seelsorgeerfahrungen, in: Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch–theologische Zugänge, hg. v. Andreas Kubik, Göttingen 2011, 242–258. Diese Einsicht lässt sich übrigens bis zu Johann J. Spaldings „Bestimmung des Menschen“ (1748) zurückverfolgen: siehe dazu die schöne Studie von Andreas Kubik, Spaldings Bestimmung des Menschen als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit, in: ZNThG 16 (2009), 1–20, hier 11f. 38 Auch Günter Dux, Die Religion im Prozess der Säkularisierung, a. a. O. 2001, 64, spricht von einem „strukturellen Fundamentalismus“ der Religion bis heute: „Es ist die zweistellig–relationale Logik, das, was in der Welt vorgefunden wird und geschieht, explikativ auf seinen absoluten Grund rückzuführen, die den strukturellen Fundamentalismus der Religion begründet.“ 39 Dazu Falk Wagner, Absolute Positivität – Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs (1973), in: ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 126–144, hier 130 und ff.
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seit Kant als ausgemacht, dass „Gott“ ein Vernunftgedanke, mithin also ein Produkt der reinen Vernunft, darstellt, kantisch gesprochen ein „transzendentales Ideal“.40 Der Streit dreht sich erst darum, ob aus dieser Einsicht automatisch schon folgt, dass die „Gegenstände“ des religiösen Bewusstseins nur projektiv sind oder illusionär (Freud), das heißt, dass ihnen nichts entspräche (außer der Kraft menschlicher Wunschvorstellungen), oder ob sie ein Eigenrecht für sich, eine gewisse Objektivität, beanspruchen können. Hier hat Kant mit Bedacht vorsichtig votiert und lediglich deutlich gemacht, dass die theoretische Vernunft über die Existenz Gottes nichts zu erkennen vermag. Insofern bleibt bei ihm die Frage nach der Existenz Gottes innerhalb der Erkenntnistheorie offen und unbeantwortbar. Wer sie bejaht hat nicht mehr und nicht weniger Recht als derjenige, der sie verneint. Die Unbedingtheitsdimension, die das religiöse Bewusstsein auszeichnet, die Fähigkeit zum Selbsttranszendieren, kann also nicht eo ipso schon als Verirrung des menschlichen Geistes abgetan werden.41 Folglich sind Religionskritik und Religionsbegründung als ein Zusammenhang und Thema des religiösen Bewusstseins selbst zu entwickeln. Freilich hat der Marburger Neukantianismus unter seinen spezifischen Bedingungen diesen Transzendenzbezug noch einmal verschärfend problematisiert. Insofern sich nämlich das religiöse als Gottesbewusstsein auslegt, macht es eine das Bewusstsein transzendierende Behauptung realistischer Art, mit der es der eigenen Vernunftproduktivität faktisch widerspricht: „Es ist nicht durchführbar, den Zentralbegriff der Religion, den Begriff des wirklichen, lebendigen, transzendenten Gottes seinem Vollsinn nach festzuhalten, zugleich aber auf jeden objektiven Geltungsanspruch dieses Begriffs verzichten zu wollen.“
Paul Natorps Argument gemahnt an die Figur des ontologischen Gottesbeweises: wer „Gott“ sagt, muss eo ipso auch dessen Existenz behaupten, weil diese notwendig zum Gottesbegriff selbst gehört. Den liberaltheologischen Entschärfungstheoretikern der Religion schreibt Natorp zu Recht ins Stammbuch: „Sagen: Gott ist, zugleich aber sagen: dies Sein gilt nur für mich, auf Grund meines keinem andern auch nur mitteilbaren, geschweige irgendwelche Geltung für ihn beanspruchenden inneren Erlebens, heißt in einem Atem seine Wirklichkeit setzen, und sie nicht zu setzen wagen (…).“42 40 Siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 595 ff. 41 Auch religionssoziologisch sind Zustimmung zu Gott und Atheismus als dezidierte Absage an Gott von demselben Rang: siehe zu Recht Klaus–Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1997, 63. 42 So Paul Natorp im Nachwort zur zweiten Auflage 1908 zu seiner „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“, Tübingen 2. Aufl. 1908, 103. Zum Kontext dieser Äußerungen:
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Demnach stellt Natorp unausweichlich vor die Alternative, entweder das religiöse als Gottesbewusstsein in seinem Transzendenzbezug notwendig realistisch auslegen oder aber diesen Bezug gerade kappen zu müssen, weil er sich mit den neuzeitlichen Rationalitätsstandards nicht verträgt. Denn der als Voraussetzung fürs menschlichen Denken, Handeln oder Fühlen deklarierte „Gott“ bleibt von Gnaden des diese Vorrausetzung machenden menschlichen Setzens. Damit wird die Dichotomie von Selbstrelativierung und Selbstzurücknahme auf bloß subjektives Erleben versus antimodernistischer Fundamentalismus angesichts der fraglos unterstellten Realität oder Voraussetzung Gottes im Religionsbegriff festgeschrieben. Wie aber die Religionskritik zu Recht entdeckt hat: auch eine vermeintlich absolute Voraussetzung ist immer nur relativ für ein Setzen. Wenn dies eine einigermaßen zutreffende Beschreibung des religiösen Bewusstseins ist, wenn es in sich selbst in die Polarität von Selbstverabsolutierung und Selbstkritik eingespannt ist, dann besteht meine daraus folgende weitere These darin, dass sich Theologie als Reflexion genau auf diese Grundproblematik der Religion bezieht. Mit anderen Worten: Theologie ist Krisenwissenschaft.43 Angesichts der durchgängigen Ambivalenz von Religion und des religiösen Bewusstseins, angesichts der weitreichenden ambivalenten gesellschaftspolitischen Auswirkungen von Religion besteht die Aufgabe der Theologie in der Reflexion und Thematisierung der Verwerfungen der gelebten Religion(en). Die Einheit der Theologie bestünde sonach in ihrem Problembezug, denn Religion ist ein vieldeutiges Phänomen, das enorme lebensweltliche Probleme und sozialpolitische Folgekosten aufwirft. Damit wird zugleich deutlich, was Theologie zunächst einmal nicht ist: sie bezieht sich primär nicht auf eine wie immer bestimmte Offenbarung, das „Wort Gottes“, ist nicht „Kommunikation des Evangeliums“44 oder Funktion der Kirchenleitung oder was man sich alles sonst noch für Bestimmtheiten denken mag. Natürlich kann aufgrund des Problembezugs zur Religion und zum religiösen Bewusstsein, zur jeweiligen spezifischen Religion wie dem Christentum oder Protestantismus, das alles auch zum Thema gemacht werden und ist es auch gemacht worden. Aber das ändert meines Erachtens nichts daran, dass die neuzeitliche Theologie als Wissenschaft sich in siehe Michael Moxter, Kritischer Intuitionismus. Tillichs frühe Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920), a. a. O., 173–195, hier 182f. 43 Dies war eine Grundeinsicht Falk Wagners in seiner Münchener Zeit: siehe ders., Was ist Religion?, 588. Angedeutet auch bei Christian Grethlein, „Theologien und Religionswissenschaften an deutschen Hochschulen“, a. a. O., 356, 361. 44 Siehe Christian Grethlein, a. a. O., 377. Da auch Grethlein eigentlich den Religionsbegriff ins Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen stellt, ibid. 377–381, hier besonders 380, leuchtet diese Engführung nicht recht ein.
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vielfältiger Art und vielerlei Methoden auf ein höchst problembefrachtetes Phänomen bezieht, eben die Religion(en). Natürlich verlangt ein solcher Vorschlag nach einer argumentativen Legitimation. Klassisch wurde allen Unterschieden von Schleiermacher und Karl Barth zum Trotz die Theologie als „positive“ Wissenschaft bestimmt, das heißt durch ihren Bezug auf die Lösung einer praktischen Aufgabe.45 Deshalb haben beide Autoren den Theologiebegriff in den Bezug zu Aufgaben der Kirche gesetzt. Das ist insofern naheliegend, als die christliche Theologie im Zuge der Ausbreitung des Christentums entstanden ist und in diesem Kontext auch verstanden wurde. Gegen diesen Bezug spricht nicht, dass er nicht möglich und tatsächlich auch ein Teil der Problematik ist. Gegen den Kirchenbezug spricht aber, dass die Konzentration auf die religiösen Organisationen („Volkskirchen“) unter modernen Bedingungen zu eng erscheint. Regelmäßig stößt man heute in der dogmatischen Bestimmung von „Kirche“ und in empirischen kirchensoziologischen Untersuchung darauf, dass damit der Phänomenbereich christlicher Religion bei weitem nicht erschöpft wird. Schon Ernst Troeltsch hatte eine weite historische und soziologische Perspektive in Anschlag gebracht und davon gesprochen, dass das Christentum in sein „ethisches Zeitalter“ und in eine transformierte moderne Gestalt eingetreten sei.46 In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wahrnehmung werden die Kirchen ohnehin in erster Linie im Zusammenhang von ethischen Debatten gehört. Die Phänomene scheinen unter den gegenwärtigen Bedingungen also eine Ausweitung der Wahrnehmung christlicher Religion auch außerhalb der Kirche zu erzwingen. Denn die individuell gelebte Religion drückt sich nur noch teilweise im kirchlichen Teilnahmeverhalten aus, und die kirchlich geprägten Inhalte und Vorgaben unterliegen zahlreichen zustimmenden und ablehnenden Deutungen. So ist aus empirischen Untersuchungen wie zum Beispiel der des emeritierten Berliner praktischen Theologen Klaus–Peter Jörns bekannt, dass nicht einmal die religiösen Virtuosen, Pfarre45 Siehe zum Folgenden den instruktiven Überblick von Bernd Schröder in: Evangelische Theologie studieren. Eine Einführung, hg. v. Wolfgang Marhold / Bernd Schröder, 2. Aufl. 2007, 199–209. 46 Zum Beispiel Ernst Troeltsch, Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule“ (1913), in: ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Ges. Schriften Bd. II, Tübingen 1913, 500–524. Auch Emanuel Hirschs „Umformung“ der christlichen Religion ist hier zu nennen: zum Ganzen vgl. Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?, in: ZNThG 2 (1995), 225–254. In der praktischen Theologie hat Gert Otto den Faden von Falk Wagners Religionsbuch weitergesponnen: Gert Otto, Handlungsfelder der Praktischen Theologie, München 1988, 17–62, 379 ff. Auch der Aufsatzband von Volker Drehsen ist zu nennen, Wie religionsfähig ist die Volkskirche?, Gütersloh 1994, hier besonders 121–146, 250–285.
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rinnen und Pfarrer, die „Items“ des apostolischen Glaubensbekenntnisses noch fraglos teilen.47 „Die Kirchen haben – bis in die Reihen der eigenen Pfarrerschaft hinein – an Glauben normierender Kraft verloren.“48 Gerade die dogmatisch nicht einzuhegende Offenheit des Religionsbegriffs ist seine Stärke, die einer philosophischen, historischen, soziologischen und psychologischen Beobachtung anschlussrational bleibt. Sie ermöglicht unterschiedliche, perspektivisch gebundene Wahrnehmungen von „Religion“ und „Christentum“, die sich nicht gegenseitig ausschließen (sollten). Die Zeit der Monopolansprüche und der theologischen oder kirchlichen Interpretationshoheit ist endgültig vorbei. Eine andere Variante hat Wolfhart Pannenberg in die Diskussion gebracht, als er Theologie als „Wissenschaft von Gott“ bestimmte, wobei er mit R. Bultmann den Gottesbegriff inhaltlich mit „der Alles bestimmenden Wirklichkeit“ besetzte. Dieser Bezug des Theologiebegriffs auf Gott legt sich besonders nahe, zumal er im Wortsinne als dem „Logos“ vom „Theos“ schon angelegt ist. Allerdings lässt sich dieser unmittelbare Gottesbezug nicht durchhalten und methodisch umsetzen, wie Pannenberg selbst einräumen muss: „Theologie erwies sich uns als Wissenschaft von Gott, die sich aber ihrem Gegenstand nur indirekt, durch das Studium der Religionen, zuwenden kann. Einerseits nämlich ist Gottes Wirklichkeit keiner direkten Beobachtung zugänglich, andererseits ist sie in den Religionen immer schon thematisch geworden als machtvoller Grund der menschlichen Lebenswelt (…).“
Wenn dem so ist, was man kaum bestreiten wird, dann fragt man sich, warum Pannenberg nicht gleich das Naheliegende gesagt hat: Theologie ist die Wissenschaft von der (christlichen) Religion.49 Theologie wäre sonach in Analogie zu anderen klassischen Wissenschaften zu verstehen. Medizin wurde ausgebildet um die lebensweltlichen Konflikte zu lösen, die den menschlichen Körper betreffen, also Krankheiten. Die Jurisprudenz bildet Regeln und Verfahren aus, wie man mit gesellschaftlich verorteten Konflikten umgehen kann, was bekanntlich nicht immer den Wunsch nach umfassender Gerechtigkeit erfüllt. Philosophie debattiert seit je über die kontroversen menschlichen Grundfragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ (Kant) Schließlich findet die christliche Theologie ihre Einheit 47 Siehe Klaus–Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, a. a. O., 179 ff, 206 ff zum Thema Erlösung vom sündigen menschlichen Wesen! „Das aber heißt, dass es an einem zentralen Punkt der biblisch–theologischen Anthropologie zu einem totalen Bruch mit der Tradition gekommen ist.“ (206) 48 Ibid., 226. 49 Siehe Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1977, 299, Zitat 349 (Hervorhebung von mir).
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und ihren Gegenstandsbezug in der Krise des religiösen Bewusstseins, das zwischen absolutistischer Selbstbehauptung und destruktiver Selbstkritik schwankt. Dafür ist aber Distanzierung, Urteilsvermögen und Reflexion erforderlich. Aus diesem Grund ist die Theologie zu Recht im Haus der Wissenschaften (der Universität) verortet, weil sie zur Erfüllung dieser Aufgabe oder der Problembearbeitung einer Vielfalt historischer, soziologischer und psychologischer Methoden und natürlich der philosophischen Reflexion bedarf. Die Aufgabe der Theologie besteht ganz basal zunächst einmal in der Selbstdistanzierung von der unmittelbar gelebten Religion, ein Vorgang, der Theologen durchaus nicht immer leicht fällt. Aber ohne diese Fähigkeit, zum eigenen religiösen Bewusstsein reflektierend in Distanz treten zu können, lässt sich Theologie als Wissenschaft nicht leisten. Theologie ist der gebildete Umgang mit Religion50, und Religion ist bekanntlich eine „Lebensmacht“ (Max Weber); das bedeutet gesellschaftspolitisch allemal Sprengstoff. Genau deshalb sollte eigentlich auch eine sich aufgeklärt gebende und plurale Gesellschaft selber ein vitales Interesse an der wissenschaftlichen Bearbeitung von Religion haben, mithin an Theologie. Denn mit „Sprengstoff“ muss man zu hantieren verstehen. Angesichts der unübersehbaren Vielfalt an Religionen und christlichen Denominationen ist es immerhin ein historisch bewährter und immer noch gangbarer Weg, dass die christliche Religion aus ihren eigenen Traditionen heraus Theologie ausbildete. Dies ist bislang spezifisch nur im Christentum ge50 Einen solchen gebildeten Umgang mit dem religiösen Traditionsbestand hat Andreas Kubik, Persönlichkeit Gottes? Die religionsphilosophische Leistung von Hardenbergs Fichte–Rezeption, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 6 (2008), 211– 226, am Beispiel von Novalis‘ „Romantisieren“ etwa hinsichtlich der „Persönlichkeit“ Gottes beschrieben, hier 220: „Gott wird durch die Zuschreibung der Persönlichkeit romantisiert, d. h. verfremdet dargestellt, um eben dadurch auf einer tieferen Ebene umso vertrauter zu erscheinen. Die Romantisierung setzt also die kritische Prämisse (scil. Fichtes), Gott könne nicht als Person gedacht werden, gerade voraus, da andernfalls die Attribution als Person nicht mehr als romantische Verfremdung verstanden werden könnte.“ Allerdings setzt dies bereits eine eklatante Distanzierung von den und Reflexion über die religiösen Symbolisierungsleistungen voraus (siehe 221, 225), was nichts anderes als die Selbstaufklärung des religiösen Bewusstseins über sich impliziert. Empirisch gesehen ist das durchschnittliche Bewusstsein in seiner Unmittelbarkeit dazu oft nicht bereit oder fähig. Darum kommt es dann zwischen Kindheit und Erwachsenwerden zu einem nur noch schwer heilbaren Bruch in der individuellen religiösen Biographie, anstatt dass sich ein analoges Wachstum des religiösen Bewusstseins parallel zu anderen kognitiven, voluntativen und emotiven Elementen feststellen ließe. Diese Brüche „sind ein Indiz dafür, dass ein gebildeter und sich selbst bildender Umgang mit den traditionellen Gehalten des kirchlichen Christentums nur noch selten realisiert wird“: Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?, a. a. O., 243.
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schehen, Ansätze zeigen sich neuerdings für die Erforschung des Islam. Ob eine spezifisch an eine bestimmte religiösen Tradition gebundene Theologie oder eine „neutrale“ Religionswissenschaft die bessere Problembearbeitungsstrategie verspricht kann hier nicht entschieden werden.51 Nur so viel ist mit aller Vorsicht zu behaupten, dass (christliche) Theologie als Reflexion der gelebten (primär christlichen) Religion schon ein immens weites Arbeitsfeld vor sich hat, so dass man anderweitige Konkurrenz eigentlich nicht zu fürchten bräuchte. Die hier vorgeschlagene Bestimmung setzt durchaus die Spezifität der evangelischen Theologie und der Entwicklung des Protestantismus in seiner Geschichte seit der Aufklärung voraus, auch wenn er zunächst rein formal erscheint. Vor der Aufklärung konnte man in Theorie und Praxis noch von der selbstverständlichen Unterstellung ausgehen, dass „der Begriff der Theologie ebenso die Tätigkeit des wissenschaftlichen Theologen wie die Glaubenspraxis der christlichen Gemeinden und die Frömmigkeit der einzelnen Christen umfasse“.52 Darum sind noch die theologischen Entwürfe der sogenannten „altprotestantischen Orthodoxie“ ganz auf die Sachdimension der dogmatischen Entfaltung abgestellt.53 Unter den Bedingungen der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft trifft diese umfassende Identität nicht mehr zu. Die Sachdimension wird auf die Sozial– und Zeitdimension umgestellt, was in der durchgängigen Historisierung gerade auch der Inhalte, des Traditionsbestands, des Christentums ausdrücklich wird. Dieser selbst krisenhaft verlaufende Prozess hat zu einem enormen Verlust an intellektueller Plausibilität christlicher Sachaussagen geführt, wie schon oben an der Religionskritik deutlich geworden ist.54 Die historische Kritik spiegelt die moderne ausdifferenzierte Gesellschaft wider. Die Historisierung der Bibel führt zur Pluralisierung ihrer Botschaft (Kerygmata der neutestamentlichen Autoren). Der durch die Aufklärung hindurchgegangene „Neuprotestantismus“ verändert den Zusammenhang von Theologie und Religion entscheidend: 51 Wolfhart Pannenberg sieht die Religionswissenschaften als den Rahmen, „in welchem auch die christliche Theologie mit allen ihren Disziplinen ihren Ort finden muss“: ders., Wissenschaftstheorie, a. a. O., 364, vgl. auch 365. Ausführlich zu den Weiterungen einer Theologie der Religionen: Christian Danz, Gott und die menschliche Freiheit, a. a. O., 159–188, mit dem Plädoyer, die „Theologie der Religionen als Religionskritik durchzuführen“ (183)! 52 Falk Wagner, Christentum und Moderne, a. a. O., 251. 53 Freilich ist hier historisch differenziert zu urteilen: unter der Oberfläche der Sachdimension rumoren – herausgefordert zumal durch Descartes und Spinoza – bereits moderne Fragestellungen: vgl. Friederike Nüssel, Gott als spiritus independens. Zur Umformung der Gotteslehre in der lutherischen Theologie der Frühaufklärung, in: Der Gott der Vernunft, hg. v. Jörg Lauster / Bernd Oberdorfer, Tübingen 2009, 93–108. 54 Vgl. Falk Wagner, Christentum und Moderne, 255 ff.
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„Das Verständnis der Theologie wird bewusst professionalisiert, so dass Theologie der Aneignung des an staatlichen Universitäten und kirchlichen Hochschulen vermittelten Berufswissens dient. (…) Demgegenüber wird die Religion als eine lebensweltlich und alltagspraktisch wahrgenommene Angelegenheit prinzipiell aller Menschen verstanden, die ihre Frömmigkeitspraxis entweder innerhalb des kirchlichen Christentums oder in privaten Zirkeln nachgehen.“55
Genau daraus resultiert die „anspruchsvolle Unschärfe“ des Religionsbegriffs (Kurt Nowak), in dem gegenläufig und zugleich zwei Momente impliziert sind: einmal die genannte Unterscheidung von allgemeiner Religion („natürlicher Religion“ i. e. vernünftig–moralischer Religion aller), die heilsnotwendig ist, vom Berufs– und Expertenwissen der Theologen (Konfessionsstreitigkeiten!) und zum anderen die individuelle Frömmigkeit, die sich unterschiedlich vergemeinschaften („Zirkel“) und vergesellschaften (Kirchen) kann.56 Anstelle aller Inhaltlichkeit und Sachfragen wird die Religion primär auf das fromme Selbstbewusstsein und individuell–religiöse Gottesbewusstsein umgestellt, so dass der Sachgehalt des Gottesgedankens nur noch indirekt und zwar so thematisch wird, „wie er für das Gottesbewusstsein der religiösen Individuen als Implikat ihres personalen Selbstumgangs und sozialen Weltumgangs erscheint“!57 Mithin eröffnet der Religionsbegriff die Möglichkeit zur Wahrnehmung, Beschreibung und natürlich auch Diskussion der vielfältigen Phänomene unter den Bedingungen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Diese Bezugsgröße der wissenschaftlichen Theologie thematisiert die Einheit allerdings nur in der Form ihrer Problemgeschichte und der Aufgabe für die jeweilige Gegenwart. Die Einheit der (neuprotestantischen) Theologie liegt in ihrem Problembestand – in der individuellen und sozialen Ambivalenz der Religion(en) und in der konstitutiven Aporie des religiösen Bewusstseins zwischen Selbstbehauptung und –destruktion.
55 Falk Wagner, Christentum und Moderne, 252. 56 Falk Wagner, Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999, 221f. 57 Falk Wagner, Religion und Gottesgedanke. Vorwort, a. a. O., 7–13, hier 7. Vgl. auch 8: „Der Ausdruck ‚Gott’ wird zu einem Ausdrucksphänomen des religiösen Bewusstseins.“ Ders., Metamorphosen, a. a. O., 130 ff. Dasselbe betont auch die empirische Studie von Klaus–Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, a. a. O., 220 ff und passim.
Bologna trifft Schleiermacher. Am Anfang des Theologiestudiums Christian Senkel Der folgende Beitrag ist ebenso praxisorientiert wie abstrakt. Weil der Bolognaprozess abstrakte Züge trägt, berühren Bemerkungen zu ihm manches Formelle. Konkret wird eine Reform des Studium immer erst vor Ort der einzelnen Lehrveranstaltung. Was sich ändert und was bleibt, wo man alten Wein in neuen Schläuchen reicht und wo alte Schläuche vom neuen Wein fast platzen, wird nur am Einzelfall sichtbar. Meine Bemerkungen wandern daher durch das dürre Land der Reformprotokolle in eine Gegend, wo zwar nicht Milch und Honig fließen, wo aber versucht wird, die Studienreform in der Theologie sinnvoll zu kanalisieren.
I
Reform der Lehre und evangelische Theologie
Ludwig Wittgenstein zitiert als Motto zu Philosophische Untersuchungen einen Ausspruch Johann Nestroys, wonach der Fortschritt das an sich habe, das er größer ausschaue, als er wirklich sei.1 Dieser Ausspruch ist ein gutes Motto zur Bewertung der aktuellen Universitätsreform. Die Stadt Bologna war als Ort des Impulses symbolpolitisch gewollt, doch ist die Frage, ob die Wahl auch berechtigt war. Man wird sehen, ob der Bologna-Reform eine Scholastik folgt, die in derselben vitalen Weise lehrt und zu Abenteuern des Denkens einlädt wie die Frühscholastik, oder aber ob nur eine europäische Spätscholastik der Moderne folgt. Auch deren Lebensverhältnisse waren trübe: Manche Wissenschaftler mussten sich als Viehbesitzer selbst finanzieren.2 Obwohl die Folgen aus dem Bolognaprozess für Forschung und Lehre kaum zu trennen sind, konzentriere ich mich hier auf die Lehre. Da die Freiheit der Lehre durch die Reform formell nicht angetastet werden konnte, kann die Frage, wieweit und wie sich die Lehre de facto verändert hat, als Kriterium für die Reform dienen. In diesem Punkt wird von den Reformkritikern die Hochschulautonomie ins Feld geführt. Sie sei bedrängt und in Gefahr durch modulbedingte Formalisierung der Lehre und durch immer dünner werdende Studiengänge. Zur Entlastung solcher Bewertungen ist Historiographie nützlich, mithin reicht die Frage nach der Autonomie der Universität an Haupt und Gliedern 1 2
Zit. n. Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Band 1, neu durchges. von Joachim Schulte, Frankfurt/Main 71990, 229. Vgl. Jacques LeGoff: Die Intellektuellen im Mittelalter, München 21994, 134.
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bis zu den Anfängen zurück. Damals tobte zwischen übergeordneten Privilegiengebern (Imperium, Sacerdotium) ein Streit um das Recht, Wissenschaftskorporationen mittels Freiheiten zu privilegieren.3 Die Ambivalenz der kapitalgebenden Pastoralmächte in der Moderne gegenüber Forschungs– und Lehrfreiheit steht in einer Konfliktgeschichte. Im letzten nominell vorherrschenden deutschen Universitätskonzept, von Wilhelm Humboldt und Friedrich Schleiermacher abkünftig, stand der Professor im Zentrum des Autonomieverständnisses. Seine kluge und geschickte Wahl von Forschungsthemen und Darstellungsmitteln, repräsentiert durch schwergewichtige, materialreiche Vorlesungen und ebenso dicke wie dichte Monographien, bestimmten insbesondere auch die universitäre Lehre. Getragen wurde dieses Ideal von einer zurückhaltend-fürsorglichen Staatsmacht. Auch das Humboldtideal wurde von Reformkritikern gegen die gegenwärtigen Reformversuche ausgespielt. Doch der Gegensatz ist kleiner, als er aussieht. Schon das Autonomiekonzept um 1800 war ein Schritt zur Formalisierung der Lehre, kam es doch ohne inhaltliche Erwartungen an Forschungsergebnisse und Bildungsverläufe aus. Erkundung und Aneignung von Wissen sollten frei sein. Gesellschaftliche und obrigkeitlich sanktionierte Erwartungen bestanden anderweitig. Erwartet wurde die funktionale Leistung, Kontingente gewisser Eliteberufe zu bilden. Die inhaltliche Offenheit von Forschung und Lehre war eine Funktion zweiter Ordnung, indem sie Studierende zur Selbstbildung im und nach dem Studium befähigte. Dieses Studienmodell hat lange auch in der Theologie gegolten. Man kann der Bologna-Reform ad bonam partem attestieren, sie habe ihrerseits in der Lehre funktionales Denken mit dem Ziel anregen wollen, das Studium konzeptionell an Studierenden zu orientieren und die Lehrpraxis mit ihren gängige Formen zu überdenken. Als Beispiel dafür sind zwei Reformkonzepte einschlägig: studentische Arbeitslast und quantifizierter Leistungsgedanke. Zusammen bündeln sie die Aufmerksamkeit von die eigene Tätigkeit reflektierenden Dozenten. Wer im Zeitraum von 2004 bis 2008 die Ausmittelung von Eckwerten höherer Herkunft (Kirchen, Länder), fachspezifischen Erwartungen (Fakultätentag), universitären Vorgaben und fakultätseigenen Vorstellungen befasst hat, konnte das trotz allen Ärgers über administrative Neologismen nicht übersehen. Die damalige Verwunderung über jene Reformkonzepte ist daher selbst etwas verwunderlich. Es scheint, als habe die Studienreform eine längst
3
Die kirchliche Verwaltung der frühen Universitäten war durchaus ein Zankapfel. Nicht einmal alle Theologen wollten sich in diesen Verhältnissen sehen. Vgl. Jacques LeGoff: a.a.O., 74–81 u.v.ö.
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im Gang befindliche Erosion des Humboldtschen Ideals in der Lehre peinvoll deutlich gemacht. Abgesehen davon war es in der Tat unangemessen, die Reform als Agentur für demographisch–dirigistische Interessen einzusetzen. Berechtigte Anliegen wurden mit ökonomischen Kalkülen überfrachtet, sodass nun ein betriebswirtschaftliches Konzept der Qualitätsprüfung der Universität die Anzahl guter Absolventen als Produktionsmarge andient. Zum einen ist aber nicht alles Gold, was durch billige Examensnoten glänzt, zum anderen ist die betriebswirtschaftliche Rechnung ohne den Volkswirt gemacht, der um nachhaltige Bildung als Faktor des Sozialprodukts weiß. Jener moderne Beschleunigungsprozess, der akademischen Berufen 'intragenerationelles' Lernen abverlangt,4 ist nur durch die Fähigkeit zur Selbstbildung zu meistern. Das gilt besonders für den multifunktionalen Pfarrberuf. Die bildungs- und wissenschaftspolitische Versicherung, man wolle Qualität, war unaufrichtig, wie die finanziellen Nachbesserungen im Wissenschaftsetat nach der Reform zeigen. Qualität kostet Geld und ihre Herstellung dauert. Das gilt nicht nur für Eliteforschung, es gilt auch für berufstaugliche Absolventen. Gute Lehre und nachhaltige studentische Bildung resultieren nicht aus der billigstmöglichen Beschleunigung von Studiengängen. Man durfte angesichts der Ambivalenzen im Reformprozess von der evangelischen Theologie sowohl Proteste als auch die Nutzung des Reformimpulses zur Lehrverbesserung erwarten. Tatsächlich kam es jedoch zu spezifischen Kommunikationsproblemen. Ich erörtere sie kurz anhand einzelner Verlaufsstellen des Reformprozesses:5 1. Der evangelische Fakultätentag hat zeitgleich mit der Reform die Neuordnung des Theologiestudiums zu Ende geführt. Der verdienstvolle Abschluss eines äußerst langwierigen Verständigungsprozesses lag indes leider quer zur Reformkommunikation. Die Konzentration auf das Pfarramtsstudium erzeugte ein Wahrnehmungsproblem hinsichtlich der Bologna–Reform, die wesentlich das Lehreramtsstudium im Blick hatte. Vorgaben des Fakultätentages konnten zwar pünktlich in die Modularisierung der Pfarramtsstudiengänge eingearbeitet werden. Doch – unabhängig von Zuständigkeiten – wären Stellungnahmen zur 4 5
Vgl. die Thesen von Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt/Main 2005. Öffentliche Äußerungen von Wissenschaftsrat, evangelischem Fakultätentag oder anderen Gremien habe ich zur Kenntnis genommen. Ich zitiere im Folgenden nicht aus diesen Texten. Eine ausgewogene Erörterung des Prozesses mit feinen Beobachtungen an der Ökonomisierung des Reformjargons bietet Günter Thomas: Evangelische Theologie an der Universität. Perspektiven und Probleme modularisierter Studiengänge, in: Aufgaben, Gestalt und Zukunft Theologischer Fakultäten, Veröffentlichungen der WGTh 31, hg. von Friedrich Schweitzer und Christoph Schwöbel, Gütersloh 2007, 91–102.
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Umformung des Lehramtsstudiums und zum Zweck der Theologie als Magisterfach sinnvoll gewesen. Der Reformprozess hat sich auf diese Studiengänge bezogen. 2. Die Modularisierung hat die Theologie als Magisterfach geschwächt – zum Schaden der wissenschaftlichen Selbstpositionierung der Theologie. Im Zuge einer Reform, auf deren Fahnen vereinfachte Studierbarkeit in studentischer Autonomie stand, wurden frei wählbare Fächerkombinationen gestrichen. Wegen der Rekrutierungsbasis für interdisziplinäre Nachwuchsförderung hat dies Folgen für die Forschung. In dieser Fehlleitung hat sich ein von Wissenschaftspolitikern und Universitätsleitungen ausgeübter Druck entladen. Die Theologie wurde im Zuge der Reformkommunikation als lästiger Kostenfaktor für eine von (fragwürdigen) Nützlichkeitsidealen aus neudefinierte Universität entdeckt. Das neue Misstrauen gegenüber dem Nutzen universitärer Gottesgelehrtheit war ein wohlfeiles Fündlein. Im Gegenzug pochte man vielleicht zu einsilbig auf Staatskirchenverträge, statt für die Präsenz wissenschaftlicher Theologie im Verbund interdisziplinärer Forschung und Lehre einzutreten bzw. auf diese Präsenz hinzuweisen. 3. Eine universitätsübergreifende Kommunikationsschwäche der Theologie ergab sich im Blick auf ihre Zugehörigkeit zu den 'oberen Fakultäten'. Die im Gleichen berufsbildenden wie gelehrsamen Disziplinen Humanmedizin, Jurisprudenz und Theologie hatten von der Reform ungeheure administrative Umbaubelastungen zu erwarten. Eine gemeinsame Absetzbewegung kam indes nicht zustande. Solidarischer Protest wurde der Theologie durch ihre Mehrzügigkeit unmöglich. Die 'oberen Fakultäten' gingen in der Umsetzung des Reformprozesses getrennte Wege. Die in der Theologie unverzichtbare Mischung aus Bildung und Ausbildung hat sich im Reformprozess unverschuldet isolierend ausgewirkt. Weder als 'Geistes–' oder 'Kulturwissenschaft' noch als 'obere Fakultät' vermochte die Theologie Solidarisierungseffekte zu erzielen. 4. Verschiedentlich angesprochen verdient das Lehramtsstudium gesondert bedacht zu werden. Längst überwiegen bei den natürlichen Zahlen der Studierenden, also unabhängig von den Drittel- und Viertelköpfen offizieller Auslastungsberechnungen, die Lehramtsstudierenden. Die Kurve ist, besonders in Ostdeutschland, zeitgleich mit der Umsetzung der Reform angestiegen. Die Reform hat die Reflexion auf diese Umstände verstärkt, aber auch geeignetere Lehrformate für die Klientel erwirkt. Das ist ein Fortschritt für künftige Religionslehrerinnen und –lehrer. Die Versorgung bleibt dennoch schwierig – zum einen wegen der verschiedenen Leistungshorizonte in Lehramtsstudiengängen, zum anderen wegen einer Abwertung dieser Studiengänge, die bisweilen sogar von anderen Studierenden ausgeht. Eine Debatte zum Leitbild nicht des Religionsunterrichts, sondern der theologischen Bildung von Religionslehrern wäre fällig.
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Fazit: Von der Reform abgesehen war schon – oder vor allem? – die Reformkommunikation für die Theologie schwierig. Dafür gab es viele strukturelle Gründe und manche Gewohnheiten. Der Reformimpuls hat aber auch manche bestehenden Mängel gezeigt. Im folgenden Abschnitt geht es darum,wie aus der Not der Reform eine Tugend zu machen sei.
II
Ambivalenzbewältigung am Anfang des Theologiestudiums
Ich möchte nun an der Vermittlung von theologischer Propädeutik und Enzyklopädie zeigen, wie ein Teil der im Reformprozess entstandenen Ambivalenzen reduziert werden kann. Denn durch den Reformimpuls wurde deutlich, wie die alte Aufgabe, Studierenden die Bewältigung der theologischen Disziplinenvielfalt zu erklären, zusammen mit der neuen Aufgabe einer Einführung vor allen Modulverzweigungen in Angriff genommen werden kann. Diese Zuspitzung auf den Anfang des Studiums hat auch Resonanzen mit der in Abschnitt I genannten Reformkommunikation. 1. Aus den Sachzwängen von Eckwertepapieren, eigengesetzlichen Punktezählungen und Modulüberständen sind mancherorts neue Lehrformate entstanden. Daran hat das Erfordernis, fachspezifische Schlüsselqualifikationen zu definieren, großen Anteil. Von den allgemeinen Schlüsselqualifikationen spreche ich nicht – wie viele Optionen des Studieneinstiegs zu einer allgemeinbildenden und die Fähigkeit zur Selbstbildung fördernden Weise nicht genutzt wurden, bleibt ein trauriges Geheimnis der Modularisierungshistorie.6 Immerhin hat die Notwendigkeit, pro domo spezifische Schlüsselqualifikationen zu bestimmen, aber ergebnisorientierte interne Diskussionsprozesse freigesetzt. Modularisierungsgremien konnten gar nicht anders, als sich rudimentär mit theologischer Enzyklopädie zu beschäftigen. Wer wann im Studium welche Disziplin studieren soll, wurde im Weichbild Theologischer Fakultäten, statt nur in übergeordneten Instanzen debattiert. Dabei ergaben sich interessante Synergien. Zum Beispiel rückten Systematische Theologie und Praktische Theologie von chron(olog)isch letzten Plätzen im Studienweg auf vordere Startränge. Fakultätsinterne Reformdebatten haben manche müde Üblichkeit durchgeschüttelt. Während für den Gesamtverlauf des Studiums im Fakultätsvergleich vor allem die Alternative zwischen formalisierten Modulen mit freier Füllung einer6
Wer Theologie studiert und zu Studienbeginn Geschichte oder Soziologie belegt, sprechwissenschaftlich Rhetorik oder Literaturgeschichte lernt, verschwendet nicht seine Zeit. Und wie viel hätte die Theologie anderen Fakultäten zu bieten gehabt! – Hier waren universitätsweite Verbote von Lehrimporten bei der Kalkulation von Schlüsselqualifikationen kontraproduktiv.
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seits und inhaltlich fixierten Modulen von meist kleinem Umfang andererseits entstand, ist die Lage im Studieneingangsbereich anders. Hier ist durch den Druck der fachspezifischen Qualifikationen (und zum Teil durch verkürzte Studiengänge im Lehramtsbereich) eine Einführungsleerstelle entstanden, die propädeutisch gefüllt werden musste. Die inzwischen etablierten propädeutischen Modelle variieren von Fakultät zu Fakultät, und ihre Anrechenbarkeit beim Ortswechsel möchte ich lieber nicht diskutieren. Mir geht es um den inhaltlichen Impuls, der aus der pragmatischen Zwangslage in die Propädeutik einströmt – oder es tun sollte. Für die modularisierte Propädeutik sind einige Bedingungen zu beachten: • Theologische Propädeutik muss sich als Einführung ins Ganze der Theologie von disziplinenspezifischen Einführungen unterscheiden. • Theologische Propädeutik muss als Einführung ins Ganze der Theologie einer enzyklopädischen Intention folgen, ohne diese jedoch im Studieneingangsbereich explizit machen zu dürfen. • Für die Lehre ergibt sich alternativ: Entweder rotieren die Disziplinen in derselben propädeutischen Lehrveranstaltung mit einer Selbstvorstellung, die zugleich enzyklopädischen Intentionen folgt. Oder die Systematische Theologie übernimmt die Propädeutik.7 Die zweite Variante scheint mir aus verschiedenen Gründen sinnvoller. Bevor ich sie jedoch vorstelle und durch ein eigenes Konzept konkretisiere, möchte ich zeigen, worin Resonanzen der wiederentdeckten Propädeutik mit der in Abschnitt I genannten Reformkommunikation bestehen. 2. Die theologische Propädeutik als einmalige Pflichtveranstaltung führt zur aleatorischen Zusammenkunft aller Studienanfänger (oder jedenfalls frühen Semester). Dieser Vorgang hat mehrere Vorteile, die ihrerseits einige Mängel ausgleichen, wie sie für die Theologie teils durch den Reformprozess aufgetreten sind, teils durch ihn bloßgelegt wurden. In einer ersten Bündelung könnte man von kommunikativen Vorteilen sprechen, die eine propädeutische Schleuse ins Theologiestudium bietet. Tatsächlich erzwingt der gleichzeitige Blick auf Studierende aller Studiengänge Flexibilität und Unterscheidungsvermögen. Schon hier kann die schlechte Alternative zwischen einer Orientierung der Lehre an den (vermeintlich) durch Vorkenntnisse Privilegierten und einer nivellierenden Orientierung an den Schwachen gemieden werden. Der gleichzeitige Blick auf die vielfältigen Fähigkeiten und Kennt7
Auf regionale Zufälle und Akzentsetzungen kann ich hier nicht eingehen. Ein strukturelles Problem der Propädeutik besteht in der Verbindlichkeit von Lehrinhalten und der personellen Ausstattung. Die Rivalität theologischer Disziplinen um den Studienanfang kann irritierend, aber auch klärend hinzukommen.
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nisse von Pfarramts-, Lehramts- und Magisterstudierenden hält Überraschungen bereit. Auch die konfessionelle Selbstreflexion der Studierenden ist in der propädeutischen Situation gut anzuregen. Gerade wegen der gemischten Lehrsituation taucht hier nämlich die Frage auf, worin konfessionelle Selbstreflexion bestehe. So ist es gewiss zu beklagen, wenn Lehramtsstudierende nicht wissen, zu welcher Landeskirche sie gehören oder dass sie um der vocatio willen überhaupt zu einer Kirche gehören müssen. Andererseits ist der dynastisch verstärkte Kollektivismus mancher Pfarramtsstudierender auch dem heilsamen Schock kirchensoziologischer Fragestellungen auszusetzen. Die gemeinsame Reflexion gemischter konfessioneller Herkünfte wird dann zur Brücke in eine berufliche Zukunft, die ihre Routinen zu reflektieren und gegebenenfalls zu unterbrechen vermag.8 Schließlich hat die Propädeutik eine Chance, die Kommunikation unter den Studierenden zu fördern. Dazu gehört an erster Stelle das Durchkreuzen der Abwertung mancher Studiengänge durch andere. Dieses Ziel ist allerdings nur ein minimales. Differenzen zwischen konfessionellen Herkünften und beruflichen Zukünften sollten breit beschrieben und bearbeitet werden. Das ist in einer Kirche der Freiheit Aufgabe aller und überhaupt ein ekklesiologisches Erfordernis. Über die kommunikativen Vorteile hinaus sehe ich vor allem im Blick auf die Lehramtsstudiengänge einen kybernetischen Vorteil in einer obligatorischen und gemischten theologischen Propädeutik. Zum einen hat man als Hochschullehrer sehr verschiedene Leistungsmilieus vor sich. Fähigkeiten und Erwartungen müssen abgeglichen werden, und dafür bedarf es geeigneter Arbeitsformen, zum Beispiel keines reinen Vorlesungsstils oder eines durch Übungen ergänzten Propädeutikmoduls. Vor allem für das Lehramtsstudium, grundsätzlich aber auch für andere Studiengänge dürfte die propädeutische Anregung beruflicher Leitbilddebatten hilfreich sein. Diese Debatten können inhaltlich und auch durch Arbeitsformen verankert werden, ohne das Maß eines Propädeutikmoduls zu sprengen (vgl. Abschnitt III). So kann man die theologischen Berufskonzepte früh im Studium und zeitgleich mit den inzwischen früh einsetzenden Praktika reflektieren – gegebenenfalls auch zur Warnung vor falschen Erwartungen. Diese Zielsetzung muss nicht bevormundend umgesetzt werden, sie kann im Gegenteil aus Fragestellungen heraus entfaltet werden, die den Studierenden immer schon gewärtig sind. Als dritten und letzten Resonanzbereich der Propädeutik mit der großen Reformkommunikation möchte ich die Wissenschaftlichkeit der Theologie in Rela8
Die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern der Bundesrepublik sind in dieser Hinsicht kleiner als sie aussehen.
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tion zu den Bedürfnissen der Studierenden herausstellen. Wer aus der Systematischen Theologie heraus Propädeutik betreibt, macht die Erfahrung, dass Gegner des Humboldtschen Bildungsideals auch im Hörsaal sitzen: Funktionalismus und Instrumentalismus allenthalben. Ist es examensrelevant? Ist es nötig, sich Satz B zu merken oder genügt vielleicht Satz A? Kommt dies–und–das auch als handout oder muss man sich Notizen machen? Ich will nicht behaupten, dass die Formalisierungen der Bolognareform diesen Narzismus und sein orales Verhältnis zum Wissen bewirken, gewiss aber muss man vermeiden, dass sie ihn verstärken. Das aber ist vermeidbar, indem man studentische Kräfte fördert, in denen theoretische Neugierde lebt. Auch diese Förderung beginnt am Anfang des Studiums. Es kann nicht angehen, sie als Phänomen konsekutiver Qualifikationen zu sehen oder sie auf spätere Module zu verlegen. Wer gute Fragen stellt, sollte es sich nicht erst einmal abgewöhnen, um es sich später als 'Lernziel' wieder anzugewöhnen. Wissenschaft ist immer ganz, sie ergänzt nicht nachträglich ein statusloses Basiswissen. Auch in diesem Punkt bietet die reformerzeugte Propädeutik jedoch eine Chance. Konkret ist die Chance schwer zu beschreiben. Man kann sie nicht für alle möglichen Einführungen und Grundkurse durchrechnen. Ein Hinweis mag indes das Propädeutikum als Ort theoretischer Neugierde plausibilisieren. Wissenschaftlich starke Propädeutik kann im universitären Milieu werbend wirken. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Teilnehmer an weiterqualifizierenden Studiengängen solche Propädeutika besuchen. Ein Beispiel: Der Master– und Aufbaustudiengang Medizin - Ethik - Recht an der Martin–Luther– Universität Halle–Wittenberg kann sich in einem Modul mit der theologischen Propädeutik überkreuzen. Zum Erstaunen selbstsicherer Jungtheologen schreiben dabei Juristinnen und Juristen gute Einführungsklausuren. Rückkopplungseffekte für die Leistungsbereitschaft pro domo sind auf diesem Weg denkbar, eine universitätsweite Multiplikatorenfunktion zugunsten der Theologie ist nicht auszuschließen. Die Theologie ist dann als Wissenschaft präsentabler, und ihre spezifische Mischung aus Bildung und Ausbildung zirkuliert nicht nur in Gremien zur Kapazitätsberechnung. Fazit: Gewisse Ambivalenzen der Studienreform und der Anfang des Studiums verweisen aufeinander. Theologische Propädeutik wird halb als ReformFormalie erpresst, halb als Tugend des Lehrpensums wiederentdeckt. Nun geht es um die Beschaffenheit eines Propädeutikums.
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Eine Aufgabe Systematischer Theologie: Propädeutik in enzyklopädischer Absicht
Nun möchte ich in zwei Schritten ein Propädeutikum vorstellen, das von der Systematischen Theologie bespielt wird. In diesem Zusammenhang nehme ich Impulse von Friedrich Schleiermacher auf, nutze sie aber weder als Legitimationserzählung noch als Gegenstand historischer Genealogie. Mir scheinen Schleiermachers enzyklopädische Notizen als Muster interessant,9 von dem man für die gegenwärtige Propädeutik lernen kann, ohne sich so oder anders zu verpflichten. Ich versammle also enzyklopädische Züge, die mir für eine theologische Propädeutik bedeutsam scheinen. 1. Gewinn verspricht zunächst das theologische Bildungsprogramm. Mit Schleiermacher ist "von jedem evangelischen Theologen […] zu verlangen, daß er im Bilden einer eigenen Überzeugung begriffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs, nicht nur so, wie sie sich aus den Prinzipien der Reformation an sich und im Gegensatz zu den römischen Lehrsätzen entwickelt haben, sondern auch, sofern sich Neues gestaltet hat, dessen für den Moment wenigstens geschichtliche Bedeutung nicht zu übersehen ist.“10 Dieses theologische Bildungsprogramm hat in zweierlei Hinsicht für eine Propädeutik Gewicht. Der erste interessante Punkt besteht in der Gegenüberstellung von subjektiver Aneignung und objektiven Elementen der Theologie. Dadurch kommt der unendliche enzyklopädische Charakter der Theologie angemessen zum Ausdruck. Denn das theologische Wissen ist sowohl in stofflicher Hinsicht wie auch im Blick auf den Zirkel des Glaubens unabschließbar. Ein durch jeden Diskursteilnehmer selbstgebildetes Prinzip der Aneignung legt Perspektiven fest, unter denen etwas als theologisch bedeutsam thematisiert werden kann. Der zweite interessante Punkt betrifft das Milieu der Unabgeschlossenheit des theologischen Wissens. Diese Unabgeschlossenheit ist keiner empirischen Überholbarkeit von Hypothesen geschuldet, aber auch keiner ontologischen Mehrwertproduktion. Sie folgt vielmehr aus jener Offenheit des Gottesbegriffs, die zur Distanznahme und zum emanzipatorischen Selbstgewinn einlädt.11 Religiös könnte man sagen, Gott lädt zum Experiment mit seinem Begriff ein. Auch das individualisiert die theologische Bildung. 9
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kurze Darstellung des Theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810), Krit. Ausg. hg. v. Heinrich Scholz, Darmstadt 1977. 10 Friedrich Schleiermacher: a.a.O., § 219. 11 Vgl. Trutz Rendtorff: Gott – ein Wort unserer Sprache? Ein theologischer Essay, München 1972, 9–14.
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Aus beiden Gründen muss der Prozess des Bildens einer eigenen Überzeugung von Anfang an stattfinden, und zwar anhand der dreistelligen Konstellation von subjektiver Aneignung, objektiven Lehrörtern und kritischer Überlieferungsgeschichte. Die enzyklopädische Intentionalität der Bildung in Theologie bedarf einer propädeutischen Wurzel - damit komme ich zum zweiten Punkt. 2. Schleiermachers enzyklopädisch gemeintes Baum-Gleichnis gibt immer wieder zu denken.12 M. E. darf es nicht als reine Allegorie einer der theologischen Enzyklopädie statisch entsprechenden Studienordnung verstanden werden. Das Gleichnis ist viel mehr metaphorisch als Veranschaulichung von Herkunft und Zukunft der Theologie zu deuten. Das Gleichnis verbindet metaphorisch Sichtbarkeit und Dauer eines Bildungsprozesses. In den Wurzeln eines winzigen Schößlings liegt ein unsichtbarer Anfang. Sichtbar wird dann nur der Stamm des theologischen Baums - die fast unglaublich kompakte historische Theologie –, was ihn nährt, in der Zeit seiner christentumsgeschichtlichen Entfaltung, bleibt unsichtbares begriffliches Lebenselement. Der Übergang von der Enzyklopädie in die Propädeutik ist deutlich. Die Einwurzelung theologischer Elementarbegriffe wird an eine Philosophische Theologie delegiert, die am Anfang des Studiums greift. Ihre Beschaffenheit und Organisationsform sind viel diskutiert worden, heute ist sie im Theologiebetrieb eine relativ freie Auffassungssache. In diesem Punkt muss es nicht zum Schwur kommen, wenn man nur den Bildungsgedanken im Blick behält: Die Wurzelmetapher hat einen Zug ins Elementare, zieht der theologische Baum seine Lebenssäfte doch von unter der Erde, aus dem Reich der Genealogien13 – wie er der von der praktisch–theologischen Krone berührten Luft der geselligen und gesellschaftlichen Kommunikation als des anderen Lebenselements bedarf. Metaphorologisch ist weniger das Philosophische propädeutisch entscheidend als das Genealogische der Wurzel von Begriffen. Ein Baum hat mehr als eine Wurzel. Schleiermachers Hang, so gut wie alle ausdifferenzierten theologischen Disziplinen und Kenntnisse hinter dünner Borke zum 'Stamm' des enzyklopädischen Baums zusammen zu pressen, überrascht auch insofern nicht. Nicht nur die Unsichtbarkeit begrifflicher Genealogien, auch die Gründung der historischen Theologie auf einer Divergenz wird metaphorisiert. Der diskursive Denker geht von Heterogenität als Entstehungsmilieu der Theologie und im Bil-
12 Friedrich Schleiermacher: a.a.O., §§ 25-32 der ersten Auflage. Vgl. zur sachlichen Fortgeltung sowie zur Deutung des Gleichnisses nach wie vor Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers "Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm, in: ders.: Schleiermacher-Studien, eingel. und hg. von Hermann Fischer, Berlin/New York 1996, 285–305, hier z.B. 296. 13 Im Diskursthoretischen Sinn.
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dungsprozess einzelner Theologen aus. Dieser Impuls scheint mir für den Aufbau einer Propädeutik wichtig. 3. Schließlich verweist die Kurze Darstellung auf ein Problem, an dem die Theologie bis heute laboriert. Manches zusammenpressend könnte man vom Historismus-Relativismus-Syndrom sprechen, das die Theologie in der Moderne bestimmt – bis in Fluchtformen hinein. Schleiermacher steht am Anfang des Prozesses, der das in der Theologie bereits durch die Aufklärung etablierte historische Denken weiter verfeinert, aber auch überall auf die Relativierbarkeit von Geltungsansprüchen stößt. Auch die Kurze Darstellung bezeugt diese Widersprüche. An prominenter Stelle spricht Schleiermacher von der Aufgabe der Systematischen Theologie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geltende Lehre zu formulieren. Diese Bestimmung findet sich aber im historischen Stamm der Theologie.14 Das Verhältnis zur genealogischen Annäherung könnte hier klarer bestimmt sein. Doch dieses Problem lässt sich propädeutisch fruchtbar machen. Es erzwingt den Sprung ins Originäre: "Die Gegenwart kann nicht als Keim einer dem Begriff mehr entsprechenden Zukunft richtig behandelt werden, wenn nicht erkannt wird, wie sie sich aus der Vergangenheit entwickelt hat."15 Die Gegenwart des Christentums muss infolge dieser genealogischen Erkenntnis aber eben auch von der vivifikatorischen Kraft der eigenen Elementarbegriffe erfasst werden. Das ist ein poetologischer Zug. Propädeutik ist auch deshalb eine Aufgabe der Systematischen Theologie. Jede andere Disziplin mag zwar ein theologisches Selbstverständnis ausbilden, sie kann sich aber ebenso gut auf den historisch–philologischen Methodenkanon zurückziehen – läuft dann aber freilich Gefahr, an ihre Herkunftswissenschaft zurückzufallen.16 Die Praktische Theologie ist dagegen gleichsam zu luftig, sie will und soll an vielen Orten gleichzeitig sein. Die Systematische Theologie überzeugt durch ihre Mittellage. Oder vermag sie den Wissensbaum der Theologie insgesamt abzulaufen? In Schleiermachers Bestimmung der propädeutischen Aufgabe Systematischer Theologie meldet sich die frühromantische Kunst zurück, terminologische Bestimmtheiten zu kennen und zugleich zwischen ihnen poetologisch zu schweben.17 Übergang: Schleiermachers Impulse berühren die heutige Propädeutik – das Bildungsprogramm, die Metaphorisierung der Enzyklopädie und die Systemstelle der Systematischen Theologie. Nun geht es um eine theologische Propädeutik, 14 15 16 17
Als dritter Abschnitt §§ 196–231 in Von der historischen Theologie (§§ 69–256). Friedrich Schleiermacher: a.a.O., § 26. Friedrich Schleiermacher: a.a.O., § 6. Vgl. nach wie vor Hermann Timm: Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher - Novalis - Friedrich Schlegel, Frankfurt/Main 1978, 11–22.
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die im Zeichen der bisher genannten Beobachtungen und Erfahrungen konkretisiert wurde.
IV
Ein theologisches Propädeutikum: Glaube – Religion – Christentum
Propädeutik soll weder als Sammelsurium theologischer Disziplinen in ihrer faktischen Verfassung gelehrt noch auf die Systematische Theologie im engen Sinn beschränkt werden (Dogmatik, Ethik, Religionsphilosophie). Propädeutik ist vielmehr eine systematisch-theologisch verantwortete Enzyklopädie theologischer Elementarbegriffe. Bei der Vorstellung meines Vorschlags verweise ich absteigend auf die an Schleiermacher gewonnenen Impulse. Fallweise finden sich auch Rückbezüge auf den Bolognaprozess. 3. In der Propädeutik muss man Elementarbegriffe wählen, an denen sich das lebendige genealogische Wurzelwerk des theologischen Begriffsgebrauchs zeigen lässt. Diese elementare Lebendigkeit besteht darin, dass sich der betreffende Begriff gerade nicht vereinheitlichen lässt. Oft entzieht sich etwas an ihm, verschiedene Auffassungen sind möglich, und metaphorische Mehrdeutigkeit ist inbegriffen. So ist Glaube ein Terminus, ohne den Theologie nicht formuliert werden kann, und wäre es in der ausdrücklichen Negation. Zugleich repräsentiert der Glaubensbegriff seit je (Paulus) und vehement (Athanasius d. Gr.) die Grenze der intellektuellen Anstrengung, er steht der philosophischen Theologie auch entgegen. Daneben ist er für die reformatorische Genealogie der evangelischen Theologie zentral. Und welche theologische Teildisziplin würde sich nicht heuristisch oder hermeneutisch auf ihn beziehen? Religion ist ein vergleichbarer Begriff, allerdings erst seit der Frühen Neuzeit. Als philosophisches Korrektiv zur Offenbarungslehre eingeführt bezeichnet Religion Gottesverehrung durch natürliche Gotteserkenntnis. Das ändert sich jedoch. Die Übergänge zur kulturalistischen Deutekategorie sind ebenso vielfältig wie brüchig. Lebendig ist der Religionsbegriff in seiner Totsagung geblieben und unentbehrlich als Kategorie gesellschaftlicher Verständigung über Theologie und Kirche. Die Rede vom Christentum scheint unproblematisch, sie verdankt sich aber einer Konfliktgeschichte. Spät erst tritt eine Theorie des Christentums in Erscheinung, die in der Überlieferung des Christentumsbegriffs selbst unbeantwortete Fragen entdeckt. Ihre Leistungskraft besteht nicht zuletzt darin, den hermeneutischen Zirkel der Glaubensdogmatik und die Genealogie der Religionstheo-
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logie zu erkennen und sich als ethische Freiheitstheorie von beiden zu emanzipieren. Glaube, Religion und Christentum stehen nicht nur für Denkmodelle der Theologie. Die Auswahl hat auch historiographischen Bezug. Die drei Begriffe können als Epochenunterteilung der Geschichte evangelischer Theologie im Sinne von Troeltsch (und damit auch ein wenig im Sinne Schleiermachers) verstanden werden. Am Anfang des Protestantismus steht der Glaube, als Elementarbegriff besonders aus der Bibel erhoben, dabei jedoch ganz neu in seiner subjektiven Abschattung. Durch die altprotestantische Lehrbildung, die sich mehr und mehr als Rationalisierung eines vorauszusetzenden Glaubens entfaltet, bedarf die Theologie schließlich neuer elementarbegrifflicher Unterscheidungen. Hier sichtet der Religionsbegriff kritisch. Er ist zunächst Instrument einer intellektuellen Elite, wird aber in romantischer Verwandlung zunehmend zur Selbstbeschreibung der Meisten. Kritische Absichten wechseln dabei mit konstruktiven, bis der Religionsbegriff in mancher Sichtweise bis zur Unverwendbarkeit verschwimmt. Die Rede vom Christentum öffnet ein anderes Feld. Sie reicht epochengeschichtlich als Frage nach dem wahren Christentum tief in die Genealogie der Neuzeit hinab. Sie begleitet sämtliche Erneuerungsbewegungen der nachreformatorischen Ära bis in die ökumenische Bewegung und in Umformungsgestalten des modernen Christentums. Als epochemachende Denkmodelle der Theologie sind alle drei Elementarbegriffe miteinander unverrechenbar in ihrer Leistungskraft. Sie haben ihre konstruktive Größe gegen allen historischen Wandel, werden durch diesen Wandel aber auch geschwächt. Gemeinsam umschreiben sie sozusagen das terminologische Schicksal der evangelischen Theologie. 2. Der folgende Plan für 12 Sitzungen (bei einigen Verlängerungen) bündelt im vorliegenden Kontext Genanntes und weist auf Anderes voraus: Theologische Propädeutik Orientierung I. Glaube 1. Vertrauen, Erkennen, Bekennen 2. Das Apostolicum – ein Glaubenstext 3. Glaube in der reformatorischen Theologie 4. „Gerecht aus Glauben“ – Ein evangelischer Elementarsatz
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II. Religion 1. Umgang mit Kontingenz 2. Kurze Geschichte des Religionsbegriffs 3. Religion und moderne Theologie 4. „Religion haben“ – Eine alte Redewendung für die Gegenwart III. Christentum 1. Das Christentum – kein selbstverständlicher Begriff 2. Konfessionskirchliche Erscheinungsformen 3. Kulturelle Erscheinungsformen 4. „Theologie treiben“ – Zur Theorie des Christentums Ich kann diese Variante eines Propädeutikums hier natürlich nur andeutungsweise vorstellen. Der Plan soll andeuten, wie die drei Begriffe enzyklopädisches Wissen in Theologie elementar vermitteln. Einfältige Symmetrisierung ist ausgeschlossen. Zwar kehren historisch–systematische Fragestellungen überall wieder, doch erhält jeder Elementarbegriff seine eigene Signatur. Diese besteht aus phänomenologischen Annäherungen (I.1, II.1) oder Konkretionen (III.2f.), historisch zusammenfassenden Intermezzi (II.2, III.1) oder auch aus der Behandlung besonderer Texte (I.2, Luther in I.3, Schleiermacher in II.3). So hat beispielsweise die Vorstellung des Apostolicum keine direkte Entsprechung in II oder III. Sie ist an ihrem Ort zwar augenscheinlich sinnvoll, folgt aber auch einem pragmatischen Motiv: Die Kenntnis elementarer Texte (Vaterunser, Zehn Gebote, Apostolicum) fehlt erfahrungsgemäß nicht nur konfessionell ungebundenen 'Eindringlingen' in die Theologie. Solche Kenntnisnahme ist gewiss kein enzyklopädischer Erkenntnisakt, aber eine gute Voraussetzung dafür. Die enzyklopädische Orientierung in dieser Propädeutik erfolgt in Gestalt verschiedener Wissensformen. Anders geht es schon wegen der Textarten nicht, auf die in rein systematisch–theologischer Perspektive hingewiesen werden muss, erst recht aber, sofern die anderen Disziplinen auch materialiter gestreift werden. Solide ist dies nur durch historisch-systematische Konstruktion möglich. Das heißt, materiales Wissen aus anderen Disziplinen wird immer schon auf seine Genealogie und sein Potenzial für die theologische Begriffsbildung hin bearbeitet. Andernfalls bekäme man stofflich Probleme und würde außerdem übergriffig. Ein Beispiel für das Gemeinte bietet die Darstellung der Rechtfertigungslehre in I.4. Auf I.3 fußend vermittelt sie theologisches Kernwissen. In drei Punkten – 'Gottvertrauen und befreites Selbstgefühl', 'Vertrauen aufeinander und politischer Freiheitsgebrauch', 'Weltvertrauen und die Befreiung von Wissenschaft und Kunst' – wird aber auch die Bedeu-
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tung des Lehrorts für jenes neu Gestaltete gezeigt, dessen geschichtliche Bedeutung – mit Schleiermachers Worten – nicht zu übersehen ist. Schließlich ist darauf hinzuweisen, wie sich die Gliederungspunkte auch dort mit den Interessen anderer theologischer Disziplinen berühren, wo es der Plan nicht benennt. So erörtert II.1 biblische Texte, deren Verständnis von Gottes inkommensurablem Handeln einer rein funktionalistischen Religionstheorie entgegensteht. II.4 benennt geschichtliche Veränderungen, die die Materialbasis der europäischen Religionswissenschaften prägen und über nationale bzw. imperiale Wissenskulturen entscheiden. Und III.2 entfaltet eine ökumenische Variante der Christentumstheorie aus dem deskriptiven Potenzial protestantischer Ekklesiologie. All diese Beispiele zeigen im Blick auf die systematisch–theologische Übernahme der propädeutischen Aufgabe im entscheidenden Punkt dieselbe Biegsamkeit in der Deskription und Festigkeit gegenüber der Heterogenität theologischer Begriffsgeschichten. 1. Schließlich ist auf die mit diesem Propädeutikum verbundene Bildungsabsicht einzugehen. Für ihre Grundzüge wurde Schleiermacher zitiert – Veränderungen im Bildungsbedarf, im Schulwesen oder in der kulturellen Kanonbildung ließen hier allerdings jede Legitimationsabsicht zur Simulation des Unmöglichen werden. Mit den funktionalen Bestimmungen von Schleiermachers theologischem Bildungsprogramm lässt sich dagegen auch auf die Funktionalität mancher Impulse der Bolognareform zurückkommen. Die Gliederungselemente verfügen über je einen Punkt, an dem sich eine alternative Moderation der Lehre mit studentischer Initiative verbindet: So widmet sich I.1 vorhandenen Vorverständnissen vom Glauben. II.1 stellt die prekäre Frage der religiösen Kontingenzbewältigung nicht nur durch Theoriereferat, sondern mithilfe von Erzeugnissen der Massenkultur. Und III.2 operiert mit einem anonymen Fragebogen zur konfessionellen Herkunft. Die plenare Behandlung solcher Arbeitsschritte verbindet kleine materiale Erkenntnisfortschritte mit den oben ausgeführten kommunikativen Vorteilen eines Propädeutikums. Berufliche Leitbilddebatten lassen sich an die hier genannten Diskursausschnitte mühelos anknüpfen (Glaube und Professionalität, Kontigenzwaltung statt –bewältigung,18 Umgang mit den Erscheinungsformen des Christentums). Im je vierten Gliederungspunkt verdichten sich die Elemenentarbegriffe programmatisch. Hier wird insbesondere die Leistungskraft des jeweiligen Elementarbegriffs und seine Unverrechenbarkeit als theologisches Paradigma entfaltet (Dogmatik des Glaubens, Theologie der Religion, Theorie des Christentums). Vor allem 18 Vgl. kritisch gegenüber dem Bewältigungskonzept Hermann Timm: Poiesis und Mimesis. Kontingenzwaltung nach Dichters Art, in: ders.: Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996, 31–48.
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hier ist der Ort, auf positionelle Differenzen zwischen den Denkmodellen einzugehen. Ziel ist jedoch, nicht nur Problem-Überstände zu vermitteln und damit die studentische Initiative einzudämmen. Überproblematisierungen sind vielmehr assertorisch zu steuern, um den Studierenden etwas 'mitzugeben', das mehr ist als ein intellektuelles Werkzeug (szientistischer Formalismus), aber weniger als die Weltanschauung des Lehrenden (metaphysischer Substanzialismus).19 Ein letzter Aspekt in der Bestimmung des propädeutischen Bildungsprogramms ist, dass dessen Aufbau eine christentumstheoretische Linie zu begünstigen scheint. Diese Positionalität könnte irritieren. Eine theologische Position ist damit zwar verbunden, doch sichert der distanzierte christentumstheoretische Blick auf überlieferungsgeschichtliche Dynamiken, theologische Zentralbegriffe oder Kirchenmitgliedschaftsfragen den wissenschaftlichen Ertrag des Propädeutikums. Insofern verdankt sich der Aufbau der Lehrveranstaltung einer inneren Logik der letzten großen Rubrik. Damit ist dann auch ein Ertrag des Propädeutikums für jene Studierenden möglich, die aus dem Aufbau der Lehrveranstaltung und den Bezugnahmen zwischen den Gliederungsabschnitten einen beherzten Anfang im wissenschaftlichen Denken machen wollen. Eine enzyklopädische Anregung durch Propädeutik bedarf der Distanznahme, die eben durch die Erkenntnishaltung der Christentumstheorie möglich ist. Als Fazit zum Ganzen sei auf den Zusammenhang von Reformkommunikation und propädeutischer Bildung verwiesen. Der Bolognaprozess ist wie alle Reformen seit den späten 1960er Jahren höchst ambivalent gegenüber Bildungsprozessen und dem Bildungsbegriff selbst. Eine kritische Reflexion der universitären Lehre, die das Lernen neu an denen orientiert, die etwas davon haben sollen, wird eine überproblematisierende Lehre assertorisch korrigieren, aber auch Bildungsprozesse auslösen und begleiten. Alledem dient das hier vorgestellte propädeutische Modell. Es setzt auf starke Orientierung an den Studierenden (Reform) bei gleichzeitiger enzyklopädischer Intention (Bildungsabsicht). Nichts wäre fataler für die evangelische Theologie, als wenn ihr reformbedingt die Mittelschicht der Bildung wegbräche. Diese Schichtung ist vital für den Pfarr– wie auch Lehrberuf. Bildung als Fähigkeit zur selbständigen Ergänzung von Kenntnissen und Fertigkeiten (vgl. Modulsprache) – sie kehrt durch die Hintertür der Bolognareform zurück, als Forderung des Tages. Damit theologische Bildungsprozesse gelingen können, bedarf es verstärkten Einsatzes in der Lehre – auch auf die Gefahr hin, dass die dabei erzielten Fortschritte kleiner sind, als sie ausschauen.
19 Vgl. zu Desorientierungserfahrungen und Reformbedarf Günter Thomas: a.a.O., 98.
Theologie als Wissenschaft in institutionstheoretischer Betrachtung Zweihundert Jahre nach Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums“1 Dietrich Korsch In diesem Vortrag geht es mir darum, vier Thesen zu untermauern: 1. Das Selbstverständnis der evangelischen Theologie als Wissenschaft ist überwiegend dasjenige einer historischen Disziplin; so wird die Theologie auch von anderen Wissenschaften wahrgenommen. Damit ist die Theologie abhängig von dem Nachweis ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit. 2. Dieses Selbstverständnis der Theologie als Wissenschaft wird von den Kirchen grundsätzlich unterstützt, indem sie sich selbst in ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft darzustellen versuchen. Der Erfolg dieser Selbstdarstellung hängt an immer noch vorhandenen gemeinsamen Interessen der politischen und kirchlichen Öffentlichkeit. 3. In den kommenden Jahren wird man sich auf eine stärkere Differenzierung zwischen gesellschaftlicher Kultur, Politik und Kirchen einstellen müssen. Die Kirchen können diese Entwicklung so aufnehmen, daß sie sich nicht nur intern, sondern auch gesellschaftlich entschiedener als religiöse Institutionen verstehen. 4. Entsprechend kann der Theologie empfohlen werden, sich als kritische Reflexion der Religion aufzufassen, an der nicht nur ein kirchliches, sondern auch ein gesellschaftliches Interesse besteht. Das hat eine maßvolle Umgestaltung der Fakultäten zur Folge.
I Für die wissenschaftstheoretischen Debatten der evangelischen Theologie nimmt Schleiermachers kleine Enzyklopädie, in erster Auflage 1811, in zweiter Auflage 1830 erschienen, den Rang des unbestrittenen Klassikers an, den dem sich alle Positionen orientieren. Das war vor vierzig Jahren noch anders; weder 1
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen unter dem Titel: Zweihundert Jahre nach Schleiermachers „Kurzer Darstellung des theologischen Studiums“: Wie unterscheidet sich die Theologie von anderen wissenschaftlichen Disziplinen?, in: Hans-Michael Heinig, Hendrik Munsonius, Viola Vogel (Hg.), Organisationsrechtliche Fragen der Theologie im Kontext moderner Religionsforschung, Tübingen 2013, 3-15.
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wurde die Frage nach der Theologie als Wissenschaft so intensiv behandelt noch war die Referenz auf Schleiermacher einvernehmlich. Im Vergleich zu Schleiermachers Skizze findet etwa die universalgeschichtstheoretische Konzeption der Theologie bei Wolfhart Pannenberg heute fast gar keinen Anklang, von weicheren kulturtheoretischen und orientierungswissenschaftlichen Ansätzen ganz zu schweigen.2 Dieser Einvernehmlichkeit im Blick auf Schleiermachers Bedeutung steht freilich gegenüber, daß sich sehr unterschiedliche Auffassungen von der Theologie als Wissenschaft auf ihn berufen, eine hermeneutischkulturtheoretische Deutungstheologie wie etwa bei Wilhelm Gräb ebenso wie eine ontologisch-realistische Weltanschauungstheologie bei Eilert Herms3. Ich nehme diese Tatsache, daß der gemeinsame Rekurs auf Schleiermacher keineswegs zu einer Übereinstimmung im Verständnis der Theologie als Wissenschaft führt4, als Ausgangspunkt für meine These, daß die Behauptung der Wissenschaftlichkeit der Theologie gar nicht an dieser oder jener theoretischen Konzeption hängt, sondern an institutionellen, gesellschaftlichen und kirchlichen Voraussetzungen. Wenn es eine maßgebliche Veränderung seit Schleiermachers Grundlagentext gegeben hat – ich komme auf sein Werk nachher noch einmal zurück –, dann besteht diese in einer Veränderung des Kontextes, die es wenig geraten sein läßt, den Anschluß an ihn unmittelbar vorzunehmen und darauf zu setzen, daß die Rekonstruktion einer solchen, höchst eindrücklichen, Position schon einen Einfluß auf die tatsächlichen Verhältnisse auszuüben imstande wäre. Zu dieser Beobachtung vom institutionellen Vorrang in der Frage nach der Theologie als Wissenschaft paßt einmal, daß es vergleichbare Debatten etwa in der Physik nicht gibt, nicht einmal in der Biologie, für die man ja die Spannung zwischen einer historischen und einer experimentellen Grundlagentheorie durchaus diskutieren könnte. Selbst die Philosophie ist von einer derartigen Diskussion unbetroffen; Philosophie wird selbstbewußt betrieben, auch wenn sie – 2
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Vgl. die plausible Übersicht bei Georg Pfleiderer, „Theologie als Universitätswissenschaft“. Recent German Debates and What They (Could) Learn from Schleiermacher, in: Brent W. Sockness, Schleiermacher, the Study of Religion, ant the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, Berlin, New York 2010, 81–96. Wilhelm Gräb, Religion als humane Selbstdeutungskultur. Schleiermachers Konzeption einer modernen Glaubenslehre und Glaubenspredigt. in: Wilhelm Gräb / Notger Slenczka (Hg.), Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher (AsTh 4), Leipzig 2011, 241–254. Eilert Herms, Theologie an der Universität. Die Gegenwartsrelevanz von Schleiermachers Programm, ebd., 24–50. Georg Pfleiderer, Die Theologie zwischen Universität und Kirche: Quo vadis?, ebd., 274–300, hier: 282–286.
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worauf ja Heidegger explizit Wert legte – keine Wissenschaft ist, sondern sich statt dessen etwa als Fundamentalontologie versteht (oder wie immer man ihren Status benennen wollte). Zweitens paßt zur Theorieunabhängigkeit des wissenschaftlichen Charakters der Theologie, daß wir alle, die wir an der Universität tätig sind, uns selbstverständlich als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auffassen, welche Hintergrundsüberzeugungen wir vom Charakter der Theologie auch haben. Selbst barthianische Skeptiker hinsichtlich der Möglichkeit und Triftigkeit eines die Theologie einschließenden Wissenschaftsbegriffs werden auf ein wissenschaftliches Selbstverständnis nicht verzichten wollen. Drittens spricht für die Vorgängigkeit des institutionellen Wissenschaftscharakters der Theologie die Tatsache, daß es an unseren Universitäten ja die herkömmlichen Einheiten, an denen professionelle und klassische Theologie getrieben wird, nach wie vor gibt, ob sie sich nun Fakultäten, Fachbereiche oder wie auch immer nennen mögen. Und selbst da, wo man, wie in Hamburg oder Erlangen, diesen Status abgeschafft zu haben scheint, kehren Sonderregelungen für die Eigenständigkeit wieder zurück. Wählen wir also einmal einen institutionsanalytischen Zugang zum Thema der Wissenschaftlichkeit der Theologie. Wer bestimmt, was theologische Wissenschaft ist? Ich nenne acht Instanzen: Die DFG, das überregionale Feuilleton, die Drittmittelgeber, der Wissenschaftsrat, die Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie (WGTh), der evangelisch-theologische Fakultätentag (EFT), der Kontaktausschuß zwischen dem Rat der EKD und dem Fakultätentag, die Redaktion der Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK). Die Vielfalt der Instanzen, über deren Verflechtung man trefflich weiter nachsinnen könnte, reduziert sich in ihrer Komplexität rasch, wenn man auf die starken personellen und fachlichen Kohärenzen achtet, die in ihnen zu finden sind. Dem institutionsanalytischen Blick ist es dabei selbstverständlich nicht um Personen als Individuen zu tun, sondern um Funktionszusammenhänge, die Personen einschließen. Wenn man sich die Liste der 175 durch die DFG geförderten EinzelantragsProjekte ansieht, dann kann man etwa 10 davon der systematischen Theologie zurechnen, vielleicht 12 einer eher empirisch orientierten Praktischen Theologie, noch einmal circa 12 der Religionswissenschaft – der Rest, also 140 Projekte, fällt in die Kirchengeschichte und die beiden exegetischen Disziplinen, also in die historische Theologie. Zu diesem Bild paßt, daß die Kirchengeschichte im (ev.-theologischen) Fachkollegium der DFG stets überrepräsentiert ist (2004– 2007 mit zwei von drei, 2008–2011 mit zwei von vier, 2012–2015 drei von vier Mitgliedern). Dazu paßt, daß unsere beiden Leibnizpreisträger, auf die wir stolz sind, ebenfalls der historischen Theologie zuzurechnen sind (das gilt übrigens für den katholischen Leibnizpreisträger auch). Nimmt man diesen ja leicht fest-
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stellbaren Befund für repräsentativ, dann muß man sagen, daß das Bild der Theologie als Wissenschaft vor allem durch ihre methodische Teilhabe an der Geschichtswissenschaft bestimmt ist – was immer man sonst konzeptionell auch anderes sagen mag. Ich will nun nicht alle anderen Instanzen, die ich nannte, im einzelnen durchgehen. Man sieht aber (und das ist ja auch begrüßenswert), daß vor allem die Leibnizpreisträger den leichtesten Zugang zum Feuilleton der großen Zeitungen haben und damit Aufmerksamkeit erregen können – ob das, was dort gesagt wird, einem dann im einzelnen paßt oder nicht, steht, wie immer, dahin. Die WGTh profiliert die Theologie nicht nur durch ihre Kongresse und die Einladungen zu den Hauptvorträgen, sondern auch durch Vorschläge für das DFG– Fachkollegium. Im Redaktionskreis der ZThK bündeln sich auf eindrückliche Weise Funktionen in vielerlei Gremien in Gestalt der Personen von hochgeschätzten Kolleginnen und Kollegen – auch dort ist übrigens die Kirchengeschichte mit insgesamt vier (von dreizehn) Mitgliedern, darunter der Hauptherausgeber, die stärkste Disziplin.5 Insgesamt bestätigt sich damit, nach meiner Beobachtung, der Eindruck, daß es sich bei der gegenwärtigen Theologie als Wissenschaft um eine grundsätzlich historische Disziplin handelt. Nun wäre das ja kaum weiter kommentierungsbedürftig, ergäben sich nicht auch religions- und kulturpraktische Konsequenzen aus diesem Sachverhalt. Eine historische Wissenschaft nämlich muß ihre gesellschaftliche Akzeptanz über ihre Betonung ihrer kulturellen Relevanz dartun. Damit aber ist die Theologie ganz auf das Gleis einer gesellschaftlich tragenden Wertewissenschaft geschoben – auch dann, wenn sich diese Wertewissenschaft als kritische Reflexion von religiös grundierten Letztüberzeugungen konkretisiert. Es geht dann immer um den Nachweis der gesellschaftlichen Kompatibilität der Religion und insbesondere des Christentums. Selbstverständlich kann man diesen Aspekt nicht vernachlässigen – es ist aber sehr die Frage, ob sich auf diesem Grund eine evangelische Theologie behaupten läßt. Die Betonung der kulturellen Relevanz einer vornehmlich historisch ausgerichteten Theologie stellt nun, religionspraktisch, auch den Ort dar, an dem die Kirchen als Institutionen ihre Rolle für die Wissenschaftlichkeit der Theologie spielen. Mit dem Anspruch auf historische Bedeutung verbindet sich nämlich der Anspruch auf konfessionelle Bestimmung der Theologie – und alle drei Aspekte: geschichtliches Gewordensein, aktuelle Wertedeutung und konfessionelle Ausprägung des Christentums, laufen zusammen in die bei uns geltenden staatskirchenrechtlichen Regelungen. Der Fakultätentag und die Kontaktkommission 5
Der in der Kirchengeschichte habilitierte Bischof Prof. Dr. Martin Hein wird in der internen Fachgruppenzuteilung der Praktischen Theologie zugerechnet.
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mit der EKD treten als Transmissionsriemen dieser Verbindung von kultur– und religionspraktischen Impulsen in Funktion. Für die Kirchen hat diese Lage freilich eine doppelte und nur schwer miteinander zu vereinbarende kommunikative Konsequenz. Einerseits nämlich, nach außen, sind sie mit der Aufgabe betraut, die soziale Wünschbarkeit evangelischen Christentums in der Gesellschaft darzutun; nach innen aber pflegen sie eine an reformatorischen Formeln geschulte biblische Redeweise, mit der allein auch religiöse Vergemeinschaftung zu erzielen ist.6 Die Klammer zwischen beiden Seiten stellt – noch – die öffentliche Repräsentanz der Religion in der Gesellschaft dar. Daraus erwächst für evangelische Landeskirchen so etwas wie die katholische Versuchung, nämlich sich selbst als Instanzen der Rechtmäßigkeit authentischer Vertretung des Christentums in der Gesellschaft zu gerieren. Die Konfessionsbindung unserer Fakultäten nicht auf diesem Konto zu verrechnen, dafür bedürfte es schon einiger argumentativer Anstrengung. Eine historische Grundanlage der evangelischen Theologie als Wissenschaft, ein kulturpraktischer Anspruch des Christentums mit seiner wissenschaftlichen Theologie, eine konfessionelle Gestalt der Theologie an den Universitäten – diese drei Aspekte prägen den Charakter der Theologie als Wissenschaft, läßt man sich einmal auf einen institutionsanalytischen Blick ein.
II Es ist tunlich, an dieser Stelle und aus dieser Perspektive noch einmal auf Schleiermachers „Kurze Darstellung“ zurückzublicken. Bekanntlich hatte Schleiermacher für die Theologie ja drei unterschiedliche Verfahrensarten oder Arbeitsbereiche vorgeschlagen: die philosophische Theologie (als Disziplin eine Neuerfindung Schleiermachers!), die die Verbindung zur Kulturtheorie seiner philosophischen Ethik wahrnimmt; die historische Theologie mit den Disziplinen der Exegese, der Kirchengeschichte und der Dogmatik sowie der kirchlichen Statistik; die praktische Theologie mit ihrem Gesamtzweck der Kirchenleitung und ihren Untergliederungen von Kirchenregiment und Kirchendienst. 6
Diese beiden Seiten nicht deutlich unterschieden zu haben, ist übrigens das Manko der Vorlage der EKD zum Studium der Theologie unter dem Titel: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie in Gesellschaft, Universität und Kirche. Ein Beitrag der Kammer der EKD für Theologie, EKD–Texte 104, 2009. Das Papier spricht mit vollmundigen Worten, hinkt aber auf beiden Seiten, indem es zwischen dem historischen Körper der Theologie und dem geistlichen Grund und Ziel des evangelischen Christentums nicht genau unterscheidet.
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Konzeptionell hat diese Aufteilung der Theologie nirgends, behaupte ich, Konsequenzen hinterlassen. Statt dessen begnügen wir uns in der Regel mit dem Schematismus von fünf Disziplinen und einigen Beifächern. Dagegen sind bis heute die Metaphern geläufig, mit denen Schleiermacher diese Ordnung der Theologie veranschaulichte; danach bildet die philosophische Theologie die Wurzel, die historische Theologie den Körper, die praktische Theologie die Krone des theologischen Studiums7; im Gespräch vor allem mit den praktischen Theologen bleibt kaum jemals aus, sich auf Schleiermachers vermeintlichen Ehrentitel zu berufen (der freilich ja nicht unsere gegenwärtig so genannte Disziplin meint!). Gegen Schleiermachers wohlgefügtes Bild spricht nun meine Beobachtung von vorhin. Denn man müßte sagen: Die Wissenschaftlichkeit der Theologie konzentriert sich auf das, was bei Schleiermacher „Körper“ heißt; die Wurzel bleibt ganz aus dem Spiel – was zur Folge hat, daß der praktischen Krone der lebendige Saft ausgeht. Blickt man nämlich einmal auf die institutionstheoretische Seite, die mit Schleiermachers Theologiekonzept verfolgt wird, dann muß man dem Raumanspruch der historischen Theologie entschieden widersprechen. In nichts Anderem nämlich lag Schleiermachers pragmatische Absicht als in einer Depotenzierung der Ansprüche der Bibelwissenschaften und der Dogmatik, die mit der Kirchengeschichte der historischen Theologie eingeordnet werden. Unmittelbare „biblische Begründungen“ oder derlei sollten eben in die Geschichte eingezeichnet werden, unveränderliche „Dogmen“ und vergleichbare Ansprüche sollten ebenso historisch relativiert werden, eingepaßt in das Konzept einer überhaupt erstmals reflektierten und projektierten religiösen Selbststeuerung der Kirche. Dazu aber ist es nötig, die philosophische Theologie mit der praktischen Theologie im Sinne Schleiermachers zu verbinden – und den historischen Körper dieser Spannung einzuordnen (statt aus der Geschichte „Folgerungen“ zu ziehen, „Anwendungen“ vorzunehmen oder „Übersetzungen“ zu versuchen)8. Der Sinn der philosophischen Theologie besteht bekanntlich darin, sich über das Wesen des Christentums Rechenschaft zu geben und dieses – mit den Mitteln der historischen Theologie, aber nicht unter deren Botmäßigkeit – in der Kultur der Gegenwart zur Geltung zu bringen. Das Wesen des Christentums aber ist keine wissenschaftliche Definition, sondern nichts anderes als die von Jesus von Nazareth ausgehende Kraft der Erlösung, wie sie sich im christlichen Gemeingeist als Gesamtleben zur Geltung bringt. Schleiermachers Kulturkonzept, auf 7 8
KD1, Einleitung § 26.31.36. Vgl. die primäre Zuordnung von philosophischer Theologie und praktischer Theologie KD1 § 26–31 und die Einordnung der historischen Theologie, aaO., § 34–36.
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das die Theologie bezogen wird, ist also alles andere als ein deskriptiver Versuch der Einordnung der Christentums unter die Kulturpotenzen; es registriert die kulturelle Lage mit der Absicht, die Eigenart, das Wesen des Christentums, seine religiöse Dynamik, zielgenau zur Geltung zu bringen. Darum besitzt auch die „Kurze Darstellung“ selbst keinen definiten Ort in Schleiermachers Theologiesystematik, sondern kann als Reflex der praktischen Selbstdarstellung des Christentums verstanden werden. Dieser praktisch-pragmatische Zug Schleiermachers, der eine Kritik an der Grundverfassung der Theologie als historische Wissenschaft einschließt, regt nun zu folgenden Überlegungen an.
III Ich entnehme Schleiermachers Impuls die Aufgabe, die Theologie als Wissenschaft zuerst der Kirche zuzuordnen und erst dann und in zweiter Linie in die Gesellschaft einzuordnen. Es wird sich zeigen, daß die darüber zustande gekommene Verbindung tragkräftiger ist als ein Versuch, den Wert des Christentums unmittelbar auf die Gesellschaft zu beziehen. Wenn man nun fragt, wie sich die Theologie auf die Kirche zu beziehen hat, dann ist an das Verständnis von Kirche im evangelischen Sinn zu erinnern. Nach dem in der Kirche oft gepflegten reformatorischen Sprachgebrauch bildet sich die Kirche aus dem Hören des Wortes Gottes, also der unmittelbaren Anrede durch Gott im Wort der Verkündigung. In Schleiermachers Sprache geredet, müßte man sagen: Die von Jesus von Nazareth ausgehende Kommunikationsbewegung bildet einen historisch unerschöpflichen Strom, der Menschen in seinen Wirkungskreis zieht, durch welchen sich in ihnen ein reines Gottesbewußtsein als Grund ihres Selbstbewußtseins ausbildet. Von diesem Verständnis der Kirche her ist dann auch der Sinn kirchlicher Lehre zu bestimmen, das heißt der elementaren Bedingungen und Strukturen, von denen her und in denen diese Kommunikation so laut wird, daß es zu solchem Selbstverständnis kommt; reformatorisch ausgedrückt: daß der Glaube als Antwort auf das Wort Gottes geschieht. „Lehre“ entsteht daher nicht als Voraussetzung und Vorgabe der Verkündigung, sondern aus der religiösen Kommunikation selbst. Das unterscheidet die evangelische Kirche elementar von der katholischen. Der Sinn der kirchlichen Organisation ist nicht eine Bestimmung der Lehre, sondern die Sorge dafür, daß die Kommunikation des Evangeliums weitergeht – und zwar gerade mit der Akzentsetzung, daß lebendige Kommunikation des Geistes Christi im menschlichen Wort aller kirchlichen Ordnung und Verlautbarung vorhergeht. Insofern ist die Institution unserer Landeskirchen (im Plural) eine geradezu höchst sinnvolle Hemmschwelle, mehr tun zu wollen, als für eine Kontinuität
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der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu sorgen; eine Einheitskirche wäre von der Versuchung, die Lehre zu bestimmen, noch direkter betroffen. Die Zuordnung von landeskirchlicher Struktur und religiöser Kommunikation, die ihr übergeordnet ist, veranschauliche ich meinen Studenten gern an unserer kurhessischen Ordination. Sie vollzieht sich immer als Gemeinschaftsordination der soeben Zweitexaminierten an wechselnden Orten – und ist so etwas wie eine große gesamtkirchliche Konfirmationsfeier. Eine Feier freilich, mit der die dort Gesegneten und Gesendeten in die Freiheit der selbstverantworteten Verkündigung des Evangeliums entlassen werden. Die mit der Ordination in der Regel verbundene Einstellung in den kirchlichen Dienst ist darum ipso facto eine Freilassung in das Amt der am religiösen Ursprung orientierten religiösen Kommunikation, das als solches gerade nicht seine Vorgaben von der Kirchenleitung erhält. Vielmehr ist, wenn das evangelische Verständnis der Kirche nicht verkehrt werden soll, die Kirchenleitung umgekehrt der Kritik aus der Praxis der Verkündigung und ihrem auf den Glauben konzentrierten Sinn ausgesetzt und unterworfen. Analog – also vergleichbar, aber mit einem spezifischen Unterschied versehen – steht es auch mit dem Verhältnis von Kirche und Theologie. Mit der wissenschaftlichen, also den üblichen Methoden regelhafter und kritisch bewährter Erkenntnisgewinnung folgenden Theologie nimmt die Kirche als Institution eine Instanz der Kritik in Anspruch, die ihr dazu hilft, Kirche zu sein und zu bleiben. Kritisch ist die Theologie im Blick auf die Kirche darin – und darin eben auch ihr verpflichtet! –, daß sie sich auf die elementaren Aufbauformen des christlichen Lebens konzentriert. Also darin, daß sie den religiösen Sinn der biblischen Schriften in ihrem Gebrauch in der Geschichte wahrnimmt. Daß sie den Zusammenhang zwischen diesem Gebrauch der Schrift und ihrer lebendigen Mitte im Erlöser Christus, mit Schleiermacher zu reden, erfaßt. Daß sie die Geschichte der Kirche versteht als von diesem interaktiven Zusammenhang geprägt. Daß sie Lehrformen der Vergangenheit auf ihre Paßgenauigkeit für die aktuelle Verkündigung des Evangeliums hin untersucht und modellhaft rezipiert. Daß sie in der Besinnung auf die Praxisvollzüge der Kirche den Sinn der religiösen Verstärkung und Präzisierung des Glaubens wahrnimmt. Ihre Aufgabe als Kritik der Kirche nimmt die Theologie so wahr, daß sie um die Aufbauprinzipien der Kirche weiß und deren Sinn herausarbeitet und zur Geltung bringt – und damit zeigt, daß das christliche Gesamtleben, um mit einem Terminus Schleiermachers zu sprechen, weiter reicht als die Kirchenmitgliedschaft. Diese im engeren Sinne wissenschaftliche Aufgabe der Theologie ist nun aber von ihrer Ausbildungsaufgabe gar nicht getrennt. Denn eben indem durch die Theologie Subjekte befähigt werden, im Sinne des Evangeliums eigenverantwortlich Verkündigung zu treiben, wird die Selbstkritik der Kirche, die ihr
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hilft, bei ihrer Sache zu bleiben, befördert. Theologie als Wissenschaft und Theologie als Berufsausbildung dienen demselben Zweck. Die Theologie an theologischen Fakultäten unserer Universitäten unabhängig von der Kirche haben zu wollen, ergibt sich konsequent aus diesem Gedanken vom Wesen des evangelischen Christentums. Weil die religiöse Kommunikation im evangelischen Christentum sich eben frei vollziehen muß, wenn es zur Kirche Jesu Christi kommen soll, gibt es die Innenspannung zwischen ordinierten Verkündigern (und Verkündigerinnen) als Trägern des Predigtamtes und der kirchlichen Organisation unserer Landeskirchen. In der Ordination wird Menschen zugetraut und zugemutet, sich selbst für die sachgerechte Verkündigung einzusetzen – und dabei nicht als Agenten der Organisation, sondern als Boten des Evangeliums, als Verkündiger des von Jesus von Nazareth ausgehenden Gemeingeistes, aufzutreten. Das kann ihnen auch darum zugetraut werden, weil sie im Studium der Theologie gelernt haben, das Verständnis des Evangeliums sich selbst so zu erschließen, daß sie zu Aufbau und Kritik in der Lage sind. Weil die religiöse Kommunikation im evangelischen Christentum sich frei vollziehen muß, wenn es zur Kirche Jesu Christi kommen soll, gibt es darum die Außenspannung von Kirche und Theologie – und dafür ist es sinnvoll, daß die Theologie eben nicht an Ausbildungsstätten der Kirche gelernt wird, sondern an unabhängigen Fakultäten, wie man sie an öffentlichen, staatlichen Universitäten findet. Nun legt sich freilich sofort die Frage nahe, ob dieses Interesse der evangelischen Kirchen auch von seiten des Staates geteilt werden mag. Wenn man alle guten Gründe erwägt, wird die Frage eine positive Antwort finden. Ich ändere hiermit die Argumentationsrichtung. Bin ich bis jetzt in den Überlegungen zum Verhältnis von Kirche, Theologie und Wissenschaft von der religiösen Aufgabe der Kirche ausgegangen, schauen wir nun auf das Interesse der Gesellschaft an der Religion, die eine staatliche Einrichtung von theologischen Fakultäten, das heißt: eine wissenschaftliche Selbstreflexion konkreter geschichtlicher Religion motiviert. Natürlich kann man Religion zum Gegenstand historischer Forschung machen – wie es in der Religionswissenschaft geschieht (und es handelt sich methodisch um historische Forschung – eine spezifisch religionswissenschaftliche Methodik gibt es nicht). Aber damit kommt man dem Selbstverständnis der Religionen nicht bei – insbesondere dann, wenn sie selbst bereits eine interne, gar selbstkritische Reflexionspraxis ausgebildet haben. Dann ist es für die öffentliche Behandlung eines nicht unerheblichen Teils gesellschaftlicher Kommunikation vielmehr notwendig, diese spezifisch religions- oder konfessionsbezogene Reflexion in dem Maße zuzulassen und zu fördern, wie es zur Erkenntnis (also auch: zur Selbsterkenntnis) der religiös Engagierten nötig ist.
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Die Testfrage hinsichtlich der Präferenz von Religionswissenschaft oder Theologie hinsichtlich der auftretenden religiösen Phänomene in der Gesellschaft lautet: Was hülfe es, wenn eine religionswissenschaftliche Betrachtung installiert würde, deren Ergebnisse aber von den Angehörigen der untersuchten Religionen stets nur als Unverständnis oder Mißverständnis empfunden und kommentiert würden? Umgekehrt muß eine öffentliche Behandlung von Religionen auf der Ebene der Universitäten eine grundsätzlich freie und kritische Einstellung zur untersuchten Religion vorsehen; das kommt, jedenfalls für das evangelische Christentum, mit dem eigenen Interesse an Selbstkritik überein. Man könnte natürlich unter dieser Perspektive fragen, ob und inwiefern eine wissenschaftliche Theologie an der Universität getrieben werden kann, die das selbstkritische Potential der Theologie nicht kennt oder nicht zulassen will. Diese Frage ist insofern heikel, weil sich unter Umständen auch nicht alle christlichen Konfessionen auf diese kritische Funktion der Theologie einlassen mögen. Überdies müßte sich die zuletzt vermehrt betriebene Zulassung von kirchenspezifischen Ausbildungsstätten als Fachhochschulen einer solchen Rückfrage stellen. Und was das für die Etablierung islamischer Theologie an der Universität heißt, wäre ebenfalls zu überlegen. Immerhin wäre an diesen Stellen durchaus mit einer deutlicheren Differenz zu rechnen zwischen einem gesellschaftlichen Interesse an der reflexiven Aufklärung über Religion und einer möglicherweise wenig selbstkritikfreundlichen Haltung bestimmter Religionen oder Konfessionen. Daß die Gesellschaft daran interessiert sein muß, nur selbstkritischen Theologien eine institutionelle Basis zu verschaffen, ergibt sich aus diesem Gedankengang mit pünktlicher Schlüssigkeit. Für die evangelische Theologie jedenfalls gilt: Der ihrem religiösen Grundverständnis gemäße Ort einer theologischen Selbstkritik ist die Öffentlichkeit der Universität – und damit entsteht auch ein öffentliches Interesse an der Einrichtung solcher Theologie an unabhängigen Fakultäten, wenn anders die Gesellschaft die selbstreflexive Erörterung der Religion als kulturelle Errungenschaft der Ausprägung und Förderung von Freiheit festhalten will. Allerdings müssen wir jetzt die Optik noch ein wenig näher auf die Gestalt solcher Fakultäten einstellen, um deren eigentümliche Verfassung besser zu erkennen. Ganz offensichtlich ist es so, daß die Theologie sich – auch aus der Sicht der Universitäten und des Staates, der diese betreibt – von der Religionswissenschaft kategorial unterscheidet, indem die Religionswissenschaft die konstitutive Berücksichtigung des religiösen Selbstverständnisses in der Teilnehmerperspektive methodisch ausschaltet. Ganz offensichtlich ist es nach evangelischem Verständnis so, daß die theologischen Fakultäten nicht kirchliche Ausbildungsstätten sind, die qua Konvention und infolge günstiger Rechtslage in Deutschland den Kirchen helfen, die Kosten der Ausbildung zu reduzieren;
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ebensowenig sind die Fakultäten Brückenköpfe ideologischer Propaganda auf dem Feld ansonsten freier Wissenschaft. Wohl aber gibt es eine durchaus asymmetrische Interessenlage, die man sich nicht verhehlen darf. Denn einerseits, von den Kirchen aus gesehen, erfordert die genaue Wahrnehmung der Bestimmung des Wesens des Christentums im gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld eine wie auch immer durchgeführte Interpretation der religionsübergreifenden gesellschaftlichen Umwelt des Christentums; es versteht sich von selbst, daß diese Konstruktionen des Bodens und der Umstände religiöser Kommunikation von der Absicht, das Evangelium zu verkündigen, nicht schlechterdings unabhängig sein können. Es gibt daher ein theologisches Interesse, über die engeren Gegenstände der Theologie in ihrer Tradition hinauszugehen; die dann getroffenen Beobachtungen sind aber auch wiederum auf die religiöse Aufgabe zurückzubeziehen. Diese Wechselbeziehung steht allerdings in einem anderen Gefälle, wenn man die Sache aus dem Blickwinkel der Universität anschaut. Dann nämlich ist die theologische Selbstreflexion und Selbstkritik eine historisch unausweichliche Spezialform der Erkenntnisse über Religionen im Horizont einer anthropologischen, philosophischen oder soziologischen Religionstheorie, die von allen möglichen Interessen geleitet sein kann, nicht aber prinzipiell der aus Binnensicht der Religionsgemeinschaften generierten Außenperspektive entsprechen muß. Kirchenspezifische Theologie ist, so betrachtet, ein methodisch zu besondernder Teil der gesellschaftlichen Erkundung von Religion, er nicht einfach mit einer historisch arbeitenden Religionswissenschaft identifiziert werden darf. Nun ist es gerade diese asymmetrische Überlappung, die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten wissenschaftliches Standing verleiht und sie von Interessenagenturen der Kirchen im öffentlichen Raum unterscheidet. Unter den gegenwärtigen (rechtlichen und faktischen) Rahmenbedingungen nehmen wir Theologen an den Universitäten diese Asymmetrie in Personalunion wahr – was im individuellen Einzelfall auch gut möglich ist, was uns von anderen aber nicht immer entsprechend abgenommen wird. Es kennzeichnet schon jetzt wissenschaftliche Theologie an den Universitäten, daß sie die christliche Religion einerseits von innen heraus in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, andererseits in einer eben nicht christlich ausdefinierten Umwelt zu verorten bestrebt ist. Es würde die Klarheit der verschiedenen Interessen und die Erkennbarkeit der tatsächlich gegebenen Asymmetrie stärken, würde man diese Mehrperspektivität auch institutionell deutlicher sichtbar machen. Es würde dann auch durchaus die christlich-theologische Zielperspektive einer primären Verpflichtung zur Selbstkritik der Kirche fördern, also das Zwielicht auflösen, die Theologie sei in
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gleichem Maße dafür wie für die Wertbildung und Wertbetreuung in der Gesellschaft zuständig. Daß die Theologie eine Wissenschaft ist, steht, angesichts des Selbstverständnisses der sie betreibenden Personen, angesichts ihrer pluralen, aber stets nachvollziehbaren Methodik, angesichts ihrer institutionellen Einbindung in die Universitäten, zweifelsfrei fest. Aber das ist beinahe trivial und auf keinen Fall ihr Spezifikum. Dieses erwächst vielmehr aus der die Eigenart des evangelischen Christentums fördernden Verpflichtung zur Selbstkritik der Kirche. Dieser ist dann die gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Religion eingelagert. Eine unmittelbare Verantwortung der Theologie für die Wertbildung der Gesellschaft gibt es darum nicht. Wer eine solche etablieren wollte, würde die Theologie mittelfristig von den Universitäten entfernen – in dem Maße nämlich, in dem eine auf Umwegen wirksame staatlich geförderte Wertbildung in der Gesellschaft die Akzeptanz verliert. Was heißt das nun für eine künftige Gestalt theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten? Es ist die Frage, ob sich unsere Landeskirchen zutrauen, auf die im Schutze des – konfessionelle Unterschiede nivellierenden – Staatskirchenrechtes naheliegende Versuchung zu verzichten, die Fakultäten als Agenturen einer von ihnen, wenn nicht gesetzten, so doch verwalteten Lehre zu sehen. De facto ist das ja heute schon darum der Fall, weil mir bis jetzt noch niemand hat erklären können, von welchem Prüfmechanismus (außer der Kirchenzugehörigkeit mit ihren Konsequenzen) die Zustimmung der Landeskirchen im Falle der Besetzung von Lehrstühlen an unseren Fakultäten abhängt. Die Ordination, also der kirchliche Auftrag zu eigenständiger Verkündigung, ist jedenfalls kein Kriterium. Es ist daher die Frage, ob nicht in der Besetzung von Lehrstühlen, die sich speziell den Umwelten des Christentums widmen, eine größere Durchlässigkeit jenseits einer konfessionellen Homogenität der Fakultäten denkbar wäre – oder ob man an einer solchen festhalten möchte, weil man ansonsten um die Erosion des Prinzips fürchtet. Eine solche Befürchtung allerdings würde für ein – sei es kulturtheologisches, sei es katholisierendes – Selbstmißverständnis der evangelischen Kirchen sprechen. Die noch weitere Frage wäre dann, ob man nicht in Zukunft auf Fakultäten zugehen soll, die sich dem Charakter amerikanischer Divinity Schools annähern – Einrichtungen, in denen verschiedene konfessionelle bzw. religiöse SelbstUmwelt-Relationen in Gestalt von kritisch reflektierend tätigem Wissenschaftspersonal vertreten sind, und in dem nur die für die jeweils eigene Profession Ausbildenden über eine dezidierte Zugehörigkeit zu ihrer Kirche verfügen müssen (um die Innenperspektive selbst zu repräsentieren) – nicht aber die gesamte Fakultät homogen sein muß. Das würde im übrigen auch die Einrichtung noch weiter ausdifferenzierter konfessioneller Fakultäten verhindern und auch einer
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weitergehenden Konfessionalisierung verschiedener jüdischer oder islamischer Fakultäten – wie im Falle des Judentums gerade in Potsdam diskutiert – widerstehen. Solche Überlegungen zu konkretisieren, wird die Aufgabe künftiger Debatten sein. Hier kam es mit dem leicht veränderten Blick auf die Theologie als Wissenschaft nur darauf an, die christentumsspezifische Sicht der Theologie, ihren kritischen Kirchenbezug, zu stärken, der nicht nur in dem Maße sich nahelegt, wie die kulturellen Umstände sich ändern, sondern der auch durch das religiöse Selbstverständnis des evangelischen Christentums geboten ist.
Autorenverzeichnis Dietrich Korsch, Jg. 1949, Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg Andreas Kubik, Jg. 1973, Juniorprofessor für Hermeneutik neuzeitlicher Christentumspraxis an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Martin Laube, Jg. 1965, Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Michael Murrmann-Kahl, Jg. 1959, Privatdozent für Systematische Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien; Pfarrer in Neustadt an der Donau Constantin Plaul, Jg. 1981, Stipendiat der Graduiertenförderung der KonradAdenauer-Stiftung für ein Promotionsprojekt über Wilhelm Dilthey Christian Senkel, Jg. 1965, Privatdozent für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther Universität Halle/Salle Walter Sparn, Jg. 1941, emeritierter Professor für Systematische Theologie, zuletzt am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander Universität ErlangenNürnberg Folkart Wittekind, Jg. 1963, Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Duisburg-Essen
Beiträge zur rationalen Theologie Begründet von Falk Wagner †. Fortgeführt von Ulrich Barth und Jörg Dierken. Band 1
Ewald Stübinger: Die Theologie Carl Daubs als Kritik der positionellen Theologie. 1993.
Band 2
Christian Henning: Der Faden der Ariadne. Eine theologische Studie zu Adorno. 1993.
Band 3
Eva-Maria Rupprecht: Kritikvergessene Spekulation. Das Religions- und Theologieverständnis der spekulativen Theologie Ph. K. Marheinekes. 1993.
Band 4
Manfred Müller-Simon: Von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts. Die Verbindung von juristischen und theologischen Themen im Werk von Hans Dombois. 1994.
Band 5
Michael Murrmann-Kahl: Strukturprobleme moderner Exegese. Eine Analyse von Rudolf Bultmanns und Leonhard Goppelts "Theologie des Neuen Testaments". 1995.
Band 6
Alexander von Keyserlingk: Die Erhebung zum Unendlichen. Eine Untersuchung zu den spekulativ-logischen Voraussetzungen der Hegelschen Religionsphilosophie. 1995.
Band 7
Falk Wagner: Religion und Gottesgedanke. Philosophisch-theologische Beiträge zur Kritik und Begründung der Religion. 1996.
Band 8
Richard Ziegert: Kirche ohne Bildung. Die Akademiefrage als Paradigma der Bildungsdiskussion im Kirchenprotestantismus des 20. Jahrhunderts. 1997. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage 1998.
Band 9
Alfred Walter: Friede als Streit der Freiheit mit sich selbst. Systematisch-ideengeschichtliche Untersuchungen zur normativen Grundlegung des Friedensbegriffs in Friedenspädagogik, Friedensforschung und Theologie. 1998.
Band 10
Martin Carmann: Mensch: Moral – Religion. Kant-Lektüren aus der polykontexturalen Gesellschaft. 1999.
Band 11
Matthias Neugebauer: Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus. 2002.
Band 12
Tomáš Voèka: Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule. 2003.
Band 13
Olaf Reinmuth: Religion und Spekulation. A.E. Biedermann (1819–1885). Entstehung und Gestaltung seines Einwurfs im Horizont der zeitgenössischen Diskussion. 2004.
Band 14
Anton Knuth: Der Protestantismus als moderne Religion. Historisch-systematische Rekonstruktion der religionsphilosophischen Theologie Kurt Leeses (1887–1965). 2005.
Band 15
Christian Danz / Jörg Dierken / Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie. 2005.
Band 16
Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. Festschrift für Ulrich Barth. Herausgegeben von Roderich Barth, Claus-Dieter Osthövener und Arnulf von Scheliha. 2005.
Band 17
Christine Pflüger: Georg Simmels Religionstheorie in ihren werk- und theologiegeschichtlichen Bezügen. 2007.
Band 18
Christian Wollmann: Versöhnung in Freiheit und Ordnung. Reflexionen zu einem sozialethischen Handlungsfeld in protestantischer Perspektive. 2007.
Band 19
Mareile Lasogga: Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne. 2009.
Band 20
Imke Stallmann: Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff. 2013.
Band 21
Andreas Kubik / Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute. Eine Debatte im Horizont von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie. 2013.
www.peterlang.com