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German Pages [595] Year 2018
Arbeiten zur Religionspädagogik
Band 66
Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried Adam, Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Lachmann und Prof. Dr. Martin Rothgangel
Silke Leonhard
Religionspädagogische Professionalität Eine empirisch-theologische Studie im Horizont des Pathischen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-6177 ISBN 978-3-7370-0867-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und des Vereins zur Fçrderung der Evangelischen ReligionspÐdagogik und der Praktischen Theologie e.V. 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Ute Erkens, Vom selben Feuer genÐhrt.
Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Martin Buber : Ich und Du, 18.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen für religionspädagogische Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Forschungsinteresse der Arbeit im Kontext relevanter Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Unverfügbarkeit im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Streiflichter : Störungen und Unterbrechungen im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Unverfügbarkeitserfahrungen als Topos in der Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Zwischen »Normalfall« und »Ernstfall«: ReligionslehrerInnen an den Rändern professionellen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Professionelles Handeln: sozialwissenschaftliche Orientierungen 1.3.1 Profession, Professionalität, Professionalisierung: Begriffsschärfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Professionstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.1 Ahnvater : Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.2 Systemtheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.3 Strukturtheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . . . 1.3.2.4 Machttheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.5 Interaktionstheoretischer Ansatz . . . . . . . . . . 1.3.2.6 Biografietheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Professionstheorien als berufliche Kontingenzbewältigungsstrategien . . . . . . . . . . . . . 1.4 (Religions-)LehrerInnen und Ungewissheit: Professionelles Handeln in der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 LehrerInnen zwischen Person, Beruf und Lebenswelt . . .
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Inhalt
1.4.1.1 LehrerInnenbilder in Fremd- und Selbstwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1.2 Eine soziologische Folie: Professional und professionell Handelnde . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Ansätze zur Bestimmung von regulärer pädagogischer Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.1 Referenzhorizonte: Profession, Professionalität und Professionalisierung in der Pädagogik . . . . . . . . . 1.4.2.2 Erfordernisse: Praxistheorie zum Professionsbezug in der Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.3 Ausdifferenzierungen: Grundlagentheoretische Forschungsströmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Pädagogische Konzepte zur professionellen Bearbeitung von Ungewissheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.1 Ungewissheit. Herausforderungen einer postmodernen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.2 Praxismuster zum Umgang mit Ungewissheit im Berufsalltag von LehrerInnen . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.3 Didaktische Ermutigung zu pädagogischer Sensibilität im Umgang mit Unerwartetem . . . . . . 1.4.3.4 Organisation und Profession: Institutionalisierung und die Frage nach Kontextualität . . . . . . . . . . . 1.4.3.5 Expertentum, Kompetenzbegriff und wissenschaftstheoretische Fragen . . . . . . . . . . . 1.4.3.6 Biografisch-lebensweltliche Perspektiven und Fragen zur Intersubjektivität und Zukunftsgestaltung . . . . 1.4.3.7 Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und die Frage nach Chancen der Ungewissheit in der Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.8 Professionsethische Perspektiven des Lehrberufs . . . 1.4.4 Konsequenzen für den religionspädagogischen Professionsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4.1 Berufskonstitutive Kontingenz und die Perspektive des unbestimmbaren Anderen . . . . . . . . . . . . . 1.4.4.2 Kompetenz oder Habitus? Personales professionelles Handeln in verkörperter Sozialität . . . . . . . . . . . 1.5 Widerfahrnis – Ungewissheit – Kontingenz: Empirisch-theologische Herausforderungen für religionspädagogisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Im Visier der Theoriebildung: ReligionslehrerInnen zwischen Anspruch und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
1.5.1.1 Berufs(leit)bilder im Wandel . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1.2 Person – Rolle – Beruf – Handeln: Themen und Paradigmen neuerer Forschung zu ReligionslehrerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Empirische Erkundungen zu religionspädagogischer Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2.1 Berufsbiografischer Umgang mit Religion: Habituelle Unterrichtsmodi zwischen gelebter und gelehrter Religion (Feige / Dressler / Lukatis / Schöll) . . . . . 1.5.2.2 Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität: Professionstypischer Habitus und berufliche Kompetenzen (Heil / Ziebertz) . . . . . . . 1.5.2.3 Habitus und Kompetenz. Horizonte zur Erfassung religionspädagogischen Handelns . . . . . . . . . . . 1.5.3 Chancen und Herausforderungen des Kompetenzbegriffs in der ReligionslehrerInnenbildung . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.1 Kompetenzen und Standards (in) der ReligionslehrerInnenbildung . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3.2 Perspektivenwechsel: Kompetenz und Krise . . . . . 1.5.4 Professionalität im Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren? Desiderate und Forschungsaufgaben . . . . 1.5.4.1 Professionelles Handeln im religionspädagogischen Raum der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.2 Theologische Orientierungen zum (Religions-)Lehrberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4.3 Widerfahrnisse als Herausforderung für Fragen nach religionspädagogischer Professionalität . . . . . . . . 2. Einen Fall studieren. Theologisch-pädagogische Professionsforschung in phänomenologisch-empirischer Logik . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Forschungsfrage und -interesse der Fallstudie . . . . . . . . . . . 2.2 Zwischen Fall und Feld: Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Begegnungen mit einer Religionslehrerin und einem krebskranken Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.1 Dichte Beschreibung 1: Fallnotizen zu Erfahrungen der Religionslehrerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Dichte Beschreibung 2: Das Miteinander in Johannes’ Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.3 Dichte Beschreibung 3: Meine eigene Begegnung mit Johannes im Religionsunterricht . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2.1.4 Dichte Beschreibung 4: Johannes’ Reflexionen zum Thema »Hiob – eine Leidensgestalt« . . . . . . . . . . 2.2.1.5 Dichte Beschreibung 5: Praktikumsgespräch zwischen Annett und Johannes . . . . . . . . . . . . 2.2.1.6 Dichte Beschreibung 6: Johannes’ Äußerungen in Religionsstunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Feldbeschreibung: Religionsunterricht einer 9./10. Klasse . . 2.2.3 Das Verhältnis von Religionsunterricht und Schule als Forschungsfeld professionellen Handelns . . . . . . . . . . . 2.2.4 Das Forschungsgegenüber : Eine Religionslehrerin . . . . . . 2.2.5 Zur Forscherin: Berufsbiografie, Rolle, Haltung und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwischen Methode und Erkenntnis: Empirisch-theologische Professionsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Lebensweltbezogene Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Erkenntnistheoretisches Fundament: Lebenswelt und Gelebte Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Phänomenologische Dimensionen der Intersubjektivität: Leib, Raum, Sprache . . . . . . . . 2.3.2 Partizipatorisches Forschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Forschungsmethodologischer Kontext: Action research . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.2 Professionelle Praxis der Anderen . . . . . . . . . . . 2.3.3 Phänomen und Fall im Horizont Empirischer Theologie . . 2.3.3.1 ReligionslehrerInnen: (Inter-)Subjekte professionellen religionspädagogischen Bildungshandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.2 Professionsethische Kriterien exemplarischer krisenhafter Bildungspraxis . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.3 Gelebte Religion und die Rolle der Theologie . . . . . 2.4 Zwischen Fall und Fallstudie: Forschungszugänge zu einem Grenzfall religionspädagogischen Handelns . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Fallbezogenes Arbeiten im Rahmen qualitativer Sozialforschung und empirischer Theologie . . . . . . . . . 2.4.1.1 Typologie fallbezogenen Arbeitens: Fallarbeit und Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.2 Chancen und Grenzen der Fallarbeit . . . . . . . . . 2.4.1.3 Forschungsmethodischer Exkurs: Grounded Theory? 2.4.1.4 Fallauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.5 Fokus und Funktion des Falls . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.6 Zum Verhältnis von Empirie und Theorie . . . . . . .
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2.4.2 Forschungsethische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Methodische Linien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1 Offene Zirkularität von Empirie und Theorie . . . . . 2.4.3.2 Mehrperspektivät und Perspektivenwechsel . . . . . 2.4.3.3 Phänomenologische Aufmerksamkeit und Dichte Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.4 Kommunikative Validierung . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Rekonstruktion und Analyse des Falls . . . . . . . . . . . . . 2.4.5 Brennpunkte im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.6 Zum Verhältnis von Forschungs- und Darstellungslogik . . . 2.5 Auf der Schwelle: Situationsnahes Bearbeiten zwischen FALLrepräsentationen und Fallarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 FALL und Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Von der Situation des FALLs ausgehen: Das ›Pathische‹ wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Auf Erfahrungen des Pathischen professionell antworten? – Fallbezogene situierte Wahrnehmung des Anderen . . . . . 2.5.4 Vom empirischen Einzelfall zur theoretischen Anreicherung 3. Kontingenzbegegnung. Kulturphänomenologische Grundlinien einer Patho-Grafie der gelebten Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Dimension des Pathischen als religiöse Kategorie . . . . . . . 3.1.1 Homo religiosus und Kulturen des Pathischen . . . . . . . . 3.1.2 Religion als Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Das Pathische als Dimension gelebter Religion . . . . . . . . 3.2 Passibilität: Kranksein – ein Ernst-Fall der Verletzlichkeit von Leib und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Patho-Logie: Historische und systematische Aspekte des Krankheitsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Kulturelle, religiöse und kulturkritische Aspekte . . . . . . . 3.2.3 Kranksein als Weise des Menschseins . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Medizinische Anthropologie als Pathosophie (Viktor von Weizsäcker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Leben als antilogische Begegnung . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Krankheit, Biografie und Therapie . . . . . . . . . . 3.2.3.4 Menschsein: pathische Existenz im Gestaltkreis . . . 3.2.4 Kranksein und Grenzerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.1 Zwischen Medizin und Existenzialphänomenologie (Thomas Fuchs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4.2 Anthropologie: Leben und verkörperte Subjektivität . 3.2.4.3 Grenzsituation und Vulnerabilität . . . . . . . . . . .
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3.2.4.4 Menschsein: Leibliches Selbstsein in existenzieller Verletzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Kranksein und brüchige Intersubjektivität . . . . . . . . . . 3.2.5.1 Philosophie zwischen Empirismus und Sozialphänomenologie (Bernhard Waldenfels) . . . . 3.2.5.2 Leibliches Leben zwischen Subjektivität und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.3 Krankheit und Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5.4 Menschsein: Leben zwischen Selbstheit und Andersheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Passibilität: Annäherung an die kulturanthropologische Struktur von Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.1 Die Dimension des Pathischen erkunden – an Leben und Fall teilhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2 Kranksein: Verletzte Zwischenleiblichkeit . . . . . . . 3.2.6.3 Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.4 Empfänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.5 Vulnerabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Passivität: Erfahrung zwischen Widerfahrnis und Leiden . . . . . 3.3.1 Philosophiegeschichtliche Anleihen: Vom Pathos zur Passivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Schmerz. Zur leibseelischen Gestalt von Leiden . . . . . . . 3.3.2.1 Phänomenologie des Schmerzes . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Getroffen- und Angerührtsein . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3 Leiden – intrapathisch und extrapathisch . . . . . . . 3.3.3 Pathos und Response. Zur intersubjektiven Struktur von Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Offene Erfahrung und das Fremde . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Widerfahrnis und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.3 Leiden: Wahrnehmung und Gedächtnis von Schmerz(erfahrung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Situiertheit. Aspekte zur Raumzeitlichkeit des Leidens . . . 3.3.5 Un-Sagbarkeit. Zur Artikulation von Pathos-Erfahrung . . . 3.3.5.1 Stummheit und Schrei. Zur Sprache des Leidens . . . 3.3.5.2 Sprechen und Schweigen. Narrationen des Leidens und die Grenzen des Sagens . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Responsivität: Antworten auf Erfahrungen des Unverfügbaren . . 3.4.1 Zur religiösen Be-Deutung von Kontingenzerfahrung . . . . 3.4.1.1 Religiöse Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Moderne Negation letzter Gewissheiten . . . . . . . .
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3.4.1.3 Phänomenologische Sinnzuschreibungen: Last, Selbstwerdung und Weltoffenheit . . . . . . . . . . . 3.4.2 Am Gegenpol der Vulnerabilität: Resilienz . . . . . . . . . . 3.4.3 Antworten. Grundelemente leiblicher Kontingenzbegegnung 3.4.3.1 Zur Dialektik von Pathos und Response in ethischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Begegnung und Wahrnehmung. Zur Intersubjektivität gelebter Erfahrung. . . . . . . . . . 3.4.3.3 Aufmerksamkeit: Die pathische Seite der Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.4 Leiblich (ver)antwortendes Handeln . . . . . . . . . . 3.4.4 Kontingenzbewältigungskompetenz? Herausforderungen für theologisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.1 Anthropologische Pfeiler . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4.2 Umgang, Solidarität, Gegenseitigkeit . . . . . . . . . 4. Leben aus Passion. Theologisch-ethische Reflexionen . . . . . . . . . 4.1 Topologie des Pathischen in der Theologie . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Biblische Traditionsfiguren und ihre Gestalten . . . . . . . . 4.1.1.1 Phänomenologische Einblicke: Zur biblischen Krankheitsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2 Leiden: Biblische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Systematisch-theologische Aspekte des Pathischen . . . . . . 4.1.2.1 Probleme der Christentumsgeschichte . . . . . . . . 4.1.2.2 Reflexe und Reflexionen in der Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.3 Zur Aufgabe der Theologie im Professionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.4 Praktisch-theologische Felder im Horizont der Professionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Theologie und lebensweltliche Erfahrung zwischen Empirie und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.1 Zur Notwendigkeit phänomenologischer Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2 Zum Modell des Theologietreibens . . . . . . . . . . 4.1.4 Zur Aufgabe der Fallarbeit in der theologischen Reflexion . 4.1.5 Zur Prozessgestalt einer Theologie des Pathischen . . . . . . 4.2 Leiden – Sym-pathetische Christologie . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Leiden mit oder ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1 Motivationen und Ansätze in der religionspädagogischen Theoriebildung . . . . . . . .
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4.2.1.2 Vom Fall zur Theologie: Motive . . . . . . . . . . . 4.2.1.3 Vom Fall zur Theologie: Fragen und Antworten . . 4.2.2 Zwischen Theodizee und Algodizee: Ansätze zur theologischen Leidensdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Solidarität und Teilhabe am Leiden (Dietrich Bonhoeffer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.2 Mystik und Widerstand (Dorothee Sölle) . . . . . . 4.2.2.3 Von der Theodizee über die Leidensfähigkeit zur Hoffnung (Jürgen Moltmann) . . . . . . . . . . . . 4.2.2.4 Memoria passionis (Johann Baptist Metz) . . . . . 4.2.2.5 Von der Theologie zum Fall: Von der Memoria Passionis zur Compassio . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.6 Vom Fall zur Theologie: Mut zur Differenz . . . . . 4.2.3 Passion – Christologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.1 Passivität aus Passion (Philipp Stoellger): Zur empirisch-hermeneutischen Reformulierung einer theologischen Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.2 Von der Theologie zum Fall: Implizite Passion . . . 4.2.3.3 Vom Fall zur Theologie: Scham . . . . . . . . . . . 4.2.4 Passionshermeneutik: Von biblischen Grenzfällen zur Memoria Passionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Pathos mathos? Zum Spannungsfeld von Leiden, Sinnhaftigkeit und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5.1 Leidensmystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5.2 Problemstellungen theologischer Krankheits(be)deutung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verletzliches Menschsein. Theologische Anthropologie . . . . . 4.3.1 Identität und Fragmentarität . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Identität – ein anthropologischer Schlüsselbegriff in Religionspädagogik und Theologie . . . . . . . . . 4.3.1.2 Henning Luthers kritischer Entwurf: Fragmentarität 4.3.2 Leben in, an und auf der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 ›Grenze‹ bei Henning Luther . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Von der Theologie zum Fall: Grenze . . . . . . . . . 4.3.2.3 Vom Fall zur Theologie: Rückfragen und Impulse . 4.3.3 Auto- und Heterobiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 ›Biografie‹ bei Henning Luther . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Von der Theologie zum Fall: Biografie . . . . . . . 4.3.3.3 Vom Fall zur Theologie: Rückfragen und Impulse . 4.3.4 Menschsein zwischen Identität und Alterität . . . . . . . . 4.3.4.1 Passibles Menschsein im eschatologischen Horizont
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Inhalt
4.3.4.2 Menschen- und Gottesstory. Zur Fraglichkeit »gelingenden Lebens« . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.3 Zur Rolle von biblischen Traditionsgestalten . . . . 4.3.4.4 Passivität und Ergriffensein . . . . . . . . . . . . . 4.4 Leben wahrnehmen. Anstöße zu einer praktisch-theologischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Wahrnehmen und Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1.1 Praktische Theologie »an den Rändern« der Wirklichkeitserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1.2 Umgang mit dem Pathischen . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Mit-Leiden, Handeln, Hoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.1 Zur Begrenztheit christlichen Handelns . . . . . . . 4.4.2.2 Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2.3 Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Anerkennen und (Ver-)Antworten . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3.1 Fundamentalethische Responsivität . . . . . . . . . 4.4.3.2 Den Anderen wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Sensibilität und Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.1 Seelsorgerliche Sensibilität für die Kommunikation des Unsagbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.2 Achtsames Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4.3 Theologisch-responsive Kompetenz . . . . . . . . .
. . .
399 404 407
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409 410
. . . . . . . . . .
410 411 413 413 416 417 419 419 420 422
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423 424 425
5. Pathos und Responsivität. Aufgaben für religionspädagogische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Bildung und Religion zwischen Ethik und Ästhetik . . . . . . . . 5.1.1 Das Pathische als kulturelle Dimension allgemeiner Bildung . 5.1.1.1 Leibliche Bildung und Sozialität . . . . . . . . . . . . 5.1.1.2 Intersubjektivität, pädagogischer Bezug und Kontakt. 5.1.1.3 Kontingenz, Ereignishaftigkeit und Gestaltbildung . . 5.1.1.4 Aufmerksamkeit auf Fragmentarität und Heterogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1.5 Elemente des Pathischen als Inhalte von Bildung . . . 5.1.2 Bildung, Religion und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Bildung und Religion im Differenzverhältnis . . . . . 5.1.2.2 Ein Schlüssel ethisch-ästhetischer Bildung: Mitgefühl 5.1.2.3 Bildung und Lebenskunst? . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.4 Begegnung zwischen Bezogenheit und Entzug . . . . 5.2 Religionsdidaktik im Horizont von Passivität und Passion: Aspekte responsiven Lernens im Religionsunterricht . . . . . . . . 5.2.1 Zur pathischen Dimension des Lernens . . . . . . . . . . . .
429 429 429 430 431 434 435 437 438 438 441 443 446 449 450
16
Inhalt
5.2.2 Religion lernen: Erfahrungsbezug zwischen Subjektwerdung und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Responsive Strategien in der Religionsdidaktik . . . . . . . . 5.2.3.1 An Schlüsselerfahrungen lernen . . . . . . . . . . . . 5.2.3.2 Biografiebezogenes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3.3 Performatives Lernen und Lehren: Zur Artikulation und Kommunikation von Unsagbarem . . . . . . . . 5.2.3.4 Ethisches Lernen: Com-Passion mit Gefühl und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Didaktik der Begegnung und Gestaltung . . . . . . . . . . . 5.3 Responsive Schulkultur : Religionssensible Schule und jugendsensible Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Schule zwischen Funktionalität und Lern- wie Lebensort . . 5.3.1.1 Schule im Blickfeld von Heterotopie . . . . . . . . . . 5.3.1.2 Kirche in der Bezogenheit auf Schule . . . . . . . . . 5.3.2 Heterotopische Herausforderungen: Religionssensible Schulkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Religion im Schulleben . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Religionssensibilität – Anliegen christlicher Erziehungshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Schulkultur und Religionssensibilität . . . . . . . . . 5.3.3 Schulseelsorge – passionsbezogene Antwortkulturen . . . . 5.3.3.1 Kirche geht zur Schule: Schulseelsorge und kirchliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Schulseelsorge – Heterotopie im Schulleben und ihre Schwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Gestaltungsräume für christliche Präsenz zwischen Unterricht und Seelsorge, Liturgie und Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . 6. ReligionslehrerInnen auf der Schwelle zur Professionalität. Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen . . . . . . . . . . . . 6.1 Responsive religionspädagogische Haltung. Erträge zu Brennpunkten im religionspädagogischen Professionsdiskurs . . 6.1.1 Pathos und Response als Strukturmerkmale religionspädagogischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Religionssensibilität und Responsivität – Elemente eines religionspädagogischen Habitus . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2.1 Habitueller Umgang mit dem Pathischen? . . . . . 6.1.2.2 Hexis – zur leiblichen Akzentuierung des Habitus . 6.1.2.3 Religionssensibles Antwortverhalten . . . . . . . .
455 458 458 463 468 472 474 476 477 477 479 480 480 484 486 487 487 489 491
.
495
.
496
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496
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498 498 503 507
Inhalt
6.1.3 Professionalität aus Passion: Religionspädagogische Antwortkompetenz und -performanz . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.1 Zur Erweiterung und Vertiefung religionspädagogischer Kompetenz . . . . . . . . . . 6.1.3.2 Pädagogische Kompetenz: Antwortfähigkeit aus pädagogischer Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.3 Performatives Antworten aus Passion . . . . . . . . . 6.1.4 Religions-Pädagogischer Takt – zum phronetischen Ethos des ReligionslehrerInnenhandelns . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4.1 Professionsethik: Phronesis zwischen Prinzipienbasierung und Situationsbindung . . . . . 6.1.4.2 Professionelles Ethos und Pädagogischer Takt . . . . 6.1.4.3 Religionspädagogischer Takt: Zurückhaltung . . . . . 6.1.5 Balancen religionspädagogischer Professionalität zwischen Schule, Religion und Lebenspraxis . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Exemplarische aktuelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Lehrergesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Responsivität in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Plausibilitätskontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Zur Entwicklung religionspädagogischer Professionalität . . 6.3.2.1 Erste Ausbildungsphase: Universität . . . . . . . . . 6.3.2.2 Zweite Ausbildungsphase: Studienseminar . . . . . . 6.3.2.3 Dritte Phase: ReligionslehrerInnenfort- und -weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Empirische Professionsforschung in der Religionspädagogik . . . 6.4.1 Religionslehrkräfte und beruflicher Alltag . . . . . . . . . . 6.4.2 Phänomenologisch-empirische Religionsforschung als Basis von Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
509 509 512 515 518 518 520 523 525 530 530 533 536 538 538 539 541 543 544 545 545 546
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
549
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die professionelle Praxis von Religionslehrkräften verändert sich mit der Entwicklung von Schule zu einer Zeit, in welcher der klare Stellenwert von Religion in der Schule angesichts nachlassender Bindungskräfte von Kirche und der hinterfragten Plausibilität von Religionsunterricht verunsichert ist. Einstmals periphere wie neue Bildungsaufgaben kommen stärker ans Tageslicht, und religionspädagogische Professionalität muss erneut umrissen werden. Eine Herausforderung und Chance dieser Profilierung liegt in der Dimension des Pathischen. In der Mitte ihrer schulischen und am Rande ihrer religionsunterrichtlichen Praxis werden ReligionslehrerInnen mit Grenzsituationen des Lebens und Handelns konfrontiert. Sich mit dem Pathischen befassen heißt: sich dem Fremden stellen. Eine entscheidende Auf-Gabe religionspädagogischen Handelns ist der kulturelle, pädagogische und theologisch geschulte Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren im Raum der Schule. Der vorliegende Band wurde im Wintersemester 2015/16 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main als Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik angenommen und für die Drucklegung etwas überarbeitet. Er befasst sich mit der Entwicklung, Durchführung und weiterführenden Auswertung eines empirisch-theologischen Zugangs zur Erforschung des Zusammenhangs von Religion, Bildung und professionellem Handeln im Feld der Schule. Im Rahmen der skizzierten berufsbiografischen Beobachtungen fokussiert er den Umgang mit Leiden und Krankheit angesichts der Kontingenz des Lebens. Eine Fallstudie zum Umgang mit schwerer Krankheit im Kontext von Religionsunterricht und Schulleben wird zum heuristischen Ausgangspunkt für die Erkundung, wie ReligionslehrerInnen Grenzsituationen ihres professionellen Alltags wahrnehmen. Der Weg der Forschung geht empirisch der Praxis des Religionslehrberufs nach und schärft die Theorie religionspädagogischer Professionalität. Auch Forschungsprozesse unterliegen zuweilen den Bedingungen der Passibilität. Auf der Mitte meines Arbeitsweges zwischen Frankfurt, Hannover und
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Vorwort
Loccum begegnete mir mit dem Suizid meines Neffen ein Widerfahrnis, welches mein Augenmerk noch deutlicher als bisher auf das Unerwartete lenkte. Auf der Basis neuerer phänomenologischer Ansätze, insbesondere der Philosophie des Antwortens von Bernhard Waldenfels, führt der Weg zu theologisch-pädagogischen Einsichten in den Zusammenhang von Professionstheorie und Professionsethik im Horizont des Anderen, in denen leiblich fundierte Responsivität als Struktur religionspädagogischer Professionalität sichtbar wird. Grund zur Dankbarkeit gibt es reichlich. Für namhafte Förderung in Form von Druckkostenzuschüssen danke ich der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers sowie dem Verein zur Förderung der evangelischen Religionspädagogik und der Praktischen Theologie e.V. Dem Herausgeberkreis der Reihe »Arbeiten zur Religionspädagogik« sei Dank für die Aufnahme der Arbeit. Dem Verlag V& R unipress GmbH und den Mitarbeitenden, insbesondere Frau Susanne Köhler und Frau Julia Schwanke, danke ich für die vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit. Mein herzlichster Dank gilt Prof. Dr. Hans-Günter Heimbrock für seine initiativ-klugen Impulse, die verlässliche Begleitung des Projekts sowie für den inspirierenden Austausch; den am Habilitationsverfahren beteiligten Personen am Faschbereich Evangelische Theologie für die Annahme der Habilitationsschrift, alles Interesse und damit verbundenen Mühen, insbesondere Prof. Dr. David Käbisch für die Erstellung des Zweitgutachtens, Dr. Peter Meyer für die anregend-konstruktiven Gespräche, praktischen Beistand und die mehrjährige frohsinnige Bürogemeinschaft; der einstigen Frankfurter Praktisch-Theologischen Sozietät und folgenden Forschungswerkstatt Empirische Theologie sowie allen weiteren ForschungsbegleiterInnen für kritisch-anregende Diskussionszusammenhänge und lebendigen Austausch; allen SchülerInnen, Studierenden, LehrerInnen und AusbilderInnen, die – teils bewusst, teils unbewusst – zu der Studie beigetragen haben; Jeannette Eickmann, Carolin Fullriede, Prof. Dr. Andrea Sabisch, Ina Schröder und Friederike Wedemeyer für den engagierten Beistand und die vielfältige praktische Hilfe; den KollegInnen und Mitarbeitenden in der Landeskirche, im RPI Loccum und darüber hinaus für Unterstützung und Interesse an der Fertigstellung der Arbeit;
Vorwort
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Prof. Dr. Christoph Bizer (†) für die Initiation zu phänomenologischen Gedankengängen; meinen theologisch-religionspädagogischen Lehrern für Rückenstärkung; Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann für jahrzehntelange gemeinsame Begehung und Gestaltung von Passion(sseminaren); allen FreundInnen und meiner Familie mit Menschen und Tieren für Ermutigungen, Geduld und beständige Rückbindung; vor allem meinem Ehemann Prof. Dr. Heiner Wedemeyer, der mit unermüdlicher Neugier, Rückendeckung und Ermutigung diesen Weg und etliches mehr begleitet hat. Frankfurt / Loccum, im März 2018
Silke Leonhard
1.
Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen für religionspädagogische Professionalität
1.1
Zum Forschungsinteresse der Arbeit im Kontext relevanter Forschungsfelder
Das vorliegende Buch befasst sich mit der Entwicklung eines Zugangs zur Erforschung des Zusammenhangs von Religion, Bildung und professionellem Handeln im Feld der Schule angesichts krisenhafter Erfahrungen von Unverfügbarkeit. Die im Spektrum der theologischen wie der erziehungswissenschaftlichen Forschung vergleichsweise junge Disziplin der Religionspädagogik hat sich etwa während der letzten fünfzig Jahre hinsichtlich ihrer Forschungsfelder und der diesen zugrunde gelegten Theorien, Methoden und Forschungsinteressen ausgeweitet. Zu den Neuorientierungen seit Ende der 1960er-Jahre zählen die neue Erschließung empirischer Forschung für ein neues Maß an Realitätsprüfung im Rahmen gehaltvoller Theoriebildung des Faches, die Rezeption von lernpsychologischer Forschung für die Konzipieren effektiver Lernprozesse im Religionsunterricht, die interdisziplinäre Neuverortung des Faches zwischen Theologie, Erziehungswissenschaften und Soziologie, die Ausweitung der Reflexionshorizonte sowie der Einbezug komparativer Fragestellungen im Verlauf der Internationalisierung des Faches in seiner jüngsten Geschichte. Solche Ausweitungen reagierten allerdings nicht allein auf Bewegungen und Konjunkturen der Theoriediskurse, sondern antworteten auch auf gesellschaftliche Transformationsprozesse von Religion und der sie vermittelnden Institutionen. Die angesprochenen Ausweitungen der Reflexionshorizonte sind im Fach besonders in Richtung auf Religionstheorie, auf Bildungstheorie und Berufstheorie der Religionspädagogik entwickelt worden. Im Konsens mit der neueren Forschung, vor allem den seit Karl ErnstNipkows bildungstheoretisch angelegten Arbeiten1, setzt die vorliegende Arbeit an. Zu den Ausgangspunkten zählt,
1 Vgl. Nipkow : Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung.
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Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen
dass Unterricht ein wichtiger, jedoch nicht der einzige professionelle Handlungs- und Problembereich religiöser Bildung im Raum der Schule ist. Deshalb muss religionspädagogische Theorie für die Schulpraxis nicht nur im Blick auf Unterrichtsinhalte und Lernstrategien entworfen werden, sondern breiter ansetzen, um den Lebenszusammenhang von Lernen wie von Religion stetig in den Blick zu nehmen. Schulische Praxis steht seit geraumer Zeit zudem vor der Herausforderung, mit den realen Krisen und Konflikten im schulischen Alltag infolge der gesellschaftlich wie schulisch verursachten Dysfunktionen produktiv umzugehen. Hier ergibt sich ein spezielles und in der bisherigen Forschung nicht gewürdigtes Problem: Das bis vor wenigen Jahren quasi selbstverständliche Konzept einer »Unterrichtsschule« und der darauf bezogenen Fachdidaktiken bedarf der Korrektur und Erweiterung, insofern schulische Praxis wie auch Lebenspraxis generell empirisch angemessen nicht mehr nur im ideal gedachten Funktionszusammenhang einer mehr oder weniger reibungslosen Weitergabe von Traditionen und der Vermittlung von Handlungskompetenzen begriffen werden können. Fokussiert man die in der Regel übersehenen Phänomene wie Störung, Unterbrechung und Erfahrungen von Unverfügbarkeit von Lehren und Lernen in der öffentlichen Schule, dann ergibt sich grundlegend neuer Denkbedarf für Religionspädagogik, für die sie fundierende Bildungstheorie wie auch die sie fundierende theologische Anthropologie. Die vorliegende Arbeit versucht solche Herausforderungen anzugehen. Problemstellungen werden nicht einfach normativ aus dem Grundgedanken eines philosophisch-theologischen Bildungsideals heraus bearbeitet, sondern unter Einbeziehung einer eigenen empirischen Analyse der angesprochenen Phänomene aufbereitet. Darauf bezogen werden müssen in ihrem Konzept gleichwohl Vergewisserungen in entsprechenden Theoriehorizonten. Es geht um den Umgang mit Lehr-Lernprozessen im dynamischen Feld von Normalität und Bearbeitung von Unterbrechungen und Krisen, und zwar bezogen sowohl auf schulische Praxis wie gleichermaßen auf Lebenspraxis. Diese werden im Anschluss an phänomenologische Traditionen von V. E. Frankl, Fr. Buytendijk, B. Waldenfels, T. Fuchs und anderen unter dem je entsprechenden Beitrag zur näheren Verständigung über das »Pathische« als einer Grunddimension von menschlichem Leben begriffen. Es gilt, Aufgabenstellungen von Religionspädagogik neu zu bestimmen und insbesondere die religionspädagogisch Handelnden in erweiterter Perspektive wahrzunehmen. Das so bestimmbare Forschungsinteresse der Arbeit zur sinnvollen Eingrenzung des angesprochenen weiten Problemfeldes geschieht durch den Fokus auf Aspekte der Professionalität. Auch hier sind allerdings in der bisherigen Forschung Desiderate anzumelden und es ergeben sich in der Konzentration auf Krisen und Störungen im schulischen Alltag spannende Fragen.
Zum Forschungsinteresse der Arbeit im Kontext relevanter Forschungsfelder
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Die neuere professionstheoretische Verortung des Religionslehrberufes orientiert sich bisher im Wesentlichen an sozialwissenschaftlichen, vor allem pädagogischen Bestimmungen von Professionalität. Leitbilder des Religionslehrberufes nehmen eher implizit auf theologische Theoreme Bezug, um Lernen und Lehren zu verankern. Theologische Professionstheorien ihrerseits berücksichtigen wiederum in erster Linie das Pfarramt als Kernberuf und strukturieren von dort aus Lehren als Aufgabe bzw. Unterricht als ein eher marginales Handlungsfeld; Seelsorge bleibt dabei ganz dem Pfarrberuf vorbehalten. Es bleibt unklar, an welchen theologischen Markierungen (Religions-)Lehrkräfte subjektiv und intersubjektiv ihr professionelles Handeln ausrichten. Dies alles gilt erst recht, wenn man die Herausforderungen professionellen Lehrerhandelns im Blick auf das genannte Problemfeld von Krise und Unverfügbarkeit aufnimmt. Professionelles Handeln wird in gängigen Theorien als kompetenzbasierte Ausübung des Berufs beschrieben, deren Basis Regelwissen und habitualisierte Anwendungsstrategien solchen Wissens umfassen. Die Problemstellung ist in diesem Zusammenhang dann: Eine religionspädagogische Professionstheorie, die nicht nur den offiziellen Handlungsräumen des Berufs, sondern auch deren Störfällen und Unterbrechungen weiter zugeordnet ist, muss auch theologisch die schulische Praxis zwischen Lebenswelten und Kirche berücksichtigen. Ausschlaggebend dafür sind im Alltag wie in dessen Grenzfällen Lebensdimensionen, die als nicht methodische, sondern existenzielle Ungewissheits-, folglich Kontingenzerfahrungen im Horizont von Religion stehen und damit im theologischen Horizont, etwa von Fragmentarität (H. Luther), Verletzlichkeit (J.B. Metz) und Leiden (D. Sölle) wahrgenommen werden müssen. Anders gefragt: Kann ein Verständnis professionellen Handelns im Religionslehrberuf entwickelt werden, innerhalb dessen das nicht Geplante nicht nur als »Stör-Fall«, sondern als integrales Moment verortet wird, ohne dessen Widerständigkeit in schulische »Normalität« einzuebnen? Die Arbeit erörtert die angesprochenen Probleme in 6 Teilen. Im Anfangsteil wird die Problemstellung der religions-pädagogischen Kontingenzerfahrung vor dem Hintergrund des Forschungsstandes erhoben und das Design der Arbeit im Horizont phänomenologisch-empirischer Theologie und Religionsforschung dargestellt: Kap 1 Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen für religionspädagogische Professionalität entfaltet das Forschungsinteresse und umreißt die zu untersuchenden Desiderate; Kap 2 Einen Fall studieren. Theologisch-pädagogische Professionsforschung in phänomenologisch-empirischer Logik entwickelt auf der Grundlage einer konkreten Fallbeschreibung die für die Arbeit leitende Methodologie.
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Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen
Die Mitte der Studie ist der Ausdeutung und Erörterung des ›Pathischen‹ als Fokus der Studie auf der Schnittstelle von Religionsforschung und Theologie gewidmet: Kap 3 Kontingenzbegegnung. Kulturphänomenologische Grundlinien einer Patho-Grafie der gelebten Religion entfaltet die Dimension des Pathischen in kulturtheoretischen, medizinischen und anthropologischen Zusammenhängen; Kap 4 Leben aus Passion. Theologisch-ethische Reflexionen erkundet die Thematik von Passion und Leiden in biblischer Hinsicht und skizziert wichtige Positionen theologischer Anthropologie und Ethik zur Sache. Der Schlussteil gilt der Präzisierung von Responsivität als Struktur religionspädagogischer Professionalität: Kap 5 Pathos und Responsivität. Aufgaben für religionspädagogische Bildung entfaltet Konsequenzen in bildungstheoretischer, lerntheoretischer und schultheoretischer Perspektive; Kap 6 ReligionslehrerInnen auf der Schwelle zur Professionalität. Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen führt auf der Grundlage der ersten fünf Kapitel den professionstheoretischen Diskurs in der Religionspädagogik fort und markiert Herausforderungen für weitere Forschung.
1.2
Unverfügbarkeit im Religionsunterricht
Zu Beginn werden im Folgenden Vignetten zu Unterrichtsstörungen und Unverfügbarkeitserfahrungen unter der weiten Prämisse der von Johann Baptist Metz gepägten Formel von Religion als Unterbrechung skizziert, verschiedene Professionstheorien als berufliche Kontingenzbewältigungsstrategien erschlossen und erziehungswissenschaftliche Konzepte zur professionellen Bearbeitung von Ungewissheiten gesichtet.
1.2.1 Streiflichter: Störungen und Unterbrechungen im Religionsunterricht Wie nehmen ReligionslehrerInnen2 Unterbrechungen und Einbrüche im Religionsunterricht und des Religionsunterrichts wahr? Zwei Streiflichter geben Einblicke in die berufliche Alltagspraxis. Im Religionsunterricht unterrichtet zu Beginn des Schuljahres eine Praktikantin im 7. Jahrgang Religion. Der Lehrer, ihr Mentor, beobachtet den Unterricht von hinten aus. Die Jungen und Mädchen entwerfen in Partnerarbeit mit einigem Engagement jeweils 2 Für Personen- und Berufsbezeichnungen verwende ich im Interesse der Gendersensibilität das Binnen-I.
Unverfügbarkeit im Religionsunterricht
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ein Streitgespräch zwischen Amos und dem König Jerobeam II. Plötzlich geht die Klassenraumtür auf, eine Gruppe der SchülerInnen der SchülerInnenvertretung (SV) betritt den Raum, und der Sprecher fragt, ob sich die neue Gruppe der SV der Lerngruppe vorstellen darf. Einige der Jungen klatschen und rufen lautstark Namen laut in den Raum hinein; andere versuchen noch, sich die letzte entworfene Äußerung zu notieren. Zwei Mädchen beginnen sogleich, mit einem beliebten Schüler der SV zu flirten. Die Praktikantin ärgert sich über diese Unterbrechung, geht jedoch zur Seite, um der SV-Gruppe vorn an der Tafel Platz zu machen. Der Lehrer seufzt und ermahnt die SV: »Aber höchstens fünf Minuten!« Als die SV-Gruppe nach einigen Minuten das Kassenzimmer wieder verlässt und die Praktikantin zur Fortsetzung der Arbeit auffordert, tauschen sich die meisten Partnerarbeitsgruppen noch darüber aus, ob die SV wohl genügend qualifiziert für ihre Aufgaben sei. Die Praktikantin hat Mühe, die Lerngruppe insgesamt wieder zur Konzentration zu bringen. Im Gespräch mit dem Mentor hinterher bringt sie ihren Ärger über die Unterrichtsstörung zum Ausdruck und beschwert sich, dass diese Unterbrechung nicht angekündigt worden sei. Der Religionslehrer sucht die Praktikantin zu beruhigen: »Das gehört zum Schulalltag! Unterricht verläuft eben nicht nach Plan. Planung ist das eine – der konkrete Unterricht ist das andere.«
In diesem Streiflicht kommen eine Unterrichtsstörung und mit ihr auch die unterschiedlichen Sichtweisen »deklarierter« Normalität zum Ausdruck, welche die Störung als solche markieren. Während der Religionslehrer die Handlungssequenz für selbstverständlich und alltäglich im Sinne eines Einverständnisses erklärt, hält die Praktikantin die Unterbrechung durch das Kommen der SchülervertreterInnen für eine ärgerliche Störung und den Unterrichtsfluss damit für misslungen; die Normalität, von der sie ausgeht, setzt ein reibungsloses didaktisch-methodisches Arbeiten am Thema voraus, welches ihre Autorität, ihr eigenes In-die-Hand-Nehmen der Unterrichtsstunde ermöglicht und genau dieses als entscheidend für gelingenden Religionsunterricht erachtet. Da zwischen Planung und Durchführung eine markierbare Spannung durch ein Ereignis auftritt, das auf den eigentlichen Prozess keine weitergehenden Folgen hat, wird die Unterbrechung als Störung wahrgenommen. Schärfer krisenhaft wahrgenommen wird die Unterbrechung in einem anderen Streiflicht. In meinem Unterricht als Religionslehrerin im 9. Jahrgang lernen die SchülerInnen den Buddhismus kennen. In einer Stunde thematisieren wir den buddhistischen Umgang mit dem Tod und betrachten dazu ein Bild. Plötzlich beginnt Joana still vor sich hin zu weinen. Als ich das bemerke, bin ich kurz erschrocken, gehe zu ihrem Tisch, hocke mich zu ihr, um auf Augenhöhe mit ihr sprechen zu können, und frage sie, was mit ihr sei. Joanas Tischnachbarin guckt bestürzt, fragt ebenfalls, was denn los sei, und gibt ihr ein Taschentuch. »Mein Opa ist gestorben!«, sagt sie mir leise und weint still weiter. In der Klasse ist es mucksmäuschenstill; alle schauen auf uns. Ich berühre Joanas Arm vorsichtig mit meiner Hand. »Das tut mir sehr leid…«, sage ich und sehe sie an. Joana stammelt, dass in den nächsten Tagen die Beerdigung ihres Großvaters stattfinden
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Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen
wird. Ich merke, dass ich nicht genau weiß, wie die Stunde weitergehen soll, und frage sie, was sie möchte: Sollen wir gemeinsam darauf eingehen, oder möchte sie mit dieser Trauer lieber für sich bleiben? Sie schüttelt schon bei der ersten Alternative den Kopf, und ich biete ihr an, dass wir zu zweit nach der Stunde noch einmal miteinander sprechen, jetzt aber mit dem Unterricht fortfahren. »Mach du mit, so gut wie du kannst und möchtest; es ist auch okay, wenn du dich jetzt mal einfach ausklinkst oder spazieren gehst – wenn du möchtest, nimm jemanden mit.« Joana entscheidet sich, sitzen zu bleiben. Wir versuchen, unser Gespräch mit dem Bild fortzusetzen; man merkt der Gruppe ihre Berührtheit an. Nach der Stunde spreche ich noch einmal mit Joana; sie betont, dass bei dem Thema Tod ihre Trauer wieder da sei, aber das sei auch in Ordnung so. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass auch beim Thema Tod im Buddhismus, das wir im Gegensatz zu anderen Elementen dieser Religion etwas weniger an eigenen Erfahrungen orientiert thematisieren, diese eigenen Erfahrungen Raum brauchen.
In dieser Szene zeigt sich, dass alle Beteiligten die Ernsthaftigkeit dieses ungeplanten Vorfalls wahrnehmen und dass die Religionslehrerin diesem Einbruch im Unterricht in der Konsequenz im stummen Einvernehmen mit der Lerngruppe Raum gibt. Anders als bei der Störung entsteht die heftige, emotional bewegende Unterbrechung, weil Leben, Gefühle und die Religiosität der Schülerin durch den Unterricht berührt und getroffen werden. Diese Form des Getroffenseins wurde von mir als Religionslehrerin nicht einkalkuliert oder gar intendiert; dennoch wird aus dem kontextuellen Vergegenwärtigen der Situation so etwas wie ein Nachvollzug, eine innere Logik ersichtlich. Nicht ohne Grund würdigt Johann Baptist Metz Unterbrechung als kürzeste Definition von Religion.3 Metz beschreibt dabei den christlichen Glauben als memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi, wobei die »gefährliche« Erinnerung an Jesus Christus mit zwei Erzähltypen verwirklicht werden soll, nämlich der Erzählung der Geschichte Jesu Christi als Geschichte des unterbrechenden Eingreifen Gottes und der Erzählung von solchen Menschen, die sich auf diese Geschichte eingelassen haben. Die bei Metz substantial, genauer : christologisch qualifizierte Formel wird hier religionstheoretisch qualifiziert als empirisch beschreibbare, auch leidvolle Unterbrechung (Unterrichtsstörungen, Krankheiten, Ungewissheiten etc.). Sie hat die Funktion, Religion in pädagogischen Handlungsfeldern zu identifizieren. Aus den Situationen der Unterbrechung deren Bedeutsamkeit für das Handeln ermessen zu lernen, gehört zur Erfahrung in diesem Beruf. Unterricht, der sich mit Fragen zu Tod beschäftigt, kann immer wieder an die persönliche Berührung anknüpfen. Solche Berührung kann aber auch entstehen, wenn das Thema gar nicht genannt wird, wenn es gar nicht um die eigene Religion geht. War oder ist es für manche Ansätze oder Lehrkräfte erklärtes Ziel, Betroffenheit 3 Vgl. Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft, vor allem 113.
Unverfügbarkeit im Religionsunterricht
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zu erzeugen – was in diesem Fall nicht zutrifft –, so gilt zumindest, dass religionspädagogisches Handeln in der Schule nicht in der Lage ist, solche existenziellen Einbezüge auszuschließen oder zu verhindern. Zugleich liegt das Interesse der Lehrerin nicht bei einer möglichst schnellen und tatkräftigen Behandlung, die diese Unterbrechung beseitigt. In der professionellen LehrerInnenausbildung an Universität und Studienseminar lernen ReferendarInnen und AnwärterInnen4, wie man pädagogisch oder methodisch mit Störungen im Unterricht umgehen kann. Das setzt voraus und intendiert zugleich, dass die Normalität von Unterricht störungsfrei vor sich gehen könnte. Was aber gehört zur Normalität einer Schule? Schul- und Unterrichtstheorien beantworten diese Fragen anders als eine konkrete einzelne Religionslehrerin oder eine singuläre, konkrete Schule. Weniger Aufmerksamkeit wird darauf gelegt, wie Religionslehrkräfte damit umgehen, wenn durch die existenziellen, lebens-notwendigen Aus- und Einbrüche nur die Spitze eines Eisbergs an Leid und Sorgen deutlich wird. Damit ist auch klar, dass es mehr als eine Antwort gibt, wie die Schule und wie LehrerInnen mit Widerfahrnissen umgehen. Diese wahrgenommenen Unterbrechungen von schulischen Alltags-, Bildungs-, Lern- und Unterrichtsprozessen bilden die Spitze eines Eisberges, der als Ganzes zum Leben auch in der Schule dazugehört, für viele Lehrkräfte jedoch keinesfalls zum täglich Brot. Je mehr Schulen zu Ganztageseinrichtungen werden, desto eher werden sie damit schon allein zeitlich nicht nur Lern-, sondern auch Lebensorte. Und desto deutlicher wird, dass nicht nur die funktionierenden, sog. gesunden, leistungsbereiten, aktiven Seiten des Lebens für SchülerInnen, LehrerInnen – für alle in der Schule Tätigen an der Tagesordnung sind. Mit der Schule als einem Ort des Lernens, an dem viel kindliche und jugendliche Lebens-Zeit verbracht wird, tritt die Tatsache deutlicher hervor, dass das Leben auch passive, erduldende, kranke Seiten hat, zu denen sich Religionslehrkräfte verhalten: bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv, stark oder schwach, hilflos oder gekonnt – die Adjektive selbst sind bereits wertende und vereinfachende Charakterisierungen von Haltungen, die in Wirklichkeit viel komplexer sind. Die beiden Streifleichter erhellen: Wie die Normalität von Religionsunterricht aussieht, dazu gibt es ganz verschiedene Praxen – darüber herrschen auch unterschiedliche Vorstellungen. Manche Störungen, Besonderheiten, Außergewöhnlichkeiten und Unterbrechungen im beruflichen Alltag von ReligionslehrerInnen werden unmittelbar behandelt, um sie zu beheben; andere weilen und wirken länger, da die damit verbundenen Veränderungen des konkreten Reli4 Die Bezeichnungen für den Status während der zweiten Phase differieren nach Ländern und / oder nach Schulstufenzugehörigkeit.
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gionsunterrichts nachhaltiger wirken.5 Ausgehend von diesen unterschiedlichen Blickwinkeln, aus denen die anfängliche Aufmerksamkeit auf Störungen und Unterbrechungen des beruflichen Alltags gilt, ist somit eine erste Konturierung vorgenommen, was hier als Unterbrechung im schwerwiegenderen Fall skizziert wird. In Anbetracht des Gewichts und der Folgen, die eine tiefere und weitergehende Wirkung nach sich ziehen, werde ich mich weiter damit beschäftigen. Welche theoretische Bedeutung diesen Unterbrechungen als Besonderheiten und Außergewöhnlichkeiten beigemessen werden und wie mit ihnen umzugehen ist, darüber sind sich nicht nur die betroffenen ReligionslehrerInnen auch im Blick auf das berufliche Handeln und dessen Angemessenheit keinesfalls einig. Je nach theoretischer »Brille«, durch welche hindurch auf Störungen und Unterbrechungen geschaut wird, ergibt sich eine Kontextualisierung dieses Phänomens – und genau diese Klarheit darüber, welche Bedeutung und Wirkung diese unterschiedlichen Gewichtungen von Unterbrechungen haben, ist auch für die Erhebung professionellen Handelns wichtig. Daher gilt ein nächster Blick in die wissenschaftliche Religionspädagogik, um zu eruieren, in welcher Weise dieser Phänomenbereich bisher wissenschaftlich diskutiert wird.
1.2.2 Unverfügbarkeitserfahrungen als Topos in der Religionspädagogik Es wird deutlich, dass die Bezeichnung ›Störung‹ ein heterogenes Gebilde unterschiedlichen Ausmaßes ist. Ausgehend von dieser ersten Differenzierung gegenüber Unterbrechung soll im Folgenden ansatzweise sortiert werden, in welchem religionspädagogischen Kontext der jeweilige Fokus erscheint. a. In an christlichen Normen orientierter, auf unterrichtsmethodische Handhabe zielender Weise ließe sich rekonstruieren, was pädagogisch wie religionspädagogisch als gängig im Verstehen von Irritationen des Religionsunterrichts gilt. Dafür steht u. a. die Differenzierung von Hilbert Meyer zwischen Vorfällen, deren Ursachen und Maßnahmen Pate.6 Ursachen können im Unterricht eigens verursacht oder von außen in den Unterricht eingetragen sein.7 Beide seien noch einmal von Disziplinschwierigkeiten zu unterscheiden.8 Im Blick auf die Verursacher gibt es Störungen beim Lehrer, bei der Institution, beim Schüler, bei den Eltern, in der Gesellschaft. Krankheit gilt hier z. B. als eine beim Schüler liegende Störung.9 Rainer Lachmann setzt daher auf eine Ursachenanalyse, um Schuldzuschreibungen von der Verantwortlichkeit der Leh5 6 7 8 9
Vgl. zu den neuesten Ansätzen Bietz: Unterrichtstörungen. Vgl. Meyer : UnterrichtsMethoden Bd. 2, 232. Ebd. So der alte Begriff bei Neidhart: Disziplinschwierigkeiten im Unterricht. Vgl. Lachmann: Unterrichtsstörungen, 44.
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renden zu differenzieren und damit auch Lehrende zu entlasten. Er schlägt eine »kommunikationsdidaktische Analyse« vor, zu ergänzen durch ein »Instrumentarium an pädagogischen Maßnahmen«.10 In der Frage nach Begründungszusammenhängen weist das Religionspädagogische Kompendium, eine allerorts gängige Literatur, auf: Anders als die Kommunikation des Evangeliums (Ernst Lange) sei »freilich die religionsunterrichtliche Kommunikation normativ eindeutig profiliert und muss sich an der christlichen Grundnorm der Liebe (= Agape) messen lassen.«.11 Vorausgesetzt gilt als »ein offenes Geheimnis, dass gerade der RU ein äußerst störanfälliges und deshalb auch häufig gestörtes Unterrichtsfach an der Schule« sei.12 Mangelndes Vorwissen und Interesse forderten erhöhte didaktische Bereitschaft und Analysefähigkeit der Lehrenden – der Religionsunterricht sollte metakommunikative Fähigkeiten nutzen. Die Bewältigungsmöglichkeiten sind methodisch angesiedelt, d. h. es wird von der Lehrkraft gefordert, die richtige Methodenwahl zu betreiben und Methoden gezielt und gekonnt situativ einzusetzen, um Störungen nicht nur zu beheben, sondern auch möglichst zu verhindern. b. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle religionsdidaktischen Zusammenhänge zu benennen, in denen Weisen von Störung und Unterbrechung in der Religionspädagogik vorkommen, und damit diejenigen religionspädagogischen Bereiche und Themen vollständig zu nennen. Prominent sind jedoch die didaktischen Kontexte, in denen krisenhaft existenzielle Not und Ernstfälle des Lebens aufgegriffen werden. Ein sicheres Indiz für die Virulenz dieser Thematik ist die Präsenz von Themen wie Leid und Gott, Theodizeefrage in neuesten inhaltlichen Rahmenvorgaben und Curricula13 sowie in allen Unterrichtswerken.14 Da es sich um eine zentrale Lebenserfahrung der Begrenztheit, Fragmentarität handelt, gibt es kaum einen didaktischen Ansatz, welcher diese Problematik ausklammert. Insbesondere erfahrungsorientierte Ansätze gehen 10 11 12 13
A. a. O., 48. A. a. O., 49. A. a. O., 50. Vgl. z. B. Niedersächsische Kerncurricula (= KC): Als didaktische Leitlinie gilt im Religionsunterricht der Grundschule: Warum gibt es das Leid und das Böse?. In der Hauptschule wird am Ende des 10. Jg. erwartet: SchülerInnen »skizzieren christliche Ansätze für den Umgang mit Leiden, Sterben und Tod und erörtern Konsequenzen für das eigene Leben« (KC Hauptschule, 20); in der IGS gilt Theodizee als verbindlicher zu lernender Grundbegriff; auch wird als Inhalt die Passionsgeschichte Jesu empfohlen. In der Sek I am Gymnasium wird folgende Kompetenz genannt: SchülerInnen »setzen sich mit Anfragen an den Glauben an Gott auseinander. Sie reflektieren das christliche Gottesverständnis sowohl im Hinblick auf die Theodizeefrage als auch im Hinblick auf naturwissenschaftliche Erkenntnis. Dabei unterscheiden sie zwischen lebensförderlichen und lebensfeindlichen Konzepten der Lebensgestaltung und der Weltdeutung« (KC Sek I Gym, 22; In der Sek II: Auseinandersetzung mit Theodizeefrage, siehe KC gymnasiale Oberstufe, 14). 14 Zu einer Übersicht vgl. Peter : Zwischen Arena und Tribüne, 114–117.
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auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Leiden, Endlichkeit, Scheitern, Schuld und Sünde ein. Lebensweltlich-kritische Ansätze thematisieren eigenes und fremdes Leiden, setzen dies zu biblischen Erfahrungen und Transformationen etwa durch Jesu befreiendes Handeln in Beziehung. Im Widerspruch zu einer apathischen Gesellschaft15 stehen auch Ansätze zu beziehungsorientiertem Begegnungslernen, in denen das Miteinander und Voneinander des jeweiligen Anderen eine Rolle spielt.16 Etwas weiter geht die Thematisierung in interkulturellen und interreligiösen Ansätzen, in denen der Kontakt mit dem Umgang mit Leid, Tod in anderen Religionen zum Vorschein kommt. Zu den typischen anthropologischen Themen zählt das der Krankheit17, zu den gesellschaftlich-politischen z. B. Armut, zu theologisch-philosophischen Problemen rechnet man die Theodizeefrage; je nach didaktischem Ansatz werden Themen oder zentrale biblische Gesichtspunkte, grundlegende Erfahrungen oder Symbole aufgegriffen, zur wahrnehmenden, hermeneutischen, problematisierenden, handlungs- und gestaltungsorientierten Auseinandersetzung freigegeben. Biblisch-theologische Konzepte thematisieren die anthropologische und theologische Situation des Menschen vor und mit Gott: Regelrechte Dauerbrenner biblischer Bezugsstellen sind vor allem alttestamentliche Kontexte der zerstörten Schöpfung und leidenden Kreatur in der Urgeschichte, Klagepsalmen, aber auch das Buch Hiob. Das Aufgreifen neutestamentlicher Texte setzt auf die Transformation von Leidenssituationen durch Jesu Botschaft und Handeln – insbesondere Wundergeschichten und Gleichnisse – aber auch die Passionsgeschichte bringt dies zur Geltung. Fragt man danach, welche der Konzeptionen oder heutigen Ansätze18 sich nicht nur mehr oder weniger der Frage nach Unverfügbarkeitserfahrungen beiläufig widmen, sondern gerade die damit verbundenen Aspekte und Fragen zum eigenen Zentrum machen, so ließe sich behaupten, dass den problemorientierten Ansätzen sicherlich von vornherein deutlicher an einer Bearbeitung von »Problemen« in diesem lebensweltlichen Zusammenhang liegt. Insbesondere der seelsorgerlich-therapeutische Ansatz scheint auf den ersten Blick genau diese Problematik in seine Mitte zu stellen. Bei näherem Hinsehen wurde das bisher nicht therapeutisch, doch in Ansätzen sozialisationsbegleitend verwirklicht, und dies auch weniger in der Schule als in gemeindepädagogischen Kon15 16 17 18
Vgl. Heinrich: Art. Leiden. LexRP. Vgl. Heimbrock: Nicht unser Wollen und Laufen. Vgl. Heft »Krankheit«, ZPT 1(2009). Zum »Ende der großen Konzeptionen« liefert Rothgangel, der sich selbst für einen historischen Konzeptionsbegriff stark macht und die Zukunft in pluralen didaktischen Strukturen sieht, einen Diskussionsüberblick: Religionspädagogische Konzeptionen und didaktische Strukturen.
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texten. Ein wichtiges Erbe ist aus problemlösenden didaktischen Strukturen für die Bearbeitung dieser Themen und Erfahrungen auch im gegenwärtigen Religionsunterricht geblieben: der Bezug zur konkret erfahrenen Lebenswirklichkeit.19 Dieser wird in den Peter Biehl folgenden symboldidaktischen Ansätzen auch als problemlösende Struktur eingezogen, in den lebensweltlichen Ansätzen als unabdingbare Referenzpunkte.20 Etwas genauer als der Versuch der Analyse, welcher der religionsdidaktischen Ansätze gegenwärtig im Bezug auf diesen Themenbereich bevorzugt wird, erhellen weitere Beobachtungen zu thematischen Schwerpunkten die didaktische Landschaft zu diesem Erfahrungsbereich. Besondere Aufmerksamkeit wird religionsdidaktisch auf die Frage nach dem Zusammenhang von Leid und Glauben gelegt. Dass die Theodizeefrage im Leben der Jugendlichen nicht mehr eine so große Rolle spielt – zumal in ihrer philosophischen Gestalt – lässt sich von veränderten Lebens- und Glaubenserfahrungen her kontextualisieren und begreifen21; Fakt ist aber, dass die Frage nach der Entstehung, Bedeutung des Leidens und dem Umgang damit für Kinder22 und heranwachsende Jugendliche23 in Zeiten der Verunsicherung und Riskanz alles andere als verschwunden ist. Dabei wird – jedoch vom eher säkularen Erfahrungshorizont Jugendlicher in der Nachmoderne her – klarer, dass die Verbindung von Leid, Lebensunterbrechung mit Gott nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Die Thematisierung von Leiden geschieht in diesen Ansätzen individuell, sozial und universal. Daher liegt den didaktischen Konzepten daran, dem Umgang mit dem Leid nachzugehen, indem sie allererst daraufhin entdeckt, nachvollzogen oder zuweilen erprobt werden, »wie Menschen ihr Leid gedanklich mit Gott zusammengebracht (Erklärungsmodelle) und es vor Gott herausgeschrieen, geklagt, gelobt, gedankt haben (Umgangsmodelle)«.24 Mit dieser Verlagerung der Bedeutung auf die Anthropologie geht einher, dass die christologischen Modelle der Deutung von Passion und Kreuz Jesu in didaktischen Zusammenhängen andere Bedeutungszuschreibungen erfahren. Die soteriologische Deutung des Kreuzes Jesu als erlösender und befreiender Tod für uns und unsere Sünden ist für viele Menschen und insbesondere Jugendliche schwerlich nachvollziehbar, obwohl das anthropologische Moment der Recht19 Vgl. Stoodt: Unterricht als Therapie?; ders.: Religionsunterricht als Interaktion. 20 Vgl. Heimbrock: Religionsunterricht im Kontext Europa; Zilleßen: Und der König stieg herab von seinem Thron. Für einen Überblick über neueste Entwicklungen siehe Grümme / Lenhard / Pirner : Religionsunterricht neu denken. 21 Vgl. Ritter / Hanisch / Nestler / Gramzow : Leid und Gott. 22 Vgl. Oberthür : Kinder fragen nach Leid und Gott. 23 Vgl. Stögbauer : Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen. 24 Ritter : Leid und Gott, 20.
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fertigung als Annahme der eigenen fragilen und endlichen Person nach wie vor wichtig ist und die Symbolik des Kreuzes für eigene subjektive Be-Deutungen in Anspruch genommen wird.25 Da Lehrerhandreichungen, Arbeitshilfen und didaktische Konzepte in erster Linie den Modus des Planens setzen, ist in ihnen kaum damit zu rechnen, was in genau dem Ernstfall zu tun ist, der selbst den Unterricht über Leiden, Tod etc. unterbricht und an die Grenzen von Unterricht gelangt. c. Für das professionelle Handeln der Religionslehrkräfte ist das Wissen über den Umgang mit Ernstfällen und Krisen in der Schule gefragt, das Kriterien und Handlungsanleitungen für ReligionslehrerInnen einschließt, auf derartige Ernstfälle einzugehen. Im Bereich der Schul- und Jugendseelsorge werden am ehesten die Problembereiche, Sondersituationen und Unterbrechungen als Schwerpunkte religionspädagogischen Handelns fokussiert, da Krisen und Leid nicht nur als ausgegrenzte Störfaktoren, sondern als Elemente von Religionsunterricht angesehen werden, die im Wissen der Lehrenden zur Geltung kommen. Dieser Bereich ist bisher jedoch im Gesamt der Religionspädagogik vernachlässigt, vor allem systematische Erschließungen sind bisher rar und werden erst langsam vorgenommen.26 Dabei macht sich zum einen bemerkbar, dass die Schulseelsorge traditionell in den Händen von SchulpfarrerInnen mit Entsendungen und Beauftragungen liegt und sich auf einer wichtigen Schnittstelle von Schule und Kirche bewegt. Seit einiger Zeit verändert sich die Bedarfslage in hohem Maße: Mit wachsender Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen werden Vereinsamung, Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, Leistungsdruck und familiäre Verschiebungen als Anforderungssituationen für eine schulseelsorgerliche Kultur wahrgenommen. Bisher liegt ein Fokus der Beschäftigung daher auf Themen wie Krisen- und Notfallseelsorge in der Schule. Dabei bleibt die Verbundenheit mit dem Religionsunterricht – auch über therapeutischen Religionsunterricht hinaus – gewahrt27, da die Interaktion zwischen Religionslehrkräften und SchülerInnen eine entscheidende Basis bildet. Zunehmend wird eine nötige Öffnung von Schulseelsorge in mehrerlei Hinsicht thematisiert: Dafür sind zum einen die veränderte Schul- und Lebenszeit (Trend zu Ganztagsschulbetrieb), die Verbindung zu außerschulischen Einrichtungen und Aktivitäten (z. B. Jugendarbeit28) richtungsweisend. Zum anderen wird aber 25 Vgl. Albrecht: Für uns gestorben; dies.: Vom Kreuz reden im Religionsunterricht. 26 Zu den Ausnahmen zählen v. a. Riess / Fiedler : Die verletzlichen Jahre; Lames: Schulseelsorge als soziales System; Koerrenz / Wermke: Handbuch Schulseelsorge; Dam: Schulseelsorge in der pluralen Schule. In etlichen Gesamtdarstellungen der Religionspädagogik taucht Schulseelsorge weder als Handlungsfeld noch als Dimension auf (z. B. Grethlein: Religionspädagogik; Schulte / Wiedenroth-Gabler: Religionspädagogik). 27 Vgl. Büttner : Die seelsorgerliche Dimension im Religionsunterricht. 28 Vgl. Dam / Zick-Kuchinke: Evangelische schulnahe Jugendarbeit.
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auch systemisch deutlich, dass der Personenkreis der Involvierten und Betroffenen über die SchülerInnen hinaus zu erweitern ist. Und damit ist Schulseelsorge nicht mehr als ein eigenes, abgegrenztes Handlungsfeld zu betrachten; die Verhältnisbestimmungen zwischen Religionsunterricht, Schulgottesdienst, Beratung, Schulkultur und außerschulischen Lernorten sowie die Rolle von Schulseesorge als Beitrag zu Schulentwicklung bleiben eine wichtige Aufgabe. Im Blick auf die Rolle, Aufgabe und das Selbstverständnis von ReligionslehrerInnen ist damit viel Klärungsarbeit verbunden, die in der Praxis täglich stattfindet, deren Reflexion aber noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. d. Noch krasser verhält es sich im Schnittfeld von Religionspädagogik und Diakonie29, da beide Bereiche mit der Verselbständigung der Organisationen auseinanderliefen. Auf diese Weise droht die diakonische Dimension religiöser Erziehung zu verschwinden. Erst mit der Öffnung von Schule und inzwischen mit der Einsicht in den Gedanken inklusiver Bildung ergibt sich damit erneut ein Arbeitsfeld.30 Mit bildungstheoretischem Blick lassen sich bildungspolitische Entwicklungen beäugen und erkennen: Je deutlicher die beruflichen und damit auch gesellschaftlichen Perspektiven für SchülerInnen mancher Schulformen schwinden, je weiter die Schere zwischen Bildungsansprüchen und Bildungschancen auseinanderklafft, desto breiter wird das Spektrum dessen, was pädagogisch wie gesellschaftlich als »Störung« von Unterricht bezeichnet wird.31 Fragt man nach den Anknüpfungen an Lebenswirklichkeit, von denen her Jugendliche sich überhaupt mit Religion befassen, so sind Unverfügbarkeitserfahrungen einer der Gründe gegen den Plausibilitätsverlust von Religion bei Jugendlichen. Im Rahmen religiöser Bildung ist die Unverfügbarkeit von Bildung an sich gegeben. Darüber hinaus auf Beispiele von Unterbrechung im Sinn von ernsthaften Schwierigkeiten, Problemen und Nöten einzugehen, fordert umfassendere konzeptionelle Überlegungen. Nicht ohne Grund sucht etwa Elisabeth Nauraths ethischer Ansatz zum Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung denen Rechnung zu tragen, indem er in letztlich sozial- und friedensethischer Perspektivierung auf die Veränderung von Notsituationen durch die Förderung emotionaler Kompetenzen setzt.32 Hier liegt die Nahtstelle für die professionstheoretische Beschäftigung mit dem Eingehen auf die bislang bedachte Bedeutung von Unterbrechung – und es ist schon jetzt zu erahnen, dass den Aufgaben von Lehrenden viel weiter als im 29 Vgl. Heimbrock: Pädagogische Diakonie. 30 Vgl. Pithan / Schweiker : Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. 31 In der medialen Öffentlichkeit wird am ehesten verhandelt, was mit dem Slogan vom »Chaos im Klassenzimmer« bezeichnet wird. Vgl. ARD Panorama vom 5. 7. 2007: Unterricht unmöglich – erschreckende Internetvideos aus dem Schulalltag. 32 Vgl. Naurath: Mit Gefühl gegen Gewalt.
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Blick auf Unterricht hinsichtlich der gesamten Situation von Schule nachzugehen ist. Wie weit können Lehrkräfte schulisch in bestehende Unordnungen Ordnung hineinbringen? Wie sehr sind sie dazu in der Lage, verpflichtet und auch willens, sich Aufgaben der Erziehung zu widmen, denen man nachsagt, sie müssten eigentlich im Elternhaus stattgefunden haben und weiterhin geschehen? Wie balancieren sie ihr professionelles Handeln und wie gestalten sie ihr professionelles Selbst zwischen den z. T. strukturparallelen, dann jedoch wieder aufgabendifferenten Bereichen von Unterricht, Erziehung, Bildung und Seelsorge?33
1.2.3 Zwischen »Normalfall« und »Ernstfall«: ReligionslehrerInnen an den Rändern professionellen Handelns Die eingangs dargestellten Streiflichter religionspädagogisch-schulischer Praxis haben die Aufmerksamkeit auf den Umgang mit Störungen des Religionsunterrichts gelegt. Damit ist noch nicht darauf eingegangen worden, wie das religionspädagogische Handeln der Lehrkräfte geschieht. Daher sollen hier für die Weiterführung hinsichtlich professionstheoretischer Einsichten zunächst noch einmal Vignetten aus meinem eigenen berufsbiografischen Umfeld erinnert werden, die für die genauere Erhebung des professionellen Handelns angesichts der Kontingenzdimension geeignet erscheinen.34 Annett ist Religionslehrerin und Klassenlehrerin in einer 9. Klasse einer Oberschule. Im Religionsunterricht der Klasse wird »Hiob – eine Leidensgestalt« zum Thema. Eines Tages bekommt ihr Schüler Johannes die Diagnose Krebs. Seine Therapie lässt über längere Zeit nicht zu, dass Johannes die Schule besucht. Über viele Monate erteilt Annett ihm Hausunterricht und kommt so in Kontakt mit Johannes’ existentieller und religiöser Situation. Josie studiert Religion als Unterrichtsfach für das Lehramt an Förderschulen. An einem Blockstudientag erzählt sie am Tisch beim gemeinsamen Mittagessen davon, dass sie während ihrer eigenen Schulzeit krebskrank war und als Schülerin bei keinem/r ihrer LehrerInnen auf Verständnis und Einfühlung, sondern vielmehr auf Tabuzonen gestoßen ist. Susanne ist Klassenlehrerin einer 7. Klasse an einer Integrierten Gesamtschule. Zu ihrer Klasse gehört das an Krebs erkrankte Mädchen Miriam – ein Schicksal, das Susanne mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in ihren Schulalltag aufnimmt. Für Miriams Familie ist die Klassenlehrerin ein Glücksfall, weil diese in ihrem vorherigen Beruf Krankenschwester war. Das Vertrauen der Eltern in ihre Betreuung ist groß, sie 33 Vgl. Heimbrock: Evangelische Schulseelsorge auf dem Weg zu gelebter Religion, 64f. 34 Sämtliche Namen und Lebensdetails in den Vignetten sowie im Fall sind anonymisiert.
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sind dankbar für die sensible Weise der Begleitung und Eingliederung, ohne dass die Aufmerksamkeit auf Miriam ausschließlich auf deren Krankheit reduziert wird. Ina unterrichtet einen Großteil dieser Lerngruppe im Fach Evangelische Religion. Ohne die Informationen der Klassenlehrerin Susanne würde Ina im Religionsunterricht nichts davon spüren, dass Miriam ein so schweres Los hat, da diese darüber nur das Nötigste spricht. In einem Gespräch diskutieren die beiden Lehrerinnen den Umgang mit Leid und Krisen in der Schule: Braucht es dafür eine institutionell gestützte Professionalität oder ist ein hilfreicher Umgang mit Krisen von geeigneten Einzelpersonen abhängig? Kai ist Religionslehrer und Experte für Darstellendes Spiel. Derzeit ist er stellvertretender Schulleiter eines Gymnasiums in evangelischer Trägerschaft. In seiner erst kurzen Schulleiterzeit hat er eine einschlägige Erfahrung damit gemacht, dass er einer Kollegin die Nachricht vom tödlichen Unfall einer nahen Verwandten überbringen musste. Diese bedeutete für ihn ein schwieriges Changieren zwischen formalen Aufgaben und seinen Impulsen, eigentlich seelsorgerlich tätig zu werden. Rika ist Religionslehrerin an einem Gymnasium. Seit über 10 Jahren im Dienst, begegnen ihr im Alltag als Religions- und als Deutschlehrerin viele Nöte und Krisen von SchülerInnen und KollegInnen. Obwohl sie in der Schule mit der vollen Stelle, dem Engagement im Personalrat und einigen anderen Aufgaben beschäftigt ist, reift in ihr der Entschluss, den Umgang mit Notlagen professioneller anzugehen. Ihre Tätigkeit in der zweiten Phase der LehrerInnenausbildung bestätigt sie umso mehr in ihrer Wahrnehmung, dass sie für die alltägliche Arbeit mit Krisen und Nöten von SchülerInnen, LehramtsanwärterInnen und KollegInnen Ressourcen und eigene Kompetenzen braucht. Rika bildet sich in Traurerbegleitung und in Schulseelsorge engagiert fort. Während ihrer eigenen Weiterbildung wird ihr mehr und mehr deutlich, dass diese Elemente gerade den AnwärterInnen und jungen KollegInnen in der Ausbildung fehlen.
Diese Spotlights sind ebenso wie die Streiflichter zu Beginn des Kapitels alltägliche Fälle, weil sie der Praxis des religionspädagogischen Schulalltags entstammen. Hier sind jedoch nicht Einzelsituationen innerhalb des Unterrichts geschildert, sondern der Fokus liegt auf einer Lehrperson, einem zentralen Fokus der Situation ihres beruflichen Lebens und einer Information über ihren Umgang damit. Diese Darstellungen ergeben Vignetten professionellen religionspädagogischen Handelns in der Schule. Mit ihnen ist zu fragen: Was unterscheidet Störungen von Ernstfällen? In jeder Schule, in jedem Religionsunterricht gibt es Fälle und Erfahrungen mit Ungewissheiten, welche mehr und weitgehender sind als die schlechthinnige Grenze der Planbarkeit von Unterricht. Dazu gehört, dass sie zwar jeden Tag passieren können, dennoch ReligionslehrerInnen faktisch nicht jeden Tag damit rechnen. – Störfälle stören, unterbrechen und hinterfragen die Normalität eines Unterrichtsgeschehens und bieten eben gerade Reibungsflächen für eine ideal, gar reibungslos gedachte Bildungswirklichkeit, die selbst in neueren didakti-
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schen Planungen weitere Spielräume als ein Unterrichtsinteraktionsgeschehen zwischen einzelnen SchülerInnen, ReligionslehrerIn und der Lerngruppe im Religionsunterricht erfordern. Gestört wird auch eine in neueren Professionalitätsbeschreibungen eingeforderte Operationalisierbarkeit und Nachprüfbarkeit von Unterrichtszielen, die für den Unterricht gesetzt wurden. – Zu Ernstfällen werden in ihnen biografische Krisen, Leid, Unerwartetes an den Rändern des Sagbaren, die eine stören oder unterbrechen. Sie sind gleichsam dahingehend Vor-Fälle oder gar Unfälle, dass die Normalität, wenn sie idealiter konzipiert wird, ins Wanken gerät. Mehr als ein Störfaktor kommt eine unvorhersehbare schwere Krankheit, ein Notfall auf Menschen zu und hinterfragt, relativiert das sonstige Geschehene, den sonstigen Alltag. Die Tatsache, dass solche Einbrüche in dem Beruf nicht geplant und oft auch nicht vorhersehbar sind, konfrontiert mit der Erfahrung der Unverfügbarkeit. Plötzlich ist alles anders, der sorgsam geplante Unterricht ist nicht mehr so wichtig, die rhythmisierten und routinierten Vorgänge in Schule und Unterricht laufen aus dem Ruder.35 Beschäftigt eine Schule eine/n oder mehrere ReligionslehrerInnen, so treten SchülerInnen und KollegInnen, SchulleiterInnen oder gar Eltern oft an diese heran – mit Ratlosigkeit, mit der expliziten Bitte, achtsam mit Personen und Geschehen umzugehen, mit konkreten Erwartungen an Hilfestellungen, manchmal aber auch mit unausgesprochenen Erwartungen an religionspädagogisches Handeln. Zuweilen werden diese Anforderungen auch gar nicht explizit geäußert, sondern vielmehr implizit als Erwartungen deutlich, indem der Religionslehrer oder die Religionslehrerin mehr oder weniger zufällig mit einem Fall in Berührung kommt. Nicht wenige Religionslehrkräfte erheben den eigenen Anspruch, mehr als nur fachlich Unterrichtende zu sein – zumindest in solchen Situationen. Oft sind es gerade die Religionskundigen und ReligionspädagogInnen, die eigene und fremde Erwartungen, aber auch die ganz konkrete Handlungspraxis zu etwas ihnen Eigenen machen. In einigen Fällen und Regionen reagieren Kirche und Ausbildungsinstitutionen auf diese gelebte Praxis und den Notstand mit Aufbauten von Schulseelsorgeelementen und -weiterbildungen, mit oder ohne kirchliche Beauftragung und Einsatz von pfarramtlichen Kräften. Oft steht allerdings keine unmittelbare institutionelle Unterstützung an der Seite, zumindest nicht im täglichen Schulalltag. Wenn ReligionslehrerInnen professionell Handelnde sind, dann können sie 35 Dass diese Annahmen von Normalität nur allzu plötzlich auch institutionell aus den Fugen geraten können, zeigen die erschreckenden Beispiele schulischer Amokläufe, die signalhaft nach den Orten (Erfurt, Winnenden, Ansbach, Ludwigshafen) betitelt werden.
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nicht daran vorbeisehen, dass Leben mehr ist als Lernen und Leisten. Die (Religions-)Lehrkräfte, denen ich im näheren und weiteren Umfeld dieser Studie begegne, haben eines gemeinsam: Unterricht ist für sie ein sehr wichtiges Kerngeschäft, aber ihr ReligionslehrerInnendasein erschöpft sich keineswegs in traditionellen Vermittlungsakten des unterrichtlichen Handelns. Ihre professionelle Praxis berührt solche Bereiche abseits des Unterrichts und auch außerhalb der Schule, in denen Erfahrungen von existenzieller Unverfügbarkeit in Form von Krankheit, leibseelische Einschränkungen des Lebens und existenzielle Bremsungen der Handlungsfähigkeit gemacht werden. Es rückt die Frage ins Blickfeld, inwieweit diese Elemente religionspädagogischer Praxis auch in theoretischen Überlegungen zum religionspädagogischen Handeln und zur Professionalität von ReligionslehrerInnen berücksichtigt werden und welche Bedeutung sie dort haben. Ein weiter gefasstes, in den Zusammenhang von Religion rückendes Begreifen des Phänomens der Störung müsste anderswo ansetzen. Ist es wirklich nur die Struktur des Schulfaches, wie Lachmann sagt, welche die Störanfälligkeit freisetzt?36 Und woran genau liegt diese dann? Inwieweit sind Einbrüche, in der Humanistischen Pädagogik mit der Beteiligung als leidenschaftliches Involviertsein, als »passionate involvement«37 bezeichnete Einwirkungen auch Elemente des Religionsunterrichts selber? So wäre auch der Situs der Religionslehrkraft erst einmal zu orten, bevor Verhaltensmaßgaben und -nahmen veranschlagt würden. Dazu werde ich mir im Laufe der Arbeit auf drei Ebenen einen Überblick verschaffen über die religionspädagogische Bewusstheit der biografischen Notund Ernstfälle. Dabei wird auch zu erkunden sein, in welchen Möglichkeiten und Grenzen sprachlichen Ausdrucks diese Phänomene in ihrer Bedeutung für professionelles religionspädagogisches Handeln im Feld der Schule greifbar werden. Für eine an der Schnittfläche von Handlung und Erfahrung orientierte Schärfung dieses Praxismoments im Professionsverständnis von ReligionslehrerInnen ist daher eine weitere Aufhellung des professionstheoretischen Horizonts gefragt, um eben diese Brille einmal transparent zu machen. Daher wird mit Hilfe professionstheoretischer Orientierungen eine Heuristik von Irritationen, Unwägbarkeiten und Ungewissheiten im beruflichen Handeln von (Religions-)LehrerInnen ermittelt.
36 Vgl. Lachmann: Unterrichtsstörungen. 37 »Disturbances and passionate involvement take precedence« – »Störungen haben Vorrang« (vgl. Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, 121).
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Kontingenz – Empirisch-theologische Herausforderungen
Professionelles Handeln: sozialwissenschaftliche Orientierungen
1.3.1 Profession, Professionalität, Professionalisierung: Begriffsschärfungen Wie anfällig in der Praxis Professionalitätsbestimmungen sind, zeigen Alltagsgebrauch und wissenssoziologische Überlegungen zum Verhältnis von Person und Beruf professionellen Handelns. Der Ausdruck »Professionell« wird meist als Werturteil gebraucht und bezeichnet gut gelingenden, ausgebildeten, elaborierten und fachkundigen Umgang mit Themen und Problemen im Beruf, den Einsatz von Wissensbeständen dabei. Profis beherrschen ihr Feld oder sind hauptberuflich damit beschäftigt (Fußballer!); Amateure sind wie Laien nicht fachlich ausgebildet, sind jedoch als Liebhaber einer Tätigkeit mit der Praxis oder Handhabung einer Tätigkeit befasst und haben einen engeren Bezug zu dieser. Professionstheorien, die im Rahmen von Professionsforschung entstehen, basieren demgegenüber auf sozialwissenschaftlich beschreibbaren Prozessen der Moderne zur beruflichen Differenzierung. Diese Bedeutungsunterscheidung ist konstitutiv für alle berufsbezogenen Aussagen und für pädagogische Bezüge hinsichtlich des Lehrberufes. Somit wird sie sich auch religionspädagogisch als wichtig erzeigen. Michael Meuser geht in einer kleinen phänomenologischen Studie von dem empirischen Befund des tatsächlichen – wissenschaftlichen – Sprachgebrauchs aus, um weitergehend Profession und professionelles Handeln zu differenzieren. Dazu unternimmt er Freitextrecherchen in computergesteuerten Informationssystemen. Sie ergeben für Meuser ein sehr heterogenes Bild bzw. einen bereits in diesem engen wissenschaftlichen Rahmen heterogenen Gebrauch der Begrifflichkeit von Professionalität.38 Für die Fundierung des Professionsbegriffs gelten professionssoziologisch folgende (allgemeine, als Konsens zu begreifende) Kriterien für eine Profession39 : 1. Das Gegenüber von Professionellen und Klienten, das sich durch Vertrauen, aber auch durch ein Kompetenzgefälle auszeichnet 2. Fundierung in der Fachwissenschaft, die damit als organisatorische Macht Autorität gewinnt 3. Einzelfallbezogene statt schematische Anwendung von Wissen 4. Weitgehende Autonomie und Unabhängigkeit von Hierarchien, Autoritäten und Bürokratie
38 Vgl. Meuser : Professionell handeln ohne Profession? 39 Vgl. a. a. O., 257f.
Professionelles Handeln: sozialwissenschaftliche Orientierungen
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5. Sozialorientierung, Dienstgesinnung, Kollektivitätsorientierung, Zentralwertbezogenheit 6. Kontrolle nicht durch staatliche Macht, sondern durch Kollegen, die Profession selbst anhand von Ethik-Kodizes 7. Selektion durch Professionsmitglieder; hohes Qualifikationsniveau durch standardisierte Ausbildungsgänge und strikte Zugangskontrollen-Mandate.40 In dieser funktionalistischen Betrachtungsweise gelten Wissenschafts- und Sozialorientierung, auch Eigenkontrolle als konsensfähigste Kernkriterien bis ca. 1970. Heute wird dagegen stärker die Wissensbasis von Professionellen betont – Berufsstände gibt es häufig nicht, in die das Handeln eingebunden wäre. In vielen Bereichen dominiert das Gewinnstreben als Leitmotiv für berufliches Handeln. Das Gegenbeispiel des »systematischen Personalmanagements«, das für den »Personalchef als Profi« gilt, zeigt einen an ökonomischen Erfolgskriterien orientierten Begriff des professionellen Handelns und demzufolge auch Umdeutungen in der Zielperspektive des professionellen Handelns. Relevant ist z. B. die eindeutige Relation zu Erfolgspotentialen. Verhaltensorientierung meint in dem von Meuser gewählten Beispiel das Befassen des Personalmanagements mit »Motiven, Bedürfnissen und Werten für die Mitarbeiter« – dies meint jedoch keinesfalls einen Klientenbezug im Sinne der Professionssoziologie.41 Auf die Spitze getrieben wird die Möglichkeit der Umwertung in einem anderen Beispiel zum »Spendenmarketing«, in dem zwar von einem Zentralwert Spenden die Rede ist, dieser jedoch keine Relevanz für die Professionalität bekommt. Professionalisierung wird in dieser Diskussion ausschließlich unter Marketinggesichtspunkten diskutiert, wie Spendenpotentiale genutzt und Spendenquellen ausgeschöpft werden können, um komparative Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Sicher ist zu relativieren, dass Meuser damit nur unzureichend dem ethnografischen Weg, den Sprachgebrauch von Professionalität zu erkunden, nachgeht, da es hier ja um betriebswirtschaftliche Diskurse geht. Für mein Interesse einer theoretischen religionspädagogischen Blickschärfung wird daran trotzdem deutlich, dass und wie weitreichend semantische Besetzungen und dahinter stehende normativ-ethische Grundlagen in verschiedenen Bereichen differie40 Pfadenhauer nennt im gleichen Band ähnliche professionssoziologische Attribuierungen – vor allem wissenschaftlich fundiertes Sonder- (bzw. ursprünglich Geheim-)Wissen und spezielle Fachterminologien, langandauernde, theoretisch fundierte Ausbildungsgänge auf akademischem Niveau (staatl. Lizenz), berufsständische Normen (code of ethics), wobei Eigeninteressen gesetzlich beschränkt sind (non-profit), exklusives Handlungskompetenzmonopol; der Tätigkeitsbereich besteht aus gemeinnützigen Funktionen, Aufgaben von grundlegender Bedeutung, Autonomie bei der Berufsausübung (Fach- und Sachautorität), Selbstkontrolle durch Berufsverbände und Interessenvertretungen. Das Mandat ist nicht explizit genannt, jedoch impliziert (vgl. Pfadenhauer: Professionelles Handeln). 41 Meuser : Professionell handeln ohne Profession?, 259.
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ren, in denen von Professionszusammenhängen die Rede ist. Daher erfolgen hier zunächst Klärungen der Begriffe, um die es im Folgenden geht.42 Profession. Berufe sind institutionalisierte und ausbildungstaugliche Formen von Arbeit mit spezialisierten Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten; Professionen nehmen demgegenüber einen gesellschaftlich herausgehobenen Stand ein, weil sie für das berufliche Handeln ein besonderes Wissen beanspruchen, das nicht jedermann zugänglich ist, eigene Reflexions- und Kontrollformen hat und als Berufsstand körperschaftlich organisiert ist: »professionalism is a set of institutions which permit the members of an occupation make a living while controlling their work.«43 Professionen haben sich dort ausgebildet, wo die beruflichen Gegebenheiten ein besonders hohes Maß an Macht, Einfluss und Verantwortung in Gesellschaft und Politik ausgebildet haben und damit im Hinblick auf Zugangs-, Qualifikations-, Ausübungs- und Erwerbschancen Autonomieansprüche verbunden waren.44 Zu den klassischen Professionen zählen Jurisprudenz, Medizin und Theologie.45 Das 20. Jahrhundert galt als »Jahrhundert der Professionen«46, weil sich berufliche Felder und Anforderungen in der nachindustriellen Gesellschaft ausdifferenzierten und damit auch in freiberufliche Bereiche eingingen. Zugleich entstanden neue professionelle Ansprüche der psychosozialen, pflegerischen und eben vor allem auch pädagogischen Berufe. Damit entstand die Diskussion um die Weiterentwicklung und Steigerung von Berufen zu Professionen, die Professionalisierung der Arbeitsfelder, die sich darum bemüht, eine Vermittlungsposition in dem Spannungsfeld einzunehmen. Auf professionstheoretischer Ebene wurden professionelle Felder und Tätigkeiten empirisch rekonstruiert, die professionstheoretische Diskussion geschärft und zunehmend differenziert47 – so insbesondere im pädagogischen Bereich, nämlich in Lehrerarbeit und sozialpädagogischen Feldern. Ging es in den 1970er Jahren zunächst darum, Kritik an gesellschaftlichen Machtstrukturen und Rollen theoretisch zu verdeutlichen, bemüht sich die professionstheoretische Forschung seit den 1980er Jahren darum, die Ambivalenzen der Professionen zu beschreiben und an makrosoziale Theorien angelehnt neu zu verorten.48 Mit all dem hat sich das Interesse der Professionsforschung etwas verschoben: Klärte man seit Beginn der zweiten Hälfte des 42 Eine sinnvolle Orientierung zur Unterscheidung bietet dazu Heil: Was ist und wie erlangen Lehrer/innen Professionalität? 43 Freidson: Professionalism, 17. 44 Vgl. Pfadenhauer : Neue Wege der Professionsforschung. 45 Vgl. Flitner : Allgemeine Pädagogik, 15ff. 46 Vgl. Helsper / Krüger / Rabe-Kleberg: Professionstheorie, Professions- und Biografieforschung. 47 Vgl. für berufssoziologische Positionen Luckmann / Sprondel: Berufssoziologie; Beck / Brater / Daheim: Soziologie der Arbeit und der Berufe. 48 Vgl. Olk: Abschied vom Experten; Oevermann: Theorie professionalisierten Handelns.
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20. Jahrhunderts vor allem, was Professionen sind und was diese auszeichnet, wird nunmehr diskutiert, wie Professionalität zu bestimmen ist. Professionalität wiederum meint die Beschreibung des Handelns in einem bestimmten Kontext. Damit deckt sich z. T. das Alltagsverständnis des Wortes: Professionell handelt, wer in einer abgegrenzten Domäne einen fachkundigen Umgang mit Themen und Problemen hat – nicht notwendig an einen Beruf gebunden, aber unter Einsatz von Wissensbeständen. In der Wissenschaft sind zur Bestimmung zwei unterschiedliche Ausrichtungen vorhanden: Funktional verfahrende Theorien bestimmen Professionalität im Zusammenhang mit makrosoziologischen Veränderungen. Tendenziell interaktionstheoretische Bestimmungen gehen demgegenüber von den mikrosoziologischen Beschreibungen konkreter Handlungsmuster und -praxen aus. Sie berücksichtigen dabei Anforderungen, Kompetenzen und Regeln. Professionalität besteht darin, in einem bestimmten Bereich Wissen zu haben, in diesem Handlungsroutinen zu entwickeln und zugleich das Wissen in unvorhersehbaren Situationen anzuwenden. In den neueren Theorien koppelt man strukturtheoretische und kompetenztheoretische Ansätze zur Konkretisierung von Strukturen. Professionalisierung bezeichnet die Entwicklung zu einer Profession hin im Interesse des Aufbaus von Professionalität. Auch hier sind wiederum zwei unterschiedliche Aspekte angesprochen: Gesellschaftlich werden Tätigkeiten und Berufe – zumindest in einem funktional denkenden Modell, das später noch vorgestellt wird, aufgewertet und damit verberuflicht, was mit einer Qualitätssteigerung, höherem Ansehen, Effizienzverbesserung zu tun hat. Entsprechend können je nach gesellschaftlicher Veränderung auch Deprofessionalisierungen stattfinden, weil Berufe weniger gebraucht, aus Standardisierungen und Verwissenschaftlichungen befreit oder in ihrer Bedeutung minimiert werden. Zum anderen ist auch die Alltagsbewältigung durch den Aufbau eben dieses Wissens und der Umgangsformen gemeint. Professionalisierung erfolgt zwischen der Person, dem Beruf und dem Aufbau eines Wissensbestandes.49 In diesem Koordinatensystem richtet sich Professionalisierung auf den berufsbiografischen Aufbau von Professionalität in einer bestimmten Domäne. Die aktuelle professionstheoretische Diskussion, die diese Prozesse in den Blick nimmt, knüpft an die klassischen handlungstheoretischen Auseinandersetzungen von Talcott Parsons, Everett Hughes und Thomas H. Marshall50 an; den Boden bereitet haben aber auch Karl Marx, Max Weber und Emile Durkheim. Damit ist Professionsbezug grundlegend als ein Berufsbezug genannt. Für die Gegenwart haben sich vor allem fünf grundlegende professionstheoretische Fundamente entwickelt: In systemtheoretischen, strukturtheore49 Vgl. Heil: Was ist und wie erlangen Lehrer/innen Professionalität?, 82. 50 Vgl. Stock: Zur sozialen Konstruktion von Beschäftigung in der Moderne.
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tischen, machttheoretischen, symbolisch-interaktionistischen und biografietheoretischen Zugängen wird die Logik professionellen Handelns theoretisch geschärft.51 Diese sollen hier dargestellt werden, um damit verknüpfte pädagogische Problemstellungen heuristisch aufzuzeigen und Grundsteine für die Analyse von Professionalitätsverständnissen in religionspädagogischen Ansätzen zu legen.
1.3.2 Professionstheoretische Ansätze 1.3.2.1 Ahnvater: Max Weber Auch wenn bei Max Weber wohl weniger explizite und ausgearbeitete Typen professionellen Handelns oder Konzeptionen professioneller Organisation zu finden sind52, ergeben sich notwendige Blicke auf Momente seiner Soziologie, an denen die darauf folgenden Professionstheorien nicht vorbeisehen. Konstitutiv ist Max Webers Unterscheidung von Berufung und Beruf. Berufung ist ein Modell charismatischer Herrschaft und dabei durch die »Eingebung des Führers auf Grund der charismatischen Qualifikation des Berufenen« gebunden. Am Modell des Propheten wird die Vorstellung einer Gesandtschaft deutlich, die sich mit einem aus der Führung entgegengebrachten Charisma verbindet.53 Alles Rechtliche, jegliche Art von Verwaltung ist nicht vorgesehen. Berufung als charismatische Herrschaft »ist, als das Außeralltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bureaukratischen, als der traditionalen, insbesondere der patriarchalen und patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt«.54 Für Max Weber heißt dagegen Beruf die »Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person […], welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- oder Erwerbschance« ist.55 Damit unterliegt der Beruf den Gegebenheiten moderner, formaler und materialer Rationalisierung. Er umreißt einen Beruf damit, dass – somit zunächst eingebunden in die Form charismatischer Herrschaft – »Leistungen« einer Person »für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance (sind) […] Zum Ge51 Vgl. Luhmann: Die Funktion der Religion; Stichweh: Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion, Wissenschaft, Universität, Professionen, Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft; Oevermann: Theorie professionalisierten Handelns; Schütze: Sozialarbeit als bescheidene Profession, Paradoxien professionellen Handelns. Berufssoziologische Ausnahmen, die dies marginalisieren oder übersehen: z. B. Daheim / Schönbauer: Soziologie der Arbeitsgesellschaft. 52 Vgl. Seyfarth: Über Max Webers Beitrag zur Theorie professionellen beruflichen Handelns. 53 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, § 10, 140–142. 54 Ebd., 140. 55 A. a. O. § 24, 80.
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genstand selbständiger und stabiler Berufe werden nur Leistungen, welche ein Mindestmaß von Schulung voraussetzen und für welche Erwerbschancen bestehen.«56 Für den Zusammenhang hier erscheint mir wichtig, dass Weber Formen beruflichen Handelns exemplarisch fasst – so in der Rückführung auf charismatische »reine« Formen als Logik schöpferischen Handelns, wie sie in der Reinform nie vorkommen. Dabei begreift er diese Handlungsformen in der Spannung von Außeralltäglichkeit und Alltag, in der die »charismatischen« Ursprünge erhalten bleiben – im Sinne einer verinnerlichten, latent charismatischen Herrschaftsbeziehung.57 Zu diesem Charisma gehört die außeralltägliche Hingabe des Schöpfers an die Logik der eigenen Sache oder des Werkes, der Idee, des Problems. Ebenso fasst Weber das Verhältnis des schöpferischen Individuums zum Schüler, Jünger, Kollegen im Sinne eines charismatischen Herrschafts- oder Führungsverhältnisses. Ein machttheoretisch geprägtes Verständnis von Charisma würde Hierarchisierungen und sicher nicht emanzipatorische Interessen stärken. Diese Art professionellen Charismas wäre aus pädagogischen Gründen abzulehnen. Das Kernelement beruflichen Handelns ist bei Max Weber jedoch die aller historischen und strukturellen Möglichkeit (in der begrifflichen Scheidung von Außeralltäglichkeit und Alltag) »alltägliche (wie wir noch sehen werden: veralltäglichte und veralltäglichende) Erbringung im Ursprung ›außeralltäglicher‹ Leistungen in außeralltäglichen Situationen der ›Not‹, in denen die Möglichkeiten des Alltagshandelns erschöpft sind.«58 Dass sich die Chancen für das Zutagetreten außeralltäglicher Notlagen ändern, hängt für Max Weber mit den Entzauberungsprozessen der Moderne zusammen. Entscheidend ist die berufliche Bewältigung der elementaren Spannung von Außeralltäglichkeit und Alltag, deren Art der Bewältigung sich historisch ändert, deren Spannung als solche aber bleibt. Hier bleibt festzuhalten, dass sich auch innerhalb einer Entwicklung, die Max Weber im Zuge der Entzauberung der Welt als Prozesse wissenschaftlicher Intellektualisierung und ökonomischer Rationalisierung zu fassen sucht, die strukturelle Einbindung schöpferischen, außeralltäglichen Handelns als
56 Ebd., 80. 57 »Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe in Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese Anerkennung ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche Hingabe.« (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 140). 58 Nach Max Weber, siehe Seyfarth: Über Max Webers Beitrag zur Theorie professionellen beruflichen Handelns, 379.
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Bestandteil beruflichen Alltagshandelns durchsetzt.59 Dies wird bei Weber an den freien Berufen wie dem Zauberer, dem Priester und dem Wissenschaftler exemplarisch und kasuistisch durchgespielt. Mit seiner Distinktion von Beruf und Berufung markiert er zumindest indirekt auch den Rahmen für die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Professionalisierung von Religion im Beruf, indem das Fragen nach innerweltlichen Zusammenhängen die Perspektive außerweltlicher Einwirkung als eine andere, insofern auch historische konstatiert. 1.3.2.2 Systemtheoretische Ansätze Systemtheoretisch betrachtet, differenziert nach Niklas Luhmann eine moderne Gesellschaft verschiedene Teilbereiche und Funktionen aus. Diejenigen dieser funktionalen Ausdifferenzierung folgenden Teilbereiche sind auf direkte faceto-face Interaktionen angewiesen, die nicht in der Lage sind, technisierbare Kommunikationsmedien zur Kommunikation ihrer binären Schematismen auszubilden. Die »Duale« oder »binären Schematismen« sind vor allem im Erziehungs- und Bildungssystem und im Religionssystem nicht technisierbar und markieren das Differenzproblem.60 Für dieses Technologiedefizit, nämlich um existenzielle Probleme von Individuen, die nicht zu deren alleiniger Bewältigung in der Lage sind, mit sachverständiger Unterstützung anzugehen, bieten Professionelle Vermittlungshandlungen zwischen den Welten bzw. Dualen von Heil / Leid und Krankheit / Gesundheit, gebildet / ungebildet an, die durch soziale Interaktionen geleistet werden.61 Da diese anspruchsvollen, voraussetzungsreichen und komplexen Kommunikationsvorgänge zwischen derartigen Dualen nur schwer steuerbar sind, bergen die Interaktionen hohe Risiken und verschärfen das Problem der Ungewissheit – z. B. im Lehrerberuf, dass die Absichten von Lehrerhandlungen und -interaktionen der Gefahr unterliegen, nicht erreicht zu werden. Dieses von Luhmann herausgearbeitete Ungewissheitsproblem, das sich am Technologiedefizit zeigt, wird bei Rudolf Stichweh weiter ausdifferenziert und für verschiedene Professionen pointiert. Professionen bilden ein »Phänomen des Übergangs von der ständischen Gesellschaft des alten Europas zur funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne«.62 Gemeinsam mit den geschichtlich gängigen Professionen Medizin, Jura und Theologie hat die Profession des Lehrberufs die gesellschaftliche Inklusionsform, recht nah an den In59 Vgl.a.a.O., 380. 60 Vgl. Luhmann / Schorr : Reflexionsprobleme, Technologieproblem der Erziehung. 61 Interaktion kann nicht technisch geplant werden, aber durch Coping, vgl. Luhmann / Schorr : Reflexionsprobleme im Erziehungssystem; dies.: Technologieprobleme der Erziehung. 62 Stichweh: Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, 50.
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dividuen zu arbeiten. »Denn die Professionen bearbeiten existentielle und identitätsrelevante Themen der Krankheit, der Schuld, der Erziehung und des Glaubens.«63 Hier ist persönliche Begegnung und präsentische Kommunikation, somit Interaktion (nach Luhmann) vorausgesetzt, denn Professionen befassen sich mit der »Bewältigung kritischer Schwellen und Gefährdungen menschlicher Lebensführung«.64 Von Profession oder Professionalisierung einer Berufsgruppe kann also dann gesprochen werden, wenn »die für die Bearbeitung von Problemen der Strukturveränderung, des Strukturaufbaus und der Identitätserhaltung von Personen eingesetzt wird«.65 Professionen sind dort verortet, wo es um die Auseinandersetzung mit der »personalen Umwelt des Gesellschaftssystems« geht.66 Professionelle Handlungen werden systemtheoretisch durch dreistellige Relationen bestimmbar, die sich zwischen dem oder der Professionellen, den Professionslaien bzw. Klienten bzw. Schüler und der kulturell relevanten Sachthematik ergeben, welche die jeweilige Profession repräsentiert und vermitteln soll. Damit gelten Interaktion und Vermittlung einer Sachthematik als die wesentlichen Bezugsgrößen einer Profession. Für eine solche Vermittlung werden aber, so heben Combe und Helsper hervor, auch gesellschaftliche Voraussetzungen markiert – dazu gehören ein balanciertes Verhältnis von Autonomie und Kontrolle, Professionsverbände, wissenschaftliche ausbildungsprofessionelle Sozialisierungen und Habitualisierungen, die dafür Rechnung tragen, dass sich der oder die Professionelle nicht in Prozesse verstrickt, welche die idealtypische Logik der Beziehung Professioneller-KlientIn destruieren.67 Stichweh schlägt vor, Professionstheorie in ihrem Horizont zu verändern. Neben dem Vergleich der Professionen untereinander sei es auch erforderlich, »Professionalität als Problemlösungsmuster mit anderen Problemlösungsmustern der modernen Gesellschaft zu vergleichen«.68 Ausgehend davon, dass »Professionalisierung nur ein bestimmtes Lösungsmuster für spezifische Probleme in einigen Funktionssystemen ist«69, rät Stichweh, nicht Berufe, sondern Funktionssysteme zu vergleichen. Im Horizont dieser Arbeit sehe ich: Mit dem christlichen Religionssystem hat das Bildungs- und Erziehungssystem gemeinsam, dass es – anders als das Gesundheits- oder das Rechtssystem, das im Wesentlichen auf Probleme und Krisen fixiert ist – auch auf Zukunft, Freude und 63 Stichweh: Professionen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert; Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Vgl. Karle: Pfarrberuf als Profession, 31ff. 64 Stichweh: Professionen und Disziplinen, 296. 65 Stichweh: Professionalisierung, Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, Inklusion, 43. 66 A. a. O., 42; vgl. Helsper / Krüger / Rabe-Kleberg: Professionstheorie. 67 Vgl. Combe / Helsper: Pädagogische Professionalität, 13f. 68 Stichweh: Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, 58. 69 A. a. O., 57f. (H.i.O).
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Hoffnung baut. Die gegenwärtige Wirklichkeit sieht jedoch so aus, als würde zwar von gesellschaftlicher, bildungspolitischer Seite her die Sache der Bildung und Befähigung von Kindern und Jugendlichen zu Leistung im Vordergrund stehen; zugleich schafft sie mit vermehrten Wiedererrichtungen schulseelsorgerlicher und interaktioneller Aufgaben die Notwendigkeit des Eingehens auf andere Funktionen. Fraglich ist, ob im Rahmen ausdifferenzierter Funktionen damit sogar eine partielle Dysfunktionalität des Lehrberufes einhergeht. Nach Luhmann machen spezifische und universalistische Wertbildung sowie die Trennung von Rolle und Person deutlich, dass der Lehrberuf als professionalisiert gilt, wenngleich mit zunehmender Schulstufung die Professionalisierungsgrade abnehmen, da weniger pädagogisches und didaktisches Können als vielmehr fachwissenschaftliches Wissen gefordert ist. Zur Profession gehört es gerade nicht, anders als der Fachunterricht eine Übertragung des (geheimen, Meister- / Experten-)Wissens auf die Klienten anzustreben. LehrerInnen arbeiten nur insofern – und demgemäß wohl auch nur da – mit einem Wissen, das sie nicht ihre SchülerInnen lehren und nicht übertragen wollen; je höher die Schulstufe und erst recht in der Universität reduziert sich die Professionalität »auf ein in der Praxis angeeignetes Geschick«70, die professionelle Komponente nimmt ab. Nach Luhmanns Theorie vom Bildungs- und Erziehungssystem hat die Professionalisierung ein Komplement daher in der Organisation; die Tatsache der professionellen und organisatorischen Respezifikationen bringt für den geforderten Bereich inkonsistente Anforderungen mit sich. Die Respezifikation erfährt in der pädagogischen Beziehung eine wichtige Modifikation: Grundsätzlich besteht das Wissen von Professionen weniger in der Kenntnis von Regeln und Prinzipien als vielmehr in der Verfügung über eine ausreichend große Zahl komplexer Routinen, die in unklar definierten Situationen eingesetzt werden können.71 Luhmann sieht auch, dass die Respezifikation, die der Lehrberuf erfährt, nur zum Teil über ein entsprechendes Fachwissen geschieht. Mit Stichweh ausgedrückt: Da auch auf dieser Ebene Vermittlung nicht technologisierbar ist, bleibt das Verhältnis zwischen Professionellen und Klienten mit Spannungsmomenten und Risiken behaftet, da die Absichten zurückgewiesen, möglicherweise nicht eingelöst werden können. Den Ausweg aus der Irritation durch das Respezifikationsproblem72, das sich zuspitzt in Diskrepanzen zwischen gesteckten Zielen und realen Leistungen, sieht Luhmann gegenwärtig in dem immer wieder aufgegriffenen und von ihm kritisierten Bemühen um Reformen, deren Erfolg ebenfalls inkonsistent ist.73 Daher gehört 70 71 72 73
Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, 151. Vgl. a. a. O., 149. Das ist von einer Theorie der Organisation zu unterscheiden. Vgl. a. a. O., 166.
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zu diesen Respezifikationen, auf Elemente der Ungewissheit vorbereitet zu werden.74 Vermittlung ist also nicht technologisierbar, daher bleibt das Verhältnis zwischen Professionellen und Klienten mit Spannungsmomenten und Risiken behaftet – insbesondere was die Ungewissheit angeht. Luhmann betrachtet Profession und Organisation als komplementäre Formen der Respezifikationsformen des Erziehungssystems. Für pädagogisches Handeln ist damit zurückzufragen, inwieweit professionelles Lehrerhandeln an Funktionssysteme gebunden ist und wie sich dieses Verhältnis in der professionellen Praxis auswirkt. Außerdem bleibt interessant, ob die religionspädagogische Zuschreibung auch eine zusätzliche Respezifikation darstellt oder ob das Verhältnis von Profession und Organisation hier andere Dynamiken evoziert. Dieser Gesichtspunkt wäre auch für den schulischen Umgang mit professionellen Vermittlungsinteraktionen nicht unwichtig: Der Einbezug von externen Instanzen nicht zur Kontrolle, sondern zur Partizipation an Bildung und Lernen nimmt in dem Maße zu, wie die alltägliche Schulzeit ausgedehnt wird. Die Entwicklung der Schulen zu Ganztagsschulen verbindet sich notwendigerweise mit der Frage, welche Funktionssysteme auch praktisch zur Gestaltung von Lernen und Leben für die Jugendlichen beteiligt sind, und auch, welche eher ausgeschlossen werden. Fragwürdig ist, ob es in der Schule andere verberuflichte Leistungsrollen gibt. Es bleibt in Bezug auf die Substanz der postulierten Dreistelligkeit dann auch kritisch zu fragen, ob die zugrunde liegende Sachthematik der Lehrerprofession in der Praxis nicht häufig mit selbstverständlich gedachter Fachlichkeit und Fachdidaktik gleichzusetzen ist und damit die eigentliche Vermittlungsleistung, die viel komplexer ist, simplifiziert wird. Daran wiederum hängt die Frage nach Professionsbeschreibungen von LehrerInnen – sollen sie sich von der Erziehung verabschieden und, wie es Rollenbeschreibungen von ModeratorInnen eher entwerfen, zu LernhelferInnen werden?75 In dieser Hinsicht hilft das Gespräch mit einem theologischen Entwurf weiter, der auf eine andere Vermittlungsleistung im Bereich Religion setzt. In einem stark professionsethischen Bemühen orientiert sich die in den letzten Jahren renommierte Professionstheorie für den Pfarrberuf76 von Isolde Karle an Luhmann, Stichweh und Goode: Grundlegend ist hier Vertrauen – die Angewiesenheit auf Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit.77 Zum Schutz dieses Vertrauens »haben die Professionen Professionsethiken entwickelt, die bestimmte Verhaltensnormen garantieren, Verhaltenserwartungen generalisieren 74 75 76 77
Vgl. a. a. O., 152f. In der Position von Hermann Giesecke: Das Ende der Erziehung. Historisch siehe Schmuhl/ Kuhlemann: Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert. Vgl. Karle: Der Pfarrberuf als Profession, 72.
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und damit der Vertrauensbildung dienen.«78 Karle spricht von »professionsethischen Verhaltenszumutungen«, die sie für Lehrerinnen am Beispiel der Verpflichtung verdeutlicht, »keinen Schüler und keine Schülerin bevorzugt zu behandeln oder gar mit ihr oder ihm eine Intimbeziehung zu beginnen«; damit ist ein Berufsethos und »Verantwortung gegenüber dem Professionslaien« angesprochen.79 Diese und andere Ebenen von Professionsethik gehören zur Selbstbindung der Professionen; sie dient nach außen auch dazu, Schädigungen des Berufsstandes abzuwehren. Die professionelle Interaktion lebt nach Karle von der asymmetrischen Rollenverteilung und diesbezüglichen Unterscheidung von Leistungsrollenträger und Publikum – braucht aber mehr funktionale Differenzierungen. Gegenwärtig werden im Religionssystem der Kirche Asymmetrien abgebaut80 – sichtbar etwa durch die Stärkung von Ehrenamtlichen und Laienbewegungen wie »Freiwilligenmanagement« – dort jedoch entstehen, so eben die Ungewissheit, immer wieder neue Asymmetrien.81 Grundlegend wird in Karles pastoraler Professionstheorie stark gemacht, dass berufliche Identität nicht subjektiv und individuell zu verorten ist, sondern eingebunden in Funktionssysteme erfolgt. Diese Perspektive hilft die Eingebundenheit in die von Luhmann ebenfalls verdeutlichten Organisationen zu begreifen. Damit steht allerdings – genau wie für den Pfarrberuf – auch für den Lehrberuf auf dem Spiel, inwieweit eine solche Bestimmung von Professionalität nicht eine professionstheoretische Marginalisierung der pädagogischen und religionspädagogischen Individualität zugunsten einer gesteigerten Funktionalisierung nicht nur von Stellen, sondern auch von »Lehr-Kräften« bedeutet.82 Für die Frage nach der Rolle der professionellen Praxis angesichts von Ernstfallsituationen bei ReligionslehrerInnen bleiben einige der bei Isolde Karle und im Umfeld diskutierten Kriterien relevant. Als wichtig erachte ich dabei z. B. die ins Feld geführte Überkomplexität, die nach Luhmann ein Kennzeichen eigentlich aller Professionen ist. Die von Karle angeführte »komplexitätsreiche Sachthematik« ist in diesem Fall auf individuelle Professionelle mit sehr heterogenen Profilen der Erwartung und unterschiedlichen biografisch-existenziellen Lebenssituationen bezogen.83 Damit ist die Kategorie der Ungewissheit für professionelle Berufssituationen auch systemisch eingetragen. Gerade ange-
78 79 80 81 82
A. a. O. 73. Ebd. Vgl. a.a.O, 48. Das entspricht Giesecke: Das Ende der Erziehung, 403. Entsprechend kritisiert Hermelink zu Recht mit Vehemenz die »professionstheoretische Marginalisierung der pastoralen Individualität« (Hermelink: Professionelle Verabschiedung der pastoralen Subjektivität, 159). 83 Vgl. Karle: Der Pfarrberuf als Profession, 202.
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sichts dieser Tatsache bleibt zu fragen, wie weit die »Generalistenrolle« einer Lehrkraft reicht und wo ihre Personalität gefragt ist. 1.3.2.3 Strukturtheoretischer Ansatz Für Ulrich Oevermann geht es in seiner Orientierung an Max Webers Idealtypik um die eine Strukturlogik von professionellem Handeln, anhand dessen die Notwendigkeit von Professionalisierung dargestellt wird. In modernen Gesellschaften, die sich selbst zwischen wachsender Autonomie und gesteigerter Verantwortung bewegen, bilden Professionen einen »sozialen Strukturort« der Ausbalancierung, um mehreren Ansprüchen gerecht zu werden und die Auseinandersetzung mit Krisen, den Umgang mit Geltungsfragen und die Erschaffung von Neuem stellvertretend miteinander zu vereinbaren. Darin sei diese Handlungslogik einem religiösen Vorläufermodell ähnlich: dem des charismatisch-religiösen Prophetentums.84 Professionelles Handeln fokussiert nun drei Aufgaben: die Wahrheitsbeschaffung, also die systematische, methodisch angeleitete und intersubjektiv überprüfbare Bearbeitung von Geltungsfragen (Wissenschaft / Kunst), die Legitimationsbeschaffung, insbesondere im Bereich des politischen und rechtlichen Handelns, sowie die der Therapiebeschaffung im Bereich der physischen und psychosozialen Integritätssicherung.85 Die auf Ulrich Oevermann basierende Strukturtheorie, die zur Basis für viele pädagogische Professionstheorien geworden ist, fundiert auf einem dreipoligen Spannungsverhältnis des Professionellen: Professionelles Handeln geschieht zwischen einem zentralen Gut bzw. einer Sachthematik einerseits und der defizitären Position eines Klienten andererseits. Ausgehend von der Beschreibung einer besonderen Brisanz und Riskanz des professionellen Handelns entwickelt Oevermann einen entsprechenden »Idealtypus«86, dem spezifische Voraussetzungen unterliegen. Dieser wird in einem »pädagogischen Arbeitsbündnis« verwirklicht, dessen Aufgabe die Vermittlung von widersprüchlichen Handlungszusammenhängen im Interesse einer Bearbeitungsgarantie für Wahrheit, Gerechtigkeit, Integrität, Erfolg und Gesundheit ist. Professionelle Praxis ist für Oevermann eine »gesteigerte Praxisform«, da sie darauf ausgerichtet ist, eine »autonome Lebenspraxis« (wieder) herzustellen. Aufgrund ihrer Position als stellvertretende Deutung ist diese Praxisform in hohem Maße verantwortlich für die Stärkung der Autonomiepotentiale der Lebenspraxis anderer Menschen und nimmt auf diese Einfluss, da die Klienten 84 Vgl. Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns, 81ff, der hier Max Webers Berufsätiologie aufnimmt. 85 Vgl. Helsper / Krüger/ Rabe-Kleberg: Professionstheorie, Professions- und Biographieforschung. 86 Nach Weber : Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.
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das Ideal der autonomen Lebenspraxis entweder lebensgeschichtlich oder lebenspraktisch noch nicht erreicht haben oder aber darin (vorübergehend, situativ oder irreversibel) beeinträchtigt sind.87 Dabei soll diese Praxis weder durch eine komplette Verwissenschaftlichung bevormundet noch soll wissenschaftliche Rationalität eingebüßt werden, da diese dazu erforderlich ist, wissenschaftlich begründete und begründbare Problemlösungen zu finden. Professionalisiertes Handeln gilt demzufolge als »gesellschaftliche[r] Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter Bedingung der verwissenschaftlichten Rationalität«.88 Folglich ist es nicht verwunderlich, dass gerade Therapie als Grundform professionellen Handelns die größte Bedeutsamkeit erlangt. Anhand der idealtypischen Rekonstruktion des therapeutischen Settings postuliert Oevermann das »Arbeitsbündnis« als prophylaktische Struktur, welche die hohen Risiken und Anfälligkeiten dieser Beziehung auch hinsichtlich potenzieller Abhängigkeit kontrollieren und behandeln kann. Professionelle Praxis ist damit letztlich auch eine in sich paradoxe praktische Vermittlung von Theorie und Praxis, die dauerhaft die Bearbeitung bestimmter Spannungen am Laufen hält: Zu denen zählen Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung, Rekonstruktionsund Subsumtionslogik und schließlich »unterschiedliche Facetten einer sowohl diffusen, partikularistischen und zugleich spezifischen, universalistischen und rollenförmigen Beziehungsstruktur«.89 Diese Strukturmerkmale sind am Beispiel von Pädagogik verdeutlicht. Oevermann skizziert drei Funktionen des Lehrerhandelns als maßgeblich: Wissensvermittlung (Bildung), Normenvermittlung (Ethik / Erziehung), Therapie. Nach Oevermann ist der Lehr(er)beruf eine Profession par excellence, denn in ihm ist durch die Aufgabe der Bearbeitung der Ähnlichkeit mit häuslich-familiärer Sozialisation einerseits und die allgemeine strukturale Professionstheorie andererseits eine spannungsvolle Logik enthalten. Damit sind die beiden Merkmale Gesellschaftsfähigkeit und Komplexität hervorgehoben. Als Orientierung dient die Form der Therapie; sie bildet die jüngste vergleichbare, mit schwer nachvollziehbarem Setting behaftete Struktur. Für den pädagogischen Bereich bedeutet dies, dass Pädagogik als Fall von Therapie gedacht wird und eine starke Orientierung am Idealtypus professionellen Handelns im therapeutischen Arbeitsbündnis erfolgt. Gründe dafür liegen für Oevermann in der 87 Vgl. Helsper / Krüger / Rabe-Kleber : Professionstheorie, Professions- und Biographieforschung. 88 Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns, 80. 89 Hier in kritischer Reformulierung des Ansatzes von Parson, der im Rahmen dieser Arbeit nicht näher aufgegriffen wird; Helsper / Krüger / Rabe-Kleberg: Professionstheorie, Professions- und Biographieforschung, 2, vgl. auch Wernet: Professioneller Habitus im Recht, 34ff.
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tiefenpsychologisch fundierten psychosozialen Entwicklungstheorie, nach der SchülerInnen bis zur Pubertät und über Latenzphasen hinweg nur bedingt autonom sind. »Pädagogisches Handeln ist also unter dem Aspekt seiner objektiv gegebenen therapeutischen Dimensionen ein prophylaktisches Handeln im Hinblick auf sein Potential der Weichenstellung der Biografie von Schülern in Richtung auf psychosoziale Normalität oder Pathologie.«90 Das Arbeitsbündnis wird dadurch charakterisiert, dass die Interaktionspraxis für die Heranwachsenden folgenreich ist, denn diese sind in ihrer ganzen Persönlichkeit betroffen.91 Oevermann sieht als Indikatoren die fehlende Professionalisierung des pädagogischen Handelns – aus der pädagogischen Praxis betrachtet – darin, dass »die Lehrer diese widersprüchliche Einheit von Diffusität und Spezifität nicht aufrechterhalten können, sondern entweder zur distanzlosen ›Verkindlichung‹ des Schülers oder zum technologischen, wissensmäßigen und verwaltungsrechtlichen Expertentum zerfallen lassen.«92 Damit ist die Gefahr einer Vereinfachung und vermeintlichen Klarstellung vermerkt mit der Folge, dass die SchülerInnen als Gegenüber in ihrer Andersheit nicht genügend oder gar nicht wahrgenommen werden. Sozialwissenschaftlich argumentiert Oevermann damit zu Recht gegen das – hier etwas banal generalisierte – »Selbstverständnis der Normalpädagogik«, welches dafür mitverantwortlich zeichne, dass Professionalisierungen in sonderpädagogischen Bereichen – die auch denen sozialer Arbeit näher liegen – weiter vorangetrieben sind.93 Weil die Schulpflicht ersatzweise heteronom die fehlende Autonomie des Schülers ersetzt, damit aber in die Falle tappt, dass genau die erwünschte Autonomie wieder zurückgestoßen wird, ist Oevermanns Position die einer »professionalisierten, mäeutischen Pädagogik durch die in sich autonome Praxis des pädagogischen Arbeitsbündnisses, in dem der Schüler den Vorgriff auf die spätere, in der Selbstverantwortlichkeit der Rechtsperson verkörperte Autonomie im Probehandeln des lernenden Problematisierens und Problemlösens einlöst.«94 Die Lösung dieser Professionalisierungsbedürftigkeit liege in einer Pädagogik als Hebammenkunst, welche die stellvertretende Deutung einer Problemstellung durch den Professionellen und sokratische Hinführung des Laien an eben diese beinhaltet. Mit dieser Pädagogik mündet dann auch Oevermanns Professionalisierungsthese in eine Kriteriologie und damit in eine stärker explizite Normativität: Übertragung und Gegenübertragung gelten als Strukturen, die es pädagogisch zu verschränken gilt. Aufgrund fehlender Pro90 91 92 93 94
Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns, 149. Vgl. a. a. O. A. a. O., 155. A. a. O., 151, vgl. 152ff. A. a. O., 170.
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fessionalisiertheit kommt es zu Strukturfehlern; ähnlich wie bei Therapeuten müssen Gegenübertragungen zugelassen werden. Pädagogisch professionelles Handeln konzentriert sich völlig auf Arbeitsbündnisse in Freiwilligkeit: Da die Strukturlogik eines pädagogischen Arbeitsbündnisses mit der Schulpflicht kollidiert und damit ein für Oevermanns Grundgedanken unvereinbares Spannungsverhältnis besteht, ist seine Schlussfolgerung, die Schulpflicht abzuschaffen. Widerstände des Schülers wären stattdessen innerhalb des Arbeitsbündnisses durchzuarbeiten. Schaut man zurück in Max Webers Einführungen in die Berufssoziologie, wie sie vor allem in Wissenschaft als Beruf erfolgt, wäre mit dieser Theorie rekonstruktiv ebenfalls ein Strukturkern auszumachen, der machttheoretisch mit enormen Schwierigkeiten belegt ist. Im strukturtheoretischen Ansatz ist professionelle Praxis eine Form des »wissenschaftlichen Problemlösens in der Praxis«, also Vermittlung von Theorie auf der Ebene der professionellen Akteure oder – anders formuliert – eine »Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Praxis und hermeneutischem Fallbezug«.95 Oevermann zufolge müsste diese Form pädagogischer Beziehung die beiden anderen Strukturmomente der Wissens- und Normenvermittlung in sich aufnehmen. Dieses Verhältnis zueinander – und dies ebenso mit Oevermann – in Fallstrukturen genauer zu erschließen, wäre dann aber auch eine Aufgabe entsprechender empirischer wissenschaftlicher Praxis. Professionelle LehrerInnen sind weder Zauberer noch WissenschaftlerInnen noch PriesterInnen, und doch wäre an deren Strukturkernen etwas über professionelle Rollen auszumachen und abzugrenzen. Oevermann führt das Modell des charismatisch inspirierten Propheten zu dem des Therapeuten weiter. Nun wären religionsgeschichtliche Zusammenhänge gefragt, um notwendige Differenzierungen vornehmen zu können: Liegt im pädagogischen Arbeitsbündnis auch noch etwas von der Heilungsdimension der Therapeuten, Heiler, Ärzte? Geht das Idealbild des Propheten für die pädagogische Profession noch darüber hinaus, weil mit ihm auch das je gegenwartsdiagnostizierende, politische und soziale Engagement sowie Zukunftsweisendes hervorgebracht wird?96 Teilt man Oevermanns Konsequenz der Schul(pflicht)abschaffung nicht, sondern stellt einmal schulpädagogisch die Frage nach dem Raum, welchen professionelle Beziehungen brauchen, um eine heilsame Gestalt zu finden, wird zumindest deutlich: Propheten müssen gehört und wahrgenommen werden. Lehrerprofessionalität benötigt einen Praxisrahmen, der ermöglicht, dass das Gelingen eines Arbeitsbündnisses nicht ausschließlich auf den Schultern und Belastungen von LehrerInnen lastet. Kurz: Die Ungewissheitsstruktur, welche 95 Kraul / Marotzki / Schweppe: Biographie und Profession, 8. 96 Sprichwörtlich sind Propheten weniger Vorhersager als vielmehr Hervorsager!
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professionellen pädagogischen Beziehungen ebenfalls inhärent ist, erfordert m. E. umso mehr eine Form von sicherndem Kontext und Rahmen zur Stärkung der Tragfähigkeit pädagogischer Bündnisse; in jedem Falle bleibt achtsam hinzusehen, welche Rollen damit institutionellen und kontextuellen Bedingungen zugemessen werden. Das strukturtheoretische Modell mit dem Schwerpunkt auf dem pädagogisch-therapeutischen Bündnis bleibt in jedem Fall angesichts gegenwärtiger bildungspolitischer Tendenzen zu stärker wissenstheoretisch konturierten Professionalitätsmodellen eine Herausforderung für den Lehrberuf.
1.3.2.4 Machttheoretische Ansätze Machttheoretische Ansätze thematisieren Machtverhältnisse und soziale Gleichheit bzw. Ungleichheit und damit auch Prozesse der Professionalisierung und Deprofessionalisierung; ihr Interesse ist die Sicherung der Professionen, Monopole und Privilegien, weil sie die Einflüsse auf die Gesellschaft erweitern, indem Strukturen, Normalitäten und Disziplinen definiert werden. Damit kommen zum einen gesellschaftliche Strukturen von Arbeit in den Blick, aber vor allem die Entwicklung und Verschiebungen von Einfluss. Diese Perspektive wird von Machttheorien kritisch unter die Lupe genommen. Seit den 1970er Jahren wurde durch sie eine Rollenkritik von Professionellen verlautbart: Sie gelten als Bevormunder von Laien, die eine zentrale Größe in den Manifestationen gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und der Beeinflussung von Lebenswelt bildeten, und als Triebkräfte in Diskursen zur Normalisierung und Disziplinierung. Professionalisierung galt als Prinzip des statusverbessernden Aufstiegs für entsprechende berufliche Bereiche und als Ausdehnung expertokratischer Kontrollformen. Damit ist auch das strukturelle Problem professionellen Handelns in der »Verschiebung von Machtbalancen«97 deutlich geworden, dass die professionelle Macht anfällig ist für Missbrauch und Kontrolle. Auch Diskurse zur Normalisierung können dazu führen, dass Professionalisierung sich – zumal unter wachsender Dominanz ökonomischer Marktorientierung – gegen die berufliche Klientel und die Adressaten wenden kann. Professionstheoretiker wie Larson, Forsyth, Danisiewics, Abott, Daheim und Rabe-Klebeberg befassen sich daher mit der »Entstehung, Etablierung und Durchsetzung von Professionen im Kontext sozialer Macht und Ungleichheit«.98 Daheim unterscheidet zwischen einem »expertokratischen und einem sich neu entwickelnden demokratischen Praxisverständnis der Professionellen«99 ; pro97 Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität, 304. 98 A. a. O., 11. 99 Koring: Zur Professionalisierung der pädagogischen Tätigkeit, 324f.
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fessionelles Wissen, welches Klienten und Laien nicht haben, bedeutet für das Verhältnis von Professionellen und Klienten die Manifestierung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Aufgrund (trotz mangelnder Bildungsgerechtigkeit) historisch gesehen zunehmender Bildungsangleichungen lehnen mehr und mehr Klienten diese Abhängigkeit ab und erheben Kontrollansprüche gegenüber den Professionellen, die wiederum aber nicht in Bezug auf das professionelle Expertenwissen einzulösen sind. Daheim schlussfolgert daraus die Notwendigkeit einer Beteiligung der Klienten an Erfolgskontrollen, wobei eingeräumt wird, dass das Rationalitätsgefälle bei einer solchen »Demokratisierung der Expertise« aufgrund der Ausbildung und Erfahrung des Professionellen zwar verringert, aber keinesfalls aufgehoben werden kann.100 Auch Genderperspektiven auf Berufe und Professionalität sind schwerlich von zumindest machttheoretischen Ausgangspunkten zu lösen, da nach Ursula Rabe-Kleberg z. B. das Verhältnis von Weiblichkeit und Profession ein Ausdruck und damit auch Resultat der in der Gesellschaft seit langem praktizierten Arbeitsteilung ist.101 Damit ergibt sich als gegenwärtige Kritik an ausschließlich machttheoretischen Veranschlagungen von Professionalität der Impuls, strukturtheoretische Elemente / Perspektiven bei der Professionstheorie nicht zu vernachlässigen.102 Machttheoretische Positionen bilden damit einmal eine historische Basis für die Herkunft und Ursachen von Professionalisierungsfragen; sie schärfen den Blick für gesellschaftliche Abhängigkeiten und Hierarchisierungen. Dennoch ist darüber hinaus abzuschätzen, inwieweit sich auch sozialgeschichtlich bestimmte Fragestellungen von diesen Horizonten abgelöst und verselbstständigt haben. Machttheoretische Ansätze vermögen nicht allein Professionen zu erklären: Die Perspektive der Mächteverteilung jedoch ermöglicht stets einen kritischen Blick auch auf gegenwärtige Interessenmächte, gesellschaftliche Dominanzen und auf diejenigen, die darunter leiden. Daher sind wachsende wirtschaftliche Faktoren von Lehrerarbeit und pädagogische Kultur unter dieser Perspektive unbedingt einzubeziehen. Die Sicherung des Berufsstands ist nicht zu lösen von Fragen nach ökonomischer Absicherung für Einzelne. Gegenwärtig ist an der disparaten Wertschätzung des Lehrerberufs ersicht100 A. a. O., 326; vgl. Daheim: Zum Stand der Professionssoziologie. 101 Helsper / Kürger / Rabe-Kleberg: Professionstheorie, Professions- und Biographieforschung. 102 So Untersuchungen zu Innen- und Außenverhältnissen von Professionen, die hauptsächlich von Frauen gebildet werden, wie z. B. die Pflege. Hier werden Beziehungen von Handlungsräumen für Frauen in typisch »weiblichen« Professionen zu dem wenig ausgebildeten (Selbst-)Verständnis des Handelns als professionellem (vgl. Rabe-Kleberg: Frauenberufe, Dienstleistungsberufe in Krankenpflege, Altenpflege und Kindererziehung, Professionalität und Geschlechterverhältnis).
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lich, dass mit dem Professionsverständnis als Machterzeugnis auch die gesellschaftliche Stellung von Professionen auf dem Spiel steht.103 Unter den derzeitigen Bedingungen kommen damit mehrere paradoxe Machtansprüche und auch Belastungen für den Lehrberuf ins Spiel: Die Leistungsmessungen, Erfolgskontrollen von Lernleistung als direkter Output von Lehrerhandeln, die von gesellschaftlichen und fachlichen Standards der Fachgesellschaft erhoben werden, setzen ein Steuerungsmodell auf Seiten des Lehrerhandelns voraus, das direkten Einfluss auf Lernleistungen nimmt und zu messbaren Ergebnissen führt; damit können jedoch jegliche wissenschaftliche Standards von Lerntheorien, die auf die Eigentätigkeit, Verknüpfungsgeschehen und Interessen sowie weitere Bedingungsfaktoren setzen, großenteils nicht erfüllt werden. Ähnlich, wenngleich in anderen Dimensionen, verhält es sich mit den Ansprüchen auf Lehrerhandeln zwischen der Bildungshoheit des Schulsystems und der Erziehungshoheit der Eltern. Bei alldem sind neben deutlich gekennzeichneten und formulierten auch unausgesprochene bzw. unbewusste Übertragungs- und Gegenübertragungsmechanismen im Spiel, die zu Machtkonflikten im Lehrberuf führen. Für die Fragestellung dieser Arbeit ist wichtig: Wie verhalten sich LehrerInnen gegenüber professionsgebundenen Weisungen von Machtinstanzen wie Schulleitung, Schulbehörde und sonstigen Gremien, wenn das professionelle Selbstverständnis dem entgegensteht? Leiden sie? Wie lassen sich die Konfliktlage, das Konfliktpotential und die Konfliktfähigkeiten ermessen, in die LehrerInnen involviert sind, die sich auf das nicht von Professionsmächten Gedeckte einlassen? Inwieweit werden Abhängigkeiten, auch im Sinne normiertem und normierendem Handelns wahrgenommen, die sich auf Praxisvollzüge von ReligionslehrerInnen im Umgang mit Katastrophen und Ungewissheit in der Schule beziehen?104 Bezieht sich das auch auf Genderaspekte? Letztlich ergibt sich auch die Prüffrage nach den Freiheitsdimensionen des Lehrerhandelns. Während die eben genannten Ansätze die Unterscheidung von Beruf und Profession fokussieren bzw. für eine kritische Positionierung voraussetzen, geht es in den folgenden beiden stärker um die Verarbeitung von mikrosoziologischen und ethnografischen Fragestellungen, mit denen professionsspezifische Innenperspektiven, Lebenswelt und Alltagspraxis genauer in den Blick kommen.
103 Vgl. Roitsch: Im System gefangen; Studien zum Ansehen von LehrerInnen verschiedener Schulformen – das Prestige des Studienrates ist gesunken, das der GrundschullehrerInnen steigt. Allensbacher Bericht 2/2008; Köcher : Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie. 104 Vgl. Horstkemper: Frauen und Männer im Lehrberuf.
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1.3.2.5 Interaktionstheoretischer Ansatz Einen wichtigen Schritt in die Richtung fundierter Erschließung von professioneller als sozialer Praxis geht Fritz Schütze. Sein ethnomethodologisch inspirierter symbolisch-interaktionistischer Ansatz basiert auf der Tradition der Chicagoer Schule (Everett Hughes, Barney G. Glaser, Anselm Strauss u. a.), welche die Wandlungsprozesse von Professionen und daraus resultierende neu entstehende Berufsgruppen aufnimmt. Schütze orientiert sich – anders als idealtypische Theorien wie die Oevermanns – an vorfindlichen Entwicklungen professionellen Handelns, die er stärker an Organisationsrahmungen orientiert begreift. Dabei nimmt er pädagogische und vor allem sozialpädagogische, aber auch therapeutische sowie rechtliche und pflegerische Praxis in den Blick, indem einzelne Arbeitssituationen als Fälle erschlossen werden. Im Rahmen Pädagogischer Professionalität argumentiert Schütze vom Einzelfall einer Sozialpädagogin in der Gefängnisarbeit aus und legt kasuistisch, auch letztlich strukturlogisch, unausweichliche Antinomien frei. Eine spezielle professionelle Dialektik besteht darin, dass viele Versuche unternommen werden, widersprüchliche Anforderungen auszugleichen; zugleich ist ersichtlich, dass diese Paradoxien nicht aufgehoben werden können. Daher konzentriert sich der professionelle Umgang mit der Paradoxalität auf die Reflexivität dieser Verhältnisse. Schütze geht den Auswirkungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse nach, die auf die professionelle Handlungspraxis einwirken und die sich an den Handlungsparadoxien der Modernisierungsproblematik manifestieren: »daß an zentralen Schnittstellen des gesellschaftlichen Konstitutionsprozesses durch das professionelle Handeln grundlegende Unvereinbarkeiten sozialer Prozesse miteinander vermittelt werden müssen. Die Professionen sind gerade aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit der besonders umsichtigen Bearbeitung solcher Unvereinbarkeiten hervorgegangen«.105 Damit markiert er strukturell die in diesem Kontext verschärfte Brüchigkeit professionellen Handelns, die zu höheren Anforderungen und verschiedenen Risiken im professionellen Handeln führen. In den professionellen Handlungsparadoxien spitzen sich alltägliche Interaktionsparadoxien zu.106 In diesem Rahmen erscheint das professionelle Handeln durch Unwägbarkeiten, Riskanzen und Ungewissheiten gekennzeichnet, die nicht aufhebbar sind, aber durch Instanzen der (Selbst-) Reflexion kontrolliert werden müssen.107 Der symboliche Interaktionismus setzt darauf, dass durch Rekonstruktion Probleme und Paradoxien pädagogischer Profes105 Schütze: Überlegungen zu Paradoxien des professionellen Lehrerhandelns, 334. 106 Vgl. a. a. O. 107 Vgl. Helsper / Krüger / Rabe-Kleberg: Professionstheorie.
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sionen freigelegt werden. Außerdem berücksichtigt er die professionelle Handlungspraxis im Kontext von Organisationen.108 Da Schütze und andere darauf aufbauende symbolisch-interaktionistische Ansätze insbesondere die Beziehung und Kommunikation in den konkreten Arbeitsabläufen von Professionellen und Klienten in den Blick nehmen, gelingt es ihnen besser als struktur- und systemtheoretischen Zugängen, Interaktionen im Binnenraum der Schule zu erfassen und zugleich die durch paradoxe Anforderungen gekennzeichnete Praxis, in der die daraus resultierenden Spannungen artikuliert werden. Nicht umsonst bezieht sich dieser Zugang, der vor allem am Modell der Sozialen Arbeit erkundet ist, stark auf Professionszusammenhänge nach innen wie nach außen – in wechselnden Relationen von organisierten, routinierten Prozessen zwischen Organisationen und Einzelfällen. Aus symbolisch-interaktionistischer Perspektive formuliert, handelt es sich – ähnlich wie in den Beispielen der von Schütze für seine Kasuistik ausgewählten »bescheidenen Profession« der Sozialpädagogik109 – bei der Lehrerarbeit dahingehend um ähnliche Bedingungen, dass »die Binnenstrukturen der professionellen Handlungsverfahren großenteils aus Interaktion und Interpretation bestehen«.110 Entsprechend sind auch die Fehler, an denen Schütze seine Argumentation entwickelt, großenteils auf schulische Arbeitsfelder transferierbar. Dazu zählen insbesondere Lehrerhandlungen, die sich zwischen dem Sicherheitswert der Routineverfahren und der damit verbundenen Einschränkung der professionellen Handlungsaufmerksamkeit bewegen.111 1.3.2.6 Biografietheoretische Ansätze Die Debatten um Professionsforschung und Biografizität werden erst seit dem letzten Jahrzehnt zusammengeführt. Biografizität ist nach Kraul / Marotzki / Schweppe eine Ressource, die ein systematisches Verhältnis zur Professionalität hat und strukturtheoretische und interaktionstheoretische Grundlagen aufweist.112 Mit der Fokussierung auf Riskanzen und Ambivalenzen geht eine sich ausdifferenzierende empirische, insbesondere auch biografische Forschung zu verschiedenen professionellen Handlungsfeldern einher. Mit dem jüngsten theoretischen Ansatz werden auch bereichs- und kontextspezifische Logiken und Probleme professionellen Handelns genauer erkundet.113 108 109 110 111 112 113
Vgl. Ophardt: Professionelle Orientierungen, 13ff. Vgl. Schütze: Sozialarbeit als bescheidene Profession. Schütze: Organisationszwänge, 232. Vgl. Schütze: Organisationszwänge, 229ff. Vgl. Kraul / Marotzki / Schweppe: Biographie und Profession. Vgl. Dewe / Ferchhoff / Radtke: Erziehen als Profession; Combe / Helsper: Pädagogische Professionalität; siehe z. B. Nölke: Biografie und Profession. Nölke analysiert die biogra-
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Studien zu Professionalität und Biografie identifizieren Professionalität mit einer subjektspezifischen Sozialisation, die dazu befähigt, Paradoxien zu reflektieren und auszubalancieren.114 Fragt man nach den Hauptspezifika pädagogischer Professionalität, lokaler Vermittlung und themenzentrierter Direktheit, wird professionelle pädagogische Praxis als eine sehr direkte zentrierte Interaktion beschrieben.115 Der Haltungstyp der Interaktion ist Akzeptanz und Ko-Konstruktion. Von diesem Punkt aus wird Kritik an Machtstrukturen betont im Hinblick auf die Aufmerksamkeit, wie diese in soziale Paradoxien eingebettet sind. Pädagogisches Handeln wird da zur Vermittlung. Weil die professionellen Herausforderungen dazu nötigen, »bewusste Balancierung von ambivalenten Aufgaben und Anforderungen«116 zu sehen, wird die Berücksichtigung biografischer Entwicklungen auch in anderen Ansätzen gefordert, denn »die Balancierung von Widersprüchen und Paradoxien erfordert Biografizität.« Die Verzahnung von Profession und Biografie liegt dahingehend nahe, dass in einem phänomenologischen Ansatz keine Professionstheorie ohne den Blick auf individuelle Entwicklungen und berufliche Lebenserfahrungen denkbar wäre. Dies hat mehrere Ebenen: Zum einen liegt in der mit Biografie eng verbundenen Personalität Haltung, Motivation, Entscheidung, Urteil und auch die Bewertung von je eigenem Handeln, das zu mündiger Professionalität dazugehört. Damit einher geht zum anderen die Unterscheidung von Routinen und einzelnen, situativen Handlungsentscheidungen sowie die Reflexion und Kontrolle von Fehlern – eine geschulte Wahrnehmung.117
1.3.3 Professionstheorien als berufliche Kontingenzbewältigungsstrategien Die Diskussion um Professionalität basiert auf den skizzierten, grundsätzlich verschiedenen Typen der theoretischen Bestimmung von Professionen. Mit ihnen sind unterschiedliche Normativitätskonzepte verbunden, aber stets auch Ausklammerungen und blinde Flecken.118 Funktionalistische Betrachtungen beschreiben gesellschaftliche zweckgeleitete Prozesse, lassen aber den Prozess von Professionalisierung außer Acht. Jener wird nun in den Professionstheorien seit Parsons erhoben. Die Kommunikati-
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fischen Hintergründe für die Wahl und Ausgestaltung professioneller Handlungsfelder in Kunst, Recht und Pädagogik und arbeitet die Bedeutung der Biografie für die bereichsspezifische Wahl eines professionellen Feldes heraus. Dabei erlangen jedoch professionell Handelnde ihre Kompetenzen nicht vor der dritten Bildungsphase. Hier werden mehrere blinde Flecken ersichtlich. Vgl. Kade / Lüders: Lokale Vermittlung. Kraul, / Marotzki / Schweppe: Biografie und Profession, 9. Vgl. ebd. Vgl. dazu die Einleitung von Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität.
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onstheorie legt Wert auf materialistische Abhängigkeiten. Wenn man interaktionale Prozesse rekonstruiert, wird es sehr offensichtlich, dass Paradoxien wahrgenommen und akzeptiert werden müssen. Diese betreffen immer auch die biografische Entwicklung. Handlungsroutinen sowie deren Organisation müssen ausbalanciert werden mit individueller, situationsgebundener professioneller Handlung. Der strukturtheoretische Ansatz konzentriert sich auf die stellvertretende Krisenbewältigung. Professionelle Handlungen können – im Vergleich mit nicht-professionellen – nicht standardisiert werden: Als strukturelle »Plätze der Vermittlung von Theorie und Praxis«119 legen sie fest, dass drei Charakteristika gefördert werden müssen, um die stellvertretende Krise der Moderne zu überwinden und soziale Werte zu erfüllen: erstens die Autonomie des Klienten, zweitens Wahrnehnung professioneller Handlung in psychosomatischen und makrosozialen Kontexten und drittens das interaktive Bündnis zwischen Lehrer und Schüler. Außerdem muss in dem paradoxen Spannungsfeld alles Paradoxe minimiert werden.120 Bei aller Differenzierung der Zugänge wird darüber hinaus auch viel Gemeinsames deutlich. 1. Professionssoziologisch gesehen, thematisieren alle Ansätze professionelles Handeln in oder vor dem Hintergrund der Moderne und entsprechend modernisierungstheoretischen sowie makrosozialen Zusammenhängen; Professionen sind damit stets strukturelle Erscheinungen in Modernisierungsprozessen.121 Zumeist geht es um das Expertentum pädagogischer Berufe, die Entwicklung von Berufswissen und berufliche Handlungsfähigkeit in Ausbildung und Berufsbiografie.122 Der symbolisch-interaktionistische Zugang und der biografietheoretische Zugang leisten in diesem Rahmen am ehesten Einblicke und die Chance einer Thematisierung mikrosozialer Prozesse. 2. Diese Professionstheorien nehmen einen Strukturkern professionellen Handelns auf, der mit Attribuierungen wie Ungewissheit, Fehleranfälligkeit, Riskanz beschrieben werden kann. Während mit dem systemtheoretischen Ansatz Wissen als Wertmaßstab zwischen der im hierarchischen Verhältnis stehenden Institutionalisierung von Wissensformationen gegenüber der Etablierung professioneller Praxis gilt, legt der interaktionistische Ansatz Anforderungen als professionskonstitutiv dar. Diese sind nicht aufzuheben, benötigen jedoch Interpretation und Reflexion; biografietheoretische Überlegungen beleuchten die subjektiven Perspektiven dieser Ungewissheitsfaktoren hinsichtlich Genese und Bearbeitung. In der Strukturtheorie ist diese
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Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität, 34. Kraul / Marotzki / Schweppe: Biografie und Profession, 7–8. Vgl. ebd. Vgl. Apel u. a.: Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozess.
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Ungewissheit im Typus eines pädagogischen Arbeitsbündnisses begriffen, das sich im Gegenüber zu widersprüchlichen Vermittlungsansprüchen weiß. 3. Alle Professionstheorien weisen auf antinomische bzw. paradoxe Spannungen im professionellen Handeln hin – als Vermittlungs- und bewusste Balancierungsleistungen zwischen z. T. widersprüchlichen Handlungsanforderungen. Nach diesem Verständnis ist (mit Helsper / Krüger) professionelles Handeln weder technokratisch noch expertokratisch abzuleiten, zu bestimmen oder gar vorherzusagen. Mit professionstheoretischen Grundlagen liegt auf der Hand, dass »die Professionalisierungsdebatte zunehmend auf die Binnenstrukturen pädagogischen Handelns sowie auf die Ambivalenzen, das Fehlerhafte, die Störanfälligkeit und die Schwierigkeiten der Interaktion zwischen Professionellen und Klienten Bezug nimmt«123 – damit ist man bei Strukturproblemen pädagogischen Handelns. Diese werden in den meisten neueren Ansätzen auf die »Rekonstruktion eines reflexiven Handlungstyps« in professionellen Aktionen verwiesen.124 Die professionstheoretischen Ansätze machen den Versuch, Störungen, Ungewissheiten bzw. Kontingenzen innerweltlich durch spezifisches berufliches Handeln auszuschalten. In diesem Rahmen einer praktisch-theologisch-religionspädagogischen Bearbeitung sind der Stellenwert, das Interesse und folglich auch Konturierungen professionsforschender Wege zum Umgang mit Unverfügbarkeitserfahrungen und -relationen gefragt. Die Beispiele am Anfang zeigen, dass die schulische Praxis im Umgang mit Störungen von mehreren Ebenen von Ungewissheit durchzogen ist. Diese betreffen aber nicht nur pädagogische und schon gar nicht nur methodisch formale Prozesse, sondern existenzielle und religiöse Dimensionen des Lebens im Handlungsfeld der Schule und des Religionsunterrichts. Es bleibt zu fragen, wie tragfähig die professionstheoretischen Konzepte sind, um den professionellen Umgang von ReligionslehrerInnen mit der unverfügbaren Seite des Lebens genügend zu erhellen. Antizipatorisch formuliert: Der biografietheoretische Ansatz kann vermutlich verdeutlichen, dass und wie »die Professionellen selbst mit ihren (berufs-)biografischen Erfahrungen, Einstellungen und Kompetenzen sowie mit den damit möglicherweise verbundenen blinden Flecken ins Blickfeld« kommen.125 Damit ist eine berufsbiografische Seite des Umgangs mit Ungewissheit angedacht, die berufliche Praxis vor allem reflexiv durch biografische Bezüge einzuholen vermag. Mit dem interaktionistischen Ansatz wird die intersubjektive Seite von Professionszusammenhängen nach innen wie außen 123 Kraul / Marotzki / Schweppe: Biographie und Profession, 8. 124 Vgl. Dewe / Otto: Profession. 125 Kraul / Marotzki / Schweppe: Biographie und Profession, 9.
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klarer, da auf diese Weise unauflösbare Spannungen, Paradoxien als Dimension kommunikativen Handelns in den Blick kommen und professioneller Umgang mit Erfahrungen von Unverfügbarkeit als soziales und kontextuelles Beziehungsgeschehen ermessen werden kann. Systemtheoretisches Verfolgen ermöglicht einen genaueren Blick auf differenzierte Funktionen professionellen Handelns im Umgang mit Ungewissheiten innerhalb der Gesellschaft. Der strukturtheoretische Ansatz ermöglicht wie der symbolische Interaktionismus ein rekonstruktiv-hermeneutisches Verfahren des Umgangs mit konkret geschilderten Fällen und ihrer verbalen und bildlichen Darstellung. Nähme man die Perspektiven dieser Ansätze im Blick auf die anfangs kurz skizzierten Fälle vom Umgang mit Unverfügbarkeit zusammen, ergäbe sich ein vielschichtiges Erkundungsdesign, das in seiner Mehrperspektivität einen weiten Deutungshorizont eröffnet für rekonstruktive und reflexive Deutungen. Dennoch blieben Perspektiven unbeleuchtet, welche die Möglichkeit geben, einen genaueren und wirklichkeitsadäquaten Zugang zu schaffen, indem zum einen die beforschten Felder, Personen und Situationen gegenwarts- und phänomennah betrachtet werden und indem zum anderen das handlungs- und in diesem Fall forschungsleitende Interesse der Forscherin nicht unterschlagen wird. Aus diesen und mehr Gründen, die im weiteren Verlauf noch genauer beleuchtet werden, verfolge ich im Rahmen dieser Arbeit einen etwas anderen Weg der Professionsforschung, der in unterschiedlicher Gewichtung grundlagentheoretisch perspektivierte Aspekte der Professionstheorien und Professionsforschung in den Erkundungsgang aufnimmt, jedoch den Grundstein für diese Erforschung in einem empirisch orientierten phänomenologischen Zugang legt. Hier sollen professionsspezifische Innen- und Außenperspektiven einander ergänzen und Lebenswelt und Alltagspraxis im Hinblick auf die Bearbeitung von Unverfügbarkeitsdimensionen im religionspädagogischen Handeln erschlossen werden. Dabei wird wichtig, wie eine professionelle Praxis empirisch diese Probleme bearbeitet.
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(Religions-)LehrerInnen und Ungewissheit: Professionelles Handeln in der Pädagogik
1.4.1 LehrerInnen zwischen Person, Beruf und Lebenswelt 1.4.1.1 LehrerInnenbilder in Fremd- und Selbstwahrnehmung Was macht LehrerInnen aus? Gibt es »gute LehrerInnen?« Welches Lehrerhandeln ist am meisten erfolgversprechend?126 Welche Rolle spielen diese Fragen für die Professionalitätsfrage? Die gegenwärtigen Bilder von LehrerInnen sind in einer Praxistheorie in mehrfacher Hinsicht ambivalent; Selbst- und Fremdbilder changieren, Klischees, Erfahrungen, Urteile und Vorurteile kommen zusammen. Zum Image der Lehrkraft gehören Bilder wie »marginal men or women«, Gestalten, die zwischen Generationen oder Milieus vermitteln. Das Sozialprestige zwischen Gymnasial- und GrundschullehrerIn entwickelt sich überraschend unterschiedlich: Während Studienräte im Ansehen merklich fallen, ist das der PrimarlehrerInnen sichtbar höher und tendenziell noch immer im Aufsteigen begriffen.127 LehrerInnen werden belächelt, bemitleidet oder bewundert. Terhart beschreibt dieses Phänomen treffend als Kipp-Bild, das sich je nach Erwartungen, Hoffnungen und Enttäuschungen so oder so formt und das jeglichem Gegenüber als Klischee dient. Anders als andere Professionen scheint dieser Beruf solche Projektionen leichter zu ermöglichen, da dem Lehrerberuf ein Berufsgeheimnis zu fehlen scheint, welches das Bewusstsein darauf fokussiere, dass letzte Einblicke in den Beruf von außen nicht möglich sind – begünstigt dadurch, dass jeder schon mal in der Schule war, dass es einen zwar sehr heterogenen, aber doch allen vorhandenen Erfahrungsgrund gibt und dass es zudem keine dezidierte berufsinterne Fachsprache gibt, die solche Differenzen markiert. Zugleich gehen Fremderwartungen und berufliches Selbstverständnis zuweilen weit auseinander ; LehrerInnen nehmen sich selbst, ihre Rolle und den eigenen Alltag in ganz anderen Kategorien wahr als die amateurhafte und wissenschaftliche Öffentlichkeit. Diese Einschätzungen intendieren anders als die Diskussionen um Qualität und Professionalität von LehrerInnen die Wahrnehmung schulischer religionspädagogischer Wirklichkeit, während jene auf die Forderungen nach PISA re-agieren und dabei eine Stellvertreterrolle als Projektionsfläche auch für andere Diskussionen, wie z. B. um die Frage nach Majoritäten zwischen Fachwissenschaft und Erziehungsaufgaben, einnehmen.128 126 Siehe dazu vor allem die öffentliche, bildungspolitisch strittige Rezeption der Studie von Hattie: Lernen sichtbar machen. 127 Die Genderspezifität wurde nicht berücksichtigt, vgl. Rothland: Sind »faule Säcke« pass8?, 179. 128 vgl. Terhart: Faule Säcke, arme Schweine oder Helden des Alltags?, 38ff.
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Diese Beobachtungen erfordern zunächst ein genaueres Hinsehen darauf, wie Lehrerarbeit und Lehrersein im Kontext des Professionsbezuges und von Professionalität bestimmbar wird. Dabei kommen verschiedene Blickwinkel und Foci zum Tragen. 1.4.1.2 Eine soziologische Folie: Professional und professionell Handelnde Zu der speziellen Professionalität des Lehrberufs werden unterschiedliche Zugänge ins Feld geführt. Zu unterscheiden sind soziologisch orientierte berufstheoretische Ansätze von solchen mit stärker pädagogischem Fokus, die das Entwicklungspotential des Lehrberufs rekonstruieren oder erheben; entsprechend lassen sich normative, ideologiekritisch-dialektische Positionen zur Bestimmung von Professionalität und Professionalisierungsprozessen ebenso wie empirisch-analytische Studien, hermeneutische Ansätze mit normativen Ansprüchen und konstruktivistische Impulse ausmachen. Aus der Perspektive der metatheoretischen Professionsansätze stellt sich die Frage, wer eigentlich mit den Professionellen, Profis und professionell Handelnden gemeint ist und inwieweit LehrerInnen als solche gelten. In der Professionssoziologie sind Professionelle als Angehörige eines Berufsstandes wie Medizin oder Jura verzeichnet und gelten als recht einfach definierbar. Sie eignen sich subjekt-, gar persönlichkeitsorientierte Merkmale an und haben professionelles Expertenwissen. Aber trifft das auf LehrerInnen auch zu? Meuser nennt in der eingangs genannten Studie professionsbezogene Gegenwartsperspektiven auf professionell Handelnde: 1. Professionelles Handeln gibt es auch außerhalb von Professionen, allerdings nicht ohne Expertenwissen – dies kann auch hinzugezogen werden. 2. Die Autonomie gründet nicht auf institutioneller Absicherung, sondern auf Expertenkompetenz bzw. Wissensbasis. 3. Es gibt – ganz klassisch – eine Verschränkung von kognitiv-wissenschaftlichen und praxisbezogenen Komponenten. Für die Lösung praktischer Probleme wird systematisiertes Wissen herangezogen; Erfahrungswissen ist sehr wichtig. 4. Flexibilität und die Bereitschaft, immer auf dem neuesten Stand zu sein, markieren das innovatorische Element. 5. Der Wissensaspekt dominiert vor dem der Sozial- oder Zentralwertorientierung. 6. Zugehörigkeit zu einer klassischen Profession bringt mit sich, dass der professionell Handelnde von den Anderen wahrgenommen wird. Zugleich ist
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Professionalität eine individuelle Kompetenz, die überdies graduell verläuft.129 Damit macht er zum einen den Vorstoß dazu, sich von gängigen soziologischen und damit metatheoretisch-professionsethischen Minimalia zu lösen und ökonomische Funktionssysteme in seine Überlegungen einzuschließen. Meuser differenziert professionelles Handeln im Sinne der Sachkundigkeit und des sog. professionalen Handelns; letzteres meint das Handeln von Professionsangehörigen. Eine Kriteriologie wie diese legt nahe, der Unterscheidung von Alfred Schütz zu folgen und das Handeln von professionellen Akteuren als Professionellen einerseits und die Qualität professionellen Handelns andererseits zu differenzieren. Damit käme eine weitere Differenzierung ins Spiel: Der Rahmen für ein Verständnis, was in verschiedenen Handlungsfeldern gängigerweise als professionelles Handeln verstanden wird, ist eigentlich mehr in der Berufssoziologie als in der Professionssoziologie zu suchen.130 Die methodologische Reflexion ergibt bei Meuser eine Relevanz ethnografischer Verfahren für die Professionssoziologie: die Erforschung der Kontexte, in denen professionelles Handeln thematisiert und orientiert wird, und damit auch die Rückfrage erhoben wird, inwieweit klassische Professionen in Prozesse der Entgrenzung einbezogen sind. Daher geht es darum, anstatt von Deprofessionalisierungsbeschreibungen, wie sie die Professionssoziologie häufig erstellt, den »Begriff des professionellen Handelns mit Bezug auf dessen ›mundane‹ Verwendungsweisen zu rekonstruieren« – und zwar im Sinne eines Weges, der »vor einem statischen und ahistorischen Verständnis von Professionen zu bewahren vermag.«131 So ist auch hier die Unterscheidung geboten zwischen dem Professionsbezug, der empirischen Wahrnehmung bestimmter Funktionen und Tätigkeiten als Professionen, und der normativen Bestimmung von deren Qualität im Berufszusammenhang als Professionalität. Mir erscheint in Bezug auf die Frage nach Lehrerprofessionalität in diesem Rahmen wichtig, auch den Organisationsrahmen und das ins Feld der Schule einbezogene Berufshandeln nicht von vornherein aus den Diskursen um Professionsbezogenheit und Professionalität auszuschließen. Wenn die meistenteils zur Ganztagsschule heranwachsende Schule nach innen wie außen auch andere Professionsfelder einschließt, weil sie sowohl mit Funktionssystemen wie denen der Religion, Politik, Kunst zu tun hat als auch mit anderen klassischen oder semi-professionellen Feldern wie Recht, Medizin oder Soziale Arbeit und den 129 Vgl. Meuser : Professionell handeln ohne Profession?. 130 Vgl. a. a. O., 261f; dafür zieht er Hansjürgen Daheim als Gewährsmann zurate. Ein Beispiel zur Erweiterung bildet dafür nach Daheim und Meuser : »Professionalisierte Positionen finden sich […] u. a. in der Leitung von Organisationen« (262). 131 A. a. O., 263.
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entsprechenden und sich daraus neu ergebenden Machtverhältnissen und Strukturproblemen, dann ist dies ein erster Hinweis auf die Notwendigkeit eines empirischen wie normativen Arbeitsverständnisses von professionellem Handeln und von Menschen, die dieses berufliche Handeln auch im schulpädagogischen Bereich vollziehen. Aus der Perspektive der Wissenssoziologie bestimmt sich der Professionsbezug aus der Verknüpfung von zwei Strängen: zum einen der berufsförmigen Entwicklung und Organisation von Arbeit zur Sicherung von Leben und Lebensunterhalt in einer anerkannten gesellschaftlichen Struktur – dies in einer ausdifferenzierten Rollenstruktur. Zum anderen kommt die damit einhergehende fortschreitende Ausdifferenzierung von Wissensstrukturen zum Tragen, die mit einer gewissen Autonomie der eigenen Sinnlogik, gerade im Vergleich mit anderen Sinnstrukturen, einhergeht und mit einer in Bezug auf die Wissensvermittlung eigenen Pädagogik.132 Auch Pfadenhauer problematisiert das personale Verständnis von Professionellen, dass soziologische Definitionen traditionell Professionen und nicht professionelle Berufe, Handlungen und Rollen vergleichen. Wie Meuser regt Pfadenhauer an, professionelles Handeln als zumindest in gewissem Maße unabhängig vom berufssoziologisch definierten Typus zu sehen, da Professionelle viele Dinge tun, welche Nicht-Professionelle ebenfalls ständig tun. »Wenn professionelles Handeln gleichgesetzt wird mit irgendwelchen Aktivitäten eines bestimmten personalen Typus, dann bleibt es als ein spezifischer Handlungsablauftypus in hohem Maße diffus. Folglich ist zu klären, ob sich professionelles Handeln nicht auch unabhängig vom berufssoziologisch definierten Typus des Professionsmitglieds, bzw. des Professionellen, d. h. also als eine Sonderform sozialen Handelns, als Handeln einer besonderen (vorzüglichen) Qualität bestimmen lässt.«133 Professionalität ist eine typisch moderne Form von Expertentum, gebunden an Zertifizierungen, Lizenzen und Ausbildungen.134 Das impliziert Rechte, Befugnisse und zumindest formale Kompetenznachweise. »Professionelle Kompetenz ist also dadurch gekennzeichnet, dass sich Befähigung (nachgewiesen durch eine meist wissenschaftliche Ausbildung), Bereitschaft (angezeigt durch ›Leistungs-Angebote‹) und Befugnisse (beglaubigt durch ›Zertifikate‹) in formaler Deckung befinden.«135 Das betrifft auch das deutliche Gewicht auf Kompetenzbestimmungen und normativen Standards von Lehrerprofessionalität, wie sie mit den Handreichungen der Kultusministerkonferenz 2004 erfolgt sind.136 Das handlungstheoretische Verständnis des Professionellen meint das 132 133 134 135 136
Vgl. Schütz / Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, 353. Pfadenhauer : Die Definition des Problems, 10. Vgl. a. a. O., 13. A. a. O., 14, ; vgl. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. KMK: Standards für die Lehrerbildung.
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Interesse, das Befassen mit Profession, Professionalisierung und Professionalität und deren Öffnung wie Präzision, das »sich keineswegs erschöpfen kann in Berufssoziologie« – es führt zu Öffnungen anderer soziologischer und auch anderer human- und kulturwissenschaftlicher Bereiche. Es liegt nahe, die Konturierung der Subjekthaftigkeit des pädagogischen Handelns in der Schule in die Nähe einer Suche nach professionsethischen Maßstäben zu rücken. Das wird vor allem nötig vor dem Hintergrund der unter vielen LehrerInnen weitverbreiteten Einschätzung, LehrerInsein habe mit einer Veranlagung zu tun. Überraschend ist in empirischer Hinsicht, dass interviewte LehrerInnen unter Lehrerpersönlichkeit »ein Ensemble von Eigenschaften [verstehen], die erstens zentral für eine erfolgreiche Berufsausübung sind, sich zweitens trennscharf umreißen lassen und drittens den Charakter des ›Nichtlernbaren‹ tragen. […] Interviewte, die sich durch jahrzehntelange Erfahrung in ihrem Beruf auskennen, also Experten sind, erklären schlicht, dass zentrale Momente ihres Berufs gar nicht erlernbar sind.«137 Diese Eigeneinschätzung setzt auf Erfahrungen, die nicht auf erlernte, ausgebildete Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Kenntnisse zielt – also solche, die angeeignet oder gar erworben werden – sondern auf Elemente des professionellen Handelns, die mitgebracht werden. Damit wird deutlich, dass Lehrerdasein auch als Gabe und Talent eingeschätzt wird – konsequent gedacht, wären bestimmte Teile von Bildung oder gar Ausbildung schlichtweg nicht möglich. Entweder man hat’s und kann’s – oder nicht. Neuere professionstheoretische Bemühungen lenken die Aufmerksamkeit auf berufsbiografische Aspekte und differenziertere Wahrnehmungen, die ermöglichen, nicht genotypisch, aber doch lebensgeschichtlich zu eruieren, an welchen biografischen Bezügen sich LehrerInnen bilden. Folgt man dem Gedanken des Biografiebezugs auch im Blick auf das Gewicht der Persönlichkeit138 bei der Religionslehrerprofessionalität, kommt die Frage auf, ob sich eine solche Zustimmung zu personaler Eignung und Qualität nicht noch verschärfen würde. Denn hier ergibt sich eine gewisse strukturelle Parallele zur theologischen und religionspädagogischen Diskussion um die Lehr- und Lernbarkeit des Glaubens.139 In jedem Fall muss in einem pädagogischen Ansatz, der den Umgang mit Fragilitäten und Brüchen als Kontingenzerfahrungen in den Mittelpunkt rückt, erörtert werden, welche Dimensionen des Menschseins 137 Hermann / Hertramph: Selbstdefinition Lehrer, 203. 138 Fragt man nach dem Status des Lehrerberufs in der Vergangenheit, so wird deutlich, dass in der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein das Bild des Lehrerdaseins als Lebensform entscheidend war. Damit stand die Lehrerpersönlichkeit als Erzieher nahezu ungefragt im Mittelpunkt des Interesses. Nach Eduard Spranger ist Lehrerdasein mit Liebe verbunden; der Lehrer als geborener Erzieher sei innerlich getrieben zur Menschenbildung (vgl. Spranger : Der geborene Erzieher). 139 Vgl. zur historischen Frage der Lehrbarkeit von Religion Plagentz: Religion lehren?.
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den Lehrerberuf zentral bestimmen, welche dabei bislang unberücksichtigt geblieben sind und welche Größe Personalität als Faktor für professionelles Handeln beizumessen ist. Eine doppelte, aber differenzierte Bezeichnung im Professionalisierungsdiskurs verhilft im Rahmen dieser Arbeit dazu, strukturell und kontextuell mehrere Perspektiven und Dimensionen von Lehrerprofessionalität zu erfassen: einmal berufssoziologisch zur Kategorisierung eines Berufes als Profession im Sinne einer »Steigerung« (Bergau) oder einer Abstraktion – dann aber auch im Rahmen pädagogischer, kultureller und theologischer Handlungstheorien von Berufen, denn damit wird ein Strukturkern erfasst. Zu den Fragen nach dem Umgang mit Kontingenzen liegt der professionsbezogene Schwerpunkt primär auf einer Handlungstheorie beruflicher Situationen. Die Zuschreibungen zu Professionen nehmen ›Befugnis‹, ›Bereitschaft‹ und ›Befähigung‹140 dafür auf. Damit ist klar : Professionalisierung ist nicht nur die akademische Ausbildung als Bildungsprinzip einer Verwissenschaftlichung, sondern diese Formen sind eingebunden in gesellschaftliche Differenzierungsprozesse. Damit sind Professionalisierungsprozesse an wissenschaftliche Empirien angebunden. Sie sind beteiligt an den Prozessen, deren Initiation selbst ein interaktives Zusammenspiel aus Gesellschaft und Profession ist. Pfadenhauers Diagnose von Forschungsdesideraten betrifft auch die Konturierung von pädagogischer und religionspädagogisch professionellem Handeln: »Die Frage, aufgrund welcher (Arten und Weisen von) Darstellungen wir Akteuren Professionalität attestieren, eröffnet dergestalt ein noch weitgehend unergründetes Forschungsterrain, auf dem z. B. alltagssprachliche Konnotationen der Attribuierung und Qualifizierung von Haltungen und Handlungen als ›professionell‹ keinesfalls ignoriert werden dürfen.«141 Professionelles Handeln kann also ggf. auch dort geschehen, wo nicht im urspünglichen Sinne Profis am Werk sind. Dies legt lebensweltlich bezogene Erkundungen nahe, in welchem Bereich dies gilt.
1.4.2 Ansätze zur Bestimmung von regulärer pädagogischer Professionalität 1.4.2.1 Referenzhorizonte: Profession, Professionalität und Professionalisierung in der Pädagogik Von den Professionstheorien hat sich bisher für den Lehrberuf vor allem die strukturtheoretische Beschreibung von einander widersprechenden Anforde140 Vgl. Pfadenhauer : Neue Wege der Professionsforschung. 141 Ebd.
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rungen als antinomische Struktur durchgesetzt, die dafür sorgt, die Widersprüchlichkeit des Lehrerhandelns sprachfähig zu machen.142 Mit ihr wird die Reflexivität des Lehrerhandelns für nötig erachtet. Professionstheoretisch erkunden Combe / Helsper die Frage: Ist der Lehrberuf eine Profession? Andernorts zählt der Lehrberuf z. T. wie der Beruf des Sozialarbeiters als »semiprofessionelle« Berufsgruppe143 – dafür wiederum werden unterschiedliche Kriterien herangezogen. Anders als juristische Berufe und der Heilberuf des Arztes gilt hier als Argument die vergleichsweise geringere Autonomie. Diskutabel sind dann Fragen nach dem gesellschaftlichen Mandat, der Rolle und dem Maß an Autonomie und Heteronomie, einer Berufsethik, den Klienten, einer wissenschaftlichen Basis oder dem gesellschaftlichen Ansehen und dessen Auswirkungen, zumal angesichts des in Deutschland waltenden beamtenrechtlichen Status.144 Historisch gesehen gilt »Bildung in ihrer akademisch formalisierten und staatlich lizensierten Form als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Professionen von anderen Berufen und Tätigkeiten«.145 Combe schließt aus dem historischen Wandel: »Wenn es richtig ist, daß eine Profession ständig dazu gezwungen ist, ihr Wissen angesichts sich wandelnder Problemlagen und Identitätsformationen ihrer Klientel neu und anders zu denken, und wenn es richtig ist, dass pädagogisches Handeln ein antwortendes, aber letztlich nicht planbares Geschehen ist […], so verlangt dies soziale Räume für Dispute über den Eigensinn der Arbeit und ständige Auseinandersetzungen über ihre Bedingungen, Handlungsgrundlagen und Handlungsmöglichkeiten. Eine Selbstthematisierung und Prozeßreflexion ihrer Arbeit erscheint unentbehrlich.«146
Dies geschieht auf zweierlei Weise: berufssoziologisch und innerpädagogisch.147 Professionalität gilt hier als Typus pädagogischen Handelns. Pädagogische Konzeptualisierungen haben seit den 1980er Jahren insbesondere Oevermanns Ansatz von Professionalität aufgegriffen, diesen jedoch mit anderen handlungstheoretisch verschränkt. Die Erklärung, dass »Profes142 Vgl. Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität. 143 Vgl. Koring: Hochschulentwicklung durch Internet und Medien, 21; Etzioni: The SemiProfessions and their Organisation. Gedanke der Semi-Professionalität insbesondere Sozialpädagogik, wo Lockerungen der Professionalitätskriterien erfolgen und Immunisierungen und Abgrenzungen bzw. Funktionen anderweitig übernommen werden (Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität, 20; dazu auch Koring: Bildungstheorie und pädagogische Praxis). 144 Vgl. Terhart: Unterrichtsforschung; Dlugosch: Professionelle Entwicklung und Biografie, 22. 145 Combe / Helsper : Einleitung Pädagogische Professionalität, 19. 146 A. a. O., 21f. 147 Berufspädagogisch wäre dies missverständlich, da damit die Pädagogiken verschiedener Berufe gemeint sind, wie sie in den Berufsbildenden Schulen unterrichtet werden.
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sionen vornehmlich für besondere Aufgaben in einigen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zuständig sind: nämlich dann, wenn es sich um ein existentielles, ohne spezialisiertes Wissen nicht mehr bewältigbares Problem einer individuellen Klientel in einem konkreten soziokulturellen Lebenszusammenhang handelt«148, spricht für die Frage nach einem spezifischen Wissen, nach Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sich im Bildungsraum Schule ergeben und welche die Klientel der in diesem Raum Tätigen hat. Folgt man einer Logik nach der Frage des Spezifischen, würde eine professionstheoretisch etablierte Dreipoligkeit Professionelle – Klientel – Sachbezug / Wissen allerdings zu kurz greifen, weil die Referenzpunkte dieses spezifischen religionspädagogischen Wissens unbeachtet bleiben. Referenzhorizonte sind auch für den Professionalisierungsdiskurs in der Pädagogik überhaupt maßgeblich. Unter dem Blickwinkel der Positionierung zur Professionalisierungsthese fällt Andreas Wernets Position zunächst aus diesem Rahmen heraus, da er im Gegensatz zu Combe / Helsper und Oevermann die Professionalisierung von Lehrerhandeln negiert und den Professionalitätsbegriff generell ablehnt. Professionalität lässt sich hier als Rollenhandeln begreifen, daher ist die Schule eine Zwischenwelt, kein Instrument. Insbesondere stellt sich Wernet gegen Oevermann mit dem Argument, dass der Lehrerberuf keine therapeutischen Anteile habe, sondern eine konsequente Orientierung an Leistungsethik erfolge, die durch fallunspezifisches Verhalten gelenkt werde. Das Strukturproblem pädagogischer Professionalität sei demnach die »Entgrenzung pädagogischer Interaktion«.149 Wernet kreiert dagegen ein Modell, das »in deutlichem Kontrast zu Professionalisierungsmodellen steht.«150 Interaktionslogisch geht allerdings auch hier ein Widerspruchsmotiv ein. »Statt aber die Kunst pädagogischer Intervention als ›widersprüchlicher Einheit‹ (Oevermann) oder als ›Austarieren von Widersprüchen‹ (Helsper) zu begreifen, schlägt das Modell der pädagogischen Permissivität vor, die Problemanforderung des Lehrerberufs darin zu sehen, durch die Aufrechterhaltung der Prämissen des schulischen Handlungsrahmens Widersprüche zu vermeiden.«151 Nach Wernet stehen Professionen in einem »sie charakterisierenden Spannungsverhältnis zur Gesellschaft. Sie sind Träger und Widerlager der modernen Gesellschaft.«152 Dazu zählt er aber den Lehrerberuf gerade nicht, da die spezifisch professionelle gesellschaftliche Nichtverfügbarkeit und Exterritorialität für diesen Beruf nicht zutrifft. Zwar befinde sich die Schule in Unabhängigkeit von partikularen Interessen und unmittelbarem Zugriff, doch sei sie »der kapitalistischen Gesin148 149 150 151 152
Combe / Helsper : Einleitung Pädagogische Professionalität, 21 H.i.O.). Wernet: Über pädagogisches Handeln, 126. A. a. O., 136. Ebd. A. a. O., 140.
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nung als solcher und der mit ihr einhergehenden Ethik verpflichtet«.153 Anders gesagt: Schule als System, davon geht Wernet aus, bildet den Repräsentationsraum für eine universalistisch-unpersönliche Leistungsethik im Modus pädagogischer Permissivität; deren sozialisatorische Bedeutung liefere allerdings keinen Ort eines gesellschaftlichen Widerlagers. Dennoch fällt es einem Lehrer schwer, konsistent als »Agent des unpersönlichen Leistungsuniversalismus« zu agieren.154 Wernet belegt und erklärt dieses Phänomen anhand von Adornos »Tabus über den Lehrberuf« mit der Figur der »verleugneten und verleugnenden Delegation«155 : Demzufolge sind Lehrer Sündenböcke für die Gesellschaft, welche die Anordnung von Gewalt ihnen delegiert, sie selbst verleugnen diese. Die Widersprüchlichkeit des Handelns wird hier in Macht- und Schuldkategorien verhandelt. Wernets Kernthese ist, »die professionalisierungstheoretischen Verortungen des Lehrerberufs schließen dieses Problem nicht auf, sondern laufen Gefahr, es zu reproduzieren.«156 Gerade die Zubilligung von Professionalität laufe in die Falle, das Delegationsproblem zu reproduzieren mit den gleichen Dementierungen und Verleugnungen. Aber löst der Gedanke der pädagogischen Permissivität wirklich dieses Problem? Der Professionsbereich, in dem die Beleuchtung von Religionslehrerprofessionalität hier erfolgt, ist der Bildungsbereich. Entscheidende kulturkritische, bildungstheoretische Herausforderungen dieser Profession beschreibt Albert Ilien in Bildungsparadoxien.157 Eine Bildungsparadoxie konstituiert sich durch die Intentionalität des Pädagogen ggü. Heranwachsenden. »Den Heranwachsenden mit der Unterstellung seiner Sozialfähigkeit als sozialbedürftig zu behandeln, ihn also zu behandeln als den, der er werden kann, ist paradox.«158 Zentrale, philosophisch bestimmte Bildungsparadoxien sind interaktions- oder schülerbezogene Bildungsparadoxien. »Pädagogik ist die Fremdförderung des Heranwachsenden zu seiner Selbstwerdung als mündiger Teilhaber einer humanen gesellschaftlichen Kultur«. Eine gesellschaftliche Bildungsparadoxie resultiert aus dem Mandat an die Schule, die humane Individualität der Heranwachsenden fremdzufördern, damit sie – die Gesellschaft – sich zukünftig humanisieren kann.159 Eine nur mittlere, organisationsbezogene Paradoxie folgt daraus, dass nämlich Bildung (schulisch) organisiert werden muss, dass sie sich 153 154 155 156 157 158 159
Ebd. Vgl. ebd. Ebd.; Vgl. Adorno: Tabus über den Lehrerberuf, 663. Wernet: Über pädagogisches Handeln, 142. Vgl. Ilien: Lehrerprofession. A. a. O., 12. Ilien benennt das Paradox von der größeren Notwendigkeit bei weniger aussichtsreicher Umsetzung und der höheren Unglaubwürdigkeit und Inkonsequenz bei höherer Notwendigkeit (vgl. a. a. O.).
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aber zugleich (als Interaktionsgeschehen) nicht organisieren lässt.160 Daher müssen Schüler mit der Interaktion gegebene Widersprüche »entparadoxieren«, d. h. bereit sein, sie auszuhalten. Philosophisch besteht demnach die »zentrale Kompetenz des professionell arbeitenden Lehrers darin, die drei Bildungsparadoxien angemessen zu bearbeiten. Psychologisch muss er seine pädagogische Intention aufrechterhalten, auch wenn er sich damit potentiell psychischer Kränkung aussetzt. Der ›hinreichend gute Lehrer‹ muss das hierzu unerlässliche Selbstwerterleben berufsbiografisch entwickeln und ›lebendig‹ erhalten. Unterlässt er dies, drohen ihm Formen von Unprofessionalität.«161 Ilien beschreibt diese im Folgenden als Pseudo-Entparadoxierungen. Dabei ist seine Leitthese: »Praktische Pädagogik ist strukturbedingt der narzisstischen Problematik ausgesetzt, die sie nur um den Preis theoretischer Unterkomplexität durch narzisstische Überkompensation verleugnen kann. Die theoretische Pädagogik muss dies anerkennen, weil sie nicht zwischen theorieschwacher Praxisnähe, in der der Praxisbegriff selbst simplifiziert wird, und praxisferner Theorie pendelt, der sich keinerlei Handlungsorientierungen entnehmen lassen.«162 Ilien stellt kritisch pädagogisch relevante Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung ins Zentrum seiner Überlegungen. »Mit einer solchen weltanschaulichen Verschiebung vom Selbsthumanisierungs- zum Selbstmodernisierungsanspruch wird aber die Bildungsidee verabschiedet, während sie unter den Insignien von Qualität und Leistung einer semantischen Erosion unterworfen wird, die ihre scheinhafte Renaissance legitimieren soll.«163 Folglich wird die Bewältigung dieser Bildungsparadoxien zum alltäglichen Handlungsproblem der Lehrkräfte, je unterschiedlich nach sogenannten Modernisierungsgewinnern und Modernisierungsverlierern in ihren Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Mit Ilien ist der Professionsstatus des Lehrerberufs aus den Bildungsparadoxien noch einmal deutlich gehoben, um seine Komplexität und Wichtigkeit hervorzuheben.164 Phillipp Bergau nimmt die Debatte um die Professionalitätsthese auf und verbindet sie mit dem praxisrelevanten Professionsbereich innerhalb des Berufes. Er stellt den Wert des Arbeitsbündnisses heraus und hebt als gemeinsames Moment von Wernet und Oevermann letztlich das gleiche entscheidende Element des Lehrerhandelns hervor: die Gestaltung von Beziehung – ebenfalls eine Rekonstruktion von Lehrerhandeln. Mit dieser systemisch-interaktionalen Betrachtung von Professionalität als »Gestaltung der sozialen Ordnung« kommt mehr als eine bloße Betrachtung der Lehrer-Schüler-Individualbeziehung in den 160 161 162 163 164
Vgl. ebd. A. a. O., 13. A. a. O., 13f. A. a. O., 14. Vgl. a. a. O., 14.
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Blick – vielmehr die historisch gewachsenen Organisationsstrukturen; damit kommt systemtheoretisch das soziale System Klassenverband in den Blick.165 Bergau plädiert für eine Theorie professionellen Handelns im Blick von »Unterricht als sozialsystemischer Konstruktion«166 : Nur ein Ansatz, welcher das Handeln an Einzelnen (z. B. innerhalb des klassischen didaktischen Dreiecks) als auch das soziale Handeln innerhalb des Unterrichts und in sozialen Situationen überhaupt in den Blick nimmt, könne der Wirklichkeit gerecht werden. Damit erweitert er auch Iliens Blick auf den einzelnen Lehrer im System: Systemtheoretisch sind dabei wechselseitige Beobachtungen zu berücksichtigen, etwa beim Unterrichtsgespräch zwischen LehrerIn und einzelnen SchülerInnen, bei dem die je anderen als Beobachtende auftreten. Interessant scheint mir, dass hier der Aspekt der doppelten Kontingenz zum Tragen kommt167, denn das Handeln rechnet mit doppelter Ungewissheit: Es ist aus immanenten Gründen ungewiss, aber muss auch mit dem nicht auszumachenden Handeln anderer rechnen.168 Bergau zieht daraus den Schluss der Unberechenbarkeit und der Erwartungserwartung – kontingente Reziprozität wird zum Merkmal für Unterricht169 : Reziprozität zeichnet sich durch die Maßstäbe Vertrauen und Anerkennung aus.170 Für das Lehrerhandeln wird deutlich, dass nicht allein Wissen ausreicht, sondern spontane, damit improvisatorische Kompetenzen gefragt sind. Und: Erfahrungen müssen reflektiert werden, um aus ihnen pädagogische Professionalitätselemente abzuleiten. Professionalität bestimmt Bergau mit Uwe Hericks als »Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben«171: Damit kommt die zeitliche Ausbildungsaufgabe in den Blick und macht Professionalisierung als die Füllung und Bestimmung eben jener Aufgaben lokalisierbar. Hier ist die berufsbiografische Perspektive als Konstruktion angelegt, in der die LehrerInnen nicht nur als Empfänger von Ausbildung, sondern als Konstrukteure auftauchen, sodass konstruktive Anteile und auch die subjektiven Deutungen dessen eine entscheidende Rolle spielen. Bergau geht davon aus, dass es nicht die Konzepte der Ausbildenden und Aus165 Vgl. Bergau: Professionalisierungsprozesse junger Lehrerinnen und Lehrer, 47; so auch der Verweis auf Herzog: Zeitgemäße Erziehung. 166 Bergau: Professionalisierungsprozesse junger Lehrinnen und Lehrer, 52. 167 Vgl. a. a. O., 47. 168 Vgl. Herzog: Zeitgemäße Erziehung, 412. 169 Herzog nutzt dies als Reduktion von Komplexität im Unterricht, vgl. a. a. O. 170 Vgl. Bergau: Professionalisierungsprozesse junger Lehrerinnen und Lehrer, 51. 171 A. a. O., 52. Hericks entwickelt ein Kanonmodell für Entwicklungsaufgaben, basierend auf Bourdieus Habitusbegriff und eine empirischen Evaluation von Sequenzialität der Entwicklungsaufgaben. Von gesellschaftlicher Seite werden als solche Kompetenz, Anerkennung, Vermittlung, Anerkennung und Institution erhoben. Hericks interessiert sich dabei insbesondere für Habitusveränderungen (Hericks: Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe).
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bildungsinstitutionen sind, welche die »Sinnhaftigkeit und Stringenz« des Berufs den Berufsanfängern offenbaren, sondern deren biografisch eigene Konstruktion. Damit erscheint professionelle Plausibilität als eine subjektive Deutungsleistung. Es leuchtet ein, dass aus berufsbiografischer Sicht im Aufnehmen der Entwicklungsperspektive und der sozialen Konstruktion sowohl zeitliche, d. h. in diesem Fall auch Ausbildungsperspektiven sowie räumlich-organisatorische, d. h. in diesem Fall soziale und organisatorische Blickwinkel eingeschlossen sind, Professionalität zu umreißen. Daher ist es am Ende verwunderlich, dass es auf das Lehrersubjekt ankommt, das diese Dinge zusammen reflektiert und in sich austariert, um sich professionell zu entwickeln. Hier sind multifunktionale Handlungsmuster im Spiel; das Handlungsrepertoire zählt als Indikator der Professionalisiertheit. Dies ist in sechs pädagogischen Basiskompetenzen und Trainingsbausteinen verankert und geschieht im Interesse des professionellen Selbst, das ausbalanciert zwischen Erfahrung, Diagnosekompetenz, Handlungsrepertoire und Werten und Zielen. Hier wird verstärkt deutlich, wie die Wahrnehmung von Professionalität die Individualität jedes/r professionell Handelnden berücksichtigt, jedoch noch keinen Einblick gibt, inwieweit die intersubjektiven, interaktiven Praxen einfließen. Zugespitzt: Eine subjektive Deutungsleistung ist sicherlich für die Erhebung religionspädagogischer Professionalität unerlässlich; sie muss hier um das Moment der Ungewissheitserfahrung nicht als Strukturmoment, sondern als Sachbezug, auf den sich Professionalität bezieht, erweitert werden. Damit kommt in jedem Fall eine andere Weise der Intersubjektivität in die Analyse hinein. 1.4.2.2 Erfordernisse: Praxistheorie zum Professionsbezug in der Pädagogik Die Debatten um Professionalität des Lehrerberufs und Ansätze der Professionalisierung greifen viele Berufs-Phänomene der Pädagogik auf. Geht es in der berufstheoretischen Diskussion noch immer darum, inwieweit der Lehrberuf zu den Professionen zählt, sind längst stärkere Innenperspektiven skizziert und diskutiert, aus denen weiter reichende Fragen zur Bestimmung und zu Problemen pädagogischer Professionszusammenhänge virulent werden. Bei denen spielt das Verhältnis von Praxis und Theorie eine größere Rolle. Professionalisierung ist hier, den strukturellen wie berufsbiografischen Ansätzen folgend, letztlich ein Individualisierungsprozess, der eine Arbeit an Selbstkonzepten stützt.172 Mir drängt sich die Frage auf, ob nicht bereits eine konsequente in-
172 »Dabei nehmen diese Ansätze weniger die Struktur eines spezifischen Aufgabenfeldes in den Blick, sondern fokussieren eher die Möglichkeit individualisierter beruflicher Bewäl-
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teraktionistische Erweiterung dieses Ansatzes schon darauf beharren müsste, dass sich Professionalität auch nur im Rahmen von Arbeitsbündnissen beschreiben lässt. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Bergau vier Bereiche der Lehrerprofessionalität erhebt, die »theorieübergreifend als zentrale Problemfelder erkannt werden«: Unterrichten, Gestaltung der Beziehung zum Schüler und zur Klasse, Persönlichkeit des Lehrers, Umgehen mit komplexen und paradoxen Handlungssituationen.173 In diesen Bereichen finden sich m. E. sinnvolle Annäherungen und praxisbezogene Elemente, welche eine Einengung auf selbst-bezogene Reflexivität im Blick auf den Umgang mit Ungewissheiten, Unvorhersehbarkeiten, Unverfügbarkeiten strukturell in den Blick bekommen würden. Daran anknüpfend wäre später umso mehr zu hinterfragen, welche religionspädagogischen Horizonte sich mit diesen Elementen eröffnen und ob diese Kriteriologie für Ansprüche an eine bildungs- und religionsgerechte Praxistheorie genügt. In Diskussionshorizonten, in denen die Kategorie der Unverfügbarkeit bzw. Ungewissheit in den Blick kommt, müssten Größen erkennbar werden, die hinsichtlich pädagogischer Theorie und Praxis über eine Bestimmung des professionellen Selbst hinausgehen – sonst würde Professionalisierung letztlich eine nahezu subjekttheoretisch bearbeitbare Zone bleiben und nicht derartige Probleme aufwerfen, wie sie in der Praxis geschildert werden. Gegenwärtige Ansätze zur Bestimmung konstitutiver Dimensionen und Elemente des LehrerInnenberufs explizieren damit implizit und explizit, was unter pädagogischer Professionalität verstanden wird. Sie stellen vor allem diese Elemente des Lehrerhandelns in den Vordergrund: Personalität, Intersubjektivität (Arbeitsbündnis, Rollenhandeln) und Kompetenzbestimmungen. Das lässt darauf schließen, dass Kontextsysteme für das Verständnis des Verhältnisses von Professionstheorie und pädagogischer Professionalität mit verantwortlich sind: Hier spielen die Bestimmung von Erziehung (Hermann Giesecke), die Rolle der Erziehungswissenschaft und Erziehungsphilosophie (Ewald Terhart) und der erziehungswissenschaftliche Umgang mit dem Nicht-Wissen als Struktur (Michael Wimmer) eine Rolle.174 1.4.2.3 Ausdifferenzierungen: Grundlagentheoretische Forschungsströmungen In den letzten Jahren hat sich die Forschung zu Themen und Problemen pädagogischer Professionalität weit ausdifferenziert. Für den Bereich des schulitigungsmuster« (Bergau: Professionalisierungsprozesse junger Lehrerinnen und Lehrer, 56). 173 A. a. O., 57, vgl. insgesamt 57–60. 174 Vgl. Konrad: Pädagogische Professionstheorien.
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schen Handelns und Unterrichtens liegen seit den 1990er Jahren eine Reihe empirisch-rekonstruktiver Studien in professionstheoretischen Linienführungen vor.175 Dazu zählt auch berufsbiografische Forschung mit unterschiedlich deutlichen professionstheoretischen Bezügen.176 Es finden sich zunehmend auch Studien, die komplexe Brückenschläge und Vermittlungen zwischen verschiedenen Ebenen und Forschungsdimensionen für den schulischen Bereich anstreben: etwa in der Verbindung berufsbiografischer Studien mit unterrichtlichen Handlungsmustern von LehrerInnen, der Verbindung der unterrichtlichen Schüler-Lehrer-Interaktionen mit den Deutungsmustern von Lehrern und Schülern oder auch in Verbindung mit Analysen zur Organisationsstruktur oder der einzelschulspezifisch ausgeformten Schulkultur.177 In diesen Untersuchungsrichtungen liegen inzwischen erste Versuche vor, unterschiedliche Ebenen und Perspektiven professionstheoretischer Fragestellungen systematisch empirisch-rekonstruktiv miteinander in Verbindung zu setzen. Es lassen sich drei grundlagentheoretische Linien nachzeichnen.178 a. Kognitionspsychologische Erforschung des Erfahrungswissens von LehrerInnen (impliziten Wissens)179 Hier wird stärker der Ansatz von LehrerIndasein als Expertise begriffen: Kognitive Konzepte repräsentieren Elemente von Handlungszusammenhängen. Diese stellen zugleich den Verwendungszusammenhang dar, nämlich die Verbindung von Situationsinterpretation und Handlungsalternativen. Und sie haben drittens impliziten Charakter : In konkreten Situationen nehmen erfahrene LehrerInnen Situationen mit Kategorien wahr, in denen sich Situationsinterpretation und Handlungsalternativen implizit verbinden und daher kreuzen. Damit wird implizit Situation, Aktivität und Erfahrung verdichtet und typisiert zu Wissensressourcen, die sich wiederum von anderen differenzieren und damit auch den Charakter des Neuen ausmachen. »Implizit« meint hier auch, »eine vororientierte Problemkonstellation vornehmen zu können« – damit ein implizit sozialisatorisches Vermögen und in
175 Vgl. u. a. Koring: Bildungstheorie und pädagogische Praxis; Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität; Bauer / Kopka / Brindt: Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit; Keuffer / Kötters / Schmidt / Zielger : Schülermitbeteiligung im Unterricht; Terhart: Sprache der Erziehung; Lankes: Pädagogische Professionalität als Gegenstand empirischer Forschung. 176 Vgl. Kraul / Marotzki / Schweppe: Biographie und Profession. 177 Vgl. Helsper / Krüger / Wenzel: Schule und Gesellschaft im Umbruch; Krause / Wenzel: Lehrerbewusstsein und Handlungsstrukturen. 178 Vgl. Koch-Priewe / Kolbe / Wildt: Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung. 179 Vgl. Bromme / Haag: Forschung zur Lehrerpersönlichkeit; Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln des Lehrers.
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jedem Fall ein soziales Konstrukt »als Handlungslogik gekonnten Handelns und den Berufstätigen zugeschriebenes Wissen«.180 b. Wissensverwendungstheoretische soziologische Forschung zu Wissen und Handeln von LehrerInnen.181 Hier wird Erfahrungswissen als Produkt der besonderen Anforderung an professionelles Handeln gedacht: Die Verknüpfung liegt in der Begründungspflicht über theoretisches Wissen einerseits und der Notwendigkeit des angemessenen Handelns auch unter vorfindlichen institutionellen und situativen Bedingungen und Handlungszeitdruck interaktionsbezogen zu handeln. Implizit gilt hier die Kompetenz, konstruktive Interpretationsmuster zu erkennen und anzuwenden – denn die Handlungsbedingungen und Handlungsentscheidungen sind nicht objektivierbar. Aus soziologischer Sicht kommt professionelles Wissen als implizit liegendes, sozial erzeugtes, kollektiv geteiltes Wissen in den Blick. Es wird dann leistungsfähig, wenn es empirisch mit Befunden zu Handlungsanforderungen in Verbindung gebracht wird. Psychologisch ist dann gefragt, dieses Erfahrungswissen in eine komplexere Interpretationskompetenz des professionell Handelnden einzubinden. Dies wird zumeist in Kontexten von Unterricht wichtig. Das Verhältnis von professionellem Wissen und Handeln mündet damit direkt in eine Deutungs- und Interpretationsleistung, die in Konstruktion und Handlung besteht. Die so genannte Verwendungsforschung kritisiert zumeist die Forderungen der universitären Phase der Lehrerbildung als Vorbereitungsphase auf Praxis: Nicht die ungefilterte Übertragung, sondern die Differenzen müssen produktiv gemacht werden. Oder psychoanalytisch ausgedrückt: Nicht die Übertragung, sondern die Gegenübertragungen müssen bewusst gemacht werden, die zu diesen Forderungen führen. Dabei wird eingeräumt, dass die Linien des Handelns von Professionsangehörigen und Laien nicht immer deckungsgleich verlaufen. c. Sozialphänomenologisch-erziehungsphilosophische Forschung zum Strukturphänomen der Ungewissheit.182 Das strukturtheoretische Verständnis pädagogisch professionellen Handelns (Helsper) stellt das hohe Maß an Unplanbarkeit und Nicht-Steuerbarkeit des Lehrerhandelns heraus: »So scheint sich die Diskussion um die Zukunft pädagogischen Handelns im Fokus der Ungewißheitsproblematik und einer gelingenden wie misslingenden Balance von Antinomien […] zu bündeln.«183 Dabei gilt pädagogisches Handeln als eine Form symbolischer Interaktion, die durch Ausdifferenzierung und Institutionalisie180 181 182 183
A. a. O., 10f. Vgl. Dewe / Radtke: Erziehen als Profession. Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität. Combe / Helsper : Einführung Pädagogische Professionalität, 41. Vgl. dazu das Lehrerbild der Wirtschaft als eines Managers von Lernen, in dem er vor allem die Steuerung übernimmt.
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rung widersprüchliche Anforderungen an die LehrerInnen bedeutet. Nicht standardisierbar ist pädagogisches Handeln in mehrfacher Hinsicht: LehrerInnen und pädagogische AkteurInnen haben nur bedingt Einfluss auf die pädagogische Kommunikation, den paradoxen Anforderungen können sie nur zum Teil gerecht werden und damit auch nur situativ und fallspezifisch eine noch immer widersprüchliche Einheit im Handeln herstellen. Die pädagogische Konsequenz ist, dass unter der Maßgabe von »Lösungsorientierung«, wie sie in Praxis und auch in Lehrerbildung gefordert ist, »fragile Routinen« gebildet werden sollen, »die ständig in Krisen geraten und – im besseren Fall einer Reflexivität des Umgangs mit den Erfahrungen des Berufshandelns – Neues hervorbringen können.«184 Damit lässt sich die strukturtheoretische Definition pädagogischer Professionalität als ein Deutungs- und Handlungsmuster kennzeichnen, das die Verarbeitung beruflicher Erfahrung zur Grundlage hat und diese als Ausgangspunkt für Konzeptualisierungen des Lehrerhandelns nimmt: Erfahrungswissen ist die erfahrungsgestützte Handlungsbasis von LehrerInnen. Welche Erfahrungen von Leben dafür jedoch maßgeblich sind, bleibt bei dieser erst einmal formalen Bestimmung pädagogischer Professionalität noch unbestimmt, auch wenn derartige Erfahrungen benannt werden. Es wäre wichtig zu eruieren, welche Erfahrungen in der Lage sind, zur Verarbeitung beizutragen und ob nicht auch bestimmte Erfahrungen oder gar deren Strukturen genau dieses verhindern, etwa weil sie einmalig, herausragend oder traumatisch sind, weil sie nicht ohne weiteres mit dem Lehrerhandeln überhaupt in Verbindung gebracht werden. Ausgehend vom Phänomen der Erfahrung von Störung, Ungewissheit, Kontingenz, das in dieser Arbeit initiierend ist und zum Ansatzpunkt für Hinterfragungen wird, widme ich mich den Phänomenen der Ungewissheit im Kontext der beiden anderen Professionsaspekte, nämlich dem Zusammenhang von Erfahrung, Wissen und Handeln im Lehrberuf. Dafür sollen zunächst Ungewissheit als pädagogisches Phänomen konturiert und dann nach dessen Verwendungszusammenhängen gefragt werden.
1.4.3 Pädagogische Konzepte zur professionellen Bearbeitung von Ungewissheiten 1.4.3.1 Ungewissheit. Herausforderungen einer postmodernen Moderne Unter dem Schlagwort »Ungewissheitsproblematik« lassen sich Phänomene sammeln, die – nach der ersten Modernisierungswelle, nach den fortschritts184 Koch-Priewe / Kolbe / Wildt: Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung, 13.
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geleiteten, fraglosen und bildungsoptimistischen Strömungen im Anschluss in der Nachkriegszeit – gegenwärtige Bemühungen um pädagogische Zukunft evozieren. Seit den 1980er Jahren ist nicht mehr nur von der Neuen Unübersichtlichkeit, sondern im Rahmen von Modernisierungsenttäuschungen und Katastrophenerfahrungen auch von der Risikogesellschaft und ihren Artikulationen in den Begriffen Ungewissheit, Nichtwissen, Unsicherheit und Risiko die Rede. Darunter werden Phänomene der Fremdheit, Unbestimmtheit, Kontingenz in verschiedenen pädagogischen Problemstellungen und Strukturen erfasst. Problematisch wie inhaltlich erleichternd ist, dass nicht pädagogisch vorgegebene Felder maßgeblich sind, sondern gerade das Unscharfwerden der Grenzen, damit also dem Phänomen nachgegangen und es strukturell aufgenommen wird. Im Zuge dessen weichen auch Perspektiven wie Organisation, Institution, Profession etwas auf.185 Das Problemfeld der Kontingenz wird in allen pädagogischen Professionszusammenhängen zum Gegenstand oder Hintergrund für Diskussionen und Profilierungen, weil es einen Gegenpol zu Sicherungsmechanismen in Professionalitätsfragen bildet, für jegliche normative Professionalitätsbestimmungen selbst zur stärksten Herausforderung oder gar zur Anfechtung wird. Aus diesem Grund nehme ich einige neuere pädagogische Versuche in Praxis und Theorie in den Blick, die sich explizit mit Kontingenzphänomenen befassen. Welche Konzepte werden dort als Kontingenzbewältigungsmuster verhandelt?
1.4.3.2 Praxismuster zum Umgang mit Ungewissheit im Berufsalltag von LehrerInnen In gegenwärtigen pädagogischen Diskussionen in Praxisfeldern fallen besonders Beschreibungen von Widersprüchen, Schwierigkeiten, Brüchen und Fragilitäten im Lehberuf auf.186 Vorrangig werden dabei Fragen behandelt: Mit welchen Widersprüchen haben LehrerInnen in ihrem Beruf zu tun? Wie gehen LehrerInnen mit besonderen Beanspruchungen um, wie geschieht Stressbewältigung?187 Folgende typische Muster scheinen sich dabei abzuzeichnen: a. Verhaltensrezepte zum behavioristischen Umgang mit Störungen – schwierige SchülerInnen als Chance. Der Religionsunterricht verhandelt als Störungen entweder Unterrichtsstörungen oder insgesamt den Unterricht mit »schwierigen Schülerinnen und Schülern« selbst als Störungen. Dietmar Peter begreift darunter das Problem von »Verhaltensstörungen« schwieriger SchülerInnen; rückt dieses mehr denn je in die Förderpädagogik, so verdeckt diese 185 Vgl. dazu den Feldbegriff im Rückgriff auf Kurt Lewin und Pierre Bourdieu. 186 Siehe v. a. Bastian: Beruf LehrerIn; Feindt u. a.: Lehrerarbeit – Lehrer sein. 187 Vgl. z. B. Feindt u. a.: Lehrerarbeit – Lehrer sein.
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Sichtweise, dass »Schwierigkeiten« sehr heterogene Auslöser und Faktoren haben können und natürlich auch, dass »Erfahrung, Tun, Erkennen« hier im Zusammenhang vorkommen.188 Verhaltensmodifikation stellt ein älteres, aber durchaus praktiziertes Modell des Re-Agierens von LehrerInnen dar, das wiederum gewünschte förderliche Re-Aktionen von SchülerInnen erhofft. b. Biografische Reflexion als Arbeit am professionellen Selbst. Mechthild Brunke setzt sich damit auseinander, dass LehrerInnen immer wieder mit schwierigen SchülerInnen konfrontiert sind. »Störfälle« sind hier Situationen, Gemengelagen aufgrund von schwierigen SchülerInnen, deren Verhalten Übertragungen bei LehrerInnen evozieren. Diese werden zum diagnostischen Ausgangspunkt für vier Typen von SchülerInnen (Aufmerksamkeitstyp, Machttyp, Rachetyp, resignierter Typ, der seine Unfähigkeit beweisen will). Brunke setzt darauf, dass LehrerInnen – die im Rahmen von Übertragung und Gegenübertragung ebenso mit schwierigen Emotionen zu tun haben und sich mit und zu denen verhalten müssen – die Emotionen der SchülerInnen so »bändigen« wie die eigenen. c. Bewusste Beziehungsgestaltung zwischen Person und Profession. Ansatzpunkt sind hier Brüche, die sich im professionellen Selbst des Lehrers ergeben und die dazu herausfordern, auf interaktionaler Ebene mit Hilfe von Gestaltwahrnehmung, Disziplin und Kontrakten die pädagogische Beziehung mit dem Ziel zu gestalten, »Schüler auf ihrem schwierigen Weg in diese Welt zu begleiten, zu ermutigen, ihnen Konsequenzen und Chancen aufzuweisen in einer Beziehung, die diesen »individuellen« Schüler meint – nicht als Interaktionspartner, sondern als Person, für dessen Lernen ich als Lehrer verantwortlich zeichne.«189 d. Ressourcenorientierung. Als Perspektive für Silvio Herzogs Ansatz zur Bewältigung des Berufsalltags dient ein salutogenetischer Ansatz190 : Ausgangspunkt ist hier die Tatsache, dass LehrerInnen in einer Gesellschaft, die in hohem 188 Peter : Störungen als Chance, 17. 189 Röbe: Im Beziehungsgewitter, 25; vgl. zur Beziehungskompetenz auch Jensen: Hellwach und ganz bei sich sowie Bietz: Unterrichtsstörungen, 51–53. 190 Herzog: Den Berufsalltag bewältigen – aber wie?. Das Konzept der Salutogenese (Entstehung von Unversehrtheit) verdankt sich dem Medizinsoziologen Aharon Antinivsq% und konzentriert sich nicht auf die Bekämpfung von Krankheiten, sondern die Erhaltung von Ressourcen zur Gesundheit: Gesundheit wird anders als in der Medizin nicht als Zustand, sondern als Prozess, daher als labiles, dynamisches Gleichgewicht begriffen (Antinivsq%: Salutogenese). Zentral ist dabei der menschliche »sense of coherence«. Die Intention der Ottawa-Charta von 1986, welche das WHO-Verständnis von Gesundheit weiterentwickelt hat, lautet: »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen« und fußt auf dem Prinzip der Salutogenese. Seither geht es der WHO unter dem Motto »Gesundheit für alle« um die Stärkung von Bedingungen und Ressourcen zur »Gesundheitsförderung«. Salutogenese ist in der Pädagogik eingezogen: Herzog: Beanspruchung und Bewältigung im Lehrerberuf.
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Maße auf bildungs- und wissensabhängiges Innovationspotential setzt, eine Schlüsselposition innehaben, auf der entsprechende strukturelle Belastungen liegen. Nach einer Interviewstudie von Thomae 1996 gehen LehrerInnen mit »Beanspruchungen« in 13 Bewältigungsstrategien um: Hilfesuche und Stiftung sozialer Kontakte, Evasive Bewältigung (Flucht), Veränderung der Arbeitstätigkeit oder der Rahmenbedingungen, Generierung von Informationen und Fertigkeiten, Offenlegung der Ausgangslage; Ablenkung, Entspannung und Erholung; Akzeptieren, Umdeutung, Korrektur von Erwartungen, Widerstand, Funktionaler Handlungsaufschub, Anpassung an Eigenheiten und Bedürfnisse anderer, Sich auf andere verlassen.191 Ausgehend von dem Befund, dass es »auf personale und soziale Ressourcen ankommt«, wird erarbeitet, welche Bedingungen für eine erfolgreiche Bewältigung geschaffen werden müssen. Dabei ist ersichtlich, dass berufliche Übergänge wie der Berufseinstieg, aber auch private Lebensübergangssituationen für die Bewältigung heikel sind. Auch die Vernetzung von Schule und Elternhaus ist entscheidend. Rückmeldungen, wie sie in einer Feedback-Kultur praktiziert werden, stärken das Ermessen der Wirksamkeit des Lehrerhandelns. Der Ansatz kulminiert in der Erweiterung des Handlungsrepertoires, welches auf das strukturelle Belastungspotenzial antwortet. Denn erstens gehe ein Großteil der LehrerInnen »erfolgreich« mit Belastungssituationen und Herausforderungen des beruflichen Alltags um. Zweitens seien personelle und strukturelle Bedingungen als Gemeinschaftsprojekt von LehrerInnen, Schulleitung, Schulpolitik und Eltern zu verbessern – das schließt systemische wie interaktionale Aspekte ein. Und drittens seien andere Lehrerbilder vonnöten. Herzog schwebt das Bild »einer professionell agierenden Lehrperson« vor. »Diese reflektiert die eigene Person in der bestehenden Situation und erkennt sowohl Stressoren als auch Ressourcen personaler und sozialer Art. Aus dieser Analyse plant sie Wege der Optimierung, die zur Erfüllung des beruflichen Auftrags und zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit führen. Die professionelle Lehrperson ist eine selbstverantwortliche Fachperson, die ihre Möglichkeiten und Grenzen kennt und Bedingungen erfolgreicher Bewältigung schafft und einfordert. Ich denke, dass dieses Bild – im Klassen- wie im Lehrerzimmer, aber vor allem auch in der Öffentlichkeit – eine andere Strahlkraft hat – eine Strahlkraft, die diesem so bedeutsamen Berufsstand gut anstehen würde.«192
191 Herzog: Den Berufsalltag bewältigen – aber wie?, 62. 192 A. a. O., 64.
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1.4.3.3 Didaktische Ermutigung zu pädagogischer Sensibilität im Umgang mit Unerwartetem Lehrerhandeln bewegt sich zwischen Antizipation und Unplanbarkeit. Ulf Mühlhausen legt unter dem Titel »Abenteuer Unterricht« eine entscheidende strukturelle Antinomie in plastischen Konkretionen dar : Die Planbarkeit von Unterricht ist immer und insgesamt fragil. Dass und wie jedoch Unerwartetes in Unterricht einbrechen kann, ist vielfältig. Mühlhausen skizziert daher 222 Unterrichtsbeispiele und zeigt darin auf, »in wie vielfältiger Weise das Unerwartete selbst in gründlich vorbereiteten Unterricht einbrechen kann.«193 Auf der Suche nach dem »Phänomen des Unerwarteten« werden recht klare Analysen betrieben, welche Friktionen dazu führen, dass diese Planbarkeiten unplanbar sind. In Betracht gezogen werden Kommunikation, Unsicherheiten, das Richtige zu vermitteln und Widerstände von SchülerInnen gegenüber Veränderungen. Die interessanteste Friktion des Lehrers ist »die Sperrigkeit des Unterrichtenden gegen seine Selbstinstrumentalisierung«.194 Es ist klar, dass die Schulklasse kein Schachbrett ist, auf dem ein Schachspieler unbewegliche Figuren zieht. Hierbei tauchen Motive auf, die das Re-Agieren analysieren: Unsicherheit aufgrund von Zielkonflikten in der Situation, mangelnde prognostische Sicherheit vor der Handlungsentscheidung (dies dürfte vor allem bei »Berufsnovizen« so sein), auch Unsicherheit im Nachhinein über die praktizierte Handlungsstrategie. Damit gibt es sichtbare und rekonstruierbare Gründe für etwas, das pädagogisch nicht gelingt: Hier wird die Planbarkeit des Unterrichts als Fiktion aufgedeckt, wobei erzieherisch das Vorbildhafte des Lehrerhandelns zum Vorschein kommt, aber auch kenntlich wird, dass didaktisches Handeln kontingent ist – nämlich in Situationen, in denen das eben Unerwartete das Lehrerhandeln durchkreuzt. Damit ist eine »dramaturgische Fähigkeit« angesprochen im Sinn einer improvisatorischen Gabe – man könnte es eine positive Form von Schwellenpädagogik nennen; der Wagnischarakter ist eingeplant. Mühlhausen grenzt sich damit von gängigen Didaktikern ab: Anders als Klafkis »Flexibilität« oder Schulz’ »Variabilität« geht es dabei zwar vordergründig um Abweichungen, aber er deckt Facetten von »pädagogischer Allmachtsphantasie einer Verfügbarkeit über das lernende Subjekt« auf, die just zu einer Zeit kamen, in der die Operationalisierbarkeit gefeiert wurde. Nicht umsonst haben Luhmann und Schorr 1979 mit dem Scheitern von Curriculumreformprojekten die Vorstellung, dass das zu erziehende Subjekt planerisch verfügbar sei, als ein technologisches Konzept kritisiert.195 Mühlhausen äußert Lob 193 Mühlhausen: Abenteuer Unterricht. 194 A. a. O., 84ff. 195 Vgl. Luhmann / Schorr : Reflexionsprobleme im Erziehungssystem; Luhmann / Schorr : Das Technologieproblem der Erziehung.
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auf »angemessenes Reagieren in den Unterrichtssituationen«.196 Die Praxisfrage stellt sich daher als Erwägung: »Reflexartiges Verhalten oder reflektiertes Handeln«?197 Verhalten oder Handeln? Antworten auf die ja bereits eingangs aufgegriffene Frage nach der Alternative Verhalten oder Handeln kommen hier nicht allererst aus kybernetischen oder organisationspsychologischen Führungsseminaren, sondern pädagogische Gewährsmänner wie Kant, Herbart, Kerschensteiner, Muth und Manen verleihen der praktischen Hilfe entsprechende Dignität. Ein Grundparadoxon ist schon bei Immanuel Kant benannt: »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« Eduard Spranger benennt bereits »das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung«.198 Kerschensteiner geht von einer pädagogischen Doppeleinstellung aus, unter der er eine doppelte Aufmerksamkeit auf das Sachliche und auf den Gruppenprozess begreift.199 Anders als Herbart setzt er voraus, dass der Lehrer mit der »unmittelbare[n], oft kaum bewusst werdende[n] Wahl des rechten Mittels« zwar ein natürliches Talent besitzt, zugleich »allerdings durch Erfahrung und Übung sehr ausbildbar« sei.200 Mühlhausen setzt auf den pädagogischen Takt seit Herbart: »Pädagogischer Takt als Zusammenspiel von feinfühligem Beobachten und unverzüglichem Reagieren.201 Lohnenswert wird pädagogischer Takt nach Muth »als Fähigkeit, der Eigenart von Schülern und der Unstetigkeit des Unterrichts Rechnung zu tragen«.202 Zwar bleibt auch hier die Betrachtung von Ungewissheit streng im Rahmen von eigentlich geplanten Stunden gegenüber tatsächlichen Herausforderungen in faktischen Unterrichtssituationen – und damit bei Prozessunterbrechungen – dennoch lenkt diese die Aufmerksamkeit anders auf sich. Denn Mühlhausen schreibt ein ganz wesentliches Kapitel, das selbst einen Prozess des Innehaltens aus dem Durchflussprozess der Unterrichtsstunden darstellt, und bezieht sich dabei auf das amerikanische sozialpsychologische Dualismus-Konzept von David Myers und Timothy Wilson, die beide von der Ausbildung zweier Systeme zur Wahrnehmung und Handlungssteuerung im Laufe der evolutionären Entwicklung ausgehen. Während das erste im Vordergrund dem Menschen als souveränes, rational durchdachtes Handeln erscheint, bewegt sich dahinter ein älteres System, das jederzeit die eigene Befindlichkeit blitzschnell ins Handlungsgeschehen einbringt. Dies wird mit »Intuition« (Myers) bzw. als »Adaptives Unbewusstes« (Wilson) bezeichnet. Diese Erkenntnisse werden neurophysio196 197 198 199 200 201 202
Mühlhausen: Abenteuer Unterricht, 32ff. A. a. O., 189. Spranger : Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung, 78. Kerschensteiner : Die Seele des Erziehers, 82f. A. a. O., 102; vgl. Mühlhausen: Abenteuer Unterricht, 220. Mühlhausen: Abenteuer Unterricht, 219. A. a. O., 220, nach Muth.
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logisch unterstützt.203 Mühlhausen legt so adaptives Unbewusstes dar, worin »pädagogische Sensibilität« besteht: Sie gilt als »Spürensfähigkeit und Intuition«, als präkognitive Seiten, welche Gefühlen vor rational-kalkulierendem Denken Priorität einräumen.204 Zweifel an Routinen lassen sich mit diesem Spüren erklären. Dabei ist anzumerken, dass Intuition noch nicht die richtige Handlungsentscheidung bedeutet; es kommt auf beide Systeme an. Mit beiden regt er dazu an, diese neurosozialpsychologischen Erkenntnisse auch für pädagogisches Handeln fruchtbar zu machen. Mit Mühlhausens Ansatz ist die Brücke gestellt zu den Fragen, welche besonderen Fähigkeiten Professionen wie Ärzte und Lehrer, Architekten, Seelsorger, Therapeuten zugedacht werden. Hier greift die Theorie, dass mit zunehmender Berufserfahrung ein Expertenwissen reift und wächst. Das Reagieren der Lehrkräfte wird dann bewertet und psychologisch als motivationales eingestuft, d. h. es werden psychologische Beweggründe verantwortlich gemacht für das Lehrerhandeln. Entscheidend ist die Bewertung der Tatsache, dass die normale Praxis so aussieht: Nachdenken muss nicht unbedingt in eine klügere Reaktion münden; entscheidend sind die Schlussfolgerungen, die sich allesamt auf »Bewältigung unerwarteter Unterrichtssituationen« beziehen205 : Insgesamt ist auszumachen, dass LehrerInnen variantenreicher reagieren, als es in vielen Studien zu Unterrichtsforschung beschrieben wird. Das Lehrerhandeln, das sich jenseits des Vorgeplanten vollzieht, wird weder mit einem handlungstheoretischen Leitbild vom »rational-kognitiven Problemlöser« charakterisiert noch mit dem impulsiven, schematischen oder inkonsequenten Akteur.206 Hier ergibt sich überhaupt die Einsicht: »Lehrer werden beim Unterrichten in bedeutsamem Umfang mit nicht antizipierten Entwicklungen in Anspruch genommen.«207 Dabei ist die Bedeutung beruflicher Erfahrungen für die Bewältigung unerwarteter Unterrichtssituationen ambivalent einzuschätzen, da sie zuweilen zur Bewältigung und Einschätzung von Situationen hilft, andererseits aber manchmal auch »kontraproduktiv« blockiert, indem Schemen inszeniert werden. Unterrichtsforschung sei demnach weit entfernt von »einem Verständnis des Zusammenwirkens der divergierenden Reaktionstendenzen«.208 Entscheidend ist hierbei die Kritik an einem »in Erziehungswissenschaft und Lehrerausbildung dominierende[n] Verständnis von Unterricht, wonach Lehrer, ausgestattet mit der richtigen Theorie, allzeit Herr des Unterrichtsgeschehens
203 204 205 206 207 208
Vgl. a. a. O., 257. Mühlhausen: Abenteuer Unterricht, 223. A. a. O., 249–254. A. a. O., 249. A. a. O., 253. A. a. O., 254.
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sind und es zweckrational nach ihrem Willen gestalten können.«209 Somit räumt Mühlhausen auf mit einem Verständnis von Lehrenden als autokratischen ExpertInnen. Hier kommt in der Professionsperspektive vielmehr ins Spiel, dass Faktoren da sind, die an der souveränen Handlungsfähigkeit der Lehrenden aus empirischen Gründen zweifeln lassen und eher die intersubjektive Einbindung berücksichtigen. Die gegenwärtige pädagogische Praxisfortbildung und -literatur stellt sich auf zwei unterschiedliche Kontingenzherausforderungen im Lehrberuf ein. Die eine befasst sich mit den verschärften Anforderungen gegenwärtiger Bildungspolitik als Erhebung, Förderung und Ausbildung von Lehrerkompetenzen. Dieser Mainstream ist selbst schon eine Reaktion auf das Gewahrwerden alter und erneuerter Unsicherheiten, Risiken und Gefahren in Zeiten der Ungewissheit. Er versucht der Kontingenzerfahrung durch pädagogische und gesellschaftliche Kontrollen Herr zu werden und unterstützt daher die Ausprägung eines Zusammenspiels von Expertentum und Institutionalisierungen von Leistungsmessungen, um im globalen Rahmen den Vergleichen standzuhalten. Die andere Kontingenzherausforderung liegt im Verzicht auf Unterdrückung oder Überspielung der Ungewissheiten, die sich in den Erfahrungen und Enttäuschungen der Nach- und Postmoderne herausstellen. Stattdessen werden Versuche unternommen, auf Widersprüche handlungstheoretisch zu reagieren. Es bleibt nun zu filtern, welche theoretischen Figuren und Argumente für die Möglichkeit professionell Handelnder im Umgang mit Ungewissheiten stehen – inwiefern stehen sie für pädagogisch professionelle Kontingenzbewältigung, welche Probleme ergeben sich damit und welche Forschungsperspektiven können unter gegebenen Umständen ins Auge gefasst werden oder nicht?
1.4.3.4 Organisation und Profession: Institutionalisierung und die Frage nach Kontextualität Viele Forschungsbemühungen bewegen sich im Schnittfeld von Organisation und Profession, Individuum und Institution. Ausgehend davon, dass »Schultheorie und Schulpraxis gegenwärtig besonders stark auf Organisations- und Professionstheorie bezogen werden«, nimmt auch Helsper die Organisationsperspektive für die Professionalisierungsdebatte auf: Die letzten Jahre standen stärker unter dem Vorzeichen eines Umbaus der schulischen Steuerung von der Input- zur Outputperspektive – das Erreichen von Standards allerdings wurde zunehmend in die Hände der Einzelschule und ihrer Akteure gelegt, so dass von einer widerspruchsvollen Bewegung von »Zentralisierung und Dezentralisie209 A. a. O., 262.
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rung« gesprochen werden kann.210 Diese Entwicklung ist nun wiederum mit den Verhältnisbestimmungen von Organisation und Profession eng verknüpft. Es liegt nahe, durch die Dominanz neuerer Standards nach den Erweiterungen und Beschränkungen sowohl für organisatorische als auch professionelle Handlungsspielräume zu suchen und dabei auch die Deutungen bzw. Umdeutungen professioneller Selbstkonzepte zu beleuchten. Eva-Maria Lankes vermittelt Zusammenhänge im Rahmen von Professionsforschung durch das dort entfaltete eher kybernetische »Interesse im Schulmanagement und Lehrerverhalten«. Dabei wird ein charismatisches LehrerInnenbild vermittelt: »Vor allem das Verhältnis Theorie-Praxis bleibt umstritten. Es ist sicher richtig, dass der theoretischen Fundierung der Ausbildung von Lehrpersonen größte Aufmerksamkeit zu schenken ist. Darüber darf aber die Unterrichtspraxis nicht vergessen werden. Unsere Schulen benötigen starke Lehrerpersönlichkeiten, die ›vor Klassen stehen‹ und überzeugend unterrichten können.«211 Entscheidend ist, dass aus der Perspektive der Institutionalisierung von Bildungs- und Erziehungsprozessen Bearbeitungsversuche von Ungewissheit im Sinne der Kontrolle pädagogischer Instruktionen erfolgt. Eine Schwierigkeit entsteht dadurch, dass sich im Zuge der organisatorischen Veränderungen der Gesellschaft Schule von anderen, nicht-pädagogischen Organisationen weniger unterscheidet, damit pädagogische Prozesse schwerer lokalisierbar werden und in eine neue Unbestimmbarkeit rücken. M. E. ist für eine professionsorientierte pädagogische Forschung, die mit Risiken und Gefahren prekärer Untersuchungsgegenstände im schulischen Praxisfeld zu tun hat, ein entselbstverständlichter Einbezug von Organisationen und Institutionen vonnöten, der im Spannungsverhältnis von empirischer Gegebenheit Einbindungen kenntlich macht und normative Gestaltungsperspektiven in den Blick nimmt. Im Übrigen liegt nahe, den institutionellen und organisatorischen Blick phänomenologisch auf weitere lebensräumliche Kontexte zu erweitern.
1.4.3.5 Expertentum, Kompetenzbegriff und wissenschaftstheoretische Fragen Ein Zugang zum Verständnis des Lehrerhandelns, der sich aus der im strukturtheoretischen Paradigma beschriebenen Professionalität und der Verbindung mit Kriteriologien ergibt, liegt in der Expertise: LehrerInnen werden als kompetente Fachkräfte für den Unterricht begriffen, d. h. hier greift das Expertenparadigma, das die Aufmerksamkeit auf kognitive Strukturen richtet, die 210 Helsper u. a.: Pädagogische Professionalität in Organisationen, 10. 211 Dubs: Lehrerbildung zwischen Theorie und Praxis, 11. Der Band ist ansonsten eher disparat und wenig aufeinander bezogen.
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für Lehrerhandeln maßgeblich sind.212 Nach Martin Rothland zeichnen sich »Experten für den Unterricht durch eine kategoriale, umfassendere und systematisierende, in unterschiedliche Muster einordnende Wahrnehmung des Unterrichtsgeschehens bzw. einzelner Unterrichtsereignisse aus. Die haben unterschiedliche Konzepte diverser Unterrichtssituationen und -episoden verinnerlicht, mit deren Hilfe sie quasi automatisch die jeweils konkrete Situation auf Klassen- und nicht auf Schülerebene wahrnehmen und bewerten. Zudem verfügen sie über passende Handlungsroutinen zu einer Vielzahl solcher Unterrichtssituationen, die es ihnen ermöglichen, schnell, erfolgreich und situationsadäquat zu handeln.«213 Dabei kennzeichnet die Expertise nicht der Umfang des Wissens, sondern »die Organisation ihres Wissens, die sie dazu befähigt, sehr schnell spezifische Situationen wahrzunehmen und auf ein entsprechendes Handlungsrepertoire bzw. auf Vorstellungen von Unterrichtsablauf zurückzugreifen.«214 Mit dem Expertenparadigma verbindet sich der Blick auf die Person des Lehrers und der Lehrerin in einer besonderen, sehr fokussierten und eingeschränkten Weise: Es wird betont, dass Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse lernbar und von daher Kompetenzen zu erwerben sind; dennoch kommen vor allem psychologische Eigenschaften in den Blick wie Vertrauenswürdigkeit, Überzeugungsfähigkeit, Umgänglichkeit und die Balancierfähigkeit gleichzeitiger Tätigkeiten. Was Rothland als »genauso Talent wie Kompetenzerwerb« darstellt215, ist de facto zumindest theoretisch nicht widerspruchsfrei, handelt es sich hier um ein Professionsideal eines ohnehin schon talentierten, geschulten und zugleich offenen Lehrers. Damit verbinden sich organisationsgebundene Erziehungsaufgaben wie Unterrichten, Erziehen, Beurteilen, Beraten, Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen, Weiterentwicklung der eigenen Schule. Zu den Professionalisierungsaufgaben gehören auch strukturelle Bedingungen, z. B. die normale Aufteilung in zwei Arbeitsplätze – an der Schwierigkeit von dessen Zusammenlegung macht sich auch die Frage nach Ermöglichungen von Ganztagsschulen fest, denn wenn dort kein Lehrerarbeitsplatz vorhanden ist, driftet die Lehrerarbeit räumlich und zeitlich ins Unmögliche. Weiterhin werden Charakteristika des Unterrichtsgeschehens genannt, die mit der individuellen unterrichtlichen Gestaltung zwischen Freiheit und Reglementierung einhergehen – (Verantwortung wird gar nicht erst benannt!). Der Erfolg von Lehrerarbeit hängt auch in dieser Perspektive von struktu212 Vgl. Rothland: Lehrerberuf und Lehrerrolle, 496. 213 A. a. O., 496; vgl. Rheinberg / Bromme: Lehrende in den Schulen. 214 Rothland: Lehrerberuf und Lehrerrolle, 497; vgl. Bromme: Kompetenzen, Funktionen und unterrichtliches Handeln; Rheinberg / Bromme: Lehrende in den Schulen; Bromme / Haag: Forschung zur Lehrerpersönlichkeit. 215 Rothland: Lehrerberuf und Lehrerrolle, 497.
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rellen und kommunikativen Bedingungen ab und ist nicht unmittelbar auf das Bemühen und Können einzelner LehrerInnen zurückzuführen. Somit »ist es das Ziel der Arbeit von Lehrpersonen, in dem Bereich, den sie gestalten können, nämlich den Unterricht, kompetent adäquate und möglichst optimale Lerngelegenheiten für die Schülerinnen und Schüler bereit zu stellen.«216 Wenngleich hier auf die Komplexität der LehrerInrolle weiter eingegangen wird, ist es doch sehr bezeichnend, dass die Perspektive Gieseckes auf den Lehrer als Lernhelfer vorangestellt wird. Dem entspricht als ein besonderes Charakteristikum des Lehrerberufes, dass ihm ein »Berufsgeheimnis« fehle.217 Hier wird einerseits deutlich, dass die Kontextualität der Professionalität zunimmt – meist wird sie im Feld von Organisationsbindung gesehen.218 Lehrerarbeit gilt in gewisser Weise als ein Handwerk, dessen Kompetenzen innerhalb gegebener Strukturen eben auch zu erwerben sind. Dass kaum von Lehrerbildung als einem personalen Prozess die Rede ist, setzt voraus, dass es weniger auf personale und damit auf anthropologische Momente ankommt, dass auf diese Weise Erziehungs- und Beratungsfunktionen zurückgedrängt werden. Dann wird zwar wichtig, dass sie all diese Erziehungsaufgaben können sollen, jedoch vor allem das Unterrichten wahrnehmen. Bauer u. a. kritisieren z. B. zu Recht, dass Lehrer nicht oder zumindest nicht genügend für das Lernen ausgebildet werden, sondern Experten der Lehre sind.219 Dabei kommt die Fragilität der Lehrenden zumindest im Horizont der Bemühungen auf dem Weg der Entwicklung des »Selbst, das sich der Unvollkommenheit und der Vorläufigkeit aller gefundenen Lösungen bewusst ist und an sich selbst arbeitet, um wirkungsvoller handeln zu können«.220 Lehrerrollen betreffen hier mehrere Rollensektoren oder -segmente221, die an unterschiedliche Gegenüber als Erwartungsträger gebunden sind. Es kommt nicht von ungefähr, dass in dem gegenwärtigen Trend der größte Anteil an empirischer Forschung auf die Fragen der unterrichtsbezogenen Kompetenzen, Kognitionen und Überzeugungen ausgerichtet ist, um diese auf der Ebene beruflichen Handelns zu ermessen.222 Rothland markiert hier ein Forschungsdefizit, das sich in diesen engen Grenzen bewegt – werden doch damit international vergleichbare und erfolgsmessbare Unterrichtsqualitätskriterien überprüft und gegeben. Unsicherheiten, Störungen und Unterbre216 217 218 219 220 221 222
A. a. O., 499. Ebd. Vgl. a. a. O., 498f. Vgl. Bauer / Kopka / Brindt: Pädagogische Professionalität. Bauer: Konzepte pädagogischer Professionalität, 63. Vgl. Rothland: Lehrerberuf und Lehrerrolle, 499. Vgl. z. B. Terhart: Erfassung und Beurteilung der beruflichen Kompetenz; Baumert / Kunter : Stichwort: Professionelle Kompetenz.
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chungen wären hier dahingehend zu bearbeiten, als Unwägbarkeiten berücksichtigt, aber letztlich hintangestellt werden. Dass in der öffentlichen Wahrnehmung von LehrerInnen diese m. E. künstliche Unterscheidung nicht funktioniert, zeigen einige Beispielsituationen, in denen – zunächst einmal ganz unreflektiert, überraschend und eher in den Alltag einbrechend – andere Dinge sich Lehrenden in den Weg stellen und Aufforderungscharakter dahingehend haben zu entscheiden, ob sie als Anforderungen und Aufforderungen überhaupt wahrgenommen werden. Es bleibt zu erfragen, welche Wissensformen und Lehrerbildungsformen für ein Verhältnis von Wissen, Können und Handeln zuträglich sind, welches die Allgegenwart von Wissen und Können in Zweifel zieht und einer realistischeren Einschätzung von Lehrerhandeln nachzukommen sucht. Ansätze zur Erkundung von Berufserfahrung und Expertenwissen berücksichtigen Dimensionen des impliziten Wissens als tacit knowledge und tacit knowing. Vom Ausgangspunkt der Kontingenz ist gefragt, a. nicht nur kognitionspsychologische Elemente von Wissen zu berücksichtigen, sondern auch die leibräumlich-phänomenologische Dimensionierung von Wissen und Unwissen, Handeln und Verhalten, Einstellung und Haltung zu schärfen und b. folglich auch nicht nur dessen subjektive, sondern auch die damit verbundenen interaktiven Prozesse zu erkunden und c. vor dem religiösen Hintergrund der Frage nach professionellem Verhalten zu Kontingenz auch die Tiefenverhältnisse von Ungewissheit und Gewissheit zueinander zu klären.223 Dafür ist sicher eine Schnittstelle zu einer vorsichtigen Neubestimmung von religionspädagogischer Praxis im Anschluss an Wittgenstein und Schleiermacher hilfreich.224
1.4.3.6 Biografisch-lebensweltliche Perspektiven und Fragen zur Intersubjektivität und Zukunftsgestaltung Auf der Basis biografischer und interaktionaler Bemühungen der Schnittstellen von Professions- und Biografietheorien steht die biografische Arbeit im doppelten Sinne im Mittelpunkt. Zum einen bildet die reflexive Arbeit am sogenannten professionellen Selbst den Focus vieler Bildungsbemühungen. In einer empirischen Langzeitstudie haben Bauer u. a. ein Handlungsmanual erschlossen, das jedem professionellen Selbst inhärent ist.225 Hier werden die Grenzen einer linear gedachten Erziehungswissenschaft überdeutlich: In der deutschen Erziehungswissenschaft wird Ungewissheit von Seiten der Pädagogik und Erziehungswissenschaft eher weniger in den Blick genommen, sondern vor allem 223 Vgl. Polanyi: Implizites Wissen; Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. 224 Vgl. Combe / Kolbe: Lehrerbildung. 225 Vgl. Bauer / Kopka / Brindt: Pädagogische Professionalität.
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in den Kern des professionellen Selbstverständnisses hinein verortet. KochPriewe / Kolbe / Wildt gehen von der »Existenz eines eigenen Erfahrungswissens« aus, mit dem sich auch ein erfahrungsgestütztes Können im Sinne eines knowing-how ausbildet.226 Bei allem Eingeständnis an Unwägbarkeit ist dennoch am Ende eine gewisse Bestimmung möglich: »Von Professionalität des Handelns kann aber nur dann die Rede sein, wenn diese Erfahrungsbestände reflexiv durchgearbeitet werden.«227 Damit wird das Kriterium der Reflexivität, das insbesondere für die interaktionalen und biografischen Ansätze maßgeblich ist, zum letzten Schlüssel für professionelles Handeln. Diese muss dann weiter spezifiziert und auf fachwissenschaftliche Bezüge, erziehungswissenschaftliche, psychologische und bildungssoziologische Grundlagen bezogen und zweitens fallverstehend entfaltet werden. Drittens steht die reflexive Durchdringung des Erfahrungswissens in der Reflexivität der aus dem Fallverstehen resultierenden Erfahrungsmuster an. LehrerInnen befinden sich damit am Strukturort der Vermittlung von Theorie und Praxis, ja sie verkörpern diesen geradezu, in aller Fragmentarität und ohne dass diese Professionalität in Zweckrationalität aufgehe. Unabdingbar scheint mir jedoch, zu überprüfen, welche – auch biografischen und lebensweltlich verankerten – Konzeptelemente dazu beitragen, die Wirklichkeit des pädagogischen Gegenübers in den Blick zu bekommen und nicht in professionellen Selbstkonzepten zu verharren, welche den Anderen als machtstrukturell minderes Wesen sehen. Folge ich dem strukturtheoretischen Paradigma, gibt es etliche Konvergenzen empirischer Forschung in Bezug auf Basisprobleme pädagogischer Professionalität und Professionalisierung. Combe / Helsper identifizieren a) die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Berufsbiografie und professionellem Handeln, b) Studien zu den Widersprüchlichkeiten der Berufspraxen, den Paradoxa, die normative Antinomien bzw. praktische Dilemmata darstellen und c) die Interaktion zwischen Professionellen und KlientInnen und deren organisatorische Rahmen. Die Diskussion um pädagogische Professionalität gibt bisher vor allem Impulse für die Bestimmung von »professionellem Handeln als prekäre[r] Vermittlungsleistung«, d. h. den Umgang mit schwierigen, bedenklichen Strukturen und Situationen; denn dieser ist nicht technologisierbar, standardisierbar oder wissenschaftlich ableitbar, sondern stellt eine »immer wieder neu auszugestaltende und zu begründende Praxisform« dar und taucht explizit oder implizit in den meisten auf
226 Koch-Priewe u. a.: Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung, 13. 227 A. a. O.
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Lehrerprofessionalität bezogenen Ansätzen die systematische Unsicherheit pädagogischen Handelns auf.228 Dies geht m. E. nicht weit genug. Professionsethische Überlegungen, die erst bei der Verantwortung ansetzen, unterschlagen die Intersubjektivität pädagogischer Praxiswirklichkeit. Zukunftsgestaltung kommt als Problem lebensendlicher und damit auch zeitlich bestimmbarer Ungewissheit als Problem, aber auch als Gestaltungszusammenhang für die professionell Handelnden dann in der Mitte der Praxis in den Blick, wenn auch der oder die Anderen als Gegenüber des Professionellen in Erscheinung treten. Dies wird an einem Seitenblick zu Professionalitätsüberlegungen in der Sozialen Arbeit einsichtig.
1.4.3.7 Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und die Frage nach Chancen der Ungewissheit in der Religionspädagogik Die Radikalität des Einbezugs von Kontingenz in erziehungsphilosophische Denkprozesse betreibt vor allem Michael Wimmer. Er geht von der schon immer vorhandenen Differenz von Erziehung und Pädagogik aus, daher verabschiedet er sich nicht nur von expertisegesteuerten oder organisationsgeleiteten Machbarkeitsphantasien, sondern überhaupt von Ganzheits- oder Identitätsillusionen.229 Die bereits beschriebene Entgrenzung des Pädagogischen durch die Ausdehnung auf andere Felder und Personen bedeutet hier zugleich eine Universalisierung. Das Wissen des Nicht-Wissens und damit die Reflexion über die Grenzen des Wissens im pädagogischen Handeln bestimmt nach Michael Wimmer den Kern pädagogischer Professionalität. Bei den Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen der Verfügbarkeit kommt es auf das (Noch-)NichtWissen an. Die bereits angedachten Klüfte zwischen Erfahren, Wissen, Deuten, Handeln werden damit noch einmal verschärft: Solange diese professionellen Gaben und Prozesse als kontinuierlicher Übergang in Kategorien wie Anwendung, Umwandlung oder Übersetzung gedacht werden, geht es um eine Anwendungstechnologie und der professionell Handelnde wird zum Ausführungsorgan vorschriftlichen Wissens. Subjekt bleibt der Handelnde nur, indem er das Wissen als Wissen bzw. Nicht-Wissen als Nicht-Wissen nicht weiß oder erahnt weiß und damit eine – professionelle? – Distanz zu ihm hat. Praktisch gedachte Professionalisierungsbestrebungen dazu finden sich im Blick auf den Umgang mit Nicht-Wissen. Bernd Dewe verweist auf die Struktur pädagogischen Wissens, das zwischen »Entscheidungsverwendung« und »Begründungsverwen228 Combe / Kolbe: Lehrerbildung, 834, vgl. Fabel-Lamla: Biografische Professionsforschung; Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns. 229 Vgl. Wimmer : Zerfall des Allgemeinen, 414.
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dung« unterscheidet – eine Verwandlung des Wissenschaftswissens in professionelles Wissen. Und dieses Wissen benötigt im Hinblick auf sozialpädagogisches Handeln ein »mimetisches Vermögen« zur Ermöglichung offener Anfänge angesichts belasteter pädagogischer Klientel und der Geschlossenheit sozialer Kontrolle – dies betrifft auch die Belastung von Situationen.230 Combe / Helsper schließen daraus, »dass es eines experimentellen, offenen Umgangs mit der pädagogischen Klientel, also gerade der Suspendierung eines abstrakten Vorwissens bedarf, um der Singularität des Einzelfalls keine pädagogische Gewalt anzutun.«231 So weit ist der Handlungsrahmen immer noch theoretisch einsehbar und zu konturieren. Das professionelle Handeln und Wissen ist jedoch auch Erscheinungsweisen des Anderen ausgesetzt, der oder das dabei anders und unbestimmbar bleibt. Der Andere wird zu einer unabdingbaren Größe. Andrea Liesner und Michael Wimmer plädieren daher in einem postmodernen Beitrag für ein Verständnis von Ungewissheit, welches das Bedrohliche transzendiert und für Überraschendes und Offenes und Mögliches öffnet – im Anschluss an Derridas unmögliches Mögliches. Hier wird die Fragilität des Lebens angesichts des Todes im Anklang an Jaspers zur Ausgangsbasis für die Rede über die »Neue Ungewissheit«, die der Rede über die »Neue Unübersichtlichkeit« (J. Habermas) nachfolgt. Hermeneutisch geht es dabei um unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten: Der Gewissheitsverlust bedeutet gesteigertes Freiheitsbewusstsein; alternativ manifestiert sich in der neuen Ungewissheit eine Ohnmachtserfahrung, »in der jede Freiheit durch den Zwang absorbiert wird, auf kontingente Ereignisse ohne Reflexivität und die Möglichkeit zu wohlbegründeten Entscheidungen reagieren zu müssen.«232 Einmal gehört Ungewissheit zu den Konstitutionsbedingungen von Pädagogik. Kontingenz ist damit mehr als eine Verunsicherung und damit der Anlass für pädagogisches Bemühen um angemesseneres Denken, Begründen und Handeln; Kontingenz rückt in der Radikalität in ein A priori. Dabei bekommen pädagogische Bemühungen um eine Intentionalität, die sich auf die bloße Organisation von Lernumwelten erstreckt und deren Kern konstruktivistische Humanontogenese darstellt, eine kritische Radikalisierung – und zwar in der von Käte Meyer-Drawe angesprochenen »paradoxalen Struktur des Verhältnisses von Mensch und Welt«, die in Kauf nimmt, dass Kontingenz zugespitzt zur Bedingung der Möglichkeit von Pädagogik gehört, deren Negation impliziert.233 Hier kommt als Grundlage der Pädagogik die Problematik der Un230 Nach Hörster / Müller : Zur Struktur sozialpädagogischer Kompetenz. 231 Vgl. Combe / Helsper : Einführung: Pädagogische Professionalität, 41; Hörster / Müller: Zur Struktur sozialpädagogischer Kompetenz. 232 Liesner / Wimmer : Der Umgang mit Ungewissheit, 25. 233 A. a. O., 28.
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durchschaubarkeit des Anderen und der Kommunikation unter den Bedingungen doppelter Kontingenz zum Tragen.234 Aus diesen Herausforderungen entspringen zwei pädagogische Tendenzen: das Aufgeben von bewusst planerischer und intentionaler Erziehung einerseits und der Rückgriff auf traditionelle Werte, Grenzen, Normen und Autorität andererseits. In jedem Fall ist der Diskurs über Erziehung und Bildung einer der »Schauplätze, auf denen die Diagnose einer um sich greifenden Ungewissheit und Orientierungslosigkeit mit der Forderung nach Sicherheitsmaßnahmen und Gewissheitserzeugungen verbunden wird, die sie legitimieren soll.«235 Auf dem Terrain der Erziehungswissenschaft rücken damit Probleme der Pluralität, Alterität, Differenz, Unbestimmtheit und Kontingenz in die Mitte – eine Diskussion, die den gesamten intentionalen Erziehungsbegriff in Frage zu stellen scheint. Mir scheint Michael Wimmers Frage pädagogisch zentral zu sein: »Wie kann angesichts der durch die Intransparenz und Unverfügbarkeit des Anderen bedingten Ungewissheit nicht nur pädagogisches, kommunikatives oder soziales Handeln, sondern Sozialität, Gemeinschaft, Verbindung, Angehörigkeit und Zugehörigkeit selbst noch möglich sein, ohne dass dabei die Singularität und Alterität neutralisiert wird? Sind unter den Bedingungen der modernen Kontingenzkultur (Makropoulos) mit ihren enttraditionalisierenden und individualisierenden Wirkungen noch Bildungsprozesse möglich, in denen geschichtliche Erfahrungen noch einen Ort und eine Bedeutung haben?«236 Verbunden wird damit die Frage nach Bildung und Zukunft, und zwar nicht in der Kurzsichtigkeit von Aufgaben und Kompetenzen, sondern »wie die Zukünftigkeit der Zukunft mit ermöglicht werden kann, ohne sie durch Prognosen und Utopien zu verstellen.«237 Wimmer verweist auf diese Unruhe als Faktor produktiver Verunsicherung und als fundamentale Chance, »mit Denkgewohnheiten zu brechen und offenzulegen, wie sich die moderne Vernunft durch ihre eigenen Sicherheitsstrategien in Gefahr gebracht hat, so dass ein anderes Verhältnis zum Wissen, zur Zeit und zum Anderen denkbar wird, eine andere Möglichkeit des Möglichen.«238 Wichtig wird, dass es hier nicht so sehr die Bedrohung des autonomen Subjekts ist, die in den Mittelpunkt rückt, sondern dass ein veränderter Stellenwert von Ungewissheitserfahrungen aufgenommen ist als »Möglichkeitsbedingungen des Wissens und des zukunftsoffenen Handelns«.239 Damit müssten auch pädagogische Professionshandlungen zwischen aktiver Kontingenzbearbeitung und passiver Betroffenheit neu überdacht werden, da auch das Ver234 235 236 237 238 239
Vgl. Liesner / Wimmer : Der Umgang mit Ungewissheit, 30. A. a. O., 31. A. a. O., 31. A. a. O., 32. A. a. O., 32. A. a. O., 26.
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hältnis von Ereignis und Entscheidung nicht in radikaler Differenz haltbar wäre, sondern sich im Kontingenten beide Seiten berühren.240 An dieser Stelle scheint mir am ehesten ein Aufbruch von verfestigten Schaltstellen professionellen Handelns herausgefordert, die sich letzten Beschreibungsebenen entziehen. Es wird dringend nötig, aus diesem Professionalitätsansatz in Praxiszusammenhängen Perspektiven darzustellen, in denen Spuren des kontingenten Anderen für pädagogische Zusammenhänge sichtbar werden. 1.4.3.8 Professionsethische Perspektiven des Lehrberufs Fragt man nach den handlungsleitenden Werten, Normen, Regeln oder Prinzipien im professionellen Handeln, so sind mit Niklas Luhmanns »Ethos-Ethik« handlungstheoretisch drei grundsätzliche Richtungen zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Ethik wird in dieser Theorie als »kritische Theorie des Ethos« begriffen241: Sie sensibilisiert für die eigene Kontextbezogenheit, indem sie handlungsorientierende Normen und Werthaltungen deskriptiv freilegt, Begründungen und Gestaltungsempfehlungen bzw. Handlungsanweisungen als Befolgungen einer ökonomischen Ethik kritisch betrachtet. Damit ermittelt sie ein Bewusstsein der Struktur und Geltung von frameworks: »Sie expliziert das Implizite, indem sie es versprachlicht, es rekonstruiert und es rechtfertigt, und sie kritisiert die Sphäre des Geltens von Handlungsorientierungen, Rechtsnormen, Regeln und Verhaltenscodices«.242 Ethik ist damit nach Langer kritische Reflexion professionellen Handelns. Langer plädiert für eine interdisziplinäre deskriptive, begründungs- und implementierungstheoretische Herangehensweise, nach der ein Professionsmodus ein Steuerungs- und Kontrollmodus ist. Dabei wird auch hier ein Dilemma erkennbar : Die Implementierungsstrategie der »Einsozialisierung« führt dazu, dass individuelle Professionelle für ihren Professionsraum Gestaltungsfreiheit und Verantwortung haben, zugleich aber professionelle Organisationen eine Kontrolle über ihre Akteure gewinnen müssen, deren Bindung einen langen Einsozialisierungsprozess erfordert. Langer schlägt vor, das Problem systemisch zu bearbeiten und das Kriterium der Effizienz in besonderer Relevanz für eine institutionelle Professionsethik aufzunehmen.243 Im Religionslehrberuf nach ethischen Grundlagen des Handelns zu fragen, bezieht das Handeln zwischen Staat und Kirche, zwischen Lebens- und Glaubensbiografie, zwischen den kommunikativen Partnern ein – all die Faktoren, 240 Vgl. a. a. O., 43. 241 Volz: »In aller Freundschaft«, 23. 242 Kreuzer : Kontexte des Selbst, 28 (H.i.O.); vgl. Langer : Professionsethik, Effizienz und professionelle Organisationen, 166. 243 Vgl. a. a. O., 176.
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die sich als professionsrelevant herauskristallisieren. Das gibt jedoch noch nicht Aufschluss darüber, a. wie diese Faktoren von den professionellen Handelnden selbst zueinander ins Verhältnis gesetzt und wie sie austariert werden – das zeigt sich z. B. am Konfliktfall in der Eingangsvignette zur plötzlichen Trauer einer Schülerin während des Unterrichts. Wie und warum reagiert die Lehrerin, an welchen Koordinaten orientiert sie sich? Und b. ist es nicht nur durchaus möglich, sondern nahezu wahrscheinlich, dass offizielle, explizite Maßgaben auch von impliziten Normen durchzogen oder gar durchkreuzt, wenn nicht unterlaufen werden. Unklar ist dabei, welche Motivationen dazu führen, auch implizite Normen zumindest exemplarisch aufzudecken.
1.4.4 Konsequenzen für den religionspädagogischen Professionsbezug 1.4.4.1 Berufskonstitutive Kontingenz und die Perspektive des unbestimmbaren Anderen Es hat sich schon in den Konkretionen und Bezugnahmen der Pädagogik auf ihre Berufe herausgestellt, dass pädagogische Felder mit Phänomenen von Ungewissheit und Unplanbarkeit zu tun haben. Es gehört zur pädagogischen Professionalität, erworbenes Wissen auf unvorhergesehene Situationen zu transferieren. Die eingangs skizzierten Störungen und Unwägbarkeiten erscheinen in diesem Licht als berufliche Anlässe für theoretische Versuche, diese irritierenden Kontingenzen durch spezifisches pädagogisches Handeln zu bewältigen und / oder erziehungswissenschaftlich einzubeziehen. Damit stellen sie in religionspädagogischer Hinsicht ein professionstheoretisches Problem dar, denn als Bewältigungsstrategien müssen sie tiefere wie existentielle Dimensionen von Unverfügbarkeit ernst nehmen bzw. scheitern an deren Grenzen. Dieses ist im Blick auf den Lehrerberuf konkret noch einmal zu betrachten und zu prüfen: Handelt es sich hier um ein spezifisches berufliches Feld? Wie wird das berufliche Handeln der ReligionslehrerInnen von TheoretikerInnen und PraktikerInnen der eigenen Zunft, der Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft gesehen? Welche LehrerInnenbilder sind dafür empirisch und maßgeblich? In welchen Kontexten und Bahnen werden Kontingenzphänomene in der Religionspädagogik wahrgenommen? Pädagogische Professionalität wird als prekäre, z. T. fragwürdige Wissensund Könnensbasis des Lehrerhandelns verhandelt, die in institutionellen, kommunikativen und situativen – damit auch personell und biografisch gefärbten – pädagogischen Kontexten zum Tragen kommt. In ihr ist dann eine besondere Art und Weise der Rekonstruktion, Interpretation und Deutung ge-
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fragt – zumeist als Gegenüber, Vermittlung, Ausbalancierung und Expertise im Umgang mit unsicheren Anforderungen. Dabei sind Konzepte zu unterscheiden, die auf die unterschiedlichen Anforderungen reagieren. Die gegenwärtige Professionsorientierung folgt dem handlungstheoretischen Aufbau von Kompetenzen für spezifische pädagogische Aufgaben. Dabei wird nicht immer deutlich, wie diese Komplexität zu erlangen ist. Merkmalsbestimmungen von Professionalität kennzeichnen zwar die inhaltliche Spezifik beruflichen Handelns, sie legen aber auch die reduktionistische Annahme nahe, dass die Professionen selbst die Professionalisierungsversuche anstoßen.244 Mit dieser Erkenntnis sind funktionalistische Betrachtungen zunehmend von Bestimmungsversuchen abgelöst worden, die auf die Rekonstruktion der Logik professioneller Tätigkeiten als einer spezifischen und herausgehobenen Strukturvariante beruflichen Handelns rekurrieren. Mir wird daher klar : »Erst wenn die Krisenhaftigkeit der Handlungspraxis, die den Umgang mit Lern- und Entwicklungsprozessen charakterisiert, als Normalfall akzeptiert wird, können die Bedingungen schärfer in den Blick kommen, die es möglich erscheinen lassen, diesen Beruf professionell auszuüben.«245 Damit wird auch Ursula RabeKlebergs normative Bestimmung von Professionalität wichtig als Formulierung einer personalen Kompetenz, »Handlungsungewissheiten zu ertragen, sie immer wieder neu zu reflektieren und trotz aller Unwägbarkeiten die Begründungsverpflichtung und Verantwortung zu übernehmen.«246 Für eine Professionsbestimmung, die aufgrund der Unverfügbarkeit von Lebens- und damit auch pädagogischen Bildungs-Prozessen ansetzt, greifen diese Überlegungen bisher zu kurz, da sie die Wirklichkeit des und der Anderen vor allem zur Konturierung und Befragung von professionellen Subjekten und deren Handeln in Betracht ziehen. An dieser Stelle ist das interaktionistische Moment nicht genügend ausgeschöpft. Grundlegender jedoch ist, dass empirisch-phänomenologische Gegebenheiten professioneller Praxis, wie es scheint, ins Hintertreffen geraten. Gibt man Oevermann recht darin, dass »professionalisiertes Handeln […] wesentlich der Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis unter Bedingungen der verwissenschaftlichten Rationalität« ist247, so wird dieses Verhältnis in Bezug auf Forschungszusammenhänge noch einmal neu zu bedenken sein, um Erfahrung, Wahrnehmung, Wissen, Biografie, Kontexte, Bildung und Erziehung auf Professionsfragen im Verhältnis zu Unverfügbarkeitsschattierungen neu zu be-
244 245 246 247
Vgl. Combe / Helsper : Einführung: Pädagogische Professionalität, 10. Combe / Kolbe: Lehrerbildung, 835. Combe / Helsper : Pädagogische Professionalität, 41. Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionellen Handelns, 80.
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denken.248 Wie geht eine Professionstheorie auf Handlungsbereiche und solche Paradoxien ein, in denen die Unwägbarkeit Oberhand nimmt? Kann Professionalität selbst ein kritischer Begriff werden? Michael Wimmer ermöglicht eine Sicht auf die Möglichkeit eines konstruktiven Verhältnisses zu Kontingenz, das mit L8vinas die Passivität von Betroffenen nicht zwanghaft als dem Anderen zuvorkommende Aktivität sehen muss. Sie öffnet aber die Augen für kulturelle Orientierungen eines Professionsverständnisses an einem Professionalitätsrahmen, der über Handlungsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeit auch die Teilhabe an Unbeabsichtigtem, Ungewolltem, Unbezwecktem und (Un-)Willkürlichem schafft. Damit allerdings scheint der Abschied vom Gedanken an ein professionelles Subjekt, das selbst in Ohnmachtserfahrungen die Souveränität über das eigene Handeln behält, geboten.249 Hier wird also der Streit um eine Alternative von Subjekttheorie oder Handlungstheorie zu einer Frage der Gewichtung angesichts stärker zu berücksichtigender Dimensionen von Intersubjektivität. Dies schlägt sich auch auf der Ebene der professionellen Instrumente nieder. 1.4.4.2 Kompetenz oder Habitus? Personales professionelles Handeln in verkörperter Sozialität Normative Bestimmungen gegenwärtiger pädagogischer Professionalität, wie sie nach PISA in den Expertisen nationaler Bildungsstandards und vor dem Horizont internationaler Vergleiche in bildungspolitischen Zusammenhängen als Standards erhoben, in kritischen Diskursen aber auch reflektiert werden, setzen auf die Beschreibbarkeit von pädagogischen und fachlichen Kompetenzen. Unter Kompetenzen werden bereichsspezifische Dispositionen zum Handeln verstanden. Der für die gegenwärtigen Vereinbarungen zur Lehrerbildung zugrundegelegte Kompetenzbegriff wurde im Rahmen der OECD-Bildungsexpertise von dem Pädagogischen Psychologen Franz E. Weinert veranschlagt, der sich mit Noam Chomsky Kompetenzkonzept sowie mit Wolfgang Klafkis Schlüsselproblemen auseinandergesetzt hat. Kompetenzen sind demzufolge »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fä248 Vgl. Konrad: Pädagogische Professionstheorien im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Konrad bezieht drei Professionstheorien aufeinander: Hermann Giesecke, Michael Wimmer und Heinz-Elmar Tenorth, der sich aus einer indirekt vermittelnden Position eher für eine Trennung von Theorie und Praxis ausspricht. Combe und Kolbe bearbeiten Probleme, Chancen und Grenzen des Verhältnisses von Theorie und Praxis. 249 Vgl. Liesner / Wimmer : Der Umgang mit Ungewissheit, 41.
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higkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«.250 Angesichts der bisher eruierten Gegebenheiten zur pädagogischen Unverfügbarkeit und Ungewissheit ist es fraglich, ob ein Kompetenzbegriff dazu ausreicht, um Prozesse des Umgangs damit nachvollziehbar zu gestalten, da es sich in empirischer Hinsicht um eine reflexive Kategorie handelt, die erst aufgrund der vorgefundenen Praxis der Probleme den Rückschluss darauf erlaubt, wie die Ungewissheit beschaffen ist und inwieweit welche Problemlösung erfolgt. Wichtiger aber ist noch die Voraussetzung, dass eine individuelle Bewältigung von Problemen ins Auge gefasst wird; damit ist nicht zu erwarten, dass auch die sozialen und kulturellen Dimensionen eingefangen werden, in denen der Umgang mit Ungewissheit bearbeitet und begegnet wird. Einen anderen Zugriff mit Kategorien, die Ungewissheitsdimensionen in und als Praxis professioneller PädagogInnen so spiegeln, dass ihnen empirisch nachgegangen werden kann, ermöglicht das Habituskonzept. Basierend auf empirischen, ethnologischen und kultursoziologischen Studien, hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit dem Habituskonzept »strukturierte und strukturierende Dispositionen« aufgegriffen251, um Denken und Handeln beschreibbar zu machen. Dies wird durch die vier Merkmale der Inkorporation des Sozialen, das System von Dispositionen und Schemata, eine Implizitheit (im Sinne des tacit knowledge) und die Tendenz zur Trägheit präzisiert. Der Habitus gilt hier als »opus operatum«, als strukturierte Disposition, die durch partizipative Praxis gestiftet ist, und ebenso als ein »modus operandi«, als strukturierende Disposition, welche Praxis hervorbringt.252 Er ist daher geeignet, in einem praxeologischen Konzept gegebene Bedingungen als auch Zukunftsoffenheit zu zeigen. Bei Bourdieu ist der Habitus geprägt durch Klasse, Geschlecht und Hineinwachsen in einen sozialen Raum. Als Ergebnis und Weg zwischen biologischen Determinanten und sozialisatorischem Einfluss geht er einher mit der Ausprägung eines bestimmten Handlungsstils253 ; Äußerliches wird spezifisch durch Innerliches verarbeitet. Dabei signalisiert der Begriff der Disposition die Prägung, aber auch die Veränderbarkeit. George Herbert Mead hat daran angelehnt im Symbolischen Interaktionismus die Identität durch die Differenzierung von ›Me‹, was die inkorporierte Außenwelt, und ›I‹, was die Befähigung 250 Weinert: Leistungsmessungen in Schulen, 27f. 251 Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis, 165. 252 Vgl. auch Heil / Ziebertz: Professionalisierung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern, 578. 253 Vgl. Dressler : Was soll eine gute Religionslehrerin, ein guter Religionslehrer können?, 117; Dressler / Klie / Kumlehn: Unterrichtsdramaturgien, 319. Entscheidend ist, dass es hier um keinen Bildungsästhetizismus geht, sondern Stil auf einer Ebene mit Habitus zu vereinbaren ist.
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zur Verarbeitung und Transformation des Äußeren angeht, erweitert. Damit wird die doppelte Richtung der Praxis zwischen Einspielen, Erhalten, aber auch Transformieren und Anverwandeln deutlich. Das Habituskonzept erweist sich als tragfähig, um professionelles Handeln zu beschreiben und zu analysieren. Für die Bestimmung von professioneller Praxis ist entscheidend, dass der Habitus in seiner aus dem Handeln resultierenden, dieses aber zugleich bestimmenden Rolle für die Beschreibung dessen geeignet ist, was sich zwischen Theorie und Praxis, ja in der Vermittlung dessen ausprägt. Ein aus Praxis sich ergebender Ort, eine Bewältigung, eine Handlungs- oder gar Existenzform, die das Berufliche angeht, integriert Bedingungen und Anforderungen an professionelles Handeln. Die Habitustheorie von Pierre Bourdieu ist auch dazu geeignet, Erscheinungsformen einer Dimension wie der Ungewissheit an konkreten sozialen und leiblich erfahrbaren Praxen konkret zu erweisen. Als Verkörperung einer Art und Weise der Lebenshaltung und Weltbetrachtung verbindet der Habitus situative wie durch die Vergesellschaftung geschichtlich gewonnene dauerhafte Sozialstruktur und -organisationen innerhalb einer Persönlichkeit. In der Lehrerbildung kommt dabei der Aufbau eines reflexiven Habitus zum Tragen, wo Reflexivität als Schlüsselkompetenz für professionalisiertes Lehrerhandeln gilt.254 Für das Handlungsfeld des Lehrerberufs ersehe ich wie BeckerLenz und Müller den Aufbau eines Habitus als maßgeblich, welcher als »Gesamtheit einer verinnerlichten Struktur gelten kann, die auf der Ebene des Unterbewussten zentrale Persönlichkeitsmerkmale enthält und, als generative Grammatik, Wahrnehmen, Denken und Handeln bestimmt«.255 Unter Habitus versteht Pierre Bourdieu ein »System verinnerlichter Muster […], die es definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese.«256 Der professionelle Habitus ist demnach Bestandteil des Gesamthabitus; entscheidend für die Bildung des professionellen Habitus im Rahmen der Ausbildung ist die Bewusstmachung von Haltungen, die Veränderungen bestehender eigener Haltungen und die Verinnerlichung einer professionellen Grundhaltung. Dabei sind für sie ein »spezifisches Berufsethos«, die »Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses« und die »Fähigkeit zum Fallverstehen« grundlegend.257 In dieser praxeologischen Ausrichtung werden m. E. strukturelle Elemente so mit interaktionistischen und biografiebezogenen Elementen verzahnt und auf Ausbil254 Vgl. Wildt: Reflexive Lernprozesse. 255 Becker-Lenz / Müller: Der professionelle Habitus in der sozialen Arbeit, 22. Sozialen Arbeit wird oft wie der Lehrberuf als Semi-Profession verhandelt. 256 Bourdieu zur philosophiegeschichtlichen Entwicklung des Habitus-Begriffes nach Nickl: Ordnung der Gefühle, 214. 257 Becker-Lenz / Müller : Der professionelle Habitus in der sozialen Arbeit, 23.24.26.
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dungsstrukturen hin bezogen, dass eine praktische Handlungskompetenz fokussiert wird. Kern des Professionsideals ist daher ein professioneller Habitus. Zu diesem gehören Zentralwerte und eine berufsspezifische ethische Grundhaltung als die Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses, die Fähigkeit des Fallverstehens unter Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Es handelt sich also nicht allein um ein kognitives Wissen, sondern es fließen mehrere Komponenten in einen reflexiven Habitus ein. Ihm können umgekehrt Kompetenzen zugeordnet werden.
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Nach der Darstellung der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Großwetterlage zur pädagogischen Professionalität soll nun fürs Erste eruiert werden: Inwieweit nehmen die bisherigen Berufsbestimmungen von ReligionslehrerInnen und Diskussionen um religionspädagogische Professionalität Bezug auf Ernstfälle im Sinn religionspädagogisch-biografischer und existenzieller Unterbrechungen religionspädagogischen Handelns? Dazu kommen im Folgenden Berufsbestimmungen von ReligionslehrerInnen zu Wort, zum anderen entsprechende Untersuchungen zu beruflichen Aspekten und religionspädagogischer Professionalität. Unter Aufnahme von Studien der neueren ReligionslehrerInnenforschung soll untersucht werden, wie sich die Professionsverständnisse konturieren, die ReligionslehrerInnen in Geschichte und Gegenwart zugrunde liegen und welche Professionalitätsnormen mit ihnen geltend gemacht werden.
1.5.1 Im Visier der Theoriebildung: ReligionslehrerInnen zwischen Anspruch und Wirklichkeit 1.5.1.1 Berufs(leit)bilder im Wandel Dass man zu den ReligionslehrerInnen je nach Weite des Verständnisses unterschiedliche berufliche Gruppen versteht, ist ein Hinweis auf die Geschichte des Berufes und auf die Bezugnahme zum Verständnis des Lehrens und Lernens an Bildungs- und Lernorten. Denn in einem weiteren Sinn sind »alle als Lehrer/ innen der Religion zu bezeichnen, die für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene gezielt und methodisch strukturiert Lernsituationen gestalten, die sich mit einem religiösen Zugang zur Wirklichkeit beschäftigen (Eltern, Katecheten,
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geistliche Gruppenleiter, Medienschaffende usw.)«; in einem engeren Sinn gehören zu diesem Beruf »nur solche, die nach spezieller Ausbildung in staatlichhoheitlicher Funktion und mit kirchenamtlichem Auftrag in der Schule (Missio canonica; Vokation) Religion unterrichten.«258 In diesem Zusammenhang wird es zunächst um die engere, an die Bezeichnung »ReligionslehrerIn« angelehnte und auf den Lernort Schule bezogene Berufsbezeichnung gehen, womit einhergeht, dass an dieser Stelle noch nicht grundsätzlich nach der Ausbildung von Lehrkräften und Pfarrern unterschieden wird, zuweilen dieser Unterschied jedoch markiert wird. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Religionslehreraufgaben und -ansprüche zeigt: Schon lange bemüht sich die Theoriebildung zu Religionslehrenden um die Erhebung von Ansprüchen und Leitbildern für den entsprechenden Unterricht. Betrachtet man exemplarische Lehrerideale aus zentralen Epochen der Christentumsgeschichte259, so wird deutlich, dass durch die mit dem Beginn der Moderne entstehende Religionspädagogik, die im Zusammenhang steht mit veränderten Gesellschafts-, Arbeits- und Sozialordnungen sowie der kulturellen Pluralisierung, auch die Gestalt der Lehrkraft explizit in den Vordergrund rückt.260 Obwohl die Qualifikation der Lehrkraft nicht mehr direkt über Charakter und Lebensführung verlief und diese damit unabhängiger wurde, bedeutete dies nicht eine Beliebigkeit oder Willkür ihres Handelns – im Gegenteil: Gerade das Bewusstsein über die Grenzen der Aneignung von Religion und die Aufwertung der Kindheit stellt an die Religionslehrkraft höhere Anforderungen der Professionalität. Die Professionalisierung von ReligionslehrerInnen zu einem spezifischen Berufsbild wurde in Deutschland erst am Beginn des 20. Jh. mit der Abschaffung der christlichen Staatsschule durch die Weimarer Reichsverfassung möglich.261 Schaut man auf diesen »Beginn« der Religionspädagogik, treten Leitbilder von Friedrich Niebergall und Richard Kabisch ins Visier : Nach Kabisch setzt der Lehrer einen »erfahrungshermeneutischen Prozess« in Gang, er ist damit Erfahrungsinitiator. Nach Niebergall wird seine Begeisterung zum Funken der »Ansteckung«, der zu den Schülern überspringen soll.262 Helmuth Kittels 258 Schmälzle: Art. Religionslehrer,1697–1702. 259 Schröder skizziert Lehrerideale von Jesus, der alten Kirche, der Reformation bzw. Gegenreformation, der Aufklärungszeit und der Moderne (Schröder : Von Ursprung und Wandel des Religionslehrer(leit)bildes im Christentum, 126–138). 260 Vgl. Schröder : Von Ursprung und Wandel des Religionslehrer(leit)bildes im Christentum, 137f. 261 Vgl. Schmälzle: Art. Religionslehrer. Bei Adam beginnt die Übersicht erst mit der Evangelischen Unterweisung, Hermeneutischer, Problemorientierter und Sozialisationsbegleitender Religionsunterricht. 262 Vgl. Noormann: Wie Religionspädagoginnen und Religionspädagogen wurden, was sie sind, 127.
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Sichtweise vom Erzieher als Christ, dessen Ergriffenheit von Jesus Christus als Zeuge, wird gern als solcher Anfang von Ansprüchen genannt.263 Bei Martin Rang steht der Religionslehrer im Rahmen der Glaubenserziehung zum einen als bekennender Zeuge mit seinem Engagement, seiner Person und seinem Glauben für den Unterricht ein.264 Praktisch fungiert er auch als unterrichtender Liturg. Zum anderen hat er den Unterricht so zu strukturieren, dass sich das Zeugnis – unter Einschluss pädagogischer Unverfügbarkeit – in der Kraft Gottes lebendig und wirkmächtig entfalten kann.265 Da der Schüler »Hörer« des Wortes ist, gehören auch der Ausbau psychologischer und insbesondere empathischer Sensibilität zu seiner Aufgabe: »Er muß also in liebevoller Einfühlung in die Seelenwelt des Kindes und Jugendlichen sich vorzustellen suchen, wie eigentlich dieser zwölfjährige Junge oder jenes fünfzehnjährige Mädchen das Wort aufnimmt.«266 Am Ende der Zeit von Unterweisungs- bzw. materialkerygmatischen Konzepten wird das Professionalitätsideal der Religionslehrkräfte weniger personorientiert formuliert: Mit dem hermeneutischen Unterricht und der schul- und bildungstheoretisch begründeten Eigenständigkeit des Religionsunterrichts sind Sachkompetenzen gefragt; der Lehrer gilt nicht als Verkündiger, sondern als ein kundiger Gesprächspartner. Ansprüche an die Unterrichtenden beziehen sich in den Phasen themen- und problemorientierten Unterrichtens auch auf religions- und sozialwissenschaftliche Kenntnisse. Mit der emanzipatorischen Bewegung kommen wiederum Erwartungen an andere, stärker gesellschaftlich-, person- und kommunikationsorientierte Fähigkeiten auf.267 Die Ausprägung von Rollen der Religionslehrkraft stehen selbstverständlich im engen Zusammenhang mit den didaktischen Zielvorstellungen der religionspädagogischen Konzeptionen, sind jedoch auch gesellschaftlich weiter 263 Siehe Grethlein: Fachdidaktik Religion, 197f.; Kittel: Der Erzieher als Christ, 10. Vgl. Exeler : Der Religionslehrer als Zeuge; vgl. Hahn: Religionslehrerinnen und Religionslehrer (Da)Sein – Person und Beruf, 74. 264 Mit Oskar Hammelsbecks »Leben unter dem Wort« qualifiziert Martin Rang: »Der Religionsunterricht hat sich in diese auch das Leben des Kindes umfassende kirchliche Unterweisung einzuordnen« (Handbuch für den biblischen Unterricht, 80); das Kind soll den Alltag als Tag des Herrn begreifen. 265 So die Akzentuierung in kurzen Überblickskapiteln zur Geschichte der Religionspädagogik wie bei Adam / Lachmann: Religionspädagogisches Kompendium. Vgl. Rang: Handbuch für den biblischen Unterricht, 107. Zur Bedeutung des Unterrichts in dieser geisteswissenschaftlichen Pädagogik vgl. Bizer : Präludium: Zum Spiel religionspädagogischer Theorie, 13. 266 Rang: Handbuch für den biblischen Unterricht, 22–25. Vgl. Leonhard: Leiblich lernen und lehren, 68–70. 267 Dieter Stoodt erhebt für den die Idealvorstellung von drei »Lernarten« (105), die der Religionslehrer zu beherrschen hat. Der Religionslehrer, der einen Versuch startet, mit Themenzentrierter Interaktion in einem Oberstufenkurs zu arbeiten, reflektiert den Zusammenhang von Emotionalität und Beziehung zum Unterrichtsgegenstand (Stoodt: Der Lehrer im sozialisationsbegleitenden Religionsunterricht).
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kontextualisiert.268 Wegenast sieht in der Rolle der Religionslehrkraft eine Vermittlungsposition, denn seit 1980 gelte zunehmend »der Religionslehrer/die Religionslehrerin als Vermittler zwischen Christentum und Schule; zunächst als wissenschaftlicher Theologe, dann als Pädagoge und schließlich als Person, die psychosoziale Prädispositionen und bestimmte Verhaltensweisen, Führungsstile, Eigenschaften repräsentiert«.269 Die Schlussfolgerungen aus Geschichte und Synopse von Leitbildern bzw. Idealen der Religionslehrkraft fallen eher lapidar aus. Zum einen lässt sich feststellen, dass die Geschichte und Entwicklung der Leitbilder eine »Geschichte von Komplexitätsgewinn und Professionalisierung« bedeutet270 und der Verdacht entsteht: »Diese Überschätzung des Religionslehrers verstärkt die Vermutung, die Geschichte des Lehrerbildes in der Religionspädagogik sei eine Geschichte sich ablösender Überforderungen und überhöhter Erwartungen.«271 Siegfried Vierzigs Warnung: »[D]er Lehrer in seiner Rolle und Persönlichkeit als wirkender Faktor des Unterrichts kommt [in den Konzepten] nicht vor«272 schärft das Augenmerk noch einmal deutlicher auf die personalen Elemente des Religionsunterrichts und die gesellschaftlichen Professionszusammenhänge, wie sie in der beginnenden Religionslehrerforschung durchscheinen. In den Leitbildern ist ersichtlich: Je mehr die fachwissenschaftliche Expertise in den Vordergrund rückt, desto geringer kommt zu Wort, an welchen Stellen eine Religionslehrkraft auch mit Erfahrungen konfrontiert wird, die nicht in gewisser Weise unterrichtlich vorhersehbar sind. Gegenwärtig zu beschreiben, wie ReligionslehrerInnen sein sollen, bringt insgesamt eher heterogene Bilder hervor.273 Gemeinsam ist diesen dennoch, dass 268 Vgl. dazu auch Rothgangel: Der gute Religionslehrer / die gute Religionslehrerin im Spiegel religionsdidaktischer Konzepte und Anlässe. 269 Wegenast: Religionsdidaktik Sekundarstufe I , 95. 270 Schröder: Von Ursprung und Wandel des Religionslehrer(leit)bildes im Christentum, 146. 271 Hahn: Religionslehrerinnen und Religionslehrer (Da)Sein – Person und Beruf, 76. 272 Vierzig: Der Lehrer – Rolle, Person und Wirkung im Religionsunterricht, 19–24. 273 Bernhard Dressler nimmt mit dem »Symboldatum 1968« einen Generationenwechsel der ReligionslehrerInnen wahr, der ohne größere Brüche und Konflikte vonstatten ging (Dressler : Ist der Generationenwechwel ein Paradigmenwechsel?). Zu diesem Wechsel gehört auch, dass nicht mehr das Säkularitätsparadigma, sondern das Pluralitätsparadigma greift. Man habe kein Problem, nach Lebensnähe zu suchen, weil alles damit verknüpft ist; Dressler setzt daher vielmehr den Impuls, die Fremdheit produktiv zu nutzen. Nicht mehr so sehr Säkularisierung als Pluralität – der Diskurs über erwünschte Lehrerqualitäten ist nicht psychologisch, sondern als Professionalität führen, so gilt es, Lehrerpersönlichkeit, Authentizität und Glaubwürdigkeit zu übersetzen. Insgesamt ist die ReligionslehrerInnenschaft eine eher homogene Gruppe, die Erwartungen hoher Identifikation mit dem Fach mit sich bringt, viele wachsen zu generationenübergreifender Lerngemeinschaft zusammen (auch durch Fortbildung). Der Generationenwechsel ist da, bringt jedoch keinen Bruch und wenig Konflikte mit sich. Gefordert ist der Rückbezug von religiöser Bildung auf religiöse Lebensformen. Die Heterogenität spiegelt sich auch in den Profilen wider, die von Lehramtsstudierenden im Fach Ev. Religion auf Zukunft hin entworfen werden (z. B. im
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für sie die Ausrichtung der Leitbilder stärker an den allgemeinpädagogischen Trends erfolgt, dass die Orientierung an den SchülerInnen eine große Rolle spielt, die Fähigkeit zur hermeneutischen Erschließung von Religion und Glauben eine Unabdingbarkeit darstellt und die Selbstverständlichkeit von LehrLerntraditionen (Memoriermaterialismus, liturgische und gottesdienstliche Praxis, kirchliche Schriften als Schlüsselmedien) in eine Differenz gebrochen und größtenteils ersetzt worden ist274 – aus den Prozessen ungebrochener Tradierung sind komplexere und differenziertere Wege der Religionslehrkräfte im Sinne von TraditionsagentInnen geworden.275 Nicht ohne Grund kann man auch die gegenwärtigen Leitbilder als anspruchsvoll bezeichnen – weniger, weil die Ansprüche völlig übersteigert wären, sondern vielmehr aufgrund der Komplexität der vielen verschiedenen Arbeitsbereiche, die als Erwartungen geschildert werden – von der theologischen Expertise über die Mitarbeit und Gestaltung von Schulleben, -kultur und -entwicklung, von der Kooperation mit Schülern, Eltern, Verbänden und Vereinen wieder zur Integrität von Sozialem und Individuellem, Glauben und Leben, gelebtem und beanspruchtem Handeln.276 Bleibt die Frage, ob an die Stelle der Ideale in den gegenwärtigen Theorien vom religionspädagogischen Handeln Realitäten gestellt sind. Fakt ist, dass die Frage nach dem »guten Religionslehrer« im Zuge der Qualitätsentwicklung von Religionsunterricht prominenter ist denn je. In etwas abgeschwächter Normativität schillern manche Professionalitätsbestimmungen zwischen Beschreibung und Bestimmung: Nach dem von HansGeorg Ziebertz dargelegten Modell geht die Aufgabe des Religionslehrers als »Initiator religiöser Lernprozesse« von dem Verhältnis Person, Rolle, Beruf in Rahmen von Studientagen zu den Schulpraktischen Studien an der Universität Frankfurt auf die Frage hin: »Wie soll ein Religionslehrer / eine Religionslehrerin sein? Bau dir den idealen Religionslehrer / die ideale Religionslehrerin.«). 274 Diese Sicht Bernd Schröders ist insgesamt daher auch differenzierter als die Gottfried Adams: Adam entwirft eine Zielvorstellung von einem Religionslehrer, der alle Komponenten der Konzeptionen amalgamiert und in sich vereint, dabei jedoch theologischer Fachmann ist, eine pädagogische Grundeinstellung und einen entsprechenden Stil nachweist und didaktische Kompetenz besitzt. Schließlich wird das Bild dahingehend gesteigert: Die Person der Lehrerin bzw. des Lehrers ist das wichtigste Curriculum. Letztlich sind damit der eingebrachte eigene Standpunkt, die eigene Religiosität entscheidend: »Ihre Aufgabe besteht darin, die Kommunikation Zeichen dem Schüler bzw. der Schülerin und dem Evangelium zu ermöglichen, der Kommunikation der Schülerinnen und Schüler mit dem christlichen Glauben in der gegenwärtigen Welt zu dienen. Darin liegen Würde und Größe der Aufgabe. Sie erfordert nicht, daß man ein ›Super-Lehrer‹ ist, sondern daß man selbst authentisch ist – ein jeder und jede auf seine und ihre Weise mit den menschlichen Befähigungen und Begrenzungen (Adam: Religionslehrerin / Religionslehrer : Beruf – Rolle – Kompetenz, 191–193). 275 So der Begriff von Feige / Dressler u. a.: Religion – Leben, Lernen, Lernen. 276 Vgl. Schröder : Von Ursprung und Wandel des Religionslehrer(leit)bildes im Christentum, 140.
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den Bezugsfeldern Staat, Gesellschaft, Schule und Kirche aus.277 An diesen Punkten wird das Spannungsfeld zwischen fremder Erwartung und Selbstkonzept sichtbar – einer der grundlegenden Punkte für professionelle Bearbeitung.278 Dressler schlägt jedenfalls vor, die Rollenkonflikte, die, wie es scheint, durch die Thematisierung erst Aufmerksamkeit überhaupt erzeugen, weichen zu lassen zugunsten einer habitusorientierten Kompetenz zur Selbstunterscheidung, in der das Selbstverhältnis von gelebter zu gelehrter Religion beruflich möglich wird.279 1.5.1.2 Person – Rolle – Beruf – Handeln: Themen und Paradigmen neuerer Forschung zu ReligionslehrerInnen Berufliches Handeln von ReligionslehrerInnen kommt unter verschiedenen Forschungsblickwinkeln in den Brennpunkt. Grundsätzlich lassen sich einige Tendenzen zur Paradigmenentwicklung, Themen und Methodik benennen. Nach der empirischen Wende – genauer seit den 1980er Jahren – werden Aspekte des Religionslehrberufs auch empirisch-analytisch erforscht; der Beginn gibt Hinweise auf den erhöhten Klärungsbedarf, der sich mit der stärkeren Verzahnung, ja Integration religionspädagogisch-didaktischer Ansätze nach einer Zeit voneinander deutlicher abgegrenzter Konzeptionen verbindet.280 In zahlreichen Studien wird fortan verschiedenen Dimensionen des beruflichen Lebens und Wirkens von ReligionslehrerInnen Aufmerksamkeit geschenkt. Die neuere empirische Erforschung von Religionslehrkräften konzentriert sich, was das Feld Schule angeht, bisher im Wesentlichen auf die Bereiche der Ausbildung, der Beteiligung bzw. Haltung zu Organisationsformen des Unterrichts, zu personalen bzw. berufsbiografischen Aspekten. Im Großen und Ganzen betonen sie dabei jeweils Aspekte des Handlungsfeldes Unterrichts. Dabei kommen vor
277 Ziebertz: Wer initiiert religiöse Lernprozesse? – Rolle und Person der Religionslehrerinnen und -lehrer, 207. 278 Vgl. a. a. O. sowie Burrichter u. a.: Professionell Religion unterrichten. 279 Vgl. Dressler : Was soll eine gute Religionslehrerin, ein guter Religionslehrer können? Er verweist dabei auf das bereits bei Biehl festgehaltene Ergebnis, dass große Zurückhaltung geboten ist, aus theoretischen Erwägungen Rollenkonflikte des Religionslehrers abzuleiten. (Biehl: Beruf Religionslehrer, 172). 280 Einen guten Forschungsüberblick über die neueren empirischen Untersuchungen anhand von Befragungen von ReligionslehrerInnen gibt – in veränderter Weiterführung von HansGeorg Ziebertz – Christhard Lück im Rahmen seiner Studie zur Berufszufriedenheit. Er führt 33 Studien auf – in erste Linie Befragungen zum beruflichen Selbstverständnis und zu Rollenkonflikten. Lück kommt dabei im Querschnitt zu einer größeren Zufriedenheit, als meist vorher angenommen war (Lück: Beruf Religionslehrer, 198–230, bes. 202f). Einführend vgl. auch Burrichter u. a.: Professionell Religion unterrichten, 7–12.
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allem Habitus- und Kompetenzforschung zum Tragen, zuweilen auch Einstellungsforschung.281 Mit einigen Studien wird auch die Wahrnehmung der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit wissenschaftlich greifbarer.282 Wie ermittelt, gehen neuere Professionstheorien davon aus, dass der LehrerInnenberuf unterschiedlichen Paradoxien unterliegt; das betrifft den Religionslehrberuf in hohem Maße. Inhaltlich wird in vielen Erkundungen auf die Bezüge von Person, Beruf, Rolle und System rekurriert und somit in unterschiedlichem Grad auf die Bearbeitung der Widersprüche und Spannungen eingegangen.283 Die Theorien zur Professionalität von ReligionslehrerInnen lassen sich daher auch grundlegend in drei verschiedene Ansatztypen differenzieren.284 Dabei werden rollentheoretische285, personalistische286 und handlungstheoretische Ansätze vonein281 Vgl. Rothgangel: Empirische Befunde zu Religionslehrkräften. 282 Hahn resümiert eine erneute Akzentverlagerung: »Merkwürdigerweise bröckelte die empirische Religionslehrerforschung in den 1990er Jahren etwas ab. [Dann] verschob sich der Akzent von der Person auf die Sache, von der Erforschung des Lehreralltags auf die Formulierung von Erwartungen.« (Hahn: Religionslehrerinnen und Religionslehrer (Da)Sein – Person und Beruf, 82). 283 Christhard Lück schafft auf der Basis einer quantitativen Studie einen Zusammenhang zwischen den personalen bzw. soziodemografische und arbeitsfeldspezifischen Faktoren und Einstellungen zu Präferenzen des Grundschulreligionsunterrichts. Als Folgestudie fungiert einer Untersuchung zum Interesse an beruflichen Zielen und Berufszufriedenheit von Religionslehrkräften (Vgl. Lück: Religionsunterricht an der Grundschule; ders.: Beruf Religionslehrer). 284 Vgl. Heil /Ziebertz: Professionstypischer Habitus. 285 Als Beispiele seien genannt: Kürten: Der Evangelische Religionslehrer im Spannungsfeld von Schule und Religion. Kürten zeigt Ursachen und Ausprägungen möglicher Rollenkonflikte und ihnen zugrunde liegende Bedingungsfaktoren auf; die Erfragung des beruflichen Selbstverständnisses belegt, dass dieses weniger belastend als theoretisch vermutet angenommen wird; Schach: Der Religionslehrer im Rollenkonflikt; Ebert: Zur Rolle des Religionslehrers. Ebert knüpft an Max Webers Darstellung »religiöser Begabung« an und benennt »die persönliche Kompetenz im Umgang mit Religion als sinnstiftendem Moment menschlichen Lebens« (77). Voraussetzung dieser »religiösen Selbstrolle« ist ein reflexiver Umgang mit Theologie, deren kommunikatives Moment frei macht von dogmatischen Fixierungen und einen nicht privatistischen Umgang mit den Symbolen religiöser Erfahrung ermöglicht.« (79) Die pädagogische Selbstrolle (Mollenhauer) wird auf die religiöse Selbstrolle übertragen; Adam: Religionslehrerin / Religionslehrer : Beruf – Rolle – Kompetenz, 300. Adam zeichnet den Konflikt zwischen Lehrer- und Beamtenrolle: Besondere Recht und Verpflichtungen; Dilemmata der Notengebung. Besonderheit ist die sachliche, nicht aber persönlich obligatorische Unterrichtsverpflichtung. Art. 4 GG gewährt das Grundrecht auf Freiheit des Glaubens. Die Beziehung zur Kirche: Staatliche Lehrbefähigung und meistens auch kirchliche Beauftragung bzw. Vokation (nicht in Bremen, Berlin). 286 Z.B. Hans-Günter Heimbrocks Band »Religionslehrer – Person und Beruf« benennt das Defizit biografischer Aspekte imnnerhalb der Koordinaten des Berufsfeldes für eine »tragfähige Berufsidentität« (7). Die neueren didaktischen Konzeptionen treten zwar für eine Fachkompetenz ein, berücksichtigen jedoch kaum die Aspekte der Persönlichkeit und
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ander unterschieden. Wenn konstatiert wird, der Streit zwischen diesen Modellen in der religionspädagogischen Professionsforschung sei noch nicht ausgestanden287, so schimmert durch, dass es ungeklärte und auch unerforschte Wege und Aspekte gibt, die sich zwischen diesen Wahrnehmungsparadigmen bewegen. Das Spektrum der neueren fokussierten Themen reicht von Genderaspekten im Religionslehrberuf288 bis zu Charakteristika von ost- und westdeutschen Religionslehrkräften289, von der Berufszufriedenheit290 bis zu Religion, Glauben und Konfessionalität der Religionslehrkräfte.291 Insbesondere berufsbiografische Gesichtspunkte werden beleuchtet.292 Seit dem neuen Jahrtausend und den bildungspolitischen Forderungen nach PISA sowie anderen Studien, welche die Qualität von Religionsunterricht und Lernleistungen erheben, wird auch den Religionslehrkräften vornehmlich als
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der religiösen Sozialisation. Vier narrative berufsbiografische Skizzen – »Religionspädagogische Biografien« – werden zu Fallbeispielen, an denen ab- oder gar jenseits fachdidaktischer Kompetenzen die »lebensgeschichtliche Mitgift« (8) des Religionslehrerdaseins aufgespürt werden soll. Die Beispiele setzen weiterführende Fragen frei, wenn sie auch als potenzielle Fälle noch nicht Gegenstand von elaborierten Fallstudien werden. In der Folge werden dimensionale und aspektivische Perspektiven auf »berufliche Identität« geworfen. Obwohl auf die Personalität der Religionslehrkraft gerichtet, gibt sich diese Studie nicht mit simplen Leitbildern eines idealen Religionslehrers zufrieden, sondern zeichnet anhand der psychoanalytischen, interaktionalen und gruppendynamisch inspirierten Theorien der 1980er Jahre fallbezogene Wege der Professionalisierung nach. So Burrichter u. a.: Professionell Religion unterrichten, 7. Z. B. Becker : Religionslehrerinnen gleich Religionslehrer? Z. B. Hahn: Wende und Wandlung; Liebold: Religions- und Ethiklehrkräfte in Ostdeutschland. Eine empirische Studie zum beruflichen Selbstverständnis; Münch: Wege der Professionalisierung evangelischer Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen. Für die Grundschulreligionslehrerinnen ist hinsichtlich der wahrgenommenen »Bedeutung des Religionsunterrichts für Grundschüler/innen« entscheidend, dass der Religionsunterricht Raum gebe, »über ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste und Probleme zu reden«, dass er die emotionale Entfaltung von Kindern beflügele, der Orientierungs- und Lebenshilfe diene, eine Grundgeborgenheit vermittele und Gespräche über Lebens- und Sinnfragen ermögliche (Lück: Religionsunterricht an der Grundschule, 241.) Diese Befunde werden in der Studie nicht weiter aufgenommen, da diese die Organisationsgestalt des Religionsunterrichts zwischen Konfessionalität und allgemeinem RU in den Blick nimmt. Bezeichnend ist jedenfalls die hohe Berufszufriedenheit angesichts der hohen Belastung – möglicherweise ergeben sich durch diese Beobachtung Hinweise auf die berufsbiografische Sinnfälligkeit. Zur Haltung von Religionslehrkräften ggü. Konfessionalität siehe die beiden Studien aus Hessen und Niedersachsen: Heimbrock / Kerntke: Evangelisches Profil im Widerspruch? sowie Gennerich / Mokrosch: Religionsunterricht – kooperativ! und dies.: Von der konfessionellen Kooperation zum religions-kooperativen Religionsunterricht?. Vgl. Feige / Dressler / Lukatis / Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen. sowie die Studie Rothgangel, Martin / Lück, Christhard / Klutz, Philipp: Praxis Religionsunterricht: Einstellungen, Wahrnehmungen und Präferenzen von ReligionslehrerInnen. Stuttgart 2016. Vgl. Lück: Hat der Religionsunterricht Zukunft?.
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Unterrichtenden, professionellen Sicherungs- und Qualifizierungsagenturen für religiöse Bildung neue Aufmerksamkeit gewidmet. Mit der bildungspolitischen Akzentuierung von Bildungs- und Unterrichtsqualität zwischen Empirie und Normativität kommen auch Lehrer(aus)bildungsstrukturen genauer ins Visier.293 Damit verbunden sind Studien zur Kompetenzgewinnung und -messung.294 Im Bezug auf die Thematisierung von Subjekten, sozialen Rollen und professionellen Handlungen, jedoch in deutlicher Unterscheidung von Religionslehreridealen, ist das Habituskonzept ein analytischer Weg zur Erfassung von professioneller Praxis. Die Übersicht über die Forschungsinteressen und -designs zur ReligionslehrerInnenforschung zeigt damit auch eine Tendenz, ReligionslehrerInnen nicht nur als Objekte von Studien anzusehen, sondern deren Subjektivität in die Forschung einzubeziehen bzw. Religionslehrkräfte als Subjekte zu Wort und Geltung kommen zu lassen. In vielen neueren Studien werden ReligionslehrerInnen als kompetente GesprächspartnerInnen wahrgenommen, die über ihre Motivationen, Selbstverständnisse und ihren eigenen Unterricht Auskunft geben. In der Zunahme von Unterrichtsforschung, die sich darum bemüht, Lehrund Lernprozesse sichtbar und nachvollziehbar (mittels entsprechender Forschungsmethoden und -medien) zu bekommen295, spiegelt sich das Bemühen, den Forschungsparadigmata empirischer Sozialforschung zu entsprechen, aber auch Anspruch und Wirklichkeit, Deskriptivität und Normativität zu unterscheiden. Dazwischen entwickeln sich auf der Basis anderer Ansätze auch Zwischenformen: Ansätze der Aktionsforschung ermöglichen, Fremd- und Selbstwahrnehmung von Religionslehrkräften und ihre Handlungspraxis als reflective practitioners zu vereinbaren.296 Aus diesen und anderen Gründen liegt es für einige Studien nahe, quantitative und qualitative Forschungszugänge zu verbinden.297 Einige Studien, die eine möglichst kontextuelle Sicht von ReligionslehrerInnen darlegen, in der sie mehr als vereinzelte Daten erfragen, bevorzugen ein Fallstudienmodell; der fokussierte Forschungsgegenstand kann so 293 Schon Lehmann: Religionslehrer/-in werden… Lehramtsanwärter/-innen reflektieren ihre Ausbildung. 294 Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz. 295 Siehe v. a. die großartige Studie von Erna Zonne, die den Umgang mit weltanschaulicher Pluralität im konkreten unterrichtlichen Handeln in den Blick nimmt (Zonne: Interreligiöses und interkulturelles Lernen an Grundschulen in Rotterdam-Rijnmond; zum Design unterrichtlicher Forschung z. B. Fischer / Elsenbast / Schöll: Religionsunterricht erforschen. 296 Vgl. Freudenberger-Lötz: Zur Professionalisierung Studierender in theologischen Gesprächen mit Kindern; Bakker / Heimbrock: Researching RE teachers. RE teachers as researchers. 297 Vgl. Feige / Dressler / Lukatis / Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen.
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genauer auch in seinen strukturellen und situativen Kontexten erfasst werden. In der Weiterentwicklung religionspädagogischer Professionalität sind neben tendenziell explorativen Studien auch eher evaluative Untersuchungen entstanden, in denen bereits bestehende Kompetenzbegriffe erprobt und überprüft werden.298 Für den Zusammenhang von einem weiteren Religionsverständnis, das sich in Unterbrechungen und Kontingenzerfahrung zeigt und auf die Subjekten der Religionslehrkräften und ihr Handeln in Praxisfeldern bezogen ist, sind jene Untersuchungen von Relevanz, in denen tendenziell heuristische Interessen und explorativ-aufdeckende Verfahren zur Gewinnung und Ermittlung von konzeptionellen Zusammenhängen zum Umgang mit Religion ans Tageslicht gelangen.
1.5.2 Empirische Erkundungen zu religionspädagogischer Professionalität Seit langer Zeit beschäftigte sich die Forschung zu Religionslehrkräften mit den Konflikten zwischen Person, Rolle und Beruf. Gegenwärtig sind für die Erhebung von religionspädagogischer Professionalität als Schnittflächen zwischen der Person der Lehrkraft, Religion sowie der lebensweltlichen bzw. gesellschaftlichen Situation zwei Größen maßgeblich: Zumeist die Deskriptivität von religionspädagogischer Praxis verbindet sich mit der Analyse und Darstellung des jeweiligen Habitus; die Normativität der entsprechenden, auch darauf bezogenen Dispositionen religionspädagogischen Handelns wird in der Regel in Kompetenzen erfasst. Dabei sind die beiden Kategorien nicht jeweils einer Forschungsrichtung verschrieben; dennoch liegt auf der Hand, dass die Habituserforschung stärker empirisch veranschlagt ist und auf die Erfassung religionspädagogischer Handlungswirklichkeit zielt, die Erhebung und Messung von Kompetenzen unter stärkeren normativen Prävalenzen im Hinblick auf Zielsetzungen gilt.299 Im Blick auf mein Forschungsinteresse widme ich mich im Folgenden zwei Studien im Blick auf das Herauskristallisieren des eigenen Forschungsinteresses etwas genauer, die sich aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln mit den Fragen nach dem religionspädagogischen Umgang mit Religion befassen: zum einen im Hinblick auf das Verständnis von Religion, das im professionellen Handeln zutage tritt, zum anderen hinsichtlich einer Nä298 In dem folgenden Zusammenhang ist die Evaluation der Lehrerbildung durch die Lernenden von Renate Hofmann von Bedeutung, in der das Kompetenzverständnis von ReligionslehrerInnen in der Praxis überprüft und ausgewertet wird (Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz). 299 Zum Überblick über weitere empirische Studien zur professionellen Kompetenz vgl. Fricke, FALKO-R: Professionswissen von Religionslehrkräften.
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herbestimmung der Art und Weise eben jenes Umgangs. Diese beiden Studien werden im Anschluss daraufhin beleuchtet auf die Tragfähigkeit ihres Erkundungsmodells, ihre konzeptionelle Anlage und inwieweit religionspädagogische Professionalität damit als erfasst gelten kann.
1.5.2.1 Berufsbiografischer Umgang mit Religion: Habituelle Unterrichtsmodi zwischen gelebter und gelehrter Religion (Feige / Dressler / Lukatis / Schöll) In den Studien, die zwischen 2000 und 2005 im Wesentlichen von Andreas Feige sowie Bernhard Dressler, Wolfgang Lukatis und Albrecht Schöll in Kooperation mit verschiedenen kirchlichen Institutionen durchgeführt und veröffentlicht wurden, geht es um eine Erhebung des Religionsverständnisses von evangelischen Religionslehrkräften – biografisch und unterrichtlich; damit geht einher, welches Religionsverständnis im Zusammenhang mit professionellem Handeln für Religionslehrkräfte empirisch maßgeblich ist. a. Die Studie zur »›Religion‹ bei Religionslehrer/innen« geht davon aus, dass Religionsunterricht im Zuge der Entkoppelung von Kirche und Lebenswelt der primäre Ort religiösen Lernens ist – statt kirchlicher Vermittlungsagenturen wird im Religionsunterricht viel stärker religiöse Sprachfähigkeit, Kontakt mit Religion und religiöse Bildung bereitet. Hier macht sich das Interesse der Studie fest: Der Fokus liegt auf den ReligionslehrerInnen, die als »Realisationsgestalten der religiösen Erinnerungsfähigkeit der Gesellschaft überhaupt«300 wichtige InitiatorInnen religiöser Bildung sind. Ziel der Untersuchung ist, die ReligionslehrerInnen in gesellschaftlicher Funktion zu begreifen und ihre besondere Stellung im öffentlichen Raum Schule zu erfassen – genau diese Komponenten jedoch materialiter und subjektiv auf den Umgang mit Religion zu beziehen. Ausgangsvoraussetzung für das Design der Studie ist, dass sich gemäß Joachim Matthes ›Religion als diskursiver Sachverhalt‹ in den syntaktischen und semantischen Strukturen von deren Beschreibung zeige.301 Die Studie koppelt eine quantitative Erhebung niedersächsischer Religionslehrkräfte als standardisierte Umfrage und 17 berufsbiografische Fallstudien, die als narrative Interviews mit dem Instrumentarium der Strukturalen Hermeneutik (U. Oevermann) und der Erzählanalyse (F. Schütze) ausgewertet werden. Der biografisch angelegte Habitus der ReligionslehrerInnen gilt dabei als »relativ lebensstabiles System von Dispositionen, das in den Wahrnehmungs-, Denk- und Wertungsschemata der Individuen verankert ist«.302 300 Feige / Dressler / Lukatis / Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen, 26. 301 Zu diesem Absatz vgl. a. a. O., 31. 302 Feige: ›Einzelfall‹ und ›Kollektiv‹ – zwei Seiten einer Medaille?, 16.
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Konstitutiv für das Religionsverständnis wird die Differenz von gelebter und gelehrter, d. h. biografischer und unterrichteter Religion; genau diese wird von den Religionslehrkräften bearbeitet und gestaltet. Die Studie zeigt dabei, dass die ReligionslehrerInnenschaft insgesamt ein recht homogener Berufsstand ist, dessen Angehörige biografische Gemeinsamkeiten haben. Die standardisierte quantitativ-mathematische Umfrage erfolgt in neun Bereichen (von kirchlicher Sozialisation und Mitarbeit über Einstellungen zu Kirche, Kooperation; Fortbildungsangebote, unterrichtliche Ziel- und Gestaltungsvorstellungen und Erfahrungen); eine Super-Faktorenanalyse ermöglicht die Zusammenschau. Es ergibt sich eine klare Unterstützung autonomer Religiosität – Religion gilt als Kraft, die zum Menschsein befreit; Religion ist für Menschen da. Daraus ergibt sich, Schülerorientierung als von ihnen her sowie schulspezifisch zu denken und sie als Form personaler Zuwendung zu sehen. Als Problem wird verzeichnet, eine Spiritualitäts- bzw. Religiositätsdimension zu finden, welche die gesellschaftliche Bedingungen transzendiert. Es ergeben sich »Sinn-Konfigurationen«: Die Arbeit und berufspersönliches Selbstverständnis sind dominant von Zielen bestimmt, die in Unterricht und Schule verbinden und die sie motivieren. Diese führen zu Zielen für den »Ereignisraum Religion in der Schule« in sechs verschiedenen Sinn-Konfigurationen. Daraus erschließt das Team der ForscherInnen als berufliches Proprium folgenden Gestaltungsraum für religionsunterrichtliches Handeln bei den LehrerInnen mit den Zielen: 1. Entfaltung der Identität als Ausdruck des prinzipiell Religiösen menschlicher Existenz, 2. konfessionsübergreifendes Christentum für alle, 3. Orientierung am diakonisch-protestantischen Christentum, 4. Erschließung der theologischen Dimension menschlicher Existenz und 5. Sensibilisierung für gestalthafte Religionspraxis. Die qualitativ-hermeneutische Analyse von Berufsbiografien erfasst in den Fällen zunächst die Rekonstruktion gelebter Religion, dann die gelehrte Religion als berichtete Unterrichtskonzeption. Die Erzählungen der ProbandInnen sind jeweils zu einem Biografie-Typus und einem Unterrichts-Habitus zurechenbar. Das Ergebnis bestätigt eine reflexive Distanz als Qualitätsmerkmal religionslebendigen Unterrichts. Individuelle Reflexionsprozesse zwischen gelebter und gelehrter Religion in unterschiedlichen Spannungsverhältnissen ergeben eine Differenzkompetenz: »ReligionslehrerInnen, die sich einen von den Polen distanten Modus angeeignet haben, sind in der Lage, zwischen ihrer Religionspraxis und dem schulischen Unterricht zu unterscheiden, obwohl sie sich entsprechen.«303 In Bezug auf die empirisch fundierte Analyse von religiösen Bildungsprozessen in den Selbstverständnissen der ReligionslehrerInnen ergibt sich, dass 303 Feige / Dressler / Lukatis / Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen, 179.
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Religion nur als »gebildete Religion« lehrbar ist. Diese ist die Grundlage der unterrichtlichen Kommunikation. Daher sind die Chancen zur Initiierung von Bildungsprozessen im Religionsunterricht am größten, wenn ein unverkrampfter Zugriff auf eigene Religiosität möglich ist, indem Distanzen zwischen gelebter und gelehrter Religion hergestellt werden – im Sinne von Bezugnahmen. Dies erfordert eine unterrichtsperformative Kompetenz, die Schülerneigungen und -interessen wahrnimmt und auch diese reflektiert. Bedingung für Schülerorientierung ist nicht ungefilterte lebensweltliche Nähe, sondern der Modus distanzierter Reflexivität. Der Umgang von ReligionslehrerInnen mit Religion ist nicht mit der persönlich – das meint auch außerunterrichtlich – gelebten Religion zu identifizieren. Religionslehrkräfte treten mit ihrer unterrichtlich gelehrten Religion vielmehr zu dieser in ein professionelles Distanzverhältnis. Sie beziehen sich biografisch und habituell auf diese Formen gelebter Religion, aber in einer unterrichtlichen Differenz. Genau diese Differenzformen wurden als Modi genauer in einem Vierfelderschema bestimmt, welches gleichzeitig wieder als Analysematrix ausgeweitet wird: In dieses Schema lassen sich die Einzelfälle nach dem Prinzip von Nähe und Distanz verorten. Religionslehrkräfte entwickeln einen Habitus, der sich zwischen den und in gewisser Nähe bzw. Distanz zu den vier präferierten Modi des Umgang mit Religion verortet, in denen Ethos, Lehre, Sprache oder Raum maßgeblich sind. Für die Ausprägung eines berufsbiografischen Habitus kommt es auf genau diese Differenzkompetenz an – so wird es von Dressler im Anschluss auch formuliert – die Praxen gelebter und gelehrter Religion nicht zu trennen, aber im Bezug aufeinander zu unterscheiden zwischen Leben und Unterricht. Kirche kommt hierbei weniger als konträres Praxisfeld in den Blick, sondern als Ressource für dieses professionelle Differenzverhältnis.304 Ergänzend kann man sagen: Je weniger Verpflichtung zu einer Trennung von oder Identität mit gelebter Religion im Unterrichtskonzept herrscht, desto ent-spannter gestaltet sich der Unterricht im Bezug auf das Verhältnis zu Tradition, Religion und Kirche. In der gelebten Religion liegen Anhaltspunkte, die Religion lehrbar machen. Inmitten der soziologisch nachweisbaren Entkoppelung von Kirche (kirchlicher Binnenwelt) und Lebenswelt sind Religionslehrerinnen und -lehrer zwar selbst Symptome dieser Entkopplung, aber dennoch deutlicher kirchlich verankert als zwei Jahrzehnte zuvor. Sie nehmen das Mandat der Interessen von Kirche an Schule wahr ; Kirche versteht sich als dessen Schirmherrin. Die Religionsfreiheit gilt auch für Lehrkräfte (Art. 4 GG); daher ist Kirche eine Ressource für die Unterrichtsreligion und ein Resonanzraum für Unterricht, was sich auch darin spiegelt, dass die Rolle von Kirchengemeinden ebenfalls in Traditionsagenturen gesehen wird. 304 Vgl. a. a. O.
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Religionslehrkräfte haben also die Aufgabe, TraditionsagentInnen eines biblisch inspirierten kulturellen Gedächtnisses zu sein, die protestantische Bildungsprozesse ermöglichen. Von TradentInnen unterscheidet sich diese »MetaRolle« durch eine doppelte reflexive Distanz: Der Glaube ist nicht ohne gedankliche Auseinandersetzung zu haben; Bildung ist ohne diese Einsicht nicht initiierbar. b. Die Replikationsstudie, die in Baden-Württemberg von Andreas Feige und Werner Tzscheetzsch als quantitative Fragebogen-Untersuchung durchgeführt wird, nimmt wesentliche Elemente der niedersächsischen Studie auf, wird jedoch im Hinblick auf das Verhältnis von evangelischen und katholischen Religionslehrkräften sowie auf eine Schulformendifferenzierung verfeinert; an einigen Punkten wird genderspezifisch ausgewertet.305 Zu den Unterrichtszielen und Gestaltungsinteressen gehört eine traditionsfundierte Orientierung an christlich-biblischer Religion, christlich-handlungspraktische Ethik, Ästhetik des Religiösen – praktisch an Lernenden orientiert. Über 20 % der Lehrkräfte vollziehen eine Einübung in spirituelle Praxis. Die Einstellung zum Verhältnis von Schule und Kirche offenbart hier, dass es kaum Vorbehalte gegenüber konfessioneller Kooperation gibt; diese Öffnungsbereitschaft ist der Gefahr geschuldet, dass Religion als Fach aus dem Schulkanon verschwinden könne, und gibt ihnen von daher Signale für mehr Kooperation. Das Verhältnis zu Kirche ist von hoher Akzeptanz gekennzeichnet, auch gegenüber Missio und Vokation: Entsprechend messen 90 % der Religionslehrkräfte dem religiösen Schulleben eine große Bedeutung zu (im Vergleich dazu in Niedersachsen: 50 %). Bearbeitet wird die Spannung aus Öffnung zur Welt und Bewahrung von Spiritualität. Zur Verortung der Religionslehrkräfte gehört die gedankliche Auseinandersetzung mit Glauben. Dabei sind evangelische Lehrkräfte stärker konfessionell gebunden (75 %) als katholische (50 %). Kirche werden keine Wahrheitsansprüche zugestanden; die Wahrnehmung der Existenz der Institution ist bei KatholikInnen stärker, aber auch eine engere Spannung von Individuum und Institution. Dennoch sind 85 % kritisch gegenüber der Bewahrung konfessionellen Unterrichts. Statistisch ergeben die Unterrichtspräferenzen, dass Frauen mehr Öffnung für Religion und Religiosität und Dimension der Selbstfindung und persönliche Entwicklung – also eine mehr anthropozentrische Ausrichtung – vertreten; Männer hingegen beziehen sich mehr auf allgemeine Religion und kritischkonstruktive Diskussion von Lehrtradition, die theologisch, kognitiv bezogen ist. Hinsichtlich der Schulformen-Differenzierung werden Präferenzen festge305 Vgl. Feige / Tzscheetzsch: Christlicher Religionsunterricht Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat.
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halten: Religionslehrkräfte an Grundschulen sehen ihre Aufgabe in der Wegweisung bzw. Hinführung zu Religion, an berufsbildenden Schulen wird Wert auf eine allgemeine Religiosität gelegt, während Gymnasial- und RealschullehrerInnen die Sensibilisierung des Religiösen und theologisches Wissen intendieren; an Hauptschulen und Sonderschulen Tätigen ist die Stärkung der Persönlichkeit wichtig; SchulpfarrerInnen sehen eine Präferenz in der Eröffnung von Transzendenzdimensionen. Es wird eine starke konfessionelle Identität wahrgenommen, wobei die Trennung von professioneller und privater Sphäre bedeutsam ist. Keine Selbstverständlichkeit sehen die Lehrkräfte mehr in der selbstreflexivzirkulären Begründung von Konfessionalität. Der Ausblick erbringt folgende Befunde: Zu den Bedingungen gehört, dass Wertevermittlung in unsicherer, fragiler Zeit wichtiger wird – im Bewusstsein, dass die Lebenszeit, in der man sich bewusst mit Religion befasst, in der Schule höher als in der Kirche ist. Es besteht grundsätzlich ein starkes Interesse an stabiler Institution und ihrer Dialektik der Zugehörigkeit zu Gesellschaft, ebenso ein hohes Fortbildungsengagement. Die Religionslehrkräfte sehen das Emanzipatorische in der persönlichen Anverwandlung der Rechtfertigungsbotschaft und ihrer Konsequenzen. Daher gilt ihre Motivation, SchülerInnen in einer desintegrierten Welt Rückbezug zu ermöglichen – aber keine Verzauberung in der »Entzauberung« (Max Weber), sondern Gedankenaktivität. Dies geschieht unter Berücksichtigung von Individualität und im Kerngedanken von Rechtfertigung und Nächstenliebe unter Wahrnehmung von interkonfessionellen und interreligiösen Aspekten. 1.5.2.2 Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität: Professionstypischer Habitus und berufliche Kompetenzen (Heil / Ziebertz) Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Millennium haben die beiden Würzburger katholischen Praktischen Theologen Stefan Heil und Hans-Georg Ziebertz ein Modell religionspädagogischer Professionalität entwickelt, welches parallel von Stefan Heil im Rahmen seines Habilitationsprojektes empirisch validiert und zu einer umfassenden Strukturtheorie zugespitzt wird. a. Heil und Ziebertz erschließen ein Modell eines professionstypischen religionspädagogischen Habitus, um davon ausgehend religionspädagogische Professionalität bestimmen zu können. Ausgangspunkt ist hier die Verknüpfung von strukturtheoretischen und kompetenztheoretischen Überlegungen. Der erstere Ansatz ermöglicht eine Theorie des »professionellen Selbst«306, der
306 Nach Bauer / Kopka / Brindt: Pädagogische Professionalität und Lehrerarbeit, 97ff und
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letztere die Analyse von Interaktionsstrukturen. Damit ist das professionelle Selbst (Bauer / Kopka / Brindt) im Blick, das sich im unterrichtlichen Handeln offenbart sowie erzeugt. Von Ulrich Oevermann übernehmen sie den Blick auf die Interaktionsstrukturen. Heil und Ziebertz stützen ihr Professionalitätskonzept auf Bourdieus Habitustheorie: Professionelle Praxis ist habituell geprägt und bildet Habitus aus. Maßgeblich für den professionellen pädagogischen Habitus sind die Handlungsstrukturen, die als Routinen und Umgang mit Neuem zu fassen sind.307 In ihnen wird die Balance von gefestigter Prägung und kontinuierlicher Neuerung des Habitus deutlich. Diese Handlungsstrukturen werden wiederum mitbestimmt von den Faktoren der Institution und der Person. In dieser Auslotung bewegt sich personelles Handeln, das aber auch den Gegebenheiten von Institutionen wie Schule, Kirche und Staat unterliegt. Diese eher noch formalen Konstitutionsfaktoren des Habitus bekommen in der Beschreibung und Analyse des religionspädagogischen Habitus, der ReligionslehrerInnen zukommt, eine besondere berufsfeldspezifische Art und Weise.308 Hier geben Ziebertz und Heil die Besonderheit des Faches Religion als die bestimmende Größe an.309 Demzufolge geschieht der Transfer des Modells auf den religionspädagogischen Rahmen im Modus einer Spezifizierung. Für die Ausprägung und rückwirkend wiederum die Gestaltung des je eigenen religionspädagogischen »Stils« gelten in Entsprechung die zwei Polpaare und in deren besonderer Gestalt die Handlungsstrukturen von religionspädagogischen Routinen und Umgang mit religiöser Pluralität; diese werden beeinflusst durch Handlungsbedingungen, wie sie Schule und Kirche als Institutionen darstellen, und ebenso durch den Faktor der Personalität, der sich in der Lebens- und Glaubensbiografie niederschlägt. Die Verhältnisbestimmung des Habitus zu diesen Faktoren erfolgt aufgrund der Kompetenzen und der Reflexivität. Diese Strukturen der Logik professioneller Praxis beziehen sich auf die Interaktion von Professionellen und je einem oder mehreren Subjekten; sie sind latent, können nur durch Rekonstruktion erschlossen werden. Zu den Handlungsbedingungen gehören die Ermöglichung und die Determination dieser Regeln, die sich aus den Begegnungen zwischen
Bauer: Konzepte pädagogischer Professionalität und ihre Bedeutung für die Lehrerarbeit, 55. 307 Dabei sind Handlungsstrukturen und Handlungsbedingungen diejenigen Bereiche, die auf den professionellen pädagogischen Habitus einwirken und ihn mitbestimmen. Das meint »berufsspezifische Regeln [,…] nach denen professionelle Praxis funktioniert« (Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus als Leitkonzept in der Lehrerbildung, 8). 308 Entscheidend ist dabei, »über die berufsfeldrelevanten Bereiche überhaupt reflexiv zu verfügen und Kompetenzen aufzubauen und zu erweitern« (Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus als Leitkonzept in der Lehrerbildung, 48). 309 Vgl. a. a. O., 55.
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Menschen in Institutionen ergeben; diese sind jeder professionellen Handlung implizit.310 Anspruch dieses Habitusmodells ist die Diagnose der eigenen Professionalität und eine Orientierung für die Professionalisierungsprozesse wie die universitäre Lehrerbildung. Diese ergeben in der Konkretion des Habitusmodells spezifische religionspädagogische Größen.311 Hier spielen vier Kategorien eine entscheidende Rolle: Religionspädagogische Routinen, Umgang mit religiöser Pluralität, Schule und Kirche sowie Person. Religionspädagogische Routinen ergeben sich für ReligionslehrerInnen im Blick auf das Hauptziel, »die Herstellung partizipativer Lernsituationen für religiöses Lernen zu ermöglichen«.312 Damit entwickeln sie einen eigenen Unterrichtsstil, als Wissen gilt hier ein Repertoire aus theologischen Kenntnissen und Konzeptionen als auch aus dem Aufbau eines berufsfeldspezifischen Repertoires. Zu den Lernbereichen zählen Wissen, Können, Haltung, Gemeinschaft und transformatives Handeln. Im Rahmen der eigenen, routinisierten theologischen Konzeption, davon gehen Heil und Ziebertz aus, entwickeln Religionslehrkräfte auch Strategien der Orientierung im Berufsfeld. Die Aktualisierung dieses Wissens wiederum ist an bestimmte Kontexte gebunden; damit hängt es von der jeweiligen Schule, aber auch überhaupt von den erfahrenen Situationen im Raum und in den Kontakten der Schule ab, welche Routinen entwickelt werden. Diese Kategorie bezieht sich also auf eine inhaltliche Differenzierung, von denen die Handlungsroutinen abhängen. Umgang mit religiöser Pluralität meint hier das Rechnen mit Neuem, Differentem, so individuelle Religionsstile und Religiositätsformen.313 Entscheidend ist: »Ein professioneller religionspädagogischer Habitus kommt nicht umhin, diesen Umgang mit neuen, häufig auch unerwarteten religiösen Stilen zu berücksichtigen.314 Hier wird mehr denn je deutlich, dass dahinter die Logik des Korrelationsprinzips steht. Es geht vor allem darum, dass die Korrelata der in einer heutigen Situation eingebetteten Religiosität und der christlich-religiösen Tradition in Zeichen bestehen – in Anklängen an die Semiotik. Besondere Bri310 311 312 313
Vgl. a. a. O. Vgl. Modell in der Übersicht a. a. O., 56. Ebd. Da werden die fünf Kategorien von Kalbheim und Riegel wichtig, mit denen indiduelle Religiosität in plurler Kultur beschrieben werden kann: kirchlich-christlich, christlichautonom, konventionell-religiös, autonom-religiös und nicht-religiös (Ziebertz / Kalbheim / Riegel: Religiöse Signaturen heute). 314 Gerade im Hinblick auf zentrale Fragen der religiösen Bildung wie z. B. der Gottesfrage können christlich-religiöse Vorstellungen und individuelle Stile auseinandergehen. Der spezifische Habitus von Religionslehrerinnen und Religionslehrern auf der Seite der Handlungsstrukturen besteht also darin, »religiöse Pluralität wahrzunehmen und eine Kommunikation mit der christlichen Tradition zu ermöglichen, um religiöse Bildung möglich zu machen.« (Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus als Leitkonzept in der Lehrerbildung, 58).
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sanz hat also der Umgang mit Neuem. Mit Schule und Kirche ist die institutionelle Verwiesenheit deutlich. Interessant wird es noch einmal bei der Kategorie der Person: Heil und Ziebertz führen hier die Verschränkung von Lebens- und Glaubensbiografie an, letztere vollzieht sich innerhalb der Lebensbiografie. Hier wird auch die konfessionelle Bezogenheit des Ansatzes deutlich, bei der die Beziehung zu Kirche eine deutlichere Größe darstellt. Im Übrigen werden hier keine empirischen, sondern normative Vorgaben der Lehrkräfte (im Anschluss an den Synodenbeschluss) eingetragen. Die Entwicklung von Handlungsstrukturen ist dem folgenden Kompetenzmodell inhärent. Dabei wird Reflexivität zu einer Art Meta-Kompetenz erhoben. Kompetenz sind hier »habituelle Dispositionen, die in einem Bereich geordnet sind und zur Bewältigung einer spezifischen Praxis befähigen«; so wird die Möglichkeit des Handelns in einer Situation, »die habituell internalisiert und damit situationsübergreifend abrufbar ist«, erhoben.315 Damit wird der Kompetenzbergiff nicht nur auf eine Situation bezogen, sondern zur Fähigkeit erklärt, in mehreren Situationen potentiell handeln zu können.316 Wichtig ist, dass Handlungskompetenz und Handlungsperformanz unterschieden werden. In der Übersicht der verschiedenen Ausprägungen kompetenztheoretischer Ansätze zeigt sich die komplexe und damit auch wiederum partiell paradoxe Anforderungsstruktur an professionelles Lehrerdasein. Für die religionspädagogische Kompetenz schlussfolgern Heil und Ziebertz bereichsspezifische Kompetenzen (später : domänenspezifische, die im Rahmen der Expertise von Klieme als fachspezifische Kompetenzen gesehen werden). Hier wird eine weitere Differenzierung von Kompetenzen sichtbar : zwischen restricted und extended professionalism. Anstatt sich restricted nur auf den Unterricht zu beziehen, werden hier extended die Kontextualisierungen einbezogen – also auch Bereiche außerhalb des Klassenzimmers, mit Aufgaben wie »Schule entwickeln«, »verwalten« oder »kooperativ handeln«. Heil und Ziebertz entscheiden sich für den Begriff des »transformative professionalism«317, der vom Unterricht ausgeht, aber zugleich darüber hinausreicht. An dieser Stelle wird auch das Comenius-Kompetenzmodell virulent, welches verschiedene Teilkompetenzen unterscheidet: Heil und Ziebertz ordnen den Bereichen des Habitusmodells theologische / religionspädagogische Kompetenz, institutionelle Kompetenz, pädagogische / didaktische Kompetenz, personale Kompetenz und als Schlüsselkompetenz die reflexive Kompetenz zu. Der weitere Bezug geht hier wiederum auf Unterricht ein, der an der Diagnostik ansetzen müsse. Im 315 A. a. O., 65f. 316 »Kompetenzen und Teilkompetenzen sind übergeordnete Dispositionen, in denen Qualifikationen geordnet und zur Weltdeutung in ein System gebracht werden« (a. a. O., 67). 317 A. a. O., 69.
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Übrigen ist bei extended professionalism angeführt, wie das Handeln nach außen hin legitimiert wird, z. B. durch Tätigkeiten wie Beraten, Korrigieren, Planen, Verwalten, Konferieren, etc. Anders als im evangelischen Modell gehen Heil und Ziebertz davon aus, dass Religionslehrkräfte die Kirche »verkörpern«.318 Sie beziehen nachfolgend zur Kennzeichnung von Qualifikationen die Teilkompetenzen von ReligionslehrerInnen auf die verschiedenen Bereiche Wissenschaft, Berufsfeld und Person – und zwar im Sinne einer »diagnostischen Anregung«.319 Die reflexive Kompetenz als Meta-Kompetenz ist nötig für das Zusammenspiel der Teilkompetenzen. b. Diesen Ansatz präzisiert Stefan Heil in vier Schritten von der wissenschaftstheoretischen Basis über die konzeptionell-theoretische Entwicklung, die Darstellung und Auswertung der empirischen Forschungsergebnisse zu einer Berufstheorie und dem Bezug auf praktisches Handeln. Drei Ziele verbinden sich mit der Untersuchung: Heil will die Interaktionsmuster im Umgang mit pluralen Religionsstilen beschreiben können, darauf aufbauend eine Berufstheorie religionspädagogischer Professionalität generieren und Folgen für die Lehrerbildung aufzeigen.320 Heil geht es um die Frage nach Kompetenzen und Strukturen zur Erschließung von Bedeutung in der Lehrer-Schüler-Interaktion. Professionalität wird hier vom tatsächlichen professionellen Handeln her bestimmt. Ausgangspunkt für das, was mit dem Schlagwort »krisenhaft empfundene Praxis« aufgegriffen wird, betrifft zwei strukturanaloge Probleme, in denen die Verzahnung von Wissen und Anwendung, Religion und Situation, Regel und Fall zum Tragen kommt. Dies betrifft zum einen die »Verbindung von Ausdrücken individueller Religiosität der Schülerinnen und Schüler mit dem eigenen theologischen Repertoire hinsichtlich der christlichen Religion«.321 Als Lösung gilt hier ein verbindendes Strukturprinzip. Zum anderen ist die »Verbindung von Fall und professionellem Repertoire« in der Unterrichtsinteraktion entscheidend. Das Strukturprinzip bildet der Schlussmodus als latente Handlungsstruktur : »die Verbindung des allgemeinen professionellen Repertoires mit einem besonderen Fall aus der Lebenspraxis«.322 Damit ergibt sich die Forschungsfrage: »Wie schließen Religionslehrerinnen und Religionslehrer in der Unterrichtsinteraktion strukturell auf die Bedeutung von Schülerbeiträgen, welche religionspädagogischen Interaktionsmuster werden durch den jeweiligen Schlussmodus grundgelegt, welche Kompetenzen werden dabei realisiert und welche
318 319 320 321 322
A. a. O., 71f. A. a. O., 75. Vgl. Heil: Was ist und wie erlangen Lehrer/innen religionspädagogische Professionalität? Heil: Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität, 53. A. a. O., 73.
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religionspädagogischen und professionstheoretischen Implikationen und Konsequenzen sind darin impliziert?«323 Der erkenntnistheoretische Grund seiner empirischen Studie, die dem Paradigma der Grounded Theory (Strauss / Corbin) folgt, entstammt dem Semiotischen Pragmatismus (Peirce): Abduktive Korrelation gilt als Möglichkeit der Religionslehrkräfte, Unterrichtsbeiträge von SchülerInnen zu deuten und damit Kommunikationsprozesse zu eröffnen im didaktischen Dreieck zwischen LehrerIn, SchülerIn und Thema. Durch die Analyse von Schlussmodi – nach welcher Logik ziehen Religionslehrkräfte Schlüsse im Unterricht? – zeigen Religionslehrkräfte eine Kombination aus Falldiagnose und Professionswissen. Religionspädagogisch gesagt, geht es um den Lehrgewinn aus der Diagnose der Bedeutung individueller Religionsstile und der Verbindung mit theologischem Professionswissen.324 Dies wird im empirischen Teil erschlossen, indem 20 Stunden alltäglichen Religionsunterrichts videografiert und anschließend in einem mehrteiligen Erhebungsverfahren ausgewertet werden. Dazu gehören auch die subjektiven Deutungen der Lehrkräfte, die mit Stimulated Recalls in teilnehmender Beobachtung und in leitfadengestützten ExpertInneninterviews eingefangen werden. Die Aufbereitung und Kombination von Analyseverfahren geschieht durch Methoden der Grounded Theory sowie Segmentanalyse, außerdem Fallkontrastierungen und Fallvergleiche. Die empirische Antwort auf die Frage besteht in der Beschreibung von religionspädagogischer Professionalität als dem Vermögen, »auf Bedeutungen von Zeichen individueller Religiosität von Schülerinnen und Schülern durch die fallspezifische Transformation des theologischen Repertoires reflexiv zu schließen und dazu korrespondierende routinisierte religionspädagogische Interaktionsmuster auf der Grundlage religionspädagogischer Kompetenzen zu aktualisieren, damit Schülerinnen und Schüler an religiösen Lernsituationen partizipieren können.«325 Es ergeben sich Typologien der vier Schlussmodi deduktives, induktives, abduktives und Nicht-Schließen sowie ihrer inhärenten Differenzierungen. Damit verbinden sich auch professionelle Rollenmuster : Während deduktives Schließen inhaltlich die Experten-, und formal die Reglementiererrolle beinhaltet und induktives Schließen inhaltlich die Rolle des Erläuterers, formal die des Moderators fokussiert, sieht Heil im abduktiven Schließen inhaltlich die Rolle des Mäeutikers und Erklärers, formal die des Ermittlers – eine Rolle, die auch zu einem forschenden Habitus passt. Es geht 323 A. a. O., 74. 324 Strukturprinzipien des Schließens: Induktion, Deduktion, Abduktion und Nicht-Schließen; diese bringen spezifische Kommunikation hervor im Verhältnis Lehrer-Zeichen, Schüler-Zeichen, Lehrer-Schüler, Kommunikation. Formallogische Schlüsse – Korrelation – Abduktion gelten als logische Grundlagen. 325 Heil: Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität, 307.
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letztendlich in einem auch formalen Sinn um fallspezifische Transformationen eines Wissensrepertoires auf konkrete fall- und situationsspezifische Probleme, die unter Bedingungen pluraler Religionsstile herrschen.326 Dieses Vermögen wird berufstheoretisch nutzbar gemacht. Heil beansprucht mit seinem Werk eine konsistente Berufstheorie, die alle religionspädagogischen und professionstheoretischen Ziele einlöst, weil sie den Kern professionellen religionspädagogischen Handelns trifft. Seine Abgrenzung von einem kompetenztheoretischen Modell von Pädagogischer Professionalität geschieht durch eine stärkere Verbindung der Diagnosen von Religionsstilen und dem daraufhin flexibilisierten Professionswissen, um partizipative Lernsituationen zu ermöglichen. Innerhalb der interaktionistischen Professionalitätstheorie in Verbindung von strukturtheoretischen und kompetenztheoretischen Ansätzen wird ein religionspädagogisch professioneller Habitus konstituiert, der diese Bestimmung von Professionalität aufnimmt und die Möglichkeitsbedingungen dazu enthält. Zu diesem gehören »ein Repertoire an Handlungsmustern, die Transformation auf Neues hin, Interpersonalität als Begegnung zwischen Menschen sowie Institutionalität als Handeln in Institutionen«.327 Heil liegt daran, die Berufstheorie durch den Gegenstandbezug, jedoch keinesfalls durch strukturelle Unterscheidungen als religionspädagogische Professionstheorie zu fundieren, indem Muster und Kompetenzen verbunden werden. Das dritte Ziel betrifft die Ableitung von Folgen aus der Theorie religionspädagogischer Professionalität, speziell aus dem Habitusmodell, für die religionspädagogische Lehrerbildung. Hier nimmt die Studie Bezug auf die parallel erfolgenden Arbeiten gemeinsam mit Ziebertz (siehe unter a.) und zieht die Konsequenz, dass die Konzeption der universitären Religionslehrerbildung als reflexive Habitusbildung sowie mit konkreten institutionellen Implementierungen erfolgen muss – anhand der Kriteriologie, welche die untersuchten Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität erbracht hat.328 Damit verbindet sich die Möglichkeit der Überprüfung der Professionalisierungsprozesse unabhängig von politischen Stimmungen und die Möglichkeit der Institutionen, auf die Ausbildung des professionellen Habitus durch eigene Beteiligung Einfluss zu nehmen.
326 »Professionalität ist die fallspezifische Transformation des professionellen Repertoires auf bereichsspezifische praktische Probleme. Religionspädagogische Professionalität ist danach die fallspezifische Transformation des professionellen religionspädagogischen Repertoires auf Probleme im Bereich religiösen Lernens.« (a. a. O. 367, Anm. 131). 327 A. a. O., 330. 328 Vgl. a. a. O., 331.
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1.5.2.3 Habitus und Kompetenz. Horizonte zur Erfassung religionspädagogischen Handelns Die beiden Studien verfahren in Bezug auf den theoretischen Ansatz weder personalistisch noch allein rollentheoretisch, sondern vorrangig handlungstheoretisch: Rollenaspekte stehen mit im Hintergrund, indem die Verwobenheit von Erwartungshorizonten angesprochen wird. In das Verhältnis zu Gesellschaft, Kirche, Staat, Schule und Person fließen Lebens- und Glaubensbiografie und deren Funktionen ein.329 Handlungsermöglichende Perspektiven sind im Blick, wo Rollen Handeln eröffnen. Feige / Dressler machen mit der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gerade die Entkoppelungen von Rollen deutlich. Personale Ansätze, welche die individuelle Seite des Lehrerberufs betonen, ermöglichen subjektive Deutungen und das perspektivisch gebundene Fachprofil. Verschränkt wird das z. T. bei Feige / Dressler mit Fragen nach Habitusbildung.330 Heil und Ziebertz zählen hierzu auch den Ansatz des »personalen Angebots«, der professionelles Handeln auf Beziehung grundiert – subjektive Deutungsansätze und Biografie werden hier verschränkt.331 Handlungstheoretische Ansätze schließlich ermöglichen, von Aufgaben und Kompetenzen in der täglichen Arbeit in der Schule auszugehen. Die Beschreibung von religionspädagogischer Kompetenz ist dabei gängiger als die einer religionspädagogischen Handlungskompetenz: Letztere beschreibt einzelne Kompetenzbereiche (»fachliche, didaktische, psychologische und personale Kompetenz«), die einer Zusammenführung bedürfen. Heil sieht in den abduktiven Schlussmodi eine Metakompetenz praktisch verwirklicht332 ; Dressler arbeitet hier eine Reflexionskompetenz ein. Auf dem Hintergrund dieser Studien ist für den aktuellen Befund deutlich, dass anstelle eines rollentheoretischen Modells das Habitusmodell eine bessere Möglichkeit dafür bietet, personal und biografisch verankerte Praxis von ReligionslehrerInnendasein im Kontext der Praxis professionellen Handelns zu begreifen, ohne ideologieanfällige Konzepte zur »Persönlichkeit« veranschlagen zu müssen.333 Damit ist eine Kompetenz zu differenzierter Selbstunterscheidungsfähigkeit gefragt, die sich jenseits standardisierbarer ReligionslehrerInnenkompetenzen bewegt. Der Begriff des Modus erlaubt die Bestimmung des Zugriffs auf Religion. Damit kommen drei strukturelle Größen in den Blick:
329 330 331 332 333
Vgl. Ziebertz: Wer intiiert religiöse Lernprozesse?, 207. So bei Dressler / Feige / Lukatis / Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen. Vgl. Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus als Leitkonzept in der Lehrerbildung. Vgl. Heil: Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität, 117. Vgl. Dressler : Was soll eine gute Religionslehrerin, ein guter Religionslehrer können?
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Habitus für die dispositionelle Haltung, Modus für den Weltzugang und Kompetenz für die habituelle Disposition zur Praxisanwendung. Zum Forschungsgegenstand lässt sich anführen: In den Würzburger Studien zu Strukturelementen religionspädagogischer Professionalität, insbesondere bei Stefan Heil, wird aus der Analyse von Sequenzen aus dem Religionsunterricht ermittelt, dass ein fallspezifisches abduktives Erschließen von Bedeutung durch die Diagnose individueller Religionsstile in Verbindung mit dem Repertoire theologischen Professionswissens erfolgen kann.334 Eine Erhebung von religionspädagogischer Professionalität auf dieser Grundlage greift den Kommunikationskontext im Unterricht sinnvoll auf. Die Kombination aus struktur- und kompetenztheoretischer Verankerung ermöglicht Heil, grundlegende Interaktionsmuster aufzugreifen und für eine Berufstheorie nutzbar zu machen. Der religionspädagogische Habitus wird in seiner Entwicklungsdimension als berufsspezifischer Kompetenzbildungsprozess aufgefasst, in dem im Wechselspiel von Subjekt und äußeren Einflüssen die Strukturen und Bedingungen im Blick auf »die Bewältigung der unterschiedlichen Anforderungen im Berufsfeld« in ein kohärentes Ganzes zu bringen sind.335 Das Modell bietet auf diese Weise Kriterien für Inhalte und Zielhorizonte eines professionellen und reflektierten Lehrerhandelns.336 Damit ist vor allem Professionalität in didaktischer Hinsicht, die den Zusammenhang organisierten Unterrichts erfasst. Die Theorie basiert implizit auf regelgeleitetem Setting von religionspädagogischem Handeln in einer Typik. In Bezug auf den Umgang mit Religion setzt die Studie diese im Objekt der Handlung an. So fügt sich dieses Konzept problemlos kompatibel an gängige allgemeindidaktische Modelle von dreipoligen Interaktionsmustern an. Dabei wird die Weise der Handlungsstruktur von ReligionslehrerInnen zwar letztlich formal bestimmt – in einer Weise, die für nicht allzu praxisferne Theorie in keiner Weise überraschend, vielmehr bestätigend klingen mag – jedoch erfährt man keine weiteren Hinweise, wie sich letztlich theologisches Wissen rekurriert. Theologisches Wissen bleibt ein relativ statisches Paket, dessen Inhalt kaum gelüftet wird. Inwieweit sich religiöse Stile zeigen, bleibt mindestens so sehr im Nebel wie das »eigene theologische Repertoire hinsichtlich der christlichen Religion«.337 Dass die Professionalität sich – attribuiert mit einem »nur« – von seinem Gegenstand her spezifisch konstituiert, ansonsten pädagogisch bestimmbar ist, wird sicherlich pragmatisch und im Konzert verschiedener fachpädagogischer Berufsbestimmungen nicht ohne Nutzen sein. Es bleibt aber die 334 Vgl. Heil: Religionspädagogische Professionalität. 335 Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus als Leitkompetenz in der Lehrerausbildung, 47. 336 Vgl. Burrichter u. a.: Professionell Religion unterrichten, 9. 337 Heil: Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität, 53.
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Frage, ob eine spezifische Professionalität sich ausschließlich von ihrem Gegenstand her konstituiert. Hier ergeben die vier Kategorien der Handlungsroutinen inhaltlich sehr unterschiedlich gelagerte Religionsdimensionen, die Anforderungssituationen betreffen – es bleibt aber ganz offen, ob, wie und auf welchen Ebenen theologisches Wissen etwas Generatives ist, das als Speicher vorhanden und angezapft wird oder sich auch auf der Seite der Religionslehrkräfte in der Interaktion allererst generiert. Damit müsste ein starkes, in theologischer Hinsicht allwissendes Religionslehrkräfteleitbild verabschiedet werden, wenn herauskäme, dass dieses Wissen performativer angelegt wird als gedacht. In beiden Studien bilden berufsfeldspezifische Handlungsstrukturen, Handlungsbedingungen, und Reflexivität den eigenen professionellen Stil von LehrerInnen. Sie sind vom Stil strukturiert, was wiederum strukturierend auf ihre Praxis wirkt. Bei Dressler / Feige sind mit den vier Feldern letztlich unterschiedliche Kompetenzbereiche im Sinne von Kompetenzmodi angesprochen – ohne dass dafür ein Kompetenzentwurf beansprucht wurde: Je nach weiterer Verortung im Vierfelderschema kann damit letztlich Wahrnehmungs-, Deutungs-, Ausdrucks-, Darstellungs-, Gestaltungs-, Handlungskompetenz angesprochen sein. Fakt ist aber, dass es sich hier bei den ermittelten Umgangsweisen um individuelle Stile handelt. In diesem Fall ist Religion als eine Dimension in der Struktur des Habitus enthalten. Im katholisch geprägten Modell hingegen sind den pädagogischen Kompetenzen theologische Kompetenzen als Sach- bzw. Objektbezug additiv zugeordnet; damit ist Religion als eine objektive Größe, nicht als dimensionale Ebene eingerechnet. Methodologisch sind beide Studien mit den jeweiligen Kombinationen verschiedener empirischer und theoretischer Verfahren weit gediehen. Für die Möglichkeiten und Grenzen, den religionspädagogischen Umgang mit Religion zu erfassen, ergibt sich in beiden Studien eine erkenntnistheoretische kommunikative Bedingung: Das Unterrichtsgeschehen geschieht zwar nicht nur auf der verbalen Ebene, lässt sich jedoch nur auf dieser ausweisen. Heil / Ziebertz werten letztlich sprachlich gefasste Segmente aus – also zu verbalem Text geronnenen Unterricht –, Feige / Dressler beziehen sich von vornherein auf die Rekonstruktion des eigenen Unterrichts in Form von verbaler Narration. Es ist fraglich, ob sich religionspädagogisches Handeln und Selbstverständnis nur auf den Zusammenhang von Unterricht erstreckt; die Situation wie auch die Beziehung zwischen der Religionslehrkraft und dem Schüler berührt vielmehr auch andere, z. B. diakonische, seelsorgerliche Zusammenhänge. Damit sind Hinweise darauf gegeben, dass das Handlungsfeld von Religionslehrkräften mit einem derartigen Verständnis von Unterricht noch nicht voll erfasst ist. Es bliebe zu erkunden, auf welche habituellen Bezugsmodi auf Religion ein/e ReligionslehrerIn in Situationen zurückgreift, in denen Kontingenzerfahrungen das
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professionelle Handeln beeinflussen – welche Aspekte von Religion und Religiosität hier zu beschreiben und zu bestimmen sind. Auch das Verhältnis von Situation und Tradition käme damit neu in den Blick. Es ist zu vermuten, dass hier noch ganz andere Ressourcen als Kirche für das Handeln bzw. NichtHandeln der Lehrkraft maßgeblich sind. Wie adäquat ist im Rahmen derartiger Erfahrungen von lebensperspektivischer Heterogenität die Beschreibung von ReligionslehrerInnen als TraditionsagentInnen? Diese Funktion muss angesichts des erweiterten Handlungszusammenhangs noch einmal überprüft werden. Agieren Religionslehrkräfte auch dahingehend entgegen der Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft, dass sie ein situatives, lebensweltlich betroffenes Interesse an und in Religion entgegennehmen und dieses personal darzustellen bzw. zu verändern bereit sind? Das wirft Fragen zu Faktoren zum und zum Stellenwert von Religionsunterricht neben anderen situativen Praxen von ReligionslehrerInnen auf. Der deutlich erweiterte Handlungsraum von ReligionslehrerInnnen, der sich nicht nur in der unterrichtlich organisierten Präsenz auf die einflussnehmenden Faktoren bezieht, sondern der auch Situationen und Felder außerhalb des organisierten Unterrichts einbezieht, wird letztlich in die Auswertungen nicht einbezogen. Es bleibt in der Wahrnehmung von pathologischen Unterbrechungen von Normalität zu bedenken: Reicht eine derartige Bestimmung von religionspädagogischer Professionalität tatsächlich aus – verkürzt sie nicht die zugehörigen Handlungsdimensionen, übersieht sie nicht Felder im Bereich Schule, die zum erwartbaren Alltag des Einbruchs von Unerwartetem, des Umgangs mit Widerfahrnissen gehören? Die Integration von Ausnahmesituationen und das Verhalten zu Unterbrechungen in einen regelgeleiteten professionellen Umgang sind noch nicht bestimmt.
1.5.3 Chancen und Herausforderungen des Kompetenzbegriffs in der ReligionslehrerInnenbildung 1.5.3.1 Kompetenzen und Standards (in) der ReligionslehrerInnenbildung Die ersten Erhebungen zu nationalen und internationalen Leistungsvergleichen der SchülerInnen durch PISA 2000, TIMSS und andere Studien haben zu gravierenden Veränderungen in der Bildungspolitik geführt. Im Zuge der Expertise »Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards« von 2003 wurden Schlüsselkompetenzen für den Erwerb von Bildung formuliert, die in der Einigung auf nationale Bildungsstandards ihr Maß fanden. Unterschiedliche Akzentuierungen der Expertengruppen evozierten schließlich auch ungleiche länderspezifische Schwerpunktsetzungen. Dem Erheben von für SchülerInnen gültigen
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Standards folgten im nächsten Schritt die Ausformulierung von Kompetenzbestimmungen und Standards für die Lehrerbildung, die von der Kultusministerkonferenz 2004 beschlossen wurden.338 Dass dieser Umsteuerungsprozess nicht ohne hitzige bildungspolitische Debatten vonstatten ging, liegt auf der Hand: Diese reichen von Differenzierungsmaßnahmen bis hin zu Vorwürfen, dass zugunsten der Ökonomisierung von Bildung in allgemeinen, wirtschaftlich verwertbaren Kompetenzen fachliche Inhalte verdrängt werden. Im Bereich religiöser Bildung wurden von verschiedenen Expertengruppen, so am Comenius-Institut und in Baden-Württemberg, Kompetenzen religiöser Bildung formuliert und als Könnens-Standards von SchülerInnen für den Abschluss der Sekundarstufe formuliert. In der Weise der Spezifizierung auf das Schulfach Evangelische Religion sind Expertengruppen, vor allem aber die Kommissionen zwischen Kultusministerien und der EKD dann der Entwicklung gefolgt, Kompetenzen und Standards für die drei Phasen der ReligionslehrerInnenbildung zu formulieren339 ; letztere sind unter dem Titel »Theologische und religionspädagogische Kompetenz« veröffentlicht.340 2008 wurden von der KMK für alle Länder gemeinsam geltende inhaltliche und didaktische Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung beschlossen, die 2015 im Hinblick auf Inklusion etwas präzisiert wurden; diese basieren, was das Fach Evangelische Religionslehre angeht, auf der EKD-Vereinbarung zu theologisch-religionspädagogischer Kompetenz.341 Grundlegend für die Bildungsstandards ist auch bei Lehrkräften die Expertise von Klieme und Baumert342, welche im Wesentlichen der Didaktik Klafkis folgt, Problemlösungsverhalten zu induzieren und dementsprechend auf Weinerts Kompetenzverständnis fußt.343 Ausschlaggebend für die Zuspitzung fachspezifischer und auch fachdidaktischer Kompetenzen ist dabei ein Kompetenzverständnis, welches die Domänenspezifik im Blick hat, die großenteils mit der Fächerdifferenzierung und entsprechenden Fachdidaktiken gegeben ist. Gegenüber diesem Kompetenzverständnis, welches die Bildung von SchülerInnen im Auge hat, spielen in einigen Fächern für die Lehrerbildung auch die formulierten berufspädagogischen Kompetenzen eine Rolle. Bei den für die berufliche Bildung geprägten Kompetenzen, wie sie auch für die LehrerInnenbildung ähnlich in Anspruch genommen werden, werden – je nach Modell unterschiedlich gewichtet – Kompetenzen in sechs unterschiedlichen HauptbeKMK: Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Vgl. zu einem Überblick Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz, 105ff. Vgl. EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz. Vgl. KMK: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung, 47–49. 342 Vgl. Klieme: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. 343 Weinert: Leistungsmessung an Schulen, 27f; vgl. Kap. 1.4.4.2. 338 339 340 341
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reichen erhoben, die als empirisch überprüfbar gelten. Dazu zählen fachwissenschaftliche Kompetenz, fachdidaktische Kompetenz, Methodenkompetenz, Medienkompetenz, personale Kompetenz und Diagnosekompetenz. Mit unterschiedlichen Zuspitzungen wird dieses Modell auch gültig als normatives Kompetenzmodell für die ReligionslehrerInnenausbildung. Renate Hofmanns Vergleich der Kompetenzen für die ReligionslehrerInnenausbildung, der ihrer empirisch-explorativen Studie als Grundlage dient344, setzt die Überprüfbarkeit solcher professioneller Kompetenzen voraus. Im Bezug auf die ReligionslehrerInnenbildung ist ihr zufolge zu bemerken, dass die ReligionslehrerInnenbildung durch die Orientierung an Kompetenzmodellen und Bildungsstandards einen Aufschwung zu verzeichnen hat.345 Die EKDÜberlegungen behalten in Annährung an das berufspädagogische Kompetenzmodell die Vielfalt verschiedener Aufgaben auch über den engeren Rahmen des Religionsunterrichts hinaus im Auge. Hier erfolgt die Relationierung des zugrunde gelegten Strukturmodells zu einem phasenbezogenen Entwicklungsmodell, das die zeitliche Kompetenzentwicklung von Religionslehrkräften, aber damit auch ganz klar einen kontinuierlichen und integrativen Aufbau von Kompetenzen vor Augen hat. Die drei Paradigmen des Lernens sehen ein forschendes Lernen an der Universität, ein theoriegeleitetes Erprobungslernen in der Phase der Ausbildung am Studienseminar und ein integrierendes Erfahrungslernen in der Berufspraxis, unterstützt durch die Fortbildungsarbeit, vor. Renate Hofmann streicht dieses zugrunde liegende Modell heraus: die Orientierung an einer Entwicklung vom Novizen über den fortgeschrittenen Anfänger, den kompetenten Lehrer und den erfahrenen Lehrer hin zum Experten.346 Im Vergleich dazu konzentriert sich das Comenius-Modell ausgehend von einem kompetenzorientierten Unterricht stark auf die unterrichtsbezogenen Kompetenzen.347 Somit wird ein engerer Zusammenhang von SchülerInnen- und darauf bezogenen ReligionslehrerInnen-Kompetenzen erachtet, um den Preis einer Einengung. 1.5.3.2 Perspektivenwechsel: Kompetenz und Krise In Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen dieser Konzentration auf Kompetenzbestimmungen, die als Leitmetapher für Professionalität diskutiert wird und bildungspolitisch längst als solche genutzt ist, lässt sich von unterschied344 Zu dieser Zeit war EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz noch nicht veröffentlicht. 345 Vgl. Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz, 122. 346 Vgl. a. a. O., 144. 347 Vgl. EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz und Expertengruppe am Comenius-Institut: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, 75f.
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lichen Punkten aus diskutieren: Hier soll mit der Perspektive des Wissens um den Einfluss der Dimension des Pathischen die Aufmerksamkeit auf die Bruchlinien gelegt werden, die den Festschreibungen von Bildungsstandards unterlaufen bzw. die sich nicht in ein solches Bildungsschema einpassen lassen. Kritische Punkte zeichnen sich an verschiedenen Stellen ab: a. Bildung und Kompetenzbegriff. Bei den normativen Kompetenzmodellen besteht die Gefahr der Gleichschaltung von Kompetenzen und Standards.348 Mit einem Blick in die angelsächsische und amerikanische Diskussion, auf die sich Sloane und Dilger beziehen, wäre eine Differenzierung der Begrifflichkeiten hilfreich, um zu kennzeichnen, wo es tatsächlich um eine Outcome-Orientierung von Bildung geht und wo andererseits ein subjektbezogenes Bildungsverständnis vorherrscht: »… we should note a useful distinction in the American literature between the term ›competence‹, which is given a generic and holistic meaning refers to a person’s capacity, and the term ›competency‹, which refers to specific capabilities«349
Für sich genommen, ohne den Kontext der Standardisierung, könnte es sich in der Metapher der Kompetenzen, welche praxisorientierte Wissensmuster bezeichnen, um ein optimistisches, zukunftsoffenes Bildungsverständnis von Individuen drehen. In einem ursprünglichen Verständnis, wie es etwa von Heinrich Roth350 und anderen benannt wurde, nimmt ›Kompetenz‹ an den Personen und stärker auch an Situationen orientierte Befähigungen auf. So verstanden handelte es sich bei der Formulierung von Kompetenzen um einen Potentialis. Kompetenz berücksichtigt ein Vermögen im Sinne eines die ganze Person betreffenden Faktors, indem sie das Moment der Haltung impliziert. Noch radikaler wäre jedoch, nach dem Grenzfall zu fragen: Inwiefern handelt es sich auch dann noch um Bildung, wenn genau diese Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, das Problemlösungsverhalten nicht mehr greifen? b. Das Verständnis von beruflichem Bildungshandeln als Steuerung: In der Koppelung von Kompetenzen mit der Messbarkeit von Qualitäten, die wiederum ein relativ absolutes Maß an Standards bekommen, werden Kompetenzen teleologisch als instrumentelle Bildungsziele formuliert. Sloane und Dilger malen das Gefahrenszenario folgendermaßen aus: »Eine institutionentheoretisch begründete Steuerung von Bildungssystemen reguliert die individuellen Handlungsstrategien von Akteuren der Praxis durch die Vorgabe von 348 So die Expertengruppe des Comenius-Instituts zum Verhältnis von Bildungsstandards zu Kompetenzen: »Kompetenzen sind inhalts- und bereichsspezifische Konkretionen der Standards« (Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, 11). 349 Eraut: Developing Professional Knowledge and Competence, 174 (hier zitiert von Sloane / Dilger : The Competence Clash, 7). 350 Vgl. Roth: Pädagogische Anthropologie.
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Regulativen. Diese normieren den Handlungsraum der Lehrer und führen zur Verlagerung aller Detailentscheidungen vor Ort. Würden Bildungsstandards zum alleinigen Regulierungsinstrument bzw. würden sie ausschließlich, etwa i. S. eines heimlichen Curriculums, die pädagogische Arbeit steuern, so würden hieraus folgende Konsequenzen entstehen: – Zum einen würden die erziehungswissenschaftlichen Argumentationsmuster der Begründung von Normen aus der pädagogischen Praxis weitgehend verschwinden. Zugleich würde der fachdidaktische Zugang wichtiger werden, da eine Finalisierung über den Domänenbezug gefordert wird. – Zum anderen würden die realen Aufgaben die pädagogische Arbeit praktisch regulieren, die Aufgabenentwicklung würde zu einem zentralen Instrument der Steuerung von Unterrichtsalltag. Aufgabensätze würden als heimliche Curricula fungieren. Die erziehungs-wissenschaftlichen Ansprüche einer Normenlegitimation würden dagegen ausgeblendet werden.«351
Hier wird das Krisenszenario entworfen: Ein erziehungswissenschaftlich fundiertes, bildungstheoretisch geformtes Bildungsverständnis weicht einer machtzentrierten edukativen Kybernetik, in der ein blinder Realismus ein vertieftes Befragen normativer Ordnungen von Bildung verhindert. Letztlich würde damit Pädagogik durch eine »Pädonautik« ersetzt werden. Wie lässt sich von bildungstheoretischen und erziehungsphilosophischen Fundamenten her damit umgehen, wenn sowohl das Agens bzw. die Handelnden dieser instruktionellen Praxis an Grenzen stoßen? c. Die Rolle der Subjektivität, das Verhältnis von Individualität und Sozialität. Da es sich bei den Standardisierungen stets um Beobachtungen aus der Außenperspektive handelt, die das Maß nehmen, kommt die Intersubjektivität von Bildung immer nur als ein Vergleichsmoment zum Tragen. Der stark normative, komparativische Umgang mit Bildung klärt jedoch noch nicht, inwieweit Bildungsprozesse elementar an die Bezogenheit von Raum, Zeit, Leiblichkeit, Sprache und Sozialität gebunden sind. Anders gesagt: Die Rede von Qualifikationen darf nicht verhindern, dass die konkreten Bildungsprozesse betont werden. Damit kommt auch ein verändertes Verhältnis zur Praxis in den Blick. Zwar wird in den Konzepten zu Kompetenzen religiöser Bildung eingeräumt, dass Kompetenzen nur einen Teilbereich von Bildung erfassen – das betrifft den Bildungsauftrag352 als auch das Konzept von Bildung selbst. Insbesondere Bernhard Dressler tritt dafür ein bewusstzuhalten, wie sehr bzw. eng der Kompetenzbegriff überhaupt das zu erfassen imstande ist, was demgegenüber unter Bildung und insbesondere religiöser Bildung verstanden werden kann. Damit ist aber auch gegeben, dass ein bestimmtes Umgangswissen und -können vorausgesetzt wird. Inwieweit ist dies mit den Ebenen, die Handeln und Wissen 351 Sloane / Dilger : The Competence Clash, 10. 352 Vgl. EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz, 15.
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angesichts der Dimension des Pathischen berücksichtigt, zu vereinbaren? Was ergibt ein theologischer Blick darauf ? Was bedeutet die Veränderung des Kompetenzbegriffs für die Beschreibung des Religionslehrhandelns?
1.5.4 Professionalität im Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren? Desiderate und Forschungsaufgaben 1.5.4.1 Professionelles Handeln im religionspädagogischen Raum der Schule Im bildungspolitischen Diskurs hoch angesehen ist der Qualitätsbegriff, der sich normativ in Kompetenzerwartungen und der Erhebung und Aufwertung von Bildungsstandards ausdrückt. Diese Entwicklung betrifft religionspädagogisches Handeln im Bereich Schule in mindestens doppelter Weise: Zum einen werden deutlicher als zuvor Bildungsprozesse an der Personalität nicht nur von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet, sondern auch die Erhebung von Lehrkräften. Damit wird der Religionsunterricht als konkrete Praxis religiöser Bildung Argumenten der Güte unterstellt.353 Zum anderen liegt damit die Versuchung nahe, Normierungen und Zentralisierungen bezüglich eines Bildungsideals zu bestimmen, dessen Festschreibungen jedoch das Paradoxon von Bildungsnorm und Selbstwerdung kaum auszubalancieren vermögen. Dieses Spannungsfeld betrifft auch den Religionsunterricht und die Unterrichtenden. Einerseits wird versucht, die Ausbildung von ReligionslehrerInnen auf eine Kompetenzförderung hin auszurichten und auf diese Weise die Güte von Aus-Bildung zu sichern. Die »Theologische und religionspädagogische Kompetenz in drei Phasen der Religionslehrerbildung«, die als eine kirchlich unterstützende Rahmenordnung für die Bildung der Religionslehrkräfte in den Ländern gilt, sichert mit einem Strukturmodell und einem Entwicklungsmodell Kern und Prozess der Aus-, Fort- und Weiterbildung von ReligionslehrerInnen und intendiert einen guten Religionsunterricht.354 Die ethische Seite des Religionslehrerberufes kommt dabei vor allem in der Erziehungsdimension in den Blick. In den Leitbildern für Religionslehrerdasein spiegelt sich die ermittelte Differenzierung von Profession und Professionalität. Die Anfangsszenen und -fallbeispiele haben darauf aufmerksam gemacht, dass die berufliche Handlungsrealität von ReligionslehrerInnen einen weiteren Radius hat, als es zunächst scheint. Der Handlungsbereich des konkret organisierten, rhythmisierten und planvollen Religionsunterrichts bildet einen Kern, jedoch bei weitem 353 Vgl. Comenius Institut: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. 354 Vgl. EKD: Theologische und religionspädagogische Kompetenz.
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nicht den tatsächlichen Handlungsraum von ReligionslehrerInnen. Dies wird insbesondere an den Phänomenen der Unterbrechung deutlich. Damit kommt das Verhältnis von Verfügungs- und Orientierungswissen355 neu zum Tragen. In der kulturellen Dimension haben Religionslehrkräfte vor allem mit Anderen zu tun; das qualifiziert ihr Tun als soziales Handeln. Professionstheorie muss sich daher auf Schule als sozialen Raum beziehen, der mit anderen Lebenswelten überlappt oder explizit in Kontakt steht. Rückt damit die Lebenswelt näher, als dies bisher angedacht war, als Faktor in ganz anderer Weise in den Kontext von religionspädagogischer Professionalität? Hinsichtlich der Rolle von Kirche ist fraglich, ob sie dann auch im Sinne der lebensweltlichen Herausforderungen Traditions-, Sozialisations- bzw. Bildungsagentur ist bzw. inwieweit sie zur Bildung von Religionslehrkräften beiträgt.
1.5.4.2 Theologische Orientierungen zum (Religions-)Lehrberuf Die professionstheoretische Verortung des Religionslehrberufes erfolgt bisher im Wesentlichen im Kontext der pädagogischen Professionalität. Leitbilder des Religionslehrberufes nehmen implizit auf theologische Gerüste Bezug, um Lernen und Lehren zu verankern. Theologische Professionstheorien berücksichtigen wiederum in erster Linie das Pfarramt als Kernberuf und strukturieren von dort aus Lehren als eine Aufgabe. Es bleibt unklar, an welchen theologischen Markierungen sich das subjektive professionelle Handeln von Lehrkräften orientiert. Dies zumindest an einem exemplarischen Fall zu reflektieren, ist unerlässlich für ein Professionsverständnis, das Subjektivität als unabänderliche Berufsgröße voraussetzt. Eine religionspädagogische Professionstheorie, die nicht nur den offiziellen Handlungsräumen des Berufs, sondern auch den Wahrnehmungswelten ihrer Klientel weiter zugeordnet ist, muss theologisch das Feld zwischen Lebenswelt, Schule und Kirche berücksichtigen. Ausschlaggebend dafür sind im Alltag wie in dessen Grenzfällen Lebensdimensionen, die als nicht methodische, sondern existenzielle Ungewissheits-, folglich Kontingenzerfahrungen im Horizont von Religion stehen. Religionspädagogische Professionalitätsbeschreibungen setzen auf der einen Seite in der Regel bei dem Religiositätsverständnis von Ulrich Hemel an356, das fünf Dimensionen berücksichtigt; erstaunlicherweise wird demgegenüber jedoch ein auf kognitive Dispositionen hin zugespitztes Kompetenzfeld als Norm erhoben, welches vor allem auf die domänenspezifischen, fachdidaktischen Bildungsvorstellungen eingeht. Inwieweit religionspädagogi355 Vgl. EKD: Maße des Menschlichen. 356 Vgl. Hemel: Ziele religiöser Erziehung.
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sches Handeln und seine Ungewissheit als Ganzes im Schnittfeld der Lebensräume begründet und orientiert wird, ist daraus nicht abzuleiten. Unklar abgesteckt ist bisher daher nicht unbedingt der materiale theologische Rahmen – die inhaltliche Bezugsseite der Kompetenzen – jedoch die Rolle der Theologie in der Erhebung von Kompetenzen als Standards. Der Durchgang durch die Professionstheorien legt nahe, dass der Begriff der Theologischen Kompetenz mehr leistet: Sie beschreibt den Versuch, mehr als innerweltliche Probleme anzugehen. Eine ausschließlich subjekttheoretisch fokussierte Personalitätstheorie setzt darauf, dass das berufliche Subjekt alles bewältigt. Eine Berufstheorie, wie sie für den Pfarrberuf von Isolde Karle entwickelt wurde, lässt die subjektiven Elemente professionellen Handelns in der Funktionalität im Rahmen der Institutionalisierung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung aufgehen. Die Unterbrechungen der Alltagspraxis, die unbewältigten Unterbrechungen und Ungewissheiten lassen dagegen professionstheoretisch fragen: Ist Profession eine Ausbildung für eine funktionsoffenere Praxis, die genügend Rahmen bietet, um Offenheit und Ungewissheit zu integrieren? Das Paradoxon des Nicht-Handeln-Könnens und doch Handeln-Müssens muss in einer Professionstheorie angesprochen werden und Professionalität auch als berufliches Gerüst des Umgangs mit Unverfügbarkeit nennen. Aus der Anforderung und Verantwortung für eine Umgangspraxis ergibt sich die Notwendigkeit für eine theologische Berufsethik, in welche die Kompetenzenbereiche einbezogen werden. Gesamttheologisch wird die Praxis nicht selbstverständlich auch zum Gegenstand. Subjekttheoretisch wird jedoch bei F. Schleiermacher die Kunstregel systematisch der Ort der Bestimmung des subjektiven Handelns. Es ist zu klären, worin beschreibbare Erfahrungen liegen, an denen die Herausforderung für eine Berufsethik theologisch deutlich wird. 1.5.4.3 Widerfahrnisse als Herausforderung für Fragen nach religionspädagogischer Professionalität Ein Beruf, der schulische religiöse Bildung ermöglicht und fördert, hat mit Ungewissheiten und situierten Widerfahrnissen zu tun. Ungewissheit ist mit Fremdheit und Andersartigkeit assoziiert. Religionslehrkräfte kommen am Ort der Schule in Sitationen, in denen man handeln muss, obwohl man nicht handeln kann. Eine besondere, jedoch zugleich die vernachlässigte Problemstellung ist daher der Einfluss von Ungewissheit auf das religionspädagogische Handeln. Ist aber der religionspädagogische Umgang ein besonderer? Und wenn ja, wie sieht er aus? Welche Beschreibungen machen es möglich und welche Kategorien sind angemessen, um diese Dimensionen zwischen Leben, Lernen, Lehren als religionspädagogisches Handeln zu verdeutlichen?
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Unterricht ist ein wichtiger, jedoch nicht der einzige professionelle Handlungsbereich. Die schulische Erfahrung zeigt, dass bei Widerfahrnissen im Raum der Schule Religionslehrkräfte als besondere AnsprechpartnerInnen dafür herangezogen werden, den Umgang damit zu gestalten. Diese Rolle obliegt z. T. den SchulpfarrerInnen, soweit sie an einer Schule eingesetzt und auch in das Schulleben integriert sind. Maßgeblich dafür ist jedoch eine partizipatorische Rolle am Schulleben, welches Religionslehrkräfte innehaben, da sie als normale KollegInnen in der Regel mit anderen Fächern an Unterricht und Leben beteiligt sind. Im Visier der Forschung kommen ReligionslehrerInnen vor allem als AkteurInnen im Handlungsfeld des konkreten Religionsunterrichts in den Blick. Hier obliegen ihnen nicht nur Rollen, sondern auch Habitus und Kompetenzen, die auf eine starke Subjektivität zielen. In der neueren Forschung zu Religionslehrkräften, die im Kontext der Bestimmung von Professionalität geschieht, wird diese vor allem als Struktur verstanden, deren Anforderungen in gewissem Maße für das Setting, die Aufgaben und Leistungen des Religionsunterrichts berechenbar sind. Es werden also in der Theoriebildung weitere Kontexte, in denen Störungen, Ungewissheiten virulent werden, vernachlässigt. Damit scheint ein bestimmtes, in gewisser Weise eingeschränktes Verständnis von Handeln mit Professionalität assoziiert zu sein. Auch in den Kompetenzmodellen scheint kaum eine wirklich intersubjektive Kompetenz auf. Die Konturen von dem, was unter Kompetenz verstanden wird, ist letztlich auf das Individuum zugeschnitten, das individuell lernt, auch auf dem Weg zum und zur Berufsfähigkeit. Fehlt damit eine Kompetenz oder eine Dimension, die sich in Kompetenzen unterschiedlicher Graduierung und Weise niederschlagen müsste? Es ist also dringend nötig zu erkunden: Wie gehen Religionslehrerinnen und -lehrer mit Ernstfällen, Störungen, Unwägbarkeiten und Ungewissheiten derartigen existenziellen Ausmaßes um? Inwieweit sind sie selbst davon berührt? In den Blick kommt die empirische Wahrnehmung von denjenigen Elementen in der Schule, die als Erfahrungen von Unplanbarkeit, Ungewissheit, Unverfügbarkeit, Unsagbarkeit oder gar Passivität in der professionellen religionspädagogischen Praxis der Schule beschrieben werden können. Damit wird das Verständnis von Professionalität ausgehend von diesem Kasus empirisch genauer betrachtet, das sich in solcher religionspädagogischer Praxis zeigt – und möglicherweise auch verbirgt. Anders gesagt: Das Eingehen auf derartige interkulturelle Begegnungen wie intra-kulturelle Dissoziierungen erfordert auch religionspädagogisch eine Forschung, die danach fragt, woran sich das professionelle Handeln von ReligionslehrerInnen orientiert und die Impulse zu nicht relativistischen Umgangsweisen mit anderen Menschen gibt. Das Erkenntnisinteresse kann also folgendermaßen zusammengefasst werden: Eine entscheidende Auf-Gabe von ReligionslehrerInnen ist der kulturelle
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Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren, also mit lebensweltbezogener Kontingenzproblematik.357 An diesem bricht die Frage nach einer spezifischen pädagogischen Professionalität auf. Um diese zu erkunden, zielt dieses Projekt auf die Entwicklung eines empirisch-phänomenologischen Zugangs zur Erforschung des Zusammenhangs von Religion, Bildung und professionellem Handeln im Sozialraum der Schule. Unterbrechungen von Unterricht und Schulleben sollen auf die Bedeutung für eine Dimensionierung einer Berufspraxis im Kontext von Religion, Theologie und Kirche hin beleuchtet werden, um eine religionspädagogische Professionalitätstheorie auf »theologische Füße« zu stellen. Es ist absehbar geworden, dass zum einen eine Bestimmung der Rolle von Erfahrung und Wahrnehmung nicht nur für Wissen in professionellen Kontexten, sondern auch für die Beschreibung eines sich am pädagogischen Gegenüber orientierenden beruflichen Habitus erforderlich sein wird. Zu erkunden ist damit auch, wie biografische und lebensweltliche Elemente, aber auch Ungewissheitserfahrungen in intersubjektiver Wirklichkeit aufgenommen werden können. Von dort ist auch der religionspädagogische Kompetenzbegriff zu befragen und zu schärfen.
357 Vgl. Kambartel : Philosophie der humanen Welt; Lübbe: Religion nach der Aufklärung, 149.
2.
Einen Fall studieren. Theologisch-pädagogische Professionsforschung in phänomenologisch-empirischer Logik
Nachdem das Desiderat benannt ist, werde ich in diesem Kapitel die darauf bezogenen Forschungsfragen und mein Forschungsinteresse benennen. Der Fall kommt zur Repräsentation; davon ausgehend beschreibe ich Fallarbeit im Rahmen empirisch-phänomenologischer Forschung in der Theologie und konkretisiere die Methodik dieser Fallstudie.358 Am Schluss dieses Kapitels wird zu fragen sein, wie sich aus ihr die weitere innere Logik entrollt.
2.1
Forschungsfrage und -interesse der Fallstudie
Die Leitfrage für mein phänomenologisch orientiertes empirisch-theologisches Projekt lautet: Wie geschieht und strukturiert sich religionspädagogisch-professionelles Handeln im Umgang mit Kontingenzerfahrung? Dazu gehe ich den folgenden Teilfragen nach: – Wie nimmt eine professionelle Religionslehrerin den Umgang mit krisenhaften Unverfügbarkeitserfahrungen wahr? – Was prägt dabei ihre Wahrnehmung der Anderen im schulischen Umfeld? – Wie erfährt, beschreibt und interpretiert sie ihren krisenhaften professionellen Alltag? (Wie) geht dieser auf Religion ein? – Welche (theologischen) Normen dienen einer professionellen Religionslehrerin dabei implizit, welche aktiviert sie explizit im Handeln und wie wirkt dadurch selbst auf diesen Prozess ein? – Wie verhalten sich diese Reaktionen zu ihrem sonstigen schulischen Praxiskontext, in dem ganz unterschiedliche Beteiligungsperspektiven (›Professionell Handelnde‹ und SchülerInnen, Eltern, andere Rollen in der Institution Schule) virulent werden? Kommt ein kirchlicher Bezug zum Tragen? 358 Einige Segmente des Falls sind in einer Vorveröffentlichung beschrieben und ansatzweise bearbeitet unter Leonhard: Menschlicher Verletzlichkeit aufmerksam begegnen.
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Theologisch-pädagogische Professionsforschung
Dabei läuft eine andere, bildungspolitische Fragestellung mit: Welche Rolle zeichnet sich in den Diskursen für das religionspädagogische Verständnis von professionellem Habitus und für einen religionspädagogischen Kompetenzbegriff ab? Im Übrigen verbindet sich damit die methodologische Kernfrage: Wie können diese Beschreibungen in der theoretischen Reflexion für empirisch-theologisch konturierte religionspädagogische Professions- und Bildungstheorie fruchtbar gemacht werden? Mein forschungsleitendes Erkenntnisinteresse betrifft die Weiterentwicklung eines phänomenologisch orientierten empirisch-theologischen Zugangs zur Erforschung des Zusammenhangs von Religion, Bildung und professionellem Handeln im Sozialraum der Schule. Das Format betrifft die hier entstehende Fallstudie, deren Chance in ihrer Besonderheit als Grenzfall liegt; sie konturiert sich vor dem interdisziplinären Horizont von theologischer wie pädagogischer Professionsforschung als Heuristik im Rahmen einer phänomenologisch orientierten Professionsethik für Religionslehrkräfte.359 Als explorative Arbeit sucht sie gängige Professionstheorien von (Religions-)Lehrkräften zu befragen und die Möglichkeiten und Grenzen bestehender Norm-Vorstellungen religionspädagogischer Professionalität am Extremfall der Kontingenzerfahrung zu überprüfen, um auf diese Weise theologisch verantwortete Ansatzpunkte für eine Professionsethik von Religionslehrkräften empirisch aufzuzeigen. Damit möchte ich eine religionspädagogische Professionalitätstheorie auf »theologische Füße« stellen.
2.2
Zwischen Fall und Feld: Repräsentationen
Meine Forschung stellt einen zirkularen Prozess dar zwischen einer weitgehend offenen phänomenologischen Wahrnehmung – basierend auf der Bewusstheit von Situationen, Atmosphären und Phänomenen; durchgeführt und dargestellt anhand Dichter Beschreibung und ergänzt durch Gruppendiskussionen – und der vertieften Reflexion anhand verschiedener Theorien. Dabei werde ich methodologische Grundlagen mit der designspezifischen Ausarbeitung verbinden und auch die für diese Fallarbeit konkreten Punkte einspielen. Insbesondere für die Darstellung der Methodologie werden Prozesse aspektorientiert rekonstruiert: Der feld- und fallbezogene Forschungsprozess selbst ist nicht nur unabschließbar im idealen Sinn, er schließt auch viele gleichzeitig laufende Prozesse, Umentscheidungen und Verwirrungen ein. Ich werde das an den Punkten, an denen es für das Verständnis des Forschungs359 Siehe Anm. 1.
Zwischen Fall und Feld: Repräsentationen
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designs wichtig ist, verdeutlichen, ohne minutiös ein Forschungstagebuch einzufügen, welches aufgrund seiner Überkomplexität den Nachvollzug für die Lesenden unnötig erschweren würde. »Mit Fallstudien zu arbeiten verlangt vom Forscher, sich in das Feld hineinzubegeben und sich mit dessen sozialer Dynamik vertraut zu machen, um das Ziel zu erreichen, zu verstehen, was da vor sich geht. Wo es um Erforschung professioneller Praxis geht, kann die Kompetenz der Sinnerschließung durch Praktikerinnen und Praktiker zusätzlich enorm gefördert werden, wenn sie zu Forschenden in ihrem eigenen Arbeitsfeld werden.«360
In diesem Sinne geht es um die Elemente, welche das Feld aufschließen, in dem sich mit Forscherin und Forschungsgegenüber der Fall konturiert.
2.2.1 Begegnungen mit einer Religionslehrerin und einem krebskranken Schüler Lebensweltliche Anfänge des Forschens zu benennen, kann nur tastend, rekonstruktiv und aspektiv geschehen, da sich das Gesamt der Aufmerksamkeiten nur bedingt einfangen lässt. Nichtsdestotrotz versuche ich zu benennen, worin diejenige der Anfangsbewegungen ihren Lauf genommen hat, mit welcher der Stein zum FALL361 ins Rollen kam, um zumindest ansatzweise widerzuspiegeln, wie der forschungspraktische Weg überhaupt auf eine Fallstudie hin zulief. Den Anfang der Forschung bildet hier wie immer die Aufmerksamkeit.362 Im Zusammenhang meiner explorativen Unterrichtsbeobachtungen zu Beginn meines Forschungsprojektes entsteht eine Situation, welche sich für den Unterrichtskontext und für den Fokus meines Projektes als sehr wichtig entpuppt. Ich verabrede eine Hospitationsphase zu Alltagsbeobachtungen im Religionsunterricht einer 9. Klasse in der Oberschule. Im Zuge meiner Überlegungen begleite ich dir mir bekannte Religionslehrerin Annett D., die zugleich Klassenlehrerin der Lerngruppe ist, bei ihrer Planung einer performativen Unterrichtseinheit zum Thema »Hiob – eine Leidensgestalt«. Nach einer Phase der lebensweltlichen Annäherung mithilfe einer produktiven Erschließung eines 360 Heimbrock / Meyer : Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien, 26. 361 Fortan werde ich das Siglum FALL nicht für die methodologische Einheit, sondern für den konkret vorliegenden empirischen Fall verwenden. Die inhaltlichen Zusammenhänge des Falles werden empirisch aufgeführt; Namen und Begleitumstände sind anonymisiert. 362 Fortan bleibt das wesentliche Tempus der Darstellung das Präsens: Diese Zeitform ist die Antwort auf die spannungsvolle Herausforderung, vergangene Forschungsdesignplanungen ebenso wie gegenwartsgültige Theoriebezüge aufzunehmen, aber Theorie- und Empirieebenen in einem Stil lesbar zu (re-)präsentieren, die dem Leser und der Leserin deren Ineinandergreifen nahchvollziehbar macht.
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Bildes soll durch Texttheater eine Bühnenszene zu den biblischen Reden Hiobs mit den Ratschlägen der Freunde auf der Bühne des Festsaals gestaltet werden, die von anderen SchülerInnen gefilmt werden.363 Im Zuge der Vorbereitungen wird deutlich, dass zur Lerngruppe auch der Schüler Johannes gehörte – ein an Krebs erkrankter Schüler, der auf der Schwelle zwischen medizinischer Behandlung und schulischer Laufbahn steht. Neben den spontanen praktischen Fragen: Was kann, soll die Religionslehrerin tun? Wie ist mit solch einer speziellen Situation umzugehen? Wie steht es um respektvolles Verhalten? wird mir in der Situation mit den Umständen, den Erfahrungen der Anderen und eigener Berührung zunehmend das Phänomen Kranksein als ein dichter Zusammenhang mit Erfahrungen von Unverfügbarkeit deutlich. Dieses Phänomen ist nicht isoliert, sondern wird für mich zu einem Fall, weil es eingebunden in einen Raum, Menschen, Gegebenheiten ist; in dieser Kontextualisierung eröffnet er einen mehrjährigen Prozess der Beschäftigung, der Auseinandersetzung und des Durchdenkens. Die hier zur Sprache gebrachte FALLsituation eröffnet mit ihren Problemen die Fragen und einen Bearbeitungsraum, wie religionspädagogisches Handeln darauf reagieren sollte und darin zu verankern wäre und welche Funktion die Begegnung mit der Lebenswelt einnimmt. An diesem FALL ist ersichtlich, dass der Handlungsraum der Religionslehrerin die Mauern von Schule übersteigt. Einige situative Datenelemente aus der Begegnung kommen im Folgenden zum Tragen.364 2.2.1.1 Dichte Beschreibung 1: Fallnotizen zu Erfahrungen der Religionslehrerin Die Begleitung des kranken Schülers Johannes, der Annett sehr ans Herz wächst, nimmt sie als Religions- und Klassenlehrerin mehr und mehr in Anspruch. Johannes’ Eltern haben bei dem Schulleiter Hausunterricht beantragt. Annett hat zugestimmt, diesen zu übernehmen. Zu ihren Aufgaben in diesem Zusammenhang gehört, dass sie jeweils Englisch und Deutsch im Hausunterricht erteilt. Manchmal erzählt sie ihm auch aus dem Religionsunterricht. Da sie Johannes’ Klassen- und Religionslehrerin ist, sieht sie darin zugleich weitere Kontaktmöglichkeiten: Sie fungiert als Botin zwischen der Klasse, der Schule, den Eltern und Johannes. Sie tröstet die Eltern und den Schüler, koordiniert praktische Aufgaben, um Johannes 363 Zur Darstellung und Reflexion der Unterrichtseinheit im Blick auf Körpersprache siehe Leonhard: Gesagt – getan?. 364 Im Folgenden finden sich Texte der Dichten Beschreibung des FALLs gerahmt und schattiert.
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dabei zu helfen, den Anschluss an die Schule und seine Klasse so gut wie möglich zu überbrücken. Ins Krankenhaus geht sie nicht. Wie üblich, wird jeder Termin des Hausunterrichts individuell, je nach Terminplan der Lehrerin und vor allem nach dem Befinden des Schülers, vereinbart. Annett unterrichtet Johannes nur, wenn er auch halbwegs stabil und aufnahmebereit ist. Bei einem vereinbarten Termin des Hausunterrichts kommt Annett eines Tages zu Johannes, als dieser unvorbereitet zusammenbricht: Er weint und gibt zu erkennen, dass er am Ende seiner Kräfte ist. Als Annett ihn fragt, ob sie lieber wieder gehen solle, verneint er und bittet sie zu bleiben. Sie hält stand und bleibt bei ihm. Ihn belasten Sorgen um seine Schullaufbahn und die Fragen nach Möglichkeiten für eine Berufsausbildung. Dies sind Probleme, die für die Eltern hinter die Angst um die Situation und Johannes’ Leben zurückfallen; sie investieren viel Kraft, die Sorgen darüber nicht zu dominant werden zu lassen, dass Johannes’ Krebserkrankung an anderen Stellen wiederkommen könnte. Auch Annett ersieht Johannes’ Zukunftssorgen zunächst nicht als sein vorrangiges Leiden. Aber sie nimmt zunehmend wahr, wie wichtig diese Perspektive für Johannes selbst ist. Mit fortschreitender Zeit merkt Annett, dass diese Aufgabe sie selbst stark belastet und viel Kraft kostet. Zum einen kommt ihre eigene schmerzliche Erfahrung mit dem Tod ihres Patenonkels zum Tragen, der einige Jahre zuvor infolge seiner Krebskrankheit gestorben ist; zum anderen ist auch die Sorge um den ihr ans Herz gewachsenen Schüler maßgeblich. Sie hat »Angst, den anderen Kindern sagen zu müssen, dass er gestorben ist.« In der Schule fühlt sie sich zumindest gut aufgehoben, da der Schulleiter mit ihr solidarisch ist und ihr den Rücken stärkt. Eines Tages ist sie aus anderen Gründen zu einem Gespräch bei ihm im Sprechzimmer. Plötzlich bricht auch sie in Tränen aus und stammelt: »Ich kann nicht mehr!« Der Schulleiter zeigt viel Verständnis, bittet sie, sich erst einmal zu ihr zu setzen, und tröstet sie, dass diese Gefühle zu dem Begleitprozess natürlicherweise dazugehören. Annett erzählt mir von diesen Situationen hinterher in einem Telefonat und kommt bei verschiedenen Treffen von selbst immer wieder darauf zu sprechen. Ich merke, dass sie in manchen Situationen Gefühle der Hilflosigkeit spürt, den Eindruck hat, an ihre eigenen Grenzen zu stoßen und nicht mehr weiß, wie sie sich verhalten soll.
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2.2.1.2 Dichte Beschreibung 2: Das Miteinander in Johannes’ Klasse Ich versuche so oft wie möglich am Unterricht teilzunehmen, um des Kontakts zwischen Annett, Johannes und der Lerngruppe gewahr zu werden. Während dieser Zeit sprechen Annett und ich häufig über die pädagogische und religionspädagogische Situation. Manchmal ruft sie mich an und spricht mit mir über ihre Gefühle des Leidens, der Machtlosigkeit, Traurigkeit und Lähmung. Einmal beschreibt mir Annett ihre Rolle als Kontaktperson während dieser Zeit: »Wie ein Bote berichte ich Johannes von der Schule und dem Klassenalltag und überreiche Grußkarten von ihm an unsere Klasse. Oft fühlt er sich unter Druck gesetzt. Manchmal ist er überlastet, beschwert sich: ›Ich halte es nicht mehr länger aus!‹ Wenn er unter derartiger Anspannung steht, versuche ich ihn zu ermutigen und seine hohen Erwartungen auszugleichen. Und natürlich habe ich auch seine Klassenkameraden animiert, Johannes zu helfen, mit uns in Kontakt zu bleiben, obwohl die meisten von ihnen nicht besonders interessiert daran waren, mit ihm befreundet zu sein. Z. B. hilft ihm aber inzwischen Careen, Englisch zu lernen; viele andere Schüler besuchen ihn in unregelmäßigen Abständen, alleine oder in Gruppen. Sie schicken Grüße und kümmern sich um Johannes. Ich bin froh: Nach und nach scheinen sich ihre Beziehungen zu Johannes zu verändern, sie respektieren ihn. Und die Stimmung in der Klasse wandelt sich auch: Sie gehen aufmerksamer miteinander um.« 2.2.1.3 Dichte Beschreibung 3: Meine eigene Begegnung mit Johannes im Religionsunterricht Im neuen Schuljahr – mittlerweile ist Johannes’ Klasse im 10. Schuljahr, Annett bleibt sowohl Klassen- als auch Religionslehrerin – finden die Religionsstunden mit dem Abschluss der Unterrichtseinheit zu Hiob statt. In einer dieser Stunden, in denen ich dabei bin, ist Johannes nach seiner Krankheit wieder zurück in der Schule. Es ist ein spannender Moment für mich – er war die ganzen Wochen, in denen ich die Klasse begleitet habe, zugleich abwesend wie anwesend. Als ich Johannes zum ersten Mal persönlich erlebe, habe ich schon viel über seine Krankengeschichte und seine Situation in der Klasse gehört, und zwar ausschließlich von der Klassenlehrerin; die MitschülerInnen haben ihn in den Stunden, in denen ich dort war, nicht erwähnt. Am Anfang besonders, aber auch im Laufe der Zeit frage ich mich immer wieder, inwieweit Johannes’ Krankheit tabu ist. Je länger ich selbst in der
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Gruppe hospitiere, desto eher bekomme ich auch hier »nebenbei« mit, dass die MitschülerInnen von selbst und durch Unterstützung von Annett Johannes zu Hause besuchen, ihn mit Hausaufgaben versorgen und sich um ihn kümmern. Nun sitzt er in dieser Montagmorgenrunde plötzlich rechts neben mir, den Oberkörper nach vorn übergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt. Seine Erscheinung wirkt trotz seines leichten Übergewichts schmal. Er ist ein wenig schüchtern und einsilbig. »Hallo«, sage ich freundlich zu ihm und lege intuitiv ganz kurz die Hand auf seine Schulter und spreche ihn an. In der Stunde beteiligt sich Johannes kaum, hört aber aufmerksam zu. 2.2.1.4 Dichte Beschreibung 4: Johannes’ Reflexionen zum Thema »Hiob – eine Leidensgestalt« In der letzten Religionsstunde der Unterrichtseinheit, in der ich nicht dabei sein kann, werden schließlich Reflexionsaufgaben individuell schriftlich bearbeitet. Die SchülerInnen beleuchten auf einem abschließenden Arbeitsblatt die eigenen Positionierungen und Stellungnahmen zu der Gestalt des Hiob. Die Impulse setzen an bei der Unterscheidung des Falls Hiob und des Hiobproblems365 und zielen zunächst thetisch auf eine Positionierung, die sich an den darauf folgenden beiden Impulsen nach der Beziehungsebene und der Rolle der Tradition konkretisiert. Dabei wird als möglicher zu verwendender Hinweis gegeben, dass Hiob in der Bibel nicht der einzige Leidende ist. Jesus leidet ebenfalls: Er wird verraten, verurteilt, verspottet und gekreuzigt – und am Ende folgt die Auferstehung Jesu Christi. Als Differenzierungsmoment für ein erhöhtes Anforderungsniveau gibt Annett den Impuls zu überlegen, inwiefern diese zweite Geschichte aus dem Neuen Testament den Umgang mit Leiden verändert. Über den Hausunterricht hatte Johannes einiges von der Hiobgeschichte mitbekommen. Annett erzählt mir : »In der Reflexionsstunde war Johannes aufmerksam dabei und hat ganz bereitwillig das Arbeitsblatt zur Reflexion der Hiobgestalt, auf dem er seine eigene Situation mit reflektiert; aber er hat kein Wort dabei gesprochen.« Inhaltlich antwortet Johannes auf die Frage nach der Positionierung, ob Leiden einen Sinn habe, dass nicht immer nur Gutes passieren könne, sondern auch ab zu Schlechtes passieren müsse. Es seien Freunde, Verwandte, Familie und andere Menschen, die ihm dabei Hilfe und Antwort geben – auch Gott. Bei der Frage, welche 365 Vgl. Ebach: Streiten mit Gott I, 161.
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Rolle die Hioberzählung dabei spiele, geht Johannes biografisch vor. »Er erzählt, dass ihm selber Leid passiert ist, als er Krebs bekommen hat, und vergleicht sich ein bisschen mit Hiob. Denn dem ging es vorher auch gut, bevor er leiden musste.« Johannes habe seine Freiheiten vermisst, die er mit den Freizeitaktivitäten verloren hatte, weil sein Alltag plötzlich von außen einen regelmäßigen Ablauf bekam. Spannend findet sie sein Resümee: Hier greift er seine Erfahrung auf, dass alles Gute sich von einem Tag ins Böse ändern kann. »Es kommt fast so was wie Dankbarkeit durch, dass ihm auf dem Weg der Heilung auch sehr viel Gutes passiert ist und dass Menschen da waren, die ihm geholfen und ihn aufgebaut haben. Die haben ihm gezeigt, niemals aufzugeben, egal, wie schlimm es aussieht. Wie so ein theologisches Fazit klingt sein Schluss, dass in jedem Bösen immer etwas Gutes steckt, weil nur beide zusammen existieren könnten. Ganz schön fand ich, dass Johannes immer an jemanden gedacht hat, den er gut kannte. Hier wird dann auch wieder Gott erwähnt. Er fragt sich natürlich am meisten, warum ausgerechnet er Krebs bekommen hat und nicht jemand anderes. Letztendlich glaubt er, dass es so ist wie es ist und nimmt es als Schicksal hin. Auf den Bezug zu Jesus und Passion geht er nicht ein.« 2.2.1.5 Dichte Beschreibung 5: Praktikumsgespräch zwischen Annett und Johannes Eines Abends berichtet mir Annett von den Aufgaben der Schüler/innen für die kommende Woche. Ihre 10. Klasse muss ein zweiwöchiges Berufspraktikum absolvieren. Johannes hat sich entschieden, sein Praktikum in einem klinischen Labor zu absolvieren. Während der Therapie hat er einen Arzt angesprochen, der ihm einen Praktikumsplatz als Biologielaborant verschafft hat. Ich lausche Annetts Bericht über seinen Plan und bin ebenso überrascht wie sie. Mich macht diese Situation neugierig. Annett erzählt mir, dass sie nicht allzu viel über seine Motivationen und Interessen weiß, weil Johannes kaum über seine Gefühle und Beweggründe spricht. Sie bemerkt manchmal Johannes’ Angst und Wut, aber in ihnen scheinen sich diese nicht widerzuspiegeln. Wir stellen Vermutungen an: Ist er an Lebenswissenschaften interessiert? Inwieweit hat seine Krankheit mit dieser Entscheidung zu tun? Annett erzählt mir von dem Praktikumsgespräch. Sie begann das Gespräch mit der Bitte, Johannes möge ihr etwas über seine tägliche Arbeit im
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Labor berichten. Nach anfänglichem Zögern sei er Schritt für Schritt aufgetaut und lockerer in das Erzählen hineingekommen. Die Arbeit im Labor beginnt um 9.00 Uhr morgens. Johannes sei stolz darauf, an diesem Morgen der erste gewesen zu sein. »Die anderen waren nicht so früh da wie ich!« Er hat Einblicke in Projekte bekommen, viele Arbeitsprozesse wie das Pipettieren beobachtet und ist angeleitet worden, auch medizinische Fachbegriffe in einem Wörterbuch nachzuschlagen. Seine Erzählung hat Begeisterung für diese Arbeit transportiert. Annett hat Johannes dann gebeten, seine Motivation für den Laborjob zu benennen. »Darauf hat er nur kurz und fast beiläufig geantwortet: ›In meinem Fall ist das ja leicht zu erraten.‹ Das ist alles.« Annett schildert, dass ihre vorsichtigen Versuche, Johannes zur Reflexion zu bringen, keine weiteren Äußerungen hervorgerufen haben. Dann fällt ihr ein: »Und übrigens, zwischendurch ist Johannes eingefallen, dass er zufällig den Patienten getroffen hat, mit dem er sich im Krankenhaus das Zimmer geteilt hat. Von ihm hat er erzählt, dass er auch ›fertig‹ ist.« Für einen kurzen Moment grüble ich über das Wort ›fertig‹ nach, dann begreife ich: Johannes berichtet, dass der andere krebskranke Junge, der mit ihm das Patientenzimmer teilte, auch seine Krankheit überstanden hat. Er scheint wieder genesen zu sein. Sie blickt auf die Johannes’ Krankheitsphase zurück und : »Ja, wir haben uns Schritt für Schritt in unserer gemeinsamen Zeit des Lernens in solch einer komplizierten Situation mit entwickelt.« Sie hält einen Augenblick inne und blickt dann auf Situationen mit Johannes zurück. »Manchmal habe ich ihn besucht, und dann hat er nach einer kurzen Weile gesagt: ›Oh Frau D., Sie haben doch sicher was anderes zu tun, als hier zu sein!‹ Worauf ich antwortete: ›Nein, ich bin hier bei dir. Wie fühlst du dich, können wir mit Englisch ein kleines Stück weitermachen?‹ Oft hat er geseufzt: ›Na gut, wenn es wirklich nötig ist…‹ Trotzdem gab es immer wieder Momente, in denen Lernen und Unterrichten einfach nicht möglich waren. Einmal, da fing Johannes ganz heftig zu weinen. Er war von dem ganzen Leid und seinen Fragen richtig überwältigt. Das war … wirklich sehr schwer.« Annett ist gleichzeitig angestrengt und besinnlich. Und nach einer zweiten Pause atmet sie tief ein und resümiert: »Ich glaube, Johannes muss ganz viele Aspekte des Lebens und auch Unterrichtsstoff nachholen. Auf der anderen Seite ist er so viel reifer als viele andere Jungen und Mädchen seines Alters … Während meiner ersten Zeit als Klassenlehrerin, als meine Schüler etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt waren, haben sie oft über Johannes gelacht. Nachdem Johannes seine Diagnose erhalten hatte, sagte er zu mir : ›Wenn ich das überlebe, dann
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lacht keiner mehr über mich‹. In gewisser Weise ist das wahr. Die Schüler meiner Klasse haben durch diese Situation so viel gelernt: sie sorgen sich um ihn, achten auf ihn, bringen ihm die Hausaufgaben, nehmen ihn ernst. Eigentlich verhalten sie sich jetzt auf sozialere Art und Weise.« Sie lächelt und fügt hinzu: »Johannes ist in gewisser Weise anders als die anderen. Er ist etwas Besonderes…« 2.2.1.6 Dichte Beschreibung 6: Johannes’ Äußerungen in Religionsstunden Einige Wochen später berichtet mir Annett in einem Telefongespräch von Johannes’ Einwurf in ihrem Religionsunterricht. »Unsere Stunde handelte von Schuld und Vergebung im sozialen und politischen Kontext. Plötzlich sagte Johannes: ›Immer, wenn ich zu den Ärzten muss, erinnere ich mich an Hiob. Ist nicht Gott für mein Schicksal verantwortlich?‹ Ist das nicht unglaublich? Mir fehlten schlicht die Worte.« Ich höre dieser erzählten Unterbrechung zu und bleibe selbst auch für einen langen Moment still. In einer sozialgeschichtlich motivierten Stunde zur szenischen Interpretation der Geschichte von der Heilung der gekrümmten Frau (Lk 13) nimmt Johannes eine Beobachterposition ein. Am Ende äußert er sich als Beobachter zu der Menge, welche die gekrümmte Frau ausgegrenzt hatte: »Nehmt sie so, wie sie ist!« Von dieser Haltung ist Annett beeindruckt.
2.2.2 Feldbeschreibung: Religionsunterricht einer 9./10. Klasse Mit den Augen der Feldtheorie stellt simplerweise selbst in einem vermeintlich objektiv-neutralen Setting jegliche Irritation durch die Tatsache, dass geforscht wird, eine Veränderung des Feldes dar. Im Feld der Schule empirisch zu erkunden, hat Auswirkungen auf den Ort und die Situation, in der diese Forschung mit der Wirklichkeit in Kontakt kommt. Von daher bemühe ich mich in dieser Fallstudie um eine möglichst hohe Transparenz der Forschungsrealität, wie meine Beziehung, meine Aktionen und mein Interesse am Projekt jeweils verortet sind.366 Das gilt jedoch nicht in gleichem Maße für das Beziehungsgeflecht am Forschungsort Schule.
366 Sozialwissenschaften bemühen sich um Ergänzungen durch sogenannte nonreaktive Methoden; gemeint sind »Datenerhebungsmethoden, die keinerlei Einfluss auf die untersuchten Personen, Ereignisse oder Prozesse ausüben, weil a) die Datenerhebung nicht bemerkt wird oder b) nur Verhaltensspuren betrachtet werden« (Bortz / Döring: For-
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Mit der Schule und Lehrkräften in Kontakt zu kommen, ist für mich nicht allzu schwierig, da ich selbst Lehrerin war und daher auch von einer schulischen Binnenperspektive als professionell tätige Frau anerkannt werde. Jedoch Zugang zu konkreten Unterrichtsstunden zu erhalten, um Forschung zu betreiben, ist nach wie vor prekär. LehrerInnen achten auf individuelle Lerngruppenprozesse und auf eine gewisse Intimität im Unterricht. Da die Kultur, einander zu hospitieren und Feedback zu geben, noch nicht sehr weit etabliert ist und im zunehmend gedrängten Alltagsgeschehen von Schule kaum Raum dafür da ist, bestehen diesbezüglich zuweilen auch Zurückhaltungen oder gar Ängste, durch das Auffinden von Mangelzuständen und blinden Flecken beschämt zu werden. Eine mir bekannte Kollegin hat ihr professionelles Handlungsfeld für meine Erkundungen geöffnet. Annett D. ist die Klassenlehrerin und zugleich die Religionslehrerin einer 9. und später 10. Klasse in einer Oberschule. Wir verabreden, dass ich im Religionsunterricht ihrer Klasse hospitiere und gelegentlich auch im Teamteaching in der Unterrichtseinheit »Hiob – eine Leidensgestalt« mit unterrichte. Sie macht ihre Ziele deutlich und bezieht mich in ihre Unterrichtsplanung mit ein. Im Rahmen dieser Unterrichtseinheit planen wir die Inszenierung einer biblischen Schlüsselszene auf der Bühne; im Zuge des Unterrichts kommen die SchülerInnen selbst auf den Gedanken, ein Video des Szenischen Spiels zu erstellen. Während wir beginnen, die Szene zu planen, erzählt mir Annett von Johannes, einem Jungen in der Klasse, der Krebs bekommen hat. Einige Tage nach den Sommerferien haben Ärzte bei ihm eine Form von Krebs diagnostiziert. Dieser Teil der Realität wird ihr und mir als Widerfahrnis bewusst und in gewisser Weise bleibt er auch die ganze Zeit während des Hiobprojekts präsent. Annett lässt mir im Unterricht die Freiheit, mitzumachen oder phänomenologisch zu beobachten. Für einige Momente bin ich am Unterricht als Unterrichtende aktiv beteiligt, aber die meiste Zeit beobachte ich. Ich gewinne nach und nach einen näheren Kontakt zur Klasse und oszilliere zwischen teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme hin und her. Annett und ich sprechen oft über einzelne SchülerInnen, die Situation in der Klasse und Geschehnisse während der Schulzeit. Nach und nach wird mir die Tatsache deutlich klarer, dass Johannes ein vollständig anderes Leben führt als seine MitschülerInnen. Etwas an dieser Klasse war von Anfang an nicht selbstverständlich bzw. »normal«367: Weil Johannes eine leichte Gehbehinderung hat, stellen sich Lehrkräfte und MitschülerInnen darauf ein. Aufgrund der Krebsdiagnose muss Johannes plötzlich in einem Krankenhaus oder zu Hause bleiben, was über die schungsmethoden und Evaluation, 30). Dennoch zählt die Einsicht in die Relativität dieser Möglichkeiten. 367 Zur Hinterfragung von Normalität siehe Kap. 1.2.
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lange Zeit eines fast ganzen Schuljahres dauert. Er erhält eine Chemotherapie und muss sich später einer Operation unterziehen. Der Direktor der Schule unterstützt die Eltern, Hausunterricht zu beantragen. Er bittet Annett um individuelle Stunden für Johannes. Sie ist sehr besorgt um Johannes’ Situation und stimmt dem Hausunterricht in einzelnen Fächern zu. Für fast ein Jahr lang geht sie nun zu ihrem Schüler ins Haus. Sie pflegt auch intensiven Kontakt zu den Eltern und der Schwester, die sich vollständig um Johannes’ Leben kümmern. Je nach aktueller Energie und Gesundheitsstatus entscheidet Johannes gemeinsam mit seiner Lehrerin und seinen Eltern, wie viel Zeit zum Lernen adäquat ist. Oft wird eine Unterrichtsstunde von einem auf den anderen Tag gestrichen, weil es Johannes schlechter geht oder er sogar im Krankenhaus bleiben muss.
2.2.3 Das Verhältnis von Religionsunterricht und Schule als Forschungsfeld professionellen Handelns Die Bestimmung des Feldes erschließt das Vorverständnis des Kontextes, in welchem mit dem Forschungsinteresse auch der Fall verankert ist. Feldforschung ist letztlich das sozialwissenschaftliche topologische Verfahren, das Kulturen und Gruppen nicht in künstlichen Settings, sondern in dem natürlichen belebten Lebensraum erkundet.368 Handlungsforschung hingegen beansprucht gesellschaftliche Veränderung. Zurückgehend auf den Feldbegriff gilt hier : Das betreffende Feld meint insofern nicht nur das institutionelle professionelle Handlungsfeld, sondern umfasst die tatsächlichen, auch systematisch zu überlegenden »lebensweltlichen, institutionellen, kommunikativen und situativen Bedingungen der beteiligten Handlungsräume«.369 Gefragt sind Vorprägungen hinsichtlich Raum, Zeit, Sprache und Interaktionen in vorfindlichen Verhältnisbestimmungen; dabei spielen Routinen, Bezugnahmen zu andern Bereichen sowie Erwartungen und natürlich auch explizite wie implizite normative (Voraus-)Setzungen eine Rolle. Schule ist ein Handlungsfeld des Bildungsbereiches und ist damit auch eingebettet in Strukturen von Sozialisation, Erziehung und vor allem schulische Bildung. Damit sind Interessen und Ziele verbunden, die nicht nur empirisch, sondern bereits im Vorfeld normativ verankert sind – bezüglich institutioneller Bedingungen, individueller Prämissen des professionellen Handelns und auch des Forschens selbst. Der Religionsunterricht ist in Deutschland in der Regel und auch in meinem Fall schulisch verortet, bewegt sich jedoch im institutio368 Ursprünglich von Malinowski, dann adaptiert von der Chicagoer Schule. 369 Vgl. Heimbrock / Leonhard / Meyer / Plagentz: Manual: Organisation der Fallstudie als Forschungsprozess, 346.
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nellen Rahmen zwischen Staat und Kirche, aufgrund des föderalen Systems zwischen den Kultusbedingungen der Länder und der Kirchen, damit auch zwischen konkreten Schulen und Organisationsformen von Kirche wie Gemeinden. Darum gilt es auch, diese Konkretion des Ineinanders im Kontext der Lebenswelt genauer zu beschreiben. Die Oberschule, an welcher Annett D. unterrichtet, liegt in einem recht zentralen, dicht besiedelten Stadtteil einer mittelgroßen deutschen Stadt. Dessen Sozialstruktur zeichnet sich durch eine mittlere bis hohe Einwohnerdichte, eine niedrige Arbeitslosenquote, einen tendenziell niedrigen Anteil an Bürgern mit Migrationshintergrund und hohe Zufriedenheit mit der Wohn- und Lebensqualität aus. Das Milieu der Familien ist eher heterogen. Annett D. berichtet öfter, dass der Kontakt zu den Eltern und die Kooperationsbereitschaft der Eltern mit der Schule intensiver ausfallen könnten. Zum didaktischen Schulprofil gehören u. a. eine Morgenkreisrunde am Montagmorgen, die Ausprägung musisch-kultureller Bildung und ein deutlicher Bezug zu Berufsvorbereitung. Im Interesse einer angstfreien, erfolgreichen und sozialen Lernatmosphäre wird das persönliche und kooperativ-soziale Miteinander auf den Ebenen des Lernens und Lehrens, im Miteinander der Schulgemeinschaft sowie im Kollegium großgeschrieben. Dazu passend ist die Pflege von Fest- und Feierkultur ein festes Prinzip. Zu ihnen gehören auch rituell begleitende Einschulungs- und Abschiedsgottesdienste, die vor allem von den Religionskolleginnen, z. T. auch in Kooperation mit den PfarrerInnen der Nachbargemeinde, getragen werden. Der Schulleiter, ein umsichtiger und bei SchülerInnen wie im Kollegium beliebter Rektor, stützt auch die lebensweltliche Verankerung des Faches Religion. Die Lerngruppe, welche Annett D. als Klassen- wie auch als Religionslehrerin unterrichtet, kennt sie im Turnus der Klassenlehrerschaft bereits vier Jahre. Durch den hohen Stundenanteil in der Klasse, gemeinsame Klassenfahrten, Projekten und Aktionen hat sich ein sehr vertrautes Verhältnis zwischen den Personen entwickelt. Während die Leistungsniveaus der Jungen und Mädchen in der Klasse sehr unterschiedlich sind, sind zugleich doch einige intensiv von der Frage betroffen, wie es im Anschluss an das 10. Schuljahr weitergehen kann und wird. Berufsfindungsfragen stehen auch schulisch auf dem Programm: Geplant ist eine zweiwöchige Praktikumsphase, die auch vom Jobcenter begleitet und von der Klassenlehrerin durch Besuche betreut wird, da sich aus den Praktikumsphasen wichtige Entscheidungen für Ausbildungswege ableiten lassen. Die Stellung des Religionsunterrichts an der Schule ist zur Zeit meiner Forschung nicht herausragend, er lässt sich vielmehr als ›eingebettet‹ in den Gesamtkontext der Schule skizzieren. Wie die Praxis häufig zeigt, hängt die Stellung und Bedeutung des Religionsunterrichts an der konkreten Schule sehr von der Einschätzung und Bewertung des Schulleiters ab, inwiefern Religion ein
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besonderes Fach ist, dem Raum und besondere Aufgaben beigemesssen werden, ob die Lehrkräfte wirklich für den Religionsunterricht eingesetzt werden oder ob das Fach zugunsten anderer, die im Rahmen des Schulprofils als wichtiger ersehen werden, letztlich zum Opfer fällt. Im Umfeld und im Land Niedersachsen, in dem sich die Schule befindet, wird Religionsunterricht regulär in konfessioneller Form konzipiert, dank guter Kooperationsvereinbarungen mit der Katholischen Kirche wird die Möglichkeit eines konfessionell-kooperativen Unterrichts häufig genutzt. De facto findet an vielen Schulen, an denen die Zahl der MigrantInnen und damit verbunden auch der SchülerInnen anderer Religionen oder Konfessionslosen unter der Schülerpopulation höher ist, der Religionsunterricht als von der Lehrkraft perspektivierter evangelischer Unterricht in der Einladung an alle im Klassenverband statt – so auch an dieser Schule.370
2.2.4 Das Forschungsgegenüber: Eine Religionslehrerin Als Religionslehrerin in Niedersachsen hat mein Forschungsgegenüber wie die meisten in Schule tätigen Religionslehrkräfte371 eine zweiphasige Ausbildungszeit in Universität und Studienseminar durchlaufen und nimmt an Formen der LehrerInnenfortbildung interessiert teil.372 Wie viele Religionslehrerinnen, so hat sie ein besonders intensives Verhältnis zu diesem Fach, in dessen Unterricht für sie SchülerInnenorientierung eine besondere Rolle spielt. Im Verhältnis zu den KollegInnen und Eltern setzt sie sich für die Wertigkeit des Religionsunterrichts mit Engagement ein. In ihrer Doppelrolle als Klassenlehrerin und Fachlehrerin im Religionsunterricht sieht sie eine Intensivierung der Schülerorientierung. Dank ihres zweiten Unterrichtsfaches Deutsch, das sie ebenfalls in ihrer Lerngruppe unterrichtet, bringt sie eine Affinität zu darstellerischen und performativen Szenarien, Ansätzen und Methoden mit. Aufgrund ihrer Liebe zu Flora und Fauna ebenso wie zu Literatur und Film hat sie ein gutes leibliches und ästhetisches Gespür. Für die Klassen hat sie bereits einmal einen mehrtägigen Filmworkshop 370 Es handelt sich hier keinesfalls um »RU für alle«: Das Modell des Landes bietet Raum für einen weiten konfessionellen Religionsunterricht; in diesem Fall handelt es sich um eine Einladung der Lehrerin an die gesamte Klasse, an ihrem evangelischen Religionsunterricht teilzunehmen, der alle gefolgt sind – insofern besteht eine ökumenische Weite, da die Lehrerin in evanglisch-christlicher Perspektive unterrichtet. 371 Im Bereich der niedersächsischen Grundschulen ist der Anteil der fachlich interessierten, aber fachfremd unterrichtenden Religionslehrkräfte sehr hoch. 372 Die Fortbildungsbereitschaft und die Fortbildungsmöglichkeiten sind in Niedersachsen für die Religionsfächer sehr hoch – nicht zuletzt haben die Kirchen den Rückgang der staatlichen LehrerInnenfortbildung in vielen Bereichen kompensiert und ein breites Fortbildungsangebot bewahrt oder gar ausgebaut.
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organisiert, welcher den Klassenzusammenhalt deutlich gestärkt und die Lust auf präsentative Unterrichtsphasen und darstellende, anschauliche Unterrichtswege gefördert hatte. In ihrem Religionsunterricht verknüpft sie biblische Topoi mit ethischen Themen und ästhetischen Zugängen. Weitere berufsbiografische Elemente, die für die Analyse ergiebig sind, zeigen sich im Verlauf der Fallstudie. Für die explorative Fallstudie stellt sie mit ihrer berufsbiografsischen Praxis im Feld Schule eine empirische Gestalt dar, an der die Profession ReligionslehrerIn exemplarisch konkretisiert, deskribiert und reflektiert wird. Im Blick auf die Aufgabe der Präzision religionspädagogischer Professionalität ermöglicht die Fokussierung auf sie ein sinnvolles Erkundungsverhältnis von situationsgebundener Empirie und Theorie auf der Suche nach Wahrheit.
2.2.5 Zur Forscherin: Berufsbiografie, Rolle, Haltung und Aufgabe Für diese Fallstudie ist eine »teilnahme- und verständnisorientierte qualitative Forschung« wichtig.373 Einen entscheidenden Faktor bildet die partizipatorische Rolle und Haltung der Forscherin. Als ausgebildete Lehrerin habe ich drei Ausbildungsphasen durchlaufen: das Studium an der Universität, das Referendariat am Studienseminar und verschiedene Formen der Fort- und Weiterbildung. Aufgrund meiner berufsbiografischen Wege zwischen Theorie und Praxis würde ich mich für die Arbeit an dieser Studie als eine Grenzgängerin zwischen »theoriegeleiteter Praktikerin« und »auf Praxis hin orientierte Theoretikerin« bezeichnen374 : Im Rahmen unterschiedlicher Stellenkonstruktionen habe ich teils wechselnd, über lange Zeit auch gleichzeitig an der Schule als Lehrerin und der Universität als religionspädagogische Forscherin und Dozentin in verschiedenen Positionen gearbeitet. Begleitend war ich die ganze Zeit in unterschiedlichen Phasen der Lehrerausbildung tätig. Während der Zeit dieses Projekts war ich teilweise im Schuldienst, teilweise als Wissenschaftliche Mitarbeterin an der Goethe-Universität Frankfurt beschäftigt und bin derzeit als Rektorin eines Religionspädagogischen Instituts in der kirchlich initiierten religionspädagogischen Bildungsarbeit tätig. Ich habe geforscht, darüber hinaus hauptsächlich auf dem Gebiet der Religionspädagogik Lehrveranstaltungen und für unterschiedliche Bildungsphasen Lehr- und Bildungsveranstaltungen gehalten. Dazu gehört auch die Betreuung von fachdi373 Vgl. Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen. 374 Bei Bakker/Heimbrock: Religion Education Teachers: Reflective Practitioners and Researchers legen ebenso wie das Konzept von Petra Freudenberger-Lötz Wert auf die Kooperation (vgl. Freudenberger-Lötz: Theologische Gespräche mit Kindern). In diesem Fall handelt es sich um eine Unterscheidung von Rollen in meiner Person.
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daktischen und allgemeinpädagogischen Schulpraktika, die zur akademischen Ausbildung der Studierenden als Verbindung zwischen Theorie und Praxis zählen.375 Als Forscherin besteht mein Hauptinteresse darin, die Rolle lebensweltlicher Kontingenzerfahrung für religionspädagogische Professionalität zu erkunden. Als Dozentin liegt mir diesbezüglich viel daran, Studierende und (insbesondere angehende) Lehrkräfte für diese Seite des Religionslehrberufes zu sensibilisieren und mit ihnen eine Haltung zum Umgang mit lebensweltlichen Unverfügbarkeitserfahrung zu erarbeiten. In meinen Arbeitszusammenhängen spüre ich meine eigene Aufmerksamkeit für damit in Verbindung stehende Momente, Themen und Interaktionen – geplant und spontan. Mein eigener normativer Rahmen ist aus dem engen Kontakt mit humanistischer Pädagogik und der Hauptbeschäftigung mit ihren Werten einer aufmerksamen und respektvollen Haltung den anderen und sich selbst gegenüber erwachsen. Fort- und Weiterbildungen mit Elementen der Supervision, der Themenzentrierten Interaktion376 und der Gestaltpädagogik377 haben meine intra- wie intersubjektive Haltung gestärkt, indem ich mich auf Begegnungsprozesse zu konzentrieren suche, auch wenn die verbale Sprache versagt. Ich bin ausgebildet in Focusing378, einer körperorientierten Methode der Wahrnehmung, die dazu verhilft »gefühlten Sinn« bzw. »sinnenhaftes Gefühl« für ein Thema oder Problem o. ä. zu entwickeln und zu erschließen. Dank der Arbeit mit Theaterelementen und performativen religionsdidaktischen Prozessen versuche ich in praktischen Bildungsprozessen und pädagogischen Situationen meine körperliche Bewusstheit, Intersubjektivität und Sichtbarkeit unterschiedlicher Perspektiven zu fördern. Intensive Erfahrungen in der Beratung von und in Gesprächen mit SchülerInnen, angehenden wie erfahrenen LehrerInnen, aber auch in anderen biografischen Situationen fordern mich heraus und ermutigen mich dazu, Körper, Geist und Situation auszubalancieren. Meine Wahrnehmungshaltung wird durch ein Langzeitprojekt mit Schul- und Unterrichtsbesuchen in phänomenologisch orientierten Schulexkursionen gestützt. Überdies bemühe ich mich um die Perspektivenübernahme der je anderen Seite und versuche durchweg auch explizit meine Kompetenzen dazu einzusetzen, den anderen als einen wirklich anderen Anderen zu respektieren; allerdings garantiert mir dieses Bemühen nicht, alles und auch nicht immer das Wichtigste wahrzunehmen. Ich verstehe professionelles Unterrichten als einen pädagogischen Weg, der zu kulturellem Verhalten gegenüber Erfahrungen des Unverfügbaren beiträgt. 375 Obwohl Forschung und Praktikumsbetreuung unterschiedliche Schwerpunkte haben, sind sie doch miteinander verbunden. 376 Vgl. Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. 377 Vgl. Bürmann: Gestaltpädagogik und Persönlichkeitsentwicklung. 378 Vgl. Gendlin: Focusing; Leonhard: Leiblich lernen und Lehren.
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Mein spezielles biografisches Interesse ist, Raum für die Kommunikation von Unsagbarem zu schaffen und Menschen dabei zu helfen, ihren Lebensweg, im Kontext von Religion, Kultur und Lebenskunst zu finden. Biografische Geschehnisse beeinflussen die Art und Weise des Verhaltens von Adressaten und Akteuren sozialer Handlungen, aber auch die Einstellung einer empirischphänomenologischen Forscherin. Mein Interesse wird von einer Affinität zu Phänomenen genährt, die die Normalität des Lebens unter- und durchbrechen. In jeglicher Beziehung – als Frau, Familienmitglied, Ehefrau eines klinisch wie forschend tätigen Mediziners, als Forscherin, als Arbeitskollegin, als Lehrerin und Religionserzieherin, als Dozentin und Institutsleiterin, als Gesellschaftsund Kirchenmitglied, als evangelische Christin und als Bürgerin in einem demokratischen Land – habe ich mich immer schon zu Fragen hingezogen gefühlt, die sich mit Krankheit und schmerzvollen Widerfahrnissen als Erfahrungen menschlicher Verletzlichkeit befassen. Als Teil des Alltags und meiner Arbeitszusammenhänge berühren sie existentielle Dimensionen im ambivalenten Kontext von Leiden und Heilung, Passivität und Aktivität, Tod und Leben. Hierin liegt eine enge Vernetzung zwischen vorfindlichen biografischen Verwobenheiten, der Gegebenheit des Lebens und beruflichen Interessen. In meinem Fall ist es wichtig, die Rolle als Forscherin von außen partiell innezuhaben und das Praxisfeld zu verlassen, um genügend Distanz und Blickschärfung betreiben zu können. Hier begebe ich mich als Forscherin in ein Feld, in dem ich selbst professionell tätig gewesen bin – diese Voreinstellungen und Vorurteile als Religionslehrerin, aber ebenso meine aus der Erfahrung in dem professionellen Praxisfeld erwachsenden Verstehenshorizonte und Achtsamkeiten gilt es während des gesamten Forschungsprozesses zu reflektieren. Geboten ist das Bemühen um einen wertschätzenden, verantworteten Umgang mit den Menschen; d. h. ich versuche, die Beforschten nicht als Objekte zu betrachten, sondern auf ihren Anspruch als fremdes Gegenüber einzugehen.379 Diese Form der partizipativen Forschung ermöglicht ein genaueres Hinsehen auch auf die Elemente, die unter anderen stärker messungsorientierten Ausrichtungen möglicherweise verborgen bleiben, und erfordert eine hohe Reflexivität in Bezug auf deren Methodik. Zum einen begegne ich in einer Weise der Wirklichkeit meines Falles, die mit den Mitteln freischwebender Aufmerksamkeit eine methodische Absichtslosigkeit und Akzeptanz durch eine Haltung der Offenheit zulässt. Dabei begebe ich mich mit der Aufmerksamkeit meiner Wahrnehmung in eine möglichst offene Begegnungshaltung. In ihr werden für mich Elemente und Dimensionen von menschlichen, existenziellen, sozialen, religiösen Erfahrungen wichtig, die ich als Spuren gelebter Religion in der Le379 Vgl. Waldenfels: Grundzüge einer Phänomenologie des Fremden; Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen; van Manen: Researching lived experience.
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benswelt begreife. Diese werden mit theoretischen Elementen genauer analysiert. Ich nehme dafür eine Relativierung der Forscherperspektive in Kauf. Forscherin, Forschungshaltung und Forschungsgegenüber sind also in einen Forschungsprrozess verwoben. Hier lässt sich das interaktionale Miteinander so zeichnen: eine Forscherin, die z. T. auch als Lehrerin agiert – eine Lehrerin, die ein Forschungsgegenüber wird, mit dem im Laufe des Forschungsprozesses immer mal wieder auf der Suche nach einem dialektischen Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit Rückkoppelungen wichtig werden. Grenzen gegenüber klassischen Settings von Action Research bestehen darin, dass es sich im Rahmen eines Habilitationsprojektes zu einem guten Teil um grundlagentheoretische Auseinandersetzung handelt, in welche das Forschungsgegenüber nur zum Teil überhaupt Einblick hat und gewinnen könnte. Insofern ist die Partnerschaftlichkeit des gemeinsamen Forschungsanteils in der Tat vornehmlich auf Praxisverstehenskontexte ausgerichtet – hier teilen wir den Horizont der Theorieebenen, die z. B. auch für Ausbildungszusammenhänge und eine praktische professionelle Reflexivität von Religionslehrkräften wichtig sind.
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Zwischen Methode und Erkenntnis: Empirisch-theologische Professionsforschung
Im Interesse einer auf Gegenstandsbezogenheit und Verständnis hin geleiteten Fallforschung sind einige methodologische Linien und in dem Zusammenhang kontextuelle Verortungen notwendig. Um meine eigene Fallarbeit zu konturieren, orientiere ich mich an den Grundfesten lebensweltbezogen-phänomenologischer Forschung, berücksichtige verschiedenen Arten von theoretischen wie praktischen Forschungsumgebungen und schärfe das Profil meiner Fallarbeit bis hin zur Fallstudie an dem grundlegenden methodologischen Ansatz von phänomenologisch-empirischer Forschung in der Theologie bzw. kurz: Empirischer Theologie. Geklärt werden muss: Was ist der Fokus dieser Forschung, und in welchen Kontexten bewegt sie sich? Dabei kommt man über die Fragen nach Sein, Beschaffenheit und Zugang zu einer Fallstudie auch an die Aspekte des Wertes und der Funktion: Was ist eine Fallstudie? Was ist ein Fall? Wie kommt man dazu? Wofür steht ein Fall? Welche Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis markiert eine Fallstudie? Die Darstellung der Methodologie folgt keiner Linearität, sondern eher einem aspektiven Zugang, bei dem einzelne Elemente auch unter je anderen z. T. mehrfach auftauchen.
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2.3.1 Lebensweltbezogene Forschung Das Interesse empirisch-theologischer Forschung gilt der Erhebung und theologischen Kontextualisierung von leiblich (inter-)subjektiven Erfahrungen zur Erschließung der Lebenswelt und der Verwobenheit von Menschen in ihren Netzen. 2.3.1.1 Erkenntnistheoretisches Fundament: Lebenswelt und Gelebte Erfahrung Zur Grundlegung phänomenologisch-empirischer Forschung gehört ein Begriff von Erfahrung und Leben, der sich auf den Erfahrungsbegriff Wilhelm Diltheys sowie das Lebensweltverständnis zwischen der Bewusstseinsphänomenologie Husserls, den grundlegenden phänomenologischen Dimensionen sowie dem ihnen geschuldeten Wahrnehmungsbegriff, wie er bei Merleau-Ponty erscheint, und einer Sozialphänomenologie, wie sie etwa Alfred Schütz u. a. prägen, rückbezieht. Diese Art von Empirie verpflichtet sich, im wissenschaftskritischen Sinn der vorwissenschaftlichen Welt und Wirklichkeitserfahrung in der natürlichen Einstellung nachzugehen und dabei dem Bewusstsein, dass es nicht nur Menschen sind, die beforscht werden, sondern ForscherInnen selbst auch als Menschen an dieser Forschung beteiligt sind. Das Husserlsche Credo »Zurück zu den Sachen selbst«380, und der entsprechende Weg der EpochH nimmt in diesem elaborierten Forschungszusammenhang also auch auf, dass die Rückbesinnung auf das Leben und die erforschten Dinge nicht ohne Einbezug der Personalität möglich ist. Mit dem Zugriff auf die Lebenswelt ist seit Husserl, über MerleauPonty und Schütz die Fundierung von Wissenschaft auf dem Boden »passiver Vorgegebenheit« des Lebens grundiert.381 Der lebensweltphänomenologische Schlüsselbegriff Alltag bildet hier weniger den Zugang zu einer Spurensuche als vielmehr den kulturell vielfältigen Erfahrungsraum der sozialen Erfahrungswelt, in dem sich der Rahmen des Feldes aufspannt. Alltag ist damit der Raum, die Zeit, die Leiblichkeit, die Sprache und die Intersubjektivität, in der Religion erfahrbar wird und in dem sich Lebenspraxis vollzieht – vorreflexiv.382 Im professionellen Alltag geschieht auch professionelles Handeln, das als Praxis bedacht, jedoch als gelebte Erfahrung stattfindet. Die Wahrnehmung dieser gelebten Erfahrung professionellen
380 Husserl: Hua III, 42f. 381 vgl. Husserl: Hua VI, 183. 382 Vgl. Luther : Religion und Alltag; Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie, 79.
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Handelns von Lehrkräften, die sich im Umfeld von religiösen Anforderungssituationen bewegen, ist Gegenstand dieser Arbeit. Gelebte Erfahrung, als Begriff dabei auch auf die phänomenologische Forschung in der Erziehungswissenschaft zurückgehend383, ist der Wahrnehmungsprozess durch das leibliche Subjekt der Forschenden hindurch als Zugang zu der Erfahrung der Anderen.384 Der Lebenszusammenhang ist dabei der sprachlichen Fassung und begrifflichen Formulierung stets voraus; das Forschen mit gelebter Erfahrung dient nicht dazu, diese einzuholen, sondern sich auf die Spuren genau jener Erfahrung zu machen. Die Erfahrung, um die es in der Erkundung professionellen Handelns von ReligionslehrerInnen geht, betrifft insbesondere das Konfrontiert-Werden mit ungeplanten Ereignissen, welche nicht nur als didaktische Grundlagen verwertet werden, sondern die auch biografisch-personale Dimensionen der professionell Handelnden in Anspruch nehmen und damit Lebenskontexte aktivieren, die mehr sind als Deutung von erfahrenem Geschehen. Insbesondere in diesem Zusammenhang werden grundlegende phänomenologische Lebensdimensionen betrachtet und auch die Frage danach virulent, welche Seiten von Religion eigentlich erkundet werden.
2.3.1.2 Phänomenologische Dimensionen der Intersubjektivität: Leib, Raum, Sprache Für die phänomenologische Analyse der sozialräumlichen Gegebenheiten greife ich auf elementare phänomenologische Dimensionen der Lebenswelt zurück. Im Gefolge von Husserl und Merleau-Ponty erachte ich als solche den Leib (der beteiligten Personen und der Zwischenleiblichkeit derselben untereinander), den Raum (die Verortung des FALLS als Fall in und außerhalb von schulischen Räumen, im Krankenhaus, zuhause in der Privatsphäre der Lehrerin; aber auch das Aufgreifen zeitlicher Aspekte) sowie Sprache als Erscheinungsweise von Kommunikation (in verbaler wie körpersprachlicher und zeichensprachlicher Weise).385 Dies alles betrachte ich unter der Vorannahme, dass Zur-Welt Sein leiblich und räumlich ist und die Wirklichkeit von vornherein als ein intersubjektives und damit auch zwischenleibliches Feld wahrgenommen wird. Im Feld von Schule und Religionsunterricht nehmen einzelne Menschen, Situationen und Kräfte Einfluss aufeinander ; dieses wird von außen wie von innen durch 383 So auch im Titel der Forschungsmethodologie des Niederländischen Erziehungswissenschaftlers Max van Manen: Researching Lived Experience. 384 Vgl. Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen, 37f. 385 Vgl. Husserl: Die phänomenologische Methode; Merleau-Ponty : Phänomenologie der Wahrnehmung.
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Kräfte bewegt und kann verändert werden, aber es hält auch Möglichkeiten von Stagnationen bereit. In meinem Interesse am Suchprozess nach zwischenleiblicher Intersubjektivität als einer sozialphänomenologischen Größe zwischen Selbstheit und Andersheit gilt die Aufmerksamkeit folgerichtig einer Phänomenologie des Fremden.386 Es wird wichtig sein zu überlegen, inwieweit eine so verfahrende Sozialphänomenologie im ethischen Horizont professionellen Handelns mit dieser Theoriegrundlage auskommt und welche anderen Theorien sie zwischen anthropologischen, sozialen und religiösen Kontexten benötigt.
2.3.2 Partizipatorisches Forschen Dass Leben, wenn es nicht in einer Verweigerung des Mit-Lebens verkommt, durch Begegnung mit Menschen, Phänomenen und Dingen geschieht, gilt auch für das empirische Forschen. Zu seinen Bedingungen gehört die Neugier und für empirisches Forschen die Bereitschaft des Hinsehens. Dabei muss selbst die gerichtete Aufmerksamkeit affiziert werden von einem Gegenüber, einem Anderen. Kontakt ist ein anderes Wort für diese Reziprozität, die auch in der Neugier des Forschens da ist. »Um Lebendes zu erkennen, müssen wir uns am Leben beteiligen.«387 Viktor von Weizsäcker benannte präzise, worauf es einer Forschung ankommt, die gelebter und erlebter Wirklichkeit auf die Spur kommen will: Die Interaktion als forschende Lebensform gehört genauso dazu wie ihre Steigerung, die Partizipation als Basis für die Aufnahme, den Umgang, das Verstehen und Handeln. Insofern gestaltet sich Begegnung hier als die Kategorie des Anfangens. Der forschende Blick legt das aktive wie passive Augenmerk damit auch auf Wahrnehmungen und Reflexionen des Anderen im realen Alltagsleben von Schule und Religionsunterricht. Auf diese Weise erhalte ich Einblick in eine Situation, welche die Normalität des Schulalltags transzendiert. Die Beziehung zwischen Lehrerin und Schüler reicht deutlich über die Grenzen des Schulgebäudes hinaus. Ich bekomme die Möglichkeit, Begegnungen zwischen einer Religionslehrerin und einem Schüler zu fokussieren, um die Verflechtungen von Unverfügbarkeitserfahrung im Leiden und dem Verhalten der Lehrerin vor dem Hintergrund von Religionslehrerprofessionalität zu untersuchen. Sie wecken bei mir das Interesse, im Sinne einer lebensweltlich verankerten und theologisch verantworteten pädagogi386 Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden; Zahavi: Phänomenologie für Einsteiger. 387 Weizsäcker : Allgemeine Medizin, 48.
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schen Forschung388 das Handeln, die Rolle, die Motivationen und das Verhalten der Lehrerin, auch durch die sonstige bekanntschaftliche Beziehung, zu erkunden. Als Forscherin basiert meine Arbeit zugleich auf einer Normativität, welche die Notwendigkeit kritischer Distanz zu der erfahrenen Situation einschließt. Es gibt verschiedene Perspektiven und Partizipationsweisen in einer Situation professionellen Handelns: Für mich als Forscherin ist es eine dichte Bewegung innerhalb dieser exzentrischen Positionalität.389 Daher gehört es zu meiner Aufgabe, die Sphären zwischen Forschung und professioneller Praxis, die auf persönlichen Beziehungen in der Lebenswelt basieren, zeitweilig zu öffnen und zu schließen.390 Um Bewusstsein für die Spannungen zwischen den Gegebenheiten des Falls und seinen Möglichkeiten der Darstellung zu schaffen, sind angemessene und sensible Werkzeuge für meine Art der Nachforschung und gegenstandsbezogenen Erkundung von Nöten.
2.3.2.1 Forschungsmethodologischer Kontext: Action research Ein Strang der Handlungsforschung, der phänomenologisches Forschen auf Kontexte und »Verwertungszusammenhänge« hin ergänzt, liegt in der Action Research. Die Vertrautheit, dass ich mich als Forscherin nicht nur über meine eigene professionelle Geschichte vertraut gemacht habe, sondern auch im Kontakt mit den Forschungsfeldern stehe, ist in der Action Research diskutiert und geklärt.391 Anders als in der klassisch-empirischen Sozialforschung erkundet diese Art einer sozialsensiblen Handlungsforschung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg und auch im Bezug auf Erfahrungen damit v. a. auf Kurt Lewins Entwicklung stützt, Menschen und soziale Zusammenhänge im emanzipatorischen Sinn.392 Sie ist eingebunden in ein weniger distanziertes Gesamt des Forschungsfeldes, das von den ForscherInnen nicht in ungebrochener Distanz um eines abstrakten Forschungszweckes willen und daher auch nicht 388 Vgl. Manen: Researching lived experience. 389 Vgl. Plessner : Die Stufen des Organischen und der Mensch. 390 Vgl. Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper. Es geht darum, das zeitweilige Sein im Nirgendwo auszubalancieren, das als Orientierungspunkt gleichzeitig mit allen »Anderswos« verbunden ist. 391 Vgl. Altrichter / Posch: Lehrer erforschen ihren Unterricht. 392 Genau genommen gibt es zwei Entstehungszusammenhänge: zum einen die interaktionistisch orientierte Human-Relations-Bewegung, zum anderen aber auch den Positivismusstreit im Kontext der Studentenbewegung in Auseinandersetzung mit Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie – hier im Bestreben, Praxisrelevanz und kritische Theorie instruktiv zu verbinden. Vgl. Klafki: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft.
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wertneutral untersucht wird. Aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang des Forschungsfeldes ergibt sich auch das Setting, dass im Forschungsfeld Handelnde co-aktiv Forschende sind und auch dahingehend als Subjekte eines Prozesses ernstgenommen werden. Galt der Forschungsansatz in der Erziehungswissenschaft als nicht grundlegend etabliert, so hat diese Form der partizipativen Forschung in der pädagogischen und so auch religionspädagogischen Lehrerbildungsforschung Eingang gefunden. Universitär Forschende gehen ein Bündnis mit Lehrkräften ein, welche als »betroffene Subjekte« die Rolle von Co-ForscherInnen einnehmen. Das hat viele Vorteile: Phänomene und Probleme werden nicht isoliert, sondern im Austausch mit den diese Subjekte betreffenden sozialphänomenologischen Kontexten betrachtet.393 Jegliche Fokussierung geschieht nicht ohne Kontextualisierung des professionellen Feldes. Erna Zonne hat zu Recht jedoch auch die Grenzen aufgezeigt, die für ein verantwortliches Co-Forschen zu berücksichtigen sind394 : Es ist deutlich, dass auch Lehrkräfte keine Realität wiedergeben, sondern rekonstruieren. Rollenkonflikte sind zu berücksichtigen. Da die Fragen zu Unverfügbarkeit gerade über die Schlüsseltätigkeit des Lehrens – also in Bezug auf die didaktischen Kompetenzen – hoch besetzt sind, empfiehlt sich ein lebensweltlich orientierter Fokus, der mehr Freiraum gewährt. Insgesamt dürfen ReligionslehrerInnen nicht überfordert werden – sowohl in zeitlicher wie auch kompetenzorientierter Hinsicht; die Verantwortung liegt weiterhin auf den akademisch Forschenden. Daher gilt es die Grenzen im Blick auf innovative Praxisentwicklung zu berücksichtigen und konkret im Setting unterzubringen. Auch wenn die Praxisorientierung und Innovation im Sinne kritischer Veränderung der gesellschaftlichen Praxis das Ziel der Action Research war und ist, gilt trotzdem, dass der Gewinn von Theorie nicht zu kurz kommen darf – sonst würde sich die Forschung nicht von Instruktion unterscheiden. Die drei entscheidenden Elemente sind richtungsweisend auch für meinen Forschungsweg: Der außerordentliche Gewinn dieser praxisnahen Ansatzes liegt in ihrem explorativen Charakter, der eine relativ wenig strukturierte Offenheit der Forschung zu Beginn und den erst im Prozess zunehmenden Differenzierungsprozess erlaubt. Die Inspektion, die Systematisierung der im Feld gewonnen Erfahrungen, strukturiert die gewonnenen Erfahrungen im Blick auf den theoretisch einzuschlagenden Vertiefungsweg. Das methodologische Kernstück der Action research, die kommunikative Validierung, geschieht in meinem Projekt forschungspraktisch zum Teil mit der Lehrerin und zwar in Bezug auf die 393 Bei Mette Buchardt können soziale Machtstrukturen in einer Form aufgedeckt werden, die erlaubt, den Einblick in religionspädagogische Praxis als Mikrostudie eines weiteren sozialen Kontextes zu sehen. Vgl. Buchardt: Teachers – and Knowledge and Identity Technologies around »Religion«. 394 Vgl. Zonne: Working with Religious Education Teachers as Co-Researchers, 76f.
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interpretatorisch-dialektische Rückkoppelung an die Wahrnehmung gelebter Erfahrung, jedoch nicht in Bezug auf weitere theoretische Kontextualisierungen; dies geschieht in gleichwohl kommunikativen, jedoch anderen, forschungsgeübten Zusammenhängen.395 2.3.2.2 Professionelle Praxis der Anderen Nicht nur berufliche Professionalität, sondern auch Forschung kann rekonstruiert werden als Bemühen, fremde Ansprüche als Rufe von Menschen zu hören und zu antworten. Für jede Lehrkraft bedeutet dies: Es besteht ein genereller Anspruch auf Respekt, dass der Schüler auch eine Stimme bekommt, um mich zu einer mitverantwortlichen Haltung und Antwort zu rufen. Die Wahrnehmung des anderen als einen leiblich fühlenden Menschen braucht eine Forschung, die von Begegnungen getragen wird, welche die Verflechtungen von körperlichem Gewahrwerden und Respekt verkörpern.396 Entsprechend seiner bildungstheoretischen Grundverankerung397, jedoch ohne deren jeweilige fachspezifische Zuordnung, in welcher der Kern des Modus als verwirklicht gilt, zeigt diese Erkenntnisstrategie die Unterschiedlichkeit und das Aufeinanderangewiesensein wissenschaftlicher Weltzugänge als Arten und Weisen der Bildung im Sinne intersubjektiver Weltbegegnung, bei der sich sinnlich-sinnenhafte Erfahrungs- und Gestaltungsmöglichkeit in ästhetischer wie ethischer Begegnung ereignen. Dabei strukturiert die Maxime des Perspektivenwechsels398 Forschung dahingehend, weder die Sicht der Anderen noch die eigene zu verabsolutieren. In einem Setting der Auseinandersetzung mit Themen wie Krankheit und Leiden ermöglicht er auch emotional und atmosphärisch die nötige Portion an Empathie in den Kontakten des Forschungsprozesses, bewahrt aber auch davor, die Distanzen zu verlieren und mit dem Forschungsfokus zu verschmelzen.
2.3.3 Phänomen und Fall im Horizont Empirischer Theologie Für meine Methodologie ist der Rahmen phänomenologisch-empirischer Theologie ausschlaggebend, in welchem der Fall im Blick auf die nicht nur sozialphänomenologisch, sondern auch theologisch inspirierte Studie ihren Standort findet. 395 Vgl. Flick: Qualitative Sozialforschung, 495; Mädler : Gegenstandsbezogene Theoriebildung: Grounded Theory, 250. 396 Vgl. dazu auch Leonhard / Thoresen: Dimension Leib. 397 Siehe bei Dressler : Blickwechsel; hier ist der Bezug zu Jürgen Baumert am deutlichsten. 398 Vgl. a. a. O.
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2.3.3.1 ReligionslehrerInnen: (Inter-)Subjekte professionellen religionspädagogischen Bildungshandelns Bildung ist Menschenbildung, subjektiver Vollzug des Kontakts zur immanenten wie transzendenten Welt. In diesem unabschließbaren Weg zur Selbstwerdung, der unterschiedliche Modi der Begegnung mit der Welt einschließt, sind Religionslehrkräfte als solche eingeschlossen, die im Kontakt mit den Lernenden den Kontakt mit Welt aufbauen helfen. Damit sind sie leibliche Subjekte eines mehrpolig beschreibbaren unabschließbaren Weltbegegnungsprozesses; ihr professionelles Bildungshandeln bedeutet »gerade nicht Identitätsfindung, sondern Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst, also eine konflikthafte Lebensformung unter historischen, gesellschaftlichen, aber auch naturgegebenen Bedingungen« ein.399 ReligionslehrerInnen handeln hinsichtlich der Ebnung des Orientierungswissens mit den Zugängen und Fragen »konstitutiver Rationalität«400 und sind befasst mit »Fragen zur Unsicherheitstoleranz bzw. Differenzkompetenz«.401 Das professionelle Subjekt ist dann Subjekt, wenn es intersubjektiv handelt und im Raum dieser Interaktion die Grenzen und Möglichkeiten professionellen Handelns auslotet. Im Übrigen gehört zu forschungsethischen Grundsätzen subjekt- und lebensweltbezogener Forschung, dass Menschen mündig für sich selbst sprechen dürfen. Daher fordert Schweitzer zu Recht die stärkere Berücksichtigung der lernenden Subjekte in der Unterrichtsforschung als ExpertInnen des eigenen Lernens: Faktisch ermöglicht diese Perspektive, die Wirksamkeit des religionspädagogischen Handelns in der Schule aus der Sicht der SchülerInnen zu spiegeln.402 Bisher ist jedoch in umgekehrter Weise kaum erhoben, welche Wirksamkeit diejenigen Belange der SchülerInnen, KollegInnen, des schulischen Umfelds für Religionslehrkräfte bedeuten, die nicht im didaktischen Rahmen organisiert geäußert werden, sondern per se ›gegeben‹ und das bedeutet, in die Schule hinein mitgegeben sind. Mit großer Selbstverständlichkeit werden Rahmenbedingungen den Orten Gesellschaft, Kirche, Staat etc. zugeordnet. Unbeleuchtet sind dabei allerdings konkrete Erfahrungen im Rahmen und mit diesen Faktoren, die Einschätzung, inwieweit sie für eine Religions399 400 401 402
Meyer-Drawe: Die Not der Lebenskunst, 154. So nach Baumert: Modi der Weltbegegnung. Korsch: Religion – Identität – Differenz, 278. Vgl. Dressler : Blickwechsel. »Es scheint mir deshalb an der Zeit, auch bei der religionspädagogischen Unterrichtsforschung den vielbeschworenen Perspektivenwechsel hin zu den Kindern und Jugendlichen zu vollziehen. Lehrerinnen und Lehrer sind die Experten für ihren Unterricht – deshalb muss nach ihren Erfahrungen gefragt werden. Aber auch Kinder und Jugendliche sind Experten für ihr eigenes Lernen, und deshalb sollten auch ihre Erfahrungen und Reflexionen in Zukunft weit stärker einbezogen werden, als dies bislang der Fall ist.« (Schweitzer : Selbstauskunft oder Unterrichtsbeobachtung, 326).
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lehrkraft auch im Falle äußerster Anforderung von Bedeutung – im Sinne der Behinderung oder Unterstützung – sind. Sollen Lehrkräfte auch Experten ihrer eigenen Rollen und Verortungen bleiben, ist es erforderlich, diese Faktoren überhaupt erst einmal zu benennen; sollen sie als intersubjektive und zwischenleiblich agierende Mit-Profis im Feld und System der Schule auch theoretisch sichtbar werden, sind Zugänge gefragt, die sie nicht in der Breite, sondern an entscheidenden Erfahrungsnahtstellen zu Wort und Gesicht kommen lassen. Dafür ist es weniger wichtig, möglichst viele Fälle oder auch nur die Unterschiedlichkeit der Anforderungen zur Geltung zu bringen, sondern viel entscheidender, an einem Fall Markierungen für Möglichkeiten und Grenzen religionspädagogischen Umgangs mit besonderen Anforderungen explorativ aufzuzeigen. Im Forschungsblick ist dieses Interesse am ehesten an den sog. »reflective practitioners« möglich, weil sie über die Spontaneität und Unbewusstheit des Lehrerhandelns hinaus – die als Faktoren immer dabei sind – den Forschungsprozess der Einsichtnahme in implizite Wissensfaktoren unterstützen können.403 Um sich ihrem Blickwinkel zu nähern, ist es unerlässlich, »sich an ihre Fersen zu heften« und ihnen quasi ethnologisch zu folgen, um ihrer professionellen Praxis als der Erfahrung der Anderen gerecht werden zu können. Daher ist im Blick einer professionsorientierten Phänomenologie des Fremden404 der Suchprozess zwischen professionellem Selbstverständnis und Verhältnis zum Anderen im Visier. Mir geht es darum, durch die Beteiligungsperspektive der Lehrkräfte zu Wort kommen zu lassen, wie sie auf eine Situation reagieren, in der Unvorhergesehenes auf eine radikale Weise in das professionelle Feld eintritt. Die kontextuellen und damit auch interaktionalen Perspektiven des Feldes sind hier mit einzutragen, damit auch das Bedingungsfeld der Praxis von Religionslehrkräften beleuchtet werden kann. Im Blick bleibt so oder so ein krisenhaftes Verhalten der Lehrkraft, an dem sich professionsethische Konturen schärfen, zu dem sich im Zusammenhang mit Schule, Kirche und Lebensfaktoren auch Gestaltungsspielräume ermessen lassen. Hier werde ich anhand einer Einzelfallstudie Dimensionen und Linien der Wahrnehmung des anderen als Anderen ermitteln. Auf der Basis grundlegender phänomenologischer Dimensionen wie Leib, Raum, Sprache und einem am Heterotopie- / Heterotypie-Konzept Michel Foucaults orientierten Konzept zu Intersubjektivität haben sich mit Einzelfallstudien im Vorfeld Perspektiven zur Wahrnehmung von Anderen in sozialen Berufen aus Bildung, Diakonie und
403 Vgl. Schön: The Reflective Practitioner. 404 Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden.
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Sozialer Arbeit geschärft.405 Im Interesse einer Erneuerung von Professionsethik im Religionslehrberuf bilden für mein Projekt Aspekte der Professionstheorie, der philosophischen Phänomenologie und der empirischen Theologie als Religionsforschung das Theoriegerüst. Aus diesem Kontext ergibt sich die grundlegende Modifizierung von sonstigen empirischen Fallstudienmethodologien auf dem Weg von Sozialforschung zu phänomenologischer Empirie. In diesem Forschungsrahmen sollte es für mich möglich werden, auch individuell wahrgenommene Daten und Interpretationsschritte meiner Falldaten intersubjektiv zu überprüfen und weiterzuentwickeln. 2.3.3.2 Professionsethische Kriterien exemplarischer krisenhafter Bildungspraxis Für eine phänomenologisch orientierte empirische Professionsforschung sind also heuristische Rahmenkategorien wichtig: Strukturveränderungen, Krisen, Übergänge und Bruchlinien in der Profession im Kontext krisenhafter Bildung überhaupt. TheologInnen sind Menschen, die davon wissen, dass man in Feldern handeln können muss, in denen man eigentlich gar nicht handeln kann.406 Wie gehen Religionslehrkräfte ganz praktisch damit um, welche Erfahrungen, Haltung, Handlungen sind damit verbunden? Betrachtet man dies im Licht auszuarbeitender Merkmale und Strukturen, die bis in die Ausbildung hinein reichen und damit zirkulär wieder an Anfängen ankommen, so ergibt sich eine gewisse strukturelle Analogie zwischen praktischer ReligionslehrerInnenbildung und Professionstheorie. Um diese Analyse von professioneller Praxis von Religionslehrkräften und normative Impulse für ihre professionelle Praxis zu erschließen, sind professionstheoretische Aspekte vonnöten, die Einblicke in personal, intersubjektiv und situativ verortete Binnenstrukturen gewähren und einen hermeneutischen Rahmen für konzeptionelle Impulse bieten. Im Horizont eines phänomenologischen, kulturbezogenen Religionsverständnisses erfolgen produktive, methodisch reflektierte Auseinandersetzungen mit Subjekten auch zur Bildungstheorie im Rahmen religionspädagogischer Professionalität. Der Frage nach Professionsethik im Horizont von Religion und Bildung liegt ein doppeltes Praxisverständnis zugrunde: Die Praxis von (Religions-)LehrerInnen betrachte ich zum einen von vornherein als professionelle Praxis, die es aufzuspüren und zu befragen gilt. Deren Strukturen und Phänomene werden aufgezeigt, deren Improvisation ist damit auch im Blick. Der Schwerpunkt liegt auf der Erkundung der konkreten empirischen Erfahrung von Professionellen im sozialen Feld, deren Rollen und Haltungen wir ForscherInnen quasi erpro405 Heimbrock / Wyller (Hg.): Den Anderen wahrnehmen; dies.: Perceiving the other. 406 Vgl. Josuttis: Der Sinn der Krankheit.
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ben. Diese investigativen Bemühungen machen aber natürlich nur Sinn, wenn das Verständnis und Bild jener Praxis andererseits am Horizont des Forschungsprozesses liegt, das in Auseinandersetzung damit normative Gültigkeit erlangt. Dies leistet eine sich empirisch wie normativ geschärfte Praxistheorie. Praxis wird also im Horizont von Theorie und Theorie im Horizont von Praxis betrachtet: Empirisch erhobene Praxis und in Praxis eingelagerte Normen hängen darum zirkulär eng zusammen.
2.3.3.3 Gelebte Religion und die Rolle der Theologie Gelebte Religion verweist auf den vor aller Reflexivität erfahrbaren Zusammenhang, in dem bei Menschen etwas phänomenal aufscheint, das als mit dem Ganzen des Lebens im Zusammenhang Stehendes das Leben unterbrechen, übersteigern, transzendieren kann. Als der Phänomenologie und Semiotik nahestehender Konstruktionsbegriff Systematischer Theologie407, Praktischer Theologie408 und Religionswissenschaft nimmt er auf die Erfahrungsebene Bezug, ist also an den Transformationsprozess von Erfahrung zu Sprache gebunden.409 Im Zusammenhang meines Projektes wird deutlich, dass ein rein substanzielles Religionsverständnis nicht sehr weittragend wäre und auch rein funktionale Betrachtung zu kurz greifen würde. Mit der Wirklichkeit von ReligionslehrerInnen in der Schule ist ein theologisch-pädagogisches Praxisfeld anvisiert, dessen theologische Normativität, die vorausgesetzt und auch angepeilt ist, bedacht werden muss.410 Zu einem angemessenen Theologieverständnis gehört, dass substanzielle Theologie im Sinne dogmatischer, ethischer und theologisch-anthropologischer Strukturen und Positionen Reflexpunkte für theologisches Nachdenken bildet. Auch funktionale Elemente sind nicht außen vor, vor allem, wenn es um theologisch begründete Ethik geht. Im Wesentlichen soll theologisches Denken in dieser Ausrichtung als empirisch-phänomenologische Theologie die Rolle der begleitenden Reflexion übernehmen. Lebensweltbezogene Forschung fragt danach, an welchen Punkten auch über die Bereiche in der Schule, in denen Religion explizit thematisiert wird, hinaus Phänomene aufscheinen, an welchen theologische Blicke auf Leben, gelebte
407 Vgl. Grözinger / Pfleiderer : ›Gelebte Religion‹ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie. 408 Vgl. Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. 409 Siehe den Rückgriff des Begriffs auf Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion. Vgl. dazu Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie, 75. 410 Vgl. hierzu Leonhard: Auf dem Weg zu einer religionspädagogischen Professionsethik.
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Religion und auch gar gelebtes Christentum erkennbar werden.411 Aus dieser Motivation heraus wird der phänomenologische Zugang zu Religion interessant: Religion phänomenologisch aufzusuchen und nicht einen von vornherein fest umrissenen materialen, funktionalen Religionsbegriff festzumachen, hat den Nachteil, dass sich erst im Suchprozess – der in der Verzahnung von Theorie und Praxis stets zirkulär verlaufen muss – genauer herausschält, welche Gestalt von Religion überhaupt gesucht wird. Die Suche geht nicht mit dem Auffinden bereits vorher vorhandener Religion auf, sondern der Suchprozess mit dem Blick auf Religion schließt auch Einflüsse auf das Feld ein; der Blick auf Religion hat also ggf. auch konstruktive Elemente und die Perspektivität des Forschens ist in gewisser Weise »religionsproduktiv«. Auf der anderen Seite entgehen in dieser Perspektive weniger schnell Phänomene und Elemente, die sich gerade im Gebiet von Theologie und Religionsforschung als wichtig erweisen könnten. Inhaltlich deutet sich an, dass ein sehr viel brüchigeres und auf den Hiatus von Selbst und Anderen bezogenes Religionsverständnis gefragt ist, das anknüpfen kann an dem, wo die Studien zur Religion bei ReligionslehrerInnen aufgehört haben. In der Auswertung dort bezogen auf didaktisches Handeln schließt Dietrich Zilleßen: »[Man hat] sich gerade die verschiedenen Vermittlungsmodi bewusst zu machen, nämlich die Unverfügbarkeit aller didaktischen Impulse, die religiöse Dimension der Didaktik. Lebendige Religion ist unbenennbares Moment religiöser Sprache. Die Religion der Religionslehrer und Religionslehrerinnen ist Kommunikation, – nicht mit Gott, sondern mit Gottesbildern, nicht mit Gottes- und Glaubenserfahrungen, sondern mit den eigenen Bedürfnissen in ihnen.«412
Erste Orientierung mag daher auch sein Plädoyer für eine schweigsame vokative Theologie sein: In Weiterführung von Derridas Sprachtheorie richtet es sich gegen vereinnahmendes, selbstgewisses Reden von und zu Gott, das nichts anderes tut als »Simulacrum oder Phantasma« unserer Bedürfnisse zu sein: »Gott ist der Name, der Entzug und Rückzug heißt, das Gesetz entleert, sich selbst entleert, eingebettet in eine menschliche endliche Geschichte, in Sterblichkeit. Kenotische Theologie ist die radikale Entäußerung der Theologie in sterblich-menschliche Rede: Sie hat keine Wahrheit, die allenfalls auf sie zukommt. Sie hat zu hoffen.«413
Die Herausforderung besteht also darin: Wie kann theologisch buchstäblich zu Wort kommen, was als Erfahrung die Sprache verschlägt? Welche Beschreibungen, Reflexionsschleifen, theologischen Kategorien und Normen werden dabei aktiviert und geprüft? Zurück auf den Fall bezogen, heißt dies: Zum Fall411 Vgl. Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen; Beuscher / Zilleßen, Religion und Profanität. 412 Zilleßen: Über Religion sprechen, 98. 413 A. a. O., 100.
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Thema wird also, was den betreffenden professionellen Subjekten zur Erfahrung und selbst zum Fall wird. Ein Fall hat als Kern sinnhaft und sinnlich wahrnehmbar Gegebenes, in der konkreten, pragmatischen, ja praxeologischen Situierung des Phänomens: Fall und Phänomen verhalten sich daher nicht wie Prospekt und dahinterliegender Fall, sondern eher wie Phänomenkern und Fallfrucht. Im Rahmen der Verortung empirischen Forschens in der Theologie gehört zur auch enzyklopädischen Frage die Anbindung der Erkundung gelebter Religion in einer kontextuellen Theologie an die theologischen Disziplinen. Hier ist aus diesem Forschungskontext die Betonung des Interesses von Bedeutung. Dieses speist sich aus der theologischen Anbindung an das ›religiöse Interesse‹ am Fortgang christlicher Praxis bei Schleiermacher : Als erkenntnisgeleitetes und gleichermaßen kritisches Interesse im Gefolge von Habermas ist die lebensweltliche Motivation zum forschenden Handeln aufzuführen.
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Zwischen Fall und Fallstudie: Forschungszugänge zu einem Grenzfall religionspädagogischen Handelns
2.4.1 Fallbezogenes Arbeiten im Rahmen qualitativer Sozialforschung und empirischer Theologie Um den Erfahrungen gelebter Religion auf die Spur zu kommen, die im Rahmen von Lebenswelt, Schule und Kirche verortet und im Horizont vom Theologie und Pädagogik untersucht werden, greife ich Wege – Methoden – und Mittel bzw. »Fahrzeuge« – Medien und Forschungsinstrumente – auf, die dem Interesse der Darstellung von gelebter Wirklichkeit und Erfahrung folgen. Dabei werden Ansätze und Methoden der qualitativen Sozialforschung, der Ethnologie, aber auch der Hermeneutik aufgegriffen und im Bezug auf die empirisch-theologische Verarbeitung lebensweltliche Erfahrung »phänomenologisch adaptiert«414 und spezifiziert. 2.4.1.1 Typologie fallbezogenen Arbeitens: Fallarbeit und Fallstudie Fallstudien und damit verwandte, durchaus mannigfaltige Bezeichnungen für die Arbeit am und mit dem Fall findet man in vielen Wissenschaften. Dabei spielt der Professionsbezug eine entscheidende Rolle, denn die Fallarbeit ermöglicht eine spezifische Weise, die Ausdifferenzierung und entsprechende Komplexität 414 Heimbrock / Scholtz: Von der Verwunderung im Alltag zum Forschungsdesign, 94.
Forschungszugänge zu einem Grenzfall religionspädagogischen Handelns
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der Berufswelt zu erforschen. Eingeführt wurde die Fallmethode im hochschuldidaktischen Ausbildungszusammenhang als »Harvard Case Study Method«415 im Rahmen der dortigen Ausbildung zunächst von Juristen, dann in der Betriebswirtschaft. Von dort aus zog die Fallarbeit in verschiedene Wissenschaften ein – vor allem in Jura, Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Sozialund Humanwissenschaften und eben auch in die Pädagogik –, wo sie vor allem deskriptive, explorative und heuristische Funktionen übernimmt. Dass diese Ursprünge in engem Zusammenhang mit exemplarischem, entdeckendem und genetischem Lernen stehen, wie sie Martin Wagenschein später für eine vorrangig naturwissenschaftliche Didaktik entwickelt hat416, ist kein Zufall: Hier werden Erkenntnisprinzipien aufgenommen, die in der Beispielhaftigkeit, dem Werden und Sich-Entwickeln sowie dem kritischen Gespräch durch Dichte, Tiefe und Lebensverwobenheit einen wichtigen Platz einräumen. Im Prinzip ist also die Geschichte der Fallstudie damit selbst schon ein Fall von Lernen durch Lehren, eine enge Verzahnung von Forschung, Ausbildung und Didaktik. Neben dem Forschungs- und Ausbildungsinteresse wird im Zusammenhang mit Fällen mittlerweile auch eine systemische und zugleich instruktive Funktion in anderen Gebieten nachweisbar. Case Management ist z. B. ein aus den USA stammendes Handlungskonzept, bei dem Fallbezug und Systemsteuerung Hand in Hand gehen (Organisationsentwicklung eingebunden), um letztlich das Versorgungssystem effektiver und effizienter integriert zu gestalten.417 Sigrid Blömeke, die sich mit Fallarbeit in der pädagogischen Professionstheorie des Lehrberufs im Hinblick auf Lehrerausbildung befasst418, markiert als deren Ausgangspunkt die Wahrnehmung der prekären Situationen, mit denen Professionen umgehen: Professionsinhaber müssen selbst der Dialektik von universalisierten Regeln und Einzelfall gerecht werden. Professionelles Wissen dazwischen ist weder lineare Regelanwendung noch Verabsolutierung von Einzelfällen, sondern stellvertetende Deutung einer Situation. Daher ist die hermeneutische Kompetenz des Fallverstehens eine wichtige Kompetenz im Studium, also in einem wissenschaftlichen Habitus. Es bleibt entscheidend: Wie können professionelle Kompetenzen erworben werden – zur Vorbereitung auf Ungewissheit? Die Beschäftigung mit Fällen bildet ein Strukturmoment, das durch das Zoomen auf einen Einzelfall Erkenntnisse über Strukturen ermöglicht. Man macht schon hier die Beobachtung: Fall und Fall ist durch die Geschichte und das System hindurch nicht das gleiche. Daher sind die termino-
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Vgl. Garvin: Making The Case, 56; McNair : The Case Method at Harvard Business School. Vgl. Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Vgl. Löcherbach u. a.: Case Management. Fall- und Systemsteuerung in der Sozialen Arbeit. Vgl. Blömeke: Fallarbeit in der Lehrerbildung.
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logischen Unterscheidungen von Fall-Methode und Kasuistik gegenüber Fallarbeit und Fallstudie sehr hilfreich. a. Die schon von der Harvard-Methode ausgehende Fall-Methode dient als didaktisches Ausbildungsinstrument zum Lernen an der Realität. Hierbei lassen sich zwei grundlgenede Modelle unterscheiden: Der summarisch-interpretative Weg (Kaiser) geht von realen Situationen aus, dient der Entwicklung und Diskussion von Handlungsalternativen und übt in einen problemlösenden Modus des Weltzugangs ein. Der deutlicher Oevermann und Helsper zuzuordnende Typus sequenziell-rekonstruktiver Fall-Methoden setzt den Primat auf Theorie, um vom Handlungszwang zu entlasten. Dabei geht es um das Ausloten von Interpretationen, Sinnrekonstruktion und die Reflexion subjektiver Theorien. Mitbedacht wird das Theorie-Praxis-Verhältnis. Beide Arten der Fallmethode binden die Fallstruktur nicht ausschließlich an Personen, sondern an Situationen bzw. Problemen. Eingeübt wird eine Haltung forschenden Lernens für die sorgfältige Rekonstruktion, wobei die Spannung von Einzelfall und Fallsammlung bearbeitet werden muss. b. Eine Kasuistik dient als theoriegeleitete Vorbereitung auf Berufspraxis und Handlungskompetenzen. In Praxen der Lehrerbildung werden dann Kasuistiken herangezogen, wenn gegenüber dem »Bescheidwissen« (Rumpf) eine »Logik des Repräsentativen« gelten soll.419 Eine »Schulung fallverstehender Reflexivität«420 hat also auch einen darüber hinausgehenden, weiter umgreifenden Zusammenhang. Das Lernen geschieht hier durch Konstruktion von Fällen, die den empirischen nahekommen. Dennoch lauern in der Konstruktionslogik Fallen: Vorsicht gilt vor einer Subsumtionslogik – stattdessen sind diskursive Rekonstruktionen wichtiger und näher an der Praxis.421 Schwierigkeiten ergeben sich bei einer Fallorientierung als Ausbildungsmethode auch z. B. durch Fragen, inwieweit Alternativen zugelassen würden. c. Das für meinen Weg entscheidende Logikmodell ist das der Fallarbeit als Praxis- oder Forschungsmethode. Hier wird ein Fall zum empirischen Brennpunkt für Kontextualisierungen und Diskurse. Die grundlegende Unterscheidung von Fall, Fallarbeit und Fallstudie ist dabei unerlässlich.422 Methodologi419 Combe / Kolbe: Lehrerprofessionalität, 847. 420 Ebd. 421 Die Chancen von Kasuistik liegen darin, dass kasuistische Räume eröffnet werden. (Vgl. Combe / Kolbe: Lehrerprofessionalität). Vorsicht gilt dabei vor geschlossenen Fällen. 422 Dass mit Fällen auch im Nachhinein in ganz unterschiedlichen Perspektiven weiter gearbeitet werden kann, zeigt der auf die Studie zur »›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen« folgende Anwendungsband (Dressler u. a.: Religion Leben – Lernen – Lehren. Ansichten zur ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen). Aus einem Interview wird ein Exempel für eine psychoanalytische Einzelfallstudie. Ging es im Rahmen der Erhebung des Verhältnisses von gelebter und gelehrter Religion in den objektiv-hermeneutischen (Oevermann) bzw. erzählanalytischen (Schütze) Interpretationen um die Relation von Biografie und Unter-
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sche Kontexte, in die das Erkundete gestellt wird, geben diesem also auch immer eine jeweilige Gestalt.
2.4.1.2 Chancen und Grenzen der Fallarbeit Empirische Forschung in Theologie und Pädagogik ist geprägt von empirischer Sozialforschung. Sozialwissenschaftler untersuchen das Verhältnis von Empirie am Fall und Theorie in drei Modellen, in denen jeweils die Forschungsfunktionalität eingespielt wird: Theorie-generierend, Theorie-testend und Theorietestend-generierend.423 Damit legen sich Modelle von Induktion, Deduktion und Abduktion nahe. Im Zusammenhang einer tendenziell abduktiv angelegten, phänomenologisch-orientierten, empirisch forschenden Theologie geht es für den Weg meiner Erkundung darum, sowohl bestehende Aspekte der Professionstheorie zu befragen und zu überprüfen, aber letztlich auch mit professionsethischem Interesse an der Theorie einer Religionslehrprofessionalität weiter entwickelnd und damit generativ zu verfahren. Wichtig ist für die eigene Konturierung der Fallarbeit, Erfahrungen mit möglichen Vorzügen, Fehler- und Gefahrenquellen zu berücksichtigen. Aus der Richtung biografiebezogener Fallforschung kommt Kritik an »empirisch nachweisbaren Vereinfachungs- und Fehlertendenzen« bei der Anwendung von Fallstudien, vor allem durch »die Illusion von Vertrautheit«, wie es z. B. ein zu schneller Rückgriff auf eine Typenkategorie nahelegt, aber auch die »die Entstehung einer zu großen Fremdheit«.424 Gängige Formen von Kritik sollen vermieden werden: die Selbstkritik der Praktiker, die Beurteilung von Praxis im Lichte normativer Praxistheorien und die Messung von Praxisvollzügen an Kriterien »echter« Professionalität. Es geht vielmehr um die von Schütze und Riemann normativ erhobenen Werte der Selbstreflexivität, die noch einmal kommunikativ validiert werden müssen. Der Politologe Wolfgang Muno vergleicht die Aufgabe der Fallstudie, die meiner Bezeichnung der Fallarbeit entspricht, mit der Kriminalistik des Detektivs; ein Fall muss demzufolge lückenlos aufgeklärt werden, durch Rekonstruktion und entlang den Maßgaben der Plausibilität.425 In Munos zirkulärem Modell des Fallstudiendesigns bildet die Problemstellung, welche das Problem der Fallstudie bestimmt, das Design. »Die Angemessenheit der Methodenwahl richtshabitus, so nutzt Winter das Interview für eine tiefenpsychologische Persönlichkeitsund Charakteranalyse. 423 Vgl. Muno: Fallstudien und die vergleichende Methode. 424 Riemann: Biografien verstehen und missverstehen, 176. Die hier benannte Konsequenz wäre: Damit wird »die praktisch-professionelle Fallstudie selbst wiederum zum Untersuchungsgegenstand« (191). 425 Vgl. Muno: Fallstudien und die vergleichende Methode, 127.
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ergibt sich nicht a priori, sondern aus der Fragestellung und dem Erkenntnisinteresse.«426 Von der Fragestellung ausgehend wird das Erkenntnisziel ermittelt. Daraus ergibt sich der theoretische Rahmen, der wiederum für die Fallauswahl entscheidend ist. Erst dann beginnt die Arbeit an der konkreten Fallstudie. Entscheidend für den hiesigen Zusammenhang ist: Die Fallstudie selbst ist der Ansatzpunkt zum process tracing, zur Analyse komplexer Phänomene427, d. h. auch für Rückwendungen hinsichtlich der Problemstellung und des theoretischen Rahmens. An diesem Punkt wird gewissermaßen der Zirkel in Bewegung gehalten, indem wiederum neue theoretische Problemkonstellationen zu Veränderungen der Fallauswahl bzw. der Fallaspekte führen können.428 Damit ist in jedem Fall eine starke Prozessorientierung und Veränderung des Forschungsverlaufs bis zum Design möglich; im Rahmen dieser Konzeptentwicklung von Fallarbeit wird das process tracing im übergeordneten Sinne den Faden bilden. Zwei Aspekte an diesem Konzept sollen weiter problematisiert zu werden auf dem Weg, den eigenen methodologischen Rahmen zu präzisieren. Munos Fragestellungen gehen vor allem von vergleichenden Fallstudien aus, da er selbst sich im Feld Komparativer Politikstudien bewegt. Auch Uwe Flick bietet nur das Modell des vergleichenden Falls an, bei dem er genau das Potential des Exemplarischen für ein allgemeineres Modell heraushebt. Jedoch wird hier von einer bewussten Auswahl eines Falles ausgegangen, was suggeriert, man müsse einen Fall nur suchen oder auflesen, um ihn zu haben.429 Sicherlich ist solch ein Vorgehen für bestimmte Fragerichtungen möglich, jedoch hat die Darstellung meines Forschungsanfangs bereits gezeigt, dass, sollte es sich um eine forschungsethische Norm handeln, diese nicht frei von Idealvorstellungen ist. Nimmt man das Prinzip der Gegenstandsbezogenheit auch gerade dieser Art von Forschung ernst, dann gilt das Vergleichsprinzip für komparative Aspekte im Gegenstandsbereich der Forschung. Bezogen auf mein Projekt würde – so ließe sich antizipieren – der Kontrast von Kranksein und Gesundsein wichtig werden, damit also einzelne Aspekte der Fragestellung betroffen werden. Jedoch liegt insgesamt nicht der Fokus auf dem Vergleich von Professionalität und Nicht-Professionalität oder aber dem Vergleich von Verfügbarkeits- und Unverfügbarkeitserfahrungen, auch wenn diese Kontrastierungen sicherlich hilfreich sind. Es stellt sich also die Herausforderung, inwieweit es vor aller Möglichkeit überhaupt nötig ist, nach Vergleichsfällen zu suchen, in denen gleiche oder eben neue Aspekte hervortreten, die den Fall aufschlüsseln helfen. Ent-
426 Muno: Fallstudien und die vergleichende Methode , 128. 427 Nach George / Bennett: Case Studies and Theory Developement in Social Science, vgl. Muno: Fallstudien und die vergleichende Methode, 125. 428 Es wird nicht genau klar, ob damit auch der Zirkel durchbrochen werden könnte. 429 Flick: Qualitative Sozialforschung, 178.
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scheidend sind sicher Ausdehnung und Begrenzung von Fällen. Damit ist der Fall als typologischer herausgekehrt. Ein weiteres Fragezeichen ergibt sich daher aus dem häufig und so auch bei Muno avisierten Zirkel. Die Zirkulierung von Problemstellung, theoretischem Rahmen, Fallauswahl, eigentlicher Fallstudie und Schlussfolgerungen, der wiederum in Folgerungen für die Problemstellung mündet, nimmt einen anderen Verlauf, wenn nicht das Problem bereits bekannt ist, sondern sich überhaupt allererst aus einem Fall ergibt. So ersichtlich es auch ist, dass es einen Fall überhaupt erst gibt, wenn er im Kontext von Fallstudie steht, so undurchsichtig bleibt dabei jedoch, was eigentlich der Fall ist. Es wird also zu erörtern sein, inwieweit es sich um einen bestimmbaren und empirisch umgrenzbaren Fall handelt, und grundlegender, was überhaupt ein Fall ist. Aus dem Modus des strukturthoretisch geprägten Umgangs mit Fällen im Verhältnis zur Theoriebildung wird oft Kritik laut, dass Methoden der Sequenzialisierung, Sacherschließung und Strukturhaltigkeit mehr als Funktionalisierung zur Illustration von quantitativen Studien dienen, wie es am Beispiel subjektiver Theorien angeführt wird. Im Rahmen dieser Differenzierungen ist wichtig: Da es sich im Rahmen dieses Projekts um eine an der Wirklichkeit orientierte und von daher um wirklichkeitshermeneutisch orientierte Fallarbeit handelt, darf nicht vergessen werden – und dies auch in Kritik an Wernets etwas zu idealer Gegenüberstellung von Hermeneutik und Kasuistik430 –, dass auch die hier an der Lebenswelt bemessene Wirklichkeit normativ durchdrungen ist. So zeigen diese typisierenden Modi, die für diese Fragestellungen im Hintergrund stehen, eben auch eine quer verlaufende Strukturierung von Fallstudien auf, die letztlich an der Frage der Wertigkeit des Verhältnisses von Normativität und Empirie hängen. 2.4.1.3 Forschungsmethodischer Exkurs: Grounded Theory? Empirische Forschungsstrategien in den unterschiedlichen Bildungswissenschaften, wenn sie nicht quantitativ, sondern qualitativ arbeiten, orientieren sich zunehmend an der Grundstrategie der Grounded Theory. Sie bietet einen Rahmen für eine am Gegenstand orientierte und von diesem her begründete Forschung. Als Metatheorie einer Methodik gewährt die von Strauss und Glaser entwickelte und sowohl von Barney Glaser als auch von Strauss und Corbin weiterentwickelte Methodik zur Theorieentwicklung einen weiten und doch nachvollziehbaren Rahmen, wie in der Zirkularität des Forschungsprozesses Datengewinnung und -analyse ineinander greifen und den Erkenntnisprozess methodisch voranbringen. Insofern gilt sie nicht als Methode oder Technik, 430 Vgl. Wernet: Hermeneutik – Kasuistik – Fallverstehen.
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vielmehr sie ist als »Stil zu verstehen, nach dem man Daten qualitativ erfasst und der auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hinweist.«431 Daher sind mit dieser Metamethodik und ihrer philosophischen Orientierung, die auf eine abduktive Theoriebildung setzt, auch grundlegende Methoden wie die Qualitative Inhaltsforschung und Basistechniken wie Verfahren des Kodierens assoziiert, die für eine Form der Präzisierung der Daten, aber auch der analytisch ermittelten und damit interpretativen Elemente sorgen.432 Mit dem Ziel, auf der Basis von Empirie theoriebildend zu wirken, verbinden sich jedoch letztlich den individuellen Gebräuchen angepasste unterschiedliche Wege, auf denen diese Methodologie weitergetrieben wird – zumal die Methoden, welche unter dem Dach der Grounded Theory gängigerweise eingesetzt werden, als Daten vor allem Texte verwenden, egal, um welche Art und Textsorte es sich dabei handelt. Mit diesen Methoden sind gute Erfolge erzielt worden, weil sie auch Prozesse wie Unterricht erforschbar machen, sofern und insoweit diese in materiale Datenformen wie Text übersetzbar sind. Das bedeutet konkret, dass Interviews, Videomitschnitte etc, transkribiert und so manifestiert werden, die dann in interpretativen Verfahren mit heuristischem Interesse ausgewertet werden. Für meine Beschäftigung mit einem Fall gelten daher einige strukturelle Entscheidungen, die im Folgenden dargelegt werden. 2.4.1.4 Fallauswahl In der Regel geht Grounded Theory von einem Fallsample aus. Klassischerweise müssten nach der Grounded Theory auch beim theoretical sampling durch Stichproben und offengelegte Kriterien an einem Fall Hypothesen entwickelt und damit jeweils der nächste Fall bzw. eben das nächste Ereignis ausgewählt werden im Sinne einer Präzisierung. Förderlich ist hierbei, dass die Konstruktion des Falles ein Teil des Forschungsprozesses ist, der im Prozesss stattfindet, dass ein relativ offener Beginn mit einem Fall möglich ist, dem zwar nicht gerade Beliebigkeit anheimfällt, der jedoch nicht schon im Vorhinein Fallgegebenheiten ausschließen muss, um überhaupt valide zu sein. In der Qualitativen Sozialforschung werden Modelle der Fallforschung praktiziert, die sich nahe an meinen Interessen bewegen. Eine Einzelfallstudie gilt als Königsweg zur Lösung einer konkreten Auffälligkeit und damit im heuristischen bzw. explorativen Sinne – auch als gängiges Modell der Sozialforschung, in dem subjektive Theorien erörtert werden. Ein typisches Sampling im engeren Sinn wäre in meinem Forschungsprojekt aber nur ganz bedingt möglich. Nicht einmal eine Stichprobe kann geplant werden, weil die Fälle sich – 431 Strauss: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, 29f. 432 Vgl. Corbin: Grounded Theory, 74.
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der Kombination von partizipativer Forschung und dem thematischen Fokus, der eben dies nahezu ausschließt, gemäß – weitgehend der Planbarkeit entziehen. Nach dem theoretical sampling, das Inspektion und Exploration beinhaltet, besteht auch mein bisheriger Fall vorrangig in einem explorativen Verfahren, welches ergibt, dass der Fall im Laufe der Untersuchung (re)konstruiert wird – wobei die phänomenologische Seite ergibt, dass diese Konstruktion sich an der Vorfindlichkeit orientiert, eben stärker rekonstruktiv ist und darüber hinaus aber auch die Repräsentation von Erfahrungsperspektiven nicht nur in, sondern auch aus dem Fall selbst heraus einschließt.433 Für meine Fragestellung stößt diese Form der Auswahl dennoch an ihre Grenzen. Zum einen ist kein beliebig großes potentielles Sample zur Auswahl, zum anderen ist die Nähe zur lebensweltlichen Wirklichkeit, in welcher sich der Fall abspielt und die einzubeziehen mir für den professionellen Horizont zu diesem Thema wichtig erscheint, nicht im Vorhinein möglich, da es gerade um Unabsehbares geht. Noch bevor sich die strukturtheoretisch verankerte »Strukturrekonstruktion«434 von dem theoretical sampling435 abhoben, wurde mit dem »serendipity pattern«436 eine Auswahlregel formuliert, die auch als »Regel des Spürsinns« oder als »analytische Intuition« zu Beginn eines einzelfallbezogenen Vorgehens die Entscheidung für etwas als Fall bei einem »unvorhergesehenen, unnormativen und unspezifischen Datum, das sich bekannten Erklärungen und selbstverständlichen Auffassungen entzieht«, ermöglicht.437 Der Erziehungswissenschaftler Hans Merkens, der Gründe und Mechanismen der Fallauswahl erörtert, beachtet dabei die Bedeutung des Zugangs: Vorteilhaft, wenn nicht gar notwendig, sind gatekeepers. Zum Validitätsproblem wird jedoch die Authentizität des Erlebens, wie es letztlich in der Empirischen Theologie als Instrument der Wahrnehmung maßgeblich ist. Der Vorschlag der Erweiterung zu Fallgruppen um Vergleichbarkeit und Objektivierung willen klappt für die Einzelfallstudie nicht. Umso mehr gilt gerade für eine Einzelstudie, dass ein gewisses Vorverständnis für die Studie, ihre Wertigkeit und Funktion vorhanden sein muss. Beides, das Vorwissen wie die Gründe für die Auswahl dieses Falls, der eine gewisse Typik aufweist, lassen sich transparent darlegen.438 Das hindert nicht daran, die Möglichkeit eines anderen Fallbeispiels einzubeziehen, wenn sich neue Fragen ergeben – auch ohne dass dort ein gesamtes Datensample erhoben wird.
433 434 435 436 437 438
Vgl. Heimbrock: Fallstudien. Oevermann: Literarische Verdichtung als soziologische Erkenntnisquelle, 420ff. Glaser / Strauss: The Discovery of Grounded Theory. Merton: The Bearing of Empirical Research on Sociological Theory. Bude: Fallrekonstruktion, 60. Vgl. Merkens: Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion, 289.
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2.4.1.5 Fokus und Funktion des Falls Um ein derart unspezifisches Phänomen wie das, was sich um »Erfahrungen des Unverfügbaren« rankt, zugänglich und lebensweltlich zu machen, bedarf es allerdings der Möglichkeiten, auch die Ränder des sprachlich Fassbaren sichtbar zu machen. Nicht ohne Grund wurde in den Grundlegungen zur Empirischen Theologie bereits darüber nachgedacht, wie Methoden, und so auch Grounded Theory, phänomenologisch adaptiert werden können, welche Mittel, Strukturverschiebungen und neuen Aufmerksamkeiten es braucht, um Unaussprechliches, Unbeschreibliches einzubringen und Leiblichkeit, Atmosphärisches nicht unter den Tisch fallen zu lassen.439 Daher bleiben nicht nur inhaltliche, sondern auch methodologische Fragen der Übertragbarkeit und des Fokus. Der dänisch-englische Planungstheoretiker Bent Flyvbjerg, der von den Missverständnissen als Ausgangspunkt für Problemlagen und Fragen startet, fragt nach der Funktion von Case studies440 – die zugegebenermaßen auf einer formalen Ebene bleibt, aber immerhin tendenzielle Relationierungen zu den Kontexten liefert. Indem er sich mit Missverständnissen auseinandersetzt, räumt er auf: Nicht jeder Fall hat die gleiche Funktion, und dies hat Rückwirkungen auf die Fallauswahl. Von den von Flyvbjerg zur Wahl gestellten Typen von Fällen wäre in meinem Zusammenhang zu verorten, dass es sich um einen extremen, einen kritischen und möglicherweise auch um einen paradigmatischen Fall handelt. Flyvbjergs Raster ist eine Idealtypologie; auf Fälle können durchaus mehrere Merkmale zutreffen. Dabei wäre einzuräumen, dass der Extremfall als Normabweichung definiert wird, was in meinem Fall im Sinne zwar phänomenologisch zutrifft, aber dessen Zutreffen auf dieses Merkmal muss ja gerade ethisch beäugt werden. Der kritische Fall als derjenige, der mit Wahrscheinlichkeitskriterien auch Deduktionen erlaubt, spielt verdeckte quantitative Anzeichen ein. Ein paradigmatischer Fall stellt sich erst nach und nach als ein solcher heraus, weil auch seine Reaktionen und Rezeptionen einbezogen werden; hierin liegt aber die klare Intention der Studie, eine Metaphorik zu etablieren. Besonders in einem so sensiblen Bereich wie dem Umgang mit Erfahrungen, die sich an den Rändern des Sagbaren bewegen, wird über Argumente hinaus eine ganz andere Größe aktiviert – eine, mit der eben auch zwischen den Zeilen wahrgenommen wird: Inutition, Gespür, Sensibilität dafür, was der Fall ist, spielen eine Rolle für die Auswahl.441 Es wird also herauszustellen sein, inwieweit die Fallarbeit, aus der die Ausnahmesituation ins Auge springt, wirklich auch einen Ausnahmefall
439 Vgl. Mädler : Gegenstandsbezogene Theoriebildung: Grounded Theory, 251. 440 Vgl. Flyvbjerg: Five Misunderstandings, 229–233. 441 Vgl. a. a. O.
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darstellt oder inwieweit er damit auch einen typischen, den Normalfall, einen Extremfall, einen Grenzfall markiert. 2.4.1.6 Zum Verhältnis von Empirie und Theorie Das Verfahren der ›Triangulation‹, das sich als Forschungsstrategie für das Zusammenspiel verschiedener Daten, ForscherInnen, Methoden und die Kombination von Theorien und Methoden vor allem in der empirischen Sozialforschung durchgesetzt hat442, löst dabei nicht die Frage für die konkrete Struktur und den Prozess des individuellen Projektes; sie gehört jeweils spezifiziert. Wie an der Auswertung der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftszugänge ersehen, ist für einen Zugang auf einen Fall wie den hiesigen besondere Aufmerksamkeit bei der Auswahl der Methoden geboten: Einerseits liegt er in einer konkreten skizzierbaren sozialen Einpassung, andererseits entzieht sich dessen Gegenstandbezug und Fokus jedoch diesen Formaten sozialwissenschaftlicher Dokumentation und Auswertung. Die Wahl gegenstandsadäquater Forschungswege bedeutet in diesem Fall umso mehr deren Grundierung in lebensweltbezogenen Funktionen und die Vertiefung in Erkenntnisinstrumentarien, die Annäherungen an nicht zu bemächtigende ›Gegenstände‹ ermöglichen und zugleich dennoch konkrete Forschungsgstalten ergeben.
2.4.2 Forschungsethische Überlegungen Nicht nur dieses komplexe Rollenset und seine Überlagerungen, sondern das grundsätzliche Setting des Falles erfordert einiges Nachdenken in Bezug auf forschungsethische Normen. So sehr ein phänomenologisch-empirischer Prozess, der auch seine eigenen fluideren Methoden mit sich bringt, auf Flexibilität und sensible Anpassungen setzt, so deutlich müssen die dafür notwendigen normativen Grundgegebenheiten von vornherein klar sein. Alle Bildung geschieht über verschiedene Weltzugänge, die sich in Perspektivenvielfalt ergeben. Dem entspricht ein Wissenschaftsethos, das Intersubjektivität wertschätzt, wo schon im Rahmen von Phänomenologie eine im strengen Sinne geführte Objektivität schwerlich erzielbar ist. Intersubjektivität lässt sich jedoch erreichen, indem man zunächst verschieden perspektivierte Verständnisse deskribiert und miteinander ins Gespräch bringt. Perspektivenwechsel ist dann der methodologisch aufnehmbare und intersubjektiv nachvollziehbare Weg, ein Verständnis genügend kritisch und differenziert darzulegen und zugleich die Positionalität des oder der Forschenden aufzubauen. 442 Vgl. Denzin: The Research Act.
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Dass Forschung eine Veränderung der Wirklichkeit des Feldes, in dem geforscht wird, darstellt, hat Kurt Lewin phänomenologisch konstatiert und wurde an der Action Research konkretisiert. Das hat nicht nur methodische Folgen für die Wechselwirkung aus Gegenstandbezug und Methodik im Feld, sondern benötigt auch besondere Achtsamkeit in Bezug auf deren Wahl und Einsatz. In meinem Verständnis eines demokratischen Forschungsdesigns vermeide ich, wie aus meiner humanistischen Grundhaltung heraus beschrieben, ein Verhältnis von Forscherin und »Forschungsgegenstand« als Objekt – zumindest insofern es hier um Menschen und lebendige Prozesse geht. Grundlegend ist die Wertschätzung und Achtung des anderen als leiblichen Anderen. Ich bemühe mich um ein offenes, möglichst klares und immer wieder zu korrigierendes Miteinander von Forscherin und Forschungsgegenüber im Sinne eines größtmöglichen Einverständnisses mit den Beforschten. Dennoch ist nicht zu verhehlen, dass Forschung immer auch Züge von Bemächtigung hat, da letztliche Verantwortungen und Deutungshoheiten in der Feder der Forscherin liegen. Im Sinne eines mündigen und aufrichtigen Forschungsmiteinanders gilt es, in diesbezüglich machtkritischer Ehrlichkeit dafür aufmerksam zu sein, wo die Freiwilligkeit an Grenzen stößt. Denn die Spannung von »Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsbehauptung«443 muss dabei – auch aus theologischen Gründen – berücksichtigt werden; in ihr kommt die Ambivalenz des Lebens, die sich bis in biblische Erfahrungen hinein spiegelt, zum Tragen. Basierend auf »Prinzipien unbedingter und universaler Solidarität und intersubjektiver Kreativität einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft von gleichberechtigten Handlungspartnern«, die zur Leitlinie werden, auch wenn sie nicht stets erfüllt werden können, gehe ich auf Erfahrungen, Haltungen, Einstellungen anderer ein – hier liegt der besondere Fokus auf der widerfahrenden Facette von Erfahrung. Das schließt ein, dass im Fokus der Forschung Menschen und Erfahrungen liegen, die mit Ohnmacht und negativen Bewertungen zu tun haben. Im gesamten Kontext des Projektes wird dieses Interesse gerahmt und fundiert von der biblisch-theologisch und philosophisch geprägten Normativität zur Anerkennung von Schwächen und der Verpflichtung, Forschung selbst im Interesse der kritischen Auseinandersetzung solidarisch zu vollziehen. Das Interesse dieses Projektes gilt dem »wahrnehmenden Fremdverstehen«444 von Religionslehrkräften in ihrer professionellen Praxis. Der Fokus dieser Forschung bringt es mit sich, an Menschen heranzurücken, die in einem Leidenskontext stehen. Umso mehr gilt auch im persönlichen Sinne für mein 443 Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, fundamentale Theologie, 337. Vgl auch Dinter / Söderblom: Zur Forschungsethik, 303ff. 444 A. a. O., 305.
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Projekt, was ohnehin im wissenschaftspolitischen Zusammenhang von Theologie und Handlungsforschung zum forschungsethischen Rahmen in einem partizipativen Kontext gehören sollte: die Verpflichtung auf eine in mehrfacher Hinsicht handlungssensitive Haltung.445 Elemente dieser Haltung einer Sensibilität sind Vorsicht und freundliche Kontaktaufnahme, unaufdringliche Präsenz und Bereitschaft zur Anerkennung von Distanznahmen. Da ich davon ausgehe, dass im FALL die entsprechenden Ereignisse, die Situation der Krankheit, die zur Erfahrung von Unverfügbarkeit führt, aber ebenso andere Beteiligungen – vor allem die der SchülerInnen – als Initiatorfaktoren involviert sind, liegt mir auch daran, deren Perspektiven einzufangen. Im Umfeld des FALLS ist mit systemischem Zugriff deutlich, dass noch etliche Faktoren mehr dazugehören: die Schule, die Eltern, der Direktor, die MitschülerInnen, so dass von Vornherein interaktionale Aspekte des Falls mit im Blick sind sowie meine Teil-Außenperspektive als Forscherin. Ohne dass ich wirklich damit »rechnen« kann, bin ich darauf gefasst, dass in meiner Zeit der forschenden Begleitung weitaus mehr ungeplante, überraschende, und so auch für mich spontane Forschungselemente gefragt sind. Neue Ereignisse erfordern eine ständige Supervision des eigenen Forschungsprozesses, um Interessen, Möglichkeiten und Grenzen subjektadäquat – und das bedeutet in diesem Fall: ausgerichtet an den schwächsten und wehrlosen Gliedern im Forschungszirkel auszurichten. Demzufolge ist größtmögliche Transparenz des Prozesses und Überprüfung über den Weg der Verarbeitung von gelebter Erfahrung im Forschungsrahmen geboten. Dass dabei Rückversicherungen bei Beforschten nur bedingt möglich sind, wird in Kauf genommen und so gut es geht dem Interesse an der Kongruenz von Wirklichkeitserfahrung und Wirklichkeitsbehauptung gezollt. Es gilt insgesamt also auch, die Grenzen des Forschens anzuerkennen und die Bewusstheit über das Ausloten der Grenzen zwischen Grenzüberschreitung und Grenzanerkennung wachzuhalten.
2.4.3 Methodische Linien Hier geht es darum, die dem Forschungskonzept ›Einzelfallstudie‹ zugrunde liegenden allgemeinen empirisch-theologischen Methoden zu skizzieren und zu begründen, welche Analyseverfahren für die empirische Erschließung des Falls benötigt werden. Dabei ist die Orientierung an Fragen aus dem phänomenolo445 Vgl. Max van Manens Begriff der action sensitivity im Untertitel: Researching Lived Experience. Human science for an action sensitive pedagogy.
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gisch-empirischen Fallstudien-Manual hilfreich446 ; hier geht es konkret um Folgende: – Welche ›Daten‹, welches Material liegt für die Rekonstruktion des Falls aus den ersten Annäherungsschritten bereits vor? In welcher Form sind diese repräsentiert? – Sind noch weitere Materialien nötig (Gespräche, Beobachtungen etc.), um zu einer angemessenen Rekonstruktion zu gelangen? Genügt die erste Sammlung schon und muss nur ein Weg zum analytischen ›Aufbrechen‹ des Materials gefunden werden? – In welcher Form können diese (dem Gegenstand und dem Interesse angemessen) ermittelt werden, d. h. welche Einzelmethode(n) (Teilnehmende Beobachtung, Dichte Beschreibung, Quellenanalyse…) sind sinnvoll und möglich? Welche Stärken und Schwächen haben die angepeilten Methoden? 2.4.3.1 Offene Zirkularität von Empirie und Theorie In der qualitativen Sozialforschung wird für die Kombination, das Zusammenführen und Ausbalancieren verschiedener Weltzugänge, Methoden und ForscherInnen die Metapher der Triangulation verwendet.447 Für diese Studie ist das entscheidende Moment das des Zirkels. Dieses Hin und Hergehen muss auf mehreren Ebenen methodisch strukturiert sein. Es betrifft Einsichten in bestehende Prozesse; die Auswahl von Methoden geschieht daher gegenstandsorientiert gleichzeitig an dem, was das Forschungsfeld bereithält, was der Forscherin und ihrer eigenen Professionalität entspricht. Den Einblicknahmen eignet ein besonderer Modus, der vom »methodischen Atheismus«448 geprägt ist und daher der Herausforderung gerecht zu werden sucht, von einer möglichst großen Voraussetzungslosigkeit hinsichtlich Professionalität auszugehen und alles als Neubegegnung wahrzunehmen. Das setzt voraus, sich auch eigene Voreinstellungen und -Urteile bewusst zu machen und sie für dieses Projekt einzuklammern. Dieser Voraussetzung des Fremdverstehens wiederum muss auch theologische Kontextualisierung durch das Heranziehen von diskursfähigen Theorien an die Seite gestellt werden, die nicht einer »reinen« Empirie eine Deutung aufstülpen; vielmehr wird eine wechselseitig durchdringende Erhellung durch eine Methodisierung im Sinne eines Zirkels versucht. Dieser erreicht das Ende seiner Bewegung, wenn zum einen der Grad der theoretischen Sättigung im Horizont 446 Heimbrock / Leonhard / Meyer / Plagentz: Organisation der Fallstudie als Forschungsprozess, 343ff. 447 Denzin: Research act; vgl. Bohnsack / Marotzki / Meuser : Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. 448 Vgl. Heimbrock: Empirie, Methode und Theologie, 47.
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des gestellten Themas der explorativen Ermittlung einer Heuristik für eine religionspädagogische Professionsethik soweit erreicht ist, dass valide Kriterien genannt sind. Die Zirkularität des Prozesses ermöglicht aufgrund der Chance, eine an jeder Stelle mögliche Reflexion des gesamten Forschungsprozesses anzugehen449, eine enge Verzahnung von Daten, Material und Auswertung durch Interpretation anhand der Frage: »Inwieweit werden die verwendeten Methoden, Kategorien und Theorien auch tatsächlich dem Gegenstand und den Daten gerecht?«450. Das kann zur Folge haben, dass das Forschungsdesign im Interesse des Suchprozesses variiert werden muss: Als offener Zirkel ist es daher auch möglich, unter Transparentmachung der neu entstandenen Wissenslücken und Teildesiderate entsprechende empirische Erhebungen in methodischer Passung einzufügen, zu ergänzen und entsprechend des Forschungsinteresses zu gestalten. 2.4.3.2 Mehrperspektivät und Perspektivenwechsel Um einseitigen Wahrnehmungen vorzubeugen und die vielfältige Sicht auf die Phänomene der Erfahrungen des Unverfügbaren und das Phänomen Krankheit wachzuhalten, ist auch in den empirischen Anteilen, soweit sich dies als möglich erweist, und im Diskurs mit Theorie die Kombination von verschiedenen Perspektiven nötig. Ich erkunde Praxis-Elemente der Religionslehrerin, die zum einen ihre lebensweltlichen Selbstwahrnehmungen und -beschreibungen repräsentieren, im Wechsel und Austausch mit meiner externen Perspektive als Forscherin. Es geht mir dabei nicht um die Abbildung der religionspädagogischen Praxisabläufe im Umgang mit Kontingenz, sondern um die subjektiv gefärbte und gebundene Erfahrung mit der Erfahrung des Unverfügbaren. Die Rekonstruktion des professionellen Umgangs mit einem krebskranken Kind in Schule und Religionsunterricht spart also nicht faktische Handlungen aus, fokussiert dabei aber deutlicher die prägenden Emotionen, räumlichen, zeitlichen Strukturierungen, Befindlichkeiten, intersubjektiven Erfahrungen, herangezogene Bezüge und Referenzen, Urteile, Normen und Werte und kommt so auch berufsbiografisch erworbenen Reaktionen auf die Spur. Durch die Selbstrekonstruktion des eigenen professionellen Handelns und der beschreibend erreichbaren handlungsleitenden Motivationen sowie Intentionen durch mich als Forscherin soll in den Blick kommen, welche Wahrnehmungen für eine krisenhafte Professionalität angeführt werden, wie die Lehrkraft sich selbst und ihre Praxis angesichts krisenhafter Erfahrungen als professionelles Selbst im gegebenen Rahmen begreift und welche Ressourcen dabei zum Tragen kommen. 449 Vgl. Flick: Qualitative Sozialforschung, 126f. 450 Flick: Qualitative Sozialforschung, 127.
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Ggf. wird es nötig, eine ›Selbstauskunft‹ aus der Ich-Perspektive der Religionslehrerin zu ergänzen und ihr die Perspektiven von Co-ForscherInnen noch deutlicher an die Seite zu stellen (durch Kommentierungen, Gruppendiskussion, Sekundäranalyse).
2.4.3.3 Phänomenologische Aufmerksamkeit und Dichte Beschreibung Die Fallarbeit hat auf dem Weg zur Studie stets das Verhältnis von Empirie und Normativität zu bearbeiten. Empirische und zugleich theologische Wege zu Kranksein als Beispiel von Andersheit gewinne ich durch fallspezifische Zugänge zu »gelebter Erfahrung«, wie sie im Konzept Empirischer Theologie aufgewiesen werden.451 Daher ist der Fall selbst auch zunächst ein religionspädagogisches Phänomen, indem ich von sinnhaft-sinnlich wahrnehmbar Gegebenem ausgehe, das ich von wechselnden Perspektiven aus unter Anerkennung der Bedingtheit ihrer Vorfindlichkeit befrage.452 Für einen empirischen Zugang spricht, dass sich über extern herangetragene Praxismodelle hinaus der Komplexität des professionellen Handelns von Religionslehrkräften von innen deutlicher gerecht werden lässt und dieses für andere auch so erhellt wird. Daran hängt auch das Ansprechen und die Würdigung der professionellen Subjekte, denen keine Pauschalierung ihres Verhaltens unterstellt wird, von denen aber doch auch auf diese Weise Gewohnheiten und nahezu originäre lebensweltliche und institutionelle Kontexte zugänglich werden. Zugleich muss dieses durch theoretische Kontextualisierungen interpretiert und die Interpretamente wiederum empirisch kontextualisiert werden. Aus der Ethnologie und Ethnografie sind Forschungshaltung, -elemente und -methoden ersichtlich, welche die Erkundung des Fremden durch Teilnahme an fremder Kultur (»Inter-esse«) gestalten. Indem man auf die lebensweltlichen Spuren der Fremdheit achtet, bekommt man Zugang zu der professionellen Erfahrung der anderen. Auf der Basis der geteilten Dimensionen, aber unter Wahrung der Grenzen komme ich dem »Zusammenspiel von planender und rezeptiver Forscherhaltung« entgegen; die Beteiligung dieser meiner leib-haftigen Forscher-Subjektivität ermöglicht die Wahrnehmung der Phänomene des Falls in sprachlicher, vor-sprachlicher und emotional-atmosphärischer Hinsicht.453 Das Einfühlen in eine (fremde) Kultur geschieht unter der Spannung zwischen der von mir untersuchten Kultur der Schule im Umgang mit Kontin451 Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie. 452 Weiteres zum Setting empirisch-phänomenologischer Fallstudien siehe Heimbrock / Meyer: Erforschung professioneller Praxis in Fallstudien. 453 Vgl. Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie, 213.
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genzerfahrung und meiner diesbezüglichen eigenen Herkunftskultur ; es gilt, die sich ergebende dialogische Situation im Sinne der Anerkennung der Subjektivität und Gültigkeit der beforschten Religionslehrerin zu fundieren. Beim »Going native« geschieht mein Aufenthalt im Professionsfeld als »Kollegin« unter anderen KollegInnen mit dem Ziel, die Innenperspektive durch Partizipation zu übernehmen und der Praxis unter ihren Bedingungen als gelebte Praxis auf die Spur zu kommen. Im Interesse bleibt, das Feld möglichst nicht zu verändern, um deren Grenzen wissend. Die Eindrücke und prozessualen Momente halte ich durch das Führen eines Feldtagebuches fest, das in gewissen Abständen resümiert und verdichtet wird. Dabei ist klar, dass die textliche Repräsentation der Praxis im Bezug zu konkreter Wahrnehmung geschieht, ohne diese ungebrochen zu spiegeln, vielmehr den gewissen fiktional-konstruktiven Charakter ethnologischer Erkenntnisse anzuerkennen. Die Nähe zur bekannteren Phänomenologischen Beschreibung liegt in der Besonderheit der Nähe von Daten und Methode: Das Was und Wie der Erfahrung sind nicht zu trennen und machen gemeinsam das Phänomen aus. Folglich spiegeln sich in den konkreten Wiedergaben des Falls seine Phänomene nicht im Sinne des Erklärens, sondern der Darstellung und Repräsentation. Eine gelungene Beschreibung ist ein Sinn entfaltender Zeigevorgang, denn sie macht »sichtbar mit Worten, sie lässt uns sehen, was wir ohne sie nicht sehen würden.«454 Die dialogische Struktur der Erfahrung lässt den Anspruch der Religionslehrkraft als fremden Anspruch in meinen Erfahrungen und Artikulationen laut werden. Es gilt unter meiner leiblichen Beteiligung und Bewegung, die Erfahrung der anderen Professionellen zur Geltung kommen zu lassen, ohne die Schwelle dazu zu übertreten. Das erfordert Vorbereitung im Bereich der Aufmerksamkeitsschärfung: Gefühle, Vor-einstellungen, und -urteile müssen immer wieder bewusst gemacht werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Eintritt in die atmosphärischen Räume. Alle Sinne, Denken und Fühlen werden gleichsam in freischwebender Aufmerksamkeit für eine synästhetische Wahrnehmung geschärft. Das Instrument des Focusing455 hilft mir dabei, die leibliche Wahrnehmung zwischen Gefühl, Atmosphäre und Gegenstand als Startpunkt und Überprüfung für Symbolisierungen zu nutzen; wechselnde Fokussierungen werden möglich im Sinne des Perspektivenwechsels zur genaueren Wahrnehmung. Die Durchführung des literarischen Prozesses geschieht im indirekten Verfahren Dichter Beschreibung. Als Instrument aus der Ethnografie kommend456, 454 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 76. 455 Vgl. Gendlin: Focusing; zur erkenntnistheoretischen Nutzung siehe auch Leonhard: Leiblich lernen und lehren. 456 Vgl. Geertz: Dichte Beschreibung.
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nutzt es die Schriftsprache, um die Wege zwischen Aufmerksamkeit und Verschriftlichung möglichst dicht und nah zu halten. Auf der Basis meiner Feldnotizen, in Gesprächen und Recherchen eruierter weiterer Daten gilt es, im Interesse des erlebenden Nachvollzugs Wahrnehmung in zeitnahe Beschreibung zu überführen. Das Wichtigste bei diesem letztlich indirekten Vorgehen ist, die Schwelle zum Fremden genau wahrzunehmen und sie nicht zu überspielen. Es liegt viel Konzentration auf der sprachlichen Gestaltung des schreibenden Ichs, welche dem Nacherleben des Lesers dient.457 Ergänzungen geschehen durch intersubjektive Beschreibungen, Überprüfungen und Validierungen durch den Austausch sowohl mit der Beforschten als auch mit Co-ForscherInnen der begleitenden Projekte. In dem Verfahren ist die Dichte Beschreibung eine Form szenisch-narrativen Erinnerns, in ihren Intentionen ist sie dem aus der Erkenntnistheorie der Psychoanalyse stammenden Szenischen Verstehen ähnlich.458 Hier wie auch in anderen pädagogischen, vor allem in an therapeutische Kontexte angelehnten Settings angewendet, gibt der Weg des Szenischen Verstehens ein ähnliches tiefenhermeneutisches Ziel vor: Durch mehr und anders als logisch und auch nicht nur empathisches, auf Einfühlungsvermögen basierendes Verstehen gelingt es, die Übertragung und Gegenübertragung und damit ein besseres Erfassen von Beziehungskonstellationen und Verhältnismustern, die sich in Szenen offenbaren, zu fördern. Die der Begegnung und phänomenologischen Aufmerksamkeit entspringenden Daten Dichter Beschreibung versprechen eine starke lebensweltliche Verankerung des Falls. Für eine empirisch-theologische Erhebung des Umgangs mit krisenhafter Kontingenzerfahrung ist es wichtig, dabei die Perspektive und Stimme derjenigen einzubeziehen, die betroffen sind und die als AdressatInnen der Professionalität ganz vorn stehen.
2.4.3.4 Kommunikative Validierung Die kommunikative Validierung meiner Wahrnehmungen geschieht mit dem Forschungsgegenüber als auch in Gesprächen, gemeinsamen Auswertungen mit KollegInnen etc., um meine Studie innerhalb des Forschungsfeldes und darüber 457 Zu den literarisch-stilistischen Techniken gehören: Details schildern, prägnante Verben und Adjektive verwenden, das Präsens nahezu im Sinne eines Historischen Präsens zur Repräsentation des Lebendigen, das Erzeugen gewisser Spannung im Text. Ebenso wichtig ist die sprachliche Abgrenzung: Keine Reihung von Fakten, keine Erklärungen, keine Ausblendung von eigenen Erkenntnisprozessen, kein abstrakter Sprachstil und auch keine Übertreibung von Fremdheit oder Bekanntheit. 458 Vgl. Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion.
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hinaus plausibel zu machen.459 Daran beteiligt sind verschiedene Formationen wie die ehemalige Frankfurter Praktisch-theologische Sozietät sowie in Kleingruppenformationen und Forschungskolloquien, der Forschungswerkstatt Empirische Theologie der Universität Frankfurt, eine Tagung des European Network for Religious Education through Contextual Approaches (ENRECA), eine Tagungsgruppe der Religionspädagoginnen in der European Society of Women in Theological Research (ESWTR), die Arbeitsgruppe Empirische Religionsforschung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh, jetzt e.V.) und andere mehr.
2.4.4 Rekonstruktion und Analyse des Falls Die Kernarbeit des Falls ist die in enger Verzahnung stehende, aber doch deutlich zu unterscheidende Untersuchung. Diese orientiert sich in der Erschließung der besonderen Handlungsperspektive der Religionslehrkraft vor dem Horizont verschiedener diskursiver Kontexte der Anthropologie, Theologie und Religionspädagogik. Insofern ist die Frage: Was trägt den FALL als Fall krisenhafter religionspädagogischer Professionalität? folgendermaßen aufzufächern: – Wie nimmt das professionelle Subjekt die Kontingenzerfahrung bei dem Schüler und in der Gesamtsituation wahr, ›als was‹ beschreibt sie diese? Welche Diskurse spielen dabei offensichtlich oder impizit eine Rolle? Welche Nähe oder welche Distanz nimmt die Lehrerin zu diesen Diskursen ein? – Wie stellt sich die Religionslehrerin als professionelles Subjekt selbst zu dieser Herausforderung (z. B. Co-Akteur, Empfänger, Opponent, Warner, Verfechter etc.) und welche anderen Akteure kommen in dieser Perspektive mit in den Blick? – Welches (persönliche oder strukturelle) Konflikt- und Krisenpotenzial wird thematisiert oder implizit aktiviert (letzteres ggf. auch durch Vermeiden, Verschweigen, Verleugnen)? – Welche Deutungen werden bemüht? In welchen Deutungszusammenhängen sind sie zu verorten? Was wird im Vollzug von Handlungen und Deutungen ›als wahr‹ vorausgesetzt? An welche Normen wird appelliert? Wie werden sie je zu den Bildungs- und Lernkontexten relationiert? Wie verhalten sie sich zu anderen Faktoren des Falles (z. B. das räumliche Arrangement, die leibliche Gegebenheit, die sprachliche Artikulation, die intersubjektive Sphäre, etc.)?
459 Vgl. Flick: Qualitative Sozialforschung, 495; Mädler : Gegenstandsbezogene Theoriebildung: Grounded Theory, 250. Siehe auch Kap. 2.3.2.
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– In welcher Weise kommt gelehrte, Material-bestimmte, gelebte Religion zum Tragen? - Welche Erscheinungsformen werden mit welchem Stellenwert offensichtlich? - Welche Traditionen werden beansprucht, gefestigt, aufgebrochen? - Sind religiöse Transformationsprozesse, Spuren von ›Religionswandel‹ sichtbar? - Inwiefern werden Religionsverständnisse formuliert oder implizit erkennbar? - Wird das Verhältnis von Religion und Profession ins Spiel gebracht? - Was ereignet sich an den ›Schnittflächen‹ zwischen Religionslehrkräften, der Institution der Schule und weiteren beteiligten Faktoren im zugrunde gelegten Fall? - Wie nehmen die Professionen einander wahr? (Welche Selbst-, Fremdund Metabilder werden dabei in Anspruch genommen und in welchem Interesse aufgebaut, referiert oder verworfen?) - Wie entwerfen sie ihre eigene professionelle Rolle im Horizont der anderen? - Inwiefern werden dabei Beziehungen zwischen »Professionellen« und »Laien« zementiert, aufgeweicht, qualitativ verändert (z. B. im Verhältnis von Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen, Nebenamtlichen)? - Welche Rolle spielen bei diesen Interaktionen zwischen Professionen Transformationsprozesse und Strukturveränderungen? - Wie verhalten sich die Akteure mit Blick auf den Praxis-Horizont, auf den sich der Fall bezieht (kooperativ, konkurrierend, offen oppositionär, unstimmig etc.)? - Welche Vorstellungen von und Beziehungen zu ›Kirche‹ werden in Anspruch genommen, verschwiegen, negiert, reformuliert oder erschaffen? Dabei gilt es auch, Leerstellen im Auge zu behalten.
2.4.5 Brennpunkte im Diskurs In der zirkulär angelegten Auswertung gehe ich diskursiv folgenden Leitfragen im Horizont religionspädagogischer Professionstheorie nach: 1. Welche gelebten religiösen Zusammenhänge werden aktiviert, und in welchen anthropologischen, kultur- und religionstheoretischen Mustern und Deutungszusammenhängen kommen diese zum Tragen? 2. Welche Aspekte theologischer Kontextualisierung werden durch diese Einsichten hervorgehoben? Welche ergeben sich im Horizont des Falls als mehr
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und weniger förderlich? Worauf sollte das Augenmerk (in) einer praktischtheologischen Professionstheorie und -ethik liegen? 3. Welche Implikationen ergeben sich aus den Einsichten für die Bestimmung der Normativität religiöser Bildung? Was bedeutet das für die diesbezüglichen Praxisfelder? Als Ziel für den nächsten Schritt geht es mir um die Fokussierung des kritischen Moments in der konkreten Praxis, auch durch Sichtbarmachen der impliziten Handlungsintentionen und der dabei in Anspruch genommenen Geltungsbestände religiöser bzw. theologischer Normen. Im empirischen Interesse liegt die professionelle Handlungsperspektive der Religionslehrerin im Kontext erlebter Religion in der Nachmoderne.
2.4.6 Zum Verhältnis von Forschungs- und Darstellungslogik Von großer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen der forschungsmethodischen Fallarbeit und der forschungspräsentativen Fallstudie. Johannes Süßmanns kulturwissenschaftlich angelegte Fallstudienforschung460 rückt erkenntnistheoretische Implikationen der Fallstudien in den Mittelpunkt; damit steht die Fallstudie als Denkmodell, aber auch als Text und sprachliche Gestalt im Fokus – auch rhetorisch. Epistemik, Narrativik und Pragmatik zusammen machen erst Typen von Fallstudien aus. »Fallstudien sind Darstellungen, die das Dargestellte als Fall präsentieren.«461 Man kann nicht nicht interpretieren. Es gilt hier auch der Konsequenz der Darstellung zu folgen: Der Narrativik der Fallstudie, ihrer daraus erwachenden Textgestalt, ist die Interpretation inhärent. Datenprotokoll und erzählerische Darstellung sind nicht zu trennen. Dabei wird auch jenseits zweier idealtypischer epistemischer Logiken ersichtlich, dass der Erkenntnisprozess nicht ohne eine Verwicklungsgeschichte der Darstellenden mit dem dargestellten Gegenstand geschieht.462 Die Pragmatik der Fallstudie (Kontext und Funktion) unterscheidet Typen 460 Süßmann / Scholz / Engel: Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode. Es handelt sich dabei um den Tagungsbericht einer interdisziplinären, kulturwissenschaftlich fokussierten Tagung 2005. 461 A. a. O., 19. 462 Die Epistemik der Fallstudie benennt Typen: a. Performanz: In Worte Fassen des stellvertretend bekannt Werdenden; b. Repräsentanz: Veranschaulichung des Allgemeinen im Besonderen; c. Performativität des Ineinander von Fall und Darstellung, bei dem sich Fall herauskristallisiert. Wichtig dabei sind die Rolle von Autor bzw. Forscher und Fallgegenstand.
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unterschiedlicher pragmatischer Logik. Süßmann differenziert im Anklang an Peirce’ Erkenntnislogik drei Logiken für Fallstudien: die induktive Logik mit einer seriellen Fallsammlung für applikative Praktiken oder induktive Theoriebildung; nach einer subsumtiven Logik verfahren rhetorisch-didaktische, in jedem Fall deutende Beispielerzählungen, die unter Allgemeines subsummiert werden und die Theorie bewegen und lenken; und schließlich die im kulturwissenschaftlich-semiotischen Kontext relevante abduktive Logik, nach der Allgemeines in Besonderes eingewoben ist. Bei meinem Vorhaben handelt es sich am ehesten um einen abduktiven Typus, wie er für die phänomenologisch orientierte Empirische Theologie auch maßgeblich ist. Hier ist das Allgemeine so sehr in das Besondere eingewoben, dass es nur durch das abduktive Schließen sichtbar wird. Folglich ist das Besondere irreduzibel darzustellen, damit in ihm das Allgemeine überhaupt erscheinen kann.463 Entscheidend ist, dass diesen Logiken auch Textfunktionen innewohnen: Mit dem abduktiven Schließen wird eher Evokation gegenüber Analyse und Erörterung betrieben – ein wichtiges Verfahren auch auf dem Weg zu practical skills: Durch kunstvolle Darstellung wird es möglich, allgemeinere Kommunikation zu ermöglichen, den Lesenden den Nach- und Mitvollzug prozesshafter Elemente, Atmosphären und Emotionen zu gewähren, da das Narrative eine gemeinsame Textwelt von Fall und FallrezipientInnen wird.464 Indem elementare methodologische Aspekte durchdacht werden, stellt sich auch die Frage nach der literarischen Präsentation der Fallstudie. Überlegt man darstellungslogisch, welche Lesart einer Fallstudie Sinn macht – in Abgrenzung zu allgemeinen, quantitativ erhobenen Daten – überwiegen Argumente, die man unter den Termini Komplexität und Spannungsreichtum fassen könnte und die Aspektreichtum, Differenziertheit und Ambivalenz beherbergen. Was forschungsstruktuell für das analytische Denken schwierig ist, nämlich das Ineinanderfallen von Daten und Interpretation, ist wiederum für den Leseprozess hilfreich. Ähnliches gilt auch für den Schreibprozess. Daher ist für meinen Fall die Notwendigkeit gegeben, die Darstellungs- und Erzählebene vorzustellen, um auch zu verdeutlichen, dass erst sie den sinnlichen Überschuss, die Atmosphären, die Zusammenhänge narrativ zu erhellen weiß. Einen Fall zu zeichnen heißt phänomenologisch-empirisch daher auch, ihn nachvollziehbar zu machen sowie seine lebensweltlichen, biografischen, gesellschaftlichen, religiösen Zusammenhänge, die zu seinem Ent- und Aufdecken führen, transparent zu halten. Da es sich um Begegnungen handelt, die als Fall nicht ausschließlich geplant, sondern die auch zugefallen sind, ist auch der 463 Süßmann u. a. zweifeln daran, dass dieser Typus tatsächlich erst mit der zunehmenden Individualisierung an der Wende vom 18. zum 19. Jh. ausgeprägt wird. 464 Vgl. Süßmann / Scholz / Engel: Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode, 22f.
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darstellerische Teil eine Mixtur aus Grundlegungen, Sichtweisen, in die sich aber die Rekonstruktion ereignishafter Elemente einzeichnen lässt. Bei meiner Einzelfallstudie konzentriere ich mich auf unterschiedliche Elemente, die in der Auseinandersetzung mit Theorierichtungen unterschiedliche Stellenwerte und Funktionen übernehmen. Die Darstellung orientiert sich dabei an der Transparenz der Forschungsschritte.
2.5
Auf der Schwelle: Situationsnahes Bearbeiten zwischen FALLrepräsentationen und Fallarbeit465
Verschiedene Facetten des FALLs sind dargelegt, der methodologische Weg ist bereitet. Auf der Schwelle zur Fallarbeit geht es nun darum, in einem ersten Schritt die vorfindliche Situation des FALLs mit den einzelnen Situationen ihrer Vignetten ex post nachzuvollziehen und zu begreifen. Dazu nehme ich phänomenologische Grundelemente in den Blick und stelle retrospektiv die Forschungssituation heraus. Damit binde ich die Fallsituation zum Gegenstand der Fallstudie zurück. Schließlich ermittle ich, welche weiteren theoretischen Bearbeitungsfelder der Fallarbeit für die Studie essenziell sind.466
2.5.1 FALL und Situation Auf meinem Weg der Annäherung an ein empirisch-phänomenologisches Verständnis der Kontingenzerfahrung ist es ein erster Schritt, die Situiertheit des Falles aufzugreifen und sie mit theoretischen Elementen anzureichern, welche die phänomenologische Dimensionalität des FALLs als Fall von Professionserkundung darlegt. Dass Lehrkräfte nicht nur zu Schul- und Unterrichtszeiten arbeiten, ist selbstredend klar. Vergegenwärtigt man sich die Grundbedingungen von Raum, Zeit, Leiblichkeit, Sprache und Intersubjektivität, welche den Fall kennzeichnen, fällt auf: Die Ausdehnung des Arbeitsbereiches wird hier nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich deutlich markiert. Die Lehrerin ist nicht nur im Klassenzimmer und auch keinesfalls nur im Schulgebäude professionell tätig, sondern auch jenseits dessen, in den privaten Zonen der 465 Unter Verwendung und Bearbeitung von Erkundungsgängen aus Leonhard: Menschlicher Verletzlichkeit aufmerksam begegnen. 466 Die situationsnahen Kontextualisierungen sind grau unterlegt, um die Übergänge zur Theoriedarlegung zu kennzeichnen, sie von Abstraktionen aber zugleich zu differenzieren.
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Wohnung des Schülers, eingebunden in einen organisatorischen und rechtlichen Rahmen. Voraussetzung für eine phänomenologische Erhellung der Situiertheit ist eine Klärung des Verständnisses von Situation und leiblich-sozialer Räumlichkeit, wie sie v. a. bei M. Merleau-Ponty und M. Foucault maßgeblich sind.467 Der Begriff Situation ist seit dem Existentialismus von Bedeutung: Eine Situation wurzelt in einer Grundsituation – dem In-der-Welt-Sein ohne die Möglichkeit, meinem In-der-Welt-Sein zu entfliehen – und Grenzsitutionen – Momente des Versagens, das Erreichen des unerträglichen Ende von Handlung.468 Die phänomenologische Bedeutung liegt auf dem Paradox von Vorfindlichkeit und Freiheit – der gegebene Ort, die gegebene Zeit, soziale Vorbedingungen, aber auch die Abhängigkeit davon, wie ein Subjekt oder eine Gemeinschaft sich selbst versteht, handelt oder auf diese Gegebenheit antwortet.469 Vergangenheit und Zukunft, Gemeinsames und Individuelles kommen zusammen. Hier zeigt Situation die Verbindung zwischen der leibraumzeitlichen Gegebenheit und den Handlungs- und Kommunikationsoptionen auf. Sie baut das Netz sozialer Interaktion in der Perspektive des Gegebenseins im phänomenologischen Hier und Jetzt auf. Verhält sich der existenzialphänomenologische Situationsbegriff noch relativ wertneutral zu gesellschaftlichen Gegebenheiten, so wird mit Foucaults Begriff der Heterotopie bzw. Heterotypie eine geschärfte sozialphänomenologische und kritisch-funktionale Sicht auf die Einrichtung von Raum, Zeit und Leiblichkeit möglich, die es ermöglicht, auch mit schrägem Blick auf Bedingungen professionellen Handelns zu schauen. An Exemplifizierungen wie Gefängnissen, Krankenhäusern etc.470, die von den je anderen Räumen der »Normalität« abgetrennt sind, zeigt Foucault die Gegebenheiten räumlich verstandener Lebenswelt als Quelle von Normativität auf. Mit seinem Ansatz übt Foucault harsche Kritik an der dysfunktionalen Einrichtung von sozialen, fürsorglichen Einrichtungen, da diese eher der Egalisierung von Anderen dienen als Andersheit wertzuschätzen. Zugleich macht dieser Zugang und seine Rezeption nicht nur in der Architektur, sondern auch in Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften – so auch Theologie – positiv deutlich, dass das Augenmerk auf die Lebenswelten des Heterotopischen Aufschluss gibt über Lebenserfahrungen, die 467 Vgl. dazu auch Bauer : Dimension Raum. 468 Vgl. Jaspers: Existenzerhellung. 469 Vgl. Merleau-Ponty : Phänomenologie der Wahrnehmung; Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie; Schütz / Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. 470 Vgl. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft; ders.: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.
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verdrängt, vergessen oder marginalisiert werden, jedoch, wenn ans Tageslicht geholt, Valenzen für Neuorientierungen bereithalten im Sinne der Anerkennung von Diversität und Andersheit. Daher bedeutet meine Rekonstruktion der Situation, die Vorfindlichkeit der erfahrenen Realität in der beruflichen religionspädagogischen Praxis und die Öffnungen und Schließungen des Raumes genau in den Blick zu nehmen.
2.5.2 Von der Situation des FALLs ausgehen: Das ›Pathische‹ wahrnehmen Wenn ich die Situation zwischen der Klassen- und Religionslehrerin und dem Schüler fokussiere, lässt sie sich als heterotopische Begegnung innerhalb einer weiteren religionspädagogischen Situation begreifen. In ihrem Fokus stehen Erfahrungen rund um eine Dimension, der ich mich mit dem Begriff des Pathischen am ehesten annähern kann. Im Pathischen sind Erfahrungen von Krankheit und Unverfügbarkeit, aber auch Verhaltensmomente und Deutungsmuster eingeschlossen; der dimensionale Begriff erweckt den Eindruck, auch in den phänomenologischen Grunddimensionen Raum, Leib, Sprache wie Intersubjektivität vernehmbar zu sein und zugleich einen bearbeitungsfähigen Ausdruck dafür zu bieten. Um die professionstheoretischen Implikationen dieses Beziehungsprozesses von diesem Ausgangspunkt aus zu analysieren, gilt es die Herausforderungen zu beleuchten, die für die Lehrkraft durch den Schüler und seinen sichtbaren Weg des Umgangs mit der vorfindlichen Verletzlichkeit vorliegen. Hier betreffen sie hauptsächlich den vom Schüler erfahrenen »schmerzvollen Vorfall«.471 Das ist der Ausgangspunkt für den ethischen Anspruch für ein leiblich verankertes Antworten.472 Konkret sind generelle und besonders auffallende Elemente des Kontaktprozesses zwischen professioneller Lehrkraft und Schüler zu fokussieren, die von einer dritten Person beobachtet wurden. Phänomene der plötzlichen Unterbrechung oder unterschiedlicher Wendepunkte erscheinen auf der von Ruth C. Cohn beschriebenen Weise als »leidenschaftliche Betroffenheit« in einem pädagogischen Prozess wie einer Unterrichtsstunde.473 Während sie sonst gewöhnlich wegen kommunikativer Regeln unausgesprochen bleiben, werden sie hier explizit und fordern die Konturierung beruflichen Handelns heraus.
471 Vgl. Waldenfels An Stelle von…, 33f. 472 Vgl. Leonhard / Thoresen: Dimension Leib, darin 2.1. 473 Vgl. Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion.
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2.5.3 Auf Erfahrungen des Pathischen professionell antworten? – Fallbezogene situierte Wahrnehmung des Anderen In diesem Kontext finden sich ebenfalls sichtbare wie verborgene Schichten von Annetts professionellem Verhalten. Sie redet nicht viel über ihren emotionalen Umgang mit Johannes’ Situation – sehr wenige Male nur mit mir und noch weniger mit Johannes. Sie ist kraftvoll und sicher in der Vorbereitung von Situationen und in vorbereiteten Situationen, aber ihr fehlen die Worte, wenn sie mitten in einer Unterrichtsstunde mit Johannes’ spontaner Assoziation konfrontiert wird. Ihre Emotionalität wird für mich nachfühlbar. Was sie tut und worum sie sich bemüht, ist, Geduld mit ihm zu haben, ihn nicht zu ignorieren, ihn vielmehr zu beachten und seiner emotionalen und speziell leidenden Dimension seines Lebens zuzuhören, das nicht durch ein System von Unterrichtsstunden oder Schule steuerbar ist. Dies wird hörbar in einer späteren Stunde, in der Johannes den eindrücklichsten Ausdruck seines Leidens im Selbstbezug auf Hiob in »leidenschaftlicher Beteiligung« formuliert. Sich auf Hiob zu berufen, verkörpert eine Chance, das auszudrücken, was unterdrückt wird, danach zu schreien, gehört zu werden und Hilfe zu bekommen, ein Ventil für sich selbst und seine Lehrerin, der die Worte fehlen. Solch ein Ausdruck ruft körperlich wahrnehmbare Eindrücke hervor, er unterbricht die von der Lehrkraft geplante Unterrichtsstunde und initiiert eine Darstellung des Unmöglichen an der Schule474 – ein schmerzhafter Moment für ihn, aber ein »ertragreicher Moment« der Wahrnehmung für die anderen. In diesem Moment überschreitet der Inhalt ihres Religionsunterrichts die Wände der schulischen Normalität und berührt das Leben des Schülers. Hiob als leidender und zweifelnder Gestalt im Kontext des Religionsunterrichts zu begegnen, lädt zu Schülerreaktionen ein, sich zu identifizieren, Nähe und Distanz zu den biblischen Erfahrungen zu bestimmen und mit seiner Rolle im Leben zu spielen. Hier greift die Lehrkraft die biblische Figur und ihre Szenerie im Kontext der Schule auf, um Raum für eine Lebensperspektive zu schaffen, indem sie Schutz in einer lebensbedrohlichen Situation bietet – gemäß und entgegen dem recht ironischen »Happy End« des biblischen Modells. Das Verhalten der Lehrerin, die Begegnung zu erfassen und zu respektieren, ein Teil von Johannes’ Situation zu sein sowie aktiv auf seine Situation zu antworten, indem sie versucht »ein Stück Normalität« zu ermöglichen, wirkt in diesem ersten situationsnahen Annäherungsgang als eine Antwort auf den Schüler und seine Situation, ihn nicht auf seine 474 Vgl. Scarry : Der Körper im Schmerz.
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Krankheit zu reduzieren, ihn jedoch als verletzlichen Anderen wahrzunehmen. Damit wird offensichtlich eine Grenzzone der Professionalität betreten, die mit eigener Erfahrung von Unverfügbarkeit zu tun hat. Die erste situationsnahe FALLbearbeitung weist auf Seiten von professionellem religionspädagogischem Handeln hin, die in der Religionspädagogik bisher übersehen oder nur peripher betrachtet wurden: Mit der Konzentration auf Kranksein als exemplarisches Phänomen gilt es, die Dimension des Pathischen und ihre Relevanz im Rahmen der Frage nach dem Umgang mit Kontingenz herauszuarbeiten. Zu meinem Erkenntnisinteresse gehört die Ermittlung von anthropologischen und theologischen Fundamenten für eine religionspädagogische Professionstheorie, welche die Ränder des Könnens und Darstellens – also die Grenzen von Kompetenz und Performanz – ausloten, damit die Frage nach dem Subjekt und Intersubjektivität neu gestellt werden kann. Dabei verdeutlicht sich die Forschungsfrage: Welchen Stellenwert hat das Pathische in religiöser Bildung und für religionspädagogische Professionalität?
2.5.4 Vom empirischen Einzelfall zur theoretischen Anreicherung Daher besteht nach der Darstellung der FALLsituation, der methodisch-methodologischen Klärung und ersten situationsnahen Bearbeitungen nun Bedarf zu erweiterter theoretischer Kontextualisierung, die mit Fallarbeit allein nicht gelöst werden kann. Die Entdeckung der Dimension des Pathischen wirft Fragen auf zur weiteren und präziseren Bestimmung von Kranksein und Erfahrung als religiöse Phänomene in anthropologisch-kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen (3.). Die Qualifizierung von Erfahrung und Religion bliebe für eine professionstheoretische religionspädagogische Orientierung unterbestimmt, wenn sie nicht in theologischen Diskursen verhandelt und damit ethisch fundiert würde (4.). Die Schwellen zwischen Normalität und der besonderen Situation verweisen schon jetzt darauf, dass religionspädagogische Handlungsräume nicht so klar zu umgrenzen sind, wie es scheint. Professionell Handelnde bewegen sich zuweilen wie ReisebegleiterInnen zwischen Räumen und damit auch zwischen Lebenswelten. Daher sind Räume und Qualität religionspädagogischer Bildung neu auszuloten hinsichtlich Didaktik, Handlungsfeldern und professionsethischer Orientierung (5.). Somit ist schließlich aufgrund der gegebenen Anforderungssituationen und im Rahmen der interdisziplinären Verortungen religionspädagogische Professionalität hinsichtlich Habitus, Kompetenz und Haltung genauer zu ermitteln
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Theologisch-pädagogische Professionsforschung
und auszuloten, inwiefern und wie die Rede von religionspädagogischer Professionalität in derartigen Grenzfällen angemessen ist. Am Ende stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für gegenwärtige Diskurse und religionspädagogische Praxisfelder ergeben (6.).
3.
Kontingenzbegegnung. Kulturphänomenologische Grundlinien einer Patho-Grafie der gelebten Religion
Ein Fall geht als lenkendes Moment und empirisches Modell in eine religionspädagogische Untersuchung ein: Der FALL ist für die beteiligten Subjekte ins Leben getreten, hat mir als Forscherin einen phänomenologisch-empirischen Anstoß gegeben und begleitet mich nun bei meinen explorativen Erkundungen auf dem Weg zu einer interdisziplinären Fundierung von religionspädagogischer Professionalität. Dies geschieht auf einem Weg, auf welchem der FALL sich wissenschaftlich anonymisiert, typisiert und theoretisch kontextualisiert in eine interdisziplinär interessierte Öffentlichkeit einschreibt und damit mehrperspektivisch lesbar wird. Können Menschen »professionell« mit Kontingenzerfahrungen umgehen? Im Interesse einer Auslotung von Möglichkeiten und Grenzen geht es in diesem Kapitel darum, vom FALL aus den zugrunde liegenden lebensweltbezogenen Theoriehorizont aufzuzeigen und die Phänomenologie des Pathischen im Horizont von Religion zu erkunden. Für ein Aufschließen der religionskulturellen Dimensionierung von Kontingenzerfahrung ist zunächst eine Eröffnung nötig, welche das Pathische aufzeigt (3.1). Ausgehend vom im Fall aufscheinenden Phänomen der Krankheit wird der Diskurs mit human- und kulturwissenschaftlichen Theorien eröffnet. Dazu werden im Gespräch mit der Medizinanthropologie Grundlagen für die Frage nach Religiosität gelegt (3.2) und das phänomenologische Verständnis von Erfahrung geschärft (3.3). Damit sollen schließlich die religionstheoretische Verortung von Intersubjektivität präzisiert und die Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs mit Erfahrungen des Unverfügbaren in Rückbindung an den lebensweltlichen Fall differenziert werden (3.4).
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3.1
Kulturphänomenologische Grundlinien einer Patho-Grafie
Die Dimension des Pathischen als religiöse Kategorie
3.1.1 Homo religiosus und Kulturen des Pathischen Dieser FALL hat vor dem Hintergrund der Beleuchtung von religionspädagogischer Professionalität das Augenmerk nicht nur auf ein Phänomen, sondern auf eine phänomenologische Dimension gelenkt, die es nun in Aspekten aufzudecken und diskursiv zu bewerten gilt. Um deren Bedeutungen und Kontexte, die sich im FALL konstituieren und verdichten, vor dem Horizont der Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Kultur auch theoretisch beschreibbar zu machen, wird nun erhellt, welche Kontexte von Religion mit der Dimension des Pathischen anklingen. Es geht also darum, zunächst den Horizont für einige nähere theoretische Bestimmungen zu beleuchten, da dieser auch auf die Schwerpunktsetzungen der weiteren Erkundung Einfluss nimmt. Für die mitlaufende Dimensionierung von Religion und den zu bestreitenden Weg sind verschiedene Elemente maßgeblich: das Verständnis von Religion als Phänomen, die konkreten Orte und Schauplätze, an denen die Dimension des Pathischen als religiöse Gestalt wirksam wird, und die entsprechende Fokussierung exemplarischer und bedeutsamer Elemente des Pathischen. Wo und wie man der Dimension des Pathischen sichtbar und fühlbar gewahr wird, darüber gibt die Frage nach seiner Kultur und nach den situierten Räumen, in denen Menschen Erfahrungen machen, Auskunft. Hier soll lebenswelt-phänomenologisch in den Blick kommen, wie Menschen mit Erfahrungen des Pathischen umgehen. Das Pathische in religiöser Hinsicht mit Leidensthematik zu assoziieren, liegt auf der Hand. Alle Religionen bearbeiten die Frage nach Negativität, allen ist sicherlich das Bemühen um theoretische Klärung und praktische Bearbeitung bzw. Überwindung des Leidens gemeinsam. Es läge nahe, zunächst bei den institutionalisierten Religionen vergleichend zu schauen, welche Vorstellungen in Bezug auf das Leiden vorherrschen. Damit würde ersichtlich: Alle Religionen – wie überhaupt Kulturen – befassen sich mit der Seite des Leidens in Bezug auf Leben, Tod und Heilsvorstellungen. Im Buddhismus z. B. ist das Leiden diejenige Größe, durch die das menschliche Leben bestimmt wird – hier gilt die Leidensaufhebung durch Leidenschaftslosigkeit. Im Islam bekommt Leiden unterschiedliche Bedeutungen beigemessen: Während im sunnitischen Islam Leiden als Prüfung oder Strafe Gottes gilt475, vertritt z. B. insbesondere die Mystik des Sufismus eine Stellvertretertheologie – die verfolgten und sündlosen Imame leiden stellvertretend für die Gläubigen, in ähnlicher Weise wie der Stellvertretergedanke der leidenden Christusgestalt im Christentum.476 Mit einer 475 Vgl. Renz u. a.: Prüfung oder Preis der Freiheit? 476 Leiden im Islam ist wichtig in der Mystik, da es dort Stellvertretungs- bzw. Erlösungsvor-
Die Dimension des Pathischen als religiöse Kategorie
193
solchen vergleichenden Betrachtung, wie sie z. B. Theo Sundermeier im Interesse einer interreligiösen Hermeneutik verfolgt477 und wie sie im Anschluss daran auf Praxisvollzüge in unterschiedlichen Religionen zu übertragen wäre, würde jedoch noch nicht erfasst, wie sich die Erfahrungen der betreffenden Menschen einzeln und in Gemeinschaft zu den Vorstellungen relationieren. Das Interesse dieser Arbeit verbindet kaum und nur dann ein komparativisches Interesse, wenn dieses auch in Bezug auf religionendifferente oder interreligiöse Umgangsformen eine Rolle spielt. Weder Leiden noch Schmerz sind religionswissenschaftliche Termini – sie zeugen davon, dass Religion in der Erfahrung verortet ist, diese aber nicht selbstverständlich als Teil von Religion gilt. In der religionsphänomenologischen Schule nach Rudolf Otto, Gustav Mensching und anderen wird Religion als die geformte Reaktion auf das fascinosum et tremendum verstanden.478 Einen stärker anthropologischen Zugang bedenkt Gerardus van der Leeuw, der Religionsphänomenologie im Anschluss an Wilhelm Dilthey als eine Erlebniswissenschaft entwirft und kultische Formen benennt.479 »Phänomenologie ist die Rede über das Sich-Zeigende. Religion ist ein Grenzerlebnis, das sich dem Blick entzieht, eine Offenbarung, die wesensmäßig verborgen ist und bleibt.«480 Religion ist hier eine Verarbeitung menschlicher Erfahrung, die den homo religiosus kennzeichnet; deren Inhaltsbereich weist vor allem dem Aspekt der Macht große Bedeutung zu. Gerardus van der Leeuw setzt darauf, dass seine Klassifikation religiöser Phänomene wie Heiland, Opfer, Gebet, Mythos, in der Methode des Nacherlebens die Bedeutung, nämlich Sinnzusammenhang und Struktur von Religion bzw. Religiosität, offenlegt und Idealtypen ermittelt werden. Das Phänomen wird also deduktiv ins eigene Leben eingesetzt; Erfahrung ist die Anwendungsseite prädefinierter religiöser Erscheinungsformen. Leeuw kommt zu diesen Formen, weil er von einer anthropologischen Grundannahme des Machtsuchens ausgeht, das an den eigenen Grenzen – hier wirkt der existenzphilosophische Einfluss von Karl Jaspers und Ludwig Binswanger – auf das Entgegenkommen des Heiligen stößt und damit Offenbarung erfährt; auf diese Weise wird Heil beschreibbar. Menschliches Erleben steht damit im Zusammenhang mit und im Gegenüber zu einer Macht, deren Auswirkung als pathisch erfahrbar wird – dem Menschen ist so eine
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stellungen gibt. Im Schiitentum gilt: Die zwölf unschuldigen Imame als eigentlich rechtmäßige (von den umma verdrängten) Nachfolger Muhammeds sind ungerechtem Leiden (Gefangenschaft, Exil, Tod) ausgesetzt gewesen. Das Nachempfinden geschieht in Geißlerprozessen. Die Schuldlosigkeit der Imame kann auf diese Weise auch anderen zugute kommen (Vgl. Halm: Leiden. Religionsgeschichtlich: Islam; Ayoub: Redemptive suffering in Islam). Vgl. Sundermeiers interreligiöse Hermeneutik (In: Den Fremden verstehen). Vgl. Otto: Das Heilige. Vgl. Leeuw : Phänomenologie der Religion, 768ff. A. a. O., 781.
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Grundpassivität anheimgestellt, die allerdings erst durch das Nacherleben plausibel wird. Sichtbar ist, dass der Religion unterschiedliche Weisen von Phänomenen eigen sind, die sich alle auf die Grundgegebenheit einer gewissen Passivität, der Machtlosigkeit stellen; mit Einbezug dieser Grundgegebenheit sind Sinn- und die Machtgebung als menschliches Verstehen nachvollziehbar. Damit werden mit äußeren wie inneren Handlungen zur Heiligung religionskulturelle Formen und Haltungen ersichtlich, die sich in Ritualen von Opfer, Anbetung, Reinigung, Haltungen der Askese und Mystik etc. als Reaktionen von und Kommunikation mit Offenbarungswirken ausdrücken; Menschen überkommt ein Passivitätszusammenhang, der durch Religionsgestalten diese Formen symbolisiert und kultiviert. Fragt man auf dieser Basis danach, wie der Mensch mit Passivität und Leiden umgeht, ließe sich mit Leeuw eine Reihe von Phänomenen darlegen, die wirkungslogisch zwischen Subjekt und Objekt Religion im Sinne von Religiosität charakterisieren: Insbesondere der rituelle Umgang mit Geburt, Tod, Reinigung und die Vertretungen der Macht liegt bei Stellvertretern wie Medizinmännern und Priestern. Überträgt man diesen Zusammenhang auf die am höchsten gesteigerte Form im Christentum, die Gemeinschaft der Heiligen, zeigt sich aus religionswissenschaftlicher Sicht, dass gerade Einsamkeit und Sorge auf der Vereinigung im Leib Christi, der Gestalt eines solchen Lebens, gründet.481 Leeuw stützt sich in seinen Erkundungen auf die Methode des Nacherlebens. Aus zwei Gründen gilt sein Weg in religionswissenschaftlicher Hinsicht heute als schwierig. Zum einen sei ihr ein methodischer Subjektivismus inhärent. Dazu ist aus der Perspektive einer lebensweltbezogene Wissenschaft zu sagen, dass eine intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung – die auch mit einer schriftlichen Beschreibung einhergeht – dieses Argument eindämmt. Religiöses Erleben ist schwerlich beschreibbar ohne die Personalität des Erfahrungscharakters, der diesem zugrundeliegt. Schwerer wiegt das Argument, dass seine Klassifikation ohne Berücksichtigung historischer und soziokultureller Kontexte geschieht. Von heute her ausgedrückt: Im nicht klar umgrenzten Raum einer nachsäkularen Zeit sind die Erlebnisformen, die sich als religiös qualifizieren lassen, anders eingebunden – und möglicherweise sind auch manche Erlebnisse inhaltlich anders gelagert. Einen kulturellen Kontext bedenkt Mircea Eliade: In seiner Religionsgeschichte des homo religiosus zählt er zu der religiösen Erfahrung des Lebens, dass Menschen im Zuge ihres gesteigerten Interesses an den eigenen religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Entdeckungen auch die Umordnung des Heiligen erkennen und Gott umso mehr für sie in die Ferne rückt.482 Diese »Ent481 Vgl. a. a. O., 310. 482 Vgl. Eliade: Das Heilige und das Profane, 111–113.
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ferntheit Gottes« erfährt jedoch immer dann eine Umkehrung, wenn alles eigene Bemühen erfolglos bleibt oder schweres Unglück in historischen Katastrophen über die Völker hereinbricht – höchste Not.483 Die niederen Götter vermögen zwar das Leben zu bereichern, in der Situation äußerster kosmischer Bedrohung und Vernichtung gilt jedoch die Erinnerung an das höchste Wesen, dem sich wieder zugewendet wird.484 Damit bekommen Klage und Gebet sowie Haltungen der Askese und Mystik einen Sitz im Leben der Erfahrungen des Pathischen. Wollte man eine Phänomenologie von gegenwärtigen Erscheinungsformen des Pathischen im Sinne der Religionsphänomenologie darlegen, gibt Leeuw mit seiner Klassifikation nach wie vor modellhafte Formtypen vor, in die sich Religionsgestalten des Pathischen eingießen und an denen sich Erscheinungsformen der Gegenwart spiegeln lassen. Mit Eliade lässt sich der kulturelle Grund und Anlass des Umgangs mit Passivität und Leiden religionsphänomenologisch nachvollziehen. Auf dem Weg zu meinem Zugang zu Religion sind aber noch andere Stationen und Gewährskonzepte zu nennen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Binnenperspektiven von Theologie nicht als Norm setzen, sondern den lebens-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Einbezug von Weltzugängen zum Humanum schaffen. Dies geschieht durch interdisziplinäre Anleihen in Philosophie, Kulturwissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaft, aber auch Geschichtswissenschaft sowie in Ästhetik. Eine Erweiterung dieser Perspektiven nimmt u. a. folgende andere Modi der Erkenntnis und der Religiosität in Anspruch. a) Im Christentum, aber auch in den anderen Religionen spielt Leidensfrömmigkeit in wiederkehrenden Szenen eine religionsästhetische Rolle. Insbesondere die religiösen Erzähl- und Texttraditionen um Leiden, Hiob, Jesus, aber auch Paulus erlangen eine kraftvolle literarische Wirkungsgeschichte, auf die später noch etwas genauer einzugehen ist. In der Geschichte und Gegenwart von Ästhetik lässt sich die Nähe von religiöser und ästhetischer Symbolik485 und Erfahrung aufweisen. Zu den Schauplätzen, an denen Umgang mit Passivität und Leiden verhandelt wird, zählen in der Kulturgeschichte wie der kulturellen Gegenwart stets Kunstformen wie Literatur, Theater, Kunst und Musik. In ihnen sind religiöse Umgangsformen eingewoben. Viele Dramen und Epen der Weltliteratur drehen sich um die Fügung des Schicksals, in die das Leben von Mensch und Volk eingebunden sind. Zugleich bilden aber auch die Religionen selbst Kunstformen aus und kultivieren diese: Im Islam wie im Christentum werden in Passionsspielen die 483 A. a. O., 111. 484 Entsprechend wendeten sich auch die Israeliten nicht mehr nur an die Fruchtbarkeitsgötter, sondern bekehrten sich zu Jahwe. 485 Vgl. Lanwerd: Religionsästhetik.
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stellvertretend Leidenden zum performativen Nachvollzug und zur Anschauung szenisch dargestellt. In der künstlerischen Darstellung von Passion ist der Tod Jesu Christi mit gegenwärtig. In der Bildenden Kunst ist der Motivzusammenhang von Leiden und Tod durch die Geschichte der christlichen Ikonografie hindurch dominant. Zu den Szenen des Leidens gehören hier – nicht zuletzt auch in kirchlichen Räumen – Kreuzigung, Mater dolorosa, Kreuzabnahme, Beweinung. Moderne, sich selbst auch nicht unbedingt als religiös titulierende Kunst befasst sich mit Leiden, das sich lebensweltlich in Individuen und Geschichte einschreibt: So ist z. B. Edvard Munchs expressionistisches Bild »Der Schrei«486 als Teil seiner »Seelenmalerei« ein Ausdruck von Erfahrungen des Leidens; gegenwärtig z. B. auch in Übermalungen Arnulf Rainers. b) Auch andere kulturelle Formen bringen Kulturen des Pathischen zum Ausdruck. In der Musik bildet die Passion Jesu das Thema für verschiedene Formen von klanglicher Leidenvergegenwärtigung, welche die Leidensgeschichte Jesu Christi in motettischer, responsorialer oder oratorischer Weise zur Aufführung bringen.487 Auch die populäre Musikkultur operiert mit dem Schmerz quer durch alle Musikrichtungen.488 Im Rahmen einer kulturorientierten Phänomenologie ist bemerkenswert, dass Passion und Narrativität aneinander gebunden sind. Dies kommt in einer langen Tradition in poetischen Formen besonders in Auseinandersetzung mit biografischen Bezügen des Leidens durch Krankheit oder an geschichtlichen Traumatisierungen zum Ausdruck.489 c) Es wird aber auch deutlich, dass z. B. in der Kultur der Griechen und Römer anders als in der von Leidensgeschichten geprägten jüdisch-christlichen Tradition kein so starker Fokus auf dem Leiden liegt. In der Antike gilt es als zu der conditio humana gehörend, dass der Mensch todes- und schmerzanfällig ist, denn allein die Götter sind todlos und nicht zugänglich für Schmerz. Die Stoiker nehmen mit ihrem Apathieideal – was meist vergessen wird – 486 Als Teil einer Serie »Der Fries des Lebens«. 487 Am berühmtesten die Matthäus-Passion sowie die Johannes-Passion J.S. Bachs; ab 18./19. Jh. dann Passionsoratorien und Passionskantaten. Vgl. Schmidt: Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach. 488 Vgl. z. B. Xavier Naidoo: Fühlst du nicht den Schmerz… aber auch etliche Stücke des HipHops. 489 Zu jüngeren Beispielen zählen z. B. die Erzählung des französischen Romanciers EricEmmanuel Schmitt von einem krebskranken Jungen und seiner Gottesbeziehung (Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa), das »Tagebuch einer Krebserkrankung« des 2010 an Krebs verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief (Schlingensief: So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!), in dem sich dieser auch mit der christlichen Kirche und deren Heilsvorstellungen auseinandersetzt, oder die politisierte Auseinandersetzung von Tilman Jens mit der Demenz seines Vaters, des 2013 verstorbenen Rhetorikers und Theologen Walter Jens (Jens: Demenz).
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nicht die Erfahrung des Schmerzes, sondern dessen ethische Wertung in den Blick; so wird die Schmerzverachtung und Selbstbeherrschung hochgeachtet, weil Schmerz als etwas Äußeres gilt, das der Natur des Menschen nichts anhaben kann.490 d) Die meisten philosophischen Strömungen entwickeln Theorien über Leiden, die sich grob in Theodizeen und Anti-Theodizeen differenzieren lassen. Letztlich weigern sich die Philosophen jedoch, mittels einer eindeutigen Erklärung durch ein Prinzip des Bösen oder eine grundlegende Sündhaftigkeit der Natur das Theodizeeproblem aufzulösen oder aufzugeben.491 e) Zur gegenwärtigen neuzeitlichen Kultur, die auch zeitweise in ein Gegenüber zu zumindest verfassten Religionen tritt, zählt der biologisch und naturwissenschaftlich geprägte Umgang mit Schmerz; er schärft die Fragen bei der Bekämpfung des Leidens in biologischer, medizinischer und chemischer Sicht. f) Eine kritische Sozialphänomenologie wie die Michel Foucaults macht darauf aufmerksam, dass gesellschaftliche Bearbeitungsformen des Pathischen auch mit räumlichen Separierungen und Ausgrenzungsmechanismen zu tun haben.492 Zu den ethischen »Einräumungen« des Pathischen gehört sicher die Geburt von Kliniken und Psychiatrien, aber auch Gefängnissen. Heterotopien (Krankenhäuser, Psychiatrische Anstalten) dienen der Überwachung und Bändigung des Leidens. Damit hängt als Motiv die Erziehung in der Paradoxalität durch Leiden und zum Leiden mit Gewalteinwirkung zusammen, bei denen Schmerz als Strafe bis zur Folter wirksam wird. Die Ausprägung von Ethiken, welche die Bearbeitung, Überwindung und Vermeidung von Leiden zum Ziel haben, ist erklärbar aufgrund des Zusammenlebens in sozialen Formationen von Partnerschaft und Familie bis zum Weltzusammenhang. Religiöse Ethik regelt dabei das Miteinander von Gott, Mensch und Welt – den Ausgangspunkt bilden nicht immer gleich Konflikt, Krise oder Katastrophe, aber sie sind dabei in jedem Fall im Blick. Politische Systeme und Krieg sind daraufhin auch zu beleuchten. Ethische und auch politische Normen wie Menschenwürde und Solidarität stehen zu Leiden in einem paradoxalen Verhältnis – sie spiegeln Mitgefühl und Mitleid und verschärfen die Unterscheidung von Leidenserzeugungen und -bearbeitungen.
490 Umso schwieriger zu verstehen, dass die Stoiker der Kaiserzeit sich selbst Gewalt antaten – bis hin zur Brutalität des Freitodes. Vgl. Cancik-Lindemaier : Art. Leiden, 56f. Der Apathie gilt aber auch in der gegenwärtigen Ethikdiskussion noch ein Ansatz: Vgl. Singer : Praktische Ethik. 491 Vgl. Cancik-Lindemaier : Art. Leiden, 54f. 492 Vgl. Foucault: Andere Räume.
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Es ist hier mehr als sichtbar, dass Religionen nicht nur eine kognitive Bearbeitung von Leid, Schmerz, Streit und Negativität im Sinn, sondern Praxisformen ausgeprägt haben und weiter entwickeln, die den Umgang mit Erfahrungen des Pathischen gestalten und dazu auch anleiten.
3.1.2 Religion als Phänomen Begreift man Religion vor diesem Horizont, sich um die phänomenologische Orientierung einer nicht nur Praktischen Theologie als Disziplin, sondern genau genommen einer lebensweltfähigen praxisbezogenen Theologie insgesamt zu bemühen, die einen theoretisch belastbaren Praxisbezug auszuweisen vermag, so sind weitergehende Schritte gefragt. Von Belang ist, in welcher Form Religion als für das Subjekt wie intersubjektiv erfahrbares und wahrnehmbares Phänomen im Horizont von Kultur sprachfähig wird. Failing, Heimbrock und Lotz benennen dazu im Rekurs auf die Lebenswelt die »konstitutive Bedeutung vortheoretischer Erfahrung« als maßgeblich, die »Erfahrungs- und Erlebnisvollzüge zur Sprache bringt«.493 Im Interesse einer »Theologie von unten«494 und im Sinne einer Religio als Rück-Bindung gilt es daher, Phänomenologie als heuristisches Moment und Perspektive einzutragen in eine insofern praktische Theologie: Zu ihren Maßgaben gehört das Interesse an ge- und erlebter Wirklichkeit und ihren grundlegenden Dimensionen von Leib, Raum, Zeit und Sprache, die Aufnahme von Alltagserfahrung in Rückbindung an einen lebensweltorientierten Weltzugang.495 Das Interesse eines Verständnisses von Religion in Philosophie, Kulturwissenschaft, Soziologie, Pädagogik und Theologie fällt an einem Punkt zusammen: Im Blick auf das Humanum, welches sich aus verschiedenen Perspektiven durch die Bezogenheit auf gelebte Erfahrung leiten lässt, wird eine anthropologisch-kulturelle Annäherung an gelebte Religion möglich. Im Blick auf Religion als erlebte und lebbare Wirklichkeit ist die Bezogenheit auf Erfahrung unumgänglich, die im Kontext eines kultur- und erziehungswissenschaftlichen Forschungskontexts im Anklang an Dilthey und Manen als gelebte Erfahrung zugänglich ist.496 Maßgeblich für eine kulturorientierte Phänomenologie im Horizont von Religion, die nicht bei einer Religionsphänomenologie stehen bleibt, ist mit Husserl das »Prinzip aller Prinzipien«, das sie verpflichtet, »alles, was sich zeigt, als solches hinzunehmen und zur Sprache zu bringen, und dies unter Beachtung 493 494 495 496
Failing / Heimbrock / Lotz: Religion als Phänomen, 3. A. a. O., 151; vgl. a. a. O., 5. Vgl. Failing / Heimbrock / Lotz: Religion als Phänomen, 6. Vgl. Manen: Researching Lived Experience.
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der Vielfalt und der inneren Grenzen der Phänomene«.497 Mit dem Bochumer Phänomenologen Bernhard Waldenfels liegt mir daran, einem Dilemma zu entkommen, das einerseits eine »Phänomenologie des Religiösen« als Inventarisierung vordefinierter religiöser Phänomene eines Hyperphänomens mit sich brächte und andererseits einem »religionsphänomenologischen Fundamentalismus« frönen würde, der statt auf bedingte Gegebenheiten auf die »unbedingte Gebung« achtet, in der sich ein Subjekt als reiner Geschenkempfänger sieht. Wie aber kann eine religionsphänomenologische Annäherung erfolgen, »die dem Faszinosum des Anderen und Fremden Raum lässt, ohne sich selbst aufzugeben?«498 Mit diesem hier anvisierten Zugang ist ein phänomenologischer Zugang im Blick, der sich weder auf eine deskriptive Plausibilität beschränkt noch dabei intuitionistische Verkürzungen vornimmt, auch nicht eine scheinbar verobjektivierende Rückkehr zu religiösen Sachen selbst, die die lebensweltlich wahrnehmenden Subjekte in ihren Kontexten außen vor ließe. Vielmehr gilt es, Phänomenologie als deskriptive Logik im Feld religiöser Erfahrung zu nutzen, indem gelebte Erfahrung differenztheoretisch auch die Gegebenheit des Fremden einschließt. Daher ist im Sinne der L8vinasschen Asymmetrie als Orientierung an der Achtung des fremden, vorauseilenden Anspruchs des Anderen eine in einem bestimmten Maße indirekte Zugangsweise geboten499, welche ein perspektivisches Sprechen von Religion auch im Theoriehorizont ermöglicht. Einer Phänomenologie gelebter Religion in diesem hier bewusst weiten Verständnis und präzisen Sinn eignen also eigene prä-normative Gegebenheiten, die es aufzudecken gilt500 : – Unter Religion verstehe ich in diesem Zusammenhang in einer weiten Form durch ein Leibsubjekt wahrnehmbare Erscheinungsformen dessen, was Menschen als Unbedingtes angeht, die sie in ihrem Kern, in ihrem unbedingten und auch unmittelbaren Weltzugang berühren. Damit ist jegliche Reduktion auf Kognitionen, die Verengung auf kognitiv fokussiertes Handeln lebensweltlich aufgebrochen. – Gelebte Religion hat eine subjektive bzw. intersubjektive Verfasstheit, die nicht ohne ihre Bezogenheit auf Personen beschrieben werden kann. Es handelt sich um Erfahrungen, die Menschen machen, die ihnen begegnen, von denen sie affiziert werden. Damit ergibt sich eine strukturelle Nähe von gelebter Religion zu einem Religiositätsverständnis, das religiöse Haltungen und Erfahrungen einschließt. 497 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 79. 498 Waldenfels kontrastiert so »religiöse Phänomenologie« und »radikale Lebensphänomenologie« (Phänomenologie der Erfahrung, 79f.). Vgl. insgesamt auch Waldenfels: Hyperphänomene. 499 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 83. 500 Vgl. Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie, 72ff.
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– Der Ort der gelebten Religion ist weiter und mehr, als es vordefinierte theologievertraute und traditionelle Räume wären. Dazu gehört der Alltag, in dem wir in der »natürlichen Einstellung«501 Erfahrungen machen und Begegnungen erleben, die in der Unterbrechung und Übersteigung des Alltags – sozusagen als außeralltäglich – die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und als Erscheinungen von Religion in Bezogenheit auf Selbst und Welt wahrgenommen werden. – Die phänomenologische Einklammerung, die darstellungslogisch mit der Beschreibung ge- und erlebter Religion einhergeht, ist also insofern ein erster reflexiver Schritt der Artikulation gelebter Religion. – In Kauf genommen wird ein nicht präzise geschärftes Religionsverständnis, das die Anfänge nicht vordefiniert, das religionstheoretische Ein- und Zuordnungen nicht ersetzen, aber doch erweitern und vertiefen will. Gelebte Religion befasst sich also nicht zuletzt mit einem weiten Zugang »eine[r] bestimmte Weise der Erfahrung, in der Unsagbares sagbar«502, Unsichtbares darstellbar und Unerhörtes hörbar wird. So kommt auch ins Spiel, wo Alltagserfahrung als solche überstiegen und transzendiert wird auf einen weiten, universalen Horizont hin. Berührt ist damit die religiöse Frage nach dem Menschsein, und das meint nicht mehr nur, woran der Mensch sein Herz hängt503 ; denn angesichts der hier bereits anklingenden Erfahrung von Passivität und Leiden wird dabei auch zu eruieren sein, was dies für ein nicht mehr autonom gedachtes, sich selbst verdeutlichendes Subjekt bedeutet, wenn es selbst sein Herz gar nicht (mehr) hängen, sondern wenn dieses in unterschiedlichen Weisen der Passivität betroffen ist.
3.1.3 Das Pathische als Dimension gelebter Religion Es bliebe ein abstrakter Weg der Ermittlung von lebensweltlichen Facetten des Pathischen als gelebte Religion, wenn versäumt würde, das Potential der Erfahrung ins Spiel zu bringen. Im Rahmen des Interesses an einer Erhellung des Pathischen werden zu dessen phänomenologischer Dimensionierung Empirie und lebensweltbezogene Theorien des Pathischen in Verschränkung explorativ zur Geltung gebracht. Ich lasse weder den konkreten Fall am Ort im Hintergrund ruhen noch wird er 501 Vgl. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. 502 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 79. Vgl. auch das Kapitel über Religiöse Transzendenz in Waldenfels: Hyperphänomene. 503 Vgl. Luther : Der Große Katechismus.
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als empirischer Beleg oder stetes Exempel in den Vordergrund gebracht. Mein Weg, auf diese Weise kulturanthropologisches Potential phänomenologischempirisch in Religionstheorie und später auch in Theologie einzutragen, sieht vor, theoretische Gedankengänge zu vollziehen und in Zwischenschritten innezuhalten, um – ganz im Sinne der religio – Theorie auf die gelebte Erfahrung des FALLES als Fall von gelebter Religion zurückzubeziehen, von seinen Facetten aus zuweilen auch den Fortgang des Theologietreibens lenken zu lassen. Er schließt ein, dass dann sogar hin und wieder in einem wechselstromartigen Modell Fall- und Theorieelemente einander vorantreiben. Das führt zu der Frage, unter welcher Voraussetzung hier Erfahrung sowohl theoretisch als auch empirisch verhandelt wird. Waldenfels weist in seiner Topologie des Fremden auf die doppelte Ebene von Erfahrung hin, die für eine Topologie des Pathischen auch gilt: »Empirie meint […] nicht das Vorhandensein von Daten und auch nicht deren Sammlung in Datenbanken, sondern diese Vokabel weist zurück auf die aristotelische elpeiqia, die im wiederholten Umgang mit den Dingen Gestalt annimmt. Dazu gehört auch, dass wir durch Leiden und Enttäuschungen lernen. ›Erfahrungen machen‹ heißt etwas durchmachen und nicht etwas herstellen.«504
Der theoretische Umgang mit den Phänomenen des Pathischen nimmt dessen transparenten Nachvollzug auf, wie er als FALLrepräsentation in Kap. 2 dargestellt ist. In Bezug auf die inhaltliche Seite klingt das Passivitätsthema in seiner epistemologischen Wirksamkeit an. Diese Dimensionierung zu entwerfen und zu strukturieren, ist die Aufgabe. Um erstes Licht in die Frage zu bringen, was dieser verdichtete Fall, seine verschiedenen Zusammenhänge, seine Konturen und Bedeutungen für die Aufschlüsselung des Phänomens erbringen, sind Wege des Eröffnens und des Aufschließens dahingehend gefragt, welche Ebenen eines Bedeutungsspektrums angesprochen sind. – Zugang zum Pathischen: Es ist zunächst einmal die gerichtete Aufmerksamkeit auf etwas, das ich mit dem Pathischen in Verbindung bringe: die Krankheit, das Leiden, das, was der Schüler nicht gesagt hat, um das er sich bemühte, damit es nicht sichtbar wurde – zugleich meine Aufmerksamkeit auf das, was Normalität unterbricht. – Zugleich ist es die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung, die jemand hat, die ich von dem Jungen habe, von dem Unterricht, der Schule. Die Subjektivität dieses Blickes – des Forschungsblickes – wird also auch deutlich. Und
504 Waldenfels: Topographie des Fremden, 19; siehe auch Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie, 25.
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das geht noch weiter : Wenn das Pathische etwas ist, das Menschen generell betreffen kann, dann betrifft es auch die Weise der Wahrnehmung selbst. Sobald ich etwas als pathisch wahrnehme, gebe ich den Kontext mit vor, d. h. etwas, das ich im Rahmen von Schule als Normalitätskontext wahrnehme, z. B. Unterricht, eine Normalität von Kompetenzen, »gereinigte« Wissensvermittlung, die Konzentration der normalen Schule auf Bildung, Vergleichbarkeit. Das Pathische ist nichts, was sich durch eine scharfe substantielle Eingrenzung dingfest machen lässt. Es handelt sich um etwas Dimensionales, das zum Leben dazugehört, grundsätzliche Lebenserfahrungen betrifft und damit auch unterschiedliche Diskurse. Solche Setzungen sind Folien, die meinen normativen Hintergrund aber noch gar nicht deutlich machen. Eine Theorie des Pathischen allein, wie sie bei Waldenfels etwa für mich sehr plausibel ist, gibt noch nicht her, was die pathische Dimension kulturell in der Schule bedeutet. Daher bedarf es mehrperspektivischer Wege. Das ergibt den Hinweis darauf, dass es ein Kontinuum des Pathischen gibt, und zwar auch methodisch durch Beobachtung im Feld und Theorieeinspielungen im Zirkel.
Diese Überlegungen gilt es zu verifizieren und zu überprüfen, um die Richtung der weitergehenden theoretischen Erfassung zu orientieren. Im Blick auf den Kontext von Schule und Bildung wird ein anthropologischer, theologischer und religionspädagogischer Weg einer Praxis des Umgangs mit der Leidensdimension des Pathischen nötig werden, die actio und passio des Handelns sorgsam erwägt. In dieser Beziehung gilt es auch, das Augenmerk auf die ressourcenorientierten Stärkung von Kräften als dem Gegenpol zum Pathischen zu lenken. Schaut man zurück auf den Anlaufweg von der Religionsphänomenologie her, so wird einmal mehr offensichtlich, dass der Theorierahmen einer traditionellen, disziplinären Theologie und seiner Begriffsgeschichte nur ein Segment des Horizonts ist, vor dem sich das Phänomen artikuliert. Im Vordergrund steht neben Philosophie, Psychologie, Soziologie und Ästhetik vor allem die Medizin, die mit dem Ausgangspunkt der Konkretion von Krankheit wissenschaftliche Diskurse um das Pathische führt. Dabei werden mit Blick auf eine religionstheoretische Verortung vor allem medizinische Anthropologie, Psychologie und Soziologie wichtig, deren Überlegungen in eine Konturierung der Phänomenologie des Pathischen Einzug finden müssen. Es wird deutlich, dass eine grundlegend phänomenologische Diskussion des Pathischen zu Religion auf Diskursen der Anthropologie fußt; in ihr kommen existenzielle, epistemologische und ethische Aspekte zur Sprache. Dabei ist die Sprachfähigkeit des Pa-
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thischen selbst nicht vor pathischen Einbrüchen gefeit – ein Hinweis auf die zu relationierende Artikulationsfähigkeit der Begrifflichkeit.505
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Im Kontext einer kulturtheoretischen Erweiterung von Theologie und einer lebensweltbezogenen Verankerung von Religion wird hier nach Elementen der conditio humana gefragt. Wie aus dem FALL deutlich wird, ist Krankheit eine manifeste lebensweltliche Erscheinungsform des Pathischen, die in verschiedenen Perspektiven für Betroffene und Andere ersichtlich wird, aber auch verborgen bleiben kann. Was bedeutet es, dass Menschen krank sind und sein können? Um einen phänomenologischen Blick auf Krankheit zu begreifen, ist es notwendig, zunächst einmal den Kontext gängiger Krankheitsmodelle zu skizzieren. Jeder Mensch ist nicht nur gesund, sondern macht im Laufe des Lebens auch Erfahrungen mit Krankheiten. Etymologisch meint ahd / mhd kranc schmal, gering, schwach, hinfällig.506 Krankheit betrifft also eher eine Schattenseite menschlichen Lebens. Unsere Erfahrungen von Gesundheit und Krankheit spiegeln ein merkwürdiges Phänomen wider : In der Regel spüren wir Menschen uns und das Leben insbesondere dann, wenn wir krank sind, bzw. in den Übergängen zwischen den Zuständen, die wir landläufig gesund und krank nennen. Wenn mir etwas weh tut, mir etwas fehlt, wenn ich einen Husten »bekomme«, dann drückt sich darin aus, dass sich von woanders her an mir und meinem Leib etwas Störendes bemerkbar macht, das sich in mein Erleben einzeichnet und sich mit ihm verknüpft. Damit mache ich auch eine Unterscheidung auf: Mein Leib fühlt sich »normalerweise« anders an, die Krankheit wird zur Entfremdung, zu etwas anderem an und in mir.507 Krankwerden wird also meist als Störung erlebt, die sich insbesondere körperlich und leiblich bemerkbar macht. In verschiedenen Wissenschaften geht 505 Vgl. Straus: Psychologie der menschlichen Welt, 151. Ein Hinweis auf die Unterscheidung von Was und Wie mutet zur Ouvertüre zu einer kulturell-anthropologischen Befassung mit dieser Dimension an. »Das gnostische Moment hebt nur das Was des gegenständlich Gegebenen, das pathische das Wie des Gegebenseins hervor.«Jürgen Hasse legt davon ausgehend kritisch die Entwicklung von »urban bodies« als Stadtkritik aus in Bezug auf im Sprachgebrauch kulturell nieder, die Dominanz des Gnostischen über das Pathischen« (vgl. Hasse: Der pathische Raum). 506 Zur Geschichte des Krankheitsbegriffs vgl. Schipperges: Krankheit und Kranksein im Spiegel der Geschichte; Zurhorst / Gottschalk-Mazour : Krankheit und Gesundheit. 507 Vgl. Fuchs: Zeit-Diagnosen, 19.
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man mit unterschiedlichen Perspektiven auf diese Störungen und Veränderungen ein. Ich werde am Beispiel des jeweiligen Blicks auf Krankheit ermitteln, welche Rolle der Körperlichkeit und Leiblichkeit jeweils zugemessen wird und welche Verständnisse von Menschsein und Leben sich darin verkörpern. Ein erster Blick gilt der Profession und ihrer Wissenschaft, die vorrangig für den Umgang mit Krankheit zuständig ist. Welche medizinischen Verständnisse dessen, was als »pathisch« bezeichnet wird, herrschen in der Gegenwart vor? Welche Dimensionen von Krankheit und Kranksein treten dabei zutage, und welche normativen Vorstellungen von Gesundheit, Leben und Heil werden ihnen als Grund und Ziel an die Seite gestellt?
3.2.1 Patho-Logie: Historische und systematische Aspekte des Krankheitsverständnisses Pathologie bezeichnet den Teil der Medizin, welcher Ursachen und den Ablauf von Krankheit und Leiden aufklärt und beschreibt.508 Wie ihr Standort und ihre Rolle innerhalb der Medizin angesehen werden, hängt eng mit deren Deutungsweisen von Krankheit und Gesundheit zusammen. Um diese einordnen zu können, rolle ich in historischer Raffung geschichtliche Elemente davon auf, was unter Krankheit verstanden wurde. In der Antike wird Krankheit zuerst als Deutungsmuster funktionaler Entgleisungen begriffen. Basierend auf dem Makrokosmos-Mikrokosmos-Gedanken gilt als ein humorales Verständnis eine Balance von Körpersäften gesund, die sich in einem harmonischen Gleichgewicht und Mischungsverhältnis befinden; die Abweichungen von diesem Gleichgewicht, die stets an individuelle körperliche Verfassungen gebunden sind, bedeuten Krankheiten – krankengeschichtlich bei jedem Menschen individuell. Auch Eingriffe von außen stören das Gleichgewicht des Körpers, der sich wie eine Waage verhält. Entsprechend grundlegend wurde Kranksein in der Antike als »die Störung einer von selbst stabilisierenden Balance«509 begriffen, später jedoch zunehmend als Abweichung von einer Norm. Die Medizin verfährt in einer den Naturgesetzen entsprechenden Rationalität. Trotzdem trägt das Verständnis von Gesundheit im Sinne von integritas die religiöse Dimension des Heils in sich; ebenso beinhaltet Krankheit auch Spuren von Unheil, sichtbar am englischen »ill« im Zusammenhang mit evil.510 Religionsgeschichtlich wird hier der aus dem Alten Orient stammende Tun-Ergehen-Zusammenhang wichtig, bei dem sich das menschli508 Vgl. Seidler : Art. Pathologie. II, 183. 509 Fuchs: Gesundheit und Krankheit, 21. 510 Vgl. Klöcker / Tworuschka: Gesundheit.
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che Verhalten im körperlichen Leiden spiegelt und Krankheit als Strafe und Gesundheit als Beweis für menschliche Güte und Wert beurteilt wird.511 Entsprechend unterschied man ursprünglich zwischen Iatrie als nachträglicher Heilkunst, welche eine Ordnung wiederherzustellen sucht, und Therapie als vorsorgender Pflegekunst. Im Mittelalter wurden Bild und Wissen von Krankheit vor allem durch die in Klöstern aufbewahrten Schriften geprägt. Krankheiten, ihre Ursachen und Heilungsmöglichkeiten wurden in enger Verbindung mit Schuld, Sünde, dem Einfluss von Sternen gesehen, demzufolge Deutungen und Umgang durch Aberglauben und Magie, Zauberei, Hexerei und astrologische Kenntnisse geprägt. Daneben gibt es bis in die Neuzeit reichend Ideen der Pathologie bewegende Prinzipien; in der Geschichte der Medizin sind von der Physis bis zu einem Seelenorgan im 18. bis 19. Jahrhundert auch sensualistische bis vitalistische Konzepte im Gespräch, die von der Medizin z. T. selbst als sehr problematisch angesehen werden und Verantwortlichkeiten für Krankheiten in der belebten Einzelnatur vermuten. Mit der Annahme einer Krankheit als morphologischer Strukturstörung (Läsion) entsteht Mitte des 19. Jahrhunderts die pathologische Anatomie und in der Erweiterung eine auf Zellveränderungen bauende Zellular-Pathologie. Als Grundlage aller medizinischen Basiswissenschaften trägt diese Entwicklung Mitverantwortung für die Prädominanz des naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriffes im System der gegenwärtigen Medizin.512 Seit dem in dieser Zeit aufkommenden Ärztestand und der beruflichen Ausprägung des Arztes, mit der Krankheiten nicht mehr nur magisch verstanden, sondern an berufliche Zuständigkeiten verwiesen wurden, lässt sich von Erklärungsmodellen reden, die Ursachen, Erscheinungsformen, Folgen und Ziele in verschiedenen Mustern einander zuordnen. Auch wenn sich die Inhalte der Erklärungsmuster geändert haben, herrscht strukturell bis heute ein entsprechendes medizinisches Erklärungsmodell vor, das eine oder miteinander zusammenhängende bestimmte und erkennbare Ursachen von Krankheit für deren Entstehung verantwortlich macht – eine Ursache-Wirkungs-Folge ähnlich einem Tun-Ergehen-Zusammenhang, der im Zuge der naturwissenschaftlichen Orientierung der Medizin im 19. Jahrhundert noch mechanistischer gedacht wurde. In der Neuzeit entstehen differenziertere und zugleich inhaltlich umfassendere, plurifaktorielle Modelle von Krankheit, in denen nicht nur Ursachen oder Konsequenzen benannt werden. Gesellschaftliche Einflüsse (sozioökonomi511 Vgl. Seybold / Müller : Krankheit und Heilung. 512 Vgl. Seidler : Art. Pathologie. II., 183–185.
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sches Modell), Risiken und Stressoren, aber auch anthropologische Akzente wie Psychosomatik (dies auch innerhalb der Medizin), Biografie- und Beziehungsaspekte (im psychoanalytischen Krankheitsmodell sowie im Coping-Modell) werden als Faktoren für das gesundheitliche Wohlergehen geltend gemacht. Die wenigsten Modelle verändern bzw. erweitern jedoch das medizinische Krankheitsverständnis – am ehesten Psychosomatik, Psychoanalyse und Coping. Zwei Entwicklungen haben dafür gesorgt, dass bis heute in der Medizin in der Regel weiterhin eher das naturwissenschaftlich-medizinische Ursache-Wirkungsmodell Bestand hat. Zum einen ist die Medizin nach wie vor als zentrale Verbindung – quasi zwischen »in vivo« und »in vitro« – an den aufklärerisch geprägten Naturwissenschaften orientiert. Zum anderen liegt der naturwissenschaftliche Geltungsrahmen im Trend der ärztlichen Professionsentwicklung. Kommt gegenwärtig auch in Zyklen die mit der Ausdifferenzierung von Krankheitsbildern einhergehende Not spezialer Versorgungen zum Tragen, so besteht nach wie vor kein gesellschaftlicher und kultureller Zweifel daran, dass Ärzte einer der wichtigsten Professionen zugehören. Medizinische Beiträge zu einer theoretischen Beschreibung dessen, was »Pathologie« – über das zellularpathologisch bestimmte Modell513 hinaus – als Krankheitsverständnis meint, sind sehr dünn. Am ehesten ist die Psychiatrie mit den Grenzbestimmungen konfrontiert; sie bedient sich allerdings verschiedener Krankheitsbegriffe quer zu den gängigen Modellen: Hier ist ein ontologischer Krankheitsbegriff, der auf Störungen eines Zentralnervenorgans ausgeht, von einem dynamischen zu unterscheiden, der für den Einzelnen eine neue, andere Qualität bedeutet, während ebenso überindividuelle, quantitativ zu fassende Abweichungen geltend gemacht werden. Der sogenannte relationale Krankheitsbegriff nimmt in allen Schattierungen Abweichungen zum Ausgangspunkt. Im relationalen Verständnis von Krankheit, das u. a. von Kurt Goldstein, Rudolf VirHne und Erwin Minkowski vertreten wird, geht es um die Möglichkeit des Individuums, sich zu mehr als einer Norm zu verhalten.514 Hier scheint indirekt eine schmale Öffnung dafür auf, dass der kranke Mensch nicht nur einlinig und widerspruchsfrei krank oder gesund ist. Krankheit wird in den meisten Gebieten der Medizin gegenwärtig nach wie vor in der Gegenüberstellung zu Gesundheit definiert und damit als das Gegenteil des Ideal- bzw. Normalfalls normiert. Dies manifestiert auch die Präambel der Weltgesundheitsorganisation WHO: »Gesundheit ist ein Zustand des völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur
513 Prägung durch Rudolf von Virchow im 19. Jh. 514 Vgl. Glatzel: Pathologie. III.
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das Freisein von Krankheit oder Gebrechen«.515 Medizinische Lexika kennen überhaupt nur diese Bedeutung: »Pathologisch« ist krankhaft, alle Wortendungen auf -pathie signalisieren Schmerz und Krankheit. Wer krank ist, ist nicht gesund, dessen Leben und Wohlbefinden (Körperfunktionen oder Körperwahrnehmungen, Selbstwertgefühl, Beziehungen, Arbeitsbedingungen) sind erkennbar beeinträchtigt. Interessanterweise ist der Patient (lat.: patiens leidend) die allgemeine Bezeichnung für einen Kranken bzw. »im engeren Sinne ein an einer Erkrankung bzw. an Krankheitssymptomen Leidender, der medizinisch behandelt wird; im weiteren Sinne ein Gesunder, der Einrichtungen des Gesundheitswesens zu Diagnose oder Therapie in Anspruch nimmt«.516 Problematisch an den meisten Krankheitsmodellen ist unter dem Aspekt der Erfahrung, wenn mit dem Instrument der Diagnose Fremdes abstrahiert und Uneigentliches normierend von Eigentlichem abgeschieden wird – in der Regel ohne das Erleben und die Erfahrung mit dem Kranksein zu berücksichtigen. Die Präambel der Weltgesundheitsorganisation WHO mit der Thematisierung von körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden lässt immerhin andere Relationen zu, welche eine Verhältnisbestimmung der Krankheit bzw. Gesundheit zum Lebenskontext und die Wahrnehmung des Lebens durch das Subjekt beinhalten. Es wird ermöglicht, in den Krankheitszustand auch graduelle Stufungen von Krankheit und Gesundheit einzuziehen. Damit wird Krankheit als ein Zustand angedeutet, der nicht nur von äußerer, sprich: fachlicher Diagnose bestimmt wird, sondern auch subjektive Faktoren einbezieht. Psychosomatische Ganzheit ist berücksichtigt, nicht nur körperliche Aspekte, das Verhältnis zur Mitwelt ist bedacht, subjektive Faktoren und nicht nur die Negativität des Negativen. Jedoch kann dieser Krankheitsbegriff, der als idealtypischer Zustand beschrieben ist, keine inneren Widersprüche aufnehmen, die z. B. entstehen, wenn Menschen krank sind, sich aber gesund fühlen oder umgekehrt, wenn chronische Krankheiten greifen oder bei dauerhaften Beeinträchtigungen wie Behinderungen. Diese Spannungen und Paradoxa betreffen Fragen, ob eine Krankheit die ganze Person betrifft oder ob ein Mensch auch krank und dennoch in anderen Bereichen gesund sein kann. Ebenso sind bei der Definition der WHO die Rollen, oder besser : Relationen von Körper, Seele und Sozialität offen. D. h. die Subjektivität, die Erfahrung des Krankseins, der Umgang mit der Krankheit wird in der gegenwärtigen medizinischen Diagnostik als Addendum genommen oder als Symptom für eine Diagnose funktionalisiert. Medizin dient als ein System der Wiederherstellung von Gesundheit und Gesundung und wird als ein restitutiver Prozess gesehen. 515 Präambel zur Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Für Deutschland ratifiziert am 29. 5. 1951. 516 Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 1448.
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3.2.2 Kulturelle, religiöse und kulturkritische Aspekte In meiner Erkundung ersehe ich Krankheit als ein noch näher zu bestimmendes, doch erst einmal auch phänomenologisch gegebenes Element menschlichen Lebens. Es geht nicht darum, Krankheit in jedem Fall kritiklos, gleichgültig und unreflektiert als Schicksalsmacht hinzunehmen, doch muss grundsätzlich wahrgenommen werden, dass sie ein Element des gegebenen Lebens ist, an dem niemand vorbeiziehen kann oder das vermieden oder ausgerottet werden könnte. In einem medikalisierten Gesundheitssystem, das faktisch pekuniär nach Krankheits- und nicht nach Gesundheitsfällen bezahlt und berechnet, dient diese Aufrechterhaltung der Dualismen von Krankheit und Gesundheit vielen Beteiligten, auch der Professionalisierung der Gesundheitsberufe.517 Der in der Alltagswelt wie in der Gesellschaftsstruktur gemeinhin akzeptierte Antagonismus der Zustände bzw. Lebenslagen von Krankheit und Gesundheit ist jedoch keinesfalls unhinterfragte Norm ohne Gegenentwürfe. Daher macht es Sinn, andere Perspektiven zu eröffnen, durch welche weitere und alternative Bedeutungsebenen von Krankheit erschlossen werden können, mit denen eine kulturtheoretische Annäherung und Beschreibung für Krankheit als Phänomen der Dimension des Pathischen und ein Umgang damit zu finden ist. Ein relationaler Krankheitsbegriff impliziert Bestimmungen, sich zu Krankheit in Beziehung zu setzen. In dieser Hinsicht gibt es mehrere Relationen, die gegenwärtig dieses Verhältnis mitbestimmen. Zu den für sozialmedizinische Aussagen wichtigen gesellschaftlichen und politischen kontextuellen Einflüssen zählen z. B.: – Die Medizin ist dank ihrer progressiven Forschung mehr denn je dazu in der Lage, mit Krankheiten umzugehen. Die Erwartungen, dass Krankheiten auch »heilbar« sind, steigen mit diesen Fortschritten. Zugleich entwickeln sich mit der Zeit neue Krankheiten, und die sich wandelnde wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Lebenssituation in Europa verändert die Erscheinungshäufigkeit, Intensität und Mortalität, mit der Krankheiten auftauchen. – In der Weltverteilung wird epidemiologisch deutlich, dass Krankheiten und die medizinische Versorgung dem jeweiligen Lebensstandard entsprechend in einem Nord-Süd-Gefälle stehen. – Je mehr die Lebenserwartung im Durchschnitt steigt518, desto größer wird der Einbruch im Leben bei Krankheiten wie Krebs erlebt, wenn Menschen im
517 Vgl. O’Neill: Die fünf Körper – ein Tableau medikalisierter Gesellschaft im Anklang an Merleau-Ponty und Foucault. 518 Vgl. The World Factbook.
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relativ jungen Alter dann nicht mehr im letzten Drittel, sondern aus der Mitte der erwarteten Lebensspanne gerissen werden.519 Die Entwicklung der palliativen Medizin und Schmerztherapie ist zusammen mit dem Aufbau und Fortgang der Hospizbewegung vorangeschritten. Im gleichen Maße, wie sich die Möglichkeiten der körperlichen Leidensverminderungen ausdehnen, werden die Auseinandersetzung mit Fragen nach dem Stellenwert von und dem Umgang mit Krankheit, Altern, Sterben und Tod in medizinischen, rechtlichen, ethischen, psychologischen und theologischen Bereichen differenzierter. Techniken zur Lebensverlängerung wie Organtransplantation erweitern und relativieren das Verständnis von Leben. Erst langsam werden die Zusammenhänge von Alter und Gesundheit auch medizinisch bedacht, sind gesundheitspolitisch aber noch lange nicht ausgereift. Die Psychologie bemüht sich langsam, aber sichtbar um Traumaforschung und -therapie, weil sich Schmerz und traumatische Erlebnisse im negativen Sinne als nachhaltig, d. h. hartnäckig erweisen.
Mit diesen und anderen Faktoren bewegen wir uns aber noch immer im Horizont des medizinischen Krankheitsbegriffes, der durch den Lebensraum kontextualisiert wird, aber dadurch selbst nur geringe grundlegende Bedeutungsverschiebungen erhält. Anders gelagert sind kritische Krankheitsverständnisse in Philosophie, Sozial-, und Kulturwissenschaften; sie nehmen auch konnotative Bedeutungen des Krankheits- und Pathologiebegriffs in Gebrauch.520 In den Metaphorisierungen von Krankheit lassen sich verschiedene Funktionen unterscheiden: Zur »Pathologisierung des Politischen« wird die Pathologiemetaphorik seit der Antike im Zusammenhang des Anatomiedenkens durch Ordnungsstrukturen bestimmt. Schon bei Platon gilt die Polis als ein Leib. Daraus entwickelt sich eine regelrechte »Organmetaphorik des Gemeinwesens«521, derer sich auch Paulus für seine Ekklesiologie bedient (1 Kor 12,12ff). In großen und erschütternden Krisen wird die Pathologiemetaphorik zur Artikulationsform für die Darstellung von situativ dominierenden Leiderfahrungen. Diese Zuschreibungen kommen nicht von ungefähr – ein Ruf, in den Michel Foucault mit seiner Machtkritik an institutionellen Einrichtungen zur Behebung von Pathologien wie Gefängnissen, Hospitälern und Psychiatrien einstimmt, die er als Stätten der 519 Vgl. z. B. die Stimmen zum Tod von Christoph Schlingensief (so in der FAZ vom 22. 8. 2010: Ein Künstler von bestürzender Relevanz), der am 21. 8. 2010 mit 49 Jahren seinem Krebsleiden erlag. 520 Vgl. insgesamt Abholz: Gesundheitskult und Krankheitswirklichkeit. 521 Probst: Pathologie IV., 187. Probst: Pathologie.
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Rationalisierung von Ausgrenzung kritisiert.522 Legt Kierkegaard im 19. Jahrhundert den Finger in die Wunde der »Krankheit zum Tode« – eine Pathologisierung des Ästhetischen, denn dieses ist Verzweiflung, »eine Krankheit im Geist, im Selbst«523 –, so warnen Adorno und Horkheimer in der Politisierung des Pathologischen vor der »Gesundheit zum Tode«.524 Einen Gesundheitsbegriff zu vertreten, nach dem »die zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen besteht«525, heißt, der Anpassung an eine Normalität zu huldigen, die unter Zwängen zustande kommt. Metaphern fungieren auch im Sinne einer »Politisierung des Pathologischen«526 : Im Horizont der Vorstellung, dass Organismen Zusammensetzungen sozialer Art sind, entwickeln sich Beschreibungen einer »Soziologie der Leiden«, die medizinische Grenzen weit übersteigt im Sinn einer Sozialpathologie.527 Prägend ist Susan Sontags eindrückliche Darstellung von »Krankheit als Metapher«528, in der sie den Metapherngebrauch verurteilt, der Krankheit zwischen Verklärung und Moralisierung bis hin zur Stigmatisierung ansiedelt. Sie wehrt sich gegen die Metaphorisierung von Krankheiten wie Krebs529, weil diese als Fluch, als Bestrafung und als Todesurteil wirken – eine Forderung, die Sontag viele Jahre später etwas eindämmt, weil sie zugeben muss, dass man ganz ohne Metaphorik auch im Sprachgebrauch von und über Krankheiten nicht auskommt.530 Die Romantik pflegte eine Ästhetisierung des Pathologischen; nach Novalis kann für den Künstler die Verbindung mit Krankheit unsre Existenz erhöhen – dem Maß des posthumen Ruhms nach zu urteilen, eine tatsächliche Wirkung der Muse.531 Problematisch ist die Identifikation von Gesundheit und Heil; das zeigt nicht zuletzt der utopische Charakter der WHO-Definition.532 Dass dabei eine Heilssehnsucht zutage tritt, verweist auf Sehnsucht nach Vervollkommung und Ganzheitsmomenten – nehmen diese doch den Charakter einer Forderung nach Glück an, machen Leben zum technischen Recht und Anspruch. Ulrich Körtner
Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 8. Adorno: Minima moralia, 70. A. a. O., 69. Probst: Pathologie IV., 189. Erstmalig Müller-Lyer: Soziologie der Leiden 1914. Vgl. Sontag: Krankheit als Metapher. Damals auch Tuberkulose – eine Krankheit, die zeitweise – mit militärischer Metaphorik – als »besiegt« gilt. 530 Vgl. Sontag: Krankheit als Metapher. 531 Vgl. Bernatzky / Kreutz: Musik und Medizin. 532 Vgl. Körtner : Wie lange noch, 61.
522 523 524 525 526 527 528 529
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bringt die Sehnsucht nach Heil mit der nach Ganzheitlichkeit zusammen.533 Dazu trägt auch die WHO-Definition bei, indem sie nicht den Potentialis benennt, sondern Gesundheit als Zustand beschreibt. Die Leidensfähigkeit des Menschen, der Umgang mit dem Kranksein, der sich in einem solchen Rahmen wie dem der WHO sogar als etwas »Natürliches« beschreiben ließe, ist ausgeblendet. Behinderung gilt z. B. hier deswegen als prekärer Fall, weil ganz klar eine Gesellschaft immer wieder festlegt, was als normal gilt: »Behinderte Menschen sind demnach solche, die – ohne Hilfe – bestimmte Leistungen nicht erbringen können, die von der Gesellschaft dem Einzelnen zugemutet werden.«534 Daran ist eine Selbstständigkeits- oder Autonomienorm gebunden. Die Relativität von Sehbehinderung – die meisten Menschen in unserem Kulturbereich tragen im Laufe ihres Lebens irgendwann eine Brille – macht deutlich, dass es um so etwas wie eine »letztliche« Autonomie geht; erst blinde Menschen werden als Behinderte angesehen. Die Frage, inwieweit aber auch ADHS nicht nur eine psychologische Pathologie ist, die dem Lernen und Leben entgegensteht und medikamentös behandelt werden muss, gibt ebenso wie die Zuschreibung, dass bereits geringere Beeinträchtigungen in pädagogischer Hinsicht als Anomalien bezeichnet werden, zu denken. Dietrich von Engelhard schlägt eine Umformulierung von Seiten der WHO im Blick auf ein resilientes, salutogenetisches Gesundheitsverständnis vor, das auch theologische und pädagogische Aspekte anklingen lässt: »(I)m Gegensatz zu der bekannten und utopischen WHO-Definition von Gesundheit, psychischem und sozialem Wohlbefinden (physical, psychical and social wellbeing), müsste Gesundheit auch nicht als totales Freisein von Krankheit, sondern könnte eher als Fähigkeit verstanden werden, mit Behinderung und Schädigungen leben zu können.«535
Damit ist Leben als Vollzug gedacht, aber nicht mehr ohne Störungen, Widerstände, Kämpfe gegen Irritationen und Beeinträchtigungen von Gleichgewicht. Krankheit gehört zum gegebenen Leben dazu; es kommt auf dessen Stabilität und Widerstandskraft angesichts der krankhaften Einbrüche an. Problematisch wird diese Sicht, wenn man sie ausschließlich moralisch dazu nutzt, um die Verarbeitung von Krankheitsheimsuchungen und -widerfahrnissen zu beschleunigen. Für meinen Zusammenhang hier wird ersichtlich, dass Krankheit im Alltagssprachgebrauch als ein nicht normaler Zustand gilt und medizinisch häufig eine Abweichung von einer absoluten Norm darstellt. Dagegen wenden sich sozial- und kulturkritische und auch einige neuere philosophische Ansätze; mit 533 Vgl. a. a. O., 63. 534 Böhme: Leibsein als Aufgabe, 247. 535 Engelhardt: Mit der Krankheit leben, 21.
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ihnen klingen durchaus Interessen einer Deutungs-De-Professionalisierung, also eines Abbaus von wissenschaftlich-beruflicher medizinischer Definitionsmacht und -kompetenz an. Eine entsprechende Gegenüberstellung von leitenden wissenschaftlichen und auch praktischen Interessen ist durchaus legitim; sie sollte nur nicht dazu führen, von »der« Medizin zu sprechen, welche gänzlich und undifferenziert für eine hinterfragende Betrachtung von Leben und Krankheit durch eine einseitige Brille besehen wird. Da es um individuelles und soziales Leben geht, ist auch der Begriff des Pathischen im pathologischen Sinne von Krankheit nicht ohne biografische und individuelle Aspekte und Maße zu verhandeln. Schwierig wird es auch zu unterscheiden, welche Krankheiten Störungen des individuellen und des sozialen Lebens sind. Böhme recherchiert, ob Krankheit ein Existenzial ist, und bringt dabei mit Heidegger auf den Punkt: »Menschsein heißt eben auch, Krankheiten ausgesetzt zu sein […]. Krankheiten sind zunächst und zumeist kontingent: es trifft einen eben. Und deshalb verlangt Kranksein-Können immer auch, Kontingenz aushalten zu können.«536 Damit ist die Pathologisierung des Erzieherischen und Religiösen und die Pädagogisierung und Theologisierung des Pathologischen zu nennen.537 Es ist im Zuge meiner Suche nach einem kontextuellen Verständnis von Krankheit als Phänomen der Dimension des Pathischen wichtig zu erkunden, inwieweit auch aus der für leibliches Heil und Wohlergehen zuständigen Professionswissenschaft medizinische Konzepte Hilfestellungen dazu leisten, Krankheit und insofern Pathologisches differenzierter zu sehen. Im Gespräch damit bleibt zu erkunden, wie Psychologie und Psychoanalyse, Anthropologie und Kulturwissenschaften mit den Erscheinungsweisen von Krankheit umgehen. Welche anthropologischen Konzepte von Leben und Menschsein, die sich nicht medizinischen Erkenntnissen verschließen, aber diese im Zusammenhang von Lebenswelt und einem breiteren Verständnis von »Lebenswissenschaft« kontextualisieren, tragen dazu bei, die kulturelle Bedeutung von Krankheit und Kranksein zu konturieren, ohne dass deren spezifischen Erkenntniswege verwischt und unangemessen harmonisiert werden? Es liegt nahe, an den Schnittflächen von Medizin, Psychoanalyse und Philosophie zu suchen und Perspektiven medizinischer Anthropologie bzw. in den Wurzeln psychosomatischer Medizin die Wahrnehmung von und den Blick auf Menschsein zu skizzieren, um zu sehen, inwieweit diese zu einer Aufhellung des Pathischen beitragen können. Diesen Zusammenhang können drei Konzepte erhellen, die Grenzgänge zwischen Medizin und Philosophie beschreiten, die Krankheit und
536 Böhme: Leibsein als Aufgabe, 246. 537 Vgl. Heimbrock: Pädagogische Diakonie; ders.: Nicht unser Wollen oder Laufen; Kießling / Schmidt: Diakonisch Menschen bilden.
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Kranksein kontextualisieren und in den bereits beschriebenen Zusammenhang von Leben, Leiblichkeit und Intersubjektivität stellen.
3.2.3 Kranksein als Weise des Menschseins 3.2.3.1 Medizinische Anthropologie als Pathosophie (Viktor von Weizsäcker) Mit Viktor von Weizsäckers Pathosophie nehme ich einen Ansatz auf, der existenziell-moderne Erkenntnisse in Medizin und damit »leibhaftige Evidenz« in Medizin, Philosophie und Kulturtheorie einträgt; in seiner Verbindung aus geistesgeschichtlicher und naturwissenschaftlicher Epistemologie begründe ich eine erste Revision von Grundbegriffen in der Medizin auf dem Weg zu einer leib- und subjektorientierten Annäherung an das Pathische. Viktor von Weizsäcker (1887–1957)538, Mediziner und Anthropologe, gilt als Erfinder bzw. Vater der Psychosomatik, weil er massiv dafür eingetreten ist, medizinische Erkenntnisse nicht aus seelischen und religiösen Lebenszusammenhängen zu reißen.539 Genau genommen ist er eher als Begründer der anthropologischen Medizin anzusehen, die er von naturwissenschaftlicher Medizin unterscheidet. Angeregt von Sigmund Freuds Studien zu Neurosen, legt Weizsäcker Grundlagen für eine veränderte Wahrnehmung von Krankheit dar, eruiert die Rolle der Sprache in der medizinischen Praxis und fragt nach dem Ärztlich-Eigentümlichen. Die Wirkungsgeschichte seiner Ausarbeitungen reicht über Medizin weit hinaus, findet sich vereinzelt in der philosophischen Ethik, in Sprach- und Literaturtheorien. Theologischen Anklang findet bisher vor allem sein biografisches Konzept der Erzählung der Krankengeschichte für die Be538 Zu den wichtigsten berufsbiografischen Stationen gehören die Leitung der neurologischen Abteilung an der Medizinischen Klinik in Heidelberg ab 1920, ab 1941 dann Professur für Neurologie in Breslau, ab 1945 Ordinarius für Allgemeine Medizin an der Universität Heidelberg : 1946 übernahm er die Leitung der neuen Abteilung für »Allgemeine Klinische Medizin«, aus der die heutige Abteilung »Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin« hervorging. Näheres, auch zu den sehr differenzierten Analysen des nicht unumstrittenen Verhaltens in der NS-Zeit vgl. Benzenhöfer : Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker. 539 Die klassische Psychosomatik baut auch auf dem Modell Integrierter Medizin von Thure von Uexküll auf. Das zugrunde liegende Modell ist systemtheoretisch und konstruktivistisch verankert. Es geht davon aus, dass Krankheit die Störung des Passungsverhältnisses zwischen Mensch und Umwelt ist und der Mensch mit und durch die Krankheit der Umwelt Bedeutung beimisst und diese quasi biosemiotisch konstruiert. Dabei macht sich vermutlich bemerkbar, dass die Psychosomatik sich klassischerweise doch an einem der restlichen Schulmedizin gängigen Forschungsparadigma der Lebenswelt eines Einzelnen in einer Umwelt bemerkbar macht – ein Paradigma, das auch für naturwissenschaftliche Forschungsansätze kompatibel ist. Vgl. Geigges: Reflektierte Kasuistik.
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gegnung von Arzt von Kranken.540 Sein Verständnis von Leben, wie es in seinen Schriften, auch in dem »Gestaltkreis« und der »Pathosophie«541 zum Tragen kommt, deuten auf einen Grenzgang von naturwissenschaftlich fundierter und personaler Medizin hin, welcher Krankheit in ein Verständnis von Leben integriert und damit auch Fundamente für eine leibliche Ethik legt. In Anspruch genommen wird dafür eine lange Tradition »pathischer Anthropologie« im Gefolge antiker Philosophen, aber auch im Kontext der existenzialphilosophischen Philosophen Martin Heidegger und Sören Kierkegaard, Franz Rosenzweig und Martin Buber, der Etablierung leibhaftiger Evidenz in Diskursen der Moderne bei Georg Simmel, Blaise Pascal, Friedrich Nietzsche.542 Die Wirkungsgeschichte ist breit, so reicht die Analyse der Erzählung z. B. bis in die gegenwärtige Sprach- und Literaturtheorien (Reinhart Koselleck, Paul Ricœur).
3.2.3.2 Leben als antilogische Begegnung In einer kleinen Schrift Viktor von Weizsäckers findet sich gebündelt Wesentliches über Weizsäckers Verständnis von Leben, was hier entfaltet werden soll.543 a. Vorausgesetzt ist ein alle Lebewesen integrierendes und umfassendes GrundVerhältnis, welches auszeichnet, dass wir uns mit ihnen »in einer Abhängigkeit befinden, deren Grund selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis werden kann.«544 Wir bewegen uns demzufolge in diesem Grund-Verhältnis, das wir weder erkennen müssen noch können. Damit ist gegen eine Verobjektivierung des Lebens ein grundsätzliches partizipatorisches Lebensverhältnis angesprochen: »Um Lebendes zu erkennen, müssen wir uns am Leben beteiligen.«545 b. Nach Weizsäcker gibt es darin zwei Existenzformen: die ontische und die pathische Existenz. Die nüchterne, beschreibende Lebensweise ist die ontische; bei ihr geht es um »das nackte Sein«. Bei der pathischen Lebensweise ist »die Existenz weniger gesetzt als vielmehr erlitten«.546 Pathische Aussagen betreffen daher etwas Nicht-Seiendes. Folglich, so Weizsäcker, ist »also all540 Vgl. Dietrich Ritschl, der sein Konzept der Erzählung aufgreift. 541 Vgl. Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (1940), vorher 1932 dargestellt als psychophysiologische Analyse des optischen Drehversuchs. 542 Vgl. Jacobi: Der Tod im Leben, 292. 543 Weizsäcker : Anonyma. In der mir zur Verfügung stehenden Fassung in der Gesamtausgabe (Allgemeine Medizin) hat ein (Vor-)Leser am Ende des Vorworts seine eigene Titulatur notiert: »Monadische Anthropologie als Versuch Körper-Seele-Dualismus aufzuheben«. 544 Weizsäcker : Allgemeine Medizin, 47. 545 A. a. O., 48. 546 Ebd.
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gemein das Pathische ein Nicht-Ontisches«.547 Das Pathische hat einen persönlichen Charakter und ist also personal. c. Dem menschlichen Leben als pathischer Existenzweise liegt eine Antilogik zugrunde: Im Gegensatz zu leblosen, ontischen Existenzen, die »immer irgendwo sind und sich irgendwie verhalten«, kann man bei den Lebewesen und also pathischen Existenzen sagen, »dass sie etwas oder einander begegnen«.548 Zu dieser Dialektik der Begegnung gehört, dass dabei ein (beschreibbares, sagbares) Erlebnis möglich ist.549 Solche Begegnungen sind Geburt und Tod, Übergänge zwischen Sein und Nicht-Sein und Grenzen zwischen zwei Zuständen – als Prozess des Werdens. Gerade dieser Prozess zwischen Verlieren und Bekommen birgt einen logischen Widerspruch und gilt deswegen als Antilogik. Zu ihr gehören folglich Begegnung, Ereignis, Werden. Denn: »Immer ist das Lebendige ein veränderliches Gleichbleibendes – wie der Mensch.«550 d. Die antilogische Welt resultiert aus der Subjektivität, die zugleich intersubjektiv ist: Da es mehr als ein Lebewesen gibt, ist die Gleichheit und Verschiedenartigkeit (des Verhältnisses der Wesen zur Welt) gegeben. »Es ist also notwendig, dass dieselbe Welt verschieden erscheint« und ebenso, dass einem sich verändernden Wesen dieselbe Welt unterschiedlich erscheint, ebenso das Tun und Wirken.551 In der Subjektivität spiegelt sich Gleichheit und Verschiedenartigkeit der Welt, und damit ist auch die Anerkennung des Subjektes, der Gleichheit und Verschiedenheit gegeben.552 Letztlich signalisiert die pathische Lebensweise die abhängige Verbundenheit mit der Welt und damit auch eine Intersubjektivität. »Man kann nicht sagen, die 547 A. a. O., 49. 548 Ebd. 549 Denn »indem man sagt, etwas sei uns gegeben, tauche auf, so dass wir es plötzlich haben, als sei es wie aus vulkanischem Krater aus dem Unbekannten, nicht für uns Vorhandenen herausgeschleudert, oder als ob es sanft überfließe wie aus einer langsam aufsteigenden Quelle; so wie angetane Gewalt oder so wie empfangenes Geschenk; als neues und einmaliges tritt ein Ereignis ein« (a. a. O., 49). 550 Ebd. 551 A. a. O., 51. 552 Die Anthropologie lehnt sich hier an Leibniz an, der Monaden im Rahmen einer prästabilierten Harmonie als raum- und körperlose Urelemente verstand, die das Seelische und körperhafte Teilchen in nicht trennbare Einheiten zusammenbringen, und vor allem im Bezug auf Husserls Monaden, die jeweils ein Ego meinen. Folgende Unterscheidung wird geltend gemacht: »Monaden sind nicht im Raum, nicht in der Zeit, sind nicht zählbar, nicht messbar, nicht vertretbar, nicht teilbar. Vielmehr sind sie pathische, antilogische Subjektivitäten« (a. a. O., 52). Im biologischen Akt repräsentieren konkrete Lebewesen in den biologischen Akten Monaden, die wiederum Urbilder der Lebewesen sind. Sie erhellen Wesentliches an Nachbildern, nämlich das Monadische, das ist das Lebendige.
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pathische Existenzweise sei die passive, sie ist zugleich ebenso eine aktive, und es hängt nur von der Beleuchtung ab, ob wir diese pathische Existenzweise jetzt eben passiv oder aktiv nennen. Denn letzten Endes ist das Pathische eben nur ein Ausdruck der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Lebenden von einem Grunde, der selbst nicht Gegenstand werden kann – des Grundverhältnisses.«553 Dieser im nahezu gleichen Wortlaut wie bei F.D.E. Schleiermacher anmutende divinatorische Zusammenhang geschieht (weltlich) in verschiedenen Arten, die der »Existenzweise des Pathischen abgelauscht waren: das will, darf, kann, soll, muß […]. Der tiefere Grund der [nämlich genau dieser] pathischen Unruhe ist der, dass ein Lebewesen nicht in sich ruht, sondern zugleich dasselbe und doch ein sich änderndes, also ein werdendes Wesen ist. […] Diese widerspruchsvolle Unruhe [Antilogik] erscheint nun bei jeder Begegnung, jedem Umgang von Lebendem mit Lebendem.«554 Empfänglichsein ist immer auch Tätigsein, in widerspruchsvolle Unruhe: »Es sieht zwar so aus, als könne man jeweils nur entweder etwas fühlen oder etwas tun, entweder wahrnehmen oder handeln, entweder denken oder wirken, entweder schlagen oder geschlagen werden. Aber leben würde man nie, wenn man nur das eine und nicht auch wieder das andere täte, und da beides zusammen das Leben ausmacht, so fassen wir es, vom Standpunkt des Lebens aus, in Eines zusammen und nennen es biologischen Akt. Biologische Akte sind also z. B. Zeugung, Tod, aber auch Essen, Laufen, Sehen, Hören usw.«555
Beim Sagen des Wortes ›ich‹ oder ›du‹ setzt sich Subjektivität gegen Veränderung zur Wehr. Zyklomorpher Begriff des Lebens. Wie dieses Grundverhältnis und erlittenes Leben intersubjektiv lebbar wird, beschreibt die Theorie vom Gestaltkreis, der auf die Veränderbarkeit und das Werden menschlichen Lebens eingeht. Dieser Gestalt-Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von der zeitgleich entwickelten wahrnehmungspsychologischen Gestalttheorie (Max Wertheimer ; Kurt Koffka u. a.). Das auf diese pathische Weise Zu-sich-selbst-Zurückkehren wird in der Anschauung ein Kreis, aber als Weg: Daher ist der biologische Akt ein Gestaltkreis. »Unter Gestaltkreis verstehe ich eine wesentliche Struktur des pathisch begriffenen lebendigen Aktes.«556 Lebendiges verändert sich und kehrt in dieser Bewegung zu sich selbst zurück. Im Entsprechen des augenblicklichen Ausgleichs der Unruhe und der Ruhe, Anziehungskraft und Fliehkraft der Planeten spiegelt sich das Prinzip der Homöostase. Daher ist der Gestaltkreis – anders als Thure von Uexkülls Funktions- und Situationskreis – keine geome553 554 555 556
A. a. O., 53. Ebd. Ebd. A. a. O., 54.
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trische Anschauung; dies wäre ein ontisches und in diesem Falle Miss-Verständnis. Weizsäckers Kreis ist eine Metapher, die ein »(kybernetisches) Rückkopplungs-Geschehen«557 meint: Wahrnehmung und Bewegung gehen und reagieren aufeinander, sie vertreten einander. Der Gestaltkreis ist »eigentlich eine Anweisung zur Erfahrung des Lebendigen.«558 Wenn man sich einmal um sich selbst dreht und die Richtung wechselt, wird das vorher Sichtbare jetzt unsichtbar und umgekehrt. Die Wahrnehmung des einen schließt die der Gegenrichtung aus. Grund der Unruhe und damit Ausdruck der Widerspruchsnatur unserer Existenz ist eine antilogische Struktur in der Ordnung des Lebens, die in einem Drehtürprinzip als »gegenseitige Verborgenheit unserer Existenzen im Gestaltkreis« begriffen wird.559 Zum Leben gehört aber auch die Transzendenz des biologischen Aktes, indem Besitz, eine Grundform des Leben-Habens, und Gegenwart überschritten wird. »Man kann den Gestaltkreis nicht in seiner Integration besitzen (weder denkend noch anschauend), sondern man muß ihn durchlaufen und seine Gegensätze erleiden in einem fortgesetzten Aus-denAugen-Verlieren und einem immer neuen Die-Wirkung-Verlieren, um ein Neues zu gewinnen.«560 In diesem Sein vor dem Haben wird die Transzendenz zur praktischen Anwendung, zum gelebten Grund-Verhältnis. Die darin liegende immerwährende Abhängigkeit ist eine immergegenwärtige Transzendenz: Die Ferne ist immer da, die Nähe immer unerreichbar. In Weizsäckers Anthropologie befinden sich Leib und Seele nicht in einem Dualismus zueinander, sondern sie erläutern einander wechselseitig. Die Begegnung der Monaden stört die Es-Bildung; damit hat die Begegnung ein Apriori. Eine Urbegegnung wird durch Sphären erläutert. »Ich dich« ist eine pathische, »ich dies«, ist eine ontische Beziehung. In dieser Begegnung der Monade entsteht allererst das Subjekt. Diese folgt einer Berührung von Innen und Außen durch Einverleibung und Erinnerung. Was nach einer klaren Scheidung klingt, ist in Wirklichkeit komplexer und integriert anonyme Erfahrung, Begegnung mit Schmerz, Angst oder Lust. Als Merkmal gilt die »Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt […] Kohärenz« – und damit Gestalt.561 Pathischer, antilogischer und subjektiver Charakter der Monaden sind am Geschlechtlichen besonders zu exemplifizieren. Hier ist Bejahung gemeint, nicht nur Verneinung; »der pathische Charakter des Lebens ruht auf dem Pathos der Liebe, welche das Grund-Verhältnis bejaht und sein Name ist.«562 Es gibt also wirklich in der Begegnung die Erfahrung ungeteilten Existierens. Hier wird sie 557 558 559 560 561 562
Frick: Psychosomatische Anthropologie, 157. Weizsäcker : Allgemeine Medizin, 54. A. a. O., 55. Ebd. A. a. O., 64. A. a. O., 57.
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als ein Apriori der Trennung oder der Äußerung angesehen: Dabei gelingt es aber nicht, eine treffende Bezeichnung für die Erfahrung, für die Existenzweise zu finden, die weder als einfach noch als unterschieden gilt, weder als bezogen noch als nicht bezogen. Weizsäcker nennt sie »anonyme Erfahrung«, weil die Grenzen der Bezeichnungen erreicht sind und Bezeichnungen eher das Besondere dieser Erfahrung vertreiben.563 Äquivalenzprinzip und Stellvertretung. Der Gestaltkreis ist das Bild des lebendigen Aktes, dass das Subjekt in der Veränderung dasselbe bleibt. »Das Subjekt ist identisch in der Verschiedenheit« – dies wird in der Bewegung, in der etwas zum selben Ort zurückkehrt, anschaulich. Der Gestaltkreis dient also als Übersetzung und Gleichnis für die Antilogik des lebendigen Aktes, das Werden, anders gesagt, die Selbstbezogenheit in der Begegnung mit Fremdem. Bewegen repräsentiert die Aktivität. »Die Bewegung ist hier das Kunststück der Natur […] zur Übersetzung der Aktivität in ein Bild. Der Gestaltkreis ist »als Übersetzung, der lebendige Akt als Gleichnis verstanden.«564 Zum Gestaltkreis gehört nun, dass nicht nur a) die Bewegung das Bild des Aktes vermittelt, sondern auch b) »im Lebenden Aktion und Bild einander vertreten können und so äquivalent füreinander stehen. Das ist der eigentliche Kern des Gestaltkreisprinzips.«565 Außerdem werden die Abbildungen durch Formen repräsentiert – daher der Begriff des Gestaltkreises. Formen »sind das, was an Verschiedenem macht, dass es ähnlich ist. Die verglichenen Dinge sind also in der Form gleich, in etwas anderem ungleich. So können zwei Dinge also sowohl gleich wie ungleich sein, wenn sie ähnlich sind.«566 Ähnlichkeit ist dabei ein Sonderfall des Werdens – das Subjekt ist Form oder die Form wird das Subjekt. Leben ist soviel (im Werden) wie Begegnen – Mannigfaltigkeit kommt aus der Subjektivität. Form ist (als das in der Ähnlichkeit Identische) eine Erscheinung der monadischen Begegnung. Die Erfassung von Formen gelingt dem monadisch strukturierten Beobachter, in dem Raum und Zeit einander begegnen. Rückwärts von Leibniz her gelesen: Die Form ist das Ähnliche und das Ähnliche ist das monadisch Begegnende. D. h. »dass Formen monadische Begegnungen sind.«567 Form und Inhalt sind umkehrbar.568 Daher sind mit Leibniz Formen Qualitäten, auch Empfindungen sind 563 564 565 566 567 568
A. a. O., 64. A. a. O., 85. A. a. O., 86. Ebd. A. a. O., 88. »Wie es richtig bei der Begegnung zweier Menschen ist, zu sagen, A sei dem B begegnet wie B dem oder auch beide einander, so auch bei monadischem Begegnen. Jene Sätze sprechen von Einem, von Zweien und von einer Zweiheit in Subjektstellung, obwohl der gleiche Vorgang gemeint ist. Die numerische Antilogik der Begegnung zeigt […] einen weiteren Gehalt: […] Zieht man sich von der eigentlich unzulässigen Interpretation der Monade zurück, dann auch von der logischen Interpretation des Aktivitätsprinzips, wonach ein
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Formen, die der sphärischen Begegnungsart weniger entfremdet sind als Figuren. »Aus diesem Verhältnis von Form und Inhalt folgt endlich, dass ein Lebewesen das Physikalische weder tun noch wahrnehmen kann.«569
3.2.3.3 Krankheit, Biografie und Therapie Zur nahezu schicksalhaften Bestimmung des Menschen gehört die unbeantwortbare Fundamentalfrage nach dem Grund des Lebens: »Man kann nicht wissen, man muß spielen […] Um Lebendes zu verstehen, muss man sich am Leben beteiligen.«570 Eine solche Anthropologie in der Bildlichkeit eines Seiltänzers, welcher mit der Balancierstange den Schwerpunkt tiefer legt, symbolisiert, dass Intelligenz nicht nur anderes reguliert, sondern selbst auch reguliert werden muss im Gestaltkreis. Denn Intelligenz kann nicht Leidenschaft überwinden. Diese Anthropologie erkennt (Inter-)Dependenzen an: »Richtig ist jedenfalls nur, jederzeit das Subjekt anzuerkennen, die pathische Abhängigkeit zu ergründen und sich im Gestaltkreis zu bewegen, also der Antilogik des Lebendigen zu folgen.«571 Weizsäcker konstatiert, man habe das monadische Wundern verlernt, das einem Begegnungswundern gleicht. Dieses Wundern geht über ein anfängliches phänomenologisches Staunen hinaus: Wie kann der Raum Macht über mich und meine Welt haben, wenn ich mich bewege? Auch hier gilt: Eine bloße Aufklärung über Abhängigkeiten kann diese zurückhaltende Angst nicht verhindern. Man muss mit der Logik experimentieren (Geburt, Zeugung,…). Einen Grund für diese Angst erklärt Weizsäcker auf psychoanalytischem Hintergrund. Leidenschaft könnte eine Logik in Unordnung bringen, aber zugleich droht auch Leidenschaft durch Logik und Kälte verdrängt zu werden. »Wir haben begriffen, dass die Verdrängung der Leidenschaft Krankheit über den Menschen bringt, d. h. daß die verdrängte Leidenschaft noch stärker werden kann als die erlebDing entweder aktiv-positiv oder passiv-negativ sich verhalte. Da nun die Monade nicht numerischen, sondern sphärischen Wesens ist, lässt sich dasselbe für die Formen aussagen. Wenn sich ein Inneres äußert wie im Ausdruck, so wäre bei nur einseitiger Bewegungsrichtung von innen nach außen als Inneres der Inhalt, das Äußere als Form fixiert. Als monadische Begegnung betrachtet, ist aber die Bewegungsrichtung gleichberechtigt von außen und innen darstellbar. Mit anderen Worten: Bei sphärischer Begegnung ist die Form mit dem Inhalt, die Äußerung mit dem Innern äquivalent. […] Die Form der Sprache ist expressiv der Ausdruck des Sinnes oder Inhaltes, aber rezeptiv ist diese ›Form‹ der Inhalt dessen, was beim Anhören erst Form gewinnt. So kann man sagen, die äußere Form ist der Inhalt der inneren Form, die innere Form der Inhalt der äußeren Form: Form und Inhalt sind füreinander wechselseitig Inhalt und Form« (a. a. O., 88). 569 A. a. O., 89. 570 A. a. O., 67. Die pathische Ergriffenheit macht sich auch beim spielenden Menschen bemerkbar. Vgl. Huizinga: Homo ludens. 571 A. a. O., 70f.
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te.«572 Auch hier gilt der psychoanalytische Grundsatz von Triebverdrängung in der Angst vor Kontrollverlust. Eine Unterscheidung von pathisch und pathologisch wird möglich auf der Ebene der Erfahrung: Unannehmlichkeiten, welche dem Lebewesen Hunger, Kälte, Schmerz, Schmach, Lieblosigkeit und Verständnislosigkeit – kurz: das Äußere im Inneren hervorbringen, sind pathologisch: »Die Summe dieser unangenehmen Widerstände soll uns, mit Ausweitung der Wortbedeutung, Krankheit heißen. […] Wir nennen Männer und Zustände irrsinnig, wir nennen Kulturen altersschwach oder vergiftet, wir nennen die Zivilisation entartet, und wir nennen Religionen und Wissenschaften selbstzerstörerisch, wir nennen die Menschheit krank. Die pathische Situation des Menschen erscheint jetzt also pathologisch, und so wäre die Wesensbestimmung, die wir vornehmen, als eine Diagnose, erscheint als eine negative: nicht gesund.«573
Was sonst als Macht gilt, wird im Augenblick der Krankheit zur Ohnmacht. So entstehen monadische Begegnungen in sphärischen Mehrungen; in der Begegnung entsteht Behauptung und Gegenbehauptung574, Anziehung und Abstoßung, Liebe und Hass, Einung und Trennung. Zeit und Raum sind expansiv und »drängen zueinander«; in ihrer Begegnung liegt der »Sammelpunkt zeiträumlicher Verschmelzung«, das Ereignis.575 In der Antilogik dieses Dranges wurzelt Freiheit. Krankheit nun entsteht im Verlust dieser Freiheit und macht genau diese offenbar : »So wird das Pathische pathologisch. Das Pathologische eben offenbart die pathische Seite der Existenz. Es ist die Zweiseitigkeit, an der sie sich offenbart, und so ist es die Zweiseitigkeit der Krankheit, an der sich das Wesen des Menschen enthüllt und durch welche der Grundriß des Leibes darstellbar wird.«576 Darauf bauen für Weizsäcker die Leitsätze medizinischer Anthropologie, die schon in ihrem Grundriss unausrottbare Zweiseitigkeiten hat: »Der Grundriss des Leibes ist zweiseitig strukturiert.«577 Was sich im und am Leib als antigeometrische Struktur erweist, ist eine durchgehende Dialektik. Denn die Zweiseitigkeit der [einen] Krankheit muss an jeder Einzelheit des Leibes aufgespürt werden. »Also: die Krankheit hat nicht zwei Seiten, sondern Zweiseitigkeit ist die Krankheit.«578 Mit diesem transzendentalen Verständnis von Krankheit geht eine Kritik der Semantik des Wortes »biologisch« einher, das eigentlich bio-pathisch heißen müsste (das würde aber andere Irreführungen nach sich ziehen). 572 573 574 575 576 577 578
A. a. O., 74. A. a. O., 67. Der (Vor-)Leser notiert: »Dialektik«. Weizsäcker : Allgemeine Medizin, 78f. A. a. O., 81. A. a. O., 82. A. a. O., 82f.
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Das »Pathische Pentagramm« ist das Kennzeichen der pathischen Existenz579 : Es fragt nach dem Dürfen, Müssen, Wollen, Sollen, Können der Krankheit – also nach der individuellen Relation des Subjekts zu der eigenen Krankheit im Rahmen des Lebenskreises. Dem Arzt legt das Pathische Pentagramm580 Weizsäckers damit einen Umgang nahe, bei dem dieser nachforscht, ob der Patient seine Symptome und Beschwerden jeweils haben darf, muss, will, soll oder kann. Anders als in zwischen Innen und Außen trennenden Perspektiven ist dem Zuhörenden, Arzt, Forscher ein Ohr dafür offen, ob jemand mit seiner Krankheit, seinem Erzählen etwas will, kann, darf, muss oder soll oder ggf. auch das Gegenteil von genau dem. Damit kommt wissenschaftlich wie therapeutisch eine First-Person-Perspective zum Tragen, die Motive und Färbungen in Modalitäten sucht. Den einzelnen Modi sind von Weizsäcker her Bedeutungen zugemessen: Das Wollen sucht nicht Vorhandenes zu realisieren, das Können ist für ihn der kritische Punkt, da hier ein kausaler Determinismus überwunden werden soll. Das Dürfen als »Ostermorgen des menschlichen Daseins« ist der Inbegriff der Freiheit, die Weizsäcker in der Psychoanalyse verwirklicht sieht; im Müssen als dem »Karfreitag des menschlichen Daseins« manifestiert sich die Unausweichlichkeit, also der Kausalzwang, aber auch der Versuch des Entrinnens.581 Pathisch ist dabei »die Seite der biologischen Existenz, in der diese Existenz nicht als Daseiendes gegeben, sondern zur Entscheidung aufgegeben ist. Der pathische Charakter macht auch die Indeterminiertheit des Lebens aus und wurzelt im Grundverhältnis«. Dieses Grundverhältnis zwischen Arzt und Patient, so Wilhelm Rimpau, »würdigt individuelle, geistige, seelische und körperliche Facetten des Lebens, des jeweiligen Lebens.582 Rimpau spricht die sich entwickelnde narrativ basierte Medizin an als Umkehrweg aus einer Medizin, der das Subjekt abhanden gekommen ist: »Die Krankengeschichte wird ›verstanden‹, wenn naturwissenschaftliche Wirklichkeiten und biografische Wahrheiten, wenn nomothetische Wissenschaft sich mit ideografischer verbindet und Verstehen wieder eine Frucht hermeneutischer Methode geworden ist.«583 3.2.3.4 Menschsein: pathische Existenz im Gestaltkreis Die Denkfigur dieser Anthropologie ist die Dialektik, welche bildlich in einer Kreismetapher zur Integration geführt wird. Sie gestattet Weizsäcker, formallogische und widersprüchliche Einsichten über menschliches Leben zusam579 Weizsäcker : GS 10, 67–97: Das Pathische. Vgl. Wilhelm Rimpau: Stiftung Lebensnerv. 580 Siehe Weizsäcker : GS. Pathische Kategorien ab S. 70: Hier finden sich Hinweise auf den Modus des Krankseins. 581 Frick: Psychosomatische Anthropologie, 154f. 582 Rimpau: Die seelischen Dimensionen, 57; Weizsäcker : GS 9, 170ff. 583 Rimpau: Die seelischen Dimensionen, 59. Vgl. auch ders.: Stiftung Lebensnerv.
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menzuführen. Der Gestaltkreis ermöglicht, Leben als Fließgeschehen zu beschreiben, ohne einem undifferenzierten Allzusammenhang zu verfallen, der harmonistisch oder vitalistisch wird, aber auch, ohne sich in rationaler Verengung ausschließlich auf innerweltliche Vorgänge zu beschränken. Weizsäcker überwindet die auch gegenwärtig weitenteils naturwissenschaftliche Sicht auf den Menschen durch ein integratives Menschenbild, das sich durch seine reflexologische Sicht auf Leben und integriertes Kranksein auszeichnet, ohne von einer ungefilterten Einheit von xuwg und syla auszugehen. Krankheit nimmt hier vielmehr die Position einer ungelebten Seite des Lebens ein – oder im Sinne der Stellvertretung ausgedrückt: »Die Krankheit vertritt das ›ungelebte Leben‹«.584 Wenn Kranksein eine Weise des Menschseins ist, wird der Mensch mit etwas, was nicht ist, konfrontiert: Ein Zustand, den er weder wünscht noch will, führt dazu, dass sich auch sein Selbst ändert. Hier liegt das Urphänomen einer Konfrontation als Spannung in der Lebensgestaltung. In dieser Situation, in der das Subjekt als vermittelnde Struktur zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Organismus und Umwelt fällt, wird der Riss der Differenz des Lebens deutlich; Weizsäcker prägt dafür den Begriff der Krise.585 In der Krise und im Entscheiden sind Tun und Leiden unauflöslich miteinander verbunden. Die Krise schafft eine Dialektik von kohärentem und differentem Leben. Krankheit macht das Leben zeitlich, daher gibt sie auch in der Außenbetrachtung und Behandlungspraxis stets die Aufgabe, sie zu verstehen, und zwar im Kontext der Historizität des Lebens, also in der Lebensgeschichte. Die Annahme der Krankheit zeigt sich in der Doppelstruktur von Kohärenz und Differenz. Das Therapeutische einer Kohärenzleistung des Verstehens von Krankheit ist der Versuch eines Wandels der Lebensgestaltung. Daher leistet die Krankheit einen Zugang zur Wahrheit des Lebens, in dem sie »Teilhabe des Todes am Leben« ist.586 Mit dieser biografischen Option ist eine Umkehrung von einer Krankheit zum Tode zu einer »Krankheit zum Leben« angebahnt. Viktor von Weizsäckers Modell hat leider keine besonders nennenswerte Resonanz in der Schulmedizin erfahren. Dabei liefert seine Anthropologie eine integrative Sicht auf den Menschen, die Leib und Seele in aufeinander einwirkenden Kräften begreift. Der Mensch wird als leidenschaftliches und pathisches Wesen herauskristallisiert. Das Pathische ist hier der pulsierende Zusammenhang eines organismischen Lebens, das in sich und in seiner Umgebung in Begegnung verläuft und daher auch transzendente Zusammenhänge anklingen lässt; Wahrnehmung und Bewegung sind zwei Seiten dieses Lebensprozesses. Krankheiten gelten in diesem Verständnis als individuelle symbolische 584 Frick: Psychosomatische Anthropologie, 159. 585 Vgl. Weizsäcker : Gestaltkreis, GS 4, 295–310. 586 A. a. O., 83.
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Transformationen ungelebten Lebens; für welche sie eine Stellvertreterfunktion in einer integrativen Gesamtsicht von Leben vertreten. Von da ausgehend wäre zu fragen: Wie lässt sich diese Krisenseite des Lebens genauer bestimmen? Ist der Zusammenhang auch dann noch virulent, wenn es sich nicht im engeren Sinne um eine ärztlich diagnostizierbare Krankheit handelt, sondern ein lebensweltlich erweitertes Verständnis von Kranksein eingeschlossen ist?
3.2.4 Kranksein und Grenzerfahrung 3.2.4.1 Zwischen Medizin und Existenzialphänomenologie (Thomas Fuchs) Einen Weg, Zugänge zur Dimension des Pathischen zu gewinnen, der Phänomenologie, Anthropologie und psychiatrische Einsichten miteinander verbindet, geht Thomas Fuchs. Seine Doppelqualifikation als psychiatrischmedizinischer und phänomenologisch-philosophischer Forscher587, seine Verknüpfung mit kulturellen Einblicken und elementaren existenziellen Erfahrungsdimensionen kommt meinem Interesse der lebensweltlich-phänomenologischen Klärung der Bedeutung von Krankheit entgegen. Grundlegend für Fuchs ist eine phänomenologische Anthropologie, die Leiblichkeit, Räumlichkeit und Personalität zusammen denkt. Seine Gedankengänge greifen auf Ressourcen bei Maurice Merleau-Ponty, Karl Jaspers, Gernot Böhme588 und Hermann Schmitz589 zurück, berücksichtigen z. T. aber ebenso neurologische Gewährsleute, entwicklungspsychologische Klassiker und kulturwissenschaftliche Vertreter. In Fuchs’ Konzeption von ›Person‹, die auch durch Robert Spaemann inspiriert wurde, sind diese Dimensionen vereint. Zu seinem Werk zählen existenzialphänomenologische Themen wie Zeit, Lebenswelt, Leiblichkeit, Leiden ebenso wie Topoi medizinischer Ethik, die auch interdisziplinär mit theologischen Gesprächspartnern diskutiert werden. In einigen der neueren Publikationen grenzt sich Fuchs in medizinischer Perspektive von reinem Neurobiologismus ab und errichtet Brücken zwischen Philosophie, Phänomenologie und Medizin. Für diesen Zusammenhang ist entscheidend, dass Fuchs den radikalen Konstruktivismus, den er im Deutschen Idealismus vorbereitet sieht, kritisiert und sich vehement für eine lebenswelt587 Thomas Fuchs (*1958) hat sowohl in Medizin als auch in Philosophie jeweils eine Promotionen und eine Habilitation absolviert; seit 2010 ist er Lehrstuhlinhaber der KarlJaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. 588 Gernot Böhme (* 1937) war Philosoph für Ästhetik,–, Leib-, Natur- und Technikphilosophie; seit seiner Emeritierung ist er Direktor des dortigen privaten Instituts für Praxis der Philosophie e. V. (IPPh). 589 Er gilt als Begründer der Neuen Phänomenologie.
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bezogene und leibraumphänomenologische Perspektive des gegebenen Menschen einsetzt. Im Rahmen seiner bioökologischen Diskussion gilt das Argument, dass bereits die Existenz eines anderen Menschen nicht mehr radikal konstruktivistisch haltbar wäre – dieser ist dem Menschen ja nicht im Kopf oder virtuell nahe. So bemüht sich Fuchs im kritischen Gespräch mit Neurowissenschaften darum, reduktionistische Konzeptionen des Verhältnisses von Gehirn und Subjektivität abzugrenzen. Auf der Basis einer Verbindung von Phänomenologie, ökologischer Biologie und einer Philosophie des Lebendigen entwickelt Fuchs die Vorstellung vom Gehirn als Beziehungsorgan – ein ökologisches Konzept, das theoretische neurowissenschaftliche und neurologisch-psychiatrische Erkundungen mit phänomenologischen Gedanken durchsetzt.590 Für diesen Zusammenhang sollen die Fragen der Debatte zwischen Philosophie und Neurobiologie nur soweit bedacht werden, wie sie auf das diesem Ansatz zugrunde liegende Verständnis von Leben und Menschsein verweisen. 3.2.4.2 Anthropologie: Leben und verkörperte Subjektivität Leben wird bei Fuchs im Zuge der Herausforderung durch die Life Sciences betrachtet. Mit dem »Umsturz vertrauter, sinnlich-lebensweltlicher Erfahrungen«, der mit der Mechanisierung des Weltbildes und folglich mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis einhergeht, folgt in der konsequenten Scheidung von Subjekt und Erkanntem die Ausschaltung und Zerstörung von Eigenbeteiligung, also einer Partizipation, wie sie Weizsäcker im Auge hatte.591 In der Folge radikalisieren die biotechnologischen Wissenschaften die »naturwissenschaftlich erzeugte Entfremdung zu einer Selbstentfremdung, nämlich indem sie lebendiges Selbstsein in Kontingenz verwandeln. Leben wird nach Art vorhandener Dinge begriffen, und damit auch unser eigenes Leben: Die Grenze zwischen Personen und Sachen beginnt sich aufzulösen.«592 Damit verbindet sich die wissenschaftliche Aufhebung aller lebensweltlichen Selbstverständlichkeit, bestehend in der »vorgängigen Spontaneität, im ›Von-Selbst‹ des Lebens«.593 Demzufolge schwingt ein Hauch von Vitalismus mit, wenn Fuchs Leben in Abgrenzung von der »Verdinglichung lebendigen Selbstseins« bestimmt.594 In seiner Kritik kommt Leben zunächst einmal als Selbstsein zum Tragen, ein Selbstsein, das sich der Bemächtigung entzieht und daher nicht nur Selbst-
590 591 592 593 594
Vgl. Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Fuchs: Leib und Lebenswelt, 283. A. a. O., 284. A. a. O., 285. Ebd.
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Erfahrung, sondern auch Selbst-Entzug in der »Vorgängigkeit des Widerfahrnisses und der Selbstaffektion« einschließt.595 Das von ihm kritisierte so genannte Eingriffswissen, das im Rückbezug auf Hannah Arendt596 die Unverfügbarkeit des Anfangens und demzufolge die Natalität und auch die Mortalität einzudämmen versucht, führt auch im Zusammenhang mit den Neurowissenschaften dazu, dass sich eine Fremdheit über den Menschen erhebt: »Zunehmend schreiben wir unser Selbstsein einem an sich fremden Gegenstand zu. Denn ich habe zwar ein gelebtes Verhältnis zu meinem gespürten Leib, meinen Gliedern, meinen Sinnen, aber nicht zu dem Gehirn in meinem Schädel, das ich weder sehe noch fühle. Nur durch eine sekundäre Zuschreibung meines anatomischen Körpers kann ich von ›meinem Gehirn‹ sprechen.«597 Dieses Beispiel signalisiert Fuchs’ Bemühungen zu kritischen medizinischen Grenzgängen, die er in einer ökologischen Konzeption vom Gehirn als Beziehungsorgan münden lässt. Der Kern seiner Überlegungen ist nicht eine Pauschalkritik, sondern eine Warnung vor den unbegrenzten Streben nach Kontrolle – und eine solche läge lebenswissenschaftlich genauso nahe wie in den neueren Versuchen, sich des Lebens und Lernens im Bildungshorizont zu bemächtigen. Seine phänomenologisch-ethisch ausgerichtete Erweiterung der Beziehungshaftigkeit des Lebens wendet die Gefahr, dass sich Selbstsein in Kontingenz verwandelt, in zweifacher Hinsicht ab: gegen die fatalistische Einstellung, alles gehe mit dem unaufhaltsamen Fortschritt des Lebens verloren, und gegen die voluntaristische, dass die Abhängigkeiten von eben der leiblichexistenziellen Inter-Dependenz zu lösen seien. Aufbauend auf Maurice MerleauPontys Leibphänomenologie schreibt Fuchs dem fungierenden Leib den Ort des Mediums zwischen dem leiblichen Grund, aus dem Menschen sind, ihren Interessen, Planungen und Motiven, in denen sie etwas tun oder handeln, und ihren Handlungen zu – der Leib wird damit auch zum Ort der Erfahrung des Widerfahrnisses. Im Anklang an Existenzphilosophie, an medizinische Anthropologie und Phänomenologen wie Merleau-Ponty und Schmitz begreift Fuchs Menschsein in grundlegenden Dimensionen von Leiblichkeit und Räumlichkeit. Von Spaemanns Personbegriff her denkend598, wird die Leiblichkeit zur maßgeblichen Kategorie des Selbstseins. In seiner Leiblichkeit ist der Mensch verkörpertes Subjekt. »Leiblichkeit ist die grundlegende Weise des menschlichen Erlebens – insofern der Leib nicht als Körperding, sondern als Zentrum räumlichen Existierens aufgefasst wird, von 595 596 597 598
A. a. O., 287. Vgl. Arendt: Vita activa. Fuchs: Leib und Lebenswelt, 295. Vgl. Spaemann: Personen.
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dem gerichtete Felder von Wahrnehmung, Bewegung, Verhalten und Beziehung zur Mitwelt ausgehen. Leiblichkeit in diesem umfassenden Sinn transzendiert den Leib und bezeichnet dann das in ihm verankerte Verhältnis von Person und Welt, bis hin zu ihren sozialen und ökologischen Beziehungen.«599
3.2.4.3 Grenzsituation und Vulnerabilität Fuchs greift im Grenzgang zwischen phänomenologischer Anthropologie und Psychiatrie das Jasperssche Modell der Grenzsituation auf. Treten Grundsituationen im Leben prinzipiell auf, so konkretisieren sie sich in der Erfahrung von Extrema für Menschen in Grenzsituationen. Als solche bezeichnet Karl Jaspers Kampf, Leiden Tod und Schuld. Ihnen ist besonders, dass sie sich der grundsätzlichen Kalkulierbarkeit, Voraussicht und strategischen Bearbeitung entziehen; an ihnen erweist sich, inwieweit Leben als bloßes Dasein geführt wird oder ob es sich der Existenz stellt. Mit ihnen sind Bedingungen von Kontingenz gegeben. Fuchs geht davon aus, dass auch »psychische Erkrankungen mit Grenzsituationen zu tun haben«600, weil in ihnen nachvollziehbarerweise eine Erschütterung auch die seelische Stabilität so beeinträchtigen kann, dass daraus psychische Krankheiten entstehen können. Daraus resultieren für ihn Differenzierungen der Relation von Grenzsituationen: Trauma ist ganz maßgeblich. Die Anfälligkeit für Verwundungen lässt damit den Terminus der Vulnerabilität als Verletzlichkeit in einer doppelten Weise schillern: Vulnerabilität, im Jaspersschen Sinn ein Beziehungsbegriff, meint eine erhöhte Verwundbarkeit gegenüber der Leiblichkeit, Freiheit und Schuld und der Existenz selbst, die sich medizinisch als eine »Anfälligkeit für psychische Erkrankungen« bemerkbar macht.601 Vulnerabilität hat damit einerseits existenzielle Dimensionen, mit denen man Unentrinnbarkeit assoziieren kann, andererseits aber suggeriert sie, dass sie – und dies wiederum im medizinischen wie psychologischen Sinn – nur bestimmte Personen in ihrer Anfälligkeit betrifft, denn: »Vulnerable Personen bleiben überempfindlich gegenüber den existenziellen Implikationen bestimmter Lebenssituationen, in denen sich gleichsam Risse im Gehäuse auftun, hinter denen Grundtatsachen der Existenz sichtbar werden.«602 Wenngleich gegenüber medizinischen Konzepten die »Vulnerabilitätsmarker« determiniert werden und durchaus eine größere Offenheit bezüglich der Ätiologien von Kranksein gegeben werden, setzt Fuchs ein psychologisches Verständnis von »biologisch-psychosozialen Rückkoppelungsprozess[en]«603 voraus, nämlich 599 600 601 602 603
Fuchs: Leib, Raum, Person, 15. Fuchs: Leib und Lebenswelt 153. Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, 269. Vgl. ders.: Existenzielle Vulnerabiltität. Fuchs: Leib und Lebenswelt 156. Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, 270.
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dass das Pathologische grundsätzlich vermeidbar oder zumindest die Grenzen verschiebbar wären.
3.2.4.4 Menschsein: Leibliches Selbstsein in existenzieller Verletzlichkeit Angestoßen von ethischen Gegenwartsfragen, wird Fuchs’ medizinische Sicht auf den Menschen existenzialanthropologisch und zum Teil religiös motiviert. Als Kontext stehen vor allem bioethische Eingriffsmöglichkeiten in die Natur des Menschen vor Augen, aber auch lebensweltliche Grenzerfahrungen über eine zeitliche Aktualität hinaus. Die Geschichtlichkeit des Menschen kommt hier in ihrer zwischenleiblichen Verfasstheit ebenso in den Blick wie Anklänge an Differenzerfahrungen, wie sie in Widerfahrnissen zutage treten. Diese werden bei Fuchs existenzphilosophisch eingefangen und leibphänomenologisch konkretisiert. Damit kommt die von Weizsäcker eingebrachte Seite des ungelebten Lebens als Negativität in die Diskussion. Fuchs sieht, dass nicht – zumindest nicht allein – ein objektives Maß für die Bestimmung von Kranksein möglich ist, sondern stattdessen der Gadamersche Begriff der Angemessenheit greift.604 Hier wird aus medizinischen und leiblich-bioethischen Gründen eine Lebenskunst angepeilt, die im wahrsten Sinne des Wortes Ge-Lassen-heit ins Auge fasst. Fuchs’ Haltung lässt sich als technologiekritisch und wertkonservativ bezeichnen – in einem, wie ich meine, anzuerkennenden Sinn, da nicht alles medizintechnisch Machbare auch zugleich das Menschliche ist. Vielmehr wird Menschlichkeit aus der Würde des Menschseins gewonnen, die es zu erhalten gilt. Diese wiederum ist als zwischenleibliche Verfasstheit des Menschseins maßgeblich. In ihr wird gerade die Verletzlichkeit, die unverfügbare Seite des Lebens, hochgehalten – auch dort, wo kommunikatives Handeln nicht mehr oder noch nicht möglich ist. Von daher ermahnt Fuchs zur Achtsamkeit auf das Leben an der Grenze, wie es schon Jaspers im Eingehen auf die Grenzsituation getan hat; seine medizinisch zugespitzte Philosophie bezieht dabei vor allem die existenzial-leiblichen Grenzen ein. Grenze ist in unter toplogischen Gesichtspunkten, wie sie Michel Foucault für das soziale Leben aufgestellt hat, die Herausforderung dafür, nach dem Kontakt und der Grenze zu den und dem Anderen zu fragen. Wenngleich Fuchs die Intersubjektivität im Sinne von Merleau-Ponty als Zwischenleiblichkeit begreift, wird dieser soziale Aspekt in seinem Personkonzept nicht außerordentlich stark beleuchtet. Auf ähnlichen Grundlagen des phänomenologischen Ansatzes wie Thomas Fuchs aufbauend, ist dies vor allem das Anliegen von Bernhard Waldenfels. 604 Vgl. Fuchs: Zeit-Diagnosen, 24.
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3.2.5 Kranksein und brüchige Intersubjektivität 3.2.5.1 Philosophie zwischen Empirismus und Sozialphänomenologie (Bernhard Waldenfels) Bernhard Waldenfels605 zählt zu den wenigen gegenwärtigen deutschen RezipientInnen der neueren französischen Phänomenologie. Seine zwischen Ästhetik und Ethik angesiedelte Phänomenologie des Fremden ist kein geschlossenes philosophisches System, wie es z. B. die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz für sich beansprucht, doch handelt es sich auch keineswegs um nur lose angeordnete philosophische Aspekte. Der von Waldenfels gebrauchte Begriff der Ordnung ließe sich auf eine Charakteristik seiner Phänomenologie beziehen, weil diese als eine prozesshafte Ordnung bzw. ein dynamischer Ordnungsprozess konturiert werden kann, in dem Thematisierungen von Gegenwartsphänomenen und zugrunde liegenden Hintergründen in ebenso transzendentalphilosophischer wie erfahrungsorientierter Ausrichtung formuliert werden. Waldenfels begibt sich auf die Fährte eines »differenztheoretisch transformierten Empirismus, der die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen Husserls in Frage stellt und dem diastatischen Charakter von Erfahrung Rechnung trägt.«606 Die Phänomenologie hat die Ressourcen der Empirie genutzt – nach dem philosophischen Anthropologen Marc Rölli diejenigen der ersten und zweiten Generation; er empfiehlt umgekehrt den Empiristen, von der pathischen Phänomenologie von Waldenfels zu lernen. In diesem Zusammenhang geht es nicht um eine historische, chronologische oder gar genealogische Werkschau zu Waldenfels, welche die Entwicklung vom Frage-Antwort-Dialog zur Ausgestaltung einer pathisch verankerten responsiven Phänomenologie nachzeichnet; gleichwohl ist dieser philosophische Gestaltungsprozess als solcher zu berücksichtigen. Aus diesem Grund gehe ich im Folgenden bei der Erkundung des Pathischen nach Waldenfels schwerpunktmäßig vom fokussierten philosophischen Phänomen dieser Arbeit aus und verwende das »Antwortregister« ebenso wie andere Werke, Aufsätze und Gedanken als respondierende Gedanken und Theoreme; dabei kommt die Waldenfelssche Genealogie der Phänomenologie nur insofern und dort zum Tragen, wo dieser Zusammenhang für die Konturierung von Pathos und Passivität wichtig wird.
605 Bernhard Waldenfels (*1934) war von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1999 ordentlicher Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. 606 Busch / Därmann: Philosophie der Responsivität, 14. Vgl. Rölli: Phänomenologie und Empirismus.
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3.2.5.2 Leibliches Leben zwischen Subjektivität und Intersubjektivität Waldenfels’ philosophische Basis bildet die Intersubjektivität, die für ein Verständnis von Leben, Wahrnehmung und Handeln in der »Ordnung der Dinge« und im Umgang mit Fremdheit maßgeblich ist. Auf der Basis philosophischer Konzepte von Husserl und Schütz, unter Aufnahme von Merleau-Pontys Leibund Sprach und des fundamentalethischen Konzepts von Emmanuel L8vinas befasst er sich auf der Basis lebensweltphänomenologischer Einsichten mit Herausforderungen durch das Fremde. Dabei macht er Leib, Zeit, Raum und Sprache als Dimensionen der Gegenwartsphilosophie in leser- bzw. höreradressiertem Stil fruchtbar und eröffnet phänomenologische Sichtweisen auf Kunst, Religion, Politik und Gesellschaft.607 Dass er von den sozialwissenschaftlichen Ausprägungen der Phänomenologie, wie sie Alfred Schütz, Michel Foucault und andere betreiben, etliches aufnimmt, macht ihn zum Sozialphänomenologen, dem die Performanz phänomenologischer Beschreibung in Verbindung mit argumentativen Linien näher liegt als methodologische Reflexivität. Insofern lässt sich auch seine Phänomenologie in gewisser Weise eher als performatives Philosophieren denn als phänomenologische Analyse bezeichnen608, welches die referenzielle Funktion der Performanz von gelebter Erfahrung in Gebrauch nimmt und philosophische Lehrstücke inszeniert. Gespeist werden seine Überlegungen auch von der älteren und neueren Psychoanalyse (bis zu Lacan und Derrida), die dem Unbewussten nachgeht, und der Technologie, die als »Phänomenotechnik« in die Nähe eines leiblichen Konstruktivismus rückt. Der Mensch ist ein Grenzwesen; in anderer Akzentsetzung als bei Fuchs bedeutet die Grenze für dieses Grenzgängertum differenztheoretisch einen Riss in jeglichem Leben zwischen Fremdheit und Selbstheit, der auch teleologisch nicht aufzuheben wäre. Es gehört also zum Leben, sich selbst und anderen in gewissem Maße fremd und entzogen zu sein. Der Riss, einer Erfahrungsdimension von Unterbrechung ähnlich, bewegt sich zwischen Selbst und Fremdheit und macht in diesem Zwischen die Erfahrung einer radikalen Kontingenz. Diese tastet alle gegebenen Ordnungen an. Von daher gibt es eine Diastase zwischen Eigenem und Anderem, welche sich auch nicht durch ein Drittes vermitteln lässt. Die Selbstbezüglichkeit des Menschen ist paradox, die Fremdheit lässt sich nicht durch Grenzziehungen sauber abtrennen; ihr ist eine Entzogenheit inne, die sowohl im Fremdbezug als auch im Selbstbezug liegt. Im Fremden sieht der Mensch die gelebte Unmöglichkeit; es überschreitet den Raum des Möglichen. Von daher ist der Mensch a priori auf Andersheit und den 607 Viele der deutlich strukturierten Suhrkamp-Bände sind verschriftlichte Vorlesungen oder Vorträge. 608 Vgl. FQS: Performative social science.
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Anderen – und darin liegt im Unterschied zur Fremdheit bereits eine Beziehungsebene zum Eigenen – verwiesen. Peter Sloterdijks Gedanke, dass man menschheitsgeschichtlich schon immer zu zweit ist, wird hier radikalisiert, denn das von jeher Mitgegebene ist schon immer der Andere.609 3.2.5.3 Krankheit und Fremdheit Waldenfels geht davon aus, dass sich die deskriptive Medizin in einem normativen Vakuum befindet.610 In seinen Studien zur Phänomenologie fragt er danach, wie eine medizinische Praxis aussieht, die Krankheit nicht nur als zu behebendes Defizit betrachtet, sondern auch als Andersartigkeit.611 Sein Denkweg geht nun rückwärts von der kommunikations- und beziehungsorientierten Therapieform der Gesprächspsychotherapie aus, um an ihrer phänomenologischen Praxis und den Ordnungen, an denen sich ihre Formen orientieren, die Schattierungen von Krankheit und dem Kranken aufzuzeigen. Die Gesprächsorientierung stellt ein therapeutisches Korrektiv dar, weil und wenn sie eine neue Dimension eröffnet, in welcher der oder die Kranke ein Adressat ist, der in der zweiten Person angesprochen wird; in ihm personifiziert sich die Krankheit. Weil ihn etwas schmerzt, drückt, weil er leidet, rückt die Krankheit »in die Perspektive einer gelebten, ausgedrückten, sprachlich und symbolisch gedeuteten Krankheit« – hier haben vor allem hermeneutische, phänomenologische, konversationstheoretische und alltagstheoretische Ansätze ihren Ort.612 In dem Gespräch artikuliert sich auch die Ambiguität des Leibes, was zu phänomenologischen Grundlagen gehört: »So wie ich mein Leib bin, den ich als Körper habe, so bin ich mein Leiden, das ich als Krankheit habe.«613 Waldenfels unterscheidet verschiedene Formen des Gespräches und benennt die Aporien. Gesprächstherapie ist – egal ob die humanistische von Rogers oder auch überhaupt – eine Antwort auf die Einseitigkeit der Entwicklungen und Sichten der naturwissenschaftlich geprägten somatischen Therapie. Die Gesprächspsychotherapie, welche nun die Therapeutenzentrierung in eine Klientenzentrierung umkehrt, schafft einen Rahmen des Selbstausdrucks der Klienten. Problematisch ist jedoch: Die Sprache ist ein kommunikativer Rahmen; der normative Gehalt von Gesundheit würde in einem reinen Selbstausdruck verschwinden, und es ist – schon feldtheoretisch! – nicht zu leugnen, dass jedes Eingreifen des Therapeuten de facto eine Intervention ist. Von daher tritt Wal609 610 611 612 613
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 15–33. Vgl. Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 116. Vgl. a. a. O., 2. Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 122. A. a. O.,125. Vgl. Merleau-Ponty : Phänomenologie der Wahrnehmung, 99; Waldenfels: Das leibliche Selbst, 42ff.
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denfels für die Beschreibung dieser Praxis als einer Art therapeutisches Gespräch auf Augenhöhe ein, das als »dialogisch orientierte Gesprächspsychotherapie« ihren Ort »zwischen Fremdheit und Vertrautheit« hätte.614 Zu den Paradoxa oder gar Aporien gehört neben dem Arbeitsbündnis auch das nicht synonyme Verhältnis von Wortsprache und Körpersprache sowie eine Kritik am Primat der Aktualität in Erleben und der Bewusstheit, welche das Gewordensein unterschlagen – eine Differenz, die sich in den Brüchen zwischen von Psychoanalyse und Phänomenologie durchschlägt. Der Anhaltspunkt dafür, in Krankheit auch Fremdheit zu sehen, liegt bei Waldenfels in der Annahme intra- wie intersubjektiver Unterscheidungen, die auch in differenztheoretischen Gedankengängen gefasst werden. Im Rückbezug auf den Neurologen Kurt Goldstein (1878–1965) geht er davon aus, dass zwar jede Krankheit eine Anomalie ist, aber nicht jede Anomalie eine Krankheit (z. B. Linkshändertum), denn Krankheit setzt voraus, dass die betreffende Anomalie existenzbedrohend ist.615 Auch Heilung begreift sich im Verhältnis zu einer Ordnung als Wiederherstellung von Ordnung. Sie erzeugt den Druck der Normalisierung im Sinne von Anpassung; selbst wenn sie vernünftig und lebensspendend ist, unterliegt sie dem Dissens, dass sie auch aus dem Rahmen fallen kann. Hier erfolgt eine Anlehnung an Ludwig Binswanger, EugHne Minkowski und wiederum Kurt Goldstein, bei denen Gesundung nicht die Wiederherstellung der Ordnung, sondern ein Potential zur Neufindung einer Neuordnung ist. Denn eine biologische Normativität ist irreversibel; es gibt keine »Rückkehr zur biologischen Unschuld«, weil eine Krankengeschichte dazwischenliegt.616 Therapien können von daher, um eine Kategorie von Thomas S. Kuhn aufzunehmen, normal oder revolutionär verlaufen, d. h. restitutiv oder innovativ sein. Gesundheit gilt bei Waldenfels als Responsivität, Krankheit letztlich als »mangelnde leibliche Responsivität«.617 Hier greift er auf den Begriff bei Kurt Goldstein zurück, der wiederum die Anregungen des Schülers von Rudolf Virchow Louis Radcliffe Grote aufnimmt: Mit Responsivität denkt Goldstein an eine persönliche Normalität in dem Sinne, dass das Individuum den Ansprüchen des umgebenden Milieus entspricht und gewachsen ist. Die Un-Ansprechbarkeit des Menschen ist mit dem Tod erreicht. Krankheit ist da eine Irresponsivität, ein Mangel, auf diese Ansprüche einzugehen. War es bei Goldstein so, dass er therapeutisch empfahl, entweder die Milieuanforderungen so hoch wie möglich zu schrauben (das käme heute einer Weise von aktiver Immunisierungsstrategie gleich), so rechnete er andererseits auch mit Anpassungsschwierigkeiten. Wal614 615 616 617
Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 125. Vgl. Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 125. A. a. O., 139; vgl. Canguilhem: Das Normale und das Pathologische, 155. Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 139.
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denfels nimmt diesen Gedanken auf und radikalisiert ihn an dieser entscheidenden Stelle. Sein Verständnis von Ordnung ähnelt einer Weiterführung von Goldsteins Prinzip des Organismus; Ordnung bildet den Rahmen, aber zugleich das, was durch Prozesse in diesem Rahmen verändert wird – also innovative Findungen von Neuordnungen. Ordnung bleibt dem Organismus zwar einerseits äußerlich, andererseits ist es durch die in ihm pulsierenden Austauschprozesse ein lebendiges System.618 An diesem Punkt wird nun aber im kritischen Sinne deutlich, dass nach Waldenfels dieser Austausch nicht ein homöostatisches Gleichgewicht bildet, sondern Anspruch und Antwort des Organismus bewegen sich stets in einer gewissen Differenz des Dynamischen. Diese Differenz hat verschiedene Gesichter ; hier wird deutlich, dass Kranksein und Tod verschiedene Punkte auf der Messlatte des Gleichgewichts sind. Damit wird also eine leiblich fundierte Anthropologie über den Grundgedanken der Responsivität transferiert auf eine grundlegende Lebensgestalt, in sozialer, kommunikativer, ethologischer und letztlich auch politischer Hinsicht. Responsivität im Sinne von Gesundheit wäre also, kreative leibliche Antworten zu finden auf Herausforderungen. In diesem Sinne bringt Leiblichkeit eine Heterosomatik mit sich, die eben nicht nur Eigenleiblichkeit bedeutet, sondern zu der auch die Fremdheit gehört, von der sie sich absetzt.619 Pathologie ist daher in diesem Sinne gestörte Responsivität, was sich an Beispielen wie verbalen Halluzinationen, Aphonie und Schmerzen an Phantomgliedern aufzeigen lässt. Eine responsive Therapie bewegt sich im Bereich des Antwortens und müsste demnach eine responsive Rationalität fördern – und diese geht über den Bereich kommunikativer Rationalität hinaus. In einer Therapie würde es nicht darum gehen, Fremdes einzuebnen und zu normalisieren, sondern gerade darum, den »Sinn zu wecken für Fremdes und Außer-ordentliches«620, für das Ungelebte, Ungesagte, Unmögliche – kurz: für ein gewisses Potential von Negativität, das sich auch durch Verzicht, Verwerfen, Versäumen, Verpassen auszeichnet. Waldenfels postuliert ein Paradoxon von Heilung, das dem von Verstehen, Erklären und Verständigung ähnlich ist: Wird diese Befremdlichkeit ausgeschaltet, auch durch ein Übermaß an Therapie, »so schwindet mit dem Leiden auch das Leben.«621 Nicht der Tod ist die Fremdheit, sondern die Ausschaltung von Fremdem, das in der Sache selbst liegt, bedeutet 618 System ist hier nicht systemtheoretisch verstanden. 619 Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 142. Inwieweit nicht nur Heterosexualität die Inkarnation von Heterosomatik ist, sondern auch andere Formen, sei dahingestellt. Im ersten Falle müsste es unter Homosexuellen eine geringere Heterogenität geben – das trifft körperlich auf jeden Fall zu, wäre jedoch zu bezweifeln, wenn man die Leiblichkeit als wahrgenommenen und erlebten Leib berücksichtigt. 620 Waldenfels: Der Kranke als Fremder, 147. 621 Ebd.
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die Auslöschung. Wegen dieser Differenz plädiert Waldenfels dafür, diese »Fremdheitsherde«, die auch Krankheitsherde betreffen, in der Therapie – hier hat er das therapeutische Gespräch vor Augen – nicht auszumerzen und auch nicht im humanistischen Sinne wie bei Carl R. Rogers das Schaffen von Balancen zu versuchen, sondern den »Überschuß des Fremden im Vertrauten« gelten zu lassen.622 Eine responsive Therapie, die als Ergänzung zur kommunikativen Therapie gilt, geht vom Gedanken des Antwortens aus, sie geht auf das Antwortgeben überhaupt erst zu. Dies ist in der leiblich-psychosozialen Entwicklung bereits angelegt als dialogisches Moment zwischen Mutter und Kind. Eine Pathologie wie Hospitalismus bedeutet eine Form des Nicht-Antwortens, und Autismus eine Weise des diffusen hilflosen Antwortens auf diffuse Ansprüche. Die Differenz betrifft aber noch eine zweite Ebene: Zwischen dem Ausgangspunkt der Therapie und dem Antwortgeben, auf das die Therapie zusteuert, ist eine »therapeutische Epoch8« anzusetzen, die im Sinne einer Normalisierung fungiert. In ihr sind auch medizinische, chirurgische und medikamentöse Eingriffe als Konkretionen für das ärztliche Eingehen auf Außer-Ordentliches zu verorten, das einem Wachen über die Ordnung und Einebnungsversuchen entspricht – eine Medikalisierung.623 Denn die pathogene Struktur der Therapie raubt nach Waldenfels den letzten Lebensnerv.
3.2.5.4 Menschsein: Leben zwischen Selbstheit und Andersheit Im Fokus auf die Grenze beschreibt Waldenfels in einer horizontalen und sozialen Ebene unter Einschluss des Widerfahrnisses, wie Krankheit einen Zwischenbereich von unauflösbaren Asymmetrien markiert. Mit der Krankheit tritt aus der Verletzlichkeit des leiblichen Intersubjektes ein Anspruch auf und dem Anderen entgegen, Patient und Respondent begegnen einander – doch stets in zeitlichen und kulturellen Diastasen. Es kommt damit immer auf die Suche nach dem Vorhergehenden an: der Weg zur Krankheit, die Krankheit der Therapie. Gesundheit heißt auch, die Kontingenz der Krankheit anzuerkennen. Gerade am Beispiel von Beeinträchtigung und schwerer Krankheit wie z. B. im FALL Krebs macht sich die von Waldenfels beschriebene Fremdheit deutlich, die jeglicher Krankheit inhärent ist. Ihr näherzukommen ist auch therapeutisch nur in Asymmetrien möglich. Ob in autobiografischer Betroffenheit oder der Anderer – diese Fremdheit markiert den Hiatus des Lebens in sich selbst, der 622 A. a. O., 148. 623 Dieser Teil steht im Konjunktiv und zieht damit auch eine sprachlich-stilistische Epoch8 ein – zwischen der leider bereits vorhandenen Bedingungen dieser Medikalisierung und der offenen Möglichkeit des Ungelebten, die damit in eine Befragungs- oder Hoffnungsperspektive rücken kann.
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spürbar ist, wenn selbst beansprucht wird, dass ich therapeutisch behandelt werde, wenn nur mein Magen krank ist. Waldenfels macht das Pathische als eine Seite des Menschseins sichtbar, durch welche der Aspekt des Fremden in eine eigentümliche Spannung zum Selbst tritt und das differenzielle Gegenüber in den Mittelpunkt rückt. Da zum Pathischen gehört, dass es als mir Eigenes zugleich das Fremde und damit auch Andere markiert, kann Ganzheit nicht mehr im Sinne eines idealtypischen Holismus, sondern nur in dialektischen, mindestens komplementären Spannungsverhältnissen gedacht werden.
3.2.6 Passibilität: Annäherung an die kulturanthropologische Struktur von Kontingenz Die Beschreibung dessen, was Kranksein ausmacht, ist an Ordnungen bzw. Regeln normativ gebunden. Normen sind dem Fokus der Bestimmung stets äußerlich. Denkt man an den ursprünglichen Unterschied zwischen Iatrie und Therapie als vorsorgender Pflegekunst, so kommt der antike Gesamtrahmen der Lebenskunst von Herstellung und Wiederherstellung, Konstitution und Restitution, Heil und Heilung in den Blick. Denn in der Regel wird Therapie auf Restitution reduziert und unzureichend auf die Wiederherstellung einer normativen Ordnung eingeschränkt, welche auf die Tilgung von Schmerz und Leiden aus ist. Diese Reduktion ist das Resultat einer veränderten Naturordnung und des Verzichts auf eine integrierende Lebenskunst. Die hier behandelten Theoretiker widmen ihre Auseinandersetzungen in unterschiedlichen Zugriffen einer breiteren Kontextualisierung der Phänomene des Pathischen. Im Anschluss an die Beschäftigung mit den drei phänomenologischen Theoretikern, die mit dem Begriff des Pathischen umgehen und dabei – in unterschiedlicher Fokussierung – auch auf das Phänomen des Krankseins eingehen, frage ich nach deren Extrakten und ihren Stellenwerten für die vorliegende Untersuchung: Welche Elemente der Dimension des Pathischen werden durch die Beschäftigung mit den kulturtheoretisch anschlussfähigen Krankheitsverständnissen ersichtlich? Dabei stehen nun nicht mehr die einzelnen Autoren, sondern die durch sie hervorgehobenen Elemente der Dimension des Pathischen, aber auch die zugehörigen Zugänge im Vordergrund. 3.2.6.1 Die Dimension des Pathischen erkunden – an Leben und Fall teilhaben Weizsäcker sieht in den deutschen Idealisten die ontische, in den Vorsokratikern die pathische Auffassung der Welt vertreten. Er tritt entschieden für die Berücksichtigung des Pathischen ein und trifft damit eine epistemologische
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Grundentscheidung. Denn seine Hervorhebung des Lebens beinhaltet, dass die Erkenntnis der lebendigen Natur nur »in dieser Ordnung« gefunden wird: Die ontische Existenz befindet sich selbst in Abhängigkeit von der pathischen Existenz. Oder : »in der pathischen Existenz entsteht Ordnung durch Entscheidung« (»Gericht«) und so entstehen Grundlagen: »Die Hauptsache beim Umgang mit Lebewesen ist, dass wir empfänglich für ihren pathischen Charakter bleiben.«624 Das gilt für den Forscher wie für den Arzt. Diese Empfänglichkeit ist zugleich ein Tätigsein. Bezeichnend für seinen erkenntnistheoretischen Ansatz erscheint mir sein Verständnis von Forschung als Teilhabe am Leben – ein Zugang zu Forschungsgegenständen, der dem Zugang zu Leben ähnelt und dabei mehr und anders ist als methodologisch auf Teilnehmende Beobachtung und Qualitative Forschung zu rekurrieren. Wissenschaft ist demzufolge partizipatorische Übersetzungskunst, die mitgetragen ist von der Sorge um die drohende Verleugnung des Subjektes. Forschung ist nicht eine Gleichung, sondern ein Gleichnis (in dieser Form erhebt sie ihren Anspruch auf Wahrheit) von Begegnungen in der Form der Übersetzung. Erkennen ist Übersetzen in zwei Richtungen. Wer am Leben und Leiden teilnimmt, lernt auch davon etwas zu verstehen. Es ist ganz offensichtlich, dass sich übliche eher dissoziierende Gegenüber von Forschungssubjekt und Forschungsobjekt im Zuge szientistischer Bemächtigungen in dieser Sicht bereits verflüssigen. In Weizsäckers Gedanken kommt ein nahezu ethnologisches Verständnis von Forschung als Lebenserkundung ans Licht, das meinem partizipatorischen Zugang zum fallbezogenen Phänomen sehr nahekommt. 3.2.6.2 Kranksein: Verletzte Zwischenleiblichkeit Initiiert durch das Phänomen des FALLES, habe ich mich mit Facetten von Kranksein auseinandergesetzt. Im Interesse meiner Forschung ist es, Krankheit nicht als unhinterfragtes, kontextloses Problem zu betrachten, sondern auf empirischem Wege die Bedeutungsabschattungen aufzuspüren, die sich mit Kranksein verbinden. In den drei herangezogenen und dargestellten Theorien, die sich auf einem Kontinuum zwischen Philosophie und Medizin bewegen, werden einander verwandte und doch zu unterscheidende Aspekte der Dimension des Pathischen erkennbar. Im Umgang mit entsprechenden Theorien wurde deutlich, dass Kranksein ein – wenn nicht sogar das zentrale – Phänomen ist, in dem sich pathische Elemente des Lebens manifestieren. Schon mit Weizsäcker wird deutlich, dass das Pathische als eine Dimension des Lebendigen zu begreifen ist – mit ihm klingt eine Renaissance eines Lebensund medizinischen Heilsverständnisses an, das naturwissenschaftliche Reduk624 Weizsäcker : Anonyma, 22.
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tionen unterbricht und überbietet. Während der Begriff der ›Krankheit‹ eine ontische, in diesem Fall beschreibende und diagnostizierende Haltung meint, ist mit dem Kranksein der lebendige Prozess des Menschen und seiner Mitwelt einbezogen. Der Umgang mit Krankheit schließt daher stets die Berücksichtigung des fragilen Menschen, dessen Krank-Sein ein. Von daher stellen Krankheiten als Krisen Wendepunkte im Leben des Menschen dar, die zu Lebensänderungen auffordern.625 Darum erachtet Weizsäcker das Pathische als die Begegnungsdimension des Menschseins, die den Menschen zum Lebendigen macht. In ihr ist auch eine dem Leben als umgebenden Prozess zugewandte Seite gemeint, in der sich fundamentale Intersubjektivität zeigt. Auf das Existenzielle dieses Lebensverhältnisses geht Thomas Fuchs ein, wenn er in einem nahezu leibphänomenologisch-ökologischen Zugang Grenzsituationen als pathische Grundsituationen des Menschen rekonstruiert. Ist mit der Vulnerabilität eine das Sein betreffende Gegebenheit bezeichnet, so gilt es gleichzeitig – und hier kommt die psychiatrische Seite der Medizin zum Tragen – diese Vulnerabilität möglichst gering zu halten; die Perspektive gilt dem Aufdecken der Fragen nach Schuld, Freiheit zur Erhaltung der Gesundheit. In jedem Fall bleibt im intersubjektiven Leben die Personalität jedes und jeder Einzelnen gewahrt, was eine entscheidende Kategorie des Humanums darstellt. Waldenfels rückt das Augenmerk auf die intersubjektive Seite des Lebens. Das Pathische, was bei ihm als Anspruch des Fremden und je Anderen ausgeführt wird, sorgt dafür, dass der Anblick der Bewegtheit des Menschen von außen gelenkt wird. Im Blick auf das Kranksein steht auch Waldenfels dafür ein, ein Verständnis des Pathischen zu finden, das dem Paradoxon Genüge tut, als Kranke gesund und als Gesunde krank sein zu können.626 Anders als bei anderen relationalen Krankheitsverständnissen, die ausschließlich das Abweichen vom absoluten Maß messen, kommt im nachmodernen Begriff der Homöostase zum Ausdruck, was schon in der Antike gegolten hat: Der Organismus ist ein System ineinander greifender Regelkreise; Gesundheit baut auf dem Ordnungsgefüge aller dieser Glieder, Organe und Funktionen auf. Gesundheit meint dann das dynamische Arbeiten an Bedingungen, unter denen ein Organismus im Austausch mit der Umwelt genesen oder gesund sein und bleiben kann. Hier wird an einem Punkt deutlich, dass Menschsein nicht nur im statischen Sinne intersubjektiv ist, indem Menschen systemisch eingebunden sind, sondern es wird die Prozessstruktur des Umgangs mit pathischen und insofern auch mit Grenzund Leidenssituationen einbezogen. 625 Peter Sloterdijk nimmt genau dieses krankhafte Menschsein zum Anlass: Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. 626 Vgl. Böhme: Leibsein als Aufgabe, 237. Das betrifft auch den Bereich der Behinderung. Entsprechend gilt auch die Krankheit, nicht krank werden zu können, als eine Unfähigkeit, sich auf das Pathische einzulassen.
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Trotzdem gehört zu einer »höheren Gesundheit« mit Thomas Fuchs die Krankheit dialektisch hinzu.627 Denn ohne Krankheit wüssten wir nicht, was Gesundheit ist. So gewinnt man ihr einen gewissen Sinn ab, wie z. B. eine Immunisierung bei Kinderkrankheiten oder eben auch die Erfahrung der überstandenen Krankheit, die ein Leben verändert, eine Unterbrechung, die sich im Nachhinein als wichtig für Lebensabschnitte und Veränderungen erweist. Gerade an diesen Punkten macht sich auch bemerkbar, dass eine dichotomische Trennung von Krankheit und Gesundheit nicht haltbar ist. Als Existenzialie hat Krank-Sein immer eine leibseelische Dimension, die nicht nur im persönlichen, sondern ebenso im Blickfeld von Kultur, Religion und Institutionen der Gesellschaft wie der Schule liegen muss, da auch in ihnen die Personalität des Pathischen wichtig bleibt; bei jeglicher Krankheit ist nicht nur das betroffene Körperteil, sondern der Mensch, die Schülerin, der Kollege involviert628, ohne dass er oder sie darauf zu reduzieren ist. In allen Ansätzen erweist sich Leiblichkeit als eine Dimension des Lebens, die mehr betrifft als die Behandlung medikalisierter Körper. Für die Leiblichkeit des Lebens spielt die Wahrnehmung eine entscheidende Rolle; sie überbrückt die bestehende Differenz von Leib-Sein und Körper-Haben. Die leibliche Wahrnehmung bildet auch die phänomenologische Grundlage für eine empirisch verifizierbare Aufschließung einer Erfahrung des Pathischen. Was ist in der Blickrichtung dieser Erfahrungsgrundlage anhand dieses Phänomens des Krankseins und der Krankheit für die nähere anthropologisch-kulturelle Bestimmung und Wahrnehmung des Pathischen zu erschließen?
3.2.6.3 Intersubjektivität Intersubjektivität des Lebens lässt sich in Raummetaphern, z. B. auf der Basis des Foucaultschen Ordnungsbegriffs, beschreiben. Der Mensch ist eingebunden in ein Reich des Zwischen, in dem Ordnungen und ihre Grenzen transzendiert werden. Weil der Mensch in Ordnungen lebt und diese ihre Grenzen haben, fragt er auch nach den Grenzen des Daseins. Grenzziehungen haben pragmatischen, regionalen und epochalen Charakter und strukturieren damit Raum, Zeit und Leben. Da der Mensch stets nicht aus sich selbst, sondern von woanders kommt, ist er selbst ein Grenzwesen und »Grenzphänomen par exellence«.629 Auch das All, die umfassendste und geschlossenste Größe, ist letztlich eine Mimesis des Denkens und Sprechens, welches sich auf sich selbst und ein Innen bezieht. In diesem wäre dann auch der Standort des- und derjenigen aufgesogen, der oder 627 Fuchs: Zeit-Diagnosen, 15. 628 Vgl. Riess / Fiedler : Die verletzlichen Jahre. 629 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 15.
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die spricht und »ich« sagt. Waldenfels siedelt hier die Diastase, also das Auseinandertreten von Eigenheit und Fremdheit leiblich an; sie setzt »den Eigenbereich und das Eigensein eines Selbst (ipse, self) voraus«.630 Von daher sind Fremdheit und Andersheit zu differenzieren: Zur Fremdheit gehört das unterscheidende und wahrnehmende Selbst; die Unterscheidung z. B. von Äpfeln und Birnen bedeutet noch keine Fremdheit. Selbstheit und Eigenheit jedoch setzen Grenzziehungen voraus, die ein Draußen und ein Drinnen absondern und damit Ein- bzw. Ausgrenzungen vornehmen. Entscheidend ist die Kontingenz, welche die Grenzen der Ordnung nicht nur markiert, sondern geradezu sprengt. Damit ist ein blinder Fleck jeglicher Ordnung markiert. Die Normalität von Ordnung wird auch zur hintergründigen Voraussetzung für Paradoxien der Selbstabgrenzung. Im Zuschnitt der Räume der Fremdheit grenzt sich Waldenfels von Hermeneutik ab, die zwar vom Fremden redet, aber dies in unscharfer Grenzziehung tut – zum anderen lässt er sich etwas mehr von Systemtheorie leiten, die den Umgang mit Grenzen verhandelt, aber verschobene Selbstreferenz meint. In dem Zwischenbereich von Selbstheit und Fremdheit wird auch ein nahezu dialektisches Moment deutlich, da in jeglichem Selbstbezug ein Fremdbezug und in jedem Fremdbezug ein Selbstbezug liegt.631 Inmitten von Erfahrung gibt es daher ein Moment faktischer Un-bedingtheit, denn das »Fremde ist genau das, was durch keine transsubjektiven Möglichkeitsbedingungen vorweggenommen werden kann«.632 Waldenfels’ Lösung liegt mit dem Selbstbezug im Fremdbezug somit in einer diastatisch – auch zeitlich – verschobenen Responsivität, die die Unausweichlichkeit von Ansprüchen mit der Erfindung eigener Antworten zusammenzudenken erlaubt. Genau dieser Fremdbezug im Selbstbezug rückt im Kranksein aus der Peripherie in das Zentrum: Die Erfahrung des Krankseins als andere Erfahrung des Lebens wird zugleich zu einer Erfahrung des Anderen, des anderen Lebens. Qualität und Gegenüber der Erfahrung entsprechen sich. In der logischen Konsequenz geht es auch um Interkulturalität, welche sich in den Verflechtungen von Eigenem und Fremdem äußert. Erstaunlich ist hier schon, dass der Ausgangspunkt der Intersubjektivität, und von daher auch eines gewissen gemeinsamen Raumes, etwas blass wird.633 In diesem Sinne macht sich mit Max Frisch bemerkbar, was Waldenfels ausspart: »So wie das All, schrankenlos, alle Grenzen, alles Möglichen voll ist der Mensch, den man liebt«634 ; wenn das Reich des Zwischen, zwischen Kranksein und Gesundsein, zwischen Eigenem und Anderem, auch Verbindendes hat, wäre dies auszugestalten. Die 630 631 632 633 634
A. a. O., 21. Vgl. a. a. O., 33. A. a. O., 30. Vgl. die Kritik von Huth: Responsive Phänomenologie. Frisch: Tagebuch 1946–1949, 27.
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Leiblichkeit dieser Inter-Ebene wird in dynamischen Lebensbalancen und ihren Gefährdungen deutlich – im Extremfall in der Zone zwischen Tod und Leben. Da die Fremdheit zur transzendenten Herausforderung für das Selbst wird, bedeutet Intersubjektivität des Pathischen das Wachsen des Selbst, das Hinausgreifen und Verwobenwerden mit dem Anderen. In diesen Öffnungen, dem Kontakt, der sich im Zwischen ausdrückt, klingt die Kategorie der Begegnung an, die noch präziser zu verfolgen sein wird. 3.2.6.4 Empfänglichkeit Waldenfels zeigt schon sehr früh auf, dass das Leben und die anthropologische Seite des Pathischen in Polaritäten beschreibbar sind. Die Verletzlichkeit des Lebens stellt die »Kehrseite der Empfänglichkeit«635 dar. Wer krank ist, wurde verletzt, infiziert, angegriffen und ist verletzt, leidend, hat Schmerzen, weil er oder sie dafür empfänglich war. Es ist kein Wunder, dass die prophylaktische Medizin mit dem Gedanken der Immunisierung dieser Form der Empfänglichkeit entgegenzuwirken sucht. Das gilt aber nicht nur im medizinischen Bereich, sondern für das pathische Leben, wie es Weizsäcker beschrieben hat, überhaupt. Diese Polarität nimmt in Anspruch, zu Charakteristika des Menschseins zu gehören; zugleich schwingen in diesen Zuschreibungen deren subjektive Aneignungsweisen mit. Zur subjektiven Seite von Leben gehört wie der Rhythmus und die wechselseitige Ergänzung von Einatmen und Ausatmen ein Gegenüber von Tun und Leiden. Die Folge, die sich hier daran anschließt, formuliert Waldenfels folgendermaßen: Wenn die Komplementarität des Lebens zur Geltung kommt, welche das Gewahrsein seiner Verletzlichkeit einschließt, dann »hat die schlichte Verneinung oder Herabsetzung des Leidens eine ebenso schlichte Verneinung und Herabsetzung des Lebens zur Folge.«636 Selbst wenn wie hier nicht die ethischen Konsequenzen am Anfang stehen, so ist doch zu bemerken, dass grundsätzlich die Erlebensweise des Pathischen eine aufnahmebereite, grundlegend ästhetische Empfänglichkeit im Sinne der aisthesis einschließt, die daraus resultiert, dass der Mensch eben nicht allein autonomes Subjekt seines Lebens ist, sondern eingebunden ist in einen zwischenleiblichen Zusammenhang, in dessen Begegnungszusammenhang er verschiedene Formen der Passivität buchstäblich erfährt. Wichtig ist an dieser Stelle die Wirkungslogik: Am Fall ist vorsichtig zu sehen, dass die gesetzte, erlittene Situation dem Erleidenden eine andere Empfänglichkeit aufbürdet. Die »Empfangskanäle« der Wahrnehmung scheinen sich zu verändern. Resümierend: Wie machen sich diese Veränderungen in der Erfahrung des Pathischen bemerkbar? 635 Waldenfels: Das überbewältigte Leiden, 136f. 636 Ebd.
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3.2.6.5 Vulnerabilität Geht man wie im FALL von Johannes vom Ausgangspunkt eines Krankheitsfalles in der Schule aus, so ist vorauszusetzen: Schulmedizinisch unterscheidet man heute körperliche und seelische, akute und / oder chronische Erkrankungen. Wer mit Symptomen einer Grippe kämpft, bleibt in der Regel zu Hause und geht nicht in die Schule. Anders sieht es bei chronischen Erkrankungen aus: Manchmal ist der gesamte schulische Alltag davon beeinträchtigt, etwa bei Diabetikern oder Dialysepatienten. Psychische Erkrankungen wirken sich eher im Verhalten der betroffenen Menschen aus, bei Jugendlichen oft im Ausagieren, in Rückzugssymptomen oder in Aufmerksamkeitsstörungen (z. B. ADHS). Ist die Diagnose, ob und inwieweit jemand krank ist, bei körperlichen Gebrechen zunächst einmal leichter zu stellen, so fällt es Menschen, die nicht medizinische Profis sind, schwer einzuschätzen, ob und, wenn ja, welche psychische Krankheit vorliegt. Daher ist auch eine Diagnose ein soziales Konstrukt637 – eine zeitund kulturgebundene Perspektive der Zuordnung – der naturwissenschaftlich geprägten Medizin, um Fremdes zu messen – und im günstigen Fall angemessen zu behandeln. Im Rahmen einer professionstheoretischen Arbeit ist wichtig zu vermerken, dass sich das Erkennen von Normabweichungen unter den Professionen verschiebt: Lernstörungen, dissoziales Verhalten, Gewalt, Kriminalität, Sucht und seelische Konflikte werden letztlich weniger von LehrerInnen, PfarrerInnen oder JuristInnen ermittelt, sondern der Beurteilung von ÄrztInnen anheimgestellt. Sie bekommen die Aufgabe, Risse in der conditio humana zu beheben.638 Im Übrigen unterliegen psychische Erkrankungen (z. B. Neurosen, Psychosen, Essstörungen, Suizidalität) stärkeren Gefährdungen durch gesellschaftliche Tabuisierungen, Abspaltungen und Ausgrenzungen; daher ist erhöhte diagnostische Sensibilität geboten. Typische psychosomatische Krankheitsanlässe sind Anzeichen der Überforderung (auch hinsichtlich schulischer Leistungen oder Erwartungen des sozialen Umfelds!), Angst, Wut oder Depression.639 Am Fall von Krankheit und Kranksein werden Aspekte von menschlicher Vulnerabilität in einem Rahmen deutlich, in dem sie institutionell nicht behandelt werden und an dem sie doch zum Re-Agieren, zum Darauf-Eingehen auffordern. Die Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit, in sozialer Hinsicht zwischen Kranken und Gesunden, gehört zu unseren alltäglichen Erfahrungen, die wir im Zuge eines routinierten und institutionalisierten Umgangs mit Krankheit machen. Kranke gehen nicht in die Schule, nehmen nicht am Arbeitsleben teil, bedürfen der Be-(!)Handlung und Therapie. 637 Fuchs: Zeit-Diagnosen, 26. 638 Vgl. a. a. O., 25. 639 Vgl. Leonhard: Krank sein.
Passivität: Erfahrung zwischen Widerfahrnis und Leiden
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Für ein Krankheitsverständnis, das in vorfindlichen Phänomenen in der Wirklichkeit, in religiöser Perspektive und in Bildungswirklichkeit greifbar wird, ist daher zu beachten: Von der Art und Weise der Zuschreibung, wie jemand oder etwas als krank kategorisiert wird, unterscheiden sich die lebensweltlichen Erfahrungen, nämlich wie jemand sein Leben oder Krankheit erlebt. Maßgeblich ist dafür ein wahrnehmendes Subjekt, das sich zu Leib und Leben in ein Verhältnis setzt. Die verschiedenen anthropologischen Ansätze aus Medizin und Philosophie stützen das Konzept, die Aufmerksamkeit auf leibliche InterSubjektivität zu setzen, die sich insbesondere an den Grenzen menschlichen Lebens und Erlebens als Verletzlichkeit bemerkbar macht. Passibilität ist hier die Empfangsseite leiblicher Intersubjektivität, die am Fall von Kranksein wahrnehmbar wird. Es wird deutlich, dass es in dem meine Erkundungen betreffenden Zusammenhang nicht darum geht, medizinische Definitionen zu verwerfen, sondern den Kontext der Ermittlungen einzubeziehen, um den Bereich von Verletzlichkeit, der sich als bedeutsam ergibt, auszuloten. Sicherlich führt die psychosoziale Vulnerabilität, auch gerade mit Blick auf religionspädagogische und schulische Zusammenhänge, gegenwärtig in vielerlei Hinsicht auf individuelle sozialisatorische Verhältnisse zurück. Aber mit solch einer Argumentation wird suggeriert, dass richtige Erziehung, rechter Glaube im Sinne einer herstellbaren Gesundheit fungieren; diagnostizierbare Störungen wären dann irrtümlich prinzipiell nur noch zu beseitigen. Aus diesem Grund ist vor dem Horizont des Pathischen als elemantarer Dimension von Begegnung, Grenzsituation und Fremdheit noch weiter zu fragen nach der Wahrnehmungsseite, den Erfahrungen dieser Ebenen des Pathischen.
3.3
Passivität: Erfahrung zwischen Widerfahrnis und Leiden
Theologie, Pädagogik und Religionspädagogik orientieren sich nicht erst seit heute an Erfahrung: Sie verknüpfen damit die Grundierung ihrer Gegenstände und Konzepte in Lebensnähe und Lebenswelt, die anthropologisch, gesellschaftlich und auch persönlich eine Brücke zwischen Lernenden und Bildungsziel bzw. -gegenstand bildet. Was bedeutet es nun aber, die passive Seite von Erfahrung zu beleuchten? Die bisherige Erkundung des Phänomens der Krankheit hat ergeben, dass die Leiblichkeit und Sozialität des Krankseins in anthropologisch-kultureller Wahrnehmung die Verletzlichkeit des Menschen akzentuiert. In pädagogischer Hinsicht ist damit ein Bildungsbegriff berührt, der auch pathische Dimensionen einschließt. Der Rückbezug auf den Fall fordert dazu heraus, die subjektive Seite des Pathischen, die Erfahrung, zu betrachten und damit auch die existenziellen Dimensionen vertiefend zu beleuchten. Ersichtlich ist die Erfahrung von Pas-
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Kulturphänomenologische Grundlinien einer Patho-Grafie
sivität und Leiden, die im FALL sowohl den Schüler als auch die Religionslehrerin ereilt. Erfahrung macht auf ein Problem aufmerksam, welches auch in religionspädagogischer Hinsicht relevant ist. Die Kontextualität des FALLES legt nahe, die Verletzlichkeit des Menschen phänomenologisch genauer zu untersuchen. Was bedeutet die Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit, die eigener und die anderer? Wer verursacht sie? Welche Kategorie kommt ins Spiel, wenn man berücksichtigt, dass für schwere Krankheit kein eigentlicher Verursacher dingfest gemacht werden kann, aber dennoch Fragen nach dem Zusammenwirken von Kräften im Leben, im Kontakt zur Welt gestellt werden? Aus diesem Grund sind Wahrnehmung und Erfahrung als grundsätzliche Dimensionen nicht nur subjektiven, sondern auch intersubjektiven Lebens angesichts des Pathischen zu erkunden. Überlegungen zum Verständnis von Erfahrung sind nötig, die den Charakter des Fremden bedenken und in dem Zusammenhang Wahrnehmung und Erfahrung differenzieren. Dabei wird das Ereignishafte zur Sprache kommen, in der etwas als Pathisches wahrgenommen und als Leiden erfahren wird – hier sind die Leiblichkeit, Sozialität und Artikulation von pathischer Erfahrung näher zu erheben. Von dort aus können wiederum Linien zu theologischen und pädagogischen Perspektiven gezogen werden. Um sich der Erfahrung des Pathischen als seiner subjektiven Seite anzunähern, sind Weiterführungen der erhobenen Theorieansätze gefragt. Diese betreffen weiterhin die medizinische und psychologische Anthropologie; in der Philosophie ist es, wie wir sehen werden, hauptsächlich die neuere Phänomenologie und ihre Nähe zur Kulturwissenschaft, die das Pathische als eigene Kategorie thematisiert und sich auch mit dem Fremden auseinandersetzt. Widmen wir uns anhand der phänomenologischen Vertiefung des FALLES einigen theoretischen Zugängen zur Erfahrung und ihrer Kontextualität. Die Eigenart einer Phänomenologie ermöglicht, Phänomen und Kontext aufeinander zu beziehen, ohne dabei eine allzu reduktive Engführung zu evozieren. Im Rahmen einer kulturanthropologischen Betrachtung, welche die leibliche Intersubjektivität des Menschen voraussetzt, fokussiere ich hier Schmerz als einen konkreten Beispielfall von Leiden. Der Schmerz klammert die körperliche Seite von Erfahrung nicht aus, sondern setzt genau dort an; von hier aus sollen in Radialform kritische Blicke auf anthropologische Normen geworfen werden. Das Interesse gilt dabei weniger der Vollständigkeit der Darlegung grundlegender Topoi als vielmehr der Aspekte, die im schrägen Blick erscheinen. Daher kann auch gar keine Totale angepeilt werden. Aufgenommen wird der Faden ausgehend von der Fallvignette640 ; sie evoziert einen Rückblick in die Historie des Pathos-Begriffs, vor allem aus der philosophiegeschichtlichen Perspektive.
640 Vgl. Kap 2.2.1.1.
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3.3.1 Philosophiegeschichtliche Anleihen: Vom Pathos zur Passivität Die Linien einer Begriffsgeschichte des Pathischen, wie sie die Philosophie dokumentiert, führen in die Antike zurück. Philosophisch sind ausgehend vom Phänomen Kranksein mit dem Pathischen verschiedene Bereiche verbunden; Pathos hat aus der Warte von Ästhetik über Rhetorik, Psychologie und Ethik unterschiedliche Gesichter. Für eine Orientierung sind vor allem die Schneisen von Bedeutung, die Aristoteles in seiner Kategorienlehre verwendet – maßgeblich sind die Begriffe pahg und pahglata und pahor (pathos), welcher die sinnlichen Qualitäten (pahg) und die Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsinhalte (pahglata) dimensional vereint.641 1. In einer eher neutralen Form des Erleidens sind die pahglata tgs xuwgr Wahrnehmungsinhalte als »Widerfahrnisse der Seele«; diesen stehen die Affekte (pahg) gegenüber als spezifische Zustände der Seele.642 Der Begriff wird auch im Hinblick auf Praxis und Rhetorik verwendet: pahg werden vom Redner hervorgebracht und ziehen Wirkungen der Lust oder Unlust nach sich – so müssen sie moderiert werden.643 Diese Akzentuierung legt die semantischen Zuordnungen von Widerfahrnis und Gefühl nahe. 2. Pathos wird dann als etwas »Widriges« identifiziert, das nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten als Unerwartetes, Unverfügbares zustandekommt, »sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und in Situationen vorkommt, wo wir nicht mehr Herr der Lage sind«.644 Für Aristoteles gilt das Leiden als eines der Hauptstücke zum Mythos. Pahor bedeute hier so viel wie Katastrophe: Die Bestimmung »ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen« ist das Gegenstück zu den Worten, mit denen Aristoteles den Ausgang seiner Komödie umschreibt.645 Außerdem liegt im pahor ein Ansatzpunkt zur Ethik, die das freizügige Geben dem abhängigkeitsschaffenden Nehmen vorzieht.646 Die Widrigkeit, die einer Widerfahrung647 entspricht, steigert sich bis hin zur
641 Vgl. Aristoteles: Kategorien. Nach Schiffers sind bei Aristoteles »nicht nur die Wahrnehmung und die Emotionen, sondern auch das Denken […] konstitutiv auf eine pathische Dimension angewiesen«, sie gehen »immer einher mit Pathos, mit dem Erleiden einer Affektion – mit Erfahrung« (Schiffers: Passivität denken). 642 Aristoteles: Kategorien. 643 Aristoteles: Rhetorik 1356a 14f; 1378a 19–21. 644 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 15. 645 Siehe Kap. 5 am Anfang (Anm. 9, 116). 646 Aristoteles: Nikomachische Ethik IV, 1. 647 Zum Begriff siehe Mersch: Posthermeneutik; Stoellger : Passivität aus Passion – zurückgehend auf L8vinas.
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emphatischen Form: Dann wird die Erlebnisform des Widerfahrnisses als Leiden ausgeführt. 3. ›Pathos‹ steht aber auch in der Psychologie für Affekte648, die durchaus ambivalente Steigerungsform der Leidenschaft, die dann eintritt, wenn jemand mit Leib und Seele außer sich gerät (»was ihnen aber widerfährt (to pahor), wissen sie nicht, weil sie es nicht genügend durchschauen«649 – oder : »denn sie wissen nicht, was sie tun«). Dem göttlichen Wahnsinn, der den himmlischen Eros antreibt, stellt Platon Verfallsformen des irdischen Wahnsinns an die Seite; hier nähern sich die leidenschaftlichen Zustände (pahglata) Zuständen krankhafter Art (mosglata) an.650 Die vor allem in der Ästhetik wichtigen Begriff des Pathos und des Pathetischen sind hiermit angesprochen und in die Nähe des Pathologischen gerückt. Für den hiesigen Zusammenhang ist vor allem die anthropologische Grundkonstitution maßgeblich, welche diese Bedeutungsdimensionen gemeinsam haben: die Passivität. Weitere Blicke in die philosophische Begriffshistorie zeigen, dass ›Passivität‹ eine weit verzweigte Geschichte hinter sich hat. Ohne die Komplexität abzubilden, seien jedoch einige Meilensteine genannt: Unter Passivität versteht man schon von der Antike her sowohl »ein Empfangen und Erleiden eines ›Äußeren‹, ›Fremden‹ als auch ein unwillkürliches Geschehen, das sich ohne fremde Beteiligung einstellt«.651 Es ist insbesondere das Verhältnis von Passivität und Affektivität angesprochen.652 Ren8 Descartes macht an den Leidenschaften die affektive Passivität deutlich; die leidenden Zustände sind als res cogitans Funktionen der Seele. Als Empfindungen oder Emotionen verkörpern sie die Bindeglieder zwischen Körper und Seele. Sie werden von der Seele genau wie Sinneseindrücke empfangen und lassen sich nicht durch Willen erzeugen, werden jedoch durch die Bewegung der Lebensgeister erwirkt und verstärkt.653 Während bei David Hume eine passive Aufnahme von Sinneseindrücken gemeint ist, unterscheidet Immanuel Kant: Das »Gemüth ist entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas) oder es ist leidend und zeigt Empfänglichkeit (receptivitas)«; diese »Passivität des inneren Sinnes der Empfindungen« macht 648 649 650 651 652
Vgl. Henning: Affekt III. Platon: Phaidros 250a. Vgl. nach Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 16 die politeia. Wälde: Passivität, 164. Lat. affectus oder affectio: Gefühlszustand; emotio Gemütsbewegung, passio übernimmt dazu den starken Sinn von Leiden und Leidenschaft. Epikureisches Vokabular geht neuzeitlich in Traktate über, die sich mit passiones animae befassen. Stark: Af-fekt, der wörtlich ein Antun (An-Tun, afficere) anzeigt und einen wenn auch noch so dünnen Faden aufrechterhält zwischen moralischen Affekten und Affektionen des Verstandes. Vgl. zu Aristoteles: Schiffers: Passivität denken. 653 Vgl. Descartes: Passions de l’.mes.
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im Unterschied zum intellektuellen Erkenntnisvermögen die »Spontaneität der Apperception« aus.654 Eine Kritik dieser Dichotomie klingt schon im Neukantianismus bei Paul Natorp an und wird in der philosophischen Psychologie in der Wende zum 20. Jahrhundert präzisiert. In Anlehnung an Wilhelm Wundt, der den Bereich des Passiven über das Sensuelle hinaus erweitert, verortet Theodor Lipps in seiner Assoziationslehre Passivität als unwillkürliches Streben bzw. Gefühl in der Nähe der »Nötigung« und etwas Äußerem, das erlitten wird, nämlich als »Widerfahrnis, das mir zuteil wird oder mir geschieht«.655 Ausgestaltet wird der Passivitätsgedanke in der philosophischen Phänomenologie: Mit Edmund Husserl bekommt die Passivität in der Phänomenologie erstmals eine systematische Bedeutung. Zunächst akzentuiert Husserl die Rezeptivität im Sinne der Abwesenheit von Eigenaktivität als ein Binnenereignis im Bewusstsein, räumt jedoch schnell auch aktive Tätigkeiten in der Rezeption ein. Mit seiner Wende von der deskriptiven zur transzendentalen Phänomenologie verortet er darin die Syntheseleistungen des Bewusstseins. In gewisser Nähe zu Freuds psychoanalytischer Sicht des Unbewussten wird Passivität zur universalen Synthesis des transzendentalen Bewusstseins, welches Aktivität und Passivität als polare Leistungen des Bewusstseinserlebens kennt, dem aber dennoch Passivität als eine Urkonstitution der Orientierung, ja sogar als ein »passiver Seinsglaube« zugrunde liegt.656 Während Jean Paul Sartre den Begriff der Passivität scharf kritisiert, weil die Distinktion von actio und passio für ein Bewusstsein der »unpersönlichen Spontaneität« keinen Sinn mache, hat der Begriff bei Merleau-Ponty Hochkonjunktur ; »nicht ich bin es, der mich denken lässt, sowenig ich es bin, der mein Herz schlagen lässt.«657 Merleau-Ponty ist der erste, welcher in den Passivitäts-Diskursen eine autonom gedachte Subjektivität überwindet, da er mit der »Passivität unserer Aktivität« die Passivität als ein unverfügbares Geschehen bestimmt und ein »passives Situationsapriori« aufstellt.658 Damit ist auch der Gedanke an eine Urpassivität bereitet. Während Michel Henry – ebenfalls in phänomenologischer, stärker lebensphilosophischer Prägung – noch egologisch eine absolute Subjektivität als Affektivität in »ontologischer Passivität« behauptet, die radikal in der Immanenz verharrt und das eigene Sein erleidet, ist im Grunde mit der Husserlschen Linie, vor allem mit Merleau-Ponty und viel radikalerer bei Emmanuel L8vinas, die Intersubjektivität als Horizont für fundamentalethisch weiterentwickelte Phänomenologie 654 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Akad.-A 7, 140f. 655 Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken, 51. 656 Diese werden v. a. im Zusammenhang mit seinen Zeitanalysen entwickelt. Vgl. Husserl: Hua 10 (1966), 301. 657 Merleau-Ponty : Das Sichtbare und das Unsichtbare, 281. 658 Merleau-Ponty : Phänomenologie der Wahrnehmung, 486.
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gesetzt. Nach L8vinas ist der Mensch mit der eigenen Geburt in eine Welt des Grauens hineingekommen und mit derselben verstrickt. Deren Schuld hat er stellvertretend für die Anderen mit zu tragen: »Die Passivität, die diesseits der Alternative Passivität – Aktivität und passiver als alle Trägheit ist, findet ihre Beschreibung in den ethischen Termini der Anklage, Verfolgung, Verantwortung für die Anderen.«659 Gernot Böhme grenzt sich von Merleau-Pontys Rede vom »inkarnierten Selbst« ab, weil er die angebliche Annahme einer Ich-Instanz, die sich dann nur noch verleiblicht, ablehnt; demgegenüber legt er anhand der »Geburt des Ich aus dem Schmerz« eine Theodor Adorno und Max Horkheimer gemäße Aufforderung nahe, der Natur im Subjekt eingedenk zu sein.660 Zur Passivität gehört auch mit Böhme eine betroffene Selbstgegebenheit, die sich leiblich in den Beispielen der erfahrenen Kälte (mir ist kalt), Schmerz und Müdigkeit erfahren lässt. Der Dativ zeigt das Widerfahrnis an: Angst, Schmerz, Schreck, aber auch Verliebtheit – auch hier geht es bei Böhme um eine angestrebte Revision vermeintlich emanzipierten Lebens in ein souveränes Leben, das gegen seine eigene Tendenz, die auf Aktivität und Autonomie gerichtet ist, auch das Lassen ernst nimmt. Eigentlich ist der komplette Gedanke der Geburt bereits Passivität, da der Mensch sich nicht selbst erschafft: Hannah Arendt benennt im Rahmen ihrer klassisch gewordenen Unterscheidung von »vita activa« und »vita passiva« Geburtlichkeit als die der Sterblichkeit entsprechende conditio humana sine qua non am Beginn des Lebens661, die, anders als es im Idealismus angesagt war, aus der Reflexion heraus erst weiteres Leben erfindet. Geburtlichkeit ist also Passivität in nuce. Mir tut etwas weh, etwas schmerzt: »Ich habe Schmerzen« ist eine Geburt aus dem Schmerz, weil dort eine andere Emanzipation stattfindet, nämlich ein Weg der Distanzierung, Herauslösung des Ich aus dem Schmerz. Er bleibt jedoch dieser als mein Schmerz, den ich habe. Damit begründet Gernot Böhme den Begriff des Ich-Selbst; es hat den Kontakt zu dem, was es angeht, nicht verloren.662 Regressionen wie Schlaf oder Liebe sind dann in dem Sinne auch das Fallen in Passivität, also Passionen, die markieren, dass und wann man nicht am Ich-Bewusstsein festhält, also auch Kontrollen locker lässt – im SichLassen, Sich-Verlieren, Leidenschaft und auch in der leiblichen Liebe, die Böhme in der Rückkehr zur betroffenen Selbstgegebenheit sieht, ermöglicht vom anderen, dem oder der Geliebten. Hier wird die Nähe von Passivität und Passion markiert. Dem Menschsein haftet in seiner anthropologisch-kulturellen Grundstruktur 659 660 661 662
L8vinas: Die Spur des Anderen, 323. Böhme: Leibsein als Aufgabe, 90; vgl. Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung, 47. Arendt: Vita activa. Vgl. Böhme: Leibsein als Aufgabe, 92.
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eine Dimension von Urpassivität an, die in verschiedenen Richtungen eine Eigenschaft des Menschen, auch in seinem Selbstverhältnis, anzeigt. Diese grundlegende passive Empfänglichkeit und Lebensgabe, die Öffnung und Begegnung impliziert, fasse ich mit dem Begriff der Passibilität.663 Damit ist aber intersubjektiv auch eine Interdependenz und Abhängigkeit gegeben; letztere ist gerade in ethischer Hinsicht von L8vinas beschrieben worden.664 Die Rekonstruktion von Krankheit als Phänomen im Zusammenhang mit der Dimension des Pathischen hat dies bestätigend gezeigt. Am FALL ist deutlich geworden, dass Krankheit einen exemplarischen und typischen Grenzfall dieser Passibilität darstellt: Die Vulnerabilität erweist sich als die Kehrseite der Empfänglichkeit. Wiewohl mit L8vinas die normative Prägung der Intersubjektivität gegeben ist, so wird nach der Beschreibung von Vulnerabilität noch nicht genügend deutlich, inwieweit diese vornormativ beschreibbar ist. Anders gefragt: Woran erweist sich diese Verletzlichkeit für die betroffenen Subjekte? Welche Erfahrungen sind damit verbunden und welche Bedeutung wird diesen von den Betroffenen, aber auch in der gegenwärtigen Kultur beigemessen? Die philosophische Differenzierung bis hierher und auch weiterhin bringt mit sich, dass sich dabei zwei Linien der Präzisierung von Erfahrung zeigen werden: eine erkenntnistheoretische, die das Wie der Erfahrung näher bestimmt, und eine, die den Objektbezug und damit das Was der Erfahrung und damit auch deren Bedeutungsfindungen näher ins Blickfeld rückt.
3.3.2 Schmerz. Zur leibseelischen Gestalt von Leiden Leben und Leiden sind untrennbar miteinander verbunden665 ; ein leiblich erfahrbares, weil gefühltes An-Zeichen menschlicher Vulnerabilität ist der Schmerz. In der Geschichte der Philosophie wie der Medizin lassen sich verschiedene Konzeptionen der Schmerzdeutung und -erklärung benennen, die den Prozess der Sinneswahrnehmung, funktional als Symptom von Erkrankungen verschiedener Arten, Entstehungsweisen, Leitungen und Qualitäten 663 So auch der Lebensphänomenologe Rolf Kühn: Praxis der Phänomenologie. Zur Passibilität vgl. u. a. den bei Mersch angesprochenen, wenngleich nicht verdeutlichten Zusammenhang der ethischen mit ästhetischen Aspekten – verdeutlicht z. B. am Phänomen des Musikhörens (Mersch: Maß und Differenz): Hier erscheint Passibilität als eine Ordnung, »die jenseits der Begriffe Passivität und Aktivität gerät, weil dem Zulassen ein Öffnen vorangeht, das sich dem jeweils Begegnenden aufschließt«. Demgegenüber zeigt Passibilität in Bezug auf L8vinas an, »daß einem anderen begegnen nicht bedeuten kann, aktiv auf ihn zuzugehen, sondern sich von ihm in seiner ganzen Verletzlichkeit angehen zu lassen« (Mersch: Die Frage der Alterität, 13. H.i.O.). 664 Zu einer Gesamtschau siehe Yorihiro: The Living Present and the Other, 151f. 665 Vgl. Dreitzel: Leid, 855.
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greifbar zu machen suchen.666 Arndt z. B. rückt den Leidensbegriff zwischen Affektenlehre und Anthropopathie interessanterweise sofort in den Kontext von Theologie und Religionsphilosophie, da sich im Leiden die »Fremdheit der Wirklichkeit« aufdrängt, die in Mythos, Kunst, Religion und Philosophie die Frage nach deren Grund aufwirft und durch die Unterscheidung der Mächte und Verantwortlichkeiten von Göttern und Menschen Einsicht in die Möglichkeit der Vermeidbarkeit von Leiden gibt.667 Und Lessing kommentiert in der Hamburgischen Dramaturgie, dazu gehöre alles, »was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches widerfahren kann: Tod, Wunden, Martern und dergleichen«668 – somit gibt es ohne solche Widerfahrnisse keine tragische Handlung. In der Gegenwart ist vor allem ersichtlich, dass es sich beim Schmerz um ein komplexes Phänomen handelt, das in der Theorie ein eigenes Gerüst benötigt.669 Für eine lebensweltliche Bearbeitung des Schmerzes ist wichtig, dass die Leiblichkeit des Leidens den Ansatzpunkt bildet: »Nur wieder leibhaft gewordenes Leiden ist ernsthaftes Leiden in dem Sinne, daß es jenen unverrückbaren objektiven Wirklichkeitsgrad besitzt, den subjektiv nur der körperliche Schmerz besitzt, weshalb auch seelische Leiden sich immer ihre körperlichen Ausdrucksformen suchen. Deshalb kann der physische Schmerz als Paradigma aller menschlichen Leiden dienen und deshalb muß jede Anthropologie des Leidens ihren Ausgang von einer Phänomenologie der körperlichen Schmerzen nehmen.«670
Am Beispiel des Schmerzes kann und soll hier die Frage nach der Bedeutung des Pathischen für das intersubjektive Leben bedacht werden. Dazu ziehe ich phänomenologische Ansätze der Gegenwart und einige ihrer Gewährsleute des 20. Jahrhunderts zu Rate.
3.3.2.1 Phänomenologie des Schmerzes Wer Schmerzen hat, leidet. Im etwas veralteten Ausdruck der ›Pein‹ wird noch der Zusammenhang von Schmerz und Leiden deutlich. Leiden (ahd l%dan, in die Fremde ziehen, Not durchstehen, griech. paswy, lat. patior) meint »das subjektive Erleben eines dem Subjekt Zustoßenden und dann die Erfahrung von 666 Vgl. Grahek: Schmerz. Naturwissenschaft und Medizin, 1323 und Kross: Schmerz, Neuzeit, 1315ff. 667 Arndt: Art. Leiden, 207. 668 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 38. Stück (GW Bd. 2, 491). 669 In den letzten zwanzig Jahren sind eine Menge neuerer Ansätze zwischen Medizin, Kulturgeschichte und Philosophie entstanden – um nur einige zu nennen: Morris: Geschichte des Schmerzes; von Engelhardt: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst; Hüper: Schmerz als Krankheit. 670 Dreitzel: Leid, 856.
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Übel und Unglück.«671 Die dem Leiden immanente Eigenschaft einer – wenn auch nur vorläufigen – Passivität bringt den Begriff in Gegensatz zu solchen wie Tun und Handlung. Was und wie aber erleben Menschen, wenn sie leiden? Christian Grüny legt eine kulturwissenschaftliche Phänomenologie des Schmerzes vor, die dankenswerterweise das Interesse verfolgt, eine »harmonistisch verzerrte Konzeption menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung zu korrigieren«.672 Und dabei geht es ihm um eine »Aufarbeitung der Erfahrung des Schmerzes selbst«.673 Sie vollzieht eine meinem Zugang entsprechende wichtige methodologische Kehre, indem ihr Ausgangspunkt nicht die vorhandenen Kategorien sind, sondern die Empirie; so wird Schmerz phänomenologisch an der Wahrnehmung von Erfahrung, an Beschreibungen Betroffener und an eigenen Erfahrungen entlang rekonstruiert. In Aufarbeitung von medizinischer Anthropologie und Phänomenologie ermittelt Grüny drei Momente der Erfahrung von Schmerz. Mit der Flucht, dem »Getroffenwerden« beschreibt er das, was als »Negativität« tradiert wird: die Passivität des Erleidens, mit der ein »aufgezwungenes Tun« einhergeht, ein »aufs höchste gespannter innerer Rückzug«.674 Die Versuche, Schmerz zu beseitigen oder zumindest zu lindern, setzen hier an. Keinesfalls kann jedoch Schmerz vermieden werden oder das Getroffensein selbst gesteuert werden; und genau darin wird eine gewisse Gegebenheit des Lebens als Entzogenheit deutlich. Damit geht Schmerz weder in Normalität noch in völliger Integration auf, selbst in Situationen chronischen Schmerzes bzw. dauerhaften Leidens. Das Moment der Zerstörung beschreibt die Weise der Einwirkung auf den Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Dabei gilt: Für den Getroffenen, der Schmerzen erleidet, verändern sich Erfahrungen in ihrer Qualität hinsichtlich Raum, Zeit und Sozialität, und dies auf je unterschiedliche inter-subjektive beschreibbare Weise. Und schließlich zeigt Schmerz das Moment der Materialisierung, das sich in der Metapher des auf den Körper Zurückgeworfenseins ausdrückt. Dabei ist phänomenal, dass für den in der Schmerzsituation befindlichen Körper eine andere Erfahrungsqualität vorliegt hinsichtlich Materialität, Verletzbarkeit, Raum und Zeit; er befindet sich daher auch in Spannung zur schmerzhaften Empfindung des etwa bei Merleau-Ponty beschriebenen ganzheitlichen Leibes, ohne sich zu einer zweiten Einheit zusammenzufügen und ohne kurzerhand mit einem objektivistisch gedachten Körper als ausgedehntem Ding identifiziert werden zu können. Die Konsequenz ist aber, dass weder ein klassischer Dualismus noch eine Verheißung eines
671 672 673 674
Arndt: Art. Leiden, 206. Grüny : Schmerz – phänomenologische Ansätze. Grüny : Zerstörte Erfahrung, 16. Grüny : Schmerz – phänomenologische Ansätze.
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ganzheitlichen Schmerzverständnisses ohne Differenzierungen von Leib und Seele zutreffend ist. Wenn Schmerz dasjenige Phänomen ist, in dem sich Leidenserfahrung verdichtet und das gängige Konzepte von Erfahrung und Wahrnehmung unterläuft, lohnt sich ausgehend vom Phänomen eine genauere Sicht auf den phänomenologischen Erfahrungsbegriff.
3.3.2.2 Getroffen- und Angerührtsein Zwischen Philosophie und Naturwissenschaft hat die medizinische Anthropologie seit der Jahrhundertwende und in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eine entscheidende Brücke dafür gebildet, den Schmerz in seiner Erfahrungsdimension in den Blick zu nehmen. Der Schmerz weckt den Menschen »aus dem Traum unserer ungestörten Identität mit der Umwelt«675, so beschreibt Viktor von Weizsäcker das Erleben. Denn: »Der Schmerz will herrschen; man kann, wenn er herrscht, nicht denken, nicht arbeiten, nicht empfangen, nicht genießen.«676 Damit ist eine bestimmte Seite des Pathischen paradoxerweise in sich selbst zerrissen: Der Schmerz lähmt zwar, aber er verhindert die Passivität, sich hingeben zu können. Stattdessen bäumt sich der Mensch auf, um zu verhindern und zu bekämpfen. Einen wichtigen Beitrag zur phänomenologischen Erhellung des Schmerzes leistet der niederländische, an Gestalttheorie orientierte Anthropologe Frederik F. Buytendijk.677 Die Schmerztheorie in seinem 1943 erschienenen Buch »Über den Schmerz« geht (noch) von Schmerz als einer Frucht des Bewusstseins aus; dennoch bezieht Buytendijk hier über philosophische hinaus auch phänomenologische und physikalische Erkenntnisse ein. Tragend ist die Annahme, es gebe neben dem psychologischen einen ontischen Schmerz, der durch die Funktionalisierung von Kriegsgewalt vereinnahmt wurde zur Rechtfertigung gewaltsamer Schmerzen beim Menschen, welcher sich ja aufgrund seiner exzentrischen Positionalität678 vom Schmerz durch die Befreiung des Gefühlslebens und die Vernunft absondert. Buytendijk kritisiert die in der naturwissenschaftlich gebildeten Medizin mangelnde »Auffassung des Leibes als einer Situation« der rationalen Medizin, welche die »beseelte Leiblichkeit einer Person« übersieht.679 Der Leib ist ähnlich wie die Außenwelt ein System von Bedeutungen, »die wir ohne Nachdenken erleben und beantworten 675 Weizsäcker : Die Schmerzen, 47. 676 A. a. O., 30. 677 Frederik F. Buytendijk (1881–1974), hatte Professuren zunächst für Physiologie in Groningen, nach dem Zweiten Weltkrieg dann für Psychologie in Utrecht und nach seiner Emeritierung in Nijmegen sowie in Leuven inne. 678 Vgl. Plessner : Die Stufen des Organischen und der Mensch. 679 Buytendijk: Über den Schmerz, 154.
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und die also eine Situation bilden«.680 Damit hebt er die Bedeutung der anthropologisch orientierten Medizin für die Psychologie und die Erkenntnisse durch Weizsäcker, Merleau-Ponty und Gefährten hervor, welche die somatopsychische Einheit des Menschen betonen. Der Schmerz nun bedeutet für das gestörte Organ, »für die vegetative Organisation, das ›adjustment‹, die Antwort des Leibes. Der Mensch, der Schmerz leidet, hat einen anderen Körper und ist ein anderer Mensch.«681 Appetit und Ekel sind Antworten unserer Leiblichkeit auf Bedeutungen. Damit führt Buytendijk ganz im Sinne Merleau-Pontys auch an, dass die Möglichkeit des Schmerzerlebnisses in der Zweideutigkeit des Körpers begründet liegt. Wir haben einen Körper und sind ein Leib: »Wir können uns nie von unserem leiblichen Sein völlig unterscheiden, aber auch unser persönliches Sein nicht mit dem Sein unseres Leibes identifizieren.«682 Die Beziehung des Schmerzes zur Entzweiung von Ich und Leib ist gegensätzlich: In ekstatischen Prozessen wie Trance, Wut, Angst, Entsetzen ist der Mensch weiter entfernt von der Leiblichkeit, weil sich gar kein Schmerzreiz einstellt. Buytendijk stellt das menschliche Schmerzerleben in den biologisch-evolutionären Zusammenhang und vergleicht mit Tieren: Nur Tiere höherer Entwicklung und der Mensch können dem Schmerz zwischen Körper- und Leiblichkeit gegenübertreten, und das ist eine Voraussetzung für ausgeprägte Schmerzsensibilität. Das bedeutet auch eine Abhängigkeit des Schmerzes von der Haltung und Einstellung des Menschen gegenüber dem eigenen Leib. Was bedeutet diese leibliche Differenz für die intersubjektiv verankerte Subjektivität, für das Verhältnis von Erfahrung und Wahrnehmung? Die Betrachtung von Schmerz als einer dynamischen Größe, die in der Leiblichkeit ihr Erscheinen findet, ohne auf einen Ort und ohne auf allein den Körper verengt zu sein, macht Frederik Buytendijks Schmerzverständnis aus. Zentral ist das »Getroffensein in seiner psychophysischen Einheit«, das korrespondierende Gefühl eines »unwiderruflichen Ausgeliefertseins« und der Rückzugstendenz einer »Auflösung des Strukturzusammenhangs der Sensomotorik«, die das »Pathische«, den eigentlichen Kern des Schmerzes, ausmachen. Bei Buytendijk ist die Rede vom »unvorbereiteten ›Bruch‹ zwischen Organismus und Milieu«, der als pathisches Ereignis die Auseinandersetzung mit der Welt färbt683 – und zwar in jeglichem Schmerz, nicht nur in besonders schweren Fällen. Mit diesem Schmerzverständnis liegt Buytendijk schon ganz auf der Linie von Merleau-Pontys »Empfinden«, das Husserls »passive Synthe680 681 682 683
A. a. O., 155. A. a. O., 157, H.i.O. Dies wird belegt an Beispielen. A. a. O., 159. Buytendijk: Über den Schmerz, 129.
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sis« einschließt, aber eben nicht ein bewusstes Subjekt voraussetzt, sondern das des zwischenleiblichen, vorbewussten Zur-Welt-Seins zum Ausgangspunkt nimmt.684 Schmerz ist eine Berührtheit, die sich am Körper entfaltet und doch zugleich alle Dimensionen des Subjekts affiziert. Hier wird deutlich, dass erst dann auch auf der Ebene der Wahrnehmung eine Differenzierung von körperlicher Veränderung und emotionaler Betroffenheit sowie einer daraus folgenden Lokalisierung von Schmerz möglich ist – deren wiederum distanzierende und gewissermaßen objektivierende Wahrnehmung, die dann ermöglicht, vom »Schmerzen haben« zu sprechen. Der Schmerz bildet jedoch ein Grenzphänomen, das es sublimer als Wahrnehmung vermag, den Betroffenen auf das im Alltagsbewusstsein nicht herausschälbare Empfinden zurückzuwerfen; er unterläuft damit die Wahrnehmung. Der deutsch-amerikanische geisteswissenschaftlich orientierte Psychiater und Philosoph Erwin Straus685 präzisiert diesen »Grenzübergang«, indem er erkenntnistheoretisch zwei Momente im Sinne von Wahrnehmungsebenen unterscheidet – das »gnostische« und das »pathische« Moment in der Wahrnehmung: »In der Psychologie ist bisher fast stets nur von den Empfindungen, nirgends aber von dem Empfinden die Rede gewesen. Es ist an dem Gesamterlebnis immer das gnostische, nie aber das pathische Moment bemerkt und beachtet worden.«686 Entgegen einiger Missdeutungen ergänzt er : »Unter dem pathischen Moment verstehen wir die unmittelbare Kommunikation, die wir mit den Dingen auf Grund ihrer wechselnden sinnlichen Gegebenheitsweise haben. Wir beziehen also das Pathische […] nicht auf die Gegenstände mit ihren festen oder verschiedenen Eigenschaften […] Das Pathische gehört aber gerade zu dem Bestand des ursprünglichsten Erlebnis; es ist darum der begrifflichen Erkenntnis so schwer zugänglich, weil es selbst die unmittelbar-gegenwärtige, sinnlich-anschauliche, noch vorbegriffliche Kommunikation ist, die wir mit den Erscheinungen haben.«687
Hier geht es also um die Anmutungen und das Ergriffen-sein, das Empfinden im Sinne des Angerührtseins. Das pathische Moment ist nicht an die Gegenstände der Wahrnehmung geknüpft. Die Unterscheidung von Empfindung und Empfinden verfährt dabei anders als die Husserlsche Differenzierung von Wahrnehmungsakt und Intentionalem Objekt.
684 Vgl. Merleau-Ponty : Phänomenologie der Wahrnehmung, 244–283; vgl. Grüny : Zerstörte Erfahrung. 685 Erwin Straus (1891–1975) war von 1931 bis 1935 Apl. Professor für Neurologie an der Universität Berlin. Wie viele intellektuelle Juden war er gezwungen, 1938 aus Berlin in die USA zu emigrieren, wo er Dozent in North Carolina, Research Fellow in Baltimore und schließlich Direktor und Dozent am Veterans Administration Hospital war. 686 Straus: Psychologie der menschlichen Welt, 150. 687 A. a. O., 151.
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»Die Unterscheidung von Empfindung und Empfinden bleibt noch ganz innerhalb der Sphäre des Erlebnisgehaltes. Das gnostische Moment hebt nur das Was des gegenständlich Gegebenen, das pathische das Wie des Gegebenseins hervor. Ich halte es darum sachlich und terminologisch für richtiger, die schon früher von mir gebrauchten Ausdrücke des pathischen und gnostischen Moments zu verwenden.«688
Erwin Straus macht deutlich, dass das »Getroffen-sein-durch« das gnostische »Sich-richten-auf« komplementiert wird, d. h. das Was der Wahrnehmung, das Schmerzobjekt, erst durch das pathische Subjekt, dessen Passivität im Erleiden, als Erfahrung verständlich wird.689 Insofern geht es um die Universalität des Pathischen in der Wahrnehmung. Er argumentiert dafür – und gegen andere Psychologen wie Metzger – dass das pathische Moment nicht auf besondere Fälle zu reduzieren sei, sondern in jeglicher Wahrnehmung vorhanden ist. Im Übergang von Betasten zu Beschauen tritt ein Wechsel des pathischen zugunsten des gnostischen Moments der Wahrnehmung ein. Diesen Prozess der Entpersönlichung und Entseelung sucht die verhüllende Gebärde des Schämens abzuwehren.690 Angesichts dieser Differenzierungen scheint der Zusammenhang von Erfahrung und Wahrnehmung vertrackt zu sein. Thomas Fuchs betont: Erfahrung aktualisiert sich in der Wahrnehmung; sie vereinigt »Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen in sich«.691 Synästhetische Wahrnehmung ist zugleich synergetisch, weil sie die Beweglichkeit und Responsivität des Leibes einschließt. Weil Eindrücke schon immer Aufforderungscharaktere (nach Gernot Böhme) und Umgangswerte (nach Nicolai Hartmann) in sich enthalten, sehen und erkennen wir Menschen in der Wahrnehmung der Dinge deren weitere Eigenschaften mit, die nicht unbedingt sinnlich wahrnehmbar sind. Das bedeutet: »Die früheren Handlungserfahrungen wohnen der Wahrnehmung als Möglichkeiten inne.«692 Doch ist es erst der Gestaltkreis von Bemerken und Bewirken, von Wahrnehmen und Bewegen, welcher Leben am Leben erhält. Fuchs illustriert dies am Beispiel des Musikerlebens, das durch das Erlernen eines Instruments verfeinert und intensiviert wird, da die Responsivität des Leibes gesteigert wird. Wirklichkeitserfahrung braucht mit Dilthey die Widerständigkeit von Leben, die immer neu zu überwindende Fremdheit und Un688 A. a. O., 151; mit Verweis auf Geschehnis und Erlebnis, 48ff. 689 Straus: Vom Sinn der Sinne, 394. 690 Straus: Psychologie der menschlichen Welt, 154. Insbesondere an der Unterscheidung von Musik- und Bildwahrnehmung macht Straus Raumerleben deutlich. Dabei unterscheidet er graduelle Unterschiede am Beispiel von Farbe und Klang von einem Kinobesuch. Hier wird durch Musik, den Klang, der den Raum füllt, die Ferne, die einzelne Bilder auslösen, überwunden und Kontakt hergestellt. 691 Fuchs: Leib und Lebenswelt, 248. 692 Ebd.
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vorhersehbarkeit. Eine Eingängigkeit und Reibungslosigkeit lässt Erfahrung nicht nur verblassen, sondern schränkt die Möglichkeiten des Erfahrungnehmens ein.693 Wahrnehmung wird intensiviert in »originären Erfahrungen«; mit diesen betont Fuchs leiblichen Kontakt zur Welt durch synästhetische Erfahrungen, die nötig sind, zumal diese zunehmend verloren gehen zugunsten eines mehr und mehr Schemenhaften der Welt.694 Damit reduziere sich der Gestaltkreis auf ein Minimum: statt des Schreibens der Knopfdruck, der Ersatz durch magisch-illusionäre Handhabe. Ursprungserfahrung schwinde auch, je mehr die Welt als Bild erscheine: Im sogenannten »medialen Idealismus« (Günter Anders) erscheine die Welt quasi als Schauspiel, statt Erfahrung werde Zuschauerdasein einer Passivität gefrönt, die mit dem Geschehen nichts zu tun habe695, und die szientistische Infragestellung der Lebenswelt schaffe das Ihrige dazu. Religionskritisch eingeworfen, könnte mit Marx produktiv für den Menschen in seiner pathischen Existenz gelten: »Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen«.696
Gilt aber hier in gleichem Maße, dass auch schmerzhafte Leidenserfahrungen zu originären Erfahrungen zählen, die unbedingt zum Leben dazugehören?
3.3.2.3 Leiden – intrapathisch und extrapathisch In seinen phänomenologisch-psychiatrischen Arbeiten zur Logik und Philosophie des Leidens697 zeigt der Psychiater Boris Wandruszka die komplexe Vielfalt der Erscheinungsformen von Leidensdruck und Leidenswiderstand auf. Wandruszka arbeitet heraus, dass Leiden in der ihm inhärenten Dialektik von Negation und Affirmation der Selbstvollzug eines Subjektes – dies kann ein Individuum oder ein Kollektiv sein – im Angesicht einer Heraus- oder Über693 A. a. O., 252. 694 Kern der Sache ist, dass eben dieser Verlust an Ursprungserfahrung zu einer sozialpsychologischen Verunsicherung beitrage, vgl. a. a. O., 25. 695 Dabei stimmt die Zuschauermetapher auch nur zum Teil; denn Theaterzuschauer sind nicht stumme, emotionslose Wesen, sondern es gibt ja einen Grund für das Zuschauersein, nämlich die Wirkung des Schauspiels. Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen einer Bilderflut, die nicht aufgenommen wird, und dem konkreten Verarbeiten von Bildern, das diesen auch eine Verflüssigung in Erfahrung zuspricht. 696 Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, 275. 697 Vgl. Wandruszka: Logik des Leidens; ders.: Philosophie des Leidens.
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forderung ist.698 Schmerz ist eine der Grundformen leiblichen Leidens, sieben Grundformen leidvoller Affektion nehmen auf das Selbst Einfluss. Leiden hat hier eine sogenannte intrapathische und eine extrapathische Seite: Psychologisch bzw. psychiatrisch ist es wichtig, in einer Lehre der Schadenszufügungen die Verursacher als Agenten des Leidens zu identifizieren. Diese fungieren als ungewollte Anstöße für zu erleidendes Übel und nötigen dem Menschen von außen das Leiden als einen Selbstvollzug auf, der wiederum zwischen Innen und Außen eine Integrationsaufgabe darstellt. Um zu erklären, was psychologisch geschieht, beschreibt Wandruszka den »intrapathischen Kausalnexus«.699 Das Leiden des vom Widerfahrnis getroffenen Menschen wird als eine triadische Struktur beschrieben. Sie besteht aus einer wahrnehmungsvermittelten Positionierung eines zugestoßenen Übels, der sog. »Leidposition«, dem Antwortversuch, dieses Leiden zu negieren und es zu beseitigen. Da dieser Konflikt im Leiden scheitert, führt er zu einem inneren Selbstwiderspruch, einer Leidensdiskrepanz: Der Betroffene macht eine Erfahrung, ihm stößt eben dieses Leid oder Übel zu; er versucht dessen Aufhebung, und obwohl er merkt, dass ihm dies nicht möglich ist, hält er genau daran fest. Das Leid ist damit im Erleben und im Selbst des bzw. der Betroffenen verankert; er oder sie kann dieses Widerfahrnis nicht beherrschen oder es sich zueigen machen bzw. sich davon distanzieren oder gar befreien. Der betroffene Mensch erlebt und vollzieht die »dynamisch-dialektische Diskrepanz« des Leidens, eine innere Selbstspaltung: ein So-Sein-Müssen-aber-So-nicht-sein-Können. Diese innere Selbstentzweiung ist dialektisch, weil zwei einander widerstreitende Kräfte konfligieren und einander stören: zum einen das Hinnehmen der Leiderfahrung (»Leidposition«) und zum anderen der vergebliche Aufhebungsversuch des Leides (»Leidnegation«). Die Spannkraft und Dynamik liegt darin, dass der Betroffene im Leiden sein Leiden zu transzendieren sucht; er will »anders«, zumindest frei von Leiden sein. Dies ist mithilfe eines »extrapathischen Kausalnexus« zu bestimmen. Wandruszka legt dar, dass kein Leiden ohne den Akt der widerständigen Selbstbehauptung möglich wäre, in der sich letztlich die Selbstachtung zeigt. So wird das Leiden als bestimmter Selbstvollzug eines Menschen skizziert, der mit einer für ihn fremden, (noch) nicht integrierbaren Wirklichkeit konfrontiert ist, die nicht oder noch nicht integriert werden kann. Damit ist Leiden auch therapeutisch als ein anthropologischer Grundfaktor, eine zum menschlichen Dasein gehörige Dimension anerkannt. Im Leiden erweist sich darum noch mehr als die von Wandruszka angesprochene Subjekt-Objekt-Struktur des Menschen, 698 Das Krankhafte unterscheidet sich vom Schuldhaften dadurch, dass im Krankhaften das Schicksalhafte und das Fremdbestimmende das Selbstbestimmende, im Schuldhaften das Selbstbestimmende das Fremdbestimmende überwiegt. Vgl. Wandruszka: Philosophie des Leidens, 196. 699 Wandruszka: Logik des Leidens, 76.
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die Tatsache also, zugleich von etwas Fremdem passiv getroffen werden zu können und dieses passive Getroffenwerden von Anbeginn an aktiv durch Umformung oder zumindest Deutung mitzugestalten. Leiden bestimmt sich mit Wandruszka daher immer als tief ambivalente, aber auch zukunftsoffene und auf Klärung und Präzisierung drängende Synthese von Passivität und Aktivität, Ohnmacht und Macht, Fremd- und Selbstbestimmung, Zwang und Freiheit. Mit Waldenfels gesprochen: Leiden ist auch für das einzelne Subjekt der zentrale Entwicklungsfall von Pathos und Response. In dieser Perspektive ist wichtig, dass Leiden, Leidensdruck und Leidenswiderstand pathisch, aber nicht jedes Leiden pathologisch ist. Das Differenzierungsmerkmal ist hier die Frage, ob das Leiden Schaden nimmt am und im Betroffenen. Daher entwickelt Wandruszka einen Katalog der »Schadenslehre« als auch der Copingmuster, um Rückschlüsse für Therapiemotive zu ziehen. Damit wird die Bindung der therapeutischen Empathie an die Pathie gezeigt, d. h. die therapeutische Empathie und die Art der therapeutischen Intervention werden von der Form des Leids mitbestimmt. Insgesamt gilt, dass der Mensch immer schon über sich hinaus geht, indem er die Zukunft einer besseren Welt zu entfalten imstanden ist, indem es auch ihm besser gehe. An dieser Motivation, dieser Chance setzt die Therapie an.700 Was bedeuten diese Strukturen von Erfahrung für die Erfahrung von Leiden, oder anders gefragt: Was bedeutet dieses Pathische in der Erfahrung für die Erfahrung des Pathischen? Um dies genauer klären zu können, soll der Erfahrungsbegriff noch im Blick auf Intersubjektivität erweitert werden.
3.3.3 Pathos und Response. Zur intersubjektiven Struktur von Erfahrung 3.3.3.1 Offene Erfahrung und das Fremde Um in einer religionskulturellen Betrachtung Schmerzerfahrung wie Leidenschaft als Erfahrung begreifen zu können, die nicht im Immanenten verharrt, die in ihrer Beeinflussung für das Mich der Wahrnehmung beschreibbar ist, benötige ich in einer phänomenologischen Skizze den Counterpart, die Größe, die gerade als Unbestimmtheit, aber doch Wirkfaktor mitverhandelt wird. Das Fremde ist als Größe bei Bernhard Waldenfels dort wirksam, wo sowohl die Autonomie des Subjekts als auch die Allumfänglichkeit von Vernunft wanken. Es rüttelt an der bestehenden Ordnung und erwirkt, verlockt, destruiert und konstruiert Neues. Es hat etwas Unverhofftes, Überraschendes und sorgt daher für das Unnormale des Normalen. 700 Vgl. Wandruszka: Philosophie des Leidens.
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Antwortende Vernunft als Konzept einer Phänomenologie des Fremden701: Im Kontext seiner Xenologie geht es Waldenfels um eine präzisere Differenzierung von konstruierter Fremdheit des Anderen und einer radikalen Erfahrung des Fremden, die weder hergestellt noch grundsätzlich evoziert oder verhindert werden kann. Diese Struktur von Erfahrung kommt im gesamten Œuvre zumindest implizit zum Tragen, wird aber in einigen Werken expliziter verhandelt. Indem Waldenfels im »Antwortregister« die Struktur von Frage und Antwort (noch) als maßgeblich für die Erfahrung verhandelt, diese in den Vorlesungen »Das leibliche Selbst« leibphänomenologisch unterfüttert, beschreitet er einen Weg zu den »Bruchlinien der Erfahrung«, in denen es um die affektive Dimension der Erfahrung geht, die im Grundbegriff des Widerfahrnisses (nach Wilhelm Kamlah), im Pathos gelegt wird. In Waldenfels’ Werkgeschichte ist daher eine Schwerpunktverlagerung von Sinn und Intention zu dem ersichtlich, was ohne eigenes Zutun zustößt, das seine Wirkung auch traumatische Dimensionen hinterlassen kann, in denen das eigene Handeln und die eigene Subjektivität aufs Radikalste befragt und – wer weiß – hintergangen werden.702 Waldenfels plädiert für einen offenen Erfahrungsbegriff703 auf der grundlegenden Annahme basierend, dass Fremdes die Grenzen jeglicher Ordnung übersteigt und übertritt.704 Das, was uns in der Erfahrung als Erfahrung begegnet, verweist auf einen Welthintergrund und eine Weltgeschichte. »Das Ganze bleibt immer fragmentarisch, da unsere Erfahrung aufgrund ihrer faktischen Ausgangspunkte mit einer unbestimmten Bestimmtheit behaftet ist.«705 Die leibliche Erfahrung, die mit dem Leib als Nullpunkt das Versetzen in einen Zeit-Ort erwirkt, von dem aus wir die Welt und uns selbst inmitten der Welt 701 Vgl. Huth: Responsive Phänomenologie, 83. 702 Vgl. Kapust: Responsive Philosophie, 28. 703 In der »Phänomenologie der Erfahrung« sowie den »Bruchlinien der Erfahrung« verhandelt er einen empirischen offenen Erfahrungsbegriff und differenziert damit den Gedanken der Responsivität, der bereits im »Antwortregister« sprachtheoretisch tragend ist, auf sorgsame Weise; in den »Grundzügen einer Phänomenologie des Fremden« werden diese ethisch vertieft und xenologisch eingebettet. Zum Aufhänger werden bei Waldenfels die Versuche, etwa biotechnologischer Natur, in menschliches Leben einzugreifen, die dazu beitragen, Erfahrung neu und in ihrer Offenheit präziser zu konturieren. Zum Pathos gibt es also kein eigenes Buch, und doch bildet »Bruchlinien der Erfahrung« einen literarischen Wurzelgrund zu Waldenfels’ Überlegungen bezüglich des Pathischen. Zugleich werden Rückblicke zur Leiblichkeit des Selbst sowie zum »Antwortregister« fällig wie auch Vorund Seitengriffe zu anderen Aspekten und Themen seiner am Fremden orientierten Phänomenologie. Die Rezeption innerhalb der neueren französischen Phänomenologie und der Waldenfels-Schule geht davon aus, dass das Antwortregister eine Vorbereitung von rückwärts auf die Bruchlinien der Erfahrung darstellt, indem gemäß der inhaltlichen Struktur das Antworten dem Pathischen zeitlich vorausgeht, sich in der Logik der Struktur jedoch Verschiebungen ergeben. 704 Damit wird klar, dass es hier nicht in erster Linie um Regelübertritte geht. 705 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 72.
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erfahren706, wird damit zur diastatischen Fremderfahrung: Sie bestimmt sich konstitutiv durch Unbestimmtheit, Ferne, Abwesenheit und Fremdheit.707 Damit sind Eigenes und Fremdes wechselseitig verflochten.708 Als Nach-Husserlscher Phänomenologe setzt er damit den Gedanken der Urscheidung von Ich und Anderen im Sinne einer Gleichursprünglichkeit und Achtung vor der Fremdheit fort.709 Auch als Zeiterfahrung bleibt die Erfahrung nicht im Innern eines vermeintlich abgekapselten Selbst710, sondern Reflexion ist damit Nachgewahren, Erfahrung in unwiderruflicher Nachträglichkeit. Wahrnehmung hat konkrete Vor- und Rückverweise: »Die Abwesenheit durchzieht von Anfang an jede Anwesenheit – auch die Anwesenheit meiner selbst für mich in der Selbstgegenwart.«711 Ergo sind hier schon Erfahrungsmomente außerhalb des Selbst eingezeichnet, die konstitutiv für Erfahrung sind: »Bei der Sache selbst sein heißt immer auch, woanders sein, nämlich bei dem, was sich im Sichzeigen der Sache nicht zeigt, was sich dem Blick entzieht. Die Phänomenologie stößt hier auf eigene Grenzen, und das Bedenken dieser Grenzen bildet ein entscheidendes Movens der nachhusserlschen Phänomenologie.«712 Waldenfels hebt mit der Gebrochenheit der Erfahrung, die keinesfalls ein Auseinanderdriften von Erfahrendem und Erfahrenem bedeutet, sondern einen Zwischenraum zwischen beiden, in dem Erfahrung allererst möglich wird, die Responsivität von Erfahrung hervor. So wird die Fremdheit als unzugängliches und unverfügbares Moment in allem radikalisiert. Er setzt aufgrund der Möglichkeit, dass Erfahrung sich selbst artikuliert, eine Art dialogische Struktur voraus, die zugleich eine inhärente Differenz markiert: Erfahrung »antwortet auf etwas, sie greift zurück auf etwas, das ihr entgegenkommt. Eine solche Erfahrung wird geweckt, ohne dass die Differenz zwischen eigener Antwort und fremdem Anspruch je getilgt würde.« Diese Differenz »zwischen dem Was der eigenen Antwort und dem Worauf des fremden Anspruchs« nennt er die »responsive
706 Gleichzeitig ist dieser Nullpunkt auch in der Sprache gegenwärtig als der Zeit-Ort, an dem der Sprecher (72) sich befindet und auf den er »mit okkasionellen oder indexikalischen Ausdrücken hinweist« (73). Dazu gehört die »singuläre Selbstverdoppelung und Selbstdistanzierung des Leibes« (73) bei Merleau-Ponty und Plessner. 707 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 73. 708 Fremdheit nach Husserl meint die Zugänglichkeit des »original Unzugänglichen« (Husserl: Hua I, 144). 709 »Entscheidend ist bei all dem, dass die Fremdheit nicht einer bereits bestehenden institutionellen oder sprachlichen Gemeinsamkeit geopfert wird« (Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 74). 710 Bei aller Selbsterfahrung als Urerfahrung entdeckt Husserl in den Zeitanalysen eine »innere Fremdheit, eine Distanz meiner selbst zu mir« (HUA VIII, 89; vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 74). 711 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 75. 712 Ebd.
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Differenz«.713 Erfahrung bekommt damit einen Schwellencharakter, sie bedeutet einen Übergang vom Fremden zum Eigenen über eine Schwelle hinweg. Diese responsive Struktur fußt auf einer transzendentalen Kategorie, die in anthropologische Überlegungen hineinwirkt.
3.3.3.2 Widerfahrnis und Antwort Grundlegend ist ein Verständnis von pahor und pahgla als »Widerfahrnis«, das aus dem Verb pasweim abgeleitet ist. Waldenfels bezieht sich auf die aristotelische Differenzierung und nimmt damit zugleich eine Kategorie aus Wilhelm Kamlahs Anthropologie in Gebrauch.714 Dabei wird sprachlich auf die grammatische Leideform zurückgegriffen, die bereits der aristotelischen Kategorienlehre entstammt. Pathos meint »etwas, das ohne unser eignes Zutun zustößt oder entgegenkommt«.715 Semantisch ist eine Dreiteilung des Wortes Pathos zu berücksichtigen, die meiner Differenzierung weitgehend entspricht: 1. Widerfahrnis markiert eine neutrale Form von Erleiden, Passivität. 2. Hier wird die Erlebnisform des Widerfahrnisses als Unerwartetes, Unverfügbares, das als Leiden erlebt wird, ausgeführt. Nach Waldenfels geht diese Zweiteilung von Tun und Leiden in eine Stufung über, sofern tätige Vernunft dem Göttlichen näher steht als passiv empfängliche Vernunft.716 3. Leidenschaftliche Zustände des außer-sich-Geratens in ambivalenten Steigerungsformen: Die vor allem in der Ästhetik wichtigen Begriffe des Pathos und des Pathetischen sind hiermit angesprochen und in die Nähe des Pathologischen gerückt. 4. Darüber hinaus ist die medizinische Seite des Pathischen, nämlich das Krankhafte, Pathologische mit gemeint, das für Waldenfels nicht so sehr in den Blickpunkt rückt – und wo, wird es mit den Kategorien des Widerfahrnisses und des Leidens begriffen. Kernstück von Waldenfels’ responsiv-ethisch orientierter Phänomenologie ist das Verhältnis von Pathos und Response. Auf dem Hintergrund des sich öffnenden Erfahrungsbegriffs lässt sich das so beschreiben: Pathos ist das, was zustößt ohne eigenes Zutun, was uns entgegenkommt. Damit ist das Erleiden gegeben – im relativ ungefärbten Sinne als Unverfügbares, Ungewolltes, Unabsehbares, Ungeplantes, Zufallendes und Zufälliges. So ist die Kategorie der Passivität im Spiel, jedoch nicht in klassischen Modellen von Kausalität. Beim 713 714 715 716
A. a. O., 76f. Vgl. Kamlah: Philosophische Anthropologie. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 15. Ebd.
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Pathos geht es nicht darum, dass es ein bestimmtes Etwas gibt, das auf uns einwirkt oder das etwas als etwas verstehen lässt. Auch Nachträglichkeit und Vorgängigkeit sind nicht gemeint, Kausalität und Intentionalität werden unterlaufen bzw. gesprengt. Subjekt und Objekt sind nicht genau zu unterscheiden, objektives Vorkommnis und subjektiver Akt ebenfalls nicht – es werden etliche Distinktionen negativiert.717 War bei Husserl noch dargelegt, dass wir »von etwas leiden«, in einem »passiv durch etwas bestimmt und darauf reagieren«718, wird bei Erwin Straus noch deutlich, dass das »Getroffen-sein-durch« das so genannte gnostische »Sich-richten-auf« komplementiert719, so geht Waldenfels einen entscheidenden Schritt darüber hinaus. Anders als einen bestimmbaren Jemand und ein bestimmbares Etwas nimmt er in Anspruch: »Doch das Getroffen-sein von … ist entschieden radikaler zu denken, nämlich als Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht. Man könnte einwenden, diese Priorität gälte nur für die Betroffenen, nicht für den Beobachter ; sie gälte nur für die erlittene, nicht für die kausal zu erklärende Wirkung, ganz gleich, ob man einer naturalen Erklärung oder einer spezifischen Handlungserklärung folgt. Doch damit betrachtet man das Widerfahrnis, das stets ein Widerfahrnis ist für jemanden, dem es anhaftet, am Ende doch als einen bloßen Fall, der in der natürlichen oder sozialen Welt vorkommt. Es kann also nicht darum gehen, das Getroffen-sein von … als bloße Umkehrung eines intentionalen Erzielens oder Treffens zu deuten.«720
Hier deutet sich bereits an, dass es keine personi- und eindeutig identifizierbare und fixierbare Größe gibt, die als Ursache des Widerfahrnisses in Frage kommt. »Das Etwas gehört bereits zur deutenden Antwort auf das Geschehen. Das Getroffensein, das ähnlich zu verstehen ist wie das Ergriffensein, geht dem Treffen von etwas voraus. Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage.«721 Hierin ergibt sich die spezifische Nachträglichkeit des Tuns. Das Pathos beschreibt und umkreist also eine Verundeutlichung von Wirkung und Ursache des Pathischen. Denn: »Was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten. Eben deshalb hat jede Bezugnahme auf Widerfahrnisse einen indirekten Charakter, sie geschieht aus einem zeitlichen Charakter heraus.«722 Die zeitliche Verschiebung zwischen Getroffensein und Antworten, der Riss, die Bruchstelle in der Erfahrung, führt zu einem »Chiasmus« von pathos und response; damit ist unmöglich die Rückführung auf einen gemeinsamen Referenten möglich.723 Das 717 718 719 720 721 722 723
Vgl. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 43f. Husserl: Hua IV, 217. Straus: Vom Sinn der Sinne, 394. Vgl. voriges Teilkapitel. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 58f. A. a. O., 59. A. a. O., 56. Vgl. a. a. O., 60.
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Vorkommnis und Widerfahrnis ist nicht einfach eine Negativität oder »bloße Umkehrung«724 von Intentionalität, sondern die »subjektivierende Verzeitlichung von Erfahrung«.725 Bei Waldenfels wird Pathos – und hier bewegt er sich im Kreis von Gilles Deleuze, Jaques Derrida und Emmanuel L8vinas – zum Schlüssel für den diastatischen Charakter von Erfahrung. »Wir sind selbst auf dieses Problem gestoßen, als wir von einem Pathos ausgingen als einem un-möglichen Ereignis, das seiner Ermöglichung vorausgeht und sie übersteigt als eine Wirkung, die ihrer Ursache zuvorkommt. Das Pathos bedeutet nicht etwas, das aus der Erfahrung stammt oder unter bestimmten Bedingungen in der Erfahrung gegeben ist, es ist die Erfahrung selbst, sofern sie sich selbst entgleitet. Die bodenlose Vielfalt rührt von einem bodenlosen Geschehen, dessen Abgründigkeit durch die erwähnten Ordnungsmuster lediglich überdeckt wird. Diese Abgründigkeit tritt deutlich zutage, wenn wir den diastatischen Charakter unserer Erfahrung näher in Augenschein nehmen.«726
Damit bestehen Chancen, die grundsätzliche Erfahrung des Gegebenseins, dass Erfahrung nicht sich selbst gehört, also den transzendenten Charakter von Erfahrung, empirisch-phänomenologisch beschreibbar zu machen. Dies gilt es nun auf das Verhältnis von Schmerz und Leiden zu transferieren. 3.3.3.3 Leiden: Wahrnehmung und Gedächtnis von Schmerz(erfahrung) In Bezug auf Schmerzerfahrung spielt vor der ethischen Seite des Mitgefühls die leibzeitliche Struktur von Erfahrung eine entscheidende Rolle. Waldenfels grenzt sich von Aristoteles ab, indem er das Übergewicht des Leidens und Erleidens727 abwirft und stattdessen die grundsätzliche Struktur von Widerfahrung betont. »Umstritten ist bis heute die allgemeine philosophische Frage, ob die Passivität des Pathos nur eine Einschränkung oder Verminderung des Tuns bedeutet oder ob sie als Widerfahrnis im Herzen der Erfahrung ihren Sitz hat. Darüber hinaus fragt es sich, ob das Pathische nur das Widrige betrifft oder alles, was uns zustößt.«728 Waldenfels befürwortet dies. Das Gedächtnis des Schmerzes ist ein Teil der Geschichte des Leibes, in dem sich sowohl die erkenntnistheoretisch beschreibbare Passivität im Sinne der Bruchlinienerfahrung als auch die Erfahrung von Leiden und seinen Verlet724 A. a. O., 59. 725 Rölli: Phänomenologie und Empirismus, 217. Rölli schließt daraus für Phänomenologie und Empirismus eine »wechselseitige und asymmetrische Herausforderung, die ihnen [ich ergänze: d. h. dem anderen, S.L.] jeweils etwas zu denken gibt« (217f). 726 Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 173. 727 Vgl. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, 152. 728 Ebd.
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zungen und Traumata, die ihn zeichnen und sich in ihm einschreiben, niederschlagen. Am Schmerzgedächtnis manifestiert sich zum einen die Selbsterfahrung729 : Denn anders als andere Emotionen stumpft Schmerz nicht ab – im Gegenteil versucht sich der Leib sogar schon aufgrund seiner Sensibilisierung zu schützen (z. B. durch Schonhaltungen, Anspannung, implizite Vermeidungen gefährlicher Situationen etc.). Mit der Abgrenzung und dem Schutz trägt Schmerz dazu bei, dass Leib und Nicht-Leib sich abgrenzen können. Als Teil der von Merleau-Ponty und Waldenfels so beschriebenen Zwischenleiblichkeit ist Schmerz zum anderen aber auch verknüpft mit der »Geschichte der Trennung, Gewalt, Inkorporation des anderen und der Kolonisierung des Leibes durch das soziale Gesetz«730. In der Einsamkeit, die der Schmerz darstellt und verkörpert, sind wir Menschen miteinander verbunden. Entscheidend ist die Dimension der Inkorporation des Anderen im Schmerzgedächtnis.731 Dazu zählen z. B. Initiation, Strafe und Trauma. In initiatorischen Tätowierungen, Piercings etc, kommen nicht nur Körperzeichnungen zum Tragen, sondern in ihnen werden schmerzhafte Gruppen- und Statuszugehörigkeiten eingebrannt, soziale Disziplinierungen vorgenommen, die auf das Beziehungsgedächtnis einwirken durch den Wechsel von körperlicher Zuneigung und Züchtigung. Beim Trauma nimmt der Leib sogar den Ortsraum der Erinnerungsspuren ein, da sich die sonstige Erinnerung dem Trauma oft verweigert. Leiblich wird so wiederholt und reinszeniert, was anders nicht zugänglich ist. Spuren des Traumas manifestieren sich symptomatisch in Schmerzen, Zwängen, Essstörungen oder Depressionen. Diese Form der gewaltsamen Einschreibung in den Leib, wie sie sich insbesondere an Folter und Vergewaltigung zuspitzt, ist besonders gravierend, weil die Sensibilität der Nähe und Wiederkehr schon ähnlicher Situationen im Schmerzgedächtnis sehr hoch angstbesetzt ist. Das schmerzhafte Eindringen des Fremden in den eigenen Körper verletzt die tiefsten und intimsten inneren Grenzen, was mit Scham und Angst und Sprachlosigkeit besetzt ist, und zerstört buchstäblich das SelbstGefühl. Aus Sicht der Psychoanalyse, deren Wurzeln auch an diesen Punkt geknüpft sind, handelt es sich um eine »Reminiszenz«, die sich wie ein Fremdkörper im Leiblichen verhält.732 Es gibt keine Rettung, keinen allheilenden Schutz gegen Schmerz und Leiden. Es gibt auch keine sie umgreifende Macht, denn in der Erfahrung liegt das diastatische Moment des Unzugänglichen. Insofern gilt auch in ethischer Hinsicht, was Andrea Sabisch in der Betonung auf der Qualität des Er-Fahrens für 729 730 731 732
Vgl. Fuchs: Leib und Lebenswelt, 65ff. A. a. O., 78. Vgl. a. a. O., 69ff. Vgl. Fuchs: Leib und Lebenswelt, 75; Freud: GW 1, 85.
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die Ästhetik formuliert: »Es gibt die Erfahrung nicht, es sei denn als angewandte.«733 Die Argumentation zeigt bereits an dieser Stelle, dass zwischen entwicklungsnotwendigen Dosen von Schmerzerfahrungen z. B. bezüglich Trennung, Verlust und Trauer von zu vermeidenden Erfahrungen wie Trauma zu unterscheiden ist. Am pathischen Erleben wird die Leiblichkeit des Menschen deutlich; wie und weil wir leiblich leben, sind wir auch pathisch er-lebende Wesen. Ein lebensweltlich-phänomenologischer Erfahrungsbegriff unterstreicht die Bedeutung der Intersubjektivität für das Verständnis von Erfahrung; das bedeutet, die kontextuelle Verwobenheit urmenschlichsten Erlebens wird weitaus deutlicher, als es in manchen psychologischen Theorien der Fall ist und als die Subjekttheorien als selbstverständlich erachten. Das Selbst ist ein intersubjektiv erfahrendes und passiv angerührtes Selbst. Daher ist auch nicht verwunderlich, dass das Pathos bereits einen Kern von Erfahrung ausmacht und, wie später noch genauer ersichtlich werden wird, diese Struktur von Widerfahrnis und Antwort auch auf die ethische Haltung zum Pathischen zutrifft. Die Konkretionen und Beispiele von Waldenfels legen wie der FALL nahe, dass es vor allem schmerzliche Leidens-Erfahrungen sind, an denen diese pathische Seite von Erfahrung zutage tritt und die zu einer Radikalisierung des Erfahrungsbegriffs führen. Damit würde im Sinne des von Buytendijk so bestimmten »Verletzt-Werdens« der Schmerz offenbar, der zu einem »VerletztSein« als Leidensform und damit schon fast zum anthropologischen Leiden führt.734 Anders gesagt: Schmerz ist ein pathischer Initiator für Leiden. Für Erfahrung und Schmerz sind damit neue Bruchlinien zu verdeutlichen: Es können auch Leidenschaften sein, an denen die pathische Struktur der Erfahrung erfahrbar wird. Ich widme mich nun der Frage, welche Aspekte zur Qualität der Leidenserfahrung im Rahmen einer Konturierung des Pathischen essenziell sind.
3.3.4 Situiertheit. Aspekte zur Raumzeitlichkeit des Leidens Eine wichtige Rolle für die Deutung und Bewertung des Leidens spielt das Erleben von Raum und Zeit. Wenn Leiden als die Erlebensseite von Grenzerfahrungen gilt, so auch deshalb, weil mit und in ihm Raumerfahrungen gemacht werden. Diese materialisieren sich im Erleben von Getroffensein – dem, was mir entgegenkommt, insbesondere im Leibraum. Diese Erfahrung bringt eine komplexe Veränderung der Raumerfahrung mit sich, in der die Verhältnisse von 733 Sabisch: Inszenierung der Suche, 225. 734 Buytendijk: Über den Schmerz, 127.
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leiblichem Subjekt, Schmerz und Lebenswelt in verschiedenen Schattierungen erlebt werden können. Z. B. ist ersichtlich, dass Außen und Innen im Schmerz verschwimmen und deren Ineinander deutlicher wahrnehmbar ist in starken Affektzuständen. Der Mensch kann auch dann von Schmerz eingenommen sein, wenn dieser punktuell lokalisierbar wird – ebenso wie beim Lustgefühl. Zugleich wird zweitens deutlich, dass die Metaphern der Beschreibung von Leiderleben ebenfalls auf Raumsprachlichkeit zurückgreifen, weil sie anders den Schmerz nur schwer zugänglich machen können und damit auch auf Raumvorstellung und Raumerleben aufbauen. Es gibt aber noch eine dritte Ebene, auf welcher die Räumlichkeit für das Leiden eine entscheidende Rolle spielt – und hier zeigt sich einmal mehr die Verzahnung von Raum- und Zeitwahrnehmung. Denn kommt Leiden als eine Wahrnehmung des schmerzenden Leibraumes räumlich elementar zum Tragen, so stellt die Zeitlichkeit, die sich zwischen dem Schmerzerleben und der Wahrnehmung dieses Erlebens bewegt, eine Perspektive dar, unter der plausibel wird, warum Leidende auch aus den Alltagsräumen herausrücken bzw. herausgerückt werden. Inwieweit Schmerzerfahrungen Menschen leiblich betreffen, habe ich bereits beleuchtet. Ohne Zweifel stellt Leiden einen besonderen Zustand, eine Situation dar, die das Leben räumlich, leiblich und zeitlich verändert. Wie im FALL deutlich geworden, ist diese Erfahrung im Rahmen der gängigen Ordnungen der Welt in spezifische räumliche und zeitliche Bedingungen verwoben.735 Aus der Sicht einer psychosomatischen wie phänomenologischen Anthropologie »heißt Schmerzen zu haben: durch den Schmerz in einer Situation zu leben.«736 Es stellt für die Situation des Betroffenen einen wichtigen Unterschied dar, ob ein Schmerz punktuell oder von Dauer ist. Diese Zeitlichkeit des Schmerzes ist ein Kriterium für die medizinische Differenzierung von akutem und chronischem Schmerz. Das Erfahren von Dauer oder von Endlichkeit des Schmerzes bildet zunächst unterschiedliche Funktionen – als akuter Schmerz gilt tendenziell der Schmerz als Warnsystem und insofern symptomatisch; als Dauerschmerz wird er medizinisch als Phänomen und Problem an sich wahrgenommen, das selbst einer Behandlung bedarf. Wichtig ist, dass diese Zeitlichkeit auch ein unterschiedliches Erleben für die bedeutet, die Schmerz erleiden; zugleich wird mit der Wahrnehmung der Zeitlichkeit des Schmerzes auch ersichtlich, dass der Schmerz nicht nur an sich ein Widerfahrnis ist, sondern eingebunden in Kontexte, deren Kenntnis für die Wahrnehmenden zu einer Wertigkeit und Einschätzung beitragen. Buytendijk differenziert diese beiden Arten mit den Ausdrücken Verletzt-Werden und Verletzt-Sein737 und unter735 Dies wurde anhand des Situationsbegriffes bereits konkretisiert. Siehe dazu Kap. 2.5.1. 736 Frick: Psychosomatische Anthropologie, 151. 737 Buytendijk: Über den Schmerz, 127.
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scheidet körperliche Erfahrungen und Antworten. Beim plötzlich widerfahrenen Schmerz sind Fluchtgesten und Rückzüge leiblich, räumlich wie sprachlich da; beim Verletzt-Sein wird schon mühevoll wieder ein Selbst- und Ausdrucksverhältnis hergestellt.738 Grüny geht dementsprechend davon aus, dass es hinsichtlich der Qualität und Struktur von Erfahrung große Unterschiede gibt zwischen dem akuten, plötzlich auftretenden Schmerz, der die aktuelle Aufmerksamkeit für begrenzte Momente auf sich zieht oder z. B. einem postoperativen Schmerz, der sich zeitlich deutlich eingrenzen lässt, sowie dem andauernden chronischen Schmerz, der Erfahrung dauerhaft und grundlegend umstrukturiert – in einer Weise, die alle Bereiche der Erfahrung betrifft.739 Thomas Fuchs, der Leiden als personalen Akt des Er-leidens bezeichnet740, stellt Zeitlichkeit und Leiden philosophisch enger zusammen – hier ist es das Leiden, das in ein Gegenüber zu Zeit tritt und in manchen Ebenen mit einem ›Leiden an …‹ verdeutlicht werden kann: Den Ausgangspunkt bilden existenzielle, aus Zeitlichkeit und Endlichkeit resultierende Leiden. Leiden wird hier einmal im Zusammenhang mit der Erfahrung des Vergänglichen gesehen und einmal als Erfahrung des ausbleibenden Zukünftigen oder des Mangels. Flüchtigkeit, Sehnsucht bzw. Begehren – auf diesen Begriff ließe sich ein Leiden bringen, welches diesen Zeitaspekt in die Mitte rückt. Doch wie wird Zeit erlebt? Leiden ist quasi »abgebremste, sich dehnende Zeit«, die das eigene Erleben besetzt.741 Schmerz spielt daher eine ganz wesentliche Rolle für die Individuation, da sich mit ihm die Erfahrung von Ich, Hier und Jetzt – also Leib, Raum und Zeit verdichtet. Da Zeit in der Regel im Fluss als Kontinuum erfahren wird, entsteht sie in der Wahrnehmung überhaupt erst »als der ›Riss im Sein‹, der die gleichförmig-dumpfe Dauer sprengt und das Gewohnte durchbricht.«742 Das Herausreißen aus dem Lebensfluss durch Schreck, Schmerz und Leiden zeigt: Die Erfahrung von Nicht-mehr, von Verlorenem, wird als leidvoll erlebt. Gerade damit verbindet sich die Andeutung von etwas Sinnhaftem, nämlich dass sich im Leiden eine Affirmation des Selbst erweist. Solange man leidet, sind die lebensvorantreibenden Prozesse noch aktiv und dynamisch – im Sinne einer negativen Teleologie. Jedenfalls zieht die Befriedigung des Bedürfnisses den Kreislauf des Begehrens nach sich. Daneben lässt sich eine Zeitstruktur des Leidens selbst ausmachen. Fuchs macht darauf aufmerksam, dass Leiden aus dem »Missverhältnis zwischen individuellen Veränderungsprozessen und den Abläufen der sozialen Welt« resultiert – also einer Ungleichzeitigkeit von individuellem Innen und sozialem 738 739 740 741 742
Vgl. Buytendijk: Über den Schmerz, 123. Vgl. Grüny : Zerstörte Erfahrung. Vgl. Fuchs: Zeit-Diagnosen, 50. A. a. O., 36. A. a. O., 37.
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Außen.743 Es wird zur Aufgabe, diese Desynchronisierungen zu bewältigen. Wo das gelingt, wird erfüllte Zeit erfahren. Leidvoller erlebt wird meist noch die Retardierung, also das »zu spät«, in dem die Vereinzelung und das Zurückbleiben hinter der intersubjektiven Zeit schmerz- und schreckhaft geschieht; das Leiden wirkt isolierend, denn es wirft Menschen aus der Synchronie mit der sozialen Welt. Das Bewusstsein der Trennung von begrenzter, endlicher Lebenszeit und unbegrenzter quasi unendlicher Weltzeit schafft das besondere Leiden des Menschen, was ihn buchstäblich ent-rückt. In Auseinandersetzung mit dem Religionsphilosophen Michael Theunissen744 argumentiert Fuchs, dass Leiden als Anzeichen von Zeit zur dem Leiden inhärenten Struktur gehört. Es ist stets der Riss, der Bruch, die Unterbrechung und das Nicht-Synchrone, was Menschen leiden macht und überhaupt Zeit erst erfahrbar werden lässt. Entscheidend ist, dass Fuchs sich hier gegen eine Verabsolutierung der Zeit verwehrt und phänomenologisch argumentiert, dass Zeit nur in der Intersubjektivität überhaupt zu Zeit wird. Die Verdinglichungen von Zeit bringen dagegen auch Verdinglichungen von Leiblichkeit mit sich (Korporifizierungen745). Fuchs wirft aus phänomenologisch-psychiatrischer Sicht einen neuen Blick auf das Verhältnis von Zeit und Person. Zu den Pathologien dieser Erscheinungen gehören Verdinglichungen. Diese betrifft im Blick auf eine Psychopathologie der Person die Maske und Selbstentfremdung. Hinsichtlich der Zeit legt er das Augenmerk auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang bzw. den Konnex von Schuld und Leiden: Der Theodizee lag das elementare Empfinden der leidenden Menschen zugrunde, dass sein Leid in einer Art und Weise ein Ausgleich sei für eine Vergangenheit, die nicht abgeschlossen werden kann, weil sie offenbleibt als Schuld. Psychologisch nennt Fuchs als gemeinsamen Nenner von Leid und Schuld die Selbstentfremdung und Verdinglichung746 : Ebenso wie Ekel eine Verdinglichung des Leiblichen und Lebendigen ist, bei der statt des lebendigen Leibes der materiale Körper in den Vordergrund tritt, ist Schuld eine Verdinglichung von Zeit. Hier tritt Unbewältigtes in die erfahrene Nähe. Auch Melancholie als vollständige Desynchronisierung der Eigenzeit dissoziiert von der Weltzeit. Anders ist es bei der Akzeleration, in der die Zukunft als Herrschaft erlebt wird. Langeweile und die Entfremdung durch die verzweckte zukünftige Zeit verhindern ein offenes Flusserleben, sondern lassen den Menschen stets sich selbst vorauseilen. Hier wird in beiden verdinglichten Zeitformen der Zeit immer ein leidvoller, entfremdeter Charakter zugemessen. Offen bleibt, ob es überhaupt eine nicht entfremdete Zeit gibt. Radikalisiert wird das Leiden m. E. 743 744 745 746
A. a. O., 41. Vgl. Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Vgl. Fuchs: Zeit-Diagnosen, 47; Fuchs: Psychopathologie von Zeit und Raum, 99ff. Vgl. auch den Bezug zu Simone Weil: Das Unglück der Gottesliebe.
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angesichts radikalisierter Endlichkeit bei Lebensbedrohung: Wenn der Tod als die mögliche Zukunft aus der Ferne in die Nähe rückt, schrumpft sowohl die Zeit zusammen, die erlebt wurde, als auch vor allem diejenige, die noch vor Augen steht. Angst macht das Zeiterleben eng. Das Schmerzgedächtnis ist in diesem Zusammenhang eine zweischneidige leibliche Form der Geschichtlichkeit menschlichen Lebens. Für den Fall des – bewussten oder unbewussten – Erinnerns erwirkt es zum einen, dass man sich leiblich vom Anderen her, in diesem Fall von Vergangenheit und Zukunft konstituiert. Es bringt auch die Räume und Erfahrungen ein, die als Leidenssituationen von anderer Zeit her Spuren hinterlassen und ihre Wirkungen entfalten. Lebensgeschichtlich ist auch von Bedeutung, dass es keine emotionale Erinnerung an Schmerz gibt; vermutlich wird dadurch menschliches Überleben gesichert, weil der Mensch sonst ständig den Schmerz fühlen müsste, den er erlebt hat. Mit dieser Ambivalenz wird ersichtlich, wo die Grenzfälle der Schmerzerfahrung liegen: Die Wiederkehr oder gar permanente Wiederholung eines Schmerzes, das Trauma, ist eben doch ein Grenzfall emotionaler Neuauflagen von Erinnerung.747 Mit den von Waldenfels so titulierten »Ortsverschiebungen« und »Zeitverschiebungen« zeigt sich, dass hier eine Fremderfahrung am Werk ist, die dazu beiträgt, Leiden in seiner Leibraumzeitlichkeit zu einer Erfahrung des Fremden zu machen. Die Ermöglichung dieser Erfahrung des Fremden liegt in einer vom Anderen her gestifteten Situation des Lebens. In zeitlicher Hinsicht spielen »originäre Vorgängigkeit und originäre Nachträglichkeit« miteinander : »Der Respondent, jener also, dem eine Antwort abverlangt wird, ist älter als er selbst, da er als Patient durch eine uneinholbare Vergangenheit geprägt ist; er ist jünger als er selbst, da aus eben dieser Vorvergangenheit eine unerreichbare Zukunft entspringt.«748 In Bezug auf die Situiertheit des Leidens wird deutlich, was Michel Foucault mit dem Konzept der Heterotopie, bzw. Heterotypie für Lebensformen der Gesellschaft kritisch geltend macht749 : Leiden wird erfahren auf der Grenze und im Verhältnis zu alltäglichem Leben und dessen Ordnungen. Es ist gerade die Heterochronie, die leidende Menschen aus der Lebenszeit herausreißt, selbige unter- oder durchbricht und Zeit zugleich erst als die Pluralität von Zeiten unterschiedlicher Qualität vernehmbar macht. Was für die Zeitlichkeit des Leidens so beschrieben wurde, gilt in anderer Weise ebenso für die Räumlichkeit. Es scheint so zu ein, dass nicht nur die Konstruktion der Gesellschaft darauf aus ist, alles, was nicht homotop ist, in Heterotopien auszulagern, die unter747 Vgl. z. B. Özkan / Sachsse / Streeck-Fischer : Zeit heilt nicht alle Wunden. 748 Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, 227. 749 Vgl. Foucault: Andere Räume; ders.: Die Heterotopien.
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schiedliche Funktionen übernehmen. Ein Bezugspunkt liegt auch in der spezifischen Wahrnehmung der betroffenen Menschen, dass Leben in seiner Leidensform aus der Homotopie und Homochronie und – wie wir sehen werden – auch aus der Homologie – herausfällt. Die Betrachtung der Situierung des Leidens in Raum und Zeit zeigt, dass und wie das Erleben von Leidenssituationen zwar einerseits auf das Hier und Jetzt fokussieren und das Erleben auch in gewisser Weise bannen, dieses aber zugleich von einer Fremdheit durchzogen ist. Damit ist die Erfahrung des Getroffenseins nicht nur eine Erfahrung der anderen Seite des Lebens, sondern die Qualität der Erfahrung bestimmt sich zugleich vom Anderen her. Zum Leiden gehört die Bezogenheit auf Situationen, aber auch eine relative Entzogenheit der Situiertheit im Leben. In diesem Zusammenhang gilt es nach den Konsequenzen zu fragen, die dieses Oszillieren von Präsenz und Entzug des Leidens im Schmerz für die Intersubjektivität und Kommunikabilität ausmacht.
3.3.5 Un-Sagbarkeit. Zur Artikulation von Pathos-Erfahrung 3.3.5.1 Stummheit und Schrei. Zur Sprache des Leidens Schmerz ist eine Empfindung, die mit der Geburt an auch mit ins Leben kommt; dessen Begrifflichkeit wird erworben. »Den Begriff ›Schmerz‹ hast du mit der Sprache gelernt.«750 Ein Urausdruck menschlichen Leids ist der Schrei. Wenn Norbert Elias das Verstummen und Verschwinden des Schreis in der Gesellschaft bemerkt751, so ist dies der Beobachtung einer fortschreitenden Zivilisierung geschuldet; die Kultivierung des Schreis in verschiedenen Situationen des Lebens und auch Epochen und Räumen unserer Gesellschaft hält dennoch an – z. B. in Formen der Trauerklage, des Geschreis, der Tränen. Das Zurückhalten dieser leiblichen Ausdrucksformen des Schmerzes aufgrund zivilisatorischer Veränderungen oder anderer Gründe vermehrt das Leiden bzw. kanalisiert es auf andere Wege; die Psychosomatik kennt dies nur zu gut. Diese gesellschaftliche Beobachtung hat einen intersubjektiven anthropologischen Kern. Schmerz kann nur kommuniziert werden, wenn er wahrgenommen und geäußert und wiederum wahrgenommen wird. In ihrer soziologischen Analyse zum Schmerz äußert Elaine Scarry ihre Grundthese: »Der körperliche Schmerz hat keine Stimme«.752 750 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Nr. 384. 751 Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 752 Scarry : Der Körper im Schmerz, 11.
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»Die moderne Philosophie hat uns an den Gedanken gewöhnt, daß unsere Bewußtseinszustände mit Objekten in der äußeren Welt verknüpft sind, daß wir nicht einfach »Gefühle haben«, sondern Gefühle für jemanden oder etwas (…) Im Unterschied zu allen übrigen inneren Zuständen besitzt der physische Schmerz keinen Referenten. Er ist nicht von oder für etwas. Und gerade weil er kein Objekt hat, widersetzt er sich mehr als jedes andere Phänomen der sprachlichen Objektivierung.«753
Das hat jedoch auch Konsequenzen für die Mitteilbarkeit. Scarry geht davon aus, dass es keine Außenbeziehung gibt, die den Schmerz körperlich fühlen lässt. Sie legt dar, dass sich der leibliche Schmerz der sprachlichen Mitteilung entzieht; er ist nicht »ansteckend« wie andere Emotionen: Ich kann nicht den Schmerz des Anderen spüren, und umgekehrt heißt das für den Schmerzbetroffenen, dass er diese Erfahrung nicht weitergeben, diese Qual nicht mit-teilbar machen kann. Selbst leibliche Erfahrung des Schmerzes von anderen sei nicht dessen Erfahrung, sie ist schwerlich teilbar. »Für einen Menschen, der Schmerzen hat, ist der Schmerz fraglos und unbestreitbar gegenwärtig, so daß man sagen kann, ›Schmerzen zu haben‹ sei das plausibelste Indiz dafür, was es heißt, ›Gewißheit zu haben‹. Für den anderen indes ist dieselbe Erfahrung so schwer faßbar, daß ›von Schmerzen hören‹ als Paradebeispiel für Zweifeln gelten kann. So präsentiert der Schmerz sich uns als etwas Nichtkommunizierbares, das einerseits nicht zu leugnen, andererseits nicht zu beweisen ist.«754
Schmerz gilt daher hier als ein Paradoxon zwischen Gewissheit und Zweifel. Die Kommunikations(ab)brüche körperlichen Schmerzes beziehen sich hier auf die verbale Sprache, denn Laute und Schreie sind durchaus nicht davon ausgenommen. Sensorische, affektiv evaluative und kognitive Gehalte von Schmerz können benannt werden. Als problematisch gilt aber das Bestreben, der »entobjektivierenden Arbeit des Schmerzes entgegenzuwirken, indem man den Schmerz selbst in die Bahnen der Objektivierung zwingt«; Scarry wertet es als ein »Vorhaben mit bedeutsamen praktischen und ethischen Konsequenzen.«755 Aus dem prekären Verhältnis von Schmerzausdruck und Schmerzbeseitigung erwachsen politische Komplikationen in der Wahrnehmung dieser Schwierigkeit. Zu den Bereichen, die im öffentlichen Diskurs Sprache gefunden haben, gehören natürlich die Medizin, öffentliche journalistische und politische Zusammenhänge, Rechtsprechung und Kunst. So bleibe das Problem bestehen: Bilder von Waffen machen den Schmerz nicht sichtbar, sie evozieren kein Mitfühlen und tragen indirekt zu einer Vermengung von Schmerz und Macht bei. Die Hermetik des Schmerzes und demzufolge Eingeschlossenheit des Leidenden behauptet auch der Anthropologe Hans-Peter Dreitzel, der sogar den 753 A. a. O., 14. 754 A. a. O., 12. 755 A. a. O., 14.
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Ausdruck »Asozialität« wählt.756 Ausgehend vom dominierenden und die Aufmerksamkeit zentrierenden physischen Schmerz bleibe symptomatisch eben doch der Schrei, der zwar – ein phänomenologisch-leibsprachliches Verständnis von Sprache voraussetzend – nicht vorsprachlich, aber zumindest noch nicht verbalsprachlich ist. Gerade darum rückt die Tragik eines verstummenden Leidens, wie sie auch Adorno behauptet, in den Vordergrund: »Leiden, auf den Begriff gebracht, bleibt stumm und konsequenzlos«.757 Es stellen sich mehrere Fragen: Ist es richtig, dass die Schreie der Opfer und Leidenden – als Grenzdatum für einen Zivilisationsbruch, der auch einen Sprachbruch bedeutet758, zählt auch bei Scarry ähnlich wie bei Adorno ›nach Auschwitz‹ – je weiter zivilisiert, desto mehr verstummen? Selbst wenn körperlicher Schmerz die sprachliche Objektivierung unterläuft oder gar zerstört: Geht damit auch gleich die Unmöglichkeit jeglicher Kommunikation einher? Kulturanthropologisch würde beides zusammengenommen in der Tat bedeuten, einsam im Schmerz zu leben. Diese Schwierigkeit ist meines Erachtens nicht abzulösen von der Sichtbarkeit des Schmerzes und den Möglichkeiten von Schmerzwahrnehmung durch alle Sinne und Kanäle hindurch. Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht kontextlos geschehen; sie erfordert, den Horizont auszuloten, vor welchem Klärungen erfolgen sollen. Eine kulturpessimistische Antwort kann diese Beobachtung sicherlich dahingehend stützen, dass es gerade Gewaltschmerz ist, der Opfer verstummen lässt – das belegen nicht nur die Opfer des Holocaust und anderer Kriege759, sondern auch Missbrauchsopfer, denen erst ein von außen gesetzter Anfang zum Bruch des Schweigens Zugang zum Schmerz oder zumindest zur Äußerung dessen im Brechen des Schweigens bringt. Parallel dazu, und z. T. von ähnlichen Vor-Fällen ausgehend, ist auszumachen, dass die Öffentlichkeit über Kanäle visueller und auditiver Massenmedien zunehmend medial an Schmerz teilnimmt, weil sich eine wachsende Kultur der Schmerzdarstellung mit einer der Selbstdarstellung bis hin zur öffentlichen Beichte vermischt – die Weiterentwicklung von Medien erlaubt andere Live-Präsenzen in Genres wie Talkshows zur Befragung von Opfern und zur Aufmerksamkeitserzeugung auf Betroffenheiten. Diese kultursoziologische Beobachtung würde jedoch an der Oberfläche stehenbleiben, wenn nicht zum einen die Interessen ins Spiel kämen, unter denen diese Kommunikation von Schmerz geschieht. M. E. kommen hier wiederum verschiedene Motive von der Wut des Aufklärens bis zur Solidarität ins Spiel. Zum anderen sind die Formen der Kommunikation mitentscheidend dafür, welche Leider756 757 758 759
Dreitzel: Leid, 859f. »Leiden, auf den Begriff gebracht, bleibt stumm« (Adorno: Ästhetische Theorie, 35). Vgl. Alloa / Lagaay : Nicht(s) sagen, 9. Etwa der Bosnien-Krieg.
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fahrungen überhaupt und wenn ja, wie gehört werden. Dies wiederum führt zurück auf anthropologische und kulturelle Grundgegebenheiten: Damit Leiden als gelebte Erfahrung vernommen werden kann, braucht es religiöse Ausdrucksformen und Resonanzräume, die sich der Irrationalität an den Rändern rationaler Vernunft annähern; nicht ohne Grund räumt Adorno der Kunst eine kategorial andere Möglichkeit und Vorrangstellung der Ausdrucksform760 vor der Philosophie ein, die als anfälliger für Verdrängung und Verharmlosung von Leiden gilt. »Während diskursive Erkenntnis an die Realität heranreicht, auch an ihre Irrationalitäten, die ihrerseits ihrem Bewegungsgesetz entspringen, ist etwas an ihr spröde gegen rationale Erkenntnis. Dieser ist das Leiden fremd, sie kann es subsumierend bestimmen, Mittel zur Linderung beistellen; kaum durch seine Erfahrung ausdrücken: eben das hieße ihr irrational«.761
Die Feststellungen zur Einsamkeit des Schmerzes treffen in ihrer Radikalität in Bezug auf die leibliche Individualität durchaus zu. Dass die Lage hinsichtlich des Mit-Leidens und Mitgefühls nicht so einlinig und pessimistisch verläuft und Scarrys Behauptungen in diesem Punkt etwas relativiert werden müssen, zeigt ein anderer Zugang zu der Frage. Thomas Fuchs beschreibt die Sozialität von Schmerz aus der Perspektive des Anderen. Ein maßgebliches Kriterium für die Fremdwahrnehmung des Leidens ist das »sympathetische Schmerzgedächtnis«762 : Wer einen anderen voller Schmerzen sieht, bei dem krümmen sich auch die Finger oder die Haltung. Diese Form der Mimesis geht ebenfalls in das leibliche Gedächtnis ein. Es stellt eine »Inkorporierung des anderen«763 dar, die an Beispielen wie Initiation, Strafe (pain!) – im Extremfall Folter – und Trauma in extenso zutage tritt. Als beispielhafte Indizien in der Kulturgeschichte fungieren religionskulturelle Zusammenhänge: So stellen die Nachbildungen von Wundmalen an den Händen und Füßen Christi ein Phänomen des religiösen Fortschrittsdenkens dar ; hier werden Schmerzen zum Ausdruck der schmerzlichen Trennung.764 Der Leib inkludiert und nimmt sämtliche Begebenheiten auf, 760 Man denke etwa an die zumeist erst im Zuge der Vergangenheitsbearbeitung posthum zur Geltung kommenden Kunstwerke aus dem Bereich der Psychiatrie und Antipsychiatrie, in der nicht nur der seelische Schmerz der Krankheit, sondern mindestens ebenso der der Verwahrung zum Ausdruck kommt. (v. a. die Heidelberger Sammlung Prinzhorn aus den Jahren ca. 1850–1930; auch die Ausmalung seiner Zelle in 26 Jahren Anstaltszeit durch den Patienten Julius Klingebiel, vgl. Spengler / Koller / Hesse: Die Klingebiel-Zelle.). 761 Adorno: Ästhetische Theorie, 35. 762 Fuchs: Leib und Lebenswelt, 76. 763 A. a. O., 69. 764 Empirische Untersuchungen sprechen von einer größeren Resonanz der Schmerzwahrnehmung bei sichtbarem Schmerz als nur bei hörbarem. Das ist umso verwunderlicher, als es möglicher wäre und ist, die Augen zu verschließen als die Ohren. Vgl. auch Dietrich: Körperlicher Schmerz.
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in die wir involviert sind, selbst wenn diese nicht von uns selbst initiiert wurden. Dieser Selbstbezug ist mit der Bezogenheit auf andere verbunden. Daher lässt sich hier von der Beziehung von »Zwischenleiblichkeit« sprechen765 : Den »anderen Anderen« bzw. den Anderen anders und hier doch als mimetisch ähnlich wahrzunehmen, bedeutet Kontakt in einer spezifischen Situation, die körperliche Aufmerksamkeit benötigt. Damit ist (mit Merleau-Ponty und Schütz) eine Form der Annäherung gefunden, die Erfahrungssphäre des Anderen zu betreten.766 Es kommt also auf eine gemeinsame Sphäre an, in der die Haltung des Schmerzes zwischenleiblich nachvollzogen wird, auch wenn dies nur partiell möglich ist. Dies kann, wie bei Fuchs beschrieben, eine (unwillkürliche) Mimesis sein, aber auch eine wiederum pathische Erfahrung der Einwirkung des Schmerzes durch Hören oder Sehen von Leiden, also durch eine zwischenleibliche Resonanz; diese wiederum gründet die in einer Form der authentischen Erfahrung, der das Betreten des Erfahrungsraumes des Anderen erleichtert. Wir werden sehen, dass in ethischer Hinsicht dennoch ein Fremd-Verstehen in Differenz zum eigenen Erfahrungs- und Leidhorizont unumgänglich ist. Den kommunikativen Ermöglichungsgrund für diese Form der An-Teilnahme am Schmerz des Anderen benennt schon Buytendijk. Er differenziert leibsprachliche Ausdrucksweisen von Verletzt-Werden und Verletzt-Sein: »Den ersten Typ demonstriert der Mensch, der ›au‹ oder ›ai‹ ruft, das Gesicht verzieht, die Extremitäten anzieht, oder, falls er am Kopf oder am Rumpf getroffen ist, mit der Hand danach greift. Das (am Verletzt-Sein) Leidende zeigt ein ganz anderes Bild. Er seufzt, stöhnt, lamentiert jammernd und heulend. Er dreht und windet sich, bewegt den Kopf hin und her, ballt die Fäuste und klemmt die Zähne aufeinander. Die Augen sind krampfhaft geschlossen oder starren weit aufgesperrt ins Leere.«767
Alltagssprachlich führen diese unterschiedlichen Typen leiblicher Schmerzerfahrung oft zur unterschiedlichen Benennung von Schmerz – punktueller, spontaner und akute Erfahrung – und Leid – in seiner Zeitlichkeit der Dauer realisierter Schmerz.768 Wenn damit die Grenze der Verbalsprachlichkeit bereits erreicht ist, werden verschiedene Schattierungen von Körpersprache auch für unterschiedliche Formen, Qualtäten und Grade von Leidensformen entscheidend. Das Auftreten leiblicher Existenz bringt einen öffentlichen, gemeinsamen Raum mit sich, in dem Kommunikation innerhalb von ›Zwischenleiblichkeit‹ stattfindet. Watzlawicks Diktum »Man kann nicht nicht kommunizieren« be765 Vgl. Merleau-Ponty : Das Sichtbare und das Unsichtbare, 194; Leonhard / Thoresen: Dimension: Leib, 158. 766 Vgl. Meyer: Dimension: Sprache, 183ff. 767 Buytendijk: Über den Schmerz, 123. 768 Vgl. Dreitzel: Leid, 858.
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deutet auch, dass es keine Chance gibt, »unleiblich« zu interagieren. Dies ist wichtig, da unsere Körpersprache kaum zwischen äußeren und inneren Bezügen unterscheidet. Leibliche Interaktion ist also ein andauernder, in weiten Teilen unbewusster Prozess, in dem Menschen den Körper nicht permanent kontrollieren.769 In phänomenologischer Perspektive sind wir Teile der Verflechtung von Körper, Sprache und Situation; jede Äußerung und jede Wahrnehmung von Schmerz findet in einem einzigartigen körperlich-räumlichen Kontext statt. Schmerzäußerungen wie Weinen und Schreien müssen in unterschiedlichen leiblichen und emotionalen Kontexten differenziert verstanden werden. Es hängt von den Erfahrungen und Wahrnehmungen der partizipierenden Personen ab, wie körperliche Bewegung verstanden wird. Körpersprache ist eine Ausdruckssphäre, die eine leibliche Kommunikation mit anderen auf verschiedenen Ebenen ermöglicht.770 Im Zusammenhang der Bedingungen einer Kommunikation des Pathischen im Sinne der Ermöglichung einer FremdWahrnehmung von Schmerz und Leiderfahrung ist damit auch initial klar, dass selbst der ureigenste und ur-sächlichste Schrei in und nicht außerhalb von Situationen geschieht. Es braucht jedoch den Anderen, der mit offenen Kanälen und eben auch mit dem dritten Auge und Ohr wahrnimmt. 3.3.5.2 Sprechen und Schweigen. Narrationen des Leidens und die Grenzen des Sagens Meine Aufmerksamkeit gilt nun der Frage, was und wie der Schmerz erzählt. Der amerikanische Medizinsoziologe Arthur Frank hat diskursanalytisch verschiedene narrative Typen erschlossen, in denen kranke Menschen ihre Geschichten von Krankheit und Leiden in Bezogenheit auf ihre Leiblichkeit erzählen.771 Für einen kranken Menschen liegen im Prozess von Leben und Krankheit durchaus verschiedene Typen der Narration vor; so gibt es die restitution narrative, chaos narrative und quest narrative. Vermutlich könnte man sehr viel genauer erschließen, welche einzelnen Funktionen welche Erzählungen auch im Blick auf die Kommunikationsform des Erzählens haben. Gemeinsam ist diesen illness narratives, dass die Erzählungen eine performative, nahezu heilende Wirkung entfalten. Damit ist noch einmal deutlich, dass die Versprachlichung von Erfahrung des Krankseins eine Heterotypie des Leidens darstellt, die Grenzphänomene auch für Andere begehbar und Leiden teilbar macht. Nicht klar ist, wie 769 Vgl. hierzu auch Leonhard / Thoresen: Dimension: Leib, 158. 770 Waldenfels: Das leibliche Selbst, 230ff. 771 Vgl. Frank: The Wounded Storyteller, insbesondere 75–136. Für diesen Hinweis danke ich Andrea Bieler ; vgl. Bieler : »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich«; dies.: Die Thematisierung von Krankheit in einer religionssensiblen Schulkultur.
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das Verhältnis von Krankheit, Progress und Erzählung aussieht, wenn man berücksichtigt, dass nicht jedes Leiden und nicht alles am Schmerz überhaupt sagbar ist. Von der Individualität des Leidenden hängt ab, inwieweit und was er an Schmerz von sich gibt – und zugleich ist diese Individualität in eine Sozialität eingebunden, die von ihren Ermöglichungsbedingungen und normativen Prägungen mitbestimmt, welches Leiden wie kommuniziert wird. Dies ist ein besonders schwieriges Problem bei tabuisiertem Leiden.772 Den umgekehrten Fall stellt eine gewisse Popularität der Krankheit Krebs dar, die gegenwärtig als die widerständigste, weil nach wie vor in vielen Fällen unheilbare Krankheit dargestellt wird, deren Entstehung und Schicksal in vergleichsweise geringerer Abhängigkeit vom (auch präventiven) Handeln des Einzelnen und demzufolge auch von Schuld-Leiden-Zusammenhängen wahrgenommen wird.773 Fuchs legt in seiner Phänomenologie des Schweigens dar, dass die Grenzen der Darstellbarkeit hier auch die Grenzen der Verfügbarkeit markieren.774 Im Anschluss an Ludwig Wittgenstein wird deutlich, dass die Grenzen der Sprache noch nicht die Grenzen der Welt sind, diese jedoch berühren. Die Funktion der Sprache liegt sicher im Angehen gegen das Leid und gegen den Tod. »Aber auch den Tod vermag sie letztlich nicht auszusagen. Denn der Tod umgibt das Leben wie das Schweigen die Sprache.«775 Wenn Sprache etwas Umgreifendes ist, so doch nicht ein Letztes. Von Waldenfels her ist offensichtlich, dass Sprache nicht geschlossene Erfahrung gibt, sondern dass die Ränder des Sagbaren letztlich in der Erfahrung selbst liegen, da sie den Einbruch des Fremden beherbergen: »Der Hiatus zwischen Eigenem und Fremdem bewirkt, dass die Sachen selbst nie völlig zur Sprache kommen, dass stets mehr und anderes zu sagen bleibt als das, was faktisch gesagt wird oder generell gesagt werden kann. Das Sichzeigen geht Hand in Hand mit 772 Der Suizid des an Depression erkrankten Fußballers Robert Enke am 10. 11. 2009 hat als Extremfall z. B. gezeigt, dass es einem psychisch schwer kranken Menschen möglich ist zu täuschen, die Sichtbarkeit der Qualität des Leidens auf ein Minimum einzuschränken und damit die Einsamkeit des Leidens soweit zu erhöhen, dass die Perspektivität und der Rahmen der Sagbarkeit ein Ausmaß erreicht, das für den Erfahrenden, in dem Fall Betroffenen, nicht mehr tragbar ist. Vgl. Reng: Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben. 773 Vgl. Schlingensief: So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein. Tagebuch einer Krebserkrankung; siehe auch sein Opernprojekt Mea culpa und sein Weblog. Christoph Schlingensief, der Regisseur, der für die Veröffentlichung seines Krebsleidens nicht nur bis zu seinem Tod am 21. 8. 2010, sondern auch posthum in Formen der – unter Einspielung von nachvollziehbarer Authentizität – Aufzeichnungen wie Tagebuch und Weblog sowie in theatralen Inszenierungen gesorgt hat, erweckt den Eindruck, dass hier im umgekehrten Fall eine Auseinandersetzung mit Tabus überhaupt erst angesichts des Todes ermöglicht, zumindest forciert wird. 774 Vgl. Fuchs: Zur Phänomenologie des Schweigens. 775 Fuchs: Zur Phänomenologie des Schweigens, 104.
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einem Sichnichtzeigen. Vieles, was heute im Bereich der Phänomenologie weiterwirkt, bewegt sich auf der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Ein solches Denken an der Grenze und ein solches Verweilen auf der Grenze bietet die Möglichkeit, dass der Ruf nach den ›Sachen selbst‹ fortklingt, nicht indem er ein Bestreben auslöst, vom Eigenen aus das Ganze zu finden, sondern indem er den Anspruch des Fremden im jeweils Eigenen laut werden lässt.«776
Insgesamt wird deutlich: Narrationen von Schmerz sind Kommunikationen von Leiden in der inhärenten Spannung von Sprechen und Schweigen. Grenzfälle liegen bei dem stummen Schrei, bei den unsichtbaren Leiden – den Spannungen, die verdeutlichen, dass die Verhältnisbestimmung von Leiden und Darstellbarkeit kein Automatismus ist. Nicht ihre Argumentationskraft, sondern vor und auch jenseits aller Verbalität liegt ein Anspruch zwischen Sagen und Schweigen, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem – es wird aber auch ersichtlich, dass diese, weil es um ein ureigenes und in der Entwicklungsgeschichte frühestes Phänomen des Lebens geht, nicht grundlegend erlernbar ist. Sprache als Körpersprache ist nicht nur auf die Ausdruckskraft angewiesen, sondern Pathos und Response machen auch deutlich, dass es eine Weise der Sensibilität und Wahrnehmung gibt, die – bei sich selbst wie bei anderen – mimetisch ermöglicht, Leiden als Leiden wahrzunehmen. Diese »sympathetische Komponente des Schmerzerlebens und -gedächtnisses« ist eine entscheidende Voraussetzung für Mitgefühl und die Wahrnehmung des Leidens der Anderen.777 Der Schmerz des Anderen ist nur als anderer Schmerz fühlbar ; auf dem Weg zur Ethik bedeutet sein Anspruch ein Zeigen auf den Anderen.
3.4
Responsivität: Antworten auf Erfahrungen des Unverfügbaren
Ausgehend vom FALL habe ich anthropologische Aspekte des Pathischen diskutiert und dabei Verletzlichkeit als elementares Kriterium einer conditio humana und deren Erfahrungs- und Artikulationshorizonte zwischen Widerfahrung und Leiden aufgezeigt. Verletzlichkeit ist die anthropologische Seite des Pathischen, letztlich eine gegebene Grundbedingung von Religiosität. Damit kann auch ein religionsaisthetisches Modell zur Gestaltwahrnehmung des Pathischen als eine religiöse Wahrnehmungslehre charakterisiert werden – eine Lehre, welche ihre Subjekte und Intersubjektivität nicht ausklammert. Diese 776 Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 77. 777 Fuchs: Leib und Lebenswelt, 78.
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führte zu einer erneuerten Akzentuierung von Erfahrung im pathischen Charakter. Nun ist am Ende des Kapitels nach den Erträgen zu fragen: Was bedeuten diese anthropologischen Einsichten, die sich an lebensweltliche Wahrnehmung rückbinden, für den Umgang mit gelebter Religion? Und auf welches Antwortverhalten zu gelebter pathischer Erfahrung macht der FALL aufmerksam? Wenn der Umgang mit schlimmen Widerfahrnissen, Erfahrungen radikaler Negativität als Scheitern gewertet werden und dieses nach wie vor »das große moderne Tabu« darstellt778, dann ist umso mehr Einhalt dem Verdrängen und Verstecken geboten und zu erkunden, wie Menschen mit dieser Verletzlichkeit umgehen. Im Rahmen meines Forschungsinteresses will ich eruieren, inwieweit mit der Widerfahrung also ein menschliches, weil leibliches Scheitern in Kauf genommen werden muss und inwiefern Widerstandskräfte und Umgangsformen dem entgegenstehen, auf die religionspädagogisch professionelles Handeln hinwirken kann. Anders gefragt: Wenn die intersubjektive phänomenologische Struktur von Pathos und Response für die pathische Erfahrung selbst gilt, inwiefern kommen dadurch auch Aspekte in Sicht, welche die Negativität transzendieren? Wo setzen gesundende, heilende Kräfte an? Und wie wären diese im Kontext eines weiten Verständnisses von Religion zu begreifen? In diesem Zusammenhang kann gefragt werden: Was leistet der FALL für eine Erhebung religiösen Umgangs mit dem Pathischen?
3.4.1 Zur religiösen Be-Deutung von Kontingenzerfahrung 3.4.1.1 Religiöse Erfahrung Es ist deutlich geworden, dass Schmerzerfahrung als die Wahrnehmung von Verletzlichkeit ein in der Intersubjektivität verankertes und damit zwischenleibliches Leidensgeschehen ist. Die Wahrnehmung des Leidens setzt voraus, dass es einen Riss zwischen Erleben und Wahrnehmen gibt, der zum einen jeglicher Wahrnehmung inhärent ist, zum anderen jedoch durch den Schmerz – ein vor der Wahrnehmung liegendes, zutiefst leibkörperliches Widerfahrnis – unterlaufen wird. Schmerz ist in seinem Widerfahrnischarakter das stets Andere, das zugefügt und damit passiv erfahren wird; zugleich ist mit ihm eine ReAktion auferlegt, die auch den Schritt für die Wahrnehmung des Schmerzes ist. Leiden als Schmerzwahrnehmung ist daher der Angelpunkt für das Verhältnis von pathischer Erfahrung und Wahrnehmung des Anderen. Das hat auch 778 Richard Sennett: Der flexible Mensch, 159: »Wie wir mit dem Scheitern zurechtkommen, wie wir ihm Gestalt und einen Platz in unserem Leben geben, mag uns innerlich verfolgen, aber wir diskutieren es selten mit anderen.«
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Konsequenzen für eine phänomenologische Sicht auf die Möglichkeiten und Grenzen, die sich für das Verhältnis von Passivität und Handeln ergeben. Dieser hier aufgezeigte, die Immanenz übersteigende Charakter von Erfahrung legt aus unterschiedlichen Gründen nahe, nach dem Bezug zu Religion zu fragen. Der Ansatz dazu lässt sich mit Waldenfels angesichts der Tatsache, dass Widerfahrnisse Ereignisse sind, die nicht aus der Immanenz kommen, sondern vom Fremden anderen her in die Gegenwart des Lebens einbrechen und dort zu hinterfragen, nachvollziehen. Für dieses Erfahrungsverständnis ausschlaggebend ist das anthropologische wie soziologische kulturelle Motiv, welches zugleich in der Funktionalität von Religion verankert wird: das der »Kontingenz, das die alte umfassende Ordnung mit deutlichem Fragezeichen versieht: alles könnte auch anders sein«.779 Während in der Kosmo-Theologie der Griechen die »alles durchdringende Göttlichkeit des Kosmos«780 entscheidend ist, beginnt mit der Neuzeit die Entzauberung der Welt (Max Weber) und zieht eine Entgöttlichung nach sich. Kennzeichnend für das Motiv der Kontingenz ist die Vergöttlichung des Menschen oder Vermenschlichung Gottes, Überwindung der Grenzen oder unaufhebbare Endlichkeit des Menschen; diesen Rest an Unverfügbarem zu akzeptieren oder Zuflucht zum Trost der Religion, dies als Ausdruck kindlicher Ohnmacht oder als lebensfördernde »Kontingenzbewältigung« zu sehen. Wenn Detlef Pollack der Moderne eine hohes Kontingenzbewusstsein attestiert, das durch eine ebenso hohe Kontingenzbewältigungskompetenz bedingt ist, jedoch ein niedriges Kontingenzerleben781, so wird fallgebunden durch diese Darlegungen pathischer Erfahrung zumindest die gelebte Erfahrung von Unverfügbarkeit – also Kontingenzerfahrung – im wie am Erleben von Menschen nachvollziehbar. Deren Nachvollzug ist an die Erlebensweisen und – auch sprachlichen – Wahrnehmungen von Erfahrung überhaupt gebunden. Pollack schließt, dass als Folge erhöhter Kontingenzbewältigungskompetenz die Sehnsucht nach letzten Gewissheiten nicht frustiert werde, sondern deren Erwartung abnehme.782 Das mag für das Gros und die basale Haltung moderner und nachmoderner Gesellschaft gelten. Der FALL und die Diskussion zeigen: Am Leiden als existenzieller Krankheits-Erfahrung scheint ähnlich wie bei Aspekten der Verlassenheit, der Einsamkeit, dem Vergessen-Werden (Paul Tillich) eine Grenzsituation auf; zuweilen ist Leiden bereits selbst eine Grenzerfahrung, in der das Leben selbst und die Frage nach dem, was hindurch stützt, prägnant wird. Schmerz wird als Kontingenzerfahrung an den leiblichen Konturen menschlichen Lebens in Raum und Zeit und im Kontakt zu je anderen erlebt. In 779 780 781 782
Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 78. A. a. O., 77f. Vgl. Pollack: Rückkehr des Religiösen?, 303. Vgl. ebd.
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den Kontingenzen ist somit die Entzauberung der Welt fehlgeschlagen. Denn das »Wissen darum oder den Glauben daran, dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, die da hinein spielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne«783, bleibt gebrochen. Religiöse Erfahrung ist damit an den symbolischen, kommunikativen Kontakt mit dem je fremden Anderen, an das Durch- und Unterbrechen von Endlichkeit, das Überschreiten von Ordnung gebunden und baut von daher auf einem differenten Lebensganzen auf. Mit Waldenfels, der sich nicht ohne Grund an L8vinas’ Verständnis von Widerfahrnis und Unvorhersehbarkeit anlehnt, lässt sich dazu einleuchtend an der dialogischen Struktur der Responsivität, genauer sogar an dem Paradox des Ausdrucks der Erfahrung ansetzen. Im Verweis auf Husserl ist der Anfang religiöser Erfahrung oft eine stumme Sprache, die zur reinen Aussprache ihres Sinnes zu bringen ist.784 Religiöse Erfahrung ist damit in der responsiven Differenz diejenige Erfahrung, die selbst eine Antwort auf die Frage, das Rufen, das (auch ungesagte) Ansprechen, den Anspruch durch Anderes ist und auf das Antworten angelegt ist.785 Dass Zeigen und Sich nicht Zeigen beide zu dieser Erfahrung dazugehören, qualifiziert religiöse Erfahrung als eine bestimmte Weise der Erfahrung, die als solche der ästhetischen Erfahrung ähnlich ist.786 Als Kontingenzerfahrung jedoch ist die Erfahrung des oder der Einzelnen als Teil des Ganzen, der Unendlichkeit eher im leidvollen Aufscheinen schlechthinniger Abhängigkeit787, in der Unsagbares 783 Weber : Wissenschaft als Beruf, 19. 784 »Die Erfahrung findet ihren Ausdruck also in einem Zur-Sprache-bringen, einem Eingreifen in die Erfahrung. Doch auf diese Weise liefert die Erfahrung nicht bloßes Material für unsere Konstruktion, sondern sie lässt zu, dass die Dinge selbst etwas besagen und dass sie selbst als etwas erscheinen« (Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 76). 785 »Ein schöpferischer Ausdruck, der Erfahrung zu ihrem eigenen Ausdruck bringt, setzt voraus, dass die Erfahrung selbst eine Art dialogische Struktur aufweist. […] sie antwortet auf etwas, sie greift zurück auf etwas, das ihr entgegenkommt. Eine solche Erfahrung wird geweckt, ohne dass die Differenz zwischen eigener Antwort und fremdem Anspruch je getilgt würde. Diese Differenz zwischen dem Was der eigenen Antwort und dem Worauf des fremden Anspruchs nenne ich responsive Differenz. Erfahrung bedeutet somit einen Übergang vom Fremden zum Eigenen über eine Schwelle hinweg. Der Hiatus zwischen Eigenem und Fremdem bewirkt, dass die Sachen selbst nie völlig zur Sprache kommen, dass stets mehr und anderes zu sagen bleibt als das, was faktisch gesagt wird oder generell gesagt werden kann« (A. a. O., 76). 786 Sie gleicht darin der Kunst, die gerade in ihren modernen Varianten darum bemüht ist, Unsichtbares sichtbar, Unhörbares hörbar zu machen, ohne die Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit aufzuheben und ohne das sinnliche Auge und das sinnliche Ohr durch ›Augen und Ohren des Geistes‹ zu ersetzen.« (A. a. O., 77). 787 Darin spiegelt sich Schleiermachers Interesse, die Wechselwirkung von »religiöser Rezeptivität und Spontaneität« neu zu fassen (vgl. Mädler: Sinn und Geschmack fürs Unendliche, 17).
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sagbar wird.788 Im Grundverhältnis von Ethos und Pathos spiegelt sich die Schleiermachersche Religiositätsdimension.
3.4.1.2 Moderne Negation letzter Gewissheiten In diesem Kapitel sind in einem phänomenologischen Verständnishorizont Kranksein, Schmerz und pathische Erfahrung als Erscheinungsformen der Seiten des Lebens, die uns unbedingt angehen (Paul Tillich), unzweifelhaft nachvollziehbar geworden, kommt darin doch insbesondere die existenzielle Seite gelebten Lebens und gelebter Erfahrung als religiöse zum Tragen. In diesen leuchtet auch auf, dass die Empfänglichkeit, die in unmittelbarer Nähe zur schlechthinnigen Abhängigkeit steht, nicht nur lustvolle Seiten genussvoller Passivität hat, sondern entsprechend dem Schwerpunkt der Erfahrungen des Pathischen auch leidvolle, die aber so in einem universalen Zusammenhang stehen. Und im weiteren substanzialen Sinn werden Schmerzerfahrung, Kranksein und andere Widerfahrnisse als »Unterbrechung«789 des Lebens erlebt, deren Funktionalität jedoch als Anspruch daraus erst hervorgeht – die Unterbrechung ist nur dann Unterbrechung, wenn sie nicht Abbruch ist. In unterschiedlicher Hinsicht weitaus schwieriger sind die Fragen zur Funktionalität bzw. Dysfunktionalität von pathischer Erfahrung, weil in ihnen grundsätzlich verschiedene Probleme aufleuchten. Begreift man Krankheit und Schmerz substanzialistisch als Formen des Kontakts mit dem Heiligen und Gottesbegegnung a priori, wird die Frage nach dem Verursacher von Leid unausweichlich. Im späteren theologischen Kapitel wird es u. a. darum gehen, dieser sehr alten Frage und ihrer anthropozentrierten Neuauflagen in einer menschen- und lebenswürdigen Theologie nachzugehen. Nicht minder heikel sind die funktionalistischen Versuche religiöser Sinngebungen, die man als Folge der Entzauberung der Welt begreifen kann. Zu den religionstheoretischen Orientierungen, die diesen Fall betreffen und die bereits im ersten Kapitel ansatzweise dargelegt wurden, gehört für diesen Zusammenhang Hermann Lübbes Religionsverständnis der Kontingenzbewältigung. Lübbe geht davon aus, dass Religion nach der Aufklärung die Funktion des rationalen »Verhaltens zum Unverfügbaren« hat; er greift damit das Religions788 »Das Sichzeigen geht Hand in Hand mit einem Sichnichtzeigen. Vieles, was heute im Bereich der Phänomenologie weiterwirkt, bewegt sich auf der Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Ein solches Denken an der Grenze und ein solches Verweilen auf der Grenze bietet die Möglichkeit, dass der Ruf nach den Sachen selbst fortklingt, nicht indem er ein Bestreben auslöst, vom Eigenen aus das Ganze zu finden, sondern indem er den Anspruch des Fremden im jeweils Eigenen laut werden lässt« (Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 77). 789 Metz: Der Kampf um die verlorene Zeit, 86.
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verständnis Friedrich Kambartels auf790 und spitzt es in einem funktionalen Sinne zu einem Terminus zu, der dem Reichtum der gewachsenen und gegenwärtigen religiösen Kultur eine »Dürftigkeit« entgegensetzt: Religion nach der Aufklärung ist »Kontingenzbewältigungspraxis«.791 Anders gesagt: »Der Zweck [der Religion] ist der der Vergegenwärtigung einer Kontingenz, die in Handlungssinn transformieren zu wollen ersichtlich schwierig wäre.«792 Es handelt sich also um einen Begriff, mit dem deutlich wird, dass es nicht um Ordnungsprinzipien oder um eine sprachliche Begreifbarkeit geht, unter der das Ganze und Absolutum aller Religion subsummierbar wäre; er stellt vielmehr einen Modus dar, in dem Religion als etwas sprachfähig wird. Ohne seinen Rationalitätsbegriff zum Diskussionsgegenstand zu machen, gehe ich davon aus, dass es eine besondere Vernunft ist, mit der Religion wahrgenommen, zur Sprache gebracht, gebraucht und verstanden werden kann. Passend an diesem Religionsbegriff ersehe ich im Zusammenhang, dass mit ihm kein bestimmter Aspekt, aber insgesamt eine sehr weite Funktionalität von Religion benannt wird: Unter dem Stichwort der Kontingenzbewältigung werden nämlich genau diejenigen Elemente der conditio humana angesprochen, die im Sinne der Negation von Verfügbarkeit, Macht und Machbarkeit, Prädiktabilität und absoluter Sichtbarkeit betroffen sind. Insofern basiert auch ein derartiger funktionaler Religionsbegriff auf einer Phänomenologie der Erscheinungsformen eines Verhaltens zum Unverfügbaren, wenn Verhalten mehr und anders sein kann als bewusstes, steuer- und planbares Handeln. Die aufgezeigten Erscheinungsformen des Pathischen jedenfalls sind genau die Elemente einer Kultur, welche Verletzlichkeit als die Erfahrungsebene des Unverfügbaren beherbergen und zur Sprache bringen. Problematisch würde der Lübbesche Begriff, wenn man ihn als inhaltlich nachweisbare Funktionen der Bewältigung im Sinne der Aufhebung von Unverfügbarkeit, Leiden und Verletzlichkeit missverstehen wollte. Wie eine Bewältigungskultur sich bemüht, haben die eingangs beschriebenen Bemühungen zur Krankheits- und Leidensaufhebung und die hier skizzierten Deutungs- und Verhaltensmuster gezeigt. Es geht hier keinesfalls um das Gelingen der Bewältigung im Sinne der Aufhebung oder ähnliche Erfolgsstrategien, sondern die Grenzen von Bewältigung per se werden in jedem Zusammenhang strukturell deutlich. Lübbe greift genau dieses Phänomen auf und kritisiert, humane Re790 Hermann Lübbe zum Protokoll der Meersburger Gespräche vom 17. Mai 1980, vgl Rentsch: Thesen zur Kritik der religiösen Vernunft und vor allem Kambartel: Philosophie der humanen Welt. 791 Lübbe: Religion nach der Aufklärung, 150f. Der gleichnamige Aufsatz erschien in Oelmüller u. a.: Diskurs Religion. Kontingenz ist ein soziologischer Begriff, der auf Luhmann zurückführbar ist: Luhmann: Funktion der Religion. 792 Lübbe: Religion nach der Aufklärung, 156.
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gelpraxis der Kontingenzbewältigung in Handlungssinn zu transformieren.793 Einer »handlungssinnresistenten […] Lebenskontingenz«794, die eine absolute Kontingenz meint im Sinne einer grundlegenden, daseinsindifferenten Unverfügbarkeit, ist nicht beizukommen mit strategischer Kontingenzbewältigung. Lübbe unterscheidet daher zwischen Kontingenzbewältigung und Kontingenzvergegenwärtigung – letztere ist eine religiöse Praxis – und konstatiert zu Recht: »Bewältigte Kontingenz ist anerkannte Kontingenz.«795 Erst als solche ist sie nicht Trost, sondern ermöglicht Handeln. Diese Unterscheidung ist selbst nicht nur an diesem Fall empirisch nachweisbar, sondern steht also solcher auch für die Schere von affirmativen und kritischen Praxistheorien zu Kontingenz. Wie aber kann den Erfahrungen von Kontingenz begegnet werden? Zwischen Anthropodizee und Algodizee verlaufen Diskurse zur Rechtfertigung von Leiden auf der Basis kulturell-religiöser Deutungsweisen von Schmerz und leidvoller Erfahrung; in ihnen spiegeln sich grundsätzlich unterscheidbare Muster des Verhaltens zu Kontingenz. Gesellschaftlich gilt Schmerz zum einen dahingehend als sinnlos, so dass es ihn zu beseitigen gilt. Weite Bereiche der Medizin verschreiben sich auch dieser Aufgabe der Leidensminderung. Diese Haltung leuchtet vor allem dann ein, wenn Schmerz auch eine andere Seite meint, nämlich beabsichtigte Schmerzen, herbeigeführtes Leiden – das betrifft zum einen Situationen, in denen Menschen aufgrund ihrer Verbundenheit zum Leben gewaltsam zu packen sind und auch insbesondere den Bereich bestimmter Gewalt, Erziehung und Folter, die auch nur deswegen greifen, weil das Selbst nicht völlig vom Leib emanzipiert ist. Noch schwieriger ist die Frage, inwieweit damit Sadismus und Masochismus bejaht sind, weil auch der Bereich der irrationalen Schmerzzufügung hier betroffen ist. Damit wird im Blick auf das Pathische jedoch auch die Frage brisanter, inwieweit zwischen Akteuren und Patienten ähnlich wie Tätern und Opfern unterschieden wird, wenn man z. B. das Phänomen berücksichtigt, dass die Zahl der Jugendlichen und auch Erwachsenen steigt, die ein selbstverletzendes Verhalten an den Tag legen.796 In religiöser Hinsicht gesagt: Leben wird vermeintlich dann zum gelingenden Leben, wenn es sich möglichst der Freude, dem Wohlgefallen, der Lebensfreude widmen kann – dies ist aber eine verkürzte Sicht auf das Leben. Vorschnelle, einlinige Logiken zur Erklärung von Schmerz und seiner Genese werden nicht nur theologisch problematisch, sondern sind auch bereits phä793 794 795 796
Vgl. Lübbe: Religion nach der Aufklärung, A. a. O., 165. Ebd. SVV, unter Jugendlichen taucht vor allem das »Ritzen« auf. In der Psychiatrie gilt SVV als Symptom für verschiedene Diagnosen wie Borderline-Erkrankungen, Psychosen, Depressionen etc. und verfolgt somit verschiedene pathologische Intentionen bzw. Funktionen. Vgl. In-Albon: Selbstverletzendes Verhalten.
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nomenologisch nicht haltbar. Einen Hinweis darauf gibt auch die Bemerkung von Dreitzel, dass es kein eindeutiges Verhältnis von Schmerz und Verletzung gebe.797 Es muss einem Schmerz nicht einmal eine Verletzung vorausgehen, umgekehrt gibt es auch Verletzungen ohne Schmerzen etc. Zugleich ist die Frage nach dem Warum und Wofür des Leidens selbst ein Fragephänomen, das im Leben von Menschen auftaucht – nicht erst als philosophische Frage, sondern zuvorderst angesichts eigener Widerfahrungen von Unentrinnbarkeit und Negativität des Schmerzes798 im lebensweltlichen Horizont.
3.4.1.3 Phänomenologische Sinnzuschreibungen: Last, Selbstwerdung und Weltoffenheit In der Phänomenologie findet sich in der Regel eine andere Haltung zu Leiderfahrungen, in je unterschiedlichen Differenzierungen. Hier existieren nicht zuletzt rituelle, religiöse Vorstellungen und Haltungen, gemäß derer Schmerz nicht radikal negiert, vielmehr erduldet und getragen wird im Sinne und als Zeichen progressiver Lebensentwicklung. a. Frederik Buytendijk leugnet den Sinn des Schmerzes selbst zwar ; vielmehr unterbindet seine Auffassung von der grundlegenden Sinnlosigkeit von Schmerz jeglichen Appell an Denken, Fühlen, Wollen. Wichtig ist hier, dass Schmerz nicht nur als Symptom und Warnsystem verstanden wird, sondern Schmerz an sich als Krankheit gilt. Denn leidvoll wird Seelisches da erfahren, wo es in leiblichen Regungen spürbar wird. Er geht zu Recht schon davon aus, dass der Schmerz als Erlebnis – ähnlich wie Hunger, Kälte, Müdigkeit – einen unmittelbaren Einfluss auf das Körpergeschehen ausüben kann. Entscheidend ist dabei, dass der Schmerz »in sich selbst, d. h. als dauerndes Leiden, nur das Erlebnis einer sinnlosen Ohnmacht, eines gezwungenen Dulden-Müssens im Ausgeliefertsein an ein Bohren, Schneiden, Ziehen, Kneifen, Brennen usw. ist. Nichts bricht den Menschen so sehr an Leib und Seele als chronischer Schmerz. Die Sinnlosigkeit des wehrlosen Zurückgeworfenseins auf den eigenen Körper, so dass kein Verhältnis mehr zu ihm gefunden wird, ist eine Situation, die jede Antwort ausschließt. Es liegt dennoch im Wesen des Schmerzes, dass er die persönliche Existenz nicht antastet. Der Schmerz unterbricht nicht das Leben als Person, die persönliche Auseinandersetzung mit ihm.«799 Im Zusammenhang dieses Vortrages steht die vorausgesetzte Möglichkeit psycho-somatisch und biografisch orientierter Medizin, »dass Krankheit und Krankheitsverlauf Ereignisse darstellen, an denen sich die Sinnfrage des Lebens 797 Dreitzel: Leid, 860f. 798 Vgl. Dreitzel: Leid, 863. 799 Buytendijk: Über den Schmerz, 168.
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entzündet« (Mitscherlich). Somit ist »Krankheit im Menschen Ausdruck seiner Weise zu sein« (Mitscherlich). Er geht davon aus, dass der Mensch im Dunkel seiner Schmerzen neue Möglichkeiten und Seiten des Daseins entdeckt – darin liegt schon ein Aufbruch zur Sinnhaftigkeit des Leidens. »Souffrir passe, avoir souffert ne passe jamais – leiden geht vorüber, gelitten haben nie.«800 Alles in allem ist die Sinnfrage auch eine Frage des Maßes: Bezieht man etwa die palliative Schmerzmedizin ein, die sich vor allem auf das Ende des Lebens und die Beschränkung auf die Leidensminderung konzentriert, beschränkt sich die Frage des Sinns von Schmerzen selbst, insofern da von Existenzerhellung zumindest im Blick auf zeitliche und Lebensmöglichkeiten eines Patienten nur sehr begrenzt die Rede sein kann. Insofern ist es wichtig zu wissen, dass es eine sympathetische Komponente des Schmerzerlebens und des Schmerzgedächtnisses gibt: Erst sie ist die Basis des Mitgefühls auch für das Leiden des anderen. b. Mit Thomas Fuchs wird sichtbar : Leben gründet auf Vertrautheit und Selbstverständlichkeit, die wiederum leiblich eingewurzelt ist. Daher gehört es zum Lebendigsein, dass sich genau dieser Grund auch der Klarheit und rationalen Verstehen und Kontrolle entzieht, weil eben darin auch seine Welt- und Zukunftsoffenheit801 und seine Spontaneität liegen. Es ist nun dem neuzeitlichen Menschen schwer, dieses gewisse Geheimnis, die Unwägbarkeit und die Abgründigkeit dieser Existenz nicht im Verborgenen zu belassen, sondern sich ihrer mit Kontrollversuchen zu bemächtigen und sie letztlich herzustellen. »Von einem Sein- und Geschehenlassen des Lebens sind wir heute weiter entfernt als je zuvor. Ihm wieder Raum zu geben, bedarf einer Entscheidung, eines Verzichts. Aber es ginge um einen Verzicht, der nicht aus dem Sollen, sondern aus einer Form der Lebenskunst erwachsen würde. Die Kunst bestünde darin, das Leben nicht so weit der Kontrolle zu unterwerfen, dass es dadurch abgetötet wird. Sie würde das Maß bedenken, das mit unserem Sein als Lebewesen gegeben ist, und daher das Verhältnis von Leben und Wissen, von Spontaneität und Kontrolle nicht aus dem Gleichgewicht geraten lassen. Eine solche Lebenskunst bedeutet ein bewusstes Seinlassen auch angesichts von Eingriffsmöglichkeiten; eine Haltung der Gelassenheit. Sie bestünde nicht zuletzt darin, sich am Leben als einer Gabe zu freuen, ja selbst noch das Sterben als eine Gabe ansehen zu können, nach den Worten des Paulus im Römerbrief (14,7): ›Keiner von uns lebt sich selbst, und keiner stirbt sich selbst.‹«802
Der Situation des Ausgeliefertseins und Angewiesenseins, die hier nahezu auf ein lutherisches Vertrauensverhältnis zurückgreift, wird mit einem gelassenen Vertrauen in das Leben begegnet. c. Gernot Böhme kommt zu einem relationalen Verhältnis von Schmerz und 800 A. a. O., 169. 801 Vgl. Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive. 802 Fuchs: Leib und Lebenswelt, 302.
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Sinn. Ausgangspunkt ist der Leib als eine ästhetisch-ethische Schnittstelle und demzufolge gilt Leibsein als eine Aufgabe. Böhme warnt stets davor, Gegebenes in Gemachtes zu transformieren.803 Krankheit lässt sich als »Lastcharakter des Daseins« formulieren – eine Last, die an der Grenze des Lebens und des Selbstseins sich bewegt.804 Diese Grenze betrifft jeden Menschen und doch manche deutlicher oder radikaler als andere. Gernot Böhmes Begriff des SichAussetzens und Sich-Einlassens markiert die eigentlich notwendige Bewegung und Spannung zwischen Betroffensein und Distanz. Wenn eine Lebenskunst mehr ist als eine Weise des schönen Lebens, bedeutet sie eine Kunst des SichEinlassens auf ein Lebenskonzept, das Fremdheit und ungelebte Facetten des Lebens akzeptiert und nicht auszumerzen versucht. Damit stößt man nicht ohne Grund an die Erfahrungsseite. Zu dieser gehört auch der Schmerz. Böhme sieht im Schmerz in deutlicher Anlehnung an Hermann Schmitz805 »in eins die Erfahrung des unabweisbaren Festgenageltseins und einer Fluchttendenz«.806 In ihr manifestiert sich betroffene Selbstgegebenheit in einer Doppelbewegung des »Sich-Gegebensein in der Weise der Bedrängnis […] und der Befremdung.«807 Er legt Wert darauf, dass man im Schmerz gerade den eigenen Leib als Natur erfährt: »d. h. als das befremdlich Andere, das wir aber selbst zu sein haben. Schmerz ist das Grundphänomen betroffener Selbstgegebenheit und damit auch der Anfang des Sich-Findens.«808 Bemerkenswert ist die Gegebenheit der Autonomisierung des Schmerzes. Auch äußere Einwirkungen und Widerfahrnisse speichert der Körper. Er macht nicht nur die Grenzen des Selbst als »principium individuationis«809 bemerkbar, sondern entwickelt sie auch umgekehrt zu einem Teil des Selbst. In Autoaffektionen z. B. macht sich der Leib den Schmerz so zueigen, dass er ihn quasi selbst hervorbringt, etwa in chronischen Schmerzen oder in Phantomschmerzen. Sicher ist diese Positivierung des Schmerzes nicht 803 Vgl. Böhme: Einführung in die Philosophie. 804 Böhme: Leibsein als Aufgabe, 235. 805 »Diese tiefere Leistung des Schmerzes besteht darin, in der Weise vereitelter Abkehr Gegenwart zu präsentieren (§ 21), die Enge des Leibes (§ 48a). Als Weise der Artikulation der Enge des Leibes ist der Schmerz zunächst das Band, das durch Spannung Leibliches zur Einheit des Leibes zusammenhält (§§ 49, 54, 74), darüber hinaus aber ein Bürge der fundamentalen Prägungen, auf denen unser Leben beruht: der Individuation, des Daseins, der vom Ich gestifteten Einheit des Bewusstseins. Er markiert das Hier und Jetzt.« (Schmitz: Der Leib, § 75c Wollust, Angst und Schmerz in teleologischer Sicht, 338). 806 Böhme: Leibsein als Aufgabe, 84. 807 Ebd., weiterhin: » Der Schmerz springt mich an wie ein fremdes Tier und doch mit dem unabweisbaren Imperativ, dass ich, was mir im Schmerz gegeben ist, bzw. der Schmerz selbst bin und zu sein habe. Zugleich rührt sich in der unausweichlichen Getroffenheit durch den Schmerz die Tendenz, ihm zu entfliehen, sich von ihm zu distanzieren, es rührt sich im Aufbruch das Ich-Selbst« (H.i.O.). 808 A. a. O., 95. 809 Schmitz: Der Leib, bes. § 6.
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zu verwechseln mit einem Masochismus: Dennoch verleiht sie dem Schmerz hier einen Sinn, sich dem Sich-Spüren und der conditio humana zu stellen. Schmerz hat eine Art Kontinuum, das sich sowohl zeitlich – von punktuellem bis hin zu dauerhaftem, chronischem – Ausmaß erstreckt, ebenso in der Intensität. Daher kann Schmerz auch umschlagen vom besonderen Spüren zur Ich-Verleugnung und -zerstörung bzw. Apathie, die vor genau dem Schmerz schützt. Schmerz hat dort einen Sinn, nicht weil er zu höherem Sinn und Erkenntnis beflügelt, sondern »weil er als Faktum den Ernst des Daseins bestimmt.«810 Die Positivierung von Schmerz meint eine grundlegende Schmerzbereitschaft, die Böhme für eine Ethik des Schmerzes voraussetzt. Für Böhme signalisiert Schmerzerfahrung eine der wichtigsten Instanzen »betroffener Selbstgegebenheit«811, die auf der einen Seite zu Emanzipation führt, auf der anderen Seite das Band garantiere, welches die Person mit Sachverhalten zusammenhalte. Damit ist also durch die Schmerzbereitschaft eine gewisse Souveränität des Empfangens gegenüber Widerfahrnissen und eine Existenzvergewisserung in Empfänglichkeit angesprochen. d. Eine aus dieser Lebenshaltung erwachsende, an Empfänglichkeit anknüpfbare Perspektive auf diese Frage wirft Boris Wandruszka auf. Die Rechtfertigung von Leiden und seiner passiven Erduldung oder deren Leugnung geschieht wie Leiden selbst auch nicht kontext-, situations- und interesselos. Von daher ist das Fragen nach Sinn und Bedeutung des Leidens auch weder ohne die Kontexte zu verstehen, in denen Leid geschieht sowie Leiden erlebt und wahrgenommen wird, noch ohne die betreffenden und betroffenen Personen, die Schmerzen haben, im Schmerz leben und in einen Leidenskontext eingebunden sind. Wichtiger noch: Und sie darf auch nicht kritiklos und ohne Blick auf die gelebte Erfahrung Leiden glorifizieren. Mit Lübbe sieht man, dass als Grundlage für das religiöse Handeln eine Haltung der Anerkennung eklatant ist: »Im Akt der Anerkennung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten ändern sich nicht diese, vielmehr ändern wir uns, nämlich in unserem Verhältnis zu diesen Abhängigkeiten.«812 So ist ersichtlich, dass die Responses auf das Pathische nicht nur davon abhängig sind, wie Menschen sind, sondern sie formen umgekehrt auch den pathischen Zugang zur Welt. Fakt ist: Eine Anthropologie und Philosophie, die den Leib wertschätzt, kommt nicht umhin, Schmerz als verleiblichtes und verdichtetes Leiden wahrzunehmen. Eine solche Wahrnehmung ist gleichzeitig eine Anerkennung der Ungewissheit des Lebens in dessen Widerfahrnischarakter. Eine Würdigung auch des beschädigten, verletzlichen Lebens rührt damit nicht in erster Linie aus 810 Böhme: Leibsein als Aufgabe, 108. 811 Ebd. 812 Lübbe: Religion nach der Aufklärung, 167.
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psychologischen Verständnissen von Mitleid im Sinne von Empathie und Mitgefühl, sondern von der grundlegenden phänomenologischen Gegebenheit von Erfahrungen der Unverfügbarkeit. Trotzdem wäre es aus der Sicht des Lebensalltags dürftig, dabei stehen zu bleiben. Konsequenterweise würde eine radikal passive Kontingenzanerkennung bedeuten, dass man weder Medizin noch Religion (in funktionaler Hinsicht) noch Pädagogik benötigte, um Kontingenzprobleme überhaupt zu bearbeiten. Sowohl die aufgeführten Muster zur Schmerzdeutung und -bewältigung als auch das intra- wie intersubjektive Antwortprinzip von Waldenfels legen aber nicht nur lebensweltphänomenologisch, sondern auch in religiöser Hinsicht andere Erkenntnisse und auch eine andere Haltung nahe. Von hier aus ist von allen Schmerzdeutungsmodellen aus nachzuvollziehen, dass Religion angesichts der Kontingenz in einer Praxis der Anerkennung nicht auf eine Rationalität im Sinne von Metaphysik oder Moral verkürzt werden darf. Vielmehr spielt die leiblich-intersubjektive Seite auch für die religionstheoretische Qualität eine entscheidende Rolle. Es geht um ein Verständnis von Religion als Leben, in dem die Bindungen am Anderen stark wird – nicht unabhängig von der subjektiven Wahrnehmung und auch nicht unabhängig von der Antwort auf die Herausforderung. Hierin wird Religion zur Religiosität als gelebter Haltung und kulturellem, symbolisch-rituellem Verhalten zum Unverfügbaren.813
3.4.2 Am Gegenpol der Vulnerabilität: Resilienz Nachdem ich beleuchtet habe, wie Linien von Passivität das Verständnis von gelebter Erfahrung im Blick auf Widerfahrung und Leiden vertiefen, ist es an der Zeit für eine Betrachtung des Antwortverhaltens. Der Begriff und die Ingebrauchnahme von Resilienz als Konzept fußt auf dem Konzept salutogenetischen Denkens nach Aharon Antinivsq%, demzufolge Gesundheit als Gegenpol zu Krankheit verstanden wird.814 Resilienz ist die »psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychischen und psychosozialen Entwick813 Dass diese wiederum in der Veränderung der Gesellschaft andere Konturen und Symbolisierungen zum Umgng mit Unbegreiflichem annehmen, bezeugt Geertz: Religion als kulturelles System. 814 Vgl. Antinivsq%: Salutogenese – zur Entmystifizierung der Gesundheit. Während in den USA bereits professionelle Health Educators am Werk sind, finden im deutschen Sprachraum zumindest Entwicklungen von Gesundheitserziehung statt. Die angloamerikanische Bezeichnung der Health education ist enger, direktiver und auch technokratischer. Die AutorInnen des Handbuches gehen damit pragmatisch um, einigen sich auf den Begriff der Gesundheitserziehung / Health Education. Vgl. Wulfhorst / Hurrelmann: Handbuch Gesundheitserziehung, 24.
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lungsrisiken«815 ; sie gilt als »dynamischer bzw. kompensatorischer Prozess, positiver Anpassung bei ungünstigen Entwicklungsbedingungen und dem Auftreten von Belastungsfaktoren.«816 Dies ist möglich im Sinne eines Stadiums des (zumindest) vorübergehend gelungenen Gleichgewichts zwischen Risikound Schutzfaktoren bei der Auseinandersetzung mit äußeren und inneren Lebensanforderungen. Resilienzforschung orientiert sich salutogenetisch nicht an Lösungen für Probleme, aber auch nicht an Defiziten, an denen Menschen scheitern, die sie nicht bewältigen. Vielmehr geht es dabei um die Ressourcen und Schutzfaktoren, deren Muster und Strategien, die zur Bewältigung schwieriger Lebensumstände und Lebenslagen verhelfen. Dies wurde in Basisstudien der aus der Entwicklungspsychologie resultierenden Resilienzforschung aufgenommen, die insbesondere die Bedingungen und -einflüsse von Kindern untersuchen, welche Risikolebenslagen erfolgreich gemeistert haben.817 Insofern ist also die Forschung hierzu evaluativ an bereits erfolgten Stärken ausgerichtet. Statt die Risikofaktoren zu bekämpfen, werden diese als gegeben hingenommen; dafür kommen jedoch Ressoucen im Interesse einer Stärkung der Widerstandsfähigkeit in den Blick. In den moderneren Studien geschieht dies unter Berücksichtigung der Wechselwirkungsprozesse von Risikofaktoren und Schutzfaktoren. Wichtig ist als Resultat der Erforschung, dass es sich dabei nicht um genetische Faktoren oder aber überdauernde Persönlichkeitsmerkmale handelt; Resilienz ist vielmehr ein hinsichtlich der Entwicklung sowie abhängig von sich verändernden Umständen und Situationen dynamischer, zuweilen phasenartiger Balanceprozess, der interaktiv Risiko- und Schutzfaktoren gewichtet. Vorausgesetzt wird dabei allerdings auch ein abgeschwächter Vulnerabilitätsbegriff, wie er bereits aus der Medizin bekannt ist – Vulnerabilität gilt es hier durch »Invulnerabilität« zu bekämpfen.818 Dafür sind Schutzfaktoren beschreibbar, die psychische Störungen oder Entwicklungsunangepasstheiten verhindern oder abmildern und die Chancen auf eine positive Entwicklung erhöhen.819 815 Wustmann: Resilienz, 18. 816 Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse: Resilienz, 13. 817 Zu den berühmtesten Studien gehören Emmy Werners Kauai-Studie, welche einen kompletten Geburtsjahrgang 1955 der Hawaii-Insel über etliche Jahrzehnte hinweg begleitete. Unter den in den Stichproben unter Armut, psychischer Erkrankungen und familiären Schwierigkeiten lebenden Menschen befand sich in etwa ein Drittel, das trotz dieser Risikobedingungen ein gesundes und nicht verhaltensauffälliges Leben entwickelten; sie waren »trotzdem« optimistisch, fanden eine erfüllende Arbeit, gründeten Familien etc..Vgl. Werner / Smith: Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz; einen Überblick der Studien geben Bengel u. a.: Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen, 29–32; Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse: Resilienz, 13–18. 818 Vgl. Kap. 3.2.4. 819 Zu solchen empirisch belegten Schutzfaktoren zählen personale wie soziale Ressourcen.
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Die als unterschiedlich bezeichneten Resilienzmodelle (variablenbezogener Ansatz, personzentrierter Ansatz, entwicklungspfadbezogener Ansatz) akzentuieren dabei zwar unterschiedliche Faktoren des Subjekts, verzichten jedoch allesamt nicht darauf, Situation, Abwägungen und die Entwicklung des Selbst einzubeziehen. Dabei ist auch deutlich, dass zu den Schutz- oder Resilienzfaktoren nicht nur kognitive Fähigkeiten und emotionale Stabilität zählen, sondern auch körperliche Gesundheitsressourcen, soziale Bindungen und Kompetenzen sowie Motivationen bzw. Religiosität.820 Für meinen Zusammenhang ist zu bedenken: Ist Resilienz tatsächlich eine individuelle, im einzelnen Menschen subjektiv ausbildbare Kompetenz zur Kontingenzbewältigung? Dafür sind mehrere Dinge ausschlaggebend: Zum einen ist die Kontingenz, die, aus dem Fall hervorgehend, hier als verstärktes Risiko anzusehen. Zum anderen bleibt die Frage nach dem Modus und Habitus der Bewältigung. Inzwischen ist ja bereits deutlich geworden, dass es ohne eine Anerkennung von Kontingenz nicht geht – aus der Perspektive des Resilienzkonzepts erscheint jedoch das Moment der Bewältigung in einem anderen Licht: Resilienz fasst die Prozesse, die Erfahrungen des Pathischen personal bewältigen, ohne sie komplett zu bewältigen oder gar auszumerzen. Die schlechthinnige Abhängigkeit wird also nicht geleugnet, jedoch wird ihr mit Prozessen, Handlungen, Strategien begegnet. Entscheidend ist, dass Resilienz als Prozess nicht die Vulnerabilität, wie wir sie als zum Menschsein a priori zugehörig entfaltet habe, infrage stellt, auch wenn die Titulaturen mancher Untersuchungen dies suggerieren könnten.821 Trotzdem bildet Resilienz einen Gegenpol, der gerade angesichts einer religiös nicht unüblichen Konzentration und Verherrlichung von Leid und Negativität unbedingt notwendig ist. Im Folgenden soll das Passungsverhältnnis des eher psychologischen Konzepts von von Resilienz zu einem phänomenologischen Konzept des Antwortens beschrieben und geprüft werden.
3.4.3 Antworten. Grundelemente leiblicher Kontingenzbegegnung Wie ist das Verhalten zu Kontingenz im Rahmen der Erfahrungen des Pathischen empirisch beschreibbar? Und wie wird dieses leiblich-intersubjektiv greifbar? Kriterium für eine »protektive Wirksamkeit« gelten: »1. eine risikoerhöhende Gefährdung liegt vor, 2. Risikoeffekte werden abgepuffert – das Risiko für eine Fehlentwicklung verringert sich und 3. der risikomildernde Faktore hat bereits zeitlich vor dem risikoerhöhenden Ereignis bestanden und beeinflusst jetzt dessen Auswirkung.« (Ball / Peters: Stressbezogene Risiko- und Schutzfaktoren). 820 Vgl: Fröhlich-Gildhoff / Rönnau-Böse: Resilienz, 36–39. 821 Vgl. die Bielefelder »Invulnerabilitätsstudie« in: Bengel u. a.: Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen.
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Inwieweit handelt es sich dabei um eine Weise der Anerkennung? Ich begebe mich damit auch auf die Suche nach Stärkung von Lebensfähigkeit und nach einer lebensbejahenden Religiosität: Worin liegen Ressourcen gelebter Religion mit erlebter pathischer Erfahrung? Wer etwas tut, handelt. Handeln ist in der Regel das Gegenteil von Nichtstun. Dass in der neueren Philosophie zwei andere Aspekte zum Tragen kommen, welche der Aktion und Performativität kritisch entgegenstehen, markiert nicht nur den Zeitgeist der kulturwissenschaftlichen Entwicklung, sondern auch den Einbezug einer spezifischen Form von Religiosität.822 Auch die Soziologie ist in handlungstheoretischen Reflexionen weiter gekommen.823 Im Blick auf unseren Zusammenhang kommt das Interesse zum Tragen, phänomenologisch-empirisch beschreibbar zu machen, wie Erfahrungen der Unverfügbarkeit begegnet wird, so dass auch die Grenzen von deren Sagbarkeit berücksichtigt werden. Damit kann auch geklärt werden, welchen Einfluss Passivität auf das Handeln nimmt. An dieser Stelle erinnere ich noch einmal an den FALL: Das Verhalten, das die beteiligten Personen des FALLs an den Tag legen, hat unterschiedliche Facetten, die sowohl die Subjekte als auch intersubjektive Elemente betreffen. Es wäre gut möglich, diese als psychologische und soziale Reaktionsmechanismen zu identifizieren. Dabei springen interpretatorisch Strategien zwischen Verdrängung, Bewältigungsversuchen und schlichter Annahme zum Tragen. Insofern bildet in der Tat die Kategorie der Kontingenzbewältigung unter psychologischem Vorzeichen das Gegenstück zur Kontingenzannahme bzw. -anerkennung. In der Bearbeitung des FALLES ist sehr ersichtlich, dass die Umgansgformen, die auf Bewältigung zielen können, diese jedoch phänomenologisch kaum erreichen können, auf der Basis intersubjektiv-leiblicher Konzepte verständlich werden. Insofern geht Kontigenzbewältigungskompetenz stark einher mit partizipativen Antworten – mit Umgangsformen, die Kontakt, Begegnung, Aufmerksamkeit und gestalteten Umgang ermöglichen. Es geht also darum, diejenigen phänomenologischen Elemente aufzudecken, die nun in der Nachzeitigkeit des Pathischen eine zweite Ordnung der Responses betreffen. Es lohnt sich eher die Frage: Mit welchen phänomenologischen Kategorien wird Kontingenzanerkennung fassbar? Aus ihnen lassen sich dann auch ethische Grundlagen für eine professionelle Haltung ermitteln. Die Strukturen 822 Zum einen die Wertschätzung einer radikalen Passivität als passive Potenz bei Giorgio Agamben, der ein Ethos der Zurückhaltung beschreibt (Vgl. Alloa / Lagaay : Nicht(s) sagen, 265–283) , zum anderen das Problem der delegierten Passivität, nämlich des Leiden Lassens in einer Form von Stellvertretung für das Handeln des eigenen Subjekts, das von Slavoj Zˇizˇek und anderen als »Interpassivität« bezeichnet wird (Zˇizˇek: Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität). 823 Vgl. insbes. Joas: Die Kreativität des Handelns.
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zwischenleiblichen Antwortens sollen als metaethische Grundlagen dargelegt werden. 3.4.3.1 Zur Dialektik von Pathos und Response in ethischer Hinsicht Geht man zu den Grundpfeilern des Ansatzes von Waldenfels, nun in ethischer Hinsicht, zeigt sich: Das Begriffspaar von Pathos und Response bringt zum Ausdruck, was er als Diastase anmerkt: Worauf wir antworten, geht uns in zeitlicher Verschiebung – und vermutlich auch räumlicher Distanz – immer voraus824 ; wir können nicht anders als zu spät sein. Zugleich wird überhaupt im Antworten auf das, was uns trifft, erst jenes Be-Treffen deutlich und holt uns ein, wird also als solches pathisch erfahrbar. Diastase ist folglich »die zeitliche Verschiebung, die aus der Vorgängigkeit des Pathos und der Nachgängigkeit der response erwächst und den homogenen Dialog in einen heterogenen Dia-log zerteilt […] ein originäres Auseinandertreten, das zwar einen Zusammenhang erzeugt, aber einen gebrochenen.«825 Hier macht sich der Spalt bemerkbar, der »sich nicht schließt und deshalb nach erfinderischen Antworten verlangt«.826 Denn »Widerfahrnisse geben nicht nur zu denken, sie nötigen auch zu denken.«827 Genau dieser Spalt ist für das Widerfahrnis so wichtig wie die Perspektive für die Wahrnehmung. Pathos und Response haben damit keine chronologische Logik. Die zeitliche Verschiebung verläuft demgegenüber quer durch diese Struktur ; es handelt sich dabei um »eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung, eben um eine genuine Zeitverschiebung«: Ähnlich wie der Leib eine Umschlagstelle ist828, lässt sich das Pathos nicht als eine Beigabe begreifen, ein »etwas, das wir meinen, verstehen, beurteilen, abwehren oder begrüßen, sondern es bildet den Zeit-Ort, von dem aus wir all dies tun, indem wir darauf antworten.«829 Damit ist auch die Sinnhaftigkeit nicht sofort gegeben und befragbar, sondern in diesem Hiatus, den Waldenfels als Diastase bezeichnet, treten Ereignis, Widerfahrnis und 824 In Anklang an Foucaults Diktum des Antwortens von woandersher. »Ich spreche hier, als leiblich situiertes Wesen, doch spreche ich von anderswoher.« (Foucault: Le visible et l’invisible, Frz. und Dt., 198; zitiert nach: Waldenfels: Phänomenologie der Erfahrung, 81) Was sich unserem Blick entzieht, ist ein »Unsichtbares dieser Welt« (Merleau-Ponty : Das Sichtbare und das Unsichtbare, 198): »Der fremde Anspruch, der sich unserem Blick und Zugriff entzieht, beginnt bereits in der schlichten Wahrnehmung, in der uns etwas auffällt, im Denken, in dem uns etwas einfällt, im Begehren, das uns umtreibt. Der fremde Anspruch macht sich störend und beunruhigend bemerkbar, das Fremde kann man als Störenfried par excellence bezeichnen« (81). 825 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 49. 826 Ebd. 827 Ebd. 828 Vgl. Husserl: Hua IV, 160f, 286. 829 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 50.
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Sinngabe auseinander.830 Der »Spalt des Unmöglichen« tritt als gelebte Möglichkeit zutage.831 Zur Erfahrung gehört das Ordnen: Das, was uns widerfährt, wird und muss in einer Ordnung eingepasst werden, auch wenn es genau diese Ordnung erst einmal erschüttert, wenn eine Welt zusammenbricht, wie es scheint. Dennoch: Alles Sagen, Beschreiben, Expredieren, Bestimmen, Erklären und Beurteilen fällt mit dem Ereignis des Widerfahrnisses auseinander. Dieses Pathos bildet einen nicht zu überbietenden und nicht zu verhindernden Überschuss, der »das Regelwerk unterbricht und auf diese Weise das Ereignis dekontextualisiert. Un-mittelbar ist es nur, indem es Vermittlungen durchbricht.«832 Um solche Einbrüche des Pathischen, passionate involvements, zu thematisieren, braucht es eine »responsive Epoch8 bzw. eine responsive Reduktion, mittels derer sinnhafte, regelgeleitete und geltungsrelevante Äußerungen zurückgeführt werden auf das, worauf sie antworten.«833 Waldenfels argumentiert mit einer normativen Haltung nach L8vinas, dass das (drohende!) Verschwinden – und vermutlich auch Verstummen und Verdrängen – des Sagens nur aufgehalten werden kann durch eine Art des Gegensagens, eine Negativität in vielfachem Sinne: ein einsetzendes Wiedersagen (redire) und Ent- oder Widersagen (d8dire). Damit macht er sprachphilosophisch auch noch einmal klar, dass hier nicht Sagen und Nicht-Sagen auseinanderfallen, sondern das Pathos »im Logos selbst am Werk« ist.834 Mit diesem Pathosverständnis ist eine Grundlage des Antwortens geschaffen, welche eine Rechtfertigung des Verstummens und Verschweigens, die gerade in dem Bereich des Traumas massivste Niederschläge gefunden hat, aufhebt. Die Fixierung auf Widerfahrnis und entsprechende Antwortblockaden manifestieren genau dies, und Waldenfels sucht die Verharmlosung von Erfahrung, ihrer Pseudorationalisierung, einseitigen und scheineindeutigen Moralisierung – und Funktionalisierung! – aufzubrechen. In unserem Kontext ist hier der Punkt aufzumerken, weil dies gängige wissenschaftliche und schulpraktische Praxen in eins betrifft. Im Übrigen ist in philosophischer Hinsicht mit diesem theoretischen Ansatzpunkt selbst eine Unterbrechung geschaffen für gängige Handlungstheorien, die tonangebend sind. Im hiesigen Zusammenhang wird aber auch das Fremde, in diesem Falle unliebsame Existenzielle, zu befragen sein: Inwieweit wird Fremdheit sonst mit Macht und Bemächtigung, Ent- und Aneignung und dem Gegenteil der Auslieferung gedacht und gelebt? Waldenfels tritt, wie beschrieben, dafür ein, das 830 831 832 833 834
Vgl. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, 228. Vgl. Waldenfels: Gelebte Unmöglichkeit. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 51. Ebd.; vgl. ders.: Antwortregister, 195. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 52.
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Fremde vom Pathos her zu denken »als Beunruhigung, als Störung, als Getroffensein von etwas, das sich niemals dingfest und sinnfest machen lässt.«835 Denn Pathos – und hier stellt sich Waldenfels erstaunlicherweise in die Nähe der radikalen Empiristen wie William James und Henri Bergson, auch L8vinas und Deleuze rechnet er dazu – »ist nicht bloß das Unwillentliche, sondern das nicht Wollbare. Philosophisch betrachtet ist Fremdes etwas, das sich inmitten aller Ermöglichungen, seien sie persönlich-dispositioneller, historisch-kultureller oder auch transzendentaler Art, als Un-mögliches erweist, als Erschütterung oder Infragestellung vorhandener Möglichkeiten.«836 Im Kontakt wird jedoch der Fremde zum passiblen Anderen. Auffallend ist zum einen die Sorge, die daraus erwächst, sich der schweren Krankheit zu stellen. Diese betrifft im FALL des kranken Schülers seine Zukunft, also die erwarteten, befürchteten Einschränkungen seiner Weltoffenheit und die Not der Abhängigkeit. In Bezug auf die anderen begegnen diese der Sorge um Leben und den möglichen Verlust des Kindes bzw. Schülers. Damit kommt die Kategorie der Begegnung in die Überlegungen gelebter Gegenseitigkeit. Ausgehend davon lässt sich genauer fokussieren, wie die Aufmerksamkeit auf das Phänomen und auf die Dynamik fällt – inwiefern es sich dabei um gerichtete oder fallende, eher passivische handelt. Insgesamt kann beobachtet werden, dass dies nicht (nur) kognitive Strategien oder Gedankenschlüsse sind, sondern dass sich in einer Situation alle Beteiligten in einer bestimmten Leiblichkeit zu dem Kranksein antwortend verhalten. 3.4.3.2 Begegnung und Wahrnehmung. Zur Intersubjektivität gelebter Erfahrung. Eine Kategorie, welche die Schmerzerfahrung umgreift, ohne sich ihr völlig hinzugeben und ohne in allmachtsillusionäre Bemächtigungsversuche zu verfallen, ist mit der Begegnung gegeben. Nicht ohne Grund ist diese Größe auch in vielen religiösen, humanistischen und psychologischen Konzepten maßgeblich geworden, da sie ein Grundmodell für Beziehung, Kontakt und letztlich auch für Bildung bietet. Hier will ich ausgehend von Frederik Buytendijks Ausführungen und unter Einbezug anderer Konzepte den Charakter der Begegnung837 im
835 A. a. O. 836 A. a. O.. Vgl. die Passive Potenz, die Giorgio Agamben wieder aufnimmt. 837 Buytendijks Interesse im Anschluss an Viktor von Weizsäcker und Viktor Emil von Gebsattel ist eine Konturierung des Humanen in Differenzierung zum Tierischen. »Das Gemeinsame dieser Versuche ist die Überzeugung, dass das Menschliche in der Natur präfiguriert, vorabgebildet, erscheint. Das gilt für die Leistung und das Spiel, den Geschmack, das Lächeln, das Leiden und die Freiheit. Die Fundamentalprinzipien des Lebens, so wie sie
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Blickwinkel der Antwort näher erläutern und insbesondere auf den Kontakt mit weniger Greifbarem, Nicht-Personalem beziehen. Dabei geht es um Grundlagen für eine intersubjektive Lebensform.838 Wo man sich begegnet, trifft man aufeinander ; die Begegnung verändert das Sosein. Jüdische Wurzeln dieser anthroposozialen Größe sind ebenso mitprägend wie damit in Zusammenhang stehende psychologische Aspekte. Begegnung ist eine sich selbst übersteigende Situation, in der sich der oder die andere in seiner Verhülltheit, Unbestimmtheit und seiner in der Freiheit verwurzelten Existenz offenbart – und zwar gebunden an eine Rollenübernahme. In der Selbst-Auslieferung, der Einladung und Aufforderung, in der Geste, Gebärde und Mimik, in dem Blick und in der ganzen leiblichen Erscheinung kommt der Ausdrucksgehalt des eigenen und fremden Leibes in einer bestimmten Grundform zum Entwurf.839 Buytendijk beschreibt die Begegnung als eigentliche Konstitution des Menschlichen.840 Hier führt er Weizsäcker weiter : Erst in der »persönlichen teilnehmenden Begegnung mit Begegnungen« an der Teilnahme am Spiel des Lebens kann den Erscheinungen Sinn abgewonnen werden. Begegnen kann man nur, indem man die Begegnung wählt und sich einem vorgefundenen – objektiven – Sinn fügt. In diesem zeigt sich der responsive Charakter der Begegnung, in welcher der begegnete Mensch von einer Frage angetroffen wird: »Er erwartet eine Antwort, auch wenn diese ausbleibt.«841 Alles wirkliche Leben ist Begegnung, bekräftigt auch Martin Buber.842 Eine Form der Begegnung ist Wahrnehmung, da in ihr ein reziprokes Ver-
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sich im Bereich des Tierischen auswirken, erlangen einen völlig neuen Sinngehalt im Gefüge der menschlichen Existenz« (Buytendijk: Das Menschliche, VIII). Vgl. Buytendijk: Phänomenologie der Begegnung; hier entfaltet er, was man ein Sein in Bezogenheit bzw. ein Leben in Intersubjektivität bezeichnen könnte. Vgl. a. a. O., 60f. »Im Seinsverhältnis, das Dasein mit begegnendem Menschen verbindet, in dieser Verbindung wird das eigentlich Menschliche in der Begegnung ermöglicht« (a. a. O., 62). Er orientiert sich an sich Ludwig Binswanger, Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger, Romano Guardini. Dies geschieht in einer phänomenologischen Haltung der Einklammerung: »Wir sind der Meinung, dass jede konkrete Begegnungsform erst in der Transzendenz der mitvollzogenen Begegnung durch das ›Wagnis der Daseinserkenntnis‹ psychologisch erkennbar ist – fußt auf Ambivalenz der psychologischen Grundhaltung, die auf das Faktische und das Ontische gerichtet ist.« (a. a. O., 66.) Der »Psychologe kann Menschen nur kennen, wenn er ihm wirklich ›mit ganzem Herzen‹ begegnet, aber er soll ebenso bestimmt diese Kommunikation in der Reflexion über sie verneinen, indem er ihre Realität einklammert. Die phänomenologische Methode fordert eine gleiche Haltung allen Phänomenen gegenüber. Wir müssen also auch der Begegnung begegnen und zwar im Sein ihrer Erscheinungen« (a. a. O., 67). Vgl. Buber : Begegnung, 15.
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hältnis zu Mensch und Welt aufgebaut wird843 ; in ähnlicher Weise ist damit auch ein Kontaktmodell der Gestalttheorie und Gestalttherapie inhärent.844 Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Bewegung haben je ein Verhältnis zueinander – ein besseres Wort ist hier »Umgang«.845 Basis für alle Begegnung ist leibliches Dasein846. Da der Mensch in seiner Leiblichkeit nicht klar und eindeutig ist847, erfährt er in der Begegnung »das Geheimnis der vorhandenen Abwesenheit und der abwesenden Vorhandenheit des Anderen.«848 Damit wird die Begegnung nur wirksam im »Mitvollzug des Begegnens«849. Menschliche Begegnung ist rezi843 So auch die Auseinandersetzung mit Erwin Straus und in Anlehnung an Viktor von Weizäscker : »Nicht nur das Empfinden, im Sinne Erwin Straus’ als ein Erleben, Vernehmen, Einfühlen, sich Versenken, ist als jenes reziproke ›Verhältnis‹ zu den Dingen verstanden, das ein Begegnen heißt. In der Konkretheit der Existenz wird – wie v. Weizsäcker nachgewiesen hat – jede gegenständliche Wahrnehmung, und zwar in ihrer unlöslichen Verbindung mit der vorsätzlichen Bewegung, erst aus einer produktiven Begegnung des Menschen mit seiner Umwelt vollzogen. Nach Weizsäcker hat Wahrnehmung im täglichen Leben die Möglichkeit, sich als gegenseitiges Verhältnis zu konstituieren« (Buytendijk: Phänomenologie der Begegnung, 71). Für Wahrnehmung ist Erleben gefragt – Dinge haben »Eigensinnigkeit«: »Auch die Dinge zeigen sich, entziehen sich, kommen uns entgegen, treiben ihr Spiel mit uns – können uns also begegnen.« (71) Die Genese von Begegnung ist entwicklungsphänomenologisch zu erschließen. Es resultieren erste menschliche Begegnungen aus der Daseinsform des Kindes, seinem spielenden Verhalten und der Genese der dynamischen Begegnungen: Daher ergeben sich auch zusammenhängende Probleme der Fremdwahrnehmung, des Ausdrucksverständnisses und der Nachahmung. 844 Vgl. z. B. Walther : Gestalttheorie und Psychotherapie: Ein Beitrag zur theoretischen Begründung. 845 Buytendijk: Phänomenologie der Begegnung, 72. 846 »Die Unsicherheit in der Vertrautheit, die Entfremdung in der Anwesenheit, die Verborgenheit in der Offenbarung, die Leere in der Fülle, die sich in den Begegnungen bemerkbar machen, […] sind erst bemerkbar, weil jeder Mensch nie einfach und eindeutig da ist, wie ein Ding, eine Pflanze oder ein Tier, sondern seine Leiblichkeit – als Vermittler seines Inder-Welt-seins und als Situation der eigenen Existenz – antrifft und entwirft und in diesem Entwurf seines Leibes sich erst vergegenwärtigt für andere und für sich selbst« (a.a.O, 83). 847 »In der Begegnung – und die Nachahmung eines anderen ist wie das Zu-lächeln, das Anblicken, das An-reden nur ihre Bestätigung – bin ich nicht nur mein Leib, sondern ich habe meinen Leib und zwar in seiner Beseeltheit als unvollendet. Der andere ist das daseiende Komplement meines Daseins…« (a. a. O., 81f). Vorbedingung der echten Nachahmung ist die Reziprozität des Körperschemas. Das Kind entdeckt die Anwesenheit des Mitmenschen zuerst in unmittelbarer Begegnung, dann mittelbar in sinnlichen Eindrücken, Signalen, Geräuschen. 848 A. a. O., 83ff., in Bezug auf Gabriel Marcel. Das bezieht sich auch auf ontologische Beziehung von Leib und Vergegenwärtigung, so die Beziehung von Gott und Tempel: Gott west im Tempel – präsentierendes Geschehen. »Anwesen« ist ein Modus des Sich-Vergegenwärtigens: »das Sein einer geschehenden und nie ganz erfüllten Anwesenheit« (85). Der Tempel ist Ort des Anwesens Gottes (Prozess!), in dem das Geschehen des Seienden ist: »Durch den Tempel west der Gott im Tempel an« (85); so findet Ausbreitung und Ausgrenzung eines Bezirkes des Heiligen statt. 849 A. a. O., 86f, Gleichnis für : In der Weise, wie Gott im Tempel anwest, west der Mensch in seinem Leibe an.« (86) Durch den Leib west der Mensch im Leibe an.« (87) Ähnlichkeit
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prok. Die Gegenseitigkeit ist Bedingung wirklicher Begegnung, aber nur selten vollständig. In manchen Begegnungen ist Gegenseitigkeit als gleichwertig gemeint. Nur in liebender Begegnung – dem Dasein als Wirheit – kann Gegenseitigkeit vollständig sein. Diese ist dann »aber nicht mehr intendiert, sondern das Geheimnis einer Gabe und einer Offenbarung.«850 Gernot Böhmes Konzept von Wahrnehmung, das von der leiblichen Befindlichkeit als existenzieller Größe ausgeht, setzt ebenso bei der gemeinsamen leibräumlichen Wirklichkeit von Wahrnehmendem und Wahrzunehmendem an.851 In diesem Akt der Wahrnehmung entrollt sich nach und nach eine KoPräsenz von Person und Wahrgenommenem. Wahrnehmung erstreckt sich von den Atmosphären über Atmosphärisches und Szenen bis zum konkreten Ding, ins Prägnante hinein als ein Gestaltwahrnehmungsprozess. Demnach ist Wahrnehmen eine Weise zu leben und da zu sein, so wie Handeln eine andere ist. Ihr markantestes Kennzeichnen ist »das atmosphärische Spüren von Anwesenheit«; aus diesem Ausgangsphänomen lassen sich »schrittweise Sinneswahrnehmungen ausdifferenzieren und schließlich ein Ichpol und ein Wahrnehmungsobjekt«.852 Nach Böhme wird durch den Wandel von Wahrnehmung zu Dingwahrnehmung ein Prozess der Entsubjektivierung von Wahrnehmung möglich: Dies geschieht über die Schritte 1. Erzeugen von Atmosphären, 2. Lokalität, 3. Verdichtung, 4. Identität, 5. Objektivität, 6. Dies-da. Somit wird auf dem Weg der Wahrnehmung, der beim Spüren von Atmosphären beginnt, durch Differenzierung, Spezifizierung und Disziplinierung die Dingwahrnehmung abgeleitet. Da die Atmosphäre die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen ist, »die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist«853, liegt das Pathische der Wahrnehmung, wie sie hier erschlossen wird, in einer Struktur des Affiziertwerdens, welches von der Passibilität des Menschen ausgeht. Von dieser subjektiven Seite der Erfahrung als Widerfahrung bzw. von Wahrnehmung im Genitivus obiectivus ließen sich Erfahrungen der und mit der Dimension des Pathischen darstellen. Wichtig ist das Oszillieren
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Gottes im Tempel zu beseelter Leiblichkeit. Unterschied der Bilder : Gott ist selbst Baumeister seines beseelten Leibes; Leib ist »von Anfang an »dynamisches Material«. »Was wir in der Begegnung Leib nennen, ist die sich verhaltende, ausdrückende und kundgebende, vermittelnde, d. h. in der Welt seiende Gestalt des Menschen. Diese Gestalt hat die uns begegnende Person, aber sie ist sie auch.« Der Tempel Gottes wird in der Freiheit der Menschen besucht, bewohnt oder nicht. Der Leib aber wird vom Menschen immer wieder hergestellt. Änderungen am Leib durch Eingriffe ändern auch den Menschen selbst. A. a. O., 88. Vgl. Böhme: Aisthetik. A. a. O., 42, in Referenz auf Hermann Schmitz. A. a. O., 33f.
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zwischen affirmativer Annahme der Erfahrung und sich absondernder, abgrenzender Verhältnisbildung, in der sich Menschsein nicht nur auf Kranksein reduziert, sondern zwischen Affektion und Gestaltung bzw. Einwirken konstitutiert. Begegnung als Wahrnehmung ist eine Voraussetzung für ein Leben, ein lebenswichtiges Erfordernis als Lebensvollzug, der sich im Gespür für das pathische Andere zeigt und dort implizites, intuitives Erfahrungswissen veranschlagen kann. Damit gelangt die Erfahrung als eine synästhetische und ethische Voraussetzung in die Kategorie des Wissens. Wie aber kommt zum Tragen, dass das Pathische als das je andere erfahren und wahrgenommen wird? Martin Buber hat die besondere Beziehung der Begegnung von Ich und Du gegenüber einer Ich-Es-Beziehung herauskristallisiert.854 Das wirkliche Gespräch ist nur in einer Ich-Du Beziehung möglich, so auch in religiöser Hinsicht mit Gott. Lebensweltlich ist damit klar, dass in einer Haltung zu Leben, die dieses als Begegnung in Anteilnahme und Gegenseitigkeit gestaltet, die inhärente responsive Differenz in das Wahrnehmungsgeschehen kommt. Zur Begegnung gehört auch das Sprechen, die Artikulation, denn eine Begegnung ohne die geringste Gefühlsregung ist unmöglich. Im leiblichen Dialog stiften wir eine gemeinsame Welt. Nichts-tun ist konstitutiv – vor allem im Schweigen, das als beredsam gilt. »Wie es nur Verhalten für mich gibt, wenn ich seine Intentionalität in der eigene Leiblichkeit übernehmen kann, und nur ein Sprechen vernommen wird, indem ich mitrede, so gibt es nur ein Schweigen des Begegneten, falls ich auch in diesem Schweigen anwese, sei es ebenso schweigend oder lebhaft redend und gestikulierend.«855 Schweigen und Ernsthaftigkeit sind beredsam: »Das zeigt sich besonders in jeder liebenden Begegnung, denn im Schweigen – nach dem Wort Hölderlins – wächst schlafend des Wortes Gewalt«.856 Durch die Gegenseitigkeit der Begegnung wird Menschwerdung passivisch konstitutiert: »In der Gegenseitigkeit des Anblickens, der Gesten, des Zulächelns oder der zurückweisenden, verächtlichen, hochnäsigen, feindlichen Mimik und Körperhaltung realisiert sich das fragend-antwortende Anwesen und ruft Dasein sich selbst in der innerweltlichen Existenz wach. Diese Auferweckung ist Menschwerdung, denn Existenz realisiert sich erst in der Kommunikation.«857 Die Begegnung ist also der leibliche Vollzug partizipatorischen Menschseins. Ein Merkmal ihrer Verhaltensseite ist in allen Formen des Zusammentreffens da – eine menschliche Asymmetrie der Körperhaltung. Asymmetrie verkörpert die 854 855 856 857
Vgl. Buber : Ich und Du. Buytendijk: Phänomenologie der Begegnung, 90. Ebd., zitiert nach Binswanger. A. a. O., 93.
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Ambivalenz zwischen Sich-selbst-bleiben und Zu- und Abwendung. Hier wird deutlich, dass Begegnung zwar auf Augenhöhe gewollt und intendiert sein kann, die Begegnung aber implizit sich selbst vorauseilt und damit als Antwort auf Kontingenz im Zuge der inhärenten Pathos-Response-Struktur immer schon Antwort auf widerfahrene Begegnung ist. In ihrer Wahrnehmung spielt gerade an den Rändern des Sprechens und Schweigens die Körpersprache eine zentrale Rolle.
3.4.3.3 Aufmerksamkeit: Die pathische Seite der Intentionalität Die Begegnung mit dem Anderen hängt davon ab, dass und wie sie ins Blickfeld kommt. Daher stellt Aufmerksamkeit die zweite phänomenologische Basis für ein Ethos dar.858 Das Pathos der Aufmerksamkeit bewegt sich im »Zweitakt von Pathos und Response« oszillierend zwischen dem Auffallen, Aufmerken und einem Antworten.859 Die responsive Epoch8, die Waldenfels hier vor Augen hat, eröffnet den Blick und das Ohr auf Geschehnis und Auffallen, das auf uns zukommt – hier machen sich auch Orts- und Zeitverschiebungen deutlich. Diese Epoch8 durchbricht gewohnte Sichtweisen und Optiken und Wahrnehmungsweisen, setzt sie außer Kraft.860 In dieser Form passiven Aufmerkens liegt eine pränormative Dimension für die Achtung des Menschen als Menschen vor, die die Rücksicht der Menschenwürde nach sich zieht. Auch dem Verfolger, dem, der gegen mein eigenes Leben angeht, wird dies zugestanden.861 Damit gilt die Aufmerksamkeit dem anderen als Anderen. Die Struktur der Aufmerksamkeit lässt sich gestalttheoretisch nachvollziehen: Köhler und Lewin sprechen von Aufforderungscharakteren, die Waldenfels in diesem Sinne aus der Sicht der Dativstruktur zur Sprache bringt. Aufmerken erweist sich also als 1. ein »Geschehen, an dem wir weder als Urheber noch als Gesetzgeber beteiligt 858 In »Phänomenologie der Aufmerksamkeit« setzt Waldenfels gegen hohe moralische Ansprüche eine gewisse pränormative ethische Dimension. 859 Waldenfels: Antwortregister, 65ff.; Vgl. Kapust: Responsive Philosophie, 31. 860 Waldenfels argumentiert mit Kant, dass jegliche Missachtung von Sitten erst einmal voraussetze, dass man auf sie hört. Vgl. Kapust: Responsive Philosophie, 32. 861 Hier kommt L8vinas mit Hannah Arendt zugestandenes Gesicht zum Tragen. Kapust sieht darin eine »Philosophie der Einsicht, eine Art ars vivendi«, die einer »moralischen Aisthesis« ähnelt (Kapust: Responsive Philosophie, 33f.); »das vorzügliche Kunststück der responsiven Phänomenologie besteht gerade darin, diese Grenzen aus[zu]loten, sichtbar zu machen und inhaltlich füllen zu können. Das Auffallen schlägt jedoch den Bogen von der Wahrnehmung bis hin zur ethischen Achtung (z. B. eines fremden Anspruchs) und knüpft den Faden zurück zu bereits aufgeworfenen Problemen: Wie kommt etwas ins Blickfeld? Wie kommt etwas zur Sprache, ohne übergangen zu werden? Philosophien täten gut daran, einen Bruchteil der Responsivität zur Bewältigung der Probleme aufzugreifen.«
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sind«. Aufmerksamkeit wird zu einer intersubjektiven Gegebenheit, einem Geschehen zwischen uns und den Anderen. Damit verbunden ist eine Selektion, die konzentriert im Sinne des Hinsehens und Hinhörens (anders als Ja-Nein-Urteils-Entscheidungen)862 im Rahmen einer spezifischen, d. h. situativen Raum und Zeit des Aufmerkens: »Die Aufmerksamkeit erfährt einen ständigen Aufschub, sie ist gelebte Geduld, die sich überraschen läßt«863 der Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Achtung, der im Niederländischen mit dem Wort andaacht einhergeht. Sie wird geschenkt oder verweigert; hier klingt schon an, dass die Aufmerksamkeit zum Ethos der Sinne gehört. In Deutschen gehört das deswegen zur Tugend. Mangelnde Beachtung unterläuft Geltungsansprüche (außerrechtlich) und kann auch Schonräume erzeugen pathologische Schatten, nämlich Polaritäten von Sammlung und Zerstreuung. Phobien und Aufmerksamkeitsstörungen, die den Spalt zwischen Fremdem und Eigenem betreffen.
Spannend sind diese Aufmerksamkeitsschwellen864, weil sie Grenzgänge thematisieren: die Ereignisse des Sichtbar- und Hörbarwerden auf der Schwelle von Unischtbarem und Sichtbarem, Unhörbarem und Hörbarem. Aufmerksamkeit ist da, wo Fremdes uns affiziert. Realisierungen dieser Formen des Aufmerkens sind in den Aufmerksamkeitstechniken und -praktiken zu finden: Kunst gehört ebenso wie das Ökonomische und Politische merklich dazu. In religionstheoretischer Hinsicht zeigt sich: Pathische Aufmerksamkeit evozierend ist hier das erregende Ereignis, das die Reihe geltender Ordnungen und ordnungsgemäßer Tatsachen sprengt. Da der Ereignisbegriff Waldenfels an dieser Stelle zu schwach wird, markiert er Schlüsselereignisse als solche, »die überdeterminiert sind, die in ihrer polymorphen Vielschichtigkeit eine besondere Erschließungskraft entfalten und damit buchstäblich aus der Rolle fallen«.865 Letztlich ist das Aufmerken, das Aufmerksam-Werden eine Grundlage des 862 Hier siedelt Waldenfels auch die Phänomenotechnik an, die »Aufmerksamkeits-apparaturen« (Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 101). 863 A. a. O., 102. 864 »Der Spalt zwischen Fremdem und Eigenem, der sich in tiefreichenden und keineswegs nur pathologischen Störungen bekundet, bildet eine Schwelle, die von der Aufmerksamkeit überquert, aber nicht überwunden wird« (a. a. O., 105). 865 Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit 36. Hier wird auch deutlich, was das aristotelische Pathos weit übersteigt. »All das, was uns zufällt und zustößt, bis hin zu den Grenzereignissen von Geburt und Tod, die sich im Leben auf verschiedene Weise wiederholen, bezeichne ich als Pathos im Sinne des Widerfahrnisses. Man könnte auch von Af-fekt sprechen, sofern man darin das An-tun, An-regen, An-gehen oder An-rufen mit anklingen läßt und Affekte nicht zu privaten Gefühlszuständen herabstuft« (a. a. O., 40).
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Begegnens, weil erst da die Wahrnehmung des anderen als Anderen einsetzt und Transformationsprozesse ausgelöst werden können. Dann wird, wie im FALL, die Schwelle be- und übertreten, fremde Ansprüche und Anstöße wirksam werden zu lassen innerhalb von Erfahrung als Erfahrung des Anderen. Entscheidend ist in ethischer Hinsicht: Der Weg geht viel weiter und tiefer, als »fremde Anstöße und Ansprüche moralisch abzugelten …[…] Erfahrungen werden verstellt und unterdrückt […] Anders steht es, wenn die Überschüsse des Fremden innerhalb der Erfahrung, also in uns und unserer Vernunft, wirksam sind.«866 Somit wird auch die Frage der Beteiligung der Personen bzw. Subjekte im differenzierten Gegenüber angesprochen: »Die Tatsache, daß dir oder mir, ihr oder ihm etwas zustößt, verweist in der grammatischen Form des Dativs auf eine Instanz, die dem Ich-sagen oder gar dem Ich-setzen vorauseilt, ohne deswegen in einer Dritte-Person-Perspektive verbannt zu sein.«867 Genau diese dativische Struktur des Widerfahrens stellt weitere Distinktionen in andere Kontexte bzw. in Frage: Denn die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem lässt sich so auch nicht mehr halten, ebenso die von Aktion und Passion.
3.4.3.4 Leiblich (ver)antwortendes Handeln Medizinische Umgangsformen des Antwortens auf Kranksein, Schmerz und Leiden werden unter dem Begriff Coping-Strategien gefasst. Dieser Begriff von Abraham Maslow dient dazu, nicht ausschließlich Lösung oder Auflösung zu initiieren, sondern Bewältigungsformen und -muster als Ziel zu setzen – das ist letztlich umgreifender als Fragen der Angemessenheit. So geht es auch um Fragen, wie man mit Störungen, Beeinträchtigungen, Krankheit leben kann. Frederik Buytendijk hebt das »Ethos und Pathos des ärztlichen Denkens und Handelns«, hervor, das »zu allen Zeiten ausschließlich aus der persönlichen Zuwendung zum Patienten hervorgeht«.868 Die drei Gründe, sich mit dem Schmerz zu befassen, sind für den Arzt Buytendijk professionsethisch grundiert: Er sei nach Hippokrates erstens »durch Gott berufen« dazu, »den Schmerz zu lindern«; so habe der Schmerz »als Krankheitssymptom für seine Erkenntnis fundamentale Bedeutung« und dies, »weil kein anderer als der Arzt – bei aller objektiven Haltung – das Leiden am Schmerz aus solcher Nähe beobachtet«.869 866 Waldenfels: Antwortregister, 269. Zum Unerzählbaren zählen in der Phänomenologie der Aufmerksamkeit Kollektive Widerfahrnisse. Hier wird hinterfragt, dass mit Nietzsche immer einer da ist, der etwas tut; dagegen ruft Waldenfels die »Abgründe des Pathischen« in Erinnerung (a. a. O., 55). 867 A. a. O., 40. 868 Buytendijk: Über den Schmerz, 150. 869 Ebd.
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Diese beobachtende Nähe des Arztes allein reicht jedoch nicht; der Arzt bedarf einer umfassenden philosophischen Bildung, um den umfassenden Zusammenhang von Schmerz und Natur und der menschlichen Wirklichkeit, seine Existenz, sein leibliches In-der-Welt-Sein zu sehen. Die entscheidende Aufgabe des Arztes macht Buytendijk am Gepeinigten, unheilbar Kranken, an dem im Schmerz Niedergeworfenen fest: »Er soll dem ihm anvertrauten Menschen dazu verhelfen, jene persönliche Antwort zu finden, in der das undurchsichtige Geschehen der Existenz noch im Blick auf die Möglichkeit eines vollkommeneren, glücklicheren Zustandes sinnvoll wird.«870 Dabei wird der Arzt »in dreifach unterscheidbarer Weise mit dem Schmerz konfrontiert: Er soll den Schmerz erklären, die subjektiven Angaben des Patienten in einer Diagnose, in der Darstellung des Krankheitsbildes verwerten. Er soll die Frage des Kranken nach der Linderung des Schmerzes beantworten. Drittens aber steht er einem klinisch sehr wichtigen Problem gegenüber, nämlich ob der Schmerz als Erlebnis eine Änderung im Körper hervorruft, die bei der Aufhebung der Schmerzempfindung, etwa durch Pharmaka oder örtliche Maßnahmen, wieder verschwinden würde.«871 Daher ist zu fragen: Wie ist der Zusammenhang von Pathos und Ethos, der hier für medizininethische Professionalität beansprucht wird, ethisch geltend zu machen? Für die Entfaltung des Responsoriums als Struktur des Antwortens auf das Pathische ist wichtig: Hier wird Leiblichkeit unter dem Blickwinkel betrachtet, dass es immer schon auf fremde Ansprüche antwortet. Drei phänomenologische Erlebens- und Verhaltensweisen, Tun und Reden werden erhoben872 : Intentionalität ist auf Sinnfindung aus und antwortet auf die Frage nach dem »Woraufhin«; Kommunikation hat als Frage des »Wonach« die Regelhaftigkeit im Blick (ein Moment der Semiotik); Responsivität im engeren Sinn antwortet auf die Frage nach dem »Worauf« mit dem Anspruch.873 Bezogen auf die Leiblichkeit ergibt sich daraus das Sensorium als der Bereich des Bemerkens, das Motorium als der Bereich des Bewirkens.874 Waldenfels arbeitet heraus, dass erst das dritte Moment der Responsivität, »ein Worauf, das der Antwortlichkeit des Verhaltens zuvorkommt«, über Sinnhorizonte und Regelsysteme hinausgehe, indem es mit dem Anderen zu tun hat.875 Böhme schlägt ein grundlegend anderes Verhältnis zu Krankheit als Teil eines pathischen Lebens vor, das eine Grundhaltung zu Krankheit und Behinderung als Widerfahrnis impliziert. Für eine praktische Ethik empfiehlt Böhme Demut, 870 871 872 873 874 875
A. a. O., 169. A. a. O., 165. Vgl. dazu Waldenfels: Antwortregister, 327–332. Waldenfels: Das leibliche Selbst, 365–378. So auch die zirkuläre Kausalität in Viktor von Weizsäcker : Der Gestaltkreis. Waldenfels: Das leibliche Selbst, 368.
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die das Hinnehmen von Schmerzen, ohne »zusammengebissene Zähne«, also die Pflicht des Verbergens von Schwachheit gegenüber der Stärke meint. Techniken zur Schmerzminderung oder Schmerzvermeidung sucht er in der Ent-Spannung – anders als Buytendijks Verständnis von Schmerzen als Anstrengung. Böhme vertritt eine phänomenologisch fundierte Tugendethik mit sinnvoller Einschränkung: Schmerz ist kein Wesenselement der Menschen, sondern ein nacktes Widerfahrnis876. Denn Schmerzen können ebenso zerstörerisch und traumatisch verletzend sein. Wichtig ist die Achtung gegenüber dem Schmerz als das fundamentales Moment der conditio humana. Daher ist eine Balance aus Fähigkeit zur Schmerzverminderung und -vermeidung gefragt. Das Beispiel der Behinderung würde bei Böhme also wie andere Krankheiten im Rahmen einer leiblich orientierten Anthropologie dynamisiert in ein »Spektrum des Mehroder Weniger-Könnens«.877 Damit wird letztlich auch auf Selbsttätigkeit und individuellen Umgang gesetzt. Böhme führt dazu den japanischen Wert der Amae an878 : ein Wort für die Liebe im Sinne hingebungsvoller Abhängigkeit. Regulativ ist die Zustimmung zu dieser Abhängigkeit – daher ist sie auch primär nicht mit Autonomie zu vereinbaren. Dies widerspricht dem, was wir unter Persönlichkeitsentwicklungsidealen begreifen. Die Konsequenzen sind andere: Denn wir bringen Kranke wieder auf die eigenen Füße, versuchen, ihnen die Selbstständigkeit und damit auch die erstrebte Unabhängigkeit wieder zurückzubringen. Daran hängt ein Wert und Ideal von Freiheit, Freiheit von der Hilfe und Abhängigkeit von anderen. Böhme setzt gegen diese Form der Autonomie die Souveränität879 : Entgegen der europäischen Idee der Emanzipation befürwortet er die Anerkennung der Abhängigkeit von Natur, der Möglichkeit, sich etwas widerfahren zu lassen und Frustrationen zu ertragen. Der Begriff ist schwierig, da er juristisch und politisch andere Konnotate setzt: Völkerrechtlich ist Souveränität immer eine Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Das Moment des Erduldens und Erleiden-Könnens rückt also in die zweite Reihe, denn es geht um eine Haltung, die sich die Macht nicht nehmen lässt angesichts von Widerfahrnissen. Psychologisch wird evident, dass man »sein Selbstbild nicht davon beeinträchtigen« lassen soll. Böhme setzt im europäischen Raum auf das Konzept der Nächstenliebe. Dies wiederum hat in Europa keine Bedeutung für die Betroffenen und deren Perspektive: Hier ist Solidarität gefragt – eine politische Verwandtschaft zu Nähe und Mitgefühl.
876 877 878 879
Böhme: Leibsein als Aufgabe, 112. A. a. O., 248. A. a. O., 256. A. a. O., 258.
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3.4.4 Kontingenzbewältigungskompetenz? Herausforderungen für theologisches Denken 3.4.4.1 Anthropologische Pfeiler Kranksein und Begrenzung ergeben sich als individualitätskonstitutive Faktoren des Menschseins.880 Sie werden überboten von der Möglichkeit der Antwort, einer gestalteten Bezogenheit. Responsivität – in ethischer Hinsicht die Gestaltung der Antwort, die von einer Herausforderung evoziert wird881 – ist die leibliche Lebendigkeit und Konsequenz des fundamentalen Ausgangspunktes, dass immer etwas außerhalb seiner selbst beginnt, nicht einmal in der Fokussierung auf das Selbst transzendierenden Weise endet und stets die Achse auf den je Anderen in Bewegung hält.882 Was Viktor von Weizsäcker als GrundVerhältnis beschreibt, wird bei Schleiermacher in ähnlicher Weise als die schlechthinnige Abhängigkeit, die das religiöse Grundverhältnis bildet, benannt.883 Responsivität als phänomenologisch-ethisches Prinzip steht also auf einer anderen Basis als Moral, ist vielmehr vom als religiös zu qualifizierenden Anspruch des Anderen her begründbar. Ausgehend vom Hyperphänomen des Fremden, das jeglicher Intersubjektivität anheim ist, werden die zur Weltentstehung geläufigen Grundzüge der Intentionalität und Regularität nicht aufgehoben, wohl aber übersteigert. »Responsivität steht für eine ›Antwortlichkeit‹, die der Verantwortung für das, was wir tun und sagen, unwiderruflich vorauseilt.«884 880 Hier scheint auf, dass Unterlassen und Dulden Formungen individuellen Lebens sind. Vgl. Susanne Langer : Feeling and Form; vgl. auch Aby Warburgs Vokabular des Leids und der Leidenschaften – Pathosformeln. 881 Vgl. Waldenfels: Antwortregister, 250–259: »Wir antworten nicht auf etwas, das wir hören, sondern wir antworten, indem wir etwas hören.« Dieses responsorische Hören konzentriert sich mehr auf das modale Wie als auf das noematische Was des Hörens. Kapust verknüpft das Motiv des antwortenden Hörens mit ethischen Fragen, indem sie vom Ungesagten ausgeht. Mit der Frage nach der kreativen, erfinderischen und in dem Sinn auch stimmigen Antwort ist auch die Möglichkeit von verfehlter oder verweigerter Antwort gegeben. Hier wird als zentrale Frage im ethischen Licht deutlich: Worauf soll ich antworten – erst recht, wenn es sich um ungesagte Fragen handelt? Es gibt drei Formen der Verweigerung (Unterlassung, Abweisung und eine generelle Verweigerung des Antwortens, die sich auf den Anspruch als solchen bezieht); dieses Misslingen von Antworten kann in »Irresponsivität« oder Un-verantwortlichkeit umschlagen. 882 Vgl. Waldenfels: Antwortregister, 365, 567; Kapust: Responsive Philosophie, 26. 883 Vgl. Schleiermacher : Über die Religion. Religion ist für Schleiermacher in seinen Reden ein »Gefühl«, gar eine »eigene Provinz im Gemüt«, welche die »Anschauung des Universums« ermöglicht. Etwas später bestimmt Schleiermacher in seiner »Glaubenslehre« (ab 1821) Religion als das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«. Zugleich wird in Schleiermachers Glaubenslehre deutlich, dass Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit zusammengehören (vgl. Mädler : Sinn und Geschmack fürs Unendliche, 20). 884 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 57.
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Responsivität und Response meinen damit in Anlehnung an Kurt Goldstein, Emmanuel L8vinas sowie Michail Bachtin die Nähe von Antworten und Verantwortung, die im Französischen mit r8pondre de gemeint ist.885 Konkret: Der klassische Dialog, von dem die herkömmliche Philosophie in der Regel ausgeht, setzt bereits eine grundlegende Asymmetrie zwischen Anspruch und Antwort voraus und ebenso einen Hiatus zwischen Angesprochenwerden und Antworten. Im Sinne von Charles Ives’ »Unanswered question«, welche musikalisch eine Frage darstellt, die nie verklingt und einen nahezu ewigen, weil nicht erfüllbaren Anspruch beherbergt886, liegt im Sprechen und Handeln ein Versprechen, das im Lichte des fremden Anspruchs nicht einzulösen ist. Der Anspruch wiederum, den ich vom Anderen vernehme, verquickt sich mit dem eigenen Anspruch, der mir etwas abverlangt. Das Antworten ist nun wiederum doppelt gedacht: Dem Anspruch korrespondiert sowohl die Antwort – answer als auch »ein Antworten (response), das auf Angebote und Ansprüche des Anderen eingeht und nicht bloß Wissens- und Handlungslücken schließt«.887 An dieser Stelle liegt eine moderne Kommunikationstheorie sehr nahe; nur geht diese von einer erfüllbaren Antwort aus, was Waldenfels im Kontext des unstillbaren Begehrens verneint. Antwortgehalt und Antwortereignis fallen zusammen und sind doch hiatisch. Wenn Waldenfels anthropologisch reformuliert: »Der Mensch ist ein Wesen, das Antworten gibt.«888, so ist damit Menschsein in religiöser Bezogenheit auf den Punkt gebracht. 885 886 887 888
Siehe nach Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 57. Siehe Charles Ives: The Unanswered question. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 60. Hier nennt Waldenfels vier Momente einer Antwortlogik: a) die Singularität des fremden Anspruchs, die stets aus einer Ordnung herausfallen und nicht wiederholbar wird; b) die Unausweichlichkeit ne-cessitudo, als unumgängliche Voraussetzung sozialer Existenz – im Sinne von: Man kann nicht nicht antworten, da auch das Nichtantworten eine Antwort ist (keine Antwort ist auch eine Antwort). Und nun kommt die performative Seite: »das, wovon unser Reden und Sagen ausgeht und immer schon ausgegangen ist, lässt sich nicht beobachten, beurteilen oder bewerkstelligen wie etwas, das vor unseren Augen und in unserer hand liegt. Es tritt nur zutage, indem wir etwas sagen oder tun. Es ist angewiesen auf eine indirekte Rede- und Mitteilungsweise, die dem Schweigen verbunden bleibt.« (Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 64); c) die uneinholbare Nachträglichkeit des Antwortenden in einer zeitlichen Diastase; »das Antworten geschieht hier und jetzt, doch es beginnt anderswo.« (a. a. O., 65). Hierin liegt auch die Freiheit des woanders Anfangens, eben nicht bei sich selbst; Geburt ist daher immer auch Wiedergeburt. d) Unaufhebbare Asymmetrie geht mit der Nachzeitigkeit Hand in Hand. In Anlehnung an L8vinas »beruht die Asymmetrie nicht darauf, dass Rollen in einem bestehenden Dialog ungleichmäßig verteilt sind, sondern darauf, dass Anspruch und Antwort nicht auf ein gemeinsames hin konvergieren.« Und hier tritt Waldenfels im Sinne der Systemtheorie für einen Moment aus der gebrochenen Un-Mittelbarkeit heraus: »Das Eingehen auf einen fremden Anspruch und das Geschenk einer Antwort geraten erst dann auf die Bahnen eines wechselseitigen Gebens und Nehmens, wenn Eigenes und Fremdes im Lichte eines Dritten
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Denn hier wird eine wichtige Differenzierung vorgenommen: Zu unterscheiden sind ein primär repetitives und reproduktives Antworten von einem primär innovativen oder produktiven Antworten. Folgt und festigt das erstere bestehende Sinn und Regeln, so gilt dies nicht für Antworten auf ungeahnte und bestehende Ordnungen durchbrechende Ansprüche. Das Antworten ist also ein paradoxes Antworten, weil es in seiner Kreativität als Antwort kreativ ist. Daher klafft ein Riss zwischen fremder Provokation und eigener Produktion, das Antworten geschieht auf einem schmalen Grat zwischen Willkür und Hörigkeit. »Wer auf fertige Antworten wartet, hat nichts zu sagen, weil schon alles gesagt ist. Wer umgekehrt redet, ohne zu antworten, hat auch nichts zu sagen, da es für ihn nichts zu sagen gibt. Wir erfinden, was wir antworten, nicht aber das, worauf wir antworten und was unserem Reden und Tun Gewicht verleiht.«889 Diese Gestalt von Responsivität wird am Aufforderungscharakter deutlich.890 Klassische Handlungstheorien gehen von Zielen aus. Aber Aufforderungscharaktere verweisen nicht geradewegs auf einen künftig zu erreichenden Zustand, sie zeichnen sich durch eine größere Offenheit aus, indem sie mehrere Möglichkeiten gleichzeitig anbieten. Wenn Schleiermachers Interesse an der Religionsdarstellung als ein Suchen danach verstanden werden kann, die Wechselwirkung von »religiöser Rezeptivität und Spontaneität« neu zu fassen891, so bietet Waldenfels mit seinem Modell eine Antwortstruktur an, welche die Gegebenheit von – in diesem Fall proethischen Erscheinungen – ebenso voraussetzt wie die dynamischen Aspekte einer Ordnung der metaphorisch gesprochen: beweglichen, geöffneten Tür, in die sich aufmerksame Passivität stellt. Damit verortet sich auch Religion neu und anders zu der Frage, welche Machtverhältnisse vorherrschen: »Gegenüber der Alternative von Allmacht und Ohnmacht, die das religiöse Denken weitgehend in ihren Bann schlägt und die stets eine gemeinsame Bilanz zulässt, bedeutet der fremde Anspruch, dass unsere Verfügungsgewalt als solche durchbrochen wird, […] dass sich mir etwas entzieht, das eben im Entzug da ist.«892 Der menschliche Bezug zum Fremden ist als solcher religiös, weil er eben sich auch der Bemächtigung entzieht, Macht und Ohnmacht über das Leben nicht berechenbar und vielmehr als Unverfügbare erfahrbar werden. Insofern ist die Alternative eine religionsbezogene »Phäno-
889 890 891 892
betrachtet werden, der Vergleiche anstellt und im Konfliktfall für einen Ausgleich sorgt.« (a. a. O., 66) Wenn fremde Ansprüche gleichgesetzt werden, wohnt der Gerechtigkeit ein Moment der Ungerechtigkeit inne. Vgl. im Folgenden Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 62–67. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 67. Wie schon die Berliner Gestalttheoretiker Kurt Lewin, Wolfgang Köhler, Martinus J. Langeveld zeigen, in ähnlicher Weise Merleau-Ponty, Bühler, Husserl. Mädler : Sinn und Geschmack fürs Unendliche, 17. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden oder Phänomenologie der Erfahrung, 81.
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menologie, die das Unendliche als Un-endliches denkt, als Überschuß, als Außer-ordentliches, das nicht ablösbar ist von der Endlichkeit der Ordnung, die es überschreitet.«893 Diese Aspekte einer Antwortlogik sind demzufolge auch denkbare Momente religiöser Erfahrung (ohne dass diese durch Denken erzeugt werden könnten): 1. Extraordinarität: »Im fremden Anspruch verkörpert sich ein Außer-ordenliches, das nur im Antworten auftritt, und zwar als ein Worauf, das jede definierende Bestimmung im Sinne eines Wer oder Was übersteigt.« (82) 2. Variabilität: »Ein Anspruch, der eine bestehende Ordnung in Unruhe versetzt, lässt stets verschiedene Antworten zu, es gibt keine schlechthin richtige Antwort.« 3. Ritualität: »Der fremde Anspruch erfordert ein wiederholtes Antworten, ein Wiedersagen (redire), wie es bei L8vinas heißt. […] Die Zusage, die in einem Versprechen liegt, lässt sich nie völlig in ein Gesagtes verwandeln, in ein Resultat, das man ›getrost nach Hause trägt‹.« (82) 4. Namhaftigkeit / Singularität: »Fremder Anspruch erfordert ein namhaftes Antworten, eine Singularität, die sich den Ordnungsfiguren von Urbild und Abbild, von Regel und Regelfall entzieht.« (82) Namen stehen selbst mit auf dem Spiel, Namensscheu verwandt mit Bildverbot und Namenszauber mit Bildzauber. 5. Unausweichlichkeit: »Schließlich liegt im fremden Anspruch, sobald er sich aus funktionalen Zusammenhängen und deren Äquivalenten herauslöst, etwas Unausweichliches, eine eigentümliche ne-cessitudo, die nicht mit der epistemischen Notwendigkeit strikter Gesetze zu verwechseln ist. […] Der fremde Anspruch hat etwas Fatales, das sich nicht durch Rationalisierung eliminieren lässt. […] Wir wählen, was wir antworten, nicht aber, worauf wir antworten.« (83)
Waldenfels hebt hervor : »So wie es ein Lernen durch leiden gibt, nicht aber ein Erlernen des Leidens, so gibt es ein Lernen durch Fremdes (nicht aber ein Erlernen des Fremden)«.894 Es wird deutlich: Die Erfahrung, die sich im Schmerz als Leidenserfahrung aktualisiert, hat eine sehr viel differenziertere Struktur, als sie für gewöhnlich erscheint, wenn man wahrnimmt, dass jemand leidet. Es handelt sich also nicht um einen statischen Zustand, sondern um ein Spannungsverhältnis, in dem Passivität und Aktivität aufeinander einwirken. Zu jeder Erfahrung gehört ein Passivitätsmoment dazu; in der Empfänglichkeit kann Schönes, Geschenk liegen, jedoch wird dies an der Radikalität von Schmerzerfahrung besonders deutlich. Phänomenologisch wird, insbesondere mit Waldenfels, eine Struktur ersichtlich, die im Verhältnis zum Widerfahrnis steht. Da das Verhältnis zum Schmerz auch den gesellschaftlichen Bedeutungszu-
893 A. a. O., 80. 894 Waldenfels: Hyperphänome, 303.
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schreibungen und Rollenverständnissen unterliegt, kann die Wertigkeit und Funktion von Schmerz differieren. Dazu gehört auch das gesellschaftliche Erdulden von Schmerz. Freiwillig ertragener Schmerz führt in religiöser Hinsicht zu einem Leiden, das Erlösung bringt; das existenzielle, physische und kulturelle Überleben der Gruppe ist damit gesichert. Religionen liefern dafür Modelle, die zuweilen als Vorbilder gehandelt werden und deren Logik als Mimesis funktioniert. Sowohl der Exodus des Volkes Israel als auch das Leiden Jesu sind Modelle wenn nicht gar Vorbilder. Hier funktioniert ein Umkehrschluss.895 Wie lassen sich von dort her Erfahrungen des Menschseins beschreiben, welche die Logik christlicher Religion verständlich machen? Mit welchen theologischen Topoi wird Sagbarkeit des Unsagbaren artikuliert oder umschrieben?
3.4.4.2 Umgang, Solidarität, Gegenseitigkeit Das Ethos, welches im Pathos aufgehoben wird, ist dort von Bedeutung, wo es als Verletzung fremder Ansprüche die Dimension der sozialen Berührung hat.896 In Entsprechung dazu kann ein professionsethisches Denken mit den medizinanthropologischen Fundamenten beginnen: Viktor von Weizsäckers Anthropologie, die das Pathische als Dimension des Lebens begreift, überwindet einen Dualismus von Krankheit und Gesundheit. Sie mündet in eine Ethik, die auf den Grundbegriffen Umgang, Gegenseitigkeit, Solidarität ruht.897 Damit wird zugleich das Fundament für eine pathische Metaethik gelegt: Das Pathische begnügt sich nicht damit, partikularer Teilbereich einer Ethik zu sein, sondern Ethik ist selbst eine pathische Größe.898 Nicht der Kopf, sondern die Hand macht den Arzt, nicht mein Schmerz, sondern etwas, das schmerzt, macht meine Krankheit.«899 Der ärztliche Imperativ : »Wir haben nicht Menschen zu bilden, sondern zu ermöglichen«900 macht deutlich, dass der Arzt in Abhängigkeit und in »leidenschaftlicher Interessiertheit verantwortlich handeln kann: Pathisches Ethos heißt nicht besser wissen, sondern sich auf gemeinsames Werden einzulassen.«901 Für Weizsäcker liegt die Begründung in einer xuwg und syla einbe895 896 897 898 899 900
Vgl. Morris: Geschichte des Schmerzes. Vgl. Kapust: Responsive Philosophie, 25. Vgl. Weizsäcker : Grundfragen. GS 7, 265. Achilles: Ethos und Pathos, 156. Weizsäcker : GS 5, 27. Weizsäcker : Ärztliche Fragen. Vorlesungen über Allgemeine Therapie 21935. GS 5, 259–342. Hier: 302. 901 Achilles: Ethos und Pathos, 156f.
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ziehenden Medizin, für welche Krankheit eine Weise des Menschseins ist, in der Gegebenheit, dass »die Gegenseitigkeit und die Solidarität nur in der anthropologischen [Medizin] selbst liegen und nicht, wie in der anderen, von außen an das ärztliche Bewusstsein herangebracht werden müssen, also exterritorial für den Mediziner bleiben.«902 Zu den Formen des Umgangs gehört Medizinische Therapie, denn sie ist die Praxisform des Prinzips der Gegenseitigkeit. Therapie unterscheidet sich demzufolge von der sonst üblichen Intention der bloßen Anwendung von Erkenntnissen. Medizinisches Handeln ist ein Verändern im Gestaltkreis, das als Umgang zu verstehen ist. Letztlich lässt sich gemäß der Beteiligung am Leben Umgang mit dem Leben nur durch Umgang mit dem Leben erfahren. Hier wird an pathischer Ethik der Zusammenhang von Wissen, Ethos und Umgang bzw. Handeln verwirklicht und verdeutlicht: »Eine Anthropologie, welche nicht Therapie wäre, hätte auch keine Wahrheit. So wenig es eine Wahrheit gäbe, die sich nicht um den Irrtum kümmert, oder ein Ethos, das sich nicht um das Pathos kümmert. Bewegung und Begegnung bleiben dabei Leitlinien für die Gestalt und Dynamik des Lebens. Alle Bewegungen, welche nicht zu der Begegnung führen, würden leer auslaufen.«903
Die pathische Seite des Umgangs erbringt also Modi der Beteiligung am Leben. Als Kennzeichen eines pathischen Umgang gelten bei Weizsäcker die Anerkennung der Verschränkung von Handeln und Erkennen, spezifische Partnerschaftlichkeit, Formbestimmtheit und Echtheit unter dem beherrschenden Gesichtspunkt des Werdens, nicht des Feststellens – also eine prozessbezogene, zukunftsoffene Art des anerkennenden Miteinanders.904 In der Anthropologie ist nicht eine reine Weise des Seins von Leben angesprochen, sondern die Beziehungshaftigkeit und Kontextualität der Abhängigkeit des Pathischen vom Umgang mit ihm: Nicht umsonst klingt auch hier bereits das Leiden mit an. Begegnung wird zum Urphänomen des Pathischen. In ihr kommen Vergangenheit und Zukunft zusammen, fällt die gewisse Offenheit des Lebens an. In der pathischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers steckt daher auch die Paradoxie dieser Begegnung, die eine Vergegenwärtigung des eigentümlichen Nichtseins einschließt. Das Leben selbst entzieht sich der Machbarkeit des Lebenden. Demzufolge ist der Tod auch als Anhaltspunkt für ein Ethos der Geschichtlichkeit in ihm.905 Das Grundverhältnis der schlechth-
902 903 904 905
Weizsäcker : »Euthanasie«. GS 7, 125. Weizsäcker : Pathosophie, 75f. Vgl. Achilles: Ethos und Pathos, 178. Rainer-M. E. Jacobi sieht dies in Analogie zu Diltheys Geschichtlichkeitsverständnis, vgl. Jacobi: Einführung.
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innigen Abhängigkeit reduziert die Erkennbarkeit des Lebens gewaltig, denn genau der Grund dieses Lebens bleibt unerkennbar. Bei Weizsäcker besteht eine »Logik des Umgangs«906 in der Gegenseitigkeit. Darin macht sich der mindestens metaphorische Gedanke einer zyklomorphen Ordnung bemerkbar. Gegenseitigkeit ist selbst ein pathischer Begriff, d. h. in ontischer Hinsicht vermutlich eine moralische Norm, aber in pathischer Hinsicht eine gesuchte und zu suchende Ordnung des Lebens und dessen Gestaltung. Wenn man davon ausgehen kann, dass die Medizinethik bzw. gegenwärtige Ethik in der Medizin einen Wandel eines kurativen zum prospektiven Krankheitsverständnis – von der Fürsorge zur Vorsorge – vollzieht, bekommt der Zusammenhang von Krankheit und Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung eine größere Relevanz. Gerade hier zeigt sich jedoch auch Weizsäckers kritischer Impetus, der mit der Gegenseitigkeit die Intersubjektivität und die Angewiesenheit auf Gemeinschaft hervorhebt. Für diese pathische Metaethik ist Gesundheit als eine Art der Menschlichkeit angesehen. In der Anerkennung einer »pathischen Dimension der Gegenseitigkeit« als Grundstruktur von Ethik sorgt diese Anthropologie dafür, dass auch das Prinzip der Autonomie stets »an der Wirklichkeit von Lebensverhältnissen, insbesondere denen von Not und Hilfe, orientiert« ist.907 Wenn Gernot Böhme aus philosophischem Antrieb im europäischen Raum auf das Konzept der Nächstenliebe setzt und man die Weizsäckersche Form der gelebten Gegenseitigkeit einbezieht, so ergibt sich eine ebenso leiblich gelebte Form der Solidarität mit den Erkrankten, Verwundeten, Leidenden – mit den Teilen des Menschseins gefragt. Dies wiederum ist eine Antwort auf einen politischen Anspruch, der sich in der Verwandtschaft zu Nähe und Mitgefühl befindet. Gilt diese fundamentalanthropologische Haltung gelebter Intersubjektivität auf Gegenseitigkeit im Horizont des fremden Anspruchs auch in theologischer Hinsicht? Und lässt sich daraus eine theologisch reformulierte Professionsethik ableiten / fundieren? Welche Rolle spielt dabei der spezifisch christliche Impetus? Ethos und Pathos sind Grundlien der medizinischen Ethik bei Weizsäcker.908 Diese Orientierung an einer Ethik der Liebe setzt auf ein pathisches Ethos als Verantwortung; es gewährt den Sinn einer »evolutionären Ethik«, »welche in einer Art Regelkreis die ethische Orientierung in Entsprechung hält zu einer sich ständig verändernden Realität und umgekehrt die praktische Gestaltung der Realität in Entsprechung hält zur ethischen Orientierung.«909 906 907 908 909
Weizsäcker : Medizin und Logik, GS 7, 365. Jacobi: Einführung, 26; vgl. Achilles: Ethos und Pathos. Vgl. Kap 3.2.3; Achilles: Ethos und Pathos. Fischer : Arzt-Patient-Beziehung und medizinische Ethik.
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Mit dem theologischen Ethiker Johannes Fischer ist bereits an dieser Stelle herauszuheben, dass Weizsäckers Gedanken auf einem ethischen Verständnis von Personalität aufbauen, das mehr ist als ein (z. B. an John Locke orientiertes) moralisch-juristisches Recht und das Festmachen an einer Person als Wesen mit Bewusstsein und Interesse. Der (für die Medizin) andere und ursprünglichere, weil die Leiblichkeit des Menschen einbeziehende Personbegriff resultiert aus der Individualität des Menschen, der immer Teil einer Lebens-, Welt- und Kommunikationsgemeinschaft ist, also Mensch unter anderen. Individualität und Sozialität kommen zusammen. Dass man Sinn und Zusammenhang des Lebens nicht auszusagen, aber zu erfahren und zu erleiden vermag, gilt daher nicht nur für die beteiligten Patienten, Klienten, sondern auch für die professionell Handelnden selbst.910 Kein Wunder, dass auch das Erforschen eine Beteiligung am Leben erfordert, selbst wenn die Autorität der Leidenden nicht ohne Differenzen zur Imitation führt.911 Hartmut Kreß sieht im Zeichen der in der Moderne aufgegebenen Sinndeutung den Menschen wie im Existentialismus zur Freiheit verurteilt. Dies hat Weizsäcker als anthropologische und verantwortungsethische Aufgabe begriffen und aufgearbeitet. Kreß macht darauf aufmerksam, dass mit Weizsäcker »eine neue ›empirische‹, d. h. an der alltäglichen Wirklichkeit ausgerichtete Theologie vonnöten«912 sei. So ist auch für eine religionspädagogische Anthropologie nicht zuletzt aus seelsorgerlichen und diakonischen Gründen unabdingbar, was Kreß hier für den Bereich der Ethik in der Medizin ansetzt: Weizsäcker geht es dann darum, »die Krankheit […] als zum Gestaltwandel des Lebens zugehörig anzuerkennen, um sie in die individuelle Lebenskonzeption und Lebensführung zu integrieren.«913 Ob dies auf dem salutogenetischen Weg der Ressourcenorientierung geschieht, der gemäß aus dem Leiden sogar Kraft geschöpft werden kann, ist wenn, dann überhaupt vom fragmentarischen Subjekt wahrzunehmen – auch diese Form der nachträglichen Sinnzuschreibung hat professionelle Grenzen.
910 Vgl. Weizsäcker : Der Begriff des Lebens. GS Bd. 7, 40. 911 »Um Lebendes zu erkennen, müssen wir uns am Leben beteiligen« (Weizsäcker : Allgemeine Medizin, 48), siehe auch Kap. 3.2.3.2. 912 Kreß: Genetische Beratung, 250. 913 Ebd.
4.
Leben aus Passion. Theologisch-ethische Reflexionen
Durch die Brille und aus der Perspektive einer lebensweltbezogen fokussierten Phänomenologie galt es im vorigen Kapitel herauszuarbeiten, welche anthropologischen Themen und Kerne sich religionskulturell in den Vordergrund schieben, die als Fundament für eine auf Menschlichkeit ausgerichtete Theologie religionspädagogischer Professionalität fruchtbar zu machen sind. Das Aufschließen der Kontextualisierung von Krankheit bildete für mich den Startpunkt für eine phänomenologische Beschreibung anthropologischer Elemente auf dem Kontinuum des Pathischen, die ich im Rekurs auf den FALL auch jeweils vertieft, erweitert oder korrigiert habe. Nun gilt die Aufmerksamkeit der Frage nach theologischen Entfaltungen des Pathischen in dessen kulturwissenschaftlicher Dimensionierung: Wie muss Menschsein aus der Perspektive einer Theologie gedacht, rekonstruiert und entwickelt werden, wenn man die Ränder des Lebens und Lernens nicht verschweigt? Anders gefragt: Wie stellt sich die Dimension des Pathischen theologisch dar, wenn man auf die elementaren Bedingungen des Menschseins achtet? Mein Interesse ist, die conditio humana als Bezugspunkt einer Theologie des Pathischen zu rekonstruieren. Um zu sehen, welche Parameter nötig sein werden, um eine religionspädagogische Professionstheorie auf »theologische Füße« zu stellen, sind Verortungen und verschiedene Schritte nötig, die im Laufe des ersten Abschnitts entwickelt werden: Der dargestellte FALL ebnet mit seinen Facetten eine Vergegenwärtigung elementarer Lebensgegebenheiten.
4.1
Topologie des Pathischen in der Theologie
Begibt man sich in die theologische Landschaft, um aufzuspüren, wie Elemente des Pathischen vorkommen, so betritt man ob deren Vielfalt unebenen Boden: Ein topologischer Aufriss könnte die verschiedenen theologischen Teildisziplinen erkunden und Deutungsmuster darlegen. Durch Biblische und Historische Theologie, durch systematisches und praktisch-theologisches Denken und
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Theologisch-ethische Reflexionen
Praxisfelder hindurch ließe sich eine Karte zeichnen, auf der jeweils Leidenserfahrungen der jeweiligen Zeit und Situation zu Reflexionen und Deutungen in Beziehungen treten. Dieses Unterfangen wäre für den Rahmen einer empirisch-phänomenologisch gewichteten und religionspädagogisch ausgerichteten Arbeit indes zu umfangreich. Ich konzentriere mich daher auf einen Streifzug durch diese Felder der Theologie – ohne Anspruch auf Vollständig, mit Blick auf wenige typische Motive und Gestalten, welche auch in gegenwärtigen theologischen Diskursen auftauchen, wenn vom ›Pathischen‹ die Rede ist. Dabei wird zu ersehen sein, wie sich die Thematiken um Leiden, Passion und Passivität in Themen und Denkformen der theologischen Anthropologie, der Frage nach Gott, Christologie, Eschatologie und Ethik niederschlagen. Da es sich hierbei um eine Perspektive praktischer Theologie handelt, nehme ich auch jeweilige gegenwärtige Erscheinungsformen in den Blick. Leitend ist dabei, welche Perspektiven Tradition aufwirft.
4.1.1 Biblische Traditionsfiguren und ihre Gestalten Auf dem Hintergrund der antiken, vorderasiatische Kultur sollen hier religionsgeschichtliche Grundlinien erinnert werden, die zum gegenwärtig rezipierten Traditionsbestand gehören. Daher werde ich zunächst auf einer literarischen Ebene exemplarisch und typologisch aufgreifen, was kulturgeschichtliche Fundamente für die Geschichte des Pathischen darstellen. Die Literatur ist ein Spiegel der Problemstellungen in der Geschichte, die sich in gegenwärtige Elemente hineintradiert. Die historische Spannbreite, die sich dabei erstreckt, kann nicht näher differenziert werden, ich zeichne vielmehr maßgebliche innerbiblische Grundlinien nach. Dabei versuche ich gleichwohl, wo möglich und nötig, auch unterschiedliche Lesarten einzubeziehen. In allen Religionen und Kulturen gibt es Auseinandersetzungen mit Leiden.914 Entsprechend gehören Leidenserfahrungen auch zum Leben und zur Lebensgeschichte der biblisch dargestellten Menschen dazu. Hinzugefügt sei, dass Apathie, die Beherrschung der Affekte bis zur Tilgung von Gemütsregungen, das antike Ideal war ; sie galt als Voraussetzung für die Verwirklichung der Ataraxie – das gelassene Seelenglück, welches durch den Affekt bedroht wurde. Die vernünftige Einsicht in die Gleichgültigkeit der Dinge verhinderte also Affekte. Dieses Ideal wurde von Kirchenvätern auch auf Gott übertragen.915 914 Vgl. Kap. 3.1. 915 Frohnhofen: APATHEIA TOU THEOU.
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4.1.1.1 Phänomenologische Einblicke: Zur biblischen Krankheitsdeutung Geht man vom Phänomen des FALLES aus und recherchiert nach dem Verständnis von Krankheit in biblischen Bezügen, so lässt sich rekonstruieren: Kranke Menschen zählten im Alten Israel wie die Unterdrückten und Armen zu den sozial Benachteiligten. Ihre Einschätzung hing mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen zusammen, dem sich wandelnden Bild vom Menschen und von Gott sowie dem Verständnis von Gesetz und Reinheit bzw. Sünde des Volkes Israel. Insgesamt wurden Krankheiten und Leiden im religiösen Horizont verortet. In der Zeit vor der Babylonischen Gefangenschaft wurden geschädigte, kranke und behinderte Menschen selbstverständlich in das Leben aufgenommen und integriert. Besonders die bäuerliche Großfamilie bot ihnen verwandtschaftlichen Schutz und konnte z. T. Kranken im häuslichen Rahmen Arbeit verschaffen. Behinderungen, Krankheiten oder Schädigungen wurden, solange nicht Ansteckungsgefahr herrschte, als zum Leben dazugehörig und »normal« angesehen. Später glaubte man an ein relativ starres Prinzip der Vergeltung. Durch den Bund mit Gott war festgelegt, was als rein oder unrein, sündig oder nicht sündig galt. Unrein war, wer wissentlich oder unwissentlich gegen das Gesetz verstieß. Zugleich bildete sein Tun (und das Tun seiner Vorfahren) die Voraussetzung dafür, wie es ihm erging. Behinderung etwa wurde als Folge der Sünde und Strafe Gottes für begangene Sünden gedeutet. In der weiteren Entwicklung ist zu beobachten, dass Menschen mit Behinderung zwar in der sozialen Hierarchie auf der untersten Stufe standen, aber dennoch als in der Gnade und Liebe Gottes aufgehoben galten. Diese Sicht geriet erst in der Spätzeit, da für weisheitliche Denkmuster eine Krise aufbrach, ins Wanken.916 Auch in Texten des Neuen Testaments findet sich der religiöse Deutungsrahmen als maßgeblich. In den Evangelien weisen viele Erzählungen auf die Beendigung bzw. Beseitigung von Krankheit hin. Andererseits wird Krankheit und Behinderung auch als ein besonderes Merkmal göttlicher Gnade und christlicher Nachfolge verstanden, d. h. auch der Kranke trägt sein »Kreuz« (vgl. 2 Kor 12,1–13). Menschen lehnen sich manchmal gegen körperliche Beeinträchtigungen auf, an anderer Stelle werden sie aber auch akzeptiert. In diesem Sinne konnte Behinderung als »Begabung« verstanden werden, wenn ein Glaubender davon ausging, dass Gott die Menschen gerade als beeinträchtigte und heilsbedürftige Menschen liebt und nicht nur als solche, die bereits geheilt sind. Intentional zeichnet sich ab: Der kranke, behinderte Mensch gilt hier nicht als der sündige Mensch, sondern er erfährt die besondere Liebe Gottes, indem sich 916 Vgl. Rad: Weisheit in Israel.
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Jesus – und damit Gott – bewusst den Kranken, Behinderten und Leidenden zuwendet. Jesus nimmt den Andersartigen an und wird so selbst zum Maßstab: Wer sich als Leidender unter Leidenden, als Kranker unter Kranken versteht, handelt nach dem Prinzip »Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst«, ohne Leid und Behinderung als Ganzes beseitigen zu können. Die urchristlichen Wundergeschichten bringen als symbolische Handlungen Protest gegen die Ausgrenzung von Kranken und Behinderten zum Ausdruck. Sie werden als Zeichen der Hoffnung für die Überwindung von Krankheit, Hunger, Armut, Gewalt und Traurigkeit erzählt. Die frühen christlichen Gemeinden haben die Erfahrung gemacht, dass eigenes Behindertsein in Leid, Tod und Auferstehung Jesu aufgehoben ist. Auf diese Tradition, die sich mit der Frage nach dem Sinn von Behinderung, Krankheit und Leid auseinandersetzt, bezieht sich auch der Impuls für christliches Engagement zugunsten der Menschen.
4.1.1.2 Leiden: Biblische Muster Im Alten Testament wird Schmerz und Leiden durch die Traditionen historischer, prophetischer und weiheitlicher Litertaur hindurch stets im Zusammenhang seiner Ursachen begriffen. Das Leiden hat – oftmals in zwei Phasen der Ablehnung und anschließenden Annahme – im Verständnis des Tun-ErgehenZusammenhangs Auswirkungen auf das religiöse Leben917, daher wird es auch oft als Strafe und Ungehorsam gegen Gott und Könige begriffen – bei den Propheten auch im Zusammenhang mit der Untreue des Volkes Israel, das zur Umkehr und letztlich damit zur Rettung führen soll. Entscheidend ist, dass persönliches Leiden und politisches Leiden wie Plagen und Gefangenschaft in den Machthorizont JHWHs gestellt werden. Dies wird an einer weisheitlichen biblischen Form besonders deutlich. In den Psalmen begibt sich der Mensch in die Hand und Odnung Gottes: Sie werden zum Sprachrohr, oft für das dankbare Empfangen des Lebens, welches das Gegebensein und Hinnehmen als Lebensform artikuliert. Aus dieser Haltung ergibt sich das Lob, welches den Schöpfer und Erhalter preist. Die Klagepsalmen als poetische Formen von Klage bezeugen den Protest und das Aufbegehren gegen Leiden in Bedrohung und Todesangst. In den Klagepsalmen wird dem Leid und Schmerz metaphorischer und laut klagender Ausdruck gegeben. Dieser wird in liturgischer Hinsicht noch einmal intensiviert, denn Psalmen verleihen dem Leid – und dem Leidenden – eine Stimme, die Gott gegenüber klagt und ihn auch anklagt, ohne jedoch in einen Kontaktabbruch zu verfallen. Der Mensch im Psalm sieht sich vor Gottes An917 Zum Tun-Ergehen-Zusammenhang, den Klaus Koch benannte, siehe Freuling: »Wer eine Grube gräbt …«.
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gesicht gestellt und erhebt seine Stimme zu ihm.918 In einigen der Klagepsalmen wird JHWHs Antwort und Eingreifen als Leerstelle schon im Psalm ersichtlich. Dann vollzieht der Psalm auf der Basis des Gottvertrauens und der zugedachten Hilfe eine Wandlung zu Dank und Lob (so Ps 91). Die Psalmen dokumentieren auf diese Weise einen liturgischen wechselseitigen Kontakt zwischen Gott und Mensch, Gott und Gemeinschaft, der im liturgischen Gebrauch des Wechselgebets bis heute auch als das Gegenüber und Miteinander von Mensch und Mensch aufgenommen ist und in ihren Vollzügen eine sehr emphatische Form des Leidausdrucks darstellen kann. Bereits in Gen 44 und später in Jes 53 kommt mit dem Motiv des leidenden Gottesknechtes noch deutlicher der Gedanke des stellvertertenden Leidens durch, der die Hoffnung auf Sühne und Vergeltung für unverschuldetes Leiden in Gang bringt. Dies wird in unterschiedlichen Lesarten ein wichtiges Motiv für das Durchhalten im und die Sinnfrage zum Leiden und nimmt damit auch das Jenseits in den Blick. Der Zusammenhang von Leid und Schuld ist damit retrospektiv gegeben. Im Neuen Testament wird dieser Zusammenhang nicht negiert, aber im positiven Sinne aufgebrochen. Hier, wo die Terminologie des pahor vorkommt, werden vor allem leidende Menschen skizziert, die sich an Jesus mit der Bitte um Erlösung wenden. In den Heilungsgeschichten geht Jesu Hilfehandeln hier weniger auf magisches Tun ein; es wird vielmehr als ein Wirken verdeutlicht, das dem Glauben der Leidenden entsprechend Heilung und Erlösung erwirkt. An diesen Geschichten wird verständlich, dass das Leiden der Ort ist, an dem die Zukunft des heilsamen Reiches Gottes präsentisch wird und in eine Gegenwart hineinreicht, die von der Verheißung von Heil lebt. Daneben wird aber Paulus als eine Gestalt sichtbar, die in einem durchaus pathischen Widerfahrnis – ein Schlüsselerlebnis, das theologisch meist als Bekehrung interpretiert wird – vom Verfolger zum Missionar wird. Die paulinische Leidenstheologie hebt mit der Kreuzesnachfolge hervor, dass Christen nach wie vor in der Welt stehen; die Frage nach Gott wird hier nicht als ursächlicher Zusammenhang gesehen, vielmehr steht Gottes Präsenz auch im Leiden außer Zweifel. Das Leiden derjenigen, die sich zu Jesus Christus bekennen, ist darum eben nicht das der Entfremdeten, Gottfernen, sondern dem christlichen Leben zugehörig. Heilstiftend ist die Zugehörigkeit zur Existenzordnung des Christlichen, was erklärt, dass Heil nicht die Abwesenheit von Leiden voraussetzt. Dies alles ist letztlich theologisch auf dem Hintergrund der paulinischen Biografiedarstellung begreiflich. Damit verbindet sich jedoch auch ein schwieriger Punkt: Gerade wegen der unangefochtenen Bereitschaft des Märtyrerdaseins wird Paulus zu 918 Siehe insbesondere die Krankheitspsalmen, z. B. Ps 38 oder 41; vgl. Seybold: Das Gebet des Kranken im AT.
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einem Vorbild, das für die Lebensverhältnisse ohne diesen Hintergrund nur verkürzt verständlich wäre. Es kristallisiert sich also heraus, dass Schmerz alttestamentlich als zwar nicht unproblematischer, aber dennoch grundlegend zugehöriger und akzeptierter Bestandteil der Beziehung zu Gott gilt. Im Neuen Testament wird Leiden wie bei Hiob zu einer »Bewährungsprobe«919 einer Lebenshaltung des Glaubens und Grund zur Nachfolge. Unklar bleibt noch, inwiefern andere biblische Gestalten als Muster, Beispiele und Verkörperungen für Leidenserfahrungen gelten.
4.1.2 Systematisch-theologische Aspekte des Pathischen Auf dem Hintergrund biblischer Skizzen wende ich mich nun gegenwärtigen theologischen Diskursen zu. Wie gehen theologische Modelle des 20. Jahrhunderts mit Aspekten des Pathischen um? Welche Paradigmen und Aspekte des Pathischen werden thematisiert, welche liegen im Verborgenen? Welche Interpretationsmuster werden dabei aktiviert? 4.1.2.1 Probleme der Christentumsgeschichte Die Darstellung von Leiden durch die Geschichte des Christentums hindurch ist ebenso interessant wie hoch komplex. Sie würde eine eigene Untersuchung erfordern.920 Ich konzentriere mich jetzt auf einige Problemlinien, die sich aus ihr für die heutigen theologischen Fragen zu Gestalt und Umgang mit Leiden ergeben. Blickt man in die Anfänge der Kirchengeschichte, so ist bemerkenswert, dass die verfolgte Kirche mit den Märtyrern ein wichtiges Erbe darstellt. In der Alten Kirche sowie im Mittelalter zielt die Mystik auf eine Vereinigung von Kampf und Kontemplation. Die christliche Tugend der Geduld zählt als Askese der eigenen Leidenschaften. Es erscheint nicht gerade als ein Wunder, dass nach der Verfolgung das Ideal der Apathie vorlag. Ein Versuch der Verknüpfung von getanem und erlittenem Leiden ist bei Augustin vorzufinden: »Nicht was, sondern wie man leidet, darauf kommt es an.«921 Mittelalterlich wirkt dann die erzieherische Zumutung, auch mit Formen der willentlichen Zufügung von Leid an sich selbst. Am Spätmittelalter sind typologisch Modelle der Leidensbewältigung in unterschiedlicher Rationalität erkennbar. In der scholastischen Theologie hat die Frage nach der Natur des Bösen Platz, nicht aber, wie dann in der refor919 Wriedt: Solidarität mit den Leidenden, 161. 920 Ansätze dazu siehe bei Wriedt: Solidarität mit den Leidenden. 921 Augustin: De civitate Dei. 18 XIX, 4.
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matorischen Theologie, der Zusammenhang von Leid und Trost. Mönchisch wird aus dem asketischen Weg der Gotteserkenntnis ein mystischer Weg der Passionsfrömmigkeit. In der monastischen Theologie, besonders bei Bernhard von Clairveaux, wird Leiden ein wichtiges Motiv ; die spätmittelalterliche Mystik bei Heinrich Seuse, Johannes Tauler, Meister Eckhart oder Thomas von Kempen pflegt einen mystischen Weg vor allem im Mitleiden der Passion Christi, deren affektives Potential in der spätmittelalterlichen Ikonografie dokumentiert ist. Unter der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur sind zahlreiche Trostbücher zu finden (»eklektizistische anonyme Traktate«), welche eine Verbindung von asketischer Leidenstheologie und mystischer Leidensfrömmigkeit suchen.922 Die Thematisierung von Leiden ergibt so eine Linie von antiker Philosophie zu spätmittelalterlichen Consolatorien. Der christliche Humanismus wird zuweilen anfällig für das Ideal der Apathie (Erasmus von Rotterdam), indem es Leiden stoisch zu ertragen gilt. Luthers Passionsmystik und die geistliche Dichtung des Luthertums widmen sich vor allem der Passion Christi und wenden sich mit ihr gegen den neuen Stoizismus. Die imitatio Christi wird sowohl von der affekterzeugenden Anschauung als auch von der Nachahmung des Exempels unterschieden; hier geht es um den Glauben an das Wort Gottes im Leiden. Bei Melanchthon wird das Leidensthema in sein theologisches Lehrbuch integriert; Leiden ist für ihn etwas Gegebenes, weder ideal noch sträflich, sondern es wird als Teil der Wirklichkeit betrachtet.923 Obwohl die Lebenserfahrung mit dem dogmatischen Zentrum christlicher Theologie in der Leidensthematik zusammenkommt, ist sie bis zur Aufklärung kein fester Bestandteil der protestantischen Theologie.924 Walter Sparn konstatiert den Mangel an theologischer Reflexion, jedoch in komplementärer Verschiebung: »Der Umgang mit vorhandenem und zu erwartendem Leiden wurde aus der theologischen Disziplin entlassen und der pastoralen Professionaliät zugeschoben oder der religiösen Traktatliteratur überlassen.«925 In der protestantischen nach-reformatorischen Frömmigkeit wird eine Unterscheidung von der Leidensgnade und dem Kreuz des christlichen Lebens zu einer wichtigen Struktur. Das Fühlen der Leidensgnade im Mittelalter hat bis ins 18. Jahrhundert hinein noch sittliche Qualität, wobei Erfahrungen wie der Dreißigjährige Krieg dazu führten, dass die Deutung der Leidenserfahrung aus dem Christentum in die Dichtung der Zeit auswanderte. Poetische Sprache wird hier zur expressiven Form für erfahrenes Leid, wo die Sprache der rechten theologischen Lehre an die Grenzen der Erfahrung stößt. 922 Jung: Leidenserfahrungen und Leidenstheologie in Melanchthons Loci, 268. 923 Für Melanchthon ist Leiden etwas Gegebenes, weder ideal noch sträflich, sondern es wird als Teil der Wirklichkeit (vgl. a. a. O., 288). 924 Vgl. a. a. O., 270. 925 Sparn: Leiden, 698.
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In der Neuzeit ändert sich das Verhalten zum Leiden; die Theologien sind von deutlichen Gegensätzlichkeiten geprägt. Aufklärerisch findet die Hinnahme des Leidens ein Ende, Ursachen werden zu erklären und damit die Kontingenz des Leidens aufzuheben versucht. Damit kommt auch die Frage nach Ursache und Grund des Leidens in Gestalt des Theodizee-Problems auf. Dieses bringt – in einer abstrahierten Neuauflage von Tun- und Ergehen-Zusammenhang zwischen Gott und Welt – eine Rationalisierung und Moralisierung des Leidens mit sich, die wiederum in der christlichen Korrektur der Theodizee geschwächt wird. Romantik und Empfindsamkeit lassen die identifikatorische und auch die eigenes Leid zufügende Seite der Theologie aufleben. Es folgen moralisierende und dann aber auch christentumskritische Stimmen eines Skeptizismus. Nietzsches Position, Religion als Ursache für falsches und fixiertes Leiden zu sehen, wird schließlich auch psychoanalytisch so gesehen. Die Leidenserfahrung als Schmerzlichkeit kommt in ihrer Sprache eher außerhalb der theologischen Zunft zur Sprache, vor allem in der Philosophie und Literatur. Trotzdem existieren parallel theologische Versuche zur Vermittlung von Leiden und Heil, Welterklärung und Hoffnung unterschiedlicher Provenienz.
4.1.2.2 Reflexe und Reflexionen in der Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts Frühe theologische Entwürfe des 20. Jahrhunderts greifen in unterschiedlicher Weise menschliche Existenz und göttliches Handeln auf. Walter Sparn hat erfasst: »Die Theodizee ist seither [seit den 20er Jahren] ein theologisches Thema immer im Sinne einer Kritik der Theodizee.«926 Legt die Dialektische Theologie mit Karl Barth Wert auf die Unbedeutsamkeit der menschlichen Lebensseite von unten, weil Gott nur alteritätstheoretisch gedacht und geglaubt werden kann, so wird diese doch in einem idealistischen System, deren Gegenstand Existenz ist, wirksam. Damit kommen in der existenzialen Interpretation bei Bultmann mit dem Leiden Prozesse des Scheiterns der Selbstgerechtigkeit in den Blick.927 In der Krise des liberalen Protestantismus im Gefolge der Katastrophe des 1. Weltkriegs ist die ethische Bedeutung des Leidens umstritten; sie kann einerseits zu zuwendendem sozialem Handeln, andererseits aber auch zur Legitimation eines »gerechten« Krieges führen. Paul Tillichs Akzent auf dem Leiden als Element der Endlichkeit ist bis in die Gegenwart bedeutsam.928 Damit werden andere Unterscheidungen möglich: zwischen geschöpflich anzunehmender individueller Endlichkeit und dem Leiden der Entfremdung, dessen Aufhebung endzeitlich verheißen ist, auch der Partizipation an der Entfremdung und dem 926 A. a. O. 927 Vgl. Bultmann: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? 928 Tillich: Systematische Theologie, 222ff.
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Kampf gegen dieselbe.929 Trotzdem wird damit auch deutlich – in Anlehnung an bestimmte Vertreter der medizinischen Anthropologie, die in dieser Hinsicht psychoanalytisches Denken korrigieren: Ein leidensfreies Leben ist nicht möglich, die Flucht in ein solches eine Illusion, und folglich ist ein Verknüpfungszusammenhang aus erlittenem Leid und Lebenssinn vonnöten. Die Krise der theologischen Leidensdeutungen wird angesichts des Holocaust deutlich verschärft. Es sind nicht nur die ersten harten Leidenserfahrungen der Neuzeit, die in dem Erleben von Vernichtung und sinnlosem Leiden durch Krieg. Mit dem Holocaust bzw. der Shoa und den theologischen Reaktionen nach Auschwitz im Christentum und im Judentum wird im öffentlichen Bewusstsein nicht nur eine theologische, sondern auch eine ästhetische Bruchlinie deutlich: Die Ästhetik heiterer Gelassenheit verwandelt sich in Betroffenheit. Damit wird die Theodizeefrage brisanter, aber zugleich jeder Versuch einer Theodizee schwer erträglich. Die gesellschaftliche Dimension des Wandels von der totalitären Herrschaft zur Wohlstandgesellschaft und technokratisch werdenden Moderne rückt ins Blickfeld. Im Horizont derartiger Katastrophen wird die Unvermeidbarkeit von Unverfügbarkeiten umso mehr ersichtlich, aber ebenso der Zusammenhang mit Schuld und Vergebung.930 Die jüdischen wie christlichen theologischen Antworten entstehen vor dem Hintergrund, dass unzählige Vertreter und die Kirche selbst verfolgt worden sind. Inwiefern die nachtheistische Theologie auch eine Theologie der Säkularisation ist oder nur von dieser Beobachtung der Entzauberung der Welt ausgeht, sei dahingestellt: Fakt ist, dass zumindest der Zweite Weltkrieg und die Machtzusammenhänge, in die Gesellschaft und Kirche eingebunden sind, theologische Gedankengänge hervorbringen, die das Verhältnis von Mensch und Gott im Blick auf Elemente des Pathischen radikalisieren. In der Jüdische Theologie nach Auschwitz artikulieren sich zwei Tendenzen: sowohl das Beharren auf dem Gebet und dem Vertrauen, dass der Holocaust nicht das letzte Wort hat931, als auch die Anklage an das Schweigen Gottes und sein Gewährenlassen der äußersten Not, in der Gott selbst zum ohnmächtigen Leidenden wird.932 Christlicherseits wird Theologie – so bei Dietrich Bonhoeffer – durch eigene biografische Betroffenheit geprägt und auch gerade in dieser Form der Verarbeitung pathischer Erfahrung in der Theologiegeschichte posthum nachhaltig wirksam. Auch Dorothee Sölle, eine der wenigen renommierten Theologinnen, die auf Säkularität antworten, befasst sich mit Elementen des 929 Vgl. Tillich: Systematische Theologie I, 309f; II, 80f; III, 280.471. 930 Vgl. Stuttgarter Schuldbekenntnis; vgl. Greschat: Schwieriger Weg ins Freie: das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 hat Kirche und Nation beeinflusst. 931 So Leo Baeck: Dieses Volk, jüdische Existenz; vgl. auch vorsichtiger und in der Erwartung ausstehender Erfüllung Schalem Ben-Horin: Als Gott schwieg. 932 Für Gott muss zuweilen auch der Mensch einstehen, so bei Lapide.
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Pathischen zwiscchen Politik und Mystik und hebt eine Sprache des Leidens in der Poesie hervor.933 Kazoh Kitamori entwickelt eine theologia crucis, in der Gott im Schmerz selbst leidensfähig wird.934 Jürgen Moltmann, der das utopische Denken intensiviert, nimmt Leiden eschatologisch auf und legt damit das Fundamt für eine Ethik der Hoffnung.935 Johann Baptist Metz ruft zu einer politischen Erinnerung des erlittenen Leidens (Memoria Passionis) und zu Compassion auf.936 Diese Anstöße der Theologie nach Auschwitz legen mit der Verankerung solcher Erfahrung für die theologischen Entwürfe der Gegenwart entscheidende Wurzeln. Sie stehen ebenso im intensiven Gespräch mit der in Lateinamerika und Asien entstehenden Befreiungstheologie, die das Einbrechen der Armen »in die Geschichte« aufnimmt und die ebenso Theologie als eine kritische Reflexion auf Erfahrungen im Kontext des Leidens und seiner Überwindung begreift.937 Mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen erneut die Anthropologie und Kulturwissenschaften eine große Rolle für eine Theologie, die sich mit Dimensionen des Pathischen auseinandersetzt und auf diese reagiert. Insofern haben theologische Ansätze responsiven Charakter im Zusammenhang lebensweltlicher Erfahrung und lebensgeschichtlicher Widerfahrnisse. In ihnen werden vermutlich nicht messbar größere Erfahrung und Widerfahrnischaraktere aufgenommen, als dies vorher der Fall war. Dennoch werden ereignishafte Aufnahmen ebenso wie strukturelle Erfahrungen in klarerer kultureller, geschichtlicher und gesellschaftlicher Nähe zu gegenwärtigen theologischen Fragen und Erscheinungen gestellt, als dies etwa die reformatorische Theologie in der Wende zur Neuzeit erbrachte. Die sehr unterschiedlichen religiösen Dispositionen für Erfahrung des Leidens evozieren Deutungs- und Umgangsmuster, sowohl hinsichtlich der verfassten Religionen als auch innerhalb des weltanschaulichen Synkretismus. In diesen theologischen Strömungen wird – wieder einmal auf andere Weise – deutlich, dass eine rein aktiv tätige Bewältigung wiederum auch die Leidenden selbst aus dem Blick zu verlieren droht. 4.1.2.3 Zur Aufgabe der Theologie im Professionszusammenhang Mit der oben genannten Ausrichtung einer modernen bis spätmodernen Theologie zeigt sich gleichsam das Problem der »Grenze des Handelnkönnens«938, welches grundlegende systematisch-theologische Aufgaben im Hori933 934 935 936 937 938
Vgl. Sölle: Leiden. Vgl. Kitamori: Theologie des Schmerzes Gottes. Vgl. Moltmann: Theologie der Hoffnung; ders.: Ethik der Hoffnung. Vgl. Metz: Memoria passionis. Vgl. Collet: Theologie der Befreiung, 7 (nach einem Zitat von Gustavo Guti8rrez). Sparn: Leiden IV, 702.
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zont der Anthropologie evoziert. In der gegenwärtigen Schere zwischen wachsenden technokratischen Möglichkeiten der Kommunikation und kontinuierlicher Grenzerfahrung ist diese Herausforderung geblieben. Zum einen ist die christologische Verhältnisbestimmung des Lebens angesichts von Leid im Zuge der Spannung zwischen Leidbemächtigungsversuchen auf der einen und Bewegungen zu asketisch-mystischen religiösen Lebensformen auf der anderen Seite radikaler denn je. Insofern ist, auch im Bezug auf alltägliche Grenzsituationen wie das ernsthafte Kranksein, zu eruieren: Was markiert den Horizont für Überlegungen zu einer theologischen Ethik? In der Geschichte der Theologie wird Leiden vielfach im Zusammenhang mit Heilsökonomie gesehen. Der theologische Kontext dieses Verständnisses stellt die Bedeutung der Theologie in einer modernen und nachmodernen Sicht auf Leiden in Frage. Damit wird auch eine pastorale, professionelle und pädagogische Praxis von Kirche strittig, wenn sich diese nur daran orientiert und eine Erscheinung zwischen Sadismus und Masochismus erwirkt. Dann würde Theologie nur noch zur geschichtlichen Herkunft gebraucht, nicht jedoch als Norm und Bezugswissenschaft. Für die ethische Konturierung der Dimension des Pathischen werden aber unterschiedliche theologische Aspekte bedeutsam: a. Beständig, in unterschiedlichen Ausprägungen von Aspekten der Theodizeeproblematik, werden die Fragen nach dem Warum des Leidens, der Herkunft des Bösen, und der Umgang mit Leiden, auch in Akten von Klage thematisiert. Die Argumentation verläuft genau dem Apathieideal entgegen: Jegliche Theodizee, die das Leiden der Opfer akzeptiert, rechnet mit einem fühlenden und daher auch leidensfähigen Gott.939 Zu diesen Auseinandersetzungen gehören die Theodizeekritik und das Offenhalten der Theodizeefrage.940 Kontextualisiert wird diese Thematik auch in anderen Religionen.941 Damit stellen sich auch Fragen wie: Welche Rolle spielt auch nach »nach Auschwitz« der Umgang mit Schuld im Blick auf Leiden – faktisch, kritisch, praxisnormativ? b. Die Nachhaltigkeit einer jüdischen Theologie nach Auschwitz wird insbesondere in den ethisch orientierten Anklängen an den Umgang mit dem Anderen virulent. Die Bewusstheit größerer Heterogenität eröffnet theologische Einsichten in phänomenologischer wie ethischer Hinsicht dabei auch für Explikationen von Fremdheit. Theologische Entwürfe orientieren sich damit stark an der Philosophie von Martin Buber, Franz Rosenzweig, aber auch an
939 Vgl. Sarot: God, Passibility and Corporeality. 940 Vgl. z. B. Harasta: Mit Gott klagen; Koslowski / Hermanni: Der leidende Gott. 941 Z. B. Koslowski: Ursprung und Überwindung des Bösen und des Leidens in den Weltreligionen; Renz u. a.: Prüfung oder Preis der Freiheit? Leid und Leidbewältigung in Christentum und Islam.
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Emmanuel L8vinas und neuerdings auch an der Lebensweltphänomenologie von Bernhard Waldenfels. c. Zugleich spielen für Ansätze ästhetisch inspirierter Theologie der Nachmoderne mehr denn je die kulturellen Inszenierungen von Leidens- und Passionsmotivik eine Rolle. Traditionen der Passionsfrömmigkeit werden zugleich bewahrt in liturgischen und in kulturellen, auch populären Zeugnissen, sie kommen im Gottesdienst und in modernen kulturellen Inszenierungen ins Spiel.942 Damit werden nicht nur reinszenierte Memorabilien benannt. Diese Formen und Szenen des Pathischen gehören nach wie vor zum kulturellen Alltag vieler Menschen, die Orte aufsuchen, Rituale begehen und z. T. auch konsumieren – so nicht unbedingt um allesamt Frömmigkeit willen, aber doch zumindest um mit ästhetischer und damit auch mit religiöser Erfahrung in Berührung zu kommen. Die jüngere ästhetische Theologie nimmt diese Thematisierungen unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung, Deutung und Kultur auf943 und mündet in eine kulturhermeneutische Aufarbeitung der Kategorien der Passion und Passivität, die das Pathos als dritte Kategorie zwischen Logos und Ethos erhebt.944 Mit Simone Weil und Konrad Stock ist darauf hinzuweisen, dass die verschiedenen Dimensionen des Leidens zu der Struktur personalen Daseins dazugehören, was Stock als Krise des Selbstverhältnisses deutet945 – an dieser Nahtstelle ist auch ein massives Bildungsinteresse an Religion zu verankern. Wichtig wird, die theologische Selbstkritik nicht aus den Augen zu verlieren, damit sich Theologie nicht auf eine rein theoretische, (er)lebensferne Antizipation von Leiden stützt und Lebenserfahrung leugnet oder vertuscht. In ethischer Hinsicht bleibt die Aufgabe, die Erinnerung und Stimmen der Leidenden wach zu halten und vor einem Absprechen des Leidens zu schützen. Im wahrsten Sinne des Wortes bleibt frag-würdig, wie es möglich wird, die Vermeidung von Leiden und die Solidarität mit Leidenden auszutarieren und zu ermessen, welche theolo942 Noch immer finden alle 10 Jahr in Oberammergau und auch an anderen Orten Passionsfestspiele statt, die sich hoher Besucherzahlen erfreuen; alljährlich werden barocke und moderne Passionen kirchenmusikalisch in vollen Kirchen aufgeführt und gehört, bildende Kunst in und außerhalb von Kirchenräumen wie etwa Mathias Grünewaldts Isenheimer Altar in Colmar finden nach wie vor unzählige BesucherInnen. Religiöse Thematiken zeigen sich auch in aktuelle künstlerische Gestaltungen hinein; Darstellungen und Übermalungen von Dimensionen des Leidens, Opfer, Stellvertretung und andere Elemente werden ins Spiel gebracht; man denke etwa an Filme wie Mel Gibsons »Passion«, musikalische Werke wie Arvo Pärts »Passio«. Vgl. dazu auch den Zugriff von Heimbrock: Das Kreuz. 943 Vgl. das mehrbändige Werk von Alex Stock: Poetische Dogmatik; Klaas Huizings Ästhetische Theologie, insbesondere Bd. 3: Der dramatisierte Mensch. 944 Stoellger : Passivität aus Passion. 945 Vgl. Stock: Gottes wahre Liebe; Weil: Das Unglück und die Gottesliebe.
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gischen Darstellungsformen dazu nötig sind. Dies betrifft nicht nur die Ermöglichung und Grenzen von theologischer Sprache und Praxis, sondern auch die Methodik von Theologie. Im Blick auf die Lebensform der vita passiva muss aber auch kritisch bedacht werden, dass die Überlegungen moderner Theologie nach dem Subjektivitätsparadigma auf Selbstdeutung und Selbstannahme zielen. Gerade mit dem Gewahrwerden einer Erfahrung von Fremdheit in der Achtung des Anderen, wie sie philosophisch auch in die Theologie eingebracht wird und deutlicher einzuspielen ist, bleibt die Suche nach den Balancen von Selbstverwirklichung und Zurückhaltung im Blick auf eine intersubjektiv verankerte Personalität. Auszuloten ist, wie sich das Verhältnis von betroffener Partizipation und differenzierter Achtung des Anderen gestaltet. Interdisziplinäre Zusammenhänge zwischen Theologie und näher wie ferner benachbarten Wissenschaften ermöglichen Modi ausdrücklich unterschiedlich perspektivierter und oft dialogisch ringender Zugänge zu Problemzonen des Pathischen, in denen der Theologie Außenansichten vom Anderen her ermöglicht, aber auch abgefordert werden. Dies betrifft z. B. zwischen Medizin, Kulturund Religionswissenschaft und Theologie die Krankheitsdeutung.946 Zeitweise hat Theologie die Befassung mit Leiden an Medizin oder bestenfalls Ethik delegiert und hat nur noch entfremdete dogmatische Bezüge. Vielfach erfolgt praktisch ein Delegationsverfahren an pastorale Profession in Anbindung an Humanwissenschaften oder an religiöse Traktat- und Erbauungsliteratur. Zutage gefördert werden die anthropologischen Gegebenheiten. Dennoch bleibt die Herausforderung der Nachmoderne, Erfahrung von Leiden in der Krise der emanzipatorischen Praxis der Moderne auch an den Rändern und Grenzen von Praxis sprachfähig zu machen. Dazu ist jedoch die Aufnahme und Aufarbeitung von human- und kulturwissenschaftlichen Thematisierungen von Leiden in die Theologie hinein unumgänglich – ohne dass die Brisanz der Leidensproblematik verlorengeht, aber auch im Blick auf das Hervorheben der gesunden und heilsverheißenden Seite. 4.1.2.4 Praktisch-theologische Felder im Horizont der Professionen In der Praktischen Theologie kommen Themen, Probleme und Lagen des Pathischen letztlich in allen Bereichen und entsprechenden Handlungsfeldern zum Tragen. Auch hier kann keine komplette Übersicht der gesamten Befassungen mit Leiden stattfinden. Für meinen theologischen Zugang sei jedoch auf eine Schneise für das Verständnis Praktischer Theologie hingewiesen: Einen Mei946 Vgl. eher implizite Interdisziplinarität bei Thomas / Karle: Krankheitsdeutung in der postsäkulären Gesellschaft; explizit Alkier / Dronsch: HIV / AIDS. Ethische Perspektiven.
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lenstein für das Verhältnis von Theorie und Empirie in der Praktischen Theologie markierte Henning Schröer in den 1970er Jahren durch die »Relevanz der im Begriff Affekt darstellbaren psychologischen Relationen für das Ereignis des Glaubens«.947 Nicht von ungefähr ist es gerade dieser Lebensbereich, an dem praktische Theologie und Handlungswissenschaft miteinander ins Geschäft gebracht werden.948 Das Aufgreifen des Affekts führt symptomatisch zu neuen Überlegungen, wie sich die Neufassungen einer theologia crucis bei Kitamori, Moltmann etc. praktisch-theologisch auswirken würden. Der »in der Gotteslehre zu findende schmale Weg zwischen Psychologisierung und Apatheia-Ontologisierung Gottes, zwischen Ver- und Entgeschichtlichung seiner Lebendigkeit«949 galt schon da als Problem und Aufgabe der Praktischen Theologie, das sich am Affekt-Begriff spiegelte. Insbesondere der Pastoralpsychologie, die bis in die 1990er Jahre hinein maßgeblich war, liegt daran, Grenzerfahrungen empirisch zugänglich zu machen und sie damit in die Mitte Praktischer Theologie zwischen handlungswissenschaftlicher und wahrnehmungswissenschaftlicher Perspektive zu rücken. Um nur einzelne Beispiele für die Darlegung des Horizonts zu nennen: Liturgik inszeniert nicht nur die Leidensdimension Jesu Christi im Kirchenjahr und in jedem Abendmahl, ihr Praxisfeld bringt auch z. B. in seinen liturgischen Formen des Psalms der Erbarmungsrufe menschliche Passivität in den Kirchenraum, in dem Leidensgeschehen in einer symbolischen Ordnung reinszeniert zu Gott gebracht wird. Die Homiletik als Reflexion sprachlicher Gestaltung von froher Botschaft nimmt ebenfalls die Grundsituation von Passivität und Schwäche auf, in die hinein predigend agiert wird.950 Alle Oikodomik geht auf Lebenslagen, insbesondere Situationen ein, die Leiden und Passivität mit sich bringen – z. B. Besuchskultur, Altenarbeit etc. Deutlich ist, dass Poimenik mit der Seelsorge in ihren Ausprägungen insbesondere den Schwerpunktbereich in den Blick nimmt, in dem man sich um das Wohlergehen von Menschen kümmert, in dem sorgende Mittel für den Menschen zum Tragen kommen. Seelsorge stellt sich in der Praxis als ein professionelles Feld dar, in dem der Umgang mit dem Pathischen zum Programm gehört, immer in einer Spannung des Könnens und Nicht-Könnens, des Wissens 947 Schröer : Art. Affekt, 624. 948 Die Heterogenität des philosophischen Verständnisses von Affekten wirkt auch auf ebenso unterschiedliche Seelsorge-Konzepte einwirken – zunächst als kathartische Methode, dann aber auch später Psychosomatik. Schröer relationiert 1977 Trieb, Gefühl, Sprache, Person, und benennt am Affektbegriff das anthropologische Problem. Daher »kann der theologische Gebrauch dieses Begriffs durchaus als Paradigma für das Verhältnis von Praktischer Theologie und empirischen Handlungswissenschaften angesehen werden« (ebd.). 949 Ebd. 950 Dazu gehört etwa die Homiletik von Bieler/Gutmann: Rechtfertigung der »Überflüssigen«?
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und Nicht-Wissens. Konzepte der Seelsorge stehen daher auch immer in dem Verdacht, vorweg zu wissen und zu normieren, was als konkreter Sorgefall nicht vorwegzunehmen ist. Geht es dabei um den professionellen Umgang mit dem Leiden, so wird deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten interdisziplinäre Zusammenhänge zwischen Sozialwissenschaft und vor allem Psychologie, aber auch Philosophie für diesen Bereich zurate gezogen worden sind, der als ein essentielles Praxisfeld christlicher Nächstenliebe begriffen wird. Schmerz, Behinderung, Krankheit, Tod, Sucht, Beziehungen sind dabei Foci der Erlebensgebiete. In der Diakoniewissenschaft liegt die gesellschaftliche Reflexion des Leidens begründet – hier wird der Blick geöffnet, dass Leiden auch gesellschaftlich verursacht ist; die Zuwendung gilt dem hilfebedürftigen Anderen. In den Praxisfeldern sind noch nicht genügend Schnittflächen für ein Umgehen mit Leiden und Passivität im Visier : Nur nach und nach rückten mit wissenschaftlichem Blick auf den Gottesdienst Homiletik und Liturgik als Theorieperspektiven gottesdienstlichen Handelns zusammen. Nur vereinzelt werden Seelsorge und Diakonie als Reflexionsperspektiven verbunden.951 Verbindungen von Seelsorge und Liturgie zu gemeinsamem praktisch-theologischen Handeln werden derzeit eher selten gezogen.952 Entsprechend wird auch Schulseelsorge bisher weniger von der Seelsorge als vielmehr von der Religionspädagogik wahrgenommen. In der Religionspädagogik bezieht sich der Bereich der Fachdidaktik auch auf Lernvorgänge, in denen der Umgang mit und die Bewältigung von Leiden eine große Rolle spielt. Hier ist die Differenz des Unterrichtens zu bedenken, die im Wesentlichen von der Lern- und Leistungsfähigkeit und daher der Aktion des religiösen Lernens ausgeht. In Feldern wie dem förderpädagogischen religiösen Lernen, in Fragen der Integration Beeinträchtigter und Inklusion setzt sich Religionspädagogik bewusst mit den Performanzen von Religionspädagogik angesichts von AdressatInnen mit pathischen Gegebenheiten auseinander. Jugendsoziologische Anschlussstudien geben Aufschluss über die Implizität religiöser Auseinandersetzung vor dem Hintergrund expliziter Relevanz von Grenzsituationen und Leiderfahrungen. In der Praxis liegt das Augenmerk auf dem wachsend ins Bewusstsein rückenden religionspädagogischen Handlungsfeld der Schulseelsorge, aber erst langsam finden sich diesbezügliche wissenschaftliche Ansätze zur Reflexion von Praxis und theoretischen Konzeptionalisierung. Religionspädagogik hat die Aufgabe, Religiosität und Religion, implizite und explizite Formen der Religion in sich aufzunehmen und Bedingungen von 951 So Ziemer/Städtler-Mach: Diakonie als Seelsorge – Seelsorge als Diakonie. 952 Vgl. Bieler : »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich«.
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Lehren, Lernen und Bildung zu reflektieren. Auch darin muss sie die Zirkularität des Vorwegnehmens und Rekonstruierens, was im je gegebenen Fall ganz anders aussehen kann, aufrechterhalten – wie in jeglicher Unterrichtsplanung als Paradoxon bereits steckt. Wie wir gesehen haben, bilden Passion und Leiden in den zentralen Feldern Systematischer Theologie Topoi der Tradition. In den meisten Bereichen der Praktischen Theologie werden Phänomene und Elemente des Pathischen aufgenommen und reflektiert. Zu den Konzepten eines Umgangs mit Leiden zählt nicht nur Heilung, sondern auch Trost953 ; mit Recht ist vor der Illusion des Glaubens an eine »Leidensbewältigung« zu warnen.954 Dennoch sind dies nicht unbedingt unhinterfragte Selbstverständlichkeiten für eine Theologie, auf die sich auch religionspädagogisches Handeln stützt und auf das es sich in seinen Praxiskulturen rückbezieht. Lohnenswert ist daher noch genauer zu erkunden, welche Einflüsse die phänomenologischen Ermittlungen zum Pathischen auf die Ausformung gegenwärtiger Theologie haben.
4.1.3 Theologie und lebensweltliche Erfahrung zwischen Empirie und Theorie 4.1.3.1 Zur Notwendigkeit phänomenologischer Erweiterungen Bisher wird deutlich, dass die theologischen Topoi Passion und Leiden menschliche Erfahrung aufnehmen und transformieren wollen. Diese Gegebenheiten sind im Rahmen praktischer Theologie vor allem pastoralpsychologisch (Richard Riess, Joachim Scharfenberg,) wie in Bezug auf je unterschiedliche religionskulturelle Anlässe für Pathoserfahrung oder religionsphänomenologisch-mystagogisch (Manfred Josuttis) erschlossen. Auch soziologisch wissen wir einiges über die grundlegenden Umgangsformen mit pathischer Erfahrung. Jedoch kommen dabei die nur an Einzelfällen ausweisbaren Geflechte von Erfahrung und Kontext schwerlich in entsprechender Tiefe und Dichte zum Vorschein. Im Blick auf die Frage nach einer Kultur des Verhaltens zu Erfahrungen des Unverfügbaren, die von Kambartel und Lübbe mit der Funktion der Kontingenzbewältigung betitelt werden955, liegt mein Interesse darin, die anthropologisch-religionskulturellen Zusammenhänge der Dimension des Pathischen als Ressourcen für eine kulturwissenschaftliche Vertiefung von Passionstheologie auszuwerten. Mein übergreifendes erkenntnisleitendes Interesse besteht darin, eine Theologie des Pathischen als empirisch fundiertes, hermeneutisch konturiertes und hier auch normativ-ethisch geformtes Gerüst 953 Vgl. Winkler : Art. Leiden. 954 Vgl. schon Harbsmeier : »Bewältigung«. 955 Vgl. Lübbe: Religion nach der Aufklärung.
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für den professionsbezogenen kulturellen Umgang mit menschlicher Fragmentarität, Leiden und Passivität zu entwerfen. Dabei sind zwei Horizonte wichtig: a. Inhaltlich gilt es, die theologische Deutungskultur auf den Boden lebensweltlicher Erfahrung zu stellen und somit Erfahrung zur Grundlage einer Theologie zu erheben, die auch wiederum auf Erfahrung zielt. b. In methodischer Hinsicht ist relevant, wie ein Zugang zu dieser lebensweltlichen Dimension gefunden werden kann, der zum einen Erfahrungen darstellt und diese zum anderen mit theologischen Konzepten ins Spiel bringt. Wie kann dieser Stellenwert des Pathischen in der Theologie nicht nur systematisch, sondern auch empirisch bestimmt werden? In einem empirisch wie hermeneutisch fundierten theologischen Diskurs geht es dann darum, die Deutungen von Passion und Leiden empirisch zu erheben und subjekt- wie sinntheoretisch zu belegen oder zu überprüfen. Bei einem empirisch-phänomenologischen Zugang wie hier spielt die Orientierung an der lebensweltlichen Erfahrung eine entscheidende Rolle. Im Rahmen einer empirisch-theologischen Arbeit sind Wege der Auswahl theologischer Auseinandersetzung vonnöten, welche die aufgedeckten Phänomene vor dem Horizont humanwissenschaftlicher Überlegungen aufnehmen, die sich in ihren artikulierenden Erfahrungen und deren unterschiedlichen subjektiven und intersubjektiven Bedeutungen zeigen. Gerade mit dem letzten Rahmen stellt sich die Frage nach dem Besondern, nach dem Mehrwert einer theologischen Betrachtung, wenn das Format empirisch-theologischer Forschung an Erfahrung und Lebenswelt ansetzt.
4.1.3.2 Zum Modell des Theologietreibens Eine Theologie, die Phänomenologie zu ihrer methodischen Grundlage erhebt, muss deren Verständnis offenlegen. Das Interesse ist: Wie lässt sich die Plausibilitätsstruktur für den Zusammenhang zwischen Theologie und Empirie entwickeln und verdeutlichen, wenn das Phänomen in seinen Schattierungen zur Sprache kommen soll? Hier will ich einen Weg zu einem theologischen Modell gehen, mit dem das Pathische in dem Zusammenhang von Mensch, Gott und Welt erhellt wird; Der zumindest partielle Rekurs auf den FALL und Theorie werden in eine Erkundung einbezogen, durch das die phänomenologisch vorfindliche Empirie und normative Bezüge miteinander verwoben werden. Phänomenologische Theologie nimmt die Lebenswelt als Basis und Grundierung theologischen Denkens. Sie achtet darauf, dass die Grundbedingungen des Menschseins zum Tragen kommen, und webt diese als kritische Größe in alle
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theologischen Bemühungen ein. Dies lässt sich an Theologiemodellen schärfen.956 Gefragt ist im Interesse der Gestaltung praktischer Theologie das Zurückgreifen auf fundamentale systematische, praktisch-theologische Ansätze, die anthropologisch und im Blick auf religiöse Bildung der Erfahrung Raum geben und dabei Phänomene des Pathischen im Blick haben. Dabei geht es jedoch nicht um einen klassischen Weg der Erfahrungstheologie im Sinne einer Erweckungstheologie, wie sie in der Erlanger Theologie vorherrschte. Kritisch wird es dort angesichts des mangelnden empirischen Nachvollzugs der Subjektivität, die kausal eingebunden ist. Hier handelt es sich um den Anspruch auf eine Argumentation und Darstellung, die es ermöglicht, intersubjektive Bezüge von subjektiven Erfahrungen ansichtig zu machen. Im Sinne einer Erfahrung mit der Erfahrung müsste also deren Kommunikabilität im Bezug auf die natürliche Erfahrung gegeben bleiben.957 Im Sinne Schleiermachers gilt Dogmatik also als die Artikulation erfahrungsbedingter Glaubensaussagen. Geht man diesen Weg vom Phänomen des Krankseins und Leidens her, werden zwei theologische Ansätze modellbildend. a. Mein Augenmerk fällt hier zum einen auf Henning Luthers Modell Praktischer Theologie. In der Bestimmung seiner Praktischen Theologie reiht sich Henning Luther mit denen etwa von Dietrich Zilleßen und Henning Schröer ein in die aufbrechenden Theologien, die mehr als Kirche in ihrem Handlungsfeld sehen. Diese Horizonterweiterung betrifft die Konzentration auf das Subjekt und den Alltag; dabei gilt die Erweiterung einer Hermeneutik des Fragens in einer phänomenologischen Einbettung des Ansatzes in den Raum und Theorierahmen von lebensweltbezogener Phänomenologie. Luther nimmt darin viel von anderen subjektbezogenen Praktischen Theologien vor ihm auf; zugleich konstituiert sich hier Praktische Theologie nicht als Subjekttheorie individueller Deutungsleistungen, sondern als eine Theorie der Subjektwerdung, die prozessuale, konstruktive, rekonstruktive, aber auch dekonstruktive Elemente
956 Für den hier gefragten Zusammenhang muss deutlich werden, wie die Deutung von Passion und Passivität und dieselben als Strukturanker einer Theologie zum Tragen kommen, ohne dass eine Differenzierung von Erfahrung und theologischer Deutung zu einem Hiatus übersteigert wird. Mit anderen Worten: Gefragt ist hier daher ein theoretischer Weg, der auch die garstigen Gräben von theologischer Ethik und Ästhetik überbrückt und verbindet, und zwar so, dass das Subjekt des Theologietreibens in seinen verschiedenen Erkenntnisorten und -prozessen nicht zerfällt, sondern vielmehr die Begegnungssituationen des intersubjektiven Kontakts mit der Welt aufnimmt und in ihr wie über sie hinaus eine Orientierung findet. Eine Prüffrage dazu wäre: Was ist mit und an den Rändern von Form und Darstellung? 957 Vgl. Jüngel: Erfahrung mit der Erfahrung.
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einschließt.958 So kommen mehr Fragen als Antworten zum Zuge, eher offene Prozesse als geschlossene Ideale. Henning Luthers Praktische Theologie zur Überwindung der Lebensvergessenheit ist nicht praktisch hinsichtlich der Vergewisserung und Beruhigung über das Subjekt, sondern eine der »SubjektWerdung, die eher bestehende Fixierungen und Zuschreibungen von Identität aufbricht«959 ; insofern beansprucht sie, Zuschreibungen und Festlegungen idealer Identität zu hinterfragen und zu unterlaufen. Dazu nimmt sie einen Religionsbegriff in Anspruch, der zum einen das Moment der Kritik aus der Frankfurter Schule einschließt, zum anderen aber auch eine pathische Lebenswirklichkeit betrifft, die mit der Metapher der ›Grenze‹ fokussiert wird. Grenze meint auf den Rändern von Liberaler und Dialektischer Theologie die Differenz und gleichzeitig die Berührung von Religion und Welt – daher nimmt aus dem Blickwinkel der Lebenswelt Religion den Alltag als Erscheinungsort in Anspruch, geht jedoch sie nicht in ihm auf, sondern unter- und durchbricht diesen geradezu. An dieser Grenze konkretisiert sich die Subjektwerdung, und in Auseinandersetzung mit dieser geschieht letztlich auch Bildung. Bildung ist, noch in der Verhaftung biografischer und sozialisatorischer Konzepte der 1980er Jahre, nach wie vor mit dem Begriff der Identitätsbildung belegt, jedoch ist das dafür garantierende Paradigma keinesfalls mehr als idealistische, geschlossene und stark teleologische Identitätsbildung gesetzt. Die Fragmentarität des Subjekts, das eben nicht nahtlos in einem Bild aufgeht, dekonstruiert eine derartige klar abgrenzbare Formel als Bildnis. Stattdessen sind es gerade die – deutlich von der L8vinasschen Phänomenologie her bestimmten – Erfahrungen des Anderen und auch der Kontingenz, an welchen sich Praktische Theologie als praktische ausrichtet und auch Religionspädagogik mit und in ihr bestimmbar wird. Luthers Blick zielt auf eine Revision praktischer Theologie, die hier konsequent von der Erfahrung der Grenze und deren Ausgangspunkt für Erkenntnis (Paul Tillich) aus entwickelt. Dazu gehören zum ersten die Öffnung des »Grenzverkehrs«, der Interdisziplinarität mit den Humanwissenschaften; zum zweiten die Beachtung der Theorie-Praxis-Grenze, d. h. die Weiterentwicklung der praktischen Theologie unter konkretem Einbezug von Lebenswelt als konkreter Lebenspraxis, und zum dritten das Eintreten für eine Vernunft, die sich mit dem reflektierten Überschreiten der »Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren« für mehr als begriffliche, sondern hier ästhetische Ausdrucksformen der Kunst und Literatur öffnet. In Henning Luthers Theologie werden viele Annäherungen an das phäno958 Vgl. Engemann, in RGG IV zu Subjektivität: Ein Mensch gewinnt Subjektivität dadurch, dass er sich nach außen hin öffnet. Er kann nicht Subjekt sein, solange er sich in narzisstischer Selbstbezüglichkeit dem Dialog verschließt und das Risiko scheut, ein anderer zu werden. 959 Luther : Religion und Alltag, 17 (H.i.O.).
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menologische Spektrum des Pathischen, das mir wichtig ist, unternommen. Wir werden sehen, dass auch die Sprachlichkeit Henning Luthers sich großer Relevanz erweist, zumal Luther selbst autobiografisch dem näher war, was der Auslöser für meine Nachfragen bedeutet. Dennoch ist zu vermuten, dass der Perspektivenwechsel, der sich bereits in der anthropologisch-phänomenologischen Betrachtung vollzogen hat, auch für ein theologisches Aufschließen dessen, was das Pathische mit sich bringt, nötig wird. b. Im Zusammenhang meiner Erkundung gilt es jedoch, Theologie auf konkrete Kasus von Handeln zu beziehen, in deren lebensweltlichem Zusammenhang sich überhaupt erst theologisches Denken konstituiert.960 Hier geht es nicht darum, von vornherein typische Fälle festzumachen und anhand derer Praxisstrategien und Rückbezüge zu einem bereits erschlossenen und vorausgesetzten theologischen Fundament zu knüpfen. Vielmehr dient der FALL dazu, theologische Gedankengänge zu initiieren und neu zu befragen – insofern an einer fundamentalen Schnittstelle von systematisch-theologischem und praktischtheologischem Denken anzusetzen. In einer Theologie, die ihren Ausgangspunkt in der Bewegung von Kulturphänomen als das theologische Denken und Handeln initiierendem Fall nimmt, wird der Blick nicht nur auf die typologische Praxis, sondern auch auf den Einzelfall als Phänomen geschärft, an dem überhaupt Typisches ermittelt wird. Dies kann auch gerade heterotypisch sein, indem es einen verdeckten oder verdrängten Sonderfall zur Sprache bringt. Zum Anlass werden dabei auch nicht nur die »großen« Schnittstellen und Übergänge, sondern Bruchlinien der Erfahrung als FALLsituationen, von denen nicht nur der oder die AdressatInnen der professionellen Amtsperson betroffen sind, in welche vielmehr insgesamt handelnde Menschen involviert sind. Daher hat sich zum anderen Dorothee Sölle als Theologin erwiesen, die stets 960 Der Praktischen Theologie liegt es an sich nicht fern, fallbezogene Theorie als Theologie zu betreiben. Kasus sind Anlässe für Kasualien, also Fälle, in denen praktisch-theologisches Handel n in Anspruch genommen wird. Kasualtheologien gehen traditionell auf Anlässe und Bedürfnisse ein, die für die traditionellen kirchlichen Amtshandlungen initiierend sind. Sie sind auf die Erhebung und liturgische Gestaltung z. B. und vor allem von Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Begräbnis bezogen, die in der biografischen Entwicklung Lebensübergänge markieren und rituell begangen werden können. Von daher werden lebenslaufbezogene Schnittstellen zu Kasualien, die theologisch reflektiert werden (Z. B. im Zusammenhang einer Kasualtheologie des Alters). Neuere Kasualtheologien suchen nicht nur die kirchliche Praxis, sondern beziehen die Deutungskompetenzen der betroffenen und auch zu feiernden Personen ein. Lebensweltliche Erfahrung fließt dort insofern ein, als zunehmend die Lebenslagen und Lebensstile des modernen Menschen eruiert und im Blick auf Gestaltungspraxis einbezogen werden. Von daher fragt es sich z. B. nach den Medien bei einem Begräbnis, nach den beteiligten Einstellungen bei der Konfirmation, nach den Haltungen und Hoffnungen in Bezug auf die Taufpraxis. Deutliche lebensweltbezogene Anklänge nimmt eine Kasualtheologie, die zivilreligiös an profanen Lebensübergängen kirchliche Praxis bedenkt und einsetzt (So. z. B. Klie / Fechtner : Riskante Liturgien).
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von Phänomenen her denkt und dabei Fälle einspielt. In ihren theologischen Schriften geht Sölle von den Kulturphänomenen aus, die unbewältigt sind. Nicht eine abstrakte Dogmatik bildet den Start in einer hermeneutische Ausarbeitung, sondern die Erfahrung selbst, die lebensweltlich gesellschaftlich, politisch und natürlich auch persönlich ist, bindet sie daran, als Frau, als Mutter, als gesellschaftlich lebender Mensch und politische Theologin engagiert das Wort zu ergreifen, theologisch zu denken und zu schreiben. Nicht von ungefähr sind es die Leidenserfahrungen von Menschen und Völkern in der Welt und mit Gott, die den Impuls für ihr Theologietreiben bilden.961 Geprägt von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, der Ökumene und der Friedensbewegung, geht es ihr in Schriften wie mündlich gelebten Formen von Theologie um die Perspektive der Betroffenen von unten, der Vergessenen, Unterdrückten und Verstummten. Von diesen Impulsen speist sich ihr Eingehen in politischer und feministischer Theologie auf das Thema des Leidens und den verheißungsvollen Aufbruch in die Hoffnung, das einen Spannungsbogen von ihrer frühen Theologie der 1970er Jahre bis zu ihrem Tod spannt. Ihr Weg des Theologietreibens, die Gestalt, die sich aus diesen Spuren der Lebenswelt und dann auch unter kritischer Ingebrauchnahme kirchlicher, dogmatischer und ethischer Formen herauskristallisiert, wird nicht nur zu einer Form von Theologie, sondern zu einer theologisch gefärbten Poesie, die nicht an Argumentation und Appellcharakter mangeln lässt, die aber durch Lyrik und andere kulturelle Zeugnissen gelebter christlicher Religion angereichert und zuweilen auch emphatisch wird. In ihren theologischen Entwürfen und Büchern werden anthropologische, theologische und vor allem christologische sowie ethische Gedankengänge ineinandergeschoben. Dabei hat stets der Erfahrung und Narrationszusammenhang des Phänomens die Priorität, jegliche Schlüsselerzählung den Vorrang vor der Bearbeitung sich ergebender Fragen. Entgegen jeglicher Intellektualisierung werden theologische Topoi ausgehend vom Fall kontextualisiert und be- und neu erfragt. Zu ihren Kennzeichen zählt das Einbringen eines theologischen wie poetischen Ichs, das eigene Begegnungsanlässe mit politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen und Phänomenen aufgreift; die Seiten aus der Wahrnehmung der Lebenswelt, die sich gerade nicht sofort einsortieren, erklären und analysieren oder gar rechtfertigen lassen, führen bei ihr zum Impuls für eine theologische Narration, die Biografisches, Politisches und Theologisches verknüpfen – hier im Sinne gelebter Befreiungstheologie. Das bedeutet nicht, dass dogmatische Gedankengänge außen vor bleiben – Gedankengänge von Theologinnen und Theologen, aber eben auch von Kulturdenkern und nicht der Öffentlichkeit bekannten Personen werden jedoch kontextualisiert und 961 Sölle: Leiden.
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daher auch in kritischer Distanznahme betrachtet – ohne in eine Verabsolutierung von Lehrsätzen, aber auch, ohne in Plattitüden zu verfallen. Dabei gilt Kirche als die zu befragende geschichtliche Gestalt der Gemeinschaft der Gläubigen, wie sie zwischen Faktizität und Fiktion gelebt wird, mit allen Makeln und Visionen. Theologie denken heißt bei Dorothee Sölle: bei einem Fall aus der Lebenswelt anfangen, die Glaubenserfahrungen mit wie angesichts des Phänomens beschreiben und zu antworten auf das Kulturphänomen – nicht in Form der Wiedergabe dogmatischer Lehrsätze, sondern durch sorgfältiges, kritisches Auswählen, Aufarbeiten historischer Kontextualisierungen und durch Appelle zu deutlichem Handeln. Das Motto »Stumme können selber reden«962 wird dabei zum kritischen Impetus dafür, dass die Perspektive der betroffenen zu Wort kommt. Damit ergibt sich nicht eine Trennung, aber eine notwendige Unterscheidung von Erfahrung und theologischer Begrifflichkeit963, wie sie auch die lateinamerikanische Befreiungstheologie nahelegt und wie sie auch denjenigen ermöglicht, sich in theologisches Denken hineinzubewegen, die selbst eher Geschädigte desselben sind und die als Appell dafür stehen, theologisch erfahrungsgesättigt zu artikulieren. Damit bekommt ihre Theologie etwas Maieutisches, in sich Didaktisches, das aufschließen will für Erfahrung mit Glauben in der Nachfolge des Leidenden und Gekreuzigten. Insofern kann hier vor allem Sölles theologischer Zugang als Modell Pate stehen, mit dem gelebte Erfahrungen und theologische Sprache kontextualisiert werden; ich folge darin ergänzend auch Henning Luthers Impuls, anthropologische und kultur- wie sozialwissenschaftliche Erkenntnisse aufzunehmen. Gestalttheoretisch durchdacht und mit Hilfe theologisch-ästhetischer Begriffe formuliert: Mit diesem Weg ist die Form bereitgestellt für eine phänomenologisch-empirische Theologie in lebensweltlicher Kontextualisierung. Jede Ingebrauchnahme von Formen geschieht jedoch unter je eigenen situativen, kontextualisierten Bedingungen und sie erbringt auch durch die spezifische Empirie von Fällen eine je eigene Gestalt von Theologie. Es bleibt daher als Aufgabe, herauszuarbeiten, welche inhaltlichen und strukturellen Vorgaben, initiiert durch den FALL, selbst in das Gerüst der hier erarbeiteten spezifischen Gestalt von Theologie eingetragen werden.
962 Es stammt von Dorthee Sölles Lehrerin Marie Veit. 963 »Mir scheint die oft gestellte Frage: Glaubst du an Gott? meistens oberflächlich. Wenn es nur bedeutet, daß in deinem Kopf ein Extrafach ist, in dem Gott sitzt, dann ist Gott keineswegs ein Ereignis, das dein Leben verändert, wie Buber es über die wirkliche Offenbarung, aus der ich nicht unverwandelt herauskomme, sagt. Wir müssten eigentlich fragen: Lebst du Gott? Das entspräche der Realität der Erfahrung« (Sölle: Gott denken, 242).
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4.1.4 Zur Aufgabe der Fallarbeit in der theologischen Reflexion In einem Gestaltmodell modellieren nicht nur die einzelnen Elemente innerhalb der Theorie oder der Praxis einander, sondern für eine theologische Praxistheorie wird die wechselseitige, zirkuläre und bildende Formung der Praxis durch Theorie und die Formung der theologischen Theorie durch Praxis wichtig. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, auf die Elemente des FALLs zu verweisen, von denen aus das Interesse an einer theologischen Gestaltung des Pathischen formuliert wird. Der FALLbezug betrifft den Praxiszusammenhang des Religionsunterrichts mit seinem expliziten Thema, welches Johannes durch seine Krankheit nur am Rande mitbekommt, zu dem er sich am Ende jedoch relationiert. Im Kern wird dies in seiner Reflexion angelegt – so lesbar in Dichten Beschreibungen964 ausgewählter Zusammenhänge dieser Situation im und an den Rändern des Religionsunterrichts.965 Interpretativ in der oben genannten Perspektive ansetzend: Mit diesem konstitutiven Fallsegment ist im Rahmen theologisch zu fundierender Professionstheorie die Perspektive der Betroffenen im Blick. Der kranke, leidende Schüler ergreift den Unterrichtskontext, in dem er Hiob aufgrund seiner Situation eher am Rand kennenlernt, und nutzt ihn für biografische Analogien und Modelle der Welterklärung. Die Religionslehrerin bietet aktiv den Unterrichtsrahmen und Fokussierungen an, diese stehen aber zugleich im Zusammenhang mit ihren eigenen Wahrnehmungen der Widerfahrnisse und den darauf folgenden Unterbrechungen. Ein klassisch hermeneutischer Weg des theologischen Umgangs mit dem Fall, in dem das Pathische aufscheint, wäre, verschiedene Ebenen der Krankheitsdeutung vorzugeben. Auf den Spuren eines systemtheoretisch inspirierten und durch alle Disziplinen der Theologie deklinierten und mit interdisziplinären Seitenblicken angereicherten Vorgehens sind verschiedene Bedeutungsebenen des Krankseins erhoben.966 Theologische Überlegungen, die sich auf diesen Aspekt der Thematik des Pathischen nicht nur einlassen, sondern ihn als ihre Wurzel erkennen, müssen sich im Rahmen der Diskussion den Fragen stellen, welche inhaltlichen Impulse das gefundene Modell darin unterstützen, Gott, Mensch und Welt in einen theologisch veritablen und legitimierbaren Zusammenhang zu bringen. Der FALL, der Krankheitserleben des Schülers im Spiegel professionellen Lehrerhandelns im und am Rande des Religionsunterrichts zeigt, kann dabei einen lebensweltlichen Zugang zur Theologie vermitteln, der eine theoretische 964 Vgl. Knecht: Dichte Beschreibung. 965 Kap. 2.2.1.4 und 2.2.1.6. 966 Vgl. Thomas / Karle: Krankheitsdeutung in der postmodernen Gesellschaft.
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Reflexion genau von deren Brüchen nahelegt. In den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten kristallisieren sich verschiedene Verständnisse von Leben und Be-Deutungen von Kranksein heraus. Die Religionslehrerin, die selbst ebenfalls Erfahrungen mit Krebskrankheit hat, weil ihr Patenonkel vor Jahren an Krebs gestorben ist, reagiert auf die Krankheit des Schülers mit Betroffenheit und Berührung. Ihre biografischen Erfahrungen werden wachgerufen. Der Schulleiter agiert, im System Schule mit einer Vernetzung, indem er die Eltern ermuntert, die Konzentration auf das kranke Kind durch den Hausunterricht zu beantragen und die Religionslehrerin, die er als bewährte Kollegin kennt, zugleich bittet, selbigen zu übernehmen – im Wissen darum, dass sie die vorherige Beeinträchtigung des Jungen Johannes kennt und mit ihm sorgsam umgeht. Es wird nötig sein zu fragen, was es in theologischer Hinsicht bedeutet, dass Leben verletzlich ist und welche Perspektiven der Gestaltung von Leben und Beruf in religionspädagogischer Hinsicht theologisches Nachdenken darüber eröffnet. Mit dieser Fragehaltung aktiviere ich eine theologische Reflexion von gelebtem Leiden in Schritten des Krankheits-Falls (im Folgenden grau unterlegt). Daher gehe ich zuvor auf die traditionelle Thematisierung im Zusammenhang mit einer Passionstheologie nach der Rolle von Christologie für ein Verständnis des Menschseins ein, um den Zusammenhang von soteriologischen und eschatologischen Modellen zu prüfen. Mein Interesse ist die theologische Konturierung religionspädagogischer Anthropologie, wie sie zu Identität und Fragmentarität bei Henning Luther, aber auch in anderen Ansätzen wie bei Johann Baptist Metz begegnet. Auf dem Spiel steht die Ermittlung anthropologischer, theologischer und ethischer Konstitutive, auf deren Füßen religionspädagogische Professionalität theologische Gestalt gewinnt.
4.1.5 Zur Prozessgestalt einer Theologie des Pathischen Ausgangspunkt theologisch-ethischer Überlegungen bildet also ein Theologieverständnis, in dem auf der Basis des topo- wie chronologischen Umgangs theologischer Diskurse mit Fragen des Pathischen und Aspekten des Leidens dieser Fokus für ein Modell empirischer Theologie modelliert ist. Widmen wir uns nun der stärker normativen Seite: der Suche danach, welche theologischen Potentiale der FALL heuristisch aktiviert – auch im Blick darauf, welche Rolle er in einer theologisch fundierten religionspädagogischen Professionstheorie einnimmt. Mein Interesse an dieser Stelle zielt also auf ein Aufzeigen der theologischen Problemfelder, die sich mit den im FALL verdichteten dimensionalen Aspekten verbinden. Dorothee Sölle wurde von Martin Buber gefragt, wie sie eigentlich Theo-logie
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mache.967 Im Horizont dieser Arbeit läuft diese Frage Bubers nach der Anlage und Vorgängigkeit von Theologie mit. An dieser Stelle gilt es noch zu präzisieren, in welchem Rahmen diese unter kreativer Ingebrauchnahme, in situiertem Bezug auf unseren Fall und in der Weise einer orientierenden Theologie zu stellen ist: Wie muss – und mit welchen Mitteln kann – Theologie mit Erfahrungen des Pathischen umgehen, wenn sie zu einer heilvollen Gestaltung eines kommunikablen Verhältnisses von Mensch, Welt und Gott beitragen will? Die Frage setzt darauf, dass wie alle Wissenschaften – und erst recht solche, die mit Erfahrung umgehen – auch Theologie stets danach trachtet, ihres eigenen fundamentalen Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, Möglichkeit und Grenzen gewahr zu werden. Dafür sind einige strukturelle Maßgaben erforderlich. Kontextualisierung: von lebensweltlicher Empirie zu theologischer Hermeneutik und zurück. Es stellt sich die Frage, wie überhaupt ein Zugang vom Fall auf theologische Fragen erfolgen kann. Den Ausgangspunkt für eine so verfahrende empirische Theologie im engeren Sinne bildet ein Hin- und Hergehen zwischen dem das Pathische konkretisierenden Fall, den bereits ermittelten kulturellen Dimensionen des Pathischen und theologischen Ansätzen, die zum Pathischen reflektieren. Insofern bewegt sich empirische Theologie am Fall des Pathischen auch zwischen phänomenologisch-empirischer Fallanalyse und theologischer Kulturhermeneutik. Dabei dienen einerseits theologische Ansätze als Ressource für die heuristisch-interpretative Aufschließung des Pathischen durch den FALL. Dieser Richtung gebührt um der Schwerpunktsetzung in der Heuristik mehr Aufmerksamkeit als der umgekehrten, die Theoriebildung wiederum am Fall einzulösen und zu überprüfen; letztere wird aber zu den beiden folgenden christologisch als auch anthropologisch ausgerichteten Teilkapiteln erfolgen. Perspektive: Theologie der Beteiligten – Theologie für Beteiligte. Die Artikulation und theologische Kontextualisierung der Erfahrung von Passivität braucht die Fremdwahrnehmung der anderen als Resonanzen des Pathischen. Der empirisch-theologische Diskurs würde an der gelebten Erfahrung vorbeisprechen, wenn er nicht die besonderen Perspektiven, aus denen diese artikulierbar wird, ins Auge fassen würde. Im Zuge theologischer Traditionen, die versuchen, die Welt aus der Perspektive Gottes zu sehen, wäre eine unzureichende Verengung zu verzeichnen, wenn nicht im gleichen Atemzug Leben und Welt aus der Sicht des Menschen in seiner Passivität, im Leiden des geschundenen Menschen, damit auch die Stimmen der Verstummten zum Tragen kommen würde. Fremdheit und Erfahrung bilden also ein dialektisches Paar. 967 Vgl. Sölle: Gott denken, 10; Kap. 4.1.3.2.
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Theologisch-ethische Reflexionen
Erfahrung und Fremdheit: Mehrperspektivität und Perspektivenwechsel. Im Rahmen einer professionsorientierten Theologie, welche ästhetische Impulse der Wahrnehmung an jenen ethischen Impetus der Ausrichtung am Anderen bindet, darf jene die Wahrnehmung des Fremden nicht zugunsten einer Amalgamierung zum Eigenen machen. Der Umgang mit Ebenen der Sagbarkeit und der Wirklichkeit schließt ein, dass die Artikulation das Unsagbarte mitdenken muss. In der Folge werden drei Stationen auf dem Weg zu einer theologischen Ethik beschritten: inhaltlich über die Frage nach einer tragfähigen Christologie angesichts von Leiden, die Erarbeitung einer Haltung zum Menschsein über Aspekte theologischer Anthropologie und schließlich Handlungsmaximen über daraus ermittelte ethische Maße.
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Leiden – Sym-pathetische Christologie
Um Bubers Frage an Dorothee Sölle nach dem Wie der Gestaltung von Theologie968 auf den hiesigen Zusammenhang zu übertragen, ist im Rahmen einer theologischen Erhellung des Pathischen im Gespräch mit dem FALL zu fragen: Was bedeutet es für das Nachdenken über ein Leben mit Gott, dass Menschen leiden? Wie lässt sich also theologisch beschreiben, was geschieht, wenn Passivität und Leiden einen Menschen einnehmen und bestimmt? Dabei kommt auch zum Tragen, wie sich menschliche Vulnerabilität zu theologischen Heilsgedanken und Heilungsentwürfen verhält. Es ist in Umrissen ersichtlich geworden, in welchen Ausrichtungen Passion bisher theologisch gedacht worden ist. In der Frage nach einer Theo-logie, die auf Leiden Bezug nimmt, stellt sich damit auch die Herausforderung, die Rolle von Christologie zu bestimmen. Den Ausgangspunkt dafür bildet nunmehr die theologische Sicht auf gelebte Religion, wie sie explizit und implizit an einer Vignette des FALLes zum Tragen kommt. Im Interesse einer tragfähigen Einschätzung von Passion wird von da aus das Gespräch mit neueren theologischen Ansätzen zum Umgang mit Leiden und der Theologie zu führen sein. Hier soll auf der Basis phänomenologischer Erfahrung ein religionspädagogisch veritables Verständnis von Passion erschlossen werden.
968 Vgl. ebd.; Kap. 4.1.3.2. und 4.1.5.
Leiden – Sym-pathetische Christologie
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4.2.1 Leiden mit oder ohne Gott? 4.2.1.1 Motivationen und Ansätze in der religionspädagogischen Theoriebildung Die Fragen nach dem Pathischen sind nicht ohne Grund die Punkte, an denen sich das praktisch-theologische Interesse an Religion entzündet.969 Nicht nur in der Theologie, sondern in der philosophischen Gegenwartsdiskussion ist der Streit um die Berechtigung der Theodizeefrage nach wie vor nicht beendet. Vor allen in Lösungsansätzen – sei es philosophischer oder innertheologischer Natur – liegt die Frage nach der Rechtfertigung der Problembehandlung. Bezeichnenderweise wird deutlich, dass die Lebens- und Geschichtserfahrung einer Verneinung der Abschaffung Vorschub leistet; insbesondere nach dem Holocaust bekommt die Theodizeeproblematik im 20. Jahrhundert wieder neue Aktualität. Implizit birgt die theologische Tradition eine Kultur denkenden Umgangs mit Varianten der Theodizeethematik. Welche Indikatorfunktion diese einnimmt, davon zeugt auch die Wahrnehmung und Einschätzung der Relevanz in der Religionspädagogik. Karl Ernst Nipkow hat 1987 die entwicklungspsychologische These vertreten, dass die Theodizeefrage »die erste Einbruchstelle« für den Verlust des Gottesglaubens sei.970 Johannes van der Ven und Eric Vossen untersuchten Ende der 1980er Jahre »mit präzise beschreibbaren qualitativen wie auch mit quantitativen Methoden konkrete religiöse Verhaltensweisen, z. B. die Entwicklung der Vorstellungen über Leiden und Theodizee«.971 Unter Berücksichtigung der von Fritz Oser und Paul Gmünder veranschlagten Entwicklungsstufen arbeiten sie heraus, dass erwachsenere Menschen nicht auf absolute Transzendenz setzen, sondern in den Erklärungsmodellen immanente und absolute Transzendenz zunehmend kombinieren. Dabei wurde damals bereits der Einfluss religiöser Sozialisation deutlich; ein höheres Maß an sozialisierter Praxis unterstützt die Entwicklung der transzendent-immanenten Theodizee. Zugleich ist auch für religiöse Menschen, die sozialisatorisch ein religiöses Bezugssystem entwickelt haben, eine Theodizee keineswegs selbstverständlich, die dem Leiden religiösen Sinn abzugewinnnen sucht.972 Als fraglich wurde in den letzten Jahren die Plausibilität der Theodizeefrage für Heranwachsende erachtet, seitdem ein Team aus Nürnberg und Leipzig 969 Vgl. Sparn: Leiden IV, 703; Nipkow : Erwachsenwerden ohne Gott?, 43ff. 970 Nipkow : Erwachsenwerden ohne Gott, 49. 971 Meyer: Empirische Theologie, 37. Vgl. van der Ven / Vossen: Entwicklung religiöser Deutungen des Leidens?, 209f. 972 Vgl. van der Ven / Vossen: Entwicklung religiöser Deutungen des Leidens?, 210.
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Nipkows These von 1987 aufgrund des Traditionsabbruchs und sich verändernder religiöser Sozialisationen bezweifelt. Werner H. Ritter, Erich Nestler, Helmut Hanisch und Christoph Gramzow haben 2006 in einer breit angelegten Untersuchung auf der Basis von Gruppendiskussionen zu einer Leiderzählung herausgearbeitet, dass die Theodizeefrage von SchülerInnen geringere Relevanz habe.973 Sie werde von den SchülerInnen nicht eigenständig angesprochen und auch von den Kindern und Jugendlichen nicht so hoch eingeschätzt, weil viele SchülerInnen noch nicht mit so großem Leid konfrontiert worden seien. Es werde auch selten eine Verbindung von Gott und Leid von den Jugendlichen eigenständig hergestellt. Während kaum Interesse an der philosophisch-abstrakten Klärung der Theodizeefrage bestehe, bleibe jedoch sehr wohl die Frage nach dem Sinn von und Umgang mit Leiden erhalten. Und das ist das eigentlich wichtige Ergebnis: Nicht die abstrakte Frage nach der Rechtfertigung Gottes steht im Zentrum der Jugendlichen, sondern es gibt einen Anhaltspunkt dafür, sich mit den Ursachen des Leids in der Welt zu befassen – und genau dies ist für die Jugendlichen auch ein wichtiges Anliegen. Was in dieser Studie bereits als Verständnishorizont durchscheint, wird mit der nächsten umso deutlicher, weil auch präziser beschreibbar. Eva-Maria Stögbauer kommt in ihrer Untersuchung 2009 auf eine differenziertere Erfassung perspektivischer Thematisierungen und Problematisierungen der Theodizeefrage und stellt empirisch deren Kontextualtität heraus: »Theodizee stellt folglich kein isoliertes, singuläres oder herausragendes Thema dar, sondern ist in ein größeres Verweis- und Zusammenhangsgefüge eingebunden.«974 Anstelle von polaren Antworten werden wechselseitige Kontextfaktoren ermittelt, die zu beschreibbaren Typen der Assoziierung von Leid und Gott bzw. zwischen der jeweiligen Gotteskonzeption und dem Stellenwert der Theodizeethematik führen. Zu den weiteren Bedingungsfaktoren zählen auch aktuelle Geschehnisse bzw. auslösende Momente im Vergleich mit allgemeinen Überlegungen. Entscheidend ist die Form der Bearbeitung des entdeckten Widerspruchs zwischen Gott und der Faktizität des Negativen im Rahmen einer Tendenz zu einer der religiösen »Positionen« (Bekenner, Sympathisanten, Neurale, Zweifler, Relativierer, Verneiner und Polemiker): Entsprechend versteht sie unter einer Theodizee bei Jugendlichen der Stichprobe »die unaufgeregte Beweisaufnahme, die ärgerliche Anklage, die sympathisierende Verteidigung, den indirekten Freispruch oder die abschließende Verurteilung des Daseins und Wirkens Gottes gegen den Vorwurf, welchen das Gefühl und die Vernunft aus der Faktizität des
973 Vgl. Ritter u. a.: Leid und Gott. 974 Stögbauer : Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen, 288.
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Negativen in der Welt gegen das Dasein Gottes erheben.«975 Ja nach Position veränderten sich dabei Stellenwert und Relevanz des Theodizeethemas. Die Schlüsselkategorie, die Stögbauer aus den sieben typologischen Profilen kontextabhängiger Thematisierung der Theodizee ermittelt, ist vor allem die »gefühlte Plausibilität Gottes«, welcher als inhaltliche Füllung zwei didaktische Kernkategorien zugeordnet werden. Mit dem »Visionscharakter des Gottesbegriffs« kommt zutage, dass und wie individuell spürbar die Idealität Gottes zum Tragen kommt; als »Konkrete Theologie« wird das spezifische spätmodernindividualisierte Nachdenken Jugendlicher über Gott charakterisiert.976 Wenn Stögbauer schlussfolgert, Gott sei »eine mögliche Vokabel der Diskursivierung des Leids«977, so wird damit schon angedeutet, dass Perspektivenwechsel auch von TheologInnen vollzogen wird: Es geht nicht mehr darum, die fehlende Relevanz für die Theodiezeefrage zu deuten, sondern empirische Studien belegen, dass es an der Zeit ist, der gelebten Erfahrung der Frage nach Sinn und Unsinn des Leidens – persönlich, in der Welt – nicht nur einen theologischen Referenzrahmen zu bieten, sondern im Kontext einer empirischen Theologie auch die Form und Erscheinungsweise von Theologie und der Frage nach dem Stellenwert des Leidens mitzubedenken.978 Dies lässt sich an der theologischen Interpretation von Krankheit ersehen.
4.2.1.2 Vom Fall zur Theologie: Motive Um eine Orientierung darüber zu gewinnen, wie ein theologischer Umgang mit Leiden von Seiten eines Betroffenen – in diesem Fall auch eines Jugendlichen – aussieht, gehe ich in einem nächsten empirischen Schritt auf Johannes’ Perspektive zu Leiden ein. Nach einem längeren Abstand zwischen meiner Aufzeichnung der Dichten Beschreibung sowie der Dokumentation des Arbeitsblattes und einer erneuten Lesung gilt es, in einer Form der Datenverdichtung im Sinne einer kontextualisierenden Interpretation979 diese theologischen Elemente neu zu bedenken.980 975 976 977 978
A. a. O., 290. A. a. O., 290–293. A. a. O., 301. In der Forschungswerkstatt von Petra Freudenberger-Lötz ist demzufolge nicht ohne Grund auch das Theologisieren zu einer weiteren Praxis des Theodizee-Fragens geworden (vgl. Zur Professionalisierung Studierender); vgl. Neruda: Theodizee: Einbruchstelle des Glaubens bei Jugendlichen?. 979 Vgl. anders als in der Dokumentarischen Methode, die vom komparativen Moment lebt, hier die Offenlegung des Kontexts. 980 An einigen Punkten, an denen es für die Kontextualisierung hilfreich ist, ziehe ich Vergleichsaspekte zu den Reflexionen der MitschülerInnen hinzu. Mir liegen alle Bearbeitungen in Kopieform vor.
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In der Bearbeitung geht Johannes den Fragen zu seiner Einschätzung der Bedeutung von Leiden nach; der Impuls zur Bezugnahme auf die Hioberzählung veranlasst ihn dazu, seine Perspektive auf Zusammenhänge der Entstehung und Wandelung von Leiden ausführlicher zu erläutern. Im Gegensatz zu allen anderen SchülerInnen reflektiert Johannes seine eigene Situation, die er in der Ich-Perspektive auch explizit macht: Seine lebensgeschichtliche Leidens-Erfahrung macht er zur Grundlage für die theologischen Gedanken. Für den Beginn seines Leidens kann er einen Zeitpunkt ausmachen – sein Vergleich zielt auf einen Einschnitt durch das Widerfahrnis der Krebserkrankung, die er unerwartet »bekommen« hat und die nicht berechenbar war. Worin sich Leiden für Johannes konkretisiert, beschreibt er als den Verlust von Freiheit in der Festigkeit seines Alltags, einer Lebensstruktur bzw. eines Fadens, der ihm abhanden gekommen ist. Aus den Kontextualisierungen seiner Lehrerin geht seine Eingeschlossenheit hervor; da Johannes aus Immunschutzgründen das Haus nicht verlassen durfte, nahm er seine einzige Freiheit in technischen Medien, in die seine Kraft und Aggression floss und in denen er komplementär zur existenziellen Grenzerfahrung die Rollen von Starken, Schönen und Mächtigen einnahm. Zur reflexiven Bestimmung von Leiden nimmt Johannes eine Attribuierung seiner Erfahrung von Geschehen vor, die im Rahmen eines Dualismus Leid als Schlechtes von Gutem unterscheidet bzw. den Antagonismus von Gut und Böse bildet. Die Frage nach dem Sinn des Leidens beantwortet Johannes in einem sinnökonomischen Zusammenhang: Von Zeit zu Zeit müsse auch Schlechtes passieren – und dieser Tatsache misst er Sinn bei, ohne näher zu erläutern, worin jener besteht. Gutes und Böses können wiederum wechseln, aber sie greifen auch ineinander. Der Kontext der Hiobthematik veranlasst ihn zu einem Vergleich zwischen Hiob und sich selbst, bei dem als schuldiger, verantwortlicher Verursacher für die biografische Dynamik von Leben – Widerfahrnis – schweres Leiden – Heilung auch Gott eine Rolle spielt. Hilfe im Leiden und Unterstützung auf dem Weg der Heilung bieten Johannes vor allem Menschen, die zum näheren sozialen Umfeld gehören; darauf weist er zweimal hin. Im Gespräch mit der Religionslehrerin wird ersichtlich, dass Johannes anders als der biblische Hiob nur in großen Ausnahmefällen von Verzweiflung laut geklagt hat und sich phasenweise auch klaglos seiner Lage ergeben hat. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Zusammenfassung der Perspektive auf sein Leiden in den letzten Sätzen, in denen er
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das Leiden als Schicksal annimmt, als eine Macht, bei der die Rolle Gottes zunächst unbestimmt bleibt. Durch die Frage, warum er so krank wurde, weshalb es ihn und nicht jemand anderen traf, wird die Suche nach einem Erklärungsmuster motiviert. Der passionierte Ausbruch während einer der folgenden Unterrichtsstunden offenbart über das Arbeitsblatt hinaus, dass Johannes diese Schicksalsmacht mit Gott in Verbindung bringt, indem er ihm Schuld und Anklage an seinem Los zuweist. Den näheren Mitmenschen kommt die Rolle der hilfreichen Begleiter im Leben und Leiden zu; die Rolle der Freunde bei Hiob wird von ihm nicht komparativ (zwischen biblischen und autobiografischen Rollen) reflektiert. Gottes Rolle ist dagegen ambivalent; er hat – zeitweise in der Fragehaltung, in bestimmten Momenten aber auch in für Johannes klarer Verantwortung – Schuld an seiner Krankheit, zugleich ist er auf dem Weg der Heilung gegenwärtig, wobei offen bleibt, ob er dabei unterstützt oder eher eine Beobachterrolle zugeschrieben bekommt. Es handelt sich jedenfalls nicht um einen Zustand der Gottesferne; die Skizze erweckt aber auch nicht den Anschein, dass Johannes direkt mit Gott in Kontakt tritt, z. B. durch Beten. Gott wird sichtbar als Begleiter. Auffallend ist dabei, dass Johannes – wie fast alle anderen SchülerInnen in ihren Bearbeitungen auch – die Option eines Bezugs zu Passion, Kreuz und Auferstehung unbeachtet lässt; die Passionserzählung dürfte Johannes wie den meisten SchülerInnen aus zurückliegenden Unterichtszusammenhängen geläufig sein, sie wird jedoch zur Deutung und Bewertung von Leiden und dem eigenen Erlebniskontext nicht herangezogen. Auch gibt es keine Hinweise auf eine explizite christologische Rechtfertigung noch Aufhebung des Leidens, etwa durch den Tod Jesu. 4.2.1.3 Vom Fall zur Theologie: Fragen und Antworten Anhand dieser Verdichtung des Falles lassen sich einige Kristallisationspunkte theologischer Aufmerksamkeit systematisieren: a. Die Frage nach dem theologischen Umgang mit Leiden verknüpft sich im Fall mit einer lebensweltlichen Gestalt der Theodizeeproblematik. Hier, an konkreten Leiderfahrungen und an dem biografischen Bezug zur Hioberzählung, entzündet sich nicht mehr die abstrakte Frage nach der Rechtfertigung Gottes, sondern die Warum-Frage nach der Verursachung, Begleitung und Behebung von Leiden. In diesem Zusammenhang machen auch die Normierungen von Gut und Böse bzw. Schlecht auf ein Problem aufmerksam, die mit einer potentiellen übergreifenden Sinnzumessung verknüpft sind. Die Frage nach einem möglichen Sinn von Leiden eröffnet eine Spanne zwischen
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radikaler Negativität und Affirmation. Wenn man jedoch die totale Sinnlosigkeit von Leiden einschränkt, wie es hier geschieht, sind funktionale Bestimmungen von Leiden und Aufhebung auszuloten. Welche theologischen Ansätze des 20. und 21. Jahrhunderts ermöglichen eine tragfähige Bearbeitung der Warum-Frage? Welche Gottesbezüge kommen dabei zum Tragen? Wie lässt sich angesichts leidvoller Widerfahrnisse theologisch verantwortet von Gott reden? b. Die Struktur von Widerfahrnis und Heilung, die hier als biografischer Prozess von Leiden und dessen Überwindung sichtbar wird, verschärft die Frage nach den unterschiedlichen Rollen der Patienten und Akteure, der Menschen, Gottes und evtl. anderer transzendenter Instanzen in ihrem Zusammenhang. Hier ist auffällig, dass die Thematisierung von Passion im christologischen Bezug aus diesem Kontext tatsächlich zunächst einmal ausgeschlossen bleibt. Auch wenn es für diese Leerstelle Gründe gibt, die im situativen Kontext liegen, zeichnet sich eine Problemanzeige im Blick auf die Plausibilität der traditionellen christologisch fokussierten Soteriologie ab, deren Mitte in Leben, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi liegt. Welche Antworthorizonte halten unabdingbaren Leiderfahrungen theologisch stand? Welche Rolle gebührt Christologie im Umgang mit Leiden betreffenden Glaubenszusammenhängen – ist sie tatsächlich wert, verabschiedet zu werden? Im Folgenden gehe ich diesen empirisch erhobenen Aspekten im Gespräch mit neueren theologischen Ansätzen zur Deutung von und Umgang mit Leiden nach.
4.2.2 Zwischen Theodizee und Algodizee: Ansätze zur theologischen Leidensdeutung In den Kontexten von gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Theodizeethematik in den USA wie in Deutschland theologisch aufgegriffen worden.981 Zum einen geht es in der nach-theistischen Theologie in der Folge von Krieg und Holocaust um die Verabschiedung eines theistischen Gottesverständnisses in der Krise, was sich insbesondere in und aufgrund der Shoa als unhaltbar erwiesen hatte. Ein Umbau der Theologie erfolgte dahingehend, dass von außen gesellschaftskritische politische Fragen aufgenommen werden. Das zeigt sich auch in einer autoritätskritischen Haltung. Ersichtlich wurde damit auch eine verstärkte Aufnahme von Kultur in Theologie, die von Tillich bereits vor dem Krieg angebahnt wurde. 981 In den USA vor allem als jüdische Holocaust-Theologie, vgl. Petersen: Theologie nach Auschwitz?.
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TheologInnen wie Johann Baptist Metz, Jürgen Moltmann und Dorothee Sölle haben in den 1970er Jahren eine erste Generation einer »Theologie nach Auschwitz«982 entwickelt: Das Erschrecken über die Gewalt und das unrechtmäßige Leid des Holocaust bilden den lebensweltlichen Ausgangspunkt, dem Vergessen eine Kultur entgegenzusetzen, die sich dem Erinnern an das Leiden widmet. In der Aufarbeitung von Auschwitz werden gefährliche Erinnerungen an die Opfer und Peiniger bearbeitet. Damit verbunden erfolgen nicht nur eine neue Wertigkeit der konkreten Geschichtlichkeit des Judentums und eine neue Verhältnisklärung zu der als Heils- bzw. Unheilsgeschichte gedeuteten Theologie, sondern auch ein Perspektivenwechsel für einen großen Teil der theologischen Ansätze, die nicht mehr »top down«, sondern »bottom up« vom Menschen aus und politisch aus der Perspektive von Opfern Theologie denken. Unterschiedliche traditionelle Positionen legen dar, dass die Theodizeefrage als offene Frage bewahrt werden muss, auf die es keine oder zumindest nicht nur eine Antwort gibt.983 Einige theologische Ansätze nach Auschwitz gehen das Theodizeeproblem jedoch aufgrund der hautnahen Erfahrung von Leiden auf Seiten der Autoren anthropologisch an und thematisieren Umgangsformen mit Leiden. Dabei wird trotzdem die Gottesfrage nicht suspendiert.
4.2.2.1 Solidarität und Teilhabe am Leiden (Dietrich Bonhoeffer)984 Die Trägheit der evangelischen Kirchen in Bezug auf die Aufarbeitung von Leid und Schuld, die erst in den 1960er Jahren erkannt wurde, führte auch zu einer erneuerten Rezeption der Theologie Bonhoeffers. Insbesondere Überlegungen zu einem religionslosen Christentum angesichts von Kirchen- und Religionsferne und entsprechende Konsequenzen für eine Ekklesiologie standen dabei im Mittelpunkt. Auffallend ist, dass durch die erhaltenen Dokumente aus seiner eigenen Zeit persönlicher wie politischer Grenzerfahrung eine enge Verknüpfung und zugleich ein Spannungsverhältnis von Theologie und Biografie offensichtlich ist, weil seine Theologie zwar lebensgeschichtliche Linien birgt, jedoch nicht die Konstitution des Subjekts in den Mittelpunkt stellt. Bonhoeffers biografische Pathologie zeigt selbst Erfahrung des Leidens an Freiheitsberaubung und Eingesperrtsein auf, die damit notwendigerweise eingeschränkte Aktivität verweist auf die partielle starke Ausrichtung auf das Tun.985 982 Zum Begriff vgl. Moltmann: Der gekreuzigte Gott, 166. 983 Odo Marquard in Oelmüller : Worüber man nicht schweigen kann, 170f. 984 Ich beziehe mich hierbei nur auf Widerstand und Ergebung. Große Teile seines Oeuvres aus der Zeit als theologischer Lehrer enthalten sehr viel konservativere und dogmatisch anders kontextualisierte Stränge, vgl. seine Christologie-Texte. 985 Vgl. Martin: Dietrich Bonhoeffer – Herausforderung, 92.
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Was Michael Welker als das »theologische Vermächtnis« bezeichnet986, rückt mit Bonhoeffer unter das Stichwort des theologischen Realismus. Bonhoeffer sieht das Leben in seiner Verwobenheit, es »greift weit über die eigene körperliche Existenz hinaus«, weil »das Zentrum des (eigenen) Lebens außerhalb seiner selbst« liegt.987 Verbunden damit ist die Wahrnehmung, »daß der Mensch überhaupt unendlich viel mehr empfängt als er gibt, und daß die Dankbarkeit des Lebens erst reich macht«.988 Dies erfährt Bonhoeffer in der Bewusstheit des Getragenseins und der Geborgenheit in Familie, bei Freunden und in Gemeinschaft der Christen. Letztere ist bei Bonhoeffer nicht aufgrund der Macht der Kirche entscheidend, sondern weil in ihr das Leben unter den Augen Gottes heilsam wird, weil »Gott sich gerade dorthin wendet, wo die Menschen sich abzuwenden pflegen.«989 Vor diesem Hintergrund kommt Bonhoeffer dahin, das »Unvollendete, Fragmentarische« des Lebens neu zu bewerten, aber auch Not, Leid und Elend als Hinweis auf eine »höhere Vollendung« wahrzunehmen.990 Dies nennt Bonhoeffer ein »Leben im Vorletzten«, getragen vom »Glauben an das Letzte«.991 Der Wert des Lebens hängt an der Erfahrung, dass sein Leben nicht in menschlicher Hand, sondern in der Gottes liegt. Von dort aus wird dieser theologische zum eschatologischen Realismus: »Ich glaube, daß Gott besser geehrt wird, wenn wir das Leben, das er uns gegeben hat, in allen seinen Werten kennen und ausschöpfen und lieben und darum auch den Schmerz über beeinträchtigte oder verlorene Lebenswerte stark und aufrichtig empfinden […] – als wenn man gegen die Werte des Lebens stumpf ist und daher auch gegen den Schmerz stumpf sein kann.«992
Biografisch wird eine eigene Zerrissenheit deutlich, die nicht einen widerspruchsfreien Blick auf den Menschen schafft, also keine Bereinigung leistet, sondern die Paradoxa hinsichtlich der Gebrochenheit des Menschen zutage fördert: »Wer sich von den Ereignissen und Fragen zerreißen läßt, hat die Probe für die Gegenwart und Zukunft nicht bestanden.«993 Einerseits beklagt Bonhoeffer das Fragmentarische des Lebens in seiner Generation, zugleich betont er den Wert und die Würde bestimmter Fragmente, die auf eine göttliche Vollendung verweisen.994 Bonhoeffers immanente Theologie setzt bei der Kritik an der Gottesver986 987 988 989 990 991 992 993 994
Vgl. Welker : Theologische Profile. Brief vom 5. 9. 1943. 13.9.43. 17.12.43, ekklesiologischer Zusammenhang. 20.2.44 und 26.4.44. 2. Advent 1944. 23.1.44. 29. und 30.1.44. 23.2.44.
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herrlichung an und stellt ihr eine Theologie von unten entgegen, in die hinein Gott als ein auf Menschen wartendes Beziehungsgeschehen gedacht wird. Bonhoeffers Formel für den Umgang mit dem Pathischen ist Widerstand und Ergebung: »Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns […] Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.«995 Die Tiefe der Diesseitigkeit des Christentums ist auch die Tiefe Gottes, der Menschen in das »messianische Leiden Gottes in Jesus Christus« hineinreißen will. Bonhoeffer holt die Gottesferne in die Theologie, die Religionslosigkeit in die christliche Religion, indem Gott mitten im Leben jenseits ist und Jesus Christus in der Mitte des Lebens diesseits wirkt. Der Urgrund dieses Zutrauens und der Gottesnähe, in der Gott mit Menschen lebt, liegt im Kreuzesgeschehen, welches die Passion und das Leiden Gottes ist. Gott leidet, weil er notgedrungen und hingegeben aus der Welt herausgedrängt ist ans Kreuz. Das Passionsgeschehen wird damit zur Leidensgeschichte Gottes. Im Misstrauen gegenüber Religiosität stellt Bonhoeffer ausgehend vom Evangelium deutlicher die Solidarität des ohnmächtigen, liebenden Gottes mit dem menschlichen Leiden in den Vordergrund und ebenso die Solidarität der Glaubenden mit dem Leiden Gottes in der Welt. Menschen nehmen teil am Leiden Gottes – mit welchem Ziel? Hier geht es stärker um die Überwindung von Ungerechtigkeit, Unfrieden und Leid und nicht darum, dem Leiden per se einen Sinn in der Welt zuzuschreiben. Das Leiden bleibt jedoch ein von Gott nicht nur unterschiedener, sondern auch getrennter Teil des Lebens. Bonhoeffers biografisch gelebter und theologisch proklamierter Weg macht sich auf zu einer Mündigkeit, die illusionslos ist, aber inmitten des Leidens dankbar und hoffnungsvoll eine Vielseitigkeit und Vielstimmigkeit des Lebens erkennt. Gott ist siegreich im Leiden; in der Begegnung mit ihm nimmt man die Welt und in der Begegnung mit der Welt nimmt man Gott ernst. »Die Befreiung liegt im Leiden darin, daß man seine Sache ganz aus den eigenen Händen geben und in die Hände Gottes legen darf.«996 Der Gott, der selbst am tiefsten leidet, andere dort hindurch zu sich führt und das Leiden so überwindet, ist der Urgrund des Glaubens – ohne metaphysischen Ober- oder Unterbau und ohne pietistische Innerlichkeit, aber auch ohne eine Haltung der Religiosität. Bonhoeffer ergreift eine Perspektive »von unten«. Kreuznachfolge ist etwas Paradoxes; aber sie bedeutet die freie, eigenverantwortliche Schuldübernahme 995 Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 394. Hier: An Eberhard Bethge. Tegel, 16. und 18. 7. 1944. Die Formel Widerstand und Ergebung kommt im Brief vom 21. 2. 1944 zum Tragen. Vgl. Welker : Theologische Profile, 110. Welker sieht einen eschatologischen Realismus, der auf einer sachlichen Grundhaltung fußt. 996 28.7.44.
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und ein angstfreies Mitleiden mit den Glaubensgeschwistern. Das zugemessene Leiden ist eine »Station auf dem Weg zur Freiheit«.997 Anders als Kierkegaard gehören für ihn im Beschreiten dieses Weges Leiden in Schmerz, Kreuz, Segen und Glück zur »Polyphonie des ganzen Lebens«.998 Bonhoeffers Rede von der mehrdimensionalen Polyphonie des Lebens scheint alle Widrigkeiten und Schattenseiten des Lebens zu integrieren. Das fordert, mehrere Dinge und auch Paradoxien in sich spannungsvoll aufnehmen zu können. Christentum ist eine Lebensform, die so viel mehr ermöglicht: mit den Weinenden zu weinen und mit den Lachenden zu lachen – eine durchgehend sym-pathische Lebensform der affektiven Partizipation – aber auch die Möglichkeit des Denkens, die genau diese Mehrdimensionalität bewusst hält. Aus dieser Überzeugung, ja eher Erfahrung heraus sichert Bonhoeffer eine Gotteserkenntnis, die sich wiederum weg von den Grenzen der Möglichkeiten, vielmehr mitten im Dasein bewegt. Die Grenze der Erkenntnismöglichkeiten wäre eben nicht wie bei Karl Barth die Grenze zum Anderen, als welcher Gott erfahrbar ist, sondern Bonhoeffer verlagert aus dem Grund des passiven, aus der Existenz herausgedrängten Gottes eine Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die in der Mitte des Lebens geschieht. Genau diese Mitte aber, so zeigt die dichte Verzahnung von Theologie und Biografie, ist in den pathischen Dimensionen virulent. Somit geschieht auch eine Theodizee im Interesse eines Gottes, der die Nähe des Menschen sucht: Nach Trygve Wyller stellt sich Bonhoeffer Gott »durch seine Weltlichkeit in der Welt verborgen anwesend« vor.999 In Bonhoeffers Credo wird Gott als der passiv-aktive Respondent gepriesen: »Ich glaube, daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliches Tun wartet und antwortet.«1000 Gott ist damit das antwortende Gegenüber des handelnden Menschen. 4.2.2.2 Mystik und Widerstand (Dorothee Sölle) Dorothee Sölles Theologie ist von einer hohen Sensibilität und zugleich Beharrlichkeit im Eingehen auf das Leiden gekennzeichnet.1001 Für Sölle ergibt sich in den Nachkriegsjahren, die sie als Jugendliche erlebt, ein Aufwachen im Nachdenken über die Zeit des Nationalsozialismus und auch im Engagement für die »Theologie nach Auschwitz«. Bei ihr haben sich diese Denkbewegungen in einer »Politisierung der Theologie« niedergeschlagen, wie sie ihren eigenen Weg beschreibt. Auch das Eingehen auf die Vietnamkriege erneuert diese Ge997 998 999 1000 1001
Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 403f, 406f. A. a. O., 333, 336f. Wyller : Glaube und autonome Welt, 87. Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 19. Vgl. Sölle: Leiden.
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schichtlichkeit und lässt sie für das Opfer eintreten. Fundiert in Entmythologisierungsgedanken, verdichtet nicht nur in theologischen, sondern auch in literaturwissenschaftlichen und poetischen Formen, äußert Sölle vieles von persönlich-politischen Erfahrungen. Ihre Thematisierung von Leiden bekommt später einen – wenngleich auch anders gelagerten – biografischen Anknüpfungspunkt darin, dass ihr in Deutschland selbst ein universitärer Lehrstuhl verwehrt bleibt: Für die damaligen Kirchen und die wissenschaftliche Theologie bleibt sie als feministische, kritische Theologin im eng verwobenen Ineinander von Theologie, Politik und Poesie lange Zeit eine Randfigur. In diesem politischen Interesse verhält sie sich kritisch gegen eigene gesellschaftlich-politische Strukturen in einer Zeit rasanter Aufrüstung. Am Union Theological Seminary New York ist Sölle 12 Jahre lang Professorin für Systematische Theologie und findet dort Raum für ihre Form von Theologie, die aber auch in Deutschland das theologische Gedächtnis jüngerer TheologInnen seither beeinflusst hat. Prägend sind die Politischen Nachtgebete, in denen sich durch die Ressource politisch geprägter Bibelarbeit religiöse Rede und Gebet zu einer öffentlichen kultischen wie politischen Form verdichten, in der auch die poetische Ausrichtung ihrer Theologie einen entscheidenden Sitz im Leben findet. Für ihren eigenen Ansatz spitzt Sölle später den Begriff der Politischen Theologie befreiungstheologisch zu, welche für die Opfer und die Übriggebliebenen, unter die Räder Gekommenen in personalisierter Form eintritt – darin manifestiert sich auch der Stellvertretungsgedanke. In feministischer Sensibilität und ökologischer wie pazifistischer Ausrichtung gilt das befreiungstheologisch-pädagogische Credo: Die Leidenden und Armen sind LehrerInnen einer solchen Theologie. Einprägsam wurde ihr Sprachgestus, durch den sie zumeist im theologischen Schreiben auch in großer Nähe von den Gestalten der Theologie redete. Mit diesen Schritten sucht sie eine Sprache zu finden, die lebensweltliche Erfahrung und religiöse Haltung zusammenbringt. Dass diese Sprache poetische Züge trägt, ohne scharfe theologische Begriffsbestimmung aufzugeben, verwundert kaum, ermöglicht ihr doch diese Verzahnung, Leben- und Glaubens-Erfahrung, individuelle und soziale Wirklichkeit und theologisches Denken in eine Form zu gießen. Dorothee Sölles Ansatzpunkt für diese theologische Sprache sind die Wunden, die sie als Verwundungen konkreter Menschen in den Fokus nimmt. Im Interesse, das »Fenster der Verwundbarkeit« zu öffnen und offen zu halten, liegt ihr humanes und theologisches Interesse, in dem persönliche Sensibilisierung und Politisierung zusammenkommen.1002 Dabei zeigt sie eine hohe Bewusstheit darüber, dass Leiden zum Verstummen führen kann. Die Beschreibung von Phasen des Leidens1003 lassen sich bei Sölle später befreiungs1002 Vgl. Boschki / Rehberger : Dorothee Sölle, 226. 1003 Sölle: Leiden, 94.
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theologisch-performativ als Wege aus der Verstummung rekonstruieren; aus der Not der Unsagbarkeit folgt die Form der Klage, in der das Leid dargestellt und dargebracht wird – die Phase der Passion. In der dargestellten 3. Phase des Leidens wird die Sprache wirksam und verändert mit dem Sagen auch befreiende Weise die Wirklichkeit. Darin scheint ein Ansatz für den Zusammenhang von religiöser Rede und Handeln auf, wie er in den anderen modernen Theologien, die sich mit Leiden befassen, so nicht deutlich wird. Sölle systematisiert drei Formen des möglichen Umgangs mit Leiden: Apathie (Schmerztötung), Dolorismus und Compassio. Zum Dolorismus zählt sie die vornehmlich im Christentum vorfindliche »Leidenssucht«. Leiden wird bei Sölle als Abwesenheit Gottes erlebt; feministische Theologie leiht den Erfahrungen der Gegenwart und auch der Abwesenheit Gottes Sprache. Dafür bedarf es eines neuen Gottesbezugs. Hier übt Sölle harsche Kritik an »nachchristlicher Apathie«1004 : Die Gottesfrage, die sie immer wieder stellt, markiert den Riss zwischen traditionsverhafteter Theologie, von deren Dogma sich Sölle verabschiedet hat, und den Anklängen an eine theologische Poetik: Ihre Gottesrede nimmt eine Gottesvorstellung in den Blick, die von Beziehung statt einsamer Herrschaft geprägt ist und folglich das Über-Gott-Reden nicht nur in ein Zu-Gott-Reden verortet1005, sondern dessen Sprachgestus eine gewisse Passivität des Menschen einräumt. Ihre konkrete gegenwartsbezogene Kritik am machtbezogenen tradierten Gottesbild gründet in ihren biblisch-theologischen Studien, in der Befassung mit altkirchlichen Traditionen und insbesondere mit der Mystik. Diese Kritik und das daraus entstehende erneuerte Gottesbild zirkulieren um den nicht nur allmächtigen Gott, sondern sie greifen dessen Unabhängigkeit und Beziehungslosigkeit an. Gott ist nach Sölle nicht ein Superman, ein Star, der alle Gefahren heldenhaft meistert, sondern Gott braucht auch den Menschen. Daher kann Gott auch leiden. Hier wird das Gottesbild eines leidlosen, a-pathischen Gottes verneint, der sich selbst genügt und eben nicht verwickelt ist in Leid, Schmerz und Verletzlichkeit. Das Gegenüber eines solchen unversehrlichen Gottes bedeutete ein Menschsein, das um der Gottesebenbildlichkeit willen immer geduldig, unerschütterlich und möglichst in großer Distanz zum Leid am Leben ist – das macht auch nicht gerade fähig für ein Bewusstsein der Sünde, die eben nicht die Fehlerhaftigkeit der Unvollkommenheit ist, sondern nach Sölle eben just jene Verstrickung in schuldhafte Zusammenhänge. Stattdessen ermöglicht der nachtheistische christologische Gedanke der Stellvertretung Gottes vor den Menschen und des Menschen vor Gott in 1004 A. a. O., 56. 1005 So Boschki / Rehberger : Dorothee Sölle, 228. Das »Über-Gott-Reden« hatte schon Sölles theologischer Lehrer Rudolf Bultmann verabschiedet, vgl. Bultmann: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?
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Christus, der sich im menschlichen Handeln prozesshaft immer wieder neu inkarniert, eine Christologie »von unten«, die das »von oben« einschließt: Das Handeln unter, durch und mit den Menschen geschieht in Beziehung zu Gott, der gegenwärtig in Leben und Geschichte eingreift.1006 Aus diesem Gedankengang, nach dem Christus in Beziehung am Leben partizipiert, wird ein zutiefst sympathischer Gott erfahrbar. Dies ist fundiert in einem Menschenbild, das einer leiborientierten Theologie zuspricht: Die Gottesebenbildlichkeit folgt dem mystischen Modell einer imitatio dei; Gott ist den Menschen das Andere, der andere Arm der Beziehung. Anstelle von Herrschaft dominieren Verbundenheit und Beziehung in einer unvollendeten Schöpfung, an der sie gemeinsam arbeiten. Diese Ebene der Gemeinschaftlichkeit zeigt sich im »Lieben und Arbeiten« als ethischen basalen Dimensionen des Lebens. Als biblisches Modell für das Leiden im Sinne einer compassio dient ihr – wen überrascht es – vor allem Hiob. Während im früheren Entwurf zu Leiden eine deutlicher vom Utopismus Ernst Blochs geprägte Haltung ihre Hiobdeutung prägt, die sie zu einer »mystischen Bejahrung«, aber auch zu einer kämpferischen Haltung führte1007, überwiegt nun, auch unter den Einflüssen jüdischen Gedankenguts, die kontemplative Auseinandersetzung mit Mystischer Theologie, die befreiungstheologisch begründet ist. An Hiob stellt sich nicht nur die Frage nach dem gerechten Gott, sondern auch die des pathischen Durchhaltens einer mystischen Liebe zu Gott. Hiob hört nicht auf zu lieben, der Satan verliert seine Wette, die auf die Zweckdienlichkeit des Glaubens setzt. Aus gegenwärtiger Sicht steht dahinter die Frage: Ist ein zweck- oder interessefreier Glaube überhaupt möglich? Sölles Hiobdeutung ist an dieser Stelle radikal gegen eine Funktionalisierung gerichtet: Die Gefahr, die von den Mystikern ausgeht, besteht in der Umdeutung sinnlosen Leidens zu vermeintlichem Sinn. Eine solche Umdeutung hieße bei Hiob: Hier wird Schmerz zum Thema der Prüfung, und das ist anders als in antiken Mythen. Der biblische Hiob lässt sich aber auf das Spiel nicht ein, sondern er verlangt Gerechtigkeit. Moralisch müsste Hiob sonst zum Atheismus führen. Gott bekommt daher neben der Rolle des Schwächeren neben Hiob auch die Rolle des strafenden Gerechten, die ihm von den Freunden zugewiesen wird, die eines Naturdämon. Hiob vertraut jedoch auf den Gott, der aus Ägypten herausgeführt hat. Nicht der Leidmacher, nur der Leidende kann Gott antworten, der Hiob in die Augen sieht. In der Herausforderung der Alltagsliebe, »nicht-rentable Liebe«, wie sie von Karl Rahner genannt wird, liegt die Negation der Funktionalisierung einer Gottesbeziehung, die vielmehr eine Entscheidungssituation zu Liebe ohne Lohn
1006 Vgl. Sölle: Stellvertretung. 1007 Vgl. Sölle: Mystik und Widerstand, 175 in der Reflexion von ders: Leiden, 136–148.
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und Rückversicherung ist. Diese mystische Narration antwortet auf das Leiden der Unschuldigen mit einem »In-Gott-Sein«. »Wenn Gott selber ein Leidender ist, dann ist Leiden nicht einfach ein Malum, dem in Widerstand oder Ergebung standgehalten werden kann, sondern eine Wirklichkeit, die mit dem fernnahen Gott zu tun hat und die in seine unbegreifliche Liebe hineingehört. Der Weg des nicht nur geduldeten, sondern freiwillig übernommenen Leidens, eben der Passionsweg, wird damit Teil des Lebensweges der Nachfolger.«1008
Die Bewegung aus der Passion der Leidenschaft und des Herzens geht in die Passion des Leidensweges und der Schmerzen ein.1009 Sölle wertet nicht die Mittel, wohl aber die freiwillige Parteinahme für Opfer als einen wichtigen Aspekt der Haltung. Dies geschieht im Mitleiden mit Christus – in der compassio. Compassio als Mitleiden mit dem gekreuzigten Christus meint auch das Fortdauern dessen, dass Christus am Kreuz hängt. »Ohne compassio in diesem umfassenden Sinn ist eine Verwandlung des Leidens nicht möglich […] Ohne compassio keine Auferstehung. Eine mystische, absichtsfreie Bejahung der Liebe schließt die Annahme des Leidens ein.«1010
An mehreren kirchen- und kulturgeschichtlichen Modellen in der frühen Neuzeit und im 20. Jahrhundert greift Sölle modellhaft christliche Haltungen gegenüber schwerem Leiden auf, welche die Agonie als Radikalität des Leidens der Anästhesie vorziehen:1011 Die dunkle Nacht der Seele – ihr mystisches Leidensmotiv – ist stets in historisch konkreten realen Situationen eingebettet. Es geht also nicht um eine dekontextualisierte Form des »reinen« Gegenübers von Seele und Gott, sondern um eine situierte Form der Gegenwart des Anderen: »Zumindest in der jüdisch-christlichen Tradition ist dieses Gegenüber immer schon durch die lästige und unaufhebbare Präsenz des und der Anderen [bestimmt], dem die hebräische Bibel den Namen des »Nächsten« gegeben hat.«1012 Sölle geht mit ihrem Weg der Mystik weder rückwärts in eine Weltabgewandtheit oder gar Weltflucht noch in Jenseitigkeit oder Intellektualisierung. Sie resümiert: »Das Bleiben in der Untröstlichkeit ist ein Hören auf das ›stille Geschrei‹«, das »Bleiben in der Agonie, ohne das Widerstand nicht möglich ist«.1013 Entgegen aller Funktionalisierung hält sie fest an der »radikale[n] Diesseitigkeit«1014 einer »Mystik mit offenen Augen«1015, die sich eher von Welt und 1008 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015
Sölle: Mystik und Widerstand, 181. Vgl. a. a. O., 184. A. a. O., 186. Zahlen in Klammern beziehen sich auf Sölle: Mystik und Widerstand. Sölle: Mystik und Widerstand, 200. A. a. O., 202f. Boschki / Rehberger : Dorothee Sölle, 221. Sölle: Mystik und Widerstand, 364.
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Kontext berühren lässt: »Sieh, was Gott sieht. Hör, was Gott hört. Lache, wo Gott lacht. Weine, wo Gott weint.«1016 Dabei ist der ethische Impetus von Bonhoeffer inspiriert: »Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Werlt mitzuleiden.«1017 Es wird auch deutlich, dass der Verlust des Gebets keinesfalls einen aufklärerischen Fortschritt bedeutet, sondern eher die Not und Notwendigkeit von Gebet. Daher ist auch Gethsemane der Fortschritt, weil Jesus, indem Menschen mitleiden, parallel gesetzt wird, indem Jesus über das Leiden hinausgeht und den Becher zu sich nimmt. Jedes Gebet verändert den Betenden. Im Geist der compassio entwirft Sölle eine Schule des Gebets, wo Menschen im Bewusstheit der Koexistenz mit allem leben. Darin kommt dann auch wiederum ein utopisches Moment zum Tragen im Setzen darauf, dass Menschen hinhören, hinschauen, sensibel für das Beziehungsgeflecht des Lebens werden, in dem sie selbst, die andere Schöpfung und Gott aufgehoben sind. Sölles Kulminationspunkt ist dabei, dass Leiden nicht nur Trennung von Gott ist; vielmehr gehört zum Geheimnis der Wirklichkeit Gottes, dass Leben und Leiden in ihm eingebettet ist. Erstens wird damit eine Beziehung erkennbar, die im Alltagsleben irritierend ist: Gott, der Gute, Rettende oder Gott, das Ziel der Zuflucht leidet selbst – eine Vorstellung, die eigentlich nur als allzu menschliche nachvollziehbar ist. Zweitens wird hier deutlich, dass Leiden und Sünde nicht apodiktisch oder gar ontologisch zusammengehören; es gibt auch ein Leiden ohne Sünde. Und drittens liegt mit der darin sich findenden positiven Bewertung des Leidens – vor allem christologisch – die Möglichkeit einer anderen kontextuellen Bewertung von Leiden.1018 Hier ist allerdings in der Solidarität mit Leidenden, denen Leiden auferlegt ist, eine Differenzierung gegenüber der Leidenssucht des Masochismus und des Dolorismus nötig, wie er von den Mönchen im Mittelalter vollzogen wird, aber auch in Krankheitsformen viturlent ist, die gerade von der Intensivierung des Schmerzes leben.1019 Damit erscheint das Pathische als ein Gegenpol der Beziehungslosigkeit. Kritik an Sölle ergibt sich gegenwärtig von Seiten der Liturgik, die eine Reduktion auf das Ethische sieht. Doch bleibt zumeist herausgestrichen, dass alle Verdrängung der Verantwortung und Abschieben auf einen theistisch gedachten Gott verwerflich sei; vielmehr gilt das Gebot des Antwortens auf Leiden.1020 1016 A. a. O., 365. 1017 Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 515f. 1018 Sölles Blick in die Geschichte der christlichen Mystik verrät einen engen Zusammenhang von Erotik und Passionsmystik. 1019 Mechthild von Magdeburg gibt ihr Leben als Begine auf – sie zieht die Passion der Einsamkeit einem passionsfreien Leben vor. 1020 »Unbedingt Recht zu geben ist Dorothee Sölles radikaler Gebetskritik dabei aber m. E. darin, dass der Bezug auf eine theistisch oder nachtheistisch gedachte (das menschliche Vermögen übersteigende und es begründende) himmlische oder kosmische kreative Kraft des Guten niemals ein Verdrängen oder Delegieren menschlicher Verantwortung auf eine
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4.2.2.3 Von der Theodizee über die Leidensfähigkeit zur Hoffnung (Jürgen Moltmann) Für Jürgen Moltmann, der ebenfalls hautnah den zweiten Weltkrieg miterlebt – er war Flakhelfer und beim Bombenangriff auf Hamburg dabei und kommt später in britische Kriegsgefangenschaft – bedeutet Theologie eine »engagierte Zeitgenossenschaft«1021; diese stellt sich jedoch weniger in einer allgemeinen Leidenstheologie oder auch nicht in einer Theologie für Leidende dar. Was Moltmann angesichts der Erfahrung, dass die Überlebenden seiner eigenen Generation in den Hörsälen saßen, von Anfang an beschäftigt, ist die Kreuzestheologie. Sie wird Fokus einer Kreuzeskritik, die das Kreuz jedoch weiterhin in den Mittelpunkt des Christlichen stellt. Dabei sind Moltmann konfessionelle Profile fern: Er legt Wert auf den Geist der Ökumenizität. Moltmanns Motivation liegt in der kritischen Weiterführung der Kreuzesmystik, die er neuzeitlich bei Bonhoeffer und Kitamori sieht. Kazoh Kitamori hatte bereits 1946 seine Theologie des Schmerzes Gottes verfasst, in der er den lutherischen deus absconditus in Relation zum deus revelatus durch dessen Schmerz sieht: Es ist Gottes Schmerz in der Spannung zwischen seinem Zorn auf den sündigen Menschen und seiner gleichzeitigen Liebe. Diese spannungsvolle Dialektik wird im Kreuz Jesu Christi auf die Spitze getrieben, in dem sich Zorn und Liebe vereinigen. Gottes Schmerz nimmt konkrete »Wirklichkeit an in der Person Jesu Christi1022 ; hier ist der Gott, der als Vater seinen Sohn sterben läßt und in solchem Handeln Schmerz erleidet.«1023 Mit diesem passiblen Gott, dessen Begründung in der Erfahrungsgeschichte des jüdischen Volkes liegt und den er im Gedankengut Abraham Heschels wiedererkennt, ist der Weg für eine Verschiebung in der Trinitätslehre vorbereitet, der sich Moltmann widmet. Diese Ausdehnung auf gesellschaftliche Bereiche geschieht nicht ohne religionskritische Züge. Moltmann wirft seinen kritischen Blick auf Kreuzesnachfolge jedoch nicht im Horizont von Moral, sondern stets von Eschatologie. Kreuzestheologie weiterzuführen, heißt für Moltmann, weit über »die Sorge um individuelles Heil hinauszugehen und nach der Befreiung des Menschen und seinem neuen Verhältnis zur Realität der Teufelskreise in seiner Gesellschaft zu fragen.«1024 Das Kreuz bedeutet hier im Gefolge von Bonhoeffer nicht Leiden, das
1021 1022 1023 1024
transzendente ›Über‹-Macht bedeuten darf, die die uns Menschen von der Aufgabe der Überwindung menschengemachter Unrechts- und Unterdrückungsverhältnisse oder der Abwendung einer menschengemachten globalen ökologischen Katastrophe dispensiert und entlastet« (Schütze: Gefeiertes Geheimnis, 39–46). Müller-Fahrenholz: Jürgen Moltmann, 159. Kitamori: Theologie des Schmerzes Gottes, 34. A. a. O., 44. Moltmann: Der gekreuzigte Gott, 9. Zu der Differenzierung programmatische und klassische Periode vgl. Müller-Fahrenholz, 161ff und 169ff. Überraschend an seiner Werk-
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man feiern könnte, sondern Verworfenheit. Moltmann beschreibt diesen Weg Jesu mündend im Tod als »Tod des Kindes Gottes durch die Hand der Menschen«.1025 Weil Jesus als der Messias auch der Sohn Gottes ist (2 Sam 7,14) und er sich selbst im Abba-Gebet als Kind des göttlichen Vaters erfahren hat, klafft ein ungeheurer Riss zwischen seiner Selbsterfahrung und seiner Todeserfahrung; dieser wiegt so schwer, dass er als »Gottesverlassenheit des Gottessohnes« verstanden werden muss.1026 In dieser Agonie der Gottesferne bedeutet der Todesschrei Jesu »die offene Wunde jeder christlichen Theologie«, da diese, ob bewusst oder unbewusst, auf die Warumfrage zu antworten sucht.1027 Moltmann ermahnt die Theologie zum Respekt vor dem Leiden Jesu an Gott – dies haben Christen zu respektieren, ansonsten gleichen sie den Freunden Hiobs, nicht Hiob selbst.1028 Moltmann benennt die Metaphern der Gottesfinsternis, Verborgenheit, Schweigen, dunkle Nacht der Seele, Tod Gottes und auch Hölle, für die Unvorstellbarkeit der letzten Gotteserfahrung Jesu am Kreuz, für das ihm auch das Bild des Schmerzensmannes dient. Drei Motive sind für seine Kreuzestheologie leitend, in der es eine bemerkenswerte und häufig kritisierte Wendung von der Hoffnung zum Kreuz gibt, die vielfach als Rückschritt gewertet wird. Moltmann nimmt in Anspruch, die »Einseitigkeiten der Tradition« zu vermeiden1029 und Kirchenkritik gesellschaftskritisch zu erweitern, um in der Mitte eine Antwort auf die gottverlassene Frage des sterbenden Jesus am Kreuz zu finden: Warum hast du mich verlassen? Moltmanns Antwort ist zugleich die auf die Frage nach dem Gottesverständnis, wer »Gott im Kreuz des gottverlassenen Christus«1030 ist: »Entweder ist der Gott verlassene Jesus das Ende jeder Theologie, oder er ist der Anfang einer spezifisch christlichen und darin kritischen und befreienden Theologie und Existenz.«1031 Damit zusammen hängt auch und schließlich die soteriologische Zuspitzung, individuelles Heil aufzubrechen und nach der »Befreiung des Menschen und nach seinem Verhältnis zur Realität der Teufelskreise in seiner Gesellschaft« zu fragen.1032 Moltmanns Kreuzestheologie setzt die Hoffnung auf eine Zentrumsverschiebung von der Passion, dem Leiden, zum Pathos, der Leidensfähigkeit.1033
1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032 1033
geschichte ist für alle Rezeption, dass acht Jahre nach seiner Theologie der Hoffnung eine zweite theologische Programmschrift verfasst wird. Moltmann: Der Weg Jesu Christi, 187. Ebd. Ebd. Vgl. a. a. O. Moltmann: Der gekreuzigte Gott, 9f. Ebd. A. a. O., 10. A. a. O., 14. Vgl. Müller-Fahrenholz, 166.
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Anders als bei Sölle ist das Leiden Jesu hier trotz aller Generalisierung des Leidens ein besonderes, ja einzigartiges Leiden, das einem einzigartigen Gottesverhältnis entstammt. Dessen Grundgedanke ist die Einwohnung Gottes in der Welt und der Welt in Gott (schechinah). Die Folge und Konsequenz ist ein mehrperspektivisches, oder, um genau zu sein: ambivalentes Gottesbild, das dieser Gottesbeziehung standhalten muss: In ihm tritt Gott zutage, der selbst leidet und ohnmächtig am Kreuz hängt und stirbt. An ihm wird das Vertrauen in das Leben und in die Welt auf eine sehr harte Probe gestellt. Dorothee Sölle wirft Moltmann vor, innertheologisch zu argumentieren und damit im Grunde nichts Neues zu sagen, weil die Denkfigur selbst Risse aufweise, denen man nicht folgen könne.1034 Für sie ist der Preis, das Leiden und das Böse in Gott in einer trinitarischen Theologie zu vereinen, zu hoch, weil die Differenzen zwischen Opfern und Henkern verschleiert werden.1035 Der Gedanke der himmlischen Auferweckung, in welcher die Handlung vom leidenden Sohn auf den Vater gelenkt wird, legt für Sölle eine unzeitgemäße Verlagerung von Aktivität in die Passivität des Christus nahe. Bei ihr liegt die Passivität Jesu in der Passion des Leidens Jesu, aus welcher eine Hoffnung der Auferstehung stattfindet. Moltmann jedoch legt die Passivität ganz in die Christusgestalt und erzielt damit eine Identifikation in einem Schwebezustand. Sölles Kritik an dieser Heilsökonomie ist, dass die Rolle des Menschen der einer subjektlosen Marionette gleicht; gegenüber der jüdisch geprägten Theologie ist Gott unabhängiger, beziehungsloser, da er die Menschen nicht für die Vollendung der Schöpfung brauche. Damit ist auch das Gewicht der Sünde bei Moltmann nicht sehr hoch. Dafür wendet er sich statt einer unio mystica einer unio sympathetica zu.1036
4.2.2.4 Memoria passionis (Johann Baptist Metz) Auch der katholische Fundamentaltheologe und politische Theologe Johann Baptist Metz bricht mit der Logik eines Identitätsdenkens. In der Autorität der Leidenden erwächst die Leidenserinnerung im Interesse der Humanisierung der Welt. Metz entwickelt ein Sensorium für »Gefahr« in den »Kategorien gefährdeten Lebens«1037, mit dem er sich gegen eine Logik des Erfüllungsdenkens wendet. Es gilt, gegen das Vergessen den Schrecken standzuhalten; die biblische Verheißung ist auf die Schärfung des »humanen Gedächtnisses« aus. Dazu ist die wechselseitige Anerkennung von Leiden und Leidensgeschichte elementar vonnöten. 1034 1035 1036 1037
Vgl. Sölle: Gott und das Leiden, 112. Vgl. a. a. O. Vgl. Moltmann: Der gekreuzigte Gott, 261. Metz: Unterwegs zu einer nachidealistischen Theologie, 103ff.
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Die Logik der Unterbrechung gilt deshalb, weil etwa das »apathieerzeugende Zeitverständnis« gebunden an das »Gottesgedächtnis in der Leidensgeschichte unserer Welt« bleiben und gegen alle leiderzeugenden Verhältnisse seine theologische Dignität behalten« soll.1038 Auschwitz stellt eine unhintergehbare Unterbrechung in der Theologie dar und kämpft für eine nicht bloß verobjektivierende Kultur der Erinnerung, nicht nur des Verstehens. Es besteht eine Gotteskrise in einer Entkoppelung von Gottesgedächtnis und menschlichem Leidensgedächtnis. Metz ruft in dieser Krise von epochaler Tragweite, die zunächst einmal nur Orientierungen zulässt und keine schnellen Antworten befördert, zu einer Belebung des Gottesgedächtnisses mit seinem (kategorial überlagerten) Geist zur Rettung des Menschen. Der universale Anspruch auf Wahrheit wird durch das Leiden erhoben und manifestiert sich in einer Leidenserinnerung. Damit wird zum einen markiert, was für Metz’ Theologie unhintergehbar ist: die Brechung der »Gottunmittelbarkeit« durch die Hinwendung zu und den Umgang mit den Anderen. Gotteserfahrung ist immer intersubjektiv. Umgekehrt werden die Anderen – und hier wird auch L8vinas’ Apriori deutlich – zu einer unbedingten Herausforderung. Seine Theologie macht einen Weg von der Fokussierung der Subjektkonstitution in der Theologie der Welt zu einer stärker intersubjektiven Vertretung von Sinn- und Geltungsansprüchen im Compassion-Konzept. Diese zeigt sich, auch hier wieder mit L8vinas, im »Eingedenken fremden Leids« – einer Passivitätsformel, die das Angeblicktwerden durch andere konstitutiv werden lässt. Sie hebelt fundamentaltheologisch nicht die Diskursrationalität aus, gibt ihr jedoch den nötigen menschlichen »Tiefgang«, welcher der Antlitzlosigkeit trotzt. Ohne das Fundament einer Gedächtniskultur wäre das Miteinander einer Konvivalenz unter pluralistischen Vorzeichen blutleer. Im Konzept der anamnetischen Vernunft findet sich darum das »Leidensapriori«, das stärker ist als das Setzen auf Verständigung; das Verständigungsapriori bleibt in phänomenologisch-ethischer Manier hier auch asymmetrisch auf das Leidensapriori verwiesen. Daher wird mit dem Primat auf der Frage nach der Gerechtigkeit für unschuldig Leidende die Theodizeefrage politiktheoretisch ins Gewicht gebracht. Metz hält an der biblischen Theodizeefrage fest, die ein entscheidendes Motiv für den Gottesglauben selbst bleibt; hier gibt sie der Nichtakzeptanz des Faktischen in der Klage, der Anklage und dem Schrei ein großes Gewicht – man könnte auch sagen: eine negative Theologie des Kontrafaktischen, die nach Aufhebung geradezu drängt. Memoria passionis ist die entscheidende theologische Kategorie, der eine »Theodizeeempflindlichkeit« eigen ist1039 und die den Respekt vor dem »nega1038 Metz: Memoria Passionis, 4. 1039 Reikerstorfer : Johann Baptist Metz, 153.
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tiven Mysterium« des Leidens schützt und sich nicht mit Trost zufrieden gibt. In der Theodizeefrage bleibt die spannungsvolle Einheit von Schöpfergott und Erlösergott erhalten – sie bildet die entscheidende eschatologische Perspektive. Dieser liegt eine fortschreitende Entzeitlichung der Zeit im biblischen Sinn, das hier als Hintergrund für abendländische Menschheitskultur gilt. Mit der Memoria Passionis bekommt das christliche Potential der Verheißung einen ZeitRaum und praktischen Kontext der Hoffnung. Christologisch ist damit »das Neue, das weltlich Unmögliche und Ungeheuerliche christlicher Hoffnung in der partizipativen Aufmerksamkeit für fremdes Leid verortet«1040 – damit ist die Autorität der Leidenden gewährleistet. Ekklesiologisch nimmt Metz mit dem Gestaltungsgedanken von Compassion zunehmend die Frage nach Inkulturationsfähigkeit von Kirche in den Blick – wie lässt sich eine »Kirche der Anderen« als lebenstauglich- realen kulturell-polyzentrischen Weltchristentums in authentischen Formen gestalten? 4.2.2.5 Von der Theologie zum Fall: Von der Memoria Passionis zur Compassio Die Memoria Passiones machen Passivität als fundamentale Grundstruktur des Seienden überdeutlich. Dabei werden spezifische Probleme der Leidensdeutung bzw. der Kontextualisierung von Leiden in der christlichen Theologie sichtbar. In diesem Kontext wird im FALL auch die Frage nach Gott eher en passant artikuliert als Frage nach Ursache und Präsenz. Die Ansätze in der Wurzel einer Theologie nach Auschwitz brechen in der Erfahrung keinesfalls mit dem Bild und der Erfahrung eines gütigen Gottes; aber die Vorstellung von Gottes Apathie, nach der Gott unbeeinflussbar und leidensunfähig wäre, bricht an verschiedenen Punkten radikal auf. Ist dieser Punkt bei Sölle die Dialektik von weltoffenem und zugleich mystischem Panentheismus und der Differenzierung zu Christus als dem Anderen, so wird bei Bonhoeffer die Ergebung an den extramundanen Gott zur Basis religionslos gelebten Widerstands. Moltmann vereint die Passibilität des gekreuzigten Gottes und die Sympathie mit der Hoffnung auf trinitarisch begründeten Wandlungen zur Befreiung. Johann Baptist Metz hält entgegen jeglichem Eskapismus ein Plädoyer für eine mystisch verwurzelte und politisch wirksame Leidenserinnerung in einer theologisch armen Sprache des Schreis und im eschatologischen Interesse. Wer die Gottesfrage nicht ausblendet, kann auch nicht auf die Theodizeeproblematik verzichten. Seine positive Würdigung gilt der »Theodizee-Empfindlichkeit«, die einen 1040 A. a. O., 156.
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»sperrigen und unverzichtbaren Vorrat an Erinnerungen in der Glaubensgeschichte« verhandelt.1041 In ihr kommt eine Wurzel theologischer Sprache zum Vorschein, die nicht nur zielstrebig über Gott redet, sondern auch in ratlose Rede umschlägt; sie bewahrt die Religion vor Projektionen, indem sie mit den Widerspruchserfahrungen Gott selbst belästigt. Der FALL spiegelt in den Reflexionen des Schülers, was er vorher im Sinne einer Unterbrechung theologischer Lehre im Angesicht der Gefahr artikuliert hat. In der Haltung des Schülers kommt zum Ausdruck, was an lebensweltlich gegründeten Leidensmotiven theologisch durchdacht war. Es fällt auf, dass die Jesus- bzw. Christusgestalt keinen expliziten Bezug ergeben hat, Theodizeefrage und Hoffnung angeklungen ist. Erlösung spiegelt sich in der Erleichterung und Hingabe an das Schicksal. Dass es sich reflexiv um die Darstellung der Gottesbeziehung und ihrer Frag-Würdigkeit handelt, findet seine Erfahrung Ausdruck in der ungeplanten Form des Schreis, die eine lebens-weltliche Evokation von Compassion ist. Entscheidend ist dennoch, dass die Theodizeefrage – und dies in verschiedenförmiger Gestalt – nicht von Theologien erfunden, sondern immer wieder von Menschen gestellt wird; es sind Leidenserfahrungen, aufgrund derer nach dem Grund und Sinn, nach den Zusammenhängen von Leiden, Leben und Glauben gefragt wird – und auch nach Perspektiven. Daher und in diesem Zusammenhang wäre es nicht nur frevelhaft, Leiden zu vertuschen, zu verharmlosen, zu verschweigen oder zu verklären, sondern auch von vornherein einen Gottesbezug auszuschließen.
4.2.2.6 Vom Fall zur Theologie: Mut zur Differenz Einen anthropologisch-existenziellen Angelpunkt, der das Ergebnis der Verschiebung (und auch Ritters didaktische Schlussfolgerung, korrelativdidaktisch anzusetzen) auf existenzielle Fragen aufnimmt, benennt Paul Tillich.1042 Er unterscheidet in der ontologischen Analyse der Existenz Leiden als Element der Endlichkeit, das mit Mut angenommen wird und durch das auch die Endlichkeit bejaht wird, von dem Leiden, das destruktiv von sich selbst und anderen entfremdet und deren Aufhebung endzeitlich verheißen ist.1043 Von daher stellt Auschwitz als Ereignis das »beschämende Aufwachen aus dem neuzeitlichen Traum vom vernünftigen Leiden« dar, welches eine besondere Form der Erin1041 Oelmüller : Worüber man nicht schweigen kann, 183f. 1042 Vgl. die ethische Strittigkeit des Leidens während der Kulturkrise. 1043 Vgl. Sparn: Leiden IV, 699.
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nerungskultur in Gang gesetzt hat.1044 Damit verbietet sich eine Ästhetik der Heiterkeit ebenso wie der Versuch einer Theodizee, welche das Böse in ein gutes Allgemeines einbetten lässt. Was Viktor von Weizsäcker und andere in Korrektur der Psychoanalyse verdeutlichten, wird jetzt durch eine größere Radikalität nötig: Aus der Haltung der Betroffenheit heraus wird die Notwendigkeit, die aufzuhebenden Ursachen von Leiden zu beheben, radikal ersichtlich; dennoch droht mit zunehmender Technokratie der Moderne der neurotische Wahn einer Leidensfreiheit. Die Beschäftigung mit Fragen nach dem Umgang mit radikalem, unverfügbaren Leiden wie todesbedrohlicher Krankheit fordern dazu auf, weder der Verführung einer unkritischen Rechtfertigung von Leiden noch einer idealistischen Machbarkeitsideologie zu verfallen, sondern eine Differenzierung von vermeidbarem und auferlegtem, unverfügbarem Leiden zu ersuchen und Haltungen der Hoffnung zu entwickeln. Welche Rolle gebührt nun dem Topos der Passion in einer Theologie, die nicht einfach vom Himmel fällt, sondern den Aufzeichnungen empirischer christlicher Religiosität Beachtung schenkt und Differenzierungen der Erfahrung herausfiltert?
4.2.3 Passion – Christologische Aspekte Der Mut zu einem differenzierten Verständnis von Leiden im obigen Sinne erfordert unter Einbezug der kulturwissenschaftlichen Fundamente des Pathos eine Neubestimmung davon, was unter Passion zu verstehen ist. Zum Rahmen der veränderten Formulierung gehört auch, dass mit KlausPeter Jörns innerhalb der Theologie eine Kritik laut geworden ist, die aus den Reihen der Kulturwissenschaft am Christentum erhoben wurde: Nicht nur das Ende der Gewalt, sondern auch die Unnötigkeit und Unverträglichkeit der Lehre vom Sühnetod1045 sei es, die nötige Abschiede von gängigen Christologien erforderlich macht und vielmehr eine Jesulogie, die Rede von und einzigartige Betonung von Jesu Leben, in den Vordergrund stellt.1046 Jörns nimmt eine Theologie in Anspruch, die hinter die Passionsgeschichte, hinter die biblische Narration der Gottesbeziehung von Gott, Mensch und Jesus Christus und auch hinter Paulus zurückgehen will – letztlich eine »schöne« Theologie des liebenden Jesus ohne die Erfahrungen des radikal Pathischen, ohne die Dialektiken von Verstrickung und Erlösung. Mit dieser Art von Logik würde jedoch nicht nur ein entscheidender Teil biblischer Geschichte von Jesus für unwichtig erklärt, son1044 Sparn: Leiden IV, 700. 1045 Vgl. Girard: Das Ende der Gewalt. 1046 Vgl. Jörns: Notwendige Abschiede.
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dern auch die Unrechts- und Opferseite der Passion verdrängt und Schuld, Sünde und Tod verharmlost werden.1047 Wie ist im Rahmen einer auf theologischer Anthropologie basierenden Ethik von Jesus und von Christus zu reden und zu denken?
4.2.3.1 Passivität aus Passion (Philipp Stoellger): Zur empirisch-hermeneutischen Reformulierung einer theologischen Kategorie Ein entscheidender theologischer Wurf, der sich mit der Dimension des Pathischen in systematischer Hinsicht auseinandersetzt, stammt von Phillipp Stoellger. Seine Verhandlung des Pathos und die Rehabilitation der »categoria non grata« Passion ist ein theologie- und philosophiegeschichtlicher Aufriss für eine umfassende und nahezu enzyklopädische Bearbeitung in extrinsezistischer Annäherung. Stoellger rollt auf, dass dem Anthropologie-Passivum eine Pauschalkritik unterliegt: Gründe dafür liegen in der Theodizeediskussion, die im Pathischen ausschließlich Schmerz, Unlust und dunkle Seiten der Kultur sieht.1048 Es ist klar, dass das Leiden des Provokativen gerade am Ende des Lebens in der Radikalität deutlich wird. Aber schon die Theologiegeschichte setzt auch, etwa mit Hannah Arendt gegen Martin Heidegger, dagegen Natalität. Edmund Husserls Analysen zur passiven Subjektivität können als Rückkehr und Revival neuerer Phänomene der Passivität gesehen werden. L8vinas hat mit der Trias Logos, Ethos und Pathos einen Urzusammenhang gestiftet, der für eine Metaethik maßgeblich ist. Die Fülle der Paradigmen nötigt zu einer Problemgeschichte, die den Versuchen zur Ästhetisierung, wie es durch eine Beschränkung auf den rhetorischen Charakter des Pathos gegeben wäre, widersteht und im hermeneutischen Interesse ausgerichtet ist. Dabei ist zu fragen, was Theologie über Phänomenologie hinaus zu sagen hat. Von großem Gewicht ist dabei die These, Passivität als »das Andere des Tuns« zu begreifen.1049 Stoellger macht sich mit ihr auf den Weg, eben nicht die Passion verschwinden zu lassen, sondern umgekehrt zu verstehen: »Was heißt es, daß die Theologie aus der Interpretation der Passion hervorging?«1050 Hierbei geht es um den Dreischritt, »was in den Bedingungen der Möglichkeit 1047 Vgl. die kritischen Entgegnungen von der betreffenden und befreienden Botschaft des Abendmahls (Alkier : Die politische Botschaft des Abendmahls) und von der Gewissheit des pro nobis (Schneider-Harpprecht: Vom kirchlichen Christentum zur universalen Liebesreligion). 1048 Vgl. Stoellger : Passivität aus Passion, 6f. 1049 A. a. O., 14. 1050 A. a. O., 17.
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als Unmöglichkeit auf der Strecke bleibt: zum einen das Andere des Handelns, zum anderen um das Dritte zwischen Ethos und Logos und zum dritten auch um das, was quer zu allen Korrelationen von Aktivität und Passivität steht.«1051 Dabei ist klar, dass der Schatten des Passiven mitbedacht werden muss, was meint, wo Leiden als heilvoll stilisiert wird, das Pathos der Pathetik angestimmt und die Betroffenheit der Leiblichkeit gefeiert wird. Damit eröffnet sich der Horizont einer kulturtheologischen Bestimmung, die von Kultur als Antwort aus auch auf Natur ausgeht. Pathos ist eine Zwischenkategorie, die nicht nur zwischen Epistemologie und Ethik kommunikativ Ethos und Logos vorausgeht. Stoellger geht von einer passiven Reduktion und dessen hermeneutisch-phänomenologischen Sinn aus, die nicht Ethos und Logos auf kausale Effekte des Pathos verkürzt, sondern einer Dynamik nachgeht, durch ein Anderes ihrer selbst angestoßen und in Bewegung gehalten wird1052 : Die passive Reduktion ermöglicht, die Phänomene und Vollzüge von einem kreativen Ereignis aus zu verstehen, »einer Widerfahrung, auf die diese Vollzüge antworten.«1053 Die Formeln ›aus Passion‹ und ›als Passion‹ ergeben einen prähermeneutischen Rahmen für Stoellgers Denkbewegung. Aus was wird dieser Entwurf in einer Dynamik aus Pathos und Response angestoßen? »Ethos aus Pathos, ein gutes Leben aus Passion wäre die Wendung für Aristoteles’ passionierte Habituslehre.«1054 Mit dieser Ordnung macht sich die Differenzbestimmung des Menschen als animal rationale bemerkbar : Im Zuge der als labil zu bezeichnenden Pathe nimmt interessanterweise der Habitus eine stabilisierende Funktion ein1055 – er provoziert die Arbeit am gestaltenden Verhältnis von Seele und Leib. Kultivierte Lüste sind die Basis, das Gute zu tun. Nach Peter Nickl müsste es heißen: »Die Affekte des Habitus bilden die Stimmung des Ethos«1056 ; der Habitus ist also das Ethos der Passionen. Stoellger arbeitet sich durch die Antike, geht von Aristoteles über Augustin in Übergängen mit dem Habitus und von Aristoteles zu Thomas von Aquin, mit dem dann die Frage nach dem Sinn des Leidens und dessen Antwort in der Gottesschau durchstriffen wird. Damit wird das Problem bearbeitet, inwiefern Gott apathisch ist oder Passionen Gott zugehörig gedacht werden können.1057 Mit Luther und letztlich auch Barth schließt sich Stoellger der theologischen Tradition der Apathiekritik (seit Laktanz) an, die hier in einer inhärenten Dialektik Gottes wurzelt, der Liebe und Zorn ineins und nur im Rahmen von 1051 1052 1053 1054 1055 1056 1057
A. a. O., 18. Vgl. a. a. O., 24. A. a. O., 24. A. a. O., 89. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1106a, 4–6. Nickl: Ordnung der Gefühle, 25; vgl. Stoellger : Passivität aus Passion, 92. A. a. O., 127–131.
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Barmherzigkeit auch Leidensfähigkeit sieht – hier in Analogie zu Augustins misericordia, die nicht ohne compassio ist. Der Schritt zur Mystik verläuft dann über die Widerfahrung und die Intuition, die in der Rhetorik als einer »›Gebrauchsanweisung für die Sprache der Affekte‹« funktionalisiert werden.1058 In der Mystik wird durch Mimesis der Nachfolge eine Umdeutung des Leidens vollzogen: Am Fallbeispiel der vita Heinrich Seuses erfolgt die Wendung von einer destruktiven vita passiva in eine lebendige vita passiva voller Aktivität – damit eine heilsame Passivität, die auch das Lassen der Kontemplation einschließt. Stoellger arbeitet heraus, dass und wie das Gottesverhältnis in der deutschen Mystik eine quer zu allen anderen weltlichen Passivitäten stehende Passivität ist, die jedoch durch eine Kontinuität ausgezeichnet ist, in der alles Leiden zum Gottleiden integriert wird.1059 Der höchste Punkt der mystischen Widerfahrung ist die unio. Mit Emmanuel L8vinas’ Proklamation der Sinnlosigkeit jedes Leidens gegen den Strich gelesen, wird das Leiden des Anderen zum Anhaltspunkt für Bedeutung und gibt zu bedeuten, weil, wenn und wo es zum Anspruch für mich selbst wird. Hier liegt der Ansatzpunkt für ein Denken vom Pathos her. Stoellger identifiziert hier also so etwas wie »eine anthropologische Version der Passionsmeditation […], in der das Leiden der Kreatur zum Urstiftungsphänomen wird, aus dem Ethos wie Logos ›erweckt‹ werden.«1060 Damit gebührt Aufmerksamkeit der passiven Synthesis , die »erweckt wird vom Leiden, ohne dass sie gewollt wird oder nicht.«1061 Mit der Frage: Wie wird eigenes Leiden bedeutsam und überschritten? richtet sich L8vinas gegen jede doktrinale Theodizee. Indem es anderen ebendiesen Anspruch bedeutet, markiert er den »einzigen« Ausweg, der nicht eine (billige) Rechtfertigung von Leid duldet und damit Theologie nach Auschwitz ad absurdum führen würde, der aber auf der anderen Seite auch nicht die Theologiefrage ausklammert und damit den Holocaust evozieren würde. Er wird zum Bekenntnis zur Geschichte und dem leidenden Anderen aufgrund eines Pathos aus der Geschichte Israels. Stoellger erkennt nun gerade hierin die Verwandtschaft zur Mystik, weil sie eine Urpassivität und damit einen Anklang an Passionsmeditation hat. Mit L8vinas behauptet Stoellger »in der Wahrnehmung des Pathos den metaethischen Anfang des Ethos der Nichtindifferenz«1062, damit auch der asymmetrischen Inanspruchnahme des Eigenen durch den Anderen. In der »Nichtintentionalität des In-Anspruch-genommen-Werdens, von dem aus die Vorgängigkeit des Anderen (Diachronie), die quer zu meiner Aktivität und Passivität stehenden Urpassivität
1058 1059 1060 1061 1062
A. a. O., 135. Vgl. a. a. O., 199. A. a. O., 210. Ebd. (H.i.O.). A. a. O., 212.
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und daraus die mögliche Verpflichtung dieses Ethos zu verstehen«1063 sind, macht sich daher eine Urpassivität bemerkbar. Bei L8vinas kommt ein scharfes theologiekritisches Moment zur Sprache – Theologie müsse daher nicht über, sondern von Gott reden, um diese Vorurteile auszumerzen. Bei Martin Luther gilt es daher die mitschwingende Heilsbedeutung des Leidens zu problematisieren. Hier kommt mit der Kategorie der Erfahrung auch die Widerfahrung ins Spiel.1064 Die soteriologische Passivität ist ein außerordentliches Widerfahrnis, das den Anfang einer neuen Ordnung markiert und sich im asymmetrischen Gabentausch des fröhlichen Wechsels vollzieht.1065 Zu unterscheiden gilt es dort die Passion des Christen von der Jesu Christi, die nicht als dessen Verlängerung begriffen werden darf. Aus diesem Part entnimmt Stoellger unmissverständlich, dass es auch nicht mit einem Primat des »Lassens« getan ist, denn in diesem steckt ohnehin Tun; vielmehr lebt die vita passiva aus dem rechtfertigenden Gottleiden – was Heiligung soteriologisch irrelevant macht, aber ethisch durchaus als Entfaltung der Lebensphasen aus dem Pathos begreiflich ist.1066 Es geht also um das vorreflexive Gewahrwerden des Anderen, das sich nicht in Aktivität ummünzen lässt.1067 Mit Waldenfels und L8vinas bewegt sich Stoellger auf der Linie, dass ein anderer Anfang eines anderen Ethos beginnt: Waldenfels’ »Spuren eines Ethos, das dem Pathos eingezeichnet ist«1068, werden umgekehrt theologisch zu »Spuren eines Pathos, das dem Ethos eingezeichnet ist« – deren konkrete Gestalt ist die »Passion, in theologischer Perspektive s.c. die Christi, in L8vinas’ Perspektive die jedes Anderen.«1069 L8vinas, so wird hier deutlich, dreht Ansprüche um, macht aus dem simul iustus et peccator ein prozesshaftes Der-Verantwortunggewahr-Werden; das hebt sich nicht ein für allemal ersatzlos auf, aber es bleibt die Spannung der Negativität, indem es keine finale Erlösung vor dem Überanspruch des Anderen gibt. Diese Passionstheologie rechnet damit auch nicht mit dem einen Anderen, der schon mal ein für allemal alles erlitten hat; Stoellger 1063 Ebd. 1064 Widerfahrung und Antwort als Grundfigur sind schon bei Joest als Topos des Antwortens zu entdecken – bei ihm ist Glaube eine responsorische passivitas. 1065 Vgl. a. a. O., 287. 1066 Luthers Umformung der Mystik als imitatio Christi ist dahingehend zu präzisieren, dass das Christenleben selbst ein Exemplum wird – Luther geht da sehr weit, indem ein Mensch dem anderen in der Nächstenliebe zum Christus wird. Stoellger wiederum erkennt die Gefahr der Überinterpretation, die Alteritätstheorien wie die von L8vinas nahelegen. Er warnt vor der »medialen Inszenierung eines Leidenden oder Sterbenden als ›alter Christus‹« – und setzt der bis hierher unbedingt nötigen »Darstellungsfunktion der vita passiva als lebensweltliche Gestaltung der widerfahrenen Gerechtigkeit« eine Grenze (a. a. O., 308). 1067 Vgl. a. a. O., 337. 1068 Vgl. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 98. 1069 Stoellger : Passivität aus Passion, 338.
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hebt die Urpassivität hervor, die Gabe des Gebens, die jedem Wollen voraufgeht.Vita passiva ist mit L8vinas ein leidentliches, aber leidenschaftliches Leben von der eigenen, nicht abgründigen Geschöpflichkeit. Die phänomenologische Sinnfrage von L8vinas liegt in einer passiven Reduktion; sie legt den Eigensinn der Sinnlichkeit frei, den Sinn des Leidens im genitivus subiectivus, nämlich Sensibilität. Passivität erschließt sich also bei Stoellger als Struktur und Ereignis von Rechtfertigung.1070 Zu ihrer Erscheinungsweise gehört die Reflexionsfigur des Pathos gegenüber Ethos und Logos als Dreiheit. Passivität wird nicht als eine Potenz, als ein Vermögen bestimmt, das aktualisierbar wäre – und hier geht Stoellger über Karl Barth und Emanuel Hirsch hinaus – sondern Passivität meint »das Dass und Wie der ›Gegebenheit‹ eines Widerfahrnisses«.1071 Mit all dem sind verschiedene Kontraste und Antinomien im Spiel: Passivität ist eben dann doch nicht eine basale Rezeptivität, wie bei Emil Brunner im thomistischen Sinne, sie bleibt dann schlichtes Korrelat zur Aktivität.1072 Aus diesem Anlauf, phänomenologische Hermeneutik und differenzhermeneutische Theologie als Kooperateure miteinander ins Spiel zu bringen, folgt: Die Passivität des Menschen wird so soteriologisch wie hamartiologisch aus der Passion Christi verstanden. In einer (umgekehrten, S.L.) Weise setzt Rechtfertigung »mere passive« die Passivität als Passion mit aller Leidenschaft frei; darin liegt die Kreativität der Passivität, aus welcher Logos und Ethos evoziert werden. Letztendlich blickt auch Philipp Stoellger darauf, dass die Kategorie des Widerfahrnisses das »brauchbarste Pseudonym« der ›categoria non grata‹ darstelle1073 : Hier wird ins Feld geführt, dass es sich eben nicht um ein neutrales 1070 Vgl. a. a. O., 480f. 1071 A. a. O., 481. 1072 Rechtfertigungstheologisch beherrscht nicht das Ereignis als Struktur unbedingten Geltungsanspruch, sondern es bleibt interpretativ rückgebunden an den Gegenstand des Interpretierens, das zu Verstehende. Von hier fällt der Blick auf Waldenfels’ Konzept von Pathos und Responsivität als Struktur bzw. als strukturale Reduktion. Die Gefahr liegt auf der Hand: Man würde eine Ordnung voraussetzen, die dem Außerordentlichen immer und überall vorausgeht, dann wäre das Außerordentliche eben nicht mehr das Außer-Ordentliche. Dagegen begreift Stoellger die Ordnung als die »Entfaltung eines außerordentlichen Ereignisses« (a. a. O., 483). Entscheidend ist die Einräumung, dass Wahrheitsgewissheit nicht zu sichern ist über ein Rationalitätsschema, welches das Konkretum von einem allgemeinem Begründungsschema abhängig macht. Somit ist es nicht mit der Figur Konrad Stocks von der »Offenheit der Person für Gottes Gnadenhandeln« im Anschluss an Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngels anthropologische Fundierung getan. 1073 Vgl. a. a. O., 470ff. Theologisch wurde die Kamlah eingeführe Kategorie auch von Friedrich Mildenberger wie Oswald Bayer theologisch weitergeführt. Stoellger diskutiert an den Beispielen der beiden Lutherforscher deren einmal schöpfungstheologische und einmal auf den dreifachen deus absconditus bezogene Struktur von Gesetz, Evangelium und Natur. Interessant ist bei Bayer, dass der zugrundeliegende Naturbegriff sich keinesfalls auf eine schöpfungfstheologische Seite (zumindest nicht allein) bezieht, sondern die
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Ereignis handelt, sondern ein Beziehungsgegenüber da ist. Es erscheint so, dass gerade in den unterschiedlichen Akzentuierungen von Kant, Luther und Barth (und im Vorlauf schon bei Jüngel) deutlich wird, dass Widerfahrnis und Widerfahrung, um die Prozessualität und Performativität dieses Geschehenscharakters hervorzuheben, nicht auf eine Funktion von Erfahrung zu reduzieren sind. Waldenfels’ Paradoxon der »Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht«1074 wird in einer Negation von Intentionalität seiner Widerfahrnisse vor allem in ihrer Wirkung auf uns, für uns und mit uns zugänglich.1075 Als theologisches Problem kristallisiert sich mit Stoellger die Frage nach einem Verhältnis von Handlungslogik und Wirkungslogik im Falle der Rechtfertigung heraus. Was Stoellger mit den Kategorien Ereignis, Widerfahrnis und Kontingenz philosophiegeschichtlich unterfüttert und rechtfertigungstheologisch durchspielt, fragt nach dem Verhältnis von Gott und Mensch, wenn man berücksichtigt, dass eine »Dramaturgie eines Lebens im Zeichen der Passivität«1076 entfaltet wird, die man von Jüngel her folgendermaßen notieren würde: »Es gibt eine Passivität, ohne die der Mensch nicht menschlich wäre. Dazu gehört, daß man geboren wird. Dazu gehört, daß man geliebt wird. Dazu gehört, daß man stirbt.«1077 Maßgeblich dafür, Leiden an sich selbst und anderen sowie Gottes Mit-Leiden wahrzunehmen, sind kulturtheoretisch-ästhetische Überlegungen zum Tun und Lassen1078, welche die aristotelische Unterscheidung von Nichtkönnen als Impotenz und der passiven Potenz, dem Potential des Lassens, bewusst machen. Dafür wird auch die Diskussion um die Gabe angeführt, die sich an den Rändern von Aktivität und Potenz bewegt, da sie vom Ereignis aus gedacht ist.
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dunklen Schattenseiten von Passivität einbezieht, die sich in den Katastrophen von Natur, Mord, Gewalt, Krankheit etc. spiegeln, in denen Gott Gott nicht entspricht, sondern widerspricht. Bayer entfalte demnach Glauben als responsorische Affekte. Der Beginn jedoch wird auch hier nur im sprachlichen Bereich gesehen; damit kommen alle vorsprachlichen und transzendentaltheoretischen Interpretationen des Passiven nicht vor und damit bleibe auch noch undeutlich, wie das Verhältnis von Widerfahrnis und Erfahrung zu denken sei und wie das Andere der Erfahrung, so sie in die theologiegeschichtlich langen Kritiken an der Passivität eingehen, vorkomme. Hier wiederum setzt Stoellger die vorherigen Gewährsleute Kant (hier ist Widerfahrnis zumindest auch das Handeln Anderer), Luther und Barth ein. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 58. »Für die Frage nach der Rechtfertigung heißt das, sie ist wesentlich die heilsame Wirkung der Gegenwart Gottes, von der aus erst zurückgefragt werden kann und muß nach dem Woher dieser Wirkung. Die Wirkung geht ihrer Ursache phänomenal voraus. Was immer dann interpretativ in Logos und Ethos entfaltet wird, ist Resonanz und Antwort auf diese Wirkung« (a. a. O., 479). Stoellger : Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz, 92. Jüngel: Tod, 116. Dabei ist jedoch die Verhältnislosigkeit, die Jüngel mit dem Tod behauptet, m. E. nicht haltbar, da sie die Beziehung zu Toten für unmöglich erklärt. Vgl. Stoellger : Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz.
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Stoellger spitzt also auch die Theologien des 20. Jahrhunderts im Gegenwartshorizont des neuen Millenniums mit Passivitätserfahrungen theologisch zu und gibt einen systematischen Rahmen, der nicht die Kritikfähigkeit der Soteriologie hinterfragt, wohl aber deren basale Anfragen entkräftet; es wäre ein falsches Verständnis von Grundkonstanten des Mensch-Gott-Verhältnisses, wenn man die christologischen Fundamente für überflüssig erklärt. Eine evangelisch verstandene Ethik kommt aus Gründen der Passivität nicht ohne den Rechtfertigungsgedanken aus. 4.2.3.2 Von der Theologie zum Fall: Implizite Passion Im empirischen FALL sind auf der Basis von Stoellgers Gedankengang mehrere Facetten von Passion zu beleuchten. Zunächst wird Passion nicht explizit gemacht. Dies betrifft die Situation des Schülers ebenso wie den Unterricht und die Religionslehrkraft selbst. Passion rückt jedoch den Rändern der Unsagbarkeit in den Horizont des Impliziten. Im FALL scheint in Johannes’ Situation des Nicht-Könnens durch, dass seine Lebensbestimmung von der Negativität her sichtbar wird. Es können dort Spuren von Scham ansatzweise sichtbar werden, die aus dem Nicht-Können, der Eingeschränktheit, der Blöße des Lebens rühren. Die Leidenserfahrung wird hier auch nicht christologisch aufgelöst, sondern, wie es klingt, eher punktuell an der Rationalität einer Theodizeefrage gebunden. Spielt man die Akteure durch, wird erkennbar, dass die Spannung zwischen Tragen-Müssen und Getragen-Sein eine Facette der Passivität ist. Für die Religionslehrkraft ergibt sich erst viel später ein Konnex zwischen dem Schüler und der Passion Jesu – vor allem im Rückblick im Gespräch mit der Forscherin – dessen Zurückhaltung auch damit in Verbindung stehen mag, dass die Differenz zwischen dem Selbst und der Christusgestalt durchscheint und eine Identifikation bruchhaft wäre und die Frage des Wofür reflexiv angegangen wird. In ähnlicher Weise ist nicht die Krankheit, das Leiden selbst eine Konkretion von Passion, sondern sie stiftet für den Schüler wie für die Lehrkraft den Anstoß, Passivität und Ohnmacht begreifen zu wollen. Tun und Lassen kommen in einen neuen Horizont, es entwickeln sich Gaben – letztlich auch vor dem ebenso impliziten Horizont der Endlichkeit und des Todes, die dabei mitschwingen. Damit zeigt sich, dass Passion zur Metapher für eine existenzielle Leidfrage mit Gott wird, und zwar für diejenigen, die diese Folie anlegen – die also mit Passion selbst eine Erfahrung und Tradition verbinden.
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4.2.3.3 Vom Fall zur Theologie: Scham Eine Theologie, die mit Erfahrungsbezug, d. h. empirisch-theologisch konzipiert ist, legt nahe, nach den erlebten Momenten von Passion zu fragen und an ihnen ihre Christologie zu orientieren. Stoellgers Pathos als dritte entscheidende Kraft setzt hier mit dem Widerfahrnis einen auch empirischen Ausgangspunkt. Insbesondere das im FALL benannte Hinsehen und -hören auf Ungesagtes, Implizites macht deutlich, was für die zukünftige Verzahnung von Christologie, Theologie und Anzhropologie eine entscheidende Rolle spielt: Die Christusgestalt symbolisiert in ihren narrativen und reflexiven Inszenierungen Schmerz und heilsame Überwindung und verkörpert zugefügte bzw. in der Wirkungslogik widerfahrene Beschämung. Überwindung von Schmerz und Scham ist in der intakten und sehr dichten Gottesbeziehung Jesu und der Menschen zu suchen.1079 Daher muss nachgehakt werden: Was verändert sich in der biblischen Hermeneutik, wenn Leben explizit im christologischen Horizont von Passion erlebt und gesehen wird?
4.2.4 Passionshermeneutik: Von biblischen Grenzfällen zur Memoria Passionis Es hat sich erwiesen, dass zwei biblische Modellfälle – aus unterschiedlichen Zeiten und literarischen Komplexen – die gegenwärtige theologische Auslegung des Pathischen in verschiedenen theologischen Teilhorizonten besonders mitbestimmen; sie fallen aus den jeweiligen Ordnungen nicht heraus, aber brechen diese auf. Hiob ist der Fall, das Buch und das Problem, das sich ausgehend von Leiden und menschlicher Machtlosigkeit stellt. In der alttestamentlichen Hiobdichtung – die historische Spanne ihrer Entstehungszeit umfasst ca. 800 Jahre – bekommt das Leiden einen szenischen und damit einen, wenn auch nicht erklärten, so doch gezeigten Rahmen, der Zündstoff für eine breite Rezeptionsgeschichte wird. Mit der Figur des biblischen Hiob, einem frommen und unschuldigen Mann, begegnet unschuldiges Leiden, das sich der Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs widersetzt. Das Aufbrechen der Warum-Gottesfrage im Fall ist der wörtliche Ausruf des Hiobproblems, das in der Philosophie- und Theologiegeschichte viele Antworten findet, die jedoch nicht das Problem gänzlich
1079 Aufbauend auf Plessners Anthropologie vgl. z. B. Huizing: Scham und Ehre.
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lösen.1080 Insofern sind Buch, Fall und Problem Hiob eine biblische Erfahrungswurzel der Theodizeefrage. Wie das biblische Buch auch gelesen wird1081: Das Problem ist als biblische Erfahrung bearbeitet, aber nicht erledigt. Die Rezeptionsgeschichte des Hiob ist bis in die jüngste Zeit hinein streitbar und bewegt sich zwischen einer moralisierenden Ethik und einer ironischen Verfremdung und Negation jeglichen Sinns von Leiden; meist ist eine Qualität dem Leiden erst im Nachhinein beizumessen.1082 Empirisch-theologisch hat Hiob den Charakter des religiösen Erfahrungsmodells für Leiden. Ähnlich und doch anders verhält es sich in den neutestamentlichen Passionserzählungen mit dem leidenden Jesus. Auch er ist unschuldig, jedoch liegen auf der historisch-narrativen Ebene die menschlichen und politischen Interessen der Machtdurchsetzung auf der Hand, die dazu führen. Zu den Ansatzpunkten dieser Übertragungen in zeitlicher wie räumlicher Sicht auf nachfolgende Generationen und in andere Kontexte hinein zählen Rekurse auf biblische und religionsästhetische Traditionsstücke. Jesu Leben in einer bestimmtgen Leidensphase, nämlich den Passionsberichten bzw. der Passionsgeschichte, die im Sinne einer history nacherzählbar und darstellbar wird, vereinigt solche Elemente (z. B. Verleugnung, Verrat,…), greift damit und rundherum aber noch andere auf. Klagepsalm 22 wird selbst zu einer Formel, nach welcher der sterbende Jesus zwischen Kreuzigung und Tod greift. Nicht nur eine alttestamentliche Parallele, sondern eine Vorlage älterer Dichtung, in der narrativ, szenisch und überaus rhetorisch Leiden in einer Figur und einem Problem verdeutlicht wird, ist als eine Passionsfigur zu beschreiben. Diese ist umso stärker und spannungsgeladener, als er erstens selbst derjenige ist, durch den in den Heilungsgeschichten Heilung geschieht, der zweitens Heilung und die Auflösung von Schuld- und damit Schamverstrickung zusammenbringt und durch den drittens Heilung als Erfüllung prophetischer Verheißung gesehen wird, weil ein Ende von Krankheit und Leiden verwirklicht wird. Zugleich wird mit der neutestamentlichen Tradition ein Weg der Übersteigung von Schuld- und Sinnlosigkeit begangen, der das Leiden Jesu aus einer anderen Perspektive, die selbst biblisch nur in Ansätzen einzuholen ist, betrachtet, nämlich von einer Art Sinnordnung, in der das Ganze geschieht und in zeitlicher Hinsicht als Erinnerung vom Ergebnis nach Ostern her als Rekon1080 Zur Unterscheidung des Falls Hiob vom Hiob Problem siehe Ebach: Streiten mit Gott. 1081 Vgl. Schmidt: Das Hiobproblem und der Hiobprolog; Oorschot: Die Entstehung des Hiobbuches. 1082 Eine Ausnahme im Sinne des Perspektivenwechsels bildet der dramaturgische Blick von Melanie Köhlmoos: Das Auge Gottes. Sie legt die Theatralität des Textes in die Perspektive Gottes, der Hiob wie den Leser mitspielen lässt und die auf Gottes schöpferische Aufhebung des Leidens angewiesen sind.
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struktion von Bedeutung. Zaghaft wird in biblischen Gestalten wie dem erkennenden Hauptmann, der erkennt: »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« (Mt 27,54)1083, die Bedeutung bereits innerhalb der Erzählwelt nachgewiesen; dennoch bleibt dieser Bedeutungskontext nicht gänzlich offengelegt. In der Mitte des Christentums steht mit diesen biblischen Figuren die Gestalt eines menschlich beschämten, leidenden Gottmenschen, der in menschlichen und göttlichen Zuschreibungen selbst eine paradoxe Schwellengestalt ist. In Hiob bekommt diese Gestalt etwas Allzumenschliches; gerade dies wird im leidenden und auferstehenden Christus transzendiert. Nicht ohne Grund legt sich über die Auslegungs- und Darstellungsgeschichte – gespiegelt in den Facetten christlicher Ikonografie – Erwartungen und Zuschreibungen höchst unterschiedlicher Grade von Macht bzw. Ohnmacht, von Ruhm und Kreuz (theologia gloria und theologia crucis), von Ebenbildlichkeit, Ähnlichkeit und Andersheit. Mit diesen christlichen Glaubens- und Deutungsmustern verbindet sich bei aller Heterogenität jedoch eine dieser Hermeneutik innewohnende Intention: den Christus als in sich Widersprüche integrierende Gestalt des Heils darzustellen und zu verstehen – in kontextueller Sicht zumindet als eine solche nachvollziehbar zu machen. Die Tatsache, dass in gelebter christlich-liturgischer Tradition das Leiden bis zum Tod erinnernd begangen und die Wende der Auferstehung gefeiert wird, zollt der Tatsache Tribut, dass das endlose Leiden schlichtweg auch Jahrtausende später nicht auszuhalten wäre. Dass Hiob keinen Feiertag erhalten hat, sondern sich mit motivartigen Spuren in ästhetischen Formen und als Gegenstand reflexiver philosophischer wie theologischer Auseinandersetzungen begnügen muss, mag weniger daran liegen, dass bei aller Gültigkeit des Hiobproblems die Fiktion der Hiobsfigur offensichtlich ist. Wenn »das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«1084 noch immer aus jüdischer Historiografie gilt, dann werden die Gedenktage zu solchen sich geschichtlich etwas mehr, doch letztlich auf genau den Spuren Hiobs wandelnden Feiertagsgestalten, wie sie Volkstrauertag, der Gedenktag an die Reichspogromnacht, der Nationale Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus oder eben auch der 9/ 11-Gedenktag darstellen. Dabei ist der Bundesgedanke lohnend, nämlich dass Gott als Bundespartner zusammen mit seinem Volk leidet. Biblische Gestalten des Pathischen und theologische Artikulationen zeigen, dass vor allem die Topik des Leidens theologisch virulent ist, wenngleich durch unterschiedliche Epochen und in verschiedenen Feldern differenzierte Erscheinungsformen jeweils Aktualität erlangen. Von einer Verdrängung bzw. einer Aufhebung des Leidens in und durch die Theologie kann nicht die Rede 1083 Besonders eindrücklich in der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs inszeniert (BWV 244). 1084 Rabbi Baal Shem Tov (1698–1760) zugeschrieben, verkürzt.
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sein. Zugleich ist aber auch hier in der Übersicht schon angedeutet, dass der Geltungsbereich von menschlichem Leiden und Passivität als gelebte Erfahrung nicht genügend zu Buche schlägt, so dass die Tradierung von Passion ins Hintertreffen gerät. Der besondere Leidensweg, der in der christlichen Religion in das Zentrum rückt, ist die Passion Jesu Christi. Dass eine Gestalt zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit in ihrer diachronen wie synchronen Darstellung und Wahrnehmung genau diesen und keinen anderen Weg einschlägt, bekommt in der Geschichte der Theologie verschiedenste Ansichten und Deutungsfacetten. Leiden und Passion bilden eine biblische Motivik aus, die sich an exemplarischen Gestalten explizit, in narrativen und biblisch-poetischen Zusammenhängen auf geschichtlichen wie gegenwärtigen Wegen der Wahrnehmung biblischer Sprache empirisch-hermeneutisch wiederfinden lässt. Gegen das Vergessen hält eine Memoria Passionis an der Passionstradition um der Spannung von Widerfahrung und Rechtfertigung willen fest, denn in der Passionsgeschichte verdichtet sich, was zu einer »Narrative[n] Wahrheitserschließung«1085 dazugehört. Die narrative Brechung und der Aufbruch aus historisch durchlebter Geschichte des Leidens geschieht weder im Sinne der Vereinheitlichung und Gleichmacherei von Erfahrung noch des Zerfalls in beziehungslose Beliebigkeit von Lebensgeschichten, sondern im Interesse der Aufrichtung des Lebens und der Aufrechterhaltung einer biblisch geformten literarischen Kultur der Anerkennung Anderer in ihrem Anderssein. Die Vermutung, dass an einer Notwendigkleit des Leidens Jesu die Notwendigkeit menschlichen Leidens abgelesen wurde, erweckt Kritik an Vorbildern in der Frömmigkeit. Bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen der »Resignation, die mit dem Leid, das wir nicht enden können, die Möglichkeiten verriete, das Leid zu enden, das wir enden können.«1086 Gefordert sind also die Gestaltung der Gesellschaft und Lebensbedingungen im Sinne der Überwindung des Zerstörerischen und der Gesundung und Aufrichtung jedes Menschen.
4.2.5 Pathos mathos? Zum Spannungsfeld von Leiden, Sinnhaftigkeit und Lernen Not lehrt beten – so behauptet ein altes Sprichwort. Tradition hat oft einen legitimatorischen Rahmen. Was so kommentiert wird, wenn Religiosität an anderen Menschen beobachtbar ist, wenn Not und Leiden ihr Leben bestimmen, 1085 Metz: Memoria Passionis, 250. 1086 Brenning: Leid und Krankheit im Spiegel Religiöser Traktatliteratur, 314.
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entbehrt zuweilen des Zynismus nicht. Der Satz klingt anders, wenn er aus der eigenen biografischen Erfahrung heraus gesprochen wird. Lässt sich legitim davon reden, dass Kranksein und Leiden einen Sinnhorizont haben oder gar eine Lernaufgabe bedeuten? 4.2.5.1 Leidensmystik Dorothee Sölle zeigt auf, dass Lernen im und aus Leiden in gewissem Maße die mystische Erfahrung voraussetzt1087, dass der Mensch im Leiden gelassen werden kann. Dies macht sie an säkularen Biografien von säkularen wie solchen von »Heiligen« fest. Am grausamen Beispiel von Johannes vom Kreuz, dem spanischen Theologen und Mystiker des 16. Jh., wird der Weg von Tag zu Nacht deutlich: »Er hat die Stufen der aktiven, vom Ich zu leistenden und der passiven, von Gott ausgehenden Reinigung der Begierden unterschieden. Der Schritt von der meditativen Nachdenklichkeit zur kontemplativen Betrachtung ist zugleich der von der Aktivität zur Passivität: In dieser Passivität hört das Ich auf, zu wirken, zu analysieren, Auswege zu suchen. Es fällt ins Leere. Die Kontemplation macht schutzlos, sie liefert uns der dunklen Nacht aus.« (191) Hier artikuliert sich eher Liebe und Selbstauslieferung. Es bleibt die Frage nach der Finsternis Gottes, dem Leiden der Unschuldigen, des unaufhebbaren Dunkels. Was geschieht mit dem Dunkel Gottes, werden die im Dunkel auf später vertröstet? Sölles antwortet darauf, »dass die Liebe die Finsternis nicht in religiösem Geschwätz verharmlost, sondern verschärft, sie unerträglicher macht.« (191). »Manche Mystikerinne haben um dieser Unerträglichkeit willen die Hölle dem Himmel vorgezogen. Dem deus absconditus, dem verborgenen stummen Gott, in den Gaskammern zum Beispiel, entspricht der homo abyssus, der im Abgrund gefangene Mensch. Und der dunklen Nacht der Seele entspricht […] die dunkle Nacht der Welt, in der wir heute leben.« (191) Eine Personifikation einer Haltung gegenüber dem Leiden betrifft Edith Stein, die aus dem jüdischen Glauben heraus in den christlichen Karmeliterorden eintrat, aber ihre Solidarität mit dem jüdischen Volk bis in die Gaskammern des KZ hinein auf sich nahm. Sölle prägt hier einen Opferbegriff, der sich von der notwendigen blutgetränkten Versöhnung eines menschenfeindlichen Gottes unterscheidet: »Anteilhaben am Kreuz Christi« nennt es Edith Stein (Quelle?). Sölle führt dies aus als »mystischer Umgang mit der Realität, die aus dem passiven Überwältigtwerden zu einer freiwilligen Anteilhabe am Leiden der Erniedrigten und Beleidigten kommt.« (194). Näher ist er dem Begriff der Liebe Gottes und der Annahme, die »der eisigen Sinnlosigkeit ihre Macht [entreißt], weil sie an der Wärme Gottes ›auch im Leide‹ festhält.« (195). Damit drückt sich die »Partizipation der Menschen aus, die sich nicht abfinden, sondern in einem mystischen Trotz mitleidend darauf bestehen, dass nichts verloren geht.« (195). Ihre Auseinandersetzung mit dem jüdischen Verständnis vom Kreuz spitzt sich im Bestehen darauf zu, dass Christus vergast worden ist und das Am-Kreuz-Hängen fortdauert. 1087 Vgl. Sölle: Leiden, 156 sowie im Folgenden in Klammern.
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(Von daher lässt sich eher über eine Sterbenstheologie als über eine Gott-ist-totTheologie nach Auschwitz reden.) Simone Weil setzte der Narkose (Apathie) die Agonie als Expression der compassio entgegen. Von ihr wird erzählt, dass sie sich massiv gegen jede Erleichterung von Leiden und Schmerz sowie gegen das Recht auf Narkose gewährt hat. Im »Unglück« sah sie die Totalisierung von Leiden, »die Abstumpfung, Selbstaufgabe und die Unfähigkeit, das Leiden zu bekämpfen oder anzunehmen« (Sölle, 197) gesehen hat. Sie nahm eine radikale »Perspektive von unten« (197) ein. »Fällt man, in der Liebe bleibend, bis zu dem Punkt, wo man den Schrei ›Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹ nicht mehr zurückhalten kann, und verharrt man dann an diesem Punkt, ohne zu leiden aufzuhören, so berührt man am Ende etwas, das nicht mehr Unglück ist, das auch nicht Freude, sondern das reine, übersinnliche, Freude und Leid gemeinsame, innerste, wesentliche Wesen ist.«1088 Daher hat nach Simone Weil das Christentum darin seine Größe, dass »es nach einem übernatürlichen Gebrauch des Leidens trachtet«.1089 Im Rückgriff auf Simone Weil und Dietrich Bonhoeffer ergibt sich der bei Sölle und später auch bei Steffensky gebrauchte Begriff der Untröstlichkeit: Heinrich Böll versuchte diesen Begriff in die ästhetische Diskussion einzubringen.1090 Der Grundgedanke ist zu finden in Bonhoeffers Mystik im Gedicht »Christen und Heiden«1091: »Von der anfänglichen Situation der Hilfesuche bei Gott […] die Heiden und Christen gemeinsam ist und die Bonhoeffer wohl die ›Religion der Unmündigen‹ genannt hätte, geht der Weg der Nachfolge in das ›Hineingerissenwerden in das messianische Leiden Gottes in Jesus Christus‹, in der Menschen an der Ohnmacht Gottes teilhaben.« (Sölle, 199). Damit wird deutlich: Untröstlichkeit »ist nicht Trostlosigkeit oder Verzweiflung, es ist auch nicht Tröstung im Sinne von gegenwärtiger oder jenseitiger Aufhebung des Leidens, sondern zunächst ein Festhalten an der Agonie gegen alle Möglichkeiten der Narkose« (199). Mit dem letzten Beispiel des Atompazifisten Reinhold Schneider verdeutlicht Sölle die (auch ästhetische) Steigerung des Verhaltens zum Leiden: Sie charakterisiert ihn als einen »Charismatiker in der Beschreibung des Unglücks« (199). Dabei geht es um die »kosmische und historische Verlassenheit Christi« im »Kampf eines Christen mit der unüberwindlichen Nacht« (199). Hier ist ein Wissenschaftler, der Einblick in die kommenden Schrecken des Atomzeitlalters hat; »er versagte sich die narkotische Erleichterung der totalen Privatisierung des Bewusstseins und blieb im unlöslichen Widerspruch von dem, was er in der Sprache der Faktizität zusammenträgt, und dem, was er, jeden Morgen sich in eine Kirche flüchtend, betet. Für ihn bleiben in der bewussten Untröstlichkeit Erkenntnis und Gebet im Widerspruch. Damit kehrt sich auch die christologische Gewichtung um: Christus sei für Schneider »der Mitleidende auf Erden […] er ist hilfreicher als der Auferstandene.« (Schneider, 57). In der Aussage Reinhold Schneiders »Unsere Aufgabe wäre, dem Unglauben an die Macht den Glauben 1088 1089 1090 1091
Weil: Das Unglück der Gottesliebe, 75. Weil: Schwerkraft und Gnade, 170. Vgl. Sölle: Leiden, 220f. Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 515f.
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an die Machtlosigkeit entgegenzusetzen.« (Schneider, 196) spiegelt sich eine »›mystique v8cue‹, eine gelebte Mystik des Leidens« (203).
Liebe ist im Leiden unverwundbarer, die Leidenden haben den heteronom verstandenen Gott quitt. Damit ergibt sich ein notwendiger Riss in der Soteriologie: Die Geschichte der Auferstehung versteht sich als eine Stellvertretungsstory – auch nicht von einzelnen, sondern im Sinne der Hoffnung für alle. »Das Kreuz zu meditieren bedeutet Abschied zu nehmen von der narzißtischen Hoffnung, ungekränkt, unverstümmelt und unsterblich zu sein. Alle an solche Hoffnungen verschwendeten Kräfte können dann frei werden, aufgeboten gegen das Leiden«.1092
Solidarität zeigt sich darin, das Schicksal der anderen zum eigenen zu machen. Leiden ist nicht neutral, sondern gegeben und provoziert ein Antworten auf das Worumwillen!1093 Aus den Briefen der zum Tode Verurteilten strömt Kraft, denn sie geben ein Vermächtnis weiter – aber »das menschliche Leiden kann gelebt werden in dieser Einheit mit dem Vater, wie Jesus formulierte, in der unzerstörbaren Gewißheit der Wahrheit des Lebens, das für, nicht gegen Menschen ist. Die Passion Jesu ist der Inbegriff eines solchen freiwillig übernommenen Leidens. Sie ist Leiden an der ›Welt‹, an der Gesellschaft, die sich Jesu Anspruch nicht stellen will; sie ist auch Passion im modernen Sinn: Leidenschaft für das Unbedingte. Die zum Tode Verurteilten zeigen uns wie die Heiligen, was es bedeutet, die Passion leben zu können.«1094
Sölle macht damit auch plausibel, warum zu Tode Gefolterte den Gott loswerden müssen und Atheisten werden. Es geht nicht um den Rückzug aus der Warumfrage, sondern um deren Überwindung, aber nicht um die Überwindung der Hoffnung.1095 Sölle unterscheidet Leiden und leiden, Tod vom Tod: »Der christliche Glaube verhält sich zum Leiden nicht einfach als Aufhebung oder Trost, er bietet kein ›übernatürliches Heilmittel gegen das Leiden‹, sondern er trachtet nach »einem übernatürlichen Gebrauch des Leidens«. Ein Tod, den wir als Passion erleiden, ist anders als der Hiatus zwischen dem Tod Jesu, den wir apathisch hinnehmen, 1092 1093 1094 1095
Sölle: Leiden, 162. Vgl. Sölle: Leiden 164. Sölle: Leiden, 173. Vgl. Sölle: Leiden, 183. Hier ist ein Hinweis auf die Schechina, die Einwohnung Gottes: Gott muss erlöst werden, er wartet. Auch hier ist es wieder die Wende in Gethsemane, der Weg von Gethsemane nach Golgatha. Jesus stirbt als erwachsen Werdender. Nicht Gott ist der Henker, sondern Gott ist auf der Seite der Opfer, er wird gehenkt: »Kein Himmel kann Auschwitz wiedergutmachen. Wohl aber hat der Gott, der nicht ein höherer Pharao ist, sich gerechtfertigt: im Mitleiden, im Mitsterben am Kreuz. Gott hat keine anderen Hände als die unseren«.
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und dem sinnlosen Leiden. Beim ersteren gehört die Auferstehung dazu. Entscheidend ist der Glaube an die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, nicht aufzuhören zu lieben. Das Christentum hat in seiner Mitte das Mitleiden. Deswegen steht Gott im Paradox: Gott muss auch im Elend für diesen Menschen gedacht werden. Es gibt kein fremdes Leid, es gibt keine fremde Auferstehung.1096 Leiden findet seine Grenze in der Grenzüberschreitung: »Wir können die sozialen Bedingungen, unter denen Menschen vom Leiden getroffen werden, verändern. Wir können uns selber ändern und im Leiden lernen, statt böser zu werden. Wir können das Leiden, das heute noch für den Profit weniger gemacht wird, schrittweise zurückdrängen und aufheben. Aber auf diesen Wegen stoßen wir an Grenzen, die sich nicht überschreiten lassen. Nicht nur der Tod ist eine solche Grenze, es gibt auch Verdummung und Desensibilisierung, Verstümmelung und Verwundung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die einzige Form des Überschreitens dieser Grenzen besteht darin, den Schmerz der Leidenden mit ihnen zu teilen, sie nicht allein und ihren Schrei lauter werden zu lassen.«1097
Wie am Beispiel der Krankheit deutlich wird, hat auch das Leiden an Krankheit Grenzen, welche die Hinterfragung von Sinn im Leiden verstärken. 4.2.5.2 Problemstellungen theologischer Krankheits(be)deutung Auf dem Hintergrund der säkular(isiert)en Gesellschaft wird spürbar, dass Krankheiten – in der zeitlichen Verzögerung nach ihrem Auftreten – aus verschiedenen Richtungen Sinnzuschreibungen erfahren. Es gibt unterschiedliche säkulare und postsäkulare Antwortmodelle, die ebenso wie der theologiegeschichtliche Teppich von Leidensdeutungen aus den Kontexten her erklärbar sind.1098 Erhellend sind dabei Stephan Schaedes Konsequenzen, wie sie schon für praktische Seelsorge als Tableau kennenswert sind: 1) Krankheit ist niemals Strafe Gottes. 2) Krankheit dient nicht der Erprobung des Glaubens. 3) Kranke Menschen dürfen nicht als Realsymbole für Gesunde missbraucht werden. 4) Krankheit an sich ist nicht gut und auch keine »Chance«.1099 Karles Position ist selbst in gewisser Weise religionskritisch: Krankheit ist nicht mehr nur Krankheit, die es zu behandeln gilt, sondern insbesondere bei schweren Krankheiten – davon ist Krebs als die gegenwärtig entscheidende zu nennen, weil sie am ehesten die Unwägbarkeit von Heilung mit sich bringt – scheint die Unerträglichkeit der Macht- und Sinnlosigkeit so groß, dass Mystifizierungen, Psychologisierungen als auch Spiritualisierungen zu Verhaltens1096 1097 1098 1099
Vgl. Sölle: Leiden, 193. Sölle: Leiden, 217. Vgl. Thomas / Karle: Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Schaede: Zur Relevanz alter und uralter Krankheitsdeutungen. Vgl. auch die Wertung der Rezensentin Katrin Brockmöller.
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Theologisch-ethische Reflexionen
änderungen bei Betroffenen, aber auch zu Schuldzuschreibungen im Sinne einer Erneuerung des Tun-Ergehens-Zusammenhanges führen. Isolde Karle tritt daher mit Susan Sontag gegen solche »säkulare[n] Reformulierungen eines Teils der christlichen Tradition« ein.1100 Pathisches ist hier insofern betroffen, als es scheint, dass »die Psychologisierung schwerer Krankheiten […] eine Kontrolle über Ereignisse [verschafft], über die man in Wirklichkeit keine Kontrolle hat«.1101 Entscheidend ist dabei jedoch die Berücksichtigung der Bumerangwirkung bzw. indirekte Schuldzuweisung: Die Psychologisierung von Krankheit unterhöhlt die Wirklichkeit der Krankheit als Krankheit, und sie bringt mit sich, dass Kranke mehr denn je ursächlich wie in der Therapie, also der Gesundung, für ihr Kranksein verantwortlich gemacht werden.1102 Karle wendet sich gegen eine soteriologische Deutung von Leiden und letztlich auch Passion, hält vielmehr stattdessen Ausschau nach heilsamen und lebensdienlichen Deutungsvarianten. Kommt diese Tendenz dem Trend nach, die Soteriologie zugunsten einer Ethik aufzugeben? Paulus, der sich zwar auch in das Leiden hineinbegeben hat, hat es nie gesucht, sondern immer dabei auf Rettung gehofft (2 Kor 4, 7–12). Auch Dietrich Rössler mutet der Krankheit als »Ort der Sammlung«, die in »Gottes Nähe« führt, Heilsbedeutung zu, konzediert jedoch auch, dass ebenso die Attribuierung von Krankheit als Selbstzerstörung, Negation, als Sinnlosigkeit möglich ist. Als Beispiele dienen letztlich Paulus, Johannes Paul II und Blaise Pascal für den Nachweis, den gleichen Hintergrund des Gottesbildes eines allverursachenden Gottes zu haben, das dazu führt, dass »Leiden tendenziell glorifiziert und
1100 Am Beispiel von Lance Armstrong erhält die Sinnzuschreibung ein prominentes Beispiel: In den zitierten Äußerungen postuliert er zum einen den Sieg über den Krebs; zum anderen bedeute der Krebs für Armstrong eine Lebenswende; darin stecke für ihn eine gegebene Botschaft, die ihn zum Nachdenken über sein Leben zwinge – von Isolde Karle als Wende zum »besseren Menschen« ironisch bedacht (Karle: Sinnlosigkeit aushalten, 23). 1101 Ebd. 1102 Vgl. ebd. Sontags Kritik an der Zuschreibung der Spiritualierung und Mystifizierung von Krankheit im Christentum belegt Karle schon mit dem Beispiel Hiobs, bei dem die Rechnung nicht aufgeht: Die Achse zwischen Sinnzuschreibungen der Krankheit und der Anerkennung der Realität von Krankheit verläuft quer durch christlich-traditionelle und theologische Zeugnisse. Karles Ansatz sieht vor, keine der beiden Verstehensweisen zu verteufeln, sondern sie jeweils im Einzelfall zu kontextualisieren. So kommt sie über das zweite Beispiel Papst Johannes Paul II zu einer Gegenüberstellung von einer Solidarität mit dem Leiden, auch mit dem leidenden Gott, wie es bei Bonhoeffer durchklingt, und einer Zuschreibung von Heil im Leiden selbst, wie es in der »Tendenz zur Vergötzung und Verherrlichung menschlichen Leidens« bei Johannes Paul II unverkennbar sei (a. a. O., 28).
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mystifiziert, seine zerstörende und zerrüttende Kraft hingegen ausgeblendet« wird.1103 Isolde Karle plädiert demgegenüber mit dem frühen Josuttis gegen eine Flucht vor der Realität der Krankheit: »Könnte nicht die Freiheit des Glaubens zur Realität gerade darin bestehen, daß er auf die Verklärung des Sinnlosen mit Hilfe religiöser Erklärungen zu verzichten vermag? Bestünde dann nicht die Kraft des Glaubens gerade darin, das Sinnlose auszuhalten, ohne es in Sinn umlügen zu müssen? Und ergäbe sich daraus nicht für die Seelsorge am Kranken die Aufgabe, ihm zur offenen Annahme von Realität, aber auch zu offenem Protest gegen diese Realität zu verhelfen?«1104 Im Sinne Fulbert Steffenskys wird hier die »Würde der Untröstlichkeit« ermahnt. In der biblischen Argumentation sind zwei Beispiele wichtig. Zum einen: Psalmen artikulieren in erster Linie nicht interpretativ, sondern performativ das Klagen. In deren Mittelpunkt steht nicht die Erklärung und Deutung der Krankheit, sondern der Ausdruck des Schmerzes und der Sehnsucht im Angesicht von Leben und Tod. Zum anderen ist das neutestamentliche Beispiel Jesu in dieser Hinsicht ein Lebensbeispiel: Er hat weder Leiden verharmlost noch verleugnet, aber er hat es auch nicht verherrlicht, sondern es galt stets, dem Leiden etwas entgegenzusetzen und die Stirn zu bieten. Damit wird der Glaube »weniger Kraft zur Sinndeutung als vielmehr die Kraft zum Verzicht auf Sinndeutung in religiöser Hinsicht«.1105 Daran hängt auch die Jesusdeutung, dass nicht das Opfer und die Opfer an sich Ziel und Gegenstand des Glaubens sind; vielmehr bestand das Opfer Jesu in der Hingabe an das Leben – darüber hinaus hat er Opfer in Kauf genommen, ohne diesen einen puren Sinn zuzuschreiben. Der Tod nach Mt und Mk zeugt davon: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Gesundheit, also Nicht-Leiden, ist ein »tacit background«; man spürt den Körper erst als kranken. Oder anders gesagt: »Nur weil Gesundheit in Krankheit umschlagen kann, ist Gesundheit ein konstitutives Element der heilen Welt.«1106 Nicht ohne Grund warnt Jürgen Moltmann davor, Gesundheit zum Götzen zu machen und Menschsein damit gleichzusetzen, denn es führt zur Verdrängung des Krankseins aus dem Menschlichen und der Kranken aus dem öffentlichen Leben.1107 Kranksein ist eine Kontingenzerfahrung, die vielfach erst die Reflexion, das Nachdenken über das eigene Leben, provoziert und die »die Unsi-
1103 A. a. O., 30. Blumhardt deutet das machttheologisch: Es gilt, die Macht des Bösen zurückzudrängen. 1104 Josuttis: Der Sinn der Krankheit. Ergebung oder Protest?, 122f. 1105 Karle: Sinnlosigkeit aushalten, 32; vgl. Josuttis: Der Sinn der Krankheit. Ergebung oder Protest?, 130. 1106 Karle: Sinnlosigkeit aushalten, 33. 1107 Vgl. Moltmann: Gott in der Schöpfung, 275ff.
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cherheit der Welt und des Lebens vor Augen führt«.1108 Das gilt nicht nur für Betroffene, sondern insbesondere Angehörige: Kontingenz, Verwundbarkeit und Sterblichkeit menschlichen Lebens.«1109 Damit kann Krankheit konstitutiv sein für das Menschsein. Karles Plädoyer sieht vor, Susan Sontags Kritik ernst zu nehmen und Kranke nicht mit Schuldzuweisungen, Mystifizierungen und Spiritualisierungen zu belasten; auf der anderen Seite ist auch für sie nicht ein Verständnis von Krankheit haltbar, das jegliche Transzendentalität negiert. »Zugleich kann Krankheit als Unterbrechung des Lebens dazu führen, dass Menschen neu über ihr Leben nachdenken und sich ihres Lebens als eines endlichen, fragilen und verletzlichen Daseins überhaupt erst bewusst werden. In sich selbst haben Krankheiten keinerlei Sinn, aber sie können im einen oder anderen individuellen Fall durchaus als sinnvoll und damit als Chance erfahren werden. Dass dies geschieht, ist nicht erwartbar. Wenn es geschieht, ist es Gnade.«1110 Schwierig wird es nach wie vor dort, wo Krankheit – sei es grundsätzlich oder im Nachhinein – als teleologische Mittel dafür verstanden werden, eine bessere Welt, Gerechtigkeit und Moral einzusetzen und wenn dafür Gott in Anspruch genommen wird. Bereits hier beginnt ein verantwortliches Differenzieren und Hinsehen, was und wie Kranksein erlebt und von Subjekten und Kollektiven mit Gott in Verbindung gebracht wird. Kranksein ist eine Form des Leidens, die in ihren Extremformen der Todesbedrohung auch weder vermeidbar noch heilbar ist. Es wäre absurd und widerspräche der Enthaltsamkeit menschlichen Urteilens, solcher Krankheit Sinn beizumessen, deren Erfahrung schon grenzwertig sind. Lernen kann man aus Leiden, von daher auch im Leiden aus dem Leiden – jedoch kann das niemals zugeschrieben oder gar bestimmt werden; vielmehr geben Leiden und Lernen eine Relation, der stets eine Nachzeitigkeit und Asymmetrie inhärent ist und die die Subjektivität der Erfahrenen niemals ausklammert, sondern inkludiert. Entscheidend ist die Erfahrung der »Kraft zur Überwindung von Grenzen im sozial-kommunikativen Bereich sowie zur erweiternden Bearbeitung von Grenzerfahrungen im existentiellen Lebensverständnis.«1111 In der Geschöpflichkeit zwischen Leben und Tod sind Menschen mit ihrem Kranksein in die Schwachheit gestellt und im fragilen Dasein zugleich ganzer Mensch. Aus christlicher Perspektive gesprochen: Gott zeigt seine Nähe zu uns Menschen in Jesus Christus – einem zutiefst menschlich gewordenen Gott, dessen Umgang mit Kranken jeglicher Apathie Sympathie entgegensetzt. In 1108 1109 1110 1111
Karle, Sinnlosigkeit aushalten, 33. Lanzerath: Krankheit und Gesundheit, 28. Karle: Sinnlosigkeit aushalten, 34. Luther : Religion und Alltag, 55.
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seiner Fragilität liegt Stärke und Zuwendung. Die Verheißung, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist und der Geist der Energielosigkeit aufhilft, ermutigt zu Haltungen: Dazu zählt Mystik ebenso wie empathische Sorge. Diese wird dort sinnvoll, wo sie als solche Qualität wahrgenommen wird. Es gibt jedoch keine abstrakte Zuschreibung von Sonn, ebensowenig lässt sich das Leiden-Lernen verordnen. Vielmehr gilt, das Menschsein in seiner Differenziertheit zu sehen.
4.3
Verletzliches Menschsein. Theologische Anthropologie
Was bedeutet es in praktisch-theologischer Hinsicht, dass Leben anfällig und verletzlich ist? Wie lässt sich Menschsein im Verhältnis von Mensch, Gott und Welt angesichts von Vulnerabilität konturieren? Mit diesen Fragen im Visier wird zu klären sein, welche Rolle Passivität und Leiden für eine theologische Diskussion des Identitätsbegriffs einnehmen und wie Passion das Verständnis von Leben formt und verändert. Dies soll weder in der Abbildung von dogmatischen Ansätzen noch als Glaubensphänomenologie geschehen; vielmehr ist ein empirisch-phänomenologischer Zugriff auf dogmatische Fragestellungen gefragt. Daher diskutiere ich anthropologische Phänomene an und im Gespräch mit Henning Luther und anderen interpretatorischen Schritten des KrankheitsFALLs kritisch dessen Potential, um notwendige Bestärkungen und Korrekturen für eine professionsbezogene theologische Anthropologie im Licht des Pathischen vorzunehmen. Dabei wird auch eingespielt werden, welche Konsequenzen diese Zusammenhänge für den Prozess theologischen Nachdenkens selbst haben.
4.3.1 Identität und Fragmentarität 4.3.1.1 Identität – ein anthropologischer Schlüsselbegriff in Religionspädagogik und Theologie Ein gängiges Modell der Moderne für Leben und Menschsein in positiv gesteckter Normativität ist Identität. Verankert in der Philosophiegeschichte, gehören zu den Bestimmungen des Identitätsbegriffs Relationiertheit und Unverwechselbarkeit, die Kontinuität des Selbsterlebens einer Person.1112 In den Humanwissenschaften wird der Identitätsbegriff diskutiert und modelliert, jedoch kaum als Paradigma angezweifelt, zumal er Dimensionen des Personseins 1112 Vgl. Stroh: Identität. IV Ethisch, 24.
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Theologisch-ethische Reflexionen
und der Sozialität zu differenzieren, aber auch zu integrieren weiß. Religionspädagogisch ist vor allem der Zusammenhang von Identität und Entwicklung bedeutsam geworden. Mit dem Identitätsbegriff kamen Individualität, Subjektivität und Entwicklung – Größen zur Dynamisierung des Bildungsgedankens – ins Spiel, die sowohl – in Bezug auf die Frage der Personalität – auf emanzipative Weise die Orientierung am alten Persönlichkeitsbegriff als auch – in Bezug auf die Inhaltlichkeit religiöser Bildung – einseitige Orientierungen an der Materialität von Religion aufbrachen. Identitätsbildung wurde lange als lebenslanger Entwicklungsprozess verstanden, in dessen Zusammenhang Identität eine Norm oder gar das Ziel bietet für Selbstwerdung und individuelle Handlungsfähigkeit.1113 Dabei sind zwei Wege prominent geworden: Entwicklungspsychologisch ist das Identitätsverständnis zum einen insbesondere am psychoanalytischen Lebenszyklus-Konzept Erik H. Erikson1114 ausgearbeitet worden. Zum anderen wird, stärker der Kognitionspsychologie und Ansätzen zu moralischem Bewusstsein folgend, religiöse Entwicklung zur Identität im Sinne der Ausdifferenzierung von Verstehensweisen und Sinnkonstruktionen, symbolischem Verständnis und Moral gesehen.1115 James Fowlers Konzept geht es um die Suche nach Sinngebung, inspiriert durch Tillichs lebensgeschichtliche Verwirklichung von Sinnintentionen. Hans-Jürgen Fraas hat unter Aufnahme von Meads Sozialpsychologie ein Konzept vorgelegt, das von der Beziehungshaftigkeit ausgeht und in deren Transzendierung Selbstbewusstsein begreift. Egal, ob es um Abgrenzungsprofile geht, um Einzigartigkeit oder um Reifungsprozesse: es sieht so aus, als setzten Identitätsmaßstäbe ein Verständnis von Ganzem, Erfolg und Erreichbarkeit voraus. Inzwischen ist aber auch die erste Phase der Kritik, in der im Horizont zunehmender Pluralität der Identitätsbegriff problematisiert wurde1116, fortgesetzt: Identität ist im Zuge des Komplexitätszuwachses aufgrund zunehmender Unübersichtlichkeit nicht mehr die Herausbildung eines inneren Kerns im Sinne eines Kapitals, sondern vielmehr ein prozessualer »Projektentwurf des eigenen Lebens«. Symptomatisch lehrt mit Heiner Keupps Ende der 1980er Jahre begonnenem Identitätskonzept der ungeheure Freiheitszuwachs und die damit verbundene Modellierungsnotwendigkeit einer Nachmoderne, dass der Diskurs um Identität sich zwar verschiebt, jedoch nicht am Ende ist. Zu den seismografischen Gegenwartsäußerungen gehört Heiner Keupps kritische Bilanz aus der Verwendung der pro1113 1114 1115 1116
Vgl. so auch den Überblick bei Schweitzer : Entwicklung und Identität. Vgl. Erikson: Identität und Lebenszyklus. Vgl. Oser/Gmünder : Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Schweitzer macht im Rahmen der drei Modelle für diese Kritikphase die drei Termini Fragment, Gewebe und Problem geltend (Schweitzer : Kollektive und individuelle Identitäten im Wandel, 114).
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minent gewordenen Metapher der »Patchwork-Identität«1117, in der er als Aufgabenstellung für alltägliche Identitätsarbeit die »Schaffung von Lebenskohärenz« als Ziel bestimmt1118, aber auch Schweitzers deutlichen Wunsch nach besserer Begriffsklärung in einer unübersichtlicher werdenden Diskurslandschaft. Für die Bedeutung des Identitätsdenkens im Hinblick auf die Dimension des Pathischen anhand des KrankheitsFALLes ist zunächst ein Schritt zurückzugehen. So sehr dem Diskurs über Identität offensichtlich geworden scheint, dass Identität nicht holistisch zu verstehen ist und die Schattenseiten von Leiden, Schmerz, Unterwerfung aus einer dem gesellschaftlich vermeintlichen Gelingen verdeckten Perspektive an die Oberfläche gedrungen ist: Sehr überraschend ist, dass z. B. erstaunlicherweise nach wie vor in der Praxis der Lehramtsausbildung eine wenig gebrochene Rezeption von Modellen religiöser Entwicklung stattfindet, als beträfe diese kritische Rezeption nur die Sonderfälle »schwieriger« Identität und religiöser Bildung. Nicht verantwortlich dafür, aber durchaus der Bedarfshaltung zukünftiger professioneller Religionslehrkräfte in die Hände spielend, scheint sich nach wie vor am Ideal-Modellfall am besten zu lernen und zu lehren, wie religiöse Identität vom Selbst gestaltet und befördert wird. Die theologischen Aufnahmen auch der sozialwissenschaftlichen Perspektiven für religiöse Identität sind sehr breit. Ihre Entstehung erfolgte wie die im engeren Sinn religionspädagogischen Fragestellungen in Auseinandersetzung mit psychologischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen – und ist keinesfalls abgeschlossen.1119 Theologisch sind starke fundamentalanthropologische Begründungen des Identitätskonzepts herangezogen worden. Dabei ist die Frage des Selbst-Bewusstseins und der Wahrnehmung von Grenzen im Visier. Wilfried Engemanns Kritik an der Fokussierung auf Krise, ohne das aktive Wollen der Menschen genügend zu berücksichtigen, und der Nachfrage nach dem Möglichkeitsspielraum ist eher die Ausnahme, zumal die theologische Kritik bei Pannenberg noch wirksam scheint, dass nicht selbsttätige Bezugnahme, sondern eher passives Verdanktsein ein entscheidendes Moment religiöser Identität ist. Hier ist fraglich, ob der Identitätsbegriff weiterhin tragfähig ist, um ein positives Konzept zum Menschsein zu entwickeln.
1117 Keupp: Auf dem Weg zur Patchwork-Identität?, aufgenommen in: Keupp u. a. (Hg.): Identitätskonstruktionen. 1118 Keupp: Identitäten – befreit von Identitätszwängen, aber nicht von alltäglicher Identitätsarbeit, 106. 1119 Zu einer gründlichen Systematisierung und Überblick siehe Zarnow : Identität und Religion.
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4.3.1.2 Henning Luthers kritischer Entwurf: Fragmentarität Henning Luther vertritt ein kritisches Identitätskonzept gegen den Trend der 1970er und 1980er Jahre, Identität als teleologisches Prinzip zu setzen und davon auszugehen, dass es ein anzustrebendes Entwicklungsziel vollkommener Menschen gebe. In der Selbstverständlichkeit dieser praktisch theologischen Zielperspektive, die sich bei Luther insbesondere in der Religionspädagogik und in der Seelsorge zeigen, übt Henning Luther Kritik an der zugrunde liegenden Anthropologie. Der Weg Henning Luthers zwischen Sozialwissenschaft, Theologie und Ästhetik ist insofern besonders in der Praktischen Theologie nachhaltig prägend, als seine Konzeptionierung nicht den Weg der ungebrochenen Anwendung einer Dogmatik auf Praxisfelder hin verfolgt, also im Sinne einer Abbildtheorie, sondern bereits Erfahrung als grundlegende Kategorie in die Theoriebildung einfließt und von daher auch Praxismomente konzeptionell prägend werden. Bestechend ist, dass die Grenzproblematik und Verletzlichkeit in der Religionspädagogik zum Ausgangspunkt für die Frage nach Identität werden, da der Entwicklungsprozess faktisch nicht fortschrittlich, sondern mit Brüchen und Verlusten zu tun hat.1120 Das bedeutet für das Ziel religiöser Bildung den Verzicht auf ein festes Identitäts-Ideal als Ziel zugunsten einer »Befähigung zur Transzendierung vorgegebener Lebensmuster«.1121 Indem er darlegt, woher sich der Identitätsgedanke speist – hier kommen die Abgrenzungen von kultursoziologischer Eingliederung ins Spiel – bekräftigt Luther die unangefochtene Notwendigkeit des Einzugs von »Identität« in die Bildungstheorie als eine Leitkategorie. An dieser Stelle wird aber schon die Kritik sichtbar : Identität wurde nicht als dynamisches Entwicklungsprinzip begriffen, sondern als konstitutives statisches Bildungsziel festgelegt. Zu dieser Verlagerung, so Luther, hätten auch Erik H. Erikson und George H. Mead selbst durch ihre Formulierungen beigetragen: So wurden Vollständigkeit und Ganzheit einerseits und Einheitlichkeit und Kontinuität andererseits als Identität missverstanden. Aber, so Luthers These: »Der dynamische Aspekt der Identitätsentwicklung wird beschnitten, indem diese lediglich als Vorbereitung und Vorlauf zu dem als erreichbar und erreicht gedachten Ziel der voll entfalteten Identität gesehen wird.«1122 Doch die in sich geschlossene und dauerhafte IchIdentität darf und kann »theologisch nicht als erreichbares Ziel gedacht werden«.1123 Theoretischer Ansatzpunkt dafür ist eine Aufweichung des Begriffs von 1120 1121 1122 1123
Vgl. Luther : Religion und Alltag, 168. A. a. O., 59. A. a. O., 164. A. a. O., 165.
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Subjektivität. Es geht nicht darum, Subjektivität überhaupt zu verneinen, nur ist die halbherzige und verkürzte Realisierung des Subjektivitätsprinzips – weil sie nicht mit Individualität einhergeht – nicht haltbar. Gründe liegen in der Krise der Bewusstseinsphilosophie, deren Angewiesensein auf – sprachliche – Vermittlung unterschätzt wird. Im linguistic bzw. cultural turn wird deutlich, dass Zeichen sehr viel komplexere Bedeutung und Verwendung haben. Luther greift dabei auf zwei Konzepte zurück, um Subjektivität vor autoritärem Traditionalismus und relativistischem Kontextualismus zu bewahren. In Abgrenzung vom Idealismus, wie er etwa bei Dieter Henrich und Manfred Frank auftaucht, und in einer kritischen Erweiterung von Jürgen Habermas setzt Luther darauf, dass Subjektivität kommunikative Bedingungen hat und auch diese nicht hinreichen für die Ausbildung von Subjektivität und Individualität; darauf verweist der »Rest« von Fremdheit und Differenz.1124 Daher plädiert er für die Sprache mit dem »fiktiven Anderen«1125 – eine Auflösung der Vertikalen in die Horizontale geht nicht. Sein Angelpunkt setzt postmodern genau beim Gegenpol zur Identität an. Auf der Basis der Grunderfahrung von Einsamkeit wird hier – anders als in reiner Selbstvertrautheit – mit L8vinas gerade die Entfremdung und Heimatlosigkeit der Ausgangspunkt für eine Befreiung vom »Ein-Fremder-sein-aufErden«.1126 Der Rückgriff auf den Gewährsmann L8vinas und die Begegnung mit dem Anderen, Fremden, die das Verständnis von Subjektivität qualifiziert, liegt nahe. »So erwächst aus der Kritik an der egozentrischen Subjektivität der Anfang eines anderen, neuen Humanismus – der Humanismus des anderen Menschen.«1127 Subjektivität ist daher radikal am Anderen ausgerichtet: In der Unterwerfung unter den Anspruch des Anderen konstituiert sich das Subjekt – als Subjekt im Akkusativ. Dies wiederum bricht Luther thesen- bzw. nahezu sentenzartig am ursprünglich ästhetischen Begriff des Fragmentes auf, der zum Symbol für das Leben überhaupt wird.1128 Den Gedanken zu beschädigtem Leben leistet Luther Gegenrede, indem auch das fragmentarische Leben gerechtfertigt ist. Luther zieht Subjektorientierung und die Beobachtung des Entwicklungsgedankens – auch entgegen holistischen Vorstellungen – so in die kritische Weiterführung des Identitätsgedanken aus, im Interesse, die normative Zielsetzung des Identitätsbegriffs zu hinterfragen und dabei auch die theologischen Motive der Kritik zu rekonstruieren und neu zu interpretieren. Für den Gedanken der fragmentarischen Ich-Identität wird das Stadium als Bruch, die nicht idealisierte 1124 1125 1126 1127 1128
Vgl. Luther : Religion und Alltag, 71. Ebd. Vgl. L8vinas: Humanismus, 99.113. Luther : Religion und Alltag, 74. »Blickt man auf menschliches Leben insgesamt, so scheint mir einzig der Begriff des Fragments als angemessene Beschreibung legitim« (a. a. O., 168).
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Verlustgeschichte und die Brüchigkeit in zeitlicher wie immer durch andere in Frage gestellter Weise geltend gemacht. Im positiven Sinn ergeben sich theologische Motive zu Identität und Fragmentarität – vor allem darin, »davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.«1129 Wie bringt Luther nun traditionelle dogmatische Vorstellungen neu ins Spiel? Zur Deutung und Begründung nennt er fünf klassische Theologoumena aus den Bereichen Christologie, Soteriologie und Eschatologie: Sündenverständnis, Rechtfertigungslehre, den christologischen Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung, Jesu Verkündigung und Eschatologie. So diskutiert und schärft Luther am Topos der Gottesebenbildlichkeit den Fragmentgedanken in mehrfacher Hinsicht: Im Exil richtet die Rede von der Gottesebenbildlichkeit gerade die Zerrissenen auf. Damit verbunden ist nicht nur Sündenlehre, sondern auch Bilderverbot. In der Selbstoffenbarung liegt auch Entzogenes, Geheimnisvolles: Der Mensch als Ebenbild Gottes erfährt, »im Fragment war die Totalität gerade als abwesende anwesend.«1130 Gott wird inkarnationstheologisch gedacht: Weihnachten kommt Gott als unfertiges unvollkommenes Wesen; in Ostern liegt die Tatsache, dass Gott der Schwache, Zerbrochene ist.1131 In der Auseinandersetzung mit Spranger und Kierkegaard ist die Unruhe des Werdens hervorzuheben.1132 Tod als Unruhe und Ende der Selbstsicherheit – reißt eine »Wunde der Negativität«1133, die »Verunsicherung des Daseins«.1134 Luther macht deutlich, dass durch den Systemcharakter der Mensch nicht abgeschlossen sei, sondern ihn macht eine Ausprägung durch Trennung, NichtEinheit, Werden aus. Die theologische Motivation dafür lässt sich so beschreiben: Gott ist eine kritische Instanz des Überhöhungsgedankens; theologisch sind »die Momente des Nichtganz-Seins, des Unvollständig-Bleibens, des Abgebrochenen – kurz: Momente des Fragments zur Geltung zu bringen.«1135 Letztlich steht mit dieser anthropologischen Grundidee auch das Verständnis von Praxis auf dem Spiel, da er weniger auf ein »im Kern aktives, handlungsfähiges Subjekt gründet« als vielmehr »– im primären Blick auf den Anderen – auf die sich vom Anderen anrühren-lassende Passivität, die ein Werk beginnt, 1129 A. a. O., 172. 1130 A. a. O., 176. 1131 »Wird die Gottesebenbildlichkeit des Menschen inkarnationstheologisch (und vom gekreuzigten Christus) her gedacht, sind Schwäche und Unvollkommenheit kein Widerspruch, sondern ihr wesentlicher Kern« (a. a. O., 176). 1132 A. a. O., 157. 1133 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken., 77. 1134 Luther : Religion und Alltag, 158. 1135 A. a. O., 159.
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das nicht dem Erwerben von Verdiensten, sondern einzig dem Anderen dient.«1136 Damit verfolgt er das Anliegen Helmut Peukerts in Präzisierung eines spezifisch theologischen Praxisbegriffs für ein theologisches Handeln im Sinne »anamnetischer Solidarität«1137 weiter. Luther stellt hier das schwache Subjekt in den Vordergrund. Es ist sicher für die Zeit der Entstehung, den kulturellen Kontext Henning Luthers und für eine praktisch-theologische Hermeneutik nur konsequent, dass die Rede vom Subjekt und von Individualität bestehen bleibt. Trotzdem erfolgt hier eine doppelte Verschiebung in der Begründung vom Anderen her. a. Aus der Perspektive des Anderen gehen Selbstherrlichkeit, Stärke und Gewalt verloren: »Subjektivität muß vielmehr im Kern als Verletzlichkeit und als Fraglichkeit verstanden werden – und zwar in der doppelten Perspektive einer für die Verletzlichkeit des Anderen offene Verletzlichkeit, eine sich von der Sterblichkeit des Anderen verletzen-lassende Verletzlichkeit.«1138 Gerade aus diesem Grund wird Religion nicht zur Chiffre für Trost und Gewissheit, sondern sie akzentuiert die Beziehung zum Fremden.1139 Daher gibt es massive Anfragen an die subjekttheoretischen Ansätze der Praktischen Theologie der Zeit, wie sie von Wilhelm Gräb, Dietrich Korsch u. a. vertreten werden. Im ekklesiologischen Horizont zeichnet sich aus dieser Anthropologie eine Kirche für andere ab. Innerhalb der Praktischen Theologie steht Luther daher auch für eine Neubewertung von Diakonie als »Grundprinzip christlicher Praxis«, welches Vorrang hat vor dem Dialog.1140 b. Die kritische Intervention, die Gott in einem Lebenskontext darstellt, trägt nicht zur Vergewisserung des Lebens bei, sondern vielmehr als Artikulation der Erfahrung der Verunsicherung des Lebens – ein Gedanke, der sich insbesondere bei Dietrich Zilleßen fortsetzt. c. Es ist ersichtlich, dass Henning Luthers Beharren auf einer Fragmentarität von dem eschatologischen Vorbehalt lebt, dass die Sehnsucht als Gegenkraft das Ganz- und Heilwerden zum umspannenden Rahmen macht. Insofern scheint Identität eingebettet in ein Identitätskonzept, das zunächst mit dem Einbruch des Anderen lebt, aber dennoch nicht resigniert im Pathischen verharrt. Das unruhige Herz ist eben kein zur Gänze unglückliches Herz. Insofern lebt es von der Erwartung und Hoffnung, wie sie auch Helmut Peukert gefasst hat.1141 1136 1137 1138 1139 1140 1141
A. a. O., 83. Er verweist auf L8vinas Bezeichnung Liturgie. Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, fundamentale Theologie. Luther : Religion und Alltag, 81. Vgl. a. a. O., 82. So auch Luther : Diakonische Seelsorge. »Existieren in solcher Hoffnung ist nicht das Behaupten einer schon erreichten Ganzheit, sondern hoffendes Angespanntsein und Zugehen auf die Gewährung von Integrität für die anderen und erst darin auch für sich selbst. Sie ist gegenüber einem sich selbst genü-
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Im Folgenden wird an den Berührungspunkten mit dem vorliegenden Fall studiert, inwiefern das Gerüst Henning Luthers mit seinem Verständnis vom Menschen auch für eine Lebenspraxis valide – das heißt: auf Praxis hin theologisch beziehbar – ist, die nicht als professionelle, »perfekte« Praxis einer Lehre gilt, sondern sich aus einer lebensweltlichen Empirie von Schule speist, in der Passivität und Leiden als Praxiserfahrung deutlich werden.
4.3.2 Leben in, an und auf der Grenze 4.3.2.1 ›Grenze‹ bei Henning Luther Das Thema der Verletzlichkeit ist, auch vor dem Horizont von Bildung, bei Henning Luther zu einem zentralen Topos geworden, mit dem das theologische Leitbild der Identität kritisch gestaltet und ein praktisch-theologisches Paradigma der Begrenztheit neu ins Blickfeld gerückt ist. Entscheidender religiöser Topos, der diese Dimensionierung von Leben und Erfahrung artikuliert, ist die Grenze. »Die nicht vorhersehbare und planbare Endlichkeit des Lebens, die jeder Tod markiert, lässt Leben immer zum Bruchstück werden.«1142 Diese Charakteristik markiert eine zentrale Erkenntnis Henning Luthers, von der aus der Blick auf menschliches Leben gerichtet ist. Diese nahezu weisheitliche Markierung des Menschseins hat eine auto-biografische Prägung: Henning Luther hat diesen Entwurf selbst in einer Zeit schwerer Krankheit geschrieben und ist vor dessen Publikation gestorben.1143 Die mit ihm wissenschaftlich Verbundenen haben den Band posthum veröffentlicht. Was bei manchen theologischen Ansätzen zur Auszeichnung gehört, dass sich die Theologie von der Autorenschaft löst, geschieht zweifelsohne auf der Ebene der expliziten Artikulation des Entwurfs ebenso; dennoch spricht aus der Nähe, den Themen und den Foki heraus eine Form von Erfahrung, die dieser Theologie den Nährboden gibt. Religion macht Henning Luther praktisch-theologisch am Thema Grenze fest. »Die Mitte der Praktischen Theologie – das, worum es ihr in allem, was sie treibt, letztlich geht – ist nichts anderes […] als die Bearbeitung der Erfahrung von Grenze oder von Grenzen. Ihre Mitte ist also ihre Grenze«.1144 Grundlegend dafür ist eine Metaphorologie der Raumwahrnehmung: Die Grenze trennt und verbindet verschiedene Lebensbereiche. Am Terrain der Grenze werden Verhalgenden und behauptenden Selbstsein [sic] offen haltende, hoffende ›Nicht-Identität‹.« (Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, fundamentale Theologie, 393). 1142 Luther : Religion und Alltag, 168. 1143 Noch deutlicher wird dies in Luther : Tod und Praxis. 1144 Luther : Religion und Alltag, 45.
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tensweisen deutlich. Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen machen nicht nur räumlich-geografische Orientierungen möglich, sondern auch die Konstitution des personalen und sozialen Bewusstseins deutlich. Bei Luther wird die Grenze zur Grundstruktur des Alltags selbst. Damit sind existentielle und soziale Bereiche angerührt: Existentielle Grenzerfahrungen, gestützt auf Heidegger und Jaspers, zielen auf die radikale Bejahung der Endlichkeit, evozieren aber auch die positiven, nicht vorhersehbaren Situationen von Glück. Soziale Grenzerfahrungen meinen das auf sich allein gestellt Sein – alles jenseits von Liebe. Das betrifft vor allem Todes- und Leiderfahrungen. »Denn in der Kommunikation mit anderen stellt sich vor aller gelingenden Verständigung jedem zuerst die Erfahrung der Andersartigkeit des Gegenübers, der nicht Ich ist.«1145 Hier sind sog. Randgruppen und Außenseiter unserer Gesellschaft aufgelistet. Angesprochen werden verschiedene existenzielle und soziale Grenzerfahrungen, die schließlich im Sinne einer Erweiterung und in der Relation zum Fremden angedeutet werden und Religion als »Grenzüberschreitung par excellence« gelten lassen.1146 Fremdes und Eigenes scheint damit in Universalität aufzugehen. Insbesondere wird die Grenze in Bezug auf den Zusammenhang von Kontingenz und Transzendenz relevant. Gesellschaftliche Muster der Kontingenzbewältigung werden hier kritisch beäugt, denn sie dienen häufig der »Abwehr von Verunsicherung durch kontingente Einbrüche. Das Ziel ist gerade, das Fremd-Bedrohliche der Kontingenz einzuholen in das System bzw. mit ihm verträglich zu machen. Die eingespielte Plausibilität soll eben nicht aufgescheucht und aufgeweicht, sondern stabilisiert werden.«1147 Durch Kontingenzerfahrungen geraten eingespielte Plausibilitäten der Alltagswelt an ihre Grenzen und unterliegen einer großen Verunsicherung des eigenen Selbstverständnisses und der Weltsicht wie des common sense – aber nur, wenn sie auch wahrgenommen werden. H. Luthers These ist demzufolge, dass die Kontingenzerfahrung nicht per se religiös ist, sondern dann religiösen Charakter gewinnt, wenn sie transzendierende Kräfte freisetzt. »Dies bedeutet, dass die Kontingenzerfahrung zum Anlaß genommen wird, die Grenzen des bisherigen Selbst- und Weltverhältnisses zu überschreiten, sich ins Gebiet des Fremden und Anderen vorzuwagen, um dann das eigene Lebensgebiet mit neuen Augen zu sehen. Es kann also gerade nicht darum gehen, der Kontingenzerfahrung den Stachel des Unvertrauten zu nehmen und zu versuchen, sie mit dem bisherigen gewohnten Verstehensmuster zu versöhnen und zu vereinbaren.«1148 1145 1146 1147 1148
A. a. O., 51. A. a. O., 55. A. a. O., 56. Luther : Religion und Alltag, 57.
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Die religiöse Bedeutung von Grenzerfahrungen wird mit Schleiermachers 2. Rede über Religion zur Einbettung bzw. Relativierung eingetragen: »Religion relativiert die Imperative der Alltagswelt.«1149 Religion ist hier an den Ebenen zur Grenzerfahrung angesiedelt und wird genau da auch funktional: »Religion wäre demnach die Kraft zur Überwindung von Grenzen im sozial-kommunikativen Bereich sowie zur erweiternden Bearbeitung von Grenzerfahrungen im existentiellen Lebensverständnis. In jedem Bereich realisiert sie sich als Liebe, in diesem als (existentielle) Freiheit.«1150 Dieses Modell »nicht ängstlicher Grenzüberschreitung« findet sich nach Luther im christologischen Kerngedanken von der »Selbstexplikation Gottes im Menschen Jesu«1151, also im inkarnatorischen Ausdruck. Lebensweltlich markiert sich die Transzendenz in den Alltagserfahrungen, die mit den Konzepten von Schwelle und Passage als Zwischenräume beschrieben werden, in denen inmitten und unterhalb des Alltags im Sinn des Metz’schen Terminus der ›Unterbrechung‹ Wirklichkeit und Versprechen aufeinander bezogen werden.1152 ›Grenze‹ hat damit auch eine epistemologische Funktion, insbesondere für die Praktische Theologie, denn sie markiert mit Tillich einen Ort theologischer Erkenntnis zwischen Theologie und Humanwissenschaften, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Artikulationen des Sagbaren und des Unsagbaren. Mit der Perspektive von Henning Luthers theologischer Anthropologie, die einen veritablen Bezugsrahmen für die praktisch-theologische Fallanalyse bietet, blicke ich auf den zentralen Fall, an dem sich die Fragestellung nach dem Umgang mit dem Pathischen entzündet hat. Bei diesem Gang ist zu erwarten, dass sich im zirkulären Rückbezug der Theorie auf den Fall und dem Antworten des Falles auf die Theologie zeigen wird, wie weit der theologische Rahmen zur theologischen Interpretation trägt und wo andere, ergänzende, vertiefende oder korrigierende Bezugnahmen nötig werden. In diesem Sinne erhoffe ich eine wechselseitig durchdringende Befruchtung von Fallempirie und Theologiegerüst, das sowohl den Fall erhellt als auch die theologischen Ansätze auf professionelle Praxis hin kritisch konkretisiert. Was konturiert sich als Figur, wenn ich mit Henning Luthers praktischtheologischem Ansatz auf den Fall blicke?
1149 1150 1151 1152
A. a. O., 55. Vgl. Schleiermacher: Über die Religion. Luther : Religion und Alltag, 55. A. a. O., 56. Vgl. Luther : Religion und Alltag, 212–223.
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4.3.2.2 Von der Theologie zum Fall: Grenze a. Im vorliegenden Fall lassen sich existenzielle und soziale Grenzerfahrungen beschreiben, die in gewissem Maße zusammenhängen. Dabei kommen verschiedene Perspektiven zur Geltung: Für den Schüler Johannes bedeutet die Erkrankung an Krebs einen lebensbedrohenden Zustand, der akut auftritt, aber auch mit bestimmten Handlungen wie der Therapie und der Erfahrungsdimension von Zeit verbunden ist – sein Gesundheitszustand ist an Veränderungen und nach der Diagnose an Prognosen gebunden, die sich vor allem leiblich und zeitlich erfahren lassen. Ob die Therapien anschlagen und sein Leben bewahren oder gar retten, ist in der Ausdehnung zu sehen. In leiblicher Hinsicht ist Johannes mit Schmerzen und körperlichen Leiden und Veränderungen an Grenzen: Der Haarausfall, die Unbeweglichkeit, die Spuren, die Chemotherapie hinterlässt, stellen nur die medizinischen Spuren dar. Seine Ausbrüche des Weinens zeugen von starker leiblich-emotionaler Belastung, einem Leiden, das auch bei den Eltern in der Sorge um das einzige Kind vorfindlich ist. Zugleich werden räumliche Grenzen und auch Entgrenzungen deutlich: Aus dem Handlungsraum der Schule ist Johannes erst einmal draußen und damit auf einen anderen Raum verwiesen, hier auf das Krankenhaus und sein Zuhause bzw. zeitweise die Rehabilitationsklinik. In sozialer Hinsicht werden damit andere Grenzerfahrungen nötig und möglich, die von den MitschülerInnen und von der Klassenlehrerin beschritten werden, indem sie sich in die Atmosphäre und das soziale Beziehungsfeld zu dem Kranken nach Hause bewegen und ihre Zurückhaltung bzw. gar Abneigung gegenüber dem Schüler so weit überwinden, dass sie sich um ihn sorgen. Die Klassen- und Religionslehrerin erfährt Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Sie erlebt ebenfalls die Hilflosigkeit und Ohnmacht, die ihr zeitweise die Worte dafür raubt und sie in spürbare Sprachlosigkeit versetzt. Auch wenn es dabei weder um ihr eigenes Leben noch um das eines nahen Verwandten geht, erfährt sie hier eine existenzielle Grenze in ihrem Berufsleben, die für sie eine Herausforderung ist. Aus der Sorge und der Selbstzuschreibung ihrer Aufgabe sieht sie die Notwendigkeit für soziale Grenzüberschreitung, die dazu führen, dass sie den Jungen außerhalb des gegebenen Rahmens bei ihm zuhause unterrichtet und viel mehr als sonst Kontakt mit den Eltern pflegt. Dazu gehört auch, dass sie es ist, welche die SchülerInnen zu ebensolchen Grenzüberschreitungen ermuntert, den Mitschüler Johannes zuhause zu besuchen und sich um ihn zu kümmern.
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b. Eine besondere Rolle bei der Auslotung der Grenzen des Selbstverstehens spielt für Johannes die biblische Figur des Hiob, die durch den Unterricht eingespeist wurde. Hierbei handelt es sich zunächst um ein Wahrnehmen und Artikulieren der Grenzen. Das Angebot, die Frage des Leidens zur biblischen Hiobfigur in Relation zu setzen, wird von Johannes erweitert: Er nimmt seine eigene Person als dritten Faktor hinzu, um seine Grenzerfahrung in einer Hiob-Relecture einzuspeisen. Parallelen und Erfahrungsähnlichkeiten führen dazu, dass Johannes eine biografische Grenzüberschreitung vornimmt, indem er letztlich sich selbst zu der Figur des Hiob, die er vermittelt kennen gelernt hat, in Beziehung setzt. Hiob wird zu einer Art Modell, welches ihm ermöglicht, die Erfahrungswurzeln der Theodizeefrage in Sprache zu fassen: ›Hiob‹, der ohnehin hier nicht als keine history, sondern als Story begriffen ist, wird zu einem biografischen »Urbild des Leidenden«.1153 In Ähnlichkeit und Unterscheidung zur Figur des Hiob begreift Johannes den Tun-Ergehen-Zusammenhang zwar inhaltlich anders, aber er reiht sich in das Denk- und Argumentationsmodell ein. Dass ein inhaltliches Eingehen auf Hiob als biblische Figur und Gegenstand des Religionsunterrichts Fragen von der Theologie her mit sich bringt, liegt nahe. Hier ist der Weg zugleich umgekehrt: Durch die Situation werden Dimensionen der Theologie berührt, Traditionen wachgerüttelt und Impulse an die Theologie angestoßen. Nicht eine einseitige Kontextualisierung biblischer und dogmatischer Inhalte mit lebensweltlicher Situation und ihren Problemstellungen, sondern auch des lebensweltlich-empirischen Falles am biblischen Fall wird zum empirischen und hermeneutischen Anstoß, zwischen den Zeilen die Theodizeefrage als Frage nach der Tragfähigkeit der Theologie angesichts menschlichen Leidens zu stellen. c. Zu Johannes’ Welterklärungsmuster angesichts seiner Leiderfahrung gehört eine Haltung der Hinnahme, mit der er sich zum einen einbindet in einen größeren Zusammenhang von Schicksal, zum anderen aber auch rebelliert und sich nicht geschlagen gibt. Lebens- und Machtgrenzen schillern zwischen der Einsicht in die Grenzen der Machbarkeit und aufgelösten Grenzen zugunsten eines großen Lebenszusammenhangs. Mit dieser Haltung, die sich als Schmerz und Sehnsucht bemerkbar macht, wird bekundet, »daß Subjektivität hier angesichts der Kontingenz ihrer Erlösungsbedürftigkeit in den Blick kommt.«1154 Das Leiden ist genau ein 1153 Langenhorst: Hiobs Schrei in die Gegenwart, 62. 1154 Luther : Religion und Alltag, 251.
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Hinweis darauf, dass Schmerz und Sehnsucht Endlichkeit, nicht im Modus des Einverständnisses oder der Hinnahme, sondern von der Frage nach Erlösung her thematisieren. So kommt Subjektivität angesichts der Kontingenz von der Erlösungsbedürftigkeit her in den Blick: »Freiheit« und »Heilung«, in denen Johannes seine »Intention für’s Unendliche«1155 bekundet, haben ihre Wurzeln im Alltagsleben, aber sie bleiben ihm nicht verhaftet, sondern genau in ihnen scheint eine andere Welt auf: »In Schmerz und Sehnsucht wird nicht anderes, sondern der Alltag anders erfahren.«1156 In der Frage nach dem Anderen, das erfahren wird, ist zugleich gegeben, dass die Erfahrung eine andere ist, d. h. von anderer Erfahrungsqualität ist. 4.3.2.3 Vom Fall zur Theologie: Rückfragen und Impulse Mit der Metaphorologie der Grenze sind mehrere Perspektiven des Falles sowohl in individueller als auch in kommunikativer Hinsicht plausibilisiert. Die Transzendenzprozesse über Grenzen legen die Erkenntnis nahe, dass zur Transformation von Grenzen eine ambivalente, wenn nicht paradoxe Einsicht gehört, zum einen eingebunden zu sein in den universalen Zusammenhang durch das »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit«, wie es bei Schleiermacher aufscheint1157, zum anderen gerade die Unüberwindbarkeit von unterschiedlichen Grenzen zu sehen und zu akzeptieren – gerade hier macht sich die Funktion der Kontingenzbewältigung im kritischen Sinne, wie Hennig Luther sie beschreibt, als wichtig bemerkbar. Zu diesen Grenzen gehört zum einen die Asymmetrie durch den ethischen Vorrang des Anderen – an ihm öffnet sich Verletzlichkeit aus dem Solipsismus in die Beziehung »andere Subjektivität«, nämlich die Intersubjektivität. Ebenso entscheidend ist der Aspekt der Fremdheit, wie er auch schon von Henning Luther darin verortet wird. Es geht eben nicht um Bewältigung, die das Fremde einebnet, sondern gerade die Begegnung mit dem Fremden an und auf der Grenze wird zum entscheidenden Moment jeder Kontingenzerfahrung. Von diesem Punkt aus ergeben sich für mich zugleich Rückfragen: Ausgehend von diesem hermeneutischen Schritt, den Fall aspektiv mit Henning Luthers Verständnis von Grenze zu deuten, frage ich von der Empirie kritisch zurück an die Theorie Henning Luthers: Ist das Verständnis von Grenze damit genügend
1155 Ebd. 1156 A. a. O., 251; siehe auch den Verweis auf Adornos Geste des Lösens. 1157 Vgl. Schleiermacher : Der christliche Glaube.
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fundiert, ist es tragfähig dafür, diese Erfahrung von Verletzlichkeit theologisch zu bestimmen? Deutlich ist, dass dem Topos der Grenze wie auch den Ausführungen zu dessen religiöser Begehung eine dimensionale Räumlichkeit zugrundeliegt. Sprachlogisch ist mit der Räumlichkeit eine lebenswelttaugliche Ansichtigkeit verbunden, die den Weg zwischen Dogmatik und Alltag auf der Ebene sprachlicher Formen überbrückt.Gerade in Bezug auf das Pathische ist, wie wir aus dem vergangenen Kapitel ersehen haben, die Leiblichkeit – und damit auch Leibräumlichkeit der Grenzerfahrungen eklatant. Diese kommt bei Henning Luther vermittelt an anderer Stelle ins Spiel, im Zusammenhang mit Überlegungen zur Biografie.1158 Bereits hier wäre aber wichtig zu eruieren: Welche Perspektiven berücksichtigen und festigen leibliche Grenzen – gibt es auch tranzendierende Leiblichkeit angesichts des drohenden Todes bei gewaltigem Leiden? Ein wichtiger Punkt für das leibliche Leben im Angesicht von Leiden und Tod ist, den ambivalenten Zusammenhang von Geschöpflichkeit nicht aufzugeben und zu benennen.1159 Hannah Arendt legt Geburtlichkeit und Sterblichkeit als Grundbedingungen menschlichen Lebens wie auch des politischen Handelns dar.1160 Die leibräumliche Eingebundenheit des Menschen sucht nach Möglichkeiten über die Verletzung, den Tod hinaus. Für den bioethischen Kontext ist dies angesichts immer neuer Herausforderungen auch theologisch bedacht.1161 Wie sich diese Gegebenheit auf Ort, Situationen und Konstellationen professionellen Handelns auswirkt, unterliegt eminent theologischem Einfluss. Henning Luthers Anthropologie sucht im Rahmen einer Aufnahme des Individualitätsmotivs nach Wegen, die Subjektivität in Intersubjektivität zu weiten. Schon hier wird ersichtlich, dass auch der Blick der Individualität geweitet werden muss, um die Beziehungsdimension des Lebens angesichts des Todes, aber auch den Tod in seiner transzendenten Beziehungshaftigkeit in den Blick zu bekommen, wie es z. B. Gollwitzer sinntheoretisch einzufangen sucht.1162 An dieser Stelle macht der Entwurf Halt. Bedeutet lebensweltlich fundierte Frag1158 Theologiegeschichtlich ist zu bemerken, dass die Reflexionen über Leiblichkeit in Humanwissenschaften wie Theologie erst seit den 1980er Jahren einsetzen und mit dem stärkeren Einbezug ästhetischer Aspekte auch in der Theologie verhandelt werden: Vgl. etwa das Marburger Hedwig-Jahnow-Projekt zu Körperverständnissen; Concilium Heft 9; Spiegel: Glaube wie er leibt und lebt; Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen; Klessmann / Liebau: Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes; in der Religionspädagogik v. a. Becker : Leib – Bildung – Geschlecht; Leonhard: Leiblich lernen und lehren; Naurath: Seelsorge als Leibsorge etc. 1159 In leiblicher Hinsicht sprechen Schroer und Staubli pneumatologisch von biblischer Leibesspiritualität, die sich auf genau diese Leiblichkeit stützt (Schroer / Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel). 1160 Arendt: Vita activa. 1161 Vgl. z. B. Körtner : Wie lange noch, wie lange? 1162 Vgl. Gollwitzer : Krummes Holz – aufrechter Gang.
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mentarität dann, die Totalität der Verletzlichkeit durch den Tod anzuerkennen und damit doch wiederum Transzendenz zu relativieren? Die Erfahrung gibt hier für eine religionspädagogische Anthropologie eine andere zeitliche Orientierung vor. All diese der empirisch ermittelten Punkte geben Hinweise darauf, dass eine stärkere Gewichtung von Michel Foucaults Heterotypiekonzept für eine kulturtheologisch fundierte Anthropologie hilfreich wäre. Mit ihm lässt sich darlegen, dass die Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen existenzial wie sozial vermittelte religiöse Erfahrung einschließen. Die Erfahrung der Begrenzung kommt als räumlich und leiblich sozial gesteckte in den Blick und die Frage verschärft sich, was den Weg von der Immanenz zur Transzendenz ebnet. Hier zeigt sich, dass der Gottesbezug weniger eine direkte Erfahrung von Gottes Eingreifen in das eigene Leben nahelegt, sondern eher einen reflexiven Rückschluss; wenn Hiob diese Erfahrung gemacht hat, so ist sie auch auf das eigene Leben transferierbar. Erst in diesem – sehr wohl traditionsbezogenen! – Kontext erschließt sich auch die Krankheitserfahrung im Horizont von Leben und Tod. Die Grenze bzw. Schwelle von Leben und Tod beim anderen hilft zwar nicht unmittelbar als Trosterfahrung, aber doch im Sinne einer verstehenden Orientierung der Lebenskonturen – in räumlicher Hinsicht zur Markierung der erfahrenen (abweichungs)heterotopischen Situation, in zeitlicher Hinsicht, um Lebensphasen und damit prozessuales autobiografisches Verstehen zu ermöglichen. Ich werde daher dem Verhältnis zwischen der eigenen und der anderen Biografie weiter nachgehen.
4.3.3 Auto- und Heterobiografie 4.3.3.1 ›Biografie‹ bei Henning Luther Eine Konkretion von Identitätsbildung bildet die Form der Autobiografie. Nicht von ungefähr haben die theologischen Konzeptionen, die Religion und Lebensgeschichte in den Zusammenhang stellen, breite theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Kreise gezogen.1163 Sie stehen am Puls einer Zeit der religiösen Vergewisserung durch die Thematisierung des Subjekts und auch durch die Entdeckung der Ästhetik für die Theologie.1164 Henning Luther stellt sich damit in den Zussammenhang von Leben und Schreiben personalisierbaren Ausdrucksformen.1165 Praktische Theologie meint weder eine Form von Me-
1163 Vgl. Sparn: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? 1164 Vgl. z. B. Gräb:Religion als Deutung des Lebens. 1165 Es folgen drei Subkapitel, die mit dem »fiktiven Anderen« (zu finden in Gebetssprache,
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moiren noch Dichte Beschreibung, sondern Theorie wird angereichert durch den thematischen Bezug auf das autobiografische Schreiben anderer. Autobiografie ist hier aber argumentativ vor allem der kontrafaktische Einspruch gegen die Vergeblichkeit der Biografie und der biografischen Selbstreflexion; in ihr »weigert sich das Ich zu verstummen und hält an der Vermutung fest, daß es mit ihm etwas auf sich haben könnte.«1166 Nach Henning Luther ist Glauben ein biografisches Geschehen zwischen Anfechtung und Gewissheit, in dem sich der Mensch als fragender äußert. Demzufolge wird theologisch die Kernfrage nach der Geltung des Gottesgedankens in der Biografie bedeutsam. Lebensgeschichte wird als »Anfechtungsgeschichte« zu rekonstruieren sein.1167 Arbeit mit biografischem Material ist im Sinne der religiösen Selbstreflexion zu bearbeiten. In der Konzentration auf den Zusammenhang von Religion und Biografie als Leben führt Luther eine Situations- und Erfahrungsstruktur und Argumente zusammen. In der Erfahrung von Schmerz und Sehnsucht in Krisen- und Übergangssituationen, in denen sich Differenzerfahrung manifestiert, wird Subjektivität zum Thema, weil das Ich fraglich wird.1168 Argumentativ ist eine Subjektivität maßgeblich, die sich, religionssoziologisch betrachtet, überhaupt erst ergibt bzw. die konstruiert wird. »Interpretierte früher die von der Kirche repräsentierte christliche Religion den Lebenslauf, so interpretiert nun die je individuelle Lebensgeschichte des einzelnen seinen Zugang zu Religion und Glauben«1169 – genau dies bringt eine Heterogenität der Zugänge zu Religion mit sich. Entscheidend ist der Aufbruch aus der in sich kreisenden Selbstreflexion in die Kommunikation mit dem ›fiktiven Anderen‹ – eine Figur, die Luther an den Confessiones des Augustin verdeutlicht. In diesem Gespräch wird die Kommunikation mit jemandem bezeichnet, der dem Ich näher ist als es selbst1170 ; als offene Stelle kann sie auch Gott einnehmen. Religionspädagogisch macht sich bemerkbar, dass einzelne Menschen im Heranwachsen individuelle, durchaus kurvige und brüchige Lebensverläufe haben und genau an diesen Krisen und Übergangssituationen gelernt wird, weil sie »fruchtbare« Situationen für den Einbezug und das Fragen nach Gott sind.1171 Damit legt sich auch das theologische Argument nahe, dass jeder einzelne Mensch in seiner je eigenen, auch krummen und brüchigen Biografie gerechtfertigt ist. Diese Aussage basiert auf der Verheißung der Nicht-Gleichgültigkeit
1166 1167 1168 1169 1170 1171
Augustins »unruhiges Herz« und zum Zusammenhang zwischen Autobiografie, Subjektivität und Religion). Luther : Religion und Alltag, 36. A. a. O., 42. A.a.O., 249. A. a. O., 40. Vgl. a. a. O., bes. 122. Vgl. a. a. O., 41.
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des einzelnen, individuellen Lebens gegenüber Gott. Die Biografie wird – darin bewegt sich Luther zwischen dem Individualisierungsparadigma der Liberalen Theologie und dem Anspruch auf Existenzbezogenheit der Dialektischen Theologie, hier insbesondere mit Bultmann – zum Ort des Aufbrechens der Gottesfrage. Daher liegt hierin auch ein diakritisches Moment, wo und wenn die Offenheit von Biografie untergraben wird und die ungestillten Sehnsüchte nicht mehr gedacht werden dürfen. So wird Biografie immer von Hagiografie zu unterscheiden sein. Es leuchtet hier bereits auf, dass nicht davon die Rede ist, Gott als Autor der eigenen Lebensgeschichte zu verstehen1172, sondern als Leser der Biografie: Somit gilt es also das Leben als Prozess zu begreifen, der von der Verheißung der Verwandlung getragen ist – eine Option auf Transformation angesichts von Kontingenzerfahrung, die nicht allein durch die eigene Machbarkeit, das Machen und die aktive Gestaltung bestimmt ist, sondern der selbst Elemente der Passivität inhärent sind. 4.3.3.2 Von der Theologie zum Fall: Biografie Der Fall legt biografische Dimensionen und Einbruchstellen an mehreren Punkten offen. Es geht bei allen Beteiligten um deren Leben als gelebtes Leben im Prozess, da konkrete Anforderungen aufgrund des Widerfahrnisses bestehen – um die Frage, was die unterschiedlichen Beteiligten unter Leben verstehen und wie sie sich zu ihrem eigenen Leben ins Verhältnis setzen – also um das, was unter Lebensdeutung begriffen wird. Auto-Biografisch im Sinne der Nachzeichnung der Lebensgeschichte mit ihren Einbrüchen schreibt und liest sich vor allem die schriftliche Reflexion des Schülers Johannes. Es handelt sich dabei weder um eine vorbildhafte noch um eine besonders fromme Biografie – auf Johannes’ Lebensgeschichte wird man gerade durch andere Punkte aufmerksam, in denen sich Differenzerfahrungen zu einem vorher erfahrenen und strukturierten Alltag artikulieren. Die beleuchtete schwere Krankheitskrise ist die Verdichtung von Lebens-Elementen, die für den Schüler von Gewicht sind. Dazu zählt in meiner Wahrnehmung aber auch seine Rolle in der Klasse, das Außenseitertum. Ohnehin nimmt der Fall hier, den Fokus ganz auf die Krise gerichtet, etwas Ausschnitthaftes in den Blick, und die zurückliegende Lebensgeschichte wird als Hintergrund des gegenwärtigen Kerns mitnotiert. Angesichts des Bruches der schweren Krankheit kann hier ohnehin nicht von einer geschlossenen Lebenslogik die Rede sein. Im Fall wird eine Ausnahmesituation, ein Einbruch ins Leben, zu einer Er1172 Vgl. demgegenüber Bayer: Gott als Autor, 24.
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fahrung von brüchiger Biografie, die dem Schüler Angst macht in Bezug auf die Kontinuität des Lebens und dessen Zukunft. Gerade der Bruch, die Krise wird auch so zum Aufbruch der Frage nach der Einbindung in Lebensbeziehungen und in die Beziehung zu Gott, der als Instanz des Anderen in dieser Situation in die Nähe rückt. In der Lebensgeschichte bekommt Gott verschiedene Rollen zugewiesen – die des Lebensbegleiters, aber letztlich in kritischer Hinsicht doch auch die des Autors, der in das Leben eingreift. Insofern handelt es sich bei Johannes auch unter Berücksichtigung der Abgrenzung von der Fiktion der Normalität um eine Heterobiografie, die andere Sichten auf ein anderes Leben eröffnet – jedoch nicht, um ausschließlich Identifikationen, sondern auch um wiederum Abgrenzungen zu ermöglichen. Die Aufmerksamkeit gilt also auch im Blick auf die Biografie den Bruchlinien der Widerfahrung, an denen sich Fragen und existenzielle Ungewissheit auftun. Aus der Perspektive der Religionslehrerin Annett stellt sich noch deutlicher die Herausforderung, nicht nur Lebenslinien, sondern die Brüche auf verschiedenen Ebenen im Blick zu behalten – als Unterbrechungen von Leben und Arbeit, aber auch in der Konsequenz ihrer Bedeutung für das Leben ihres Schülers sowie der anderen als anders Betroffenen in der Schule, für das eigene Leben und Glauben. Diese unterschiedlichen biografie- und persönlichkeitsbedeutsamen Facetten erscheinen aber überlagert und nicht ohne Spannungen zueinander. Sie kennt Johannes’ Lebensgeschichte in Bruchstücken und ausschnitthaft, aber an diesem einen Punkt wirft sie explosionsartig mit einem Brennglas auch Blicke auf die Bruchlinien, Gefährdungen und auch in Teilen auf das unsichtbare Ganze der Biografie. Sie bemüht sich darum, dem kranken Schüler zu einem menschlich konkreten Anderen zu werden, von daher ist Rechtfertigung hier selbst aus der Sehnsucht inspiriert. Die Spanne zwischen der Wirklichkeit des Bruches und der Möglichkeit von Biografie, hier im Licht von Bildung, im Blick zu behalten und zugleich die eigene Kontinuität zu bewahren, stellt sich ihr als Aufgabe. Dabei zeugt die Wirkung und das Antworten der Religionslehrerin von der eigenen biografischen Betroffenheit, welche Relationierungen und Differenzierungen erst aufbauen muss (sie kennt Krebskrankheit aus ihrem nächsten Umfeld, diese erwirkte ihr einen Lebenseinbruch). Die Religionslehrerin rekonstruiert aber auch die Entwicklung des Miteinanders der Lerngruppe und nimmt mehr als das einzelne Leben, vielmehr deren Bezogenheiten aufeinander ins Visier der Biografie. Sie beurteilt die Sozialität der Jugendlichen ihrer Klasse im Verlauf der Bruchlinie der Krankheit vor dem Horizont ihrer religionsunterrichtlichen und theologischen Intentionalität
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und bemerkt, dass sie »viel sozialer geworden sind«. Hier stellt sie die Betrachtung der Biografie in mehrfacher Hinsicht in den Kontext der Intersubjektivität: Die Reife des durch die Krise geprägten Schülers wird relationiert nicht nur zu der Gemeinschaft der anderen, sondern auch deren Gestaltung, also der Gemeinschaftlichkeit. Nicht nur die Fragmentarität, sondern die gesamte Fraglichkeit des Lebens wird allen Beteiligten erkennbar – eine Fraglichkeit, der nur fragmentarisch Antworten folgen.
4.3.3.3 Vom Fall zur Theologie: Rückfragen und Impulse In den Sozialwissenschaften des letzten Jahrzehnts ist man davon ausgegangen, dass die reflexive Moderne keine linearen, geordneten »Normalbiografien« hervorbringt, sondern eine Identitätskonstruktion im Sinne der Herausbildung von »Patchworkbiografien« erfordert.1173 Die Verführung, Vorstellungen von Biografie allen Kenntnissen über Patchworkbiografien zum Trotz als Identitätslogik zu konstruieren, ist nicht nur im pädagogischen Sinne hoch – nach wie vor werden Erikson und andere Identitätskonzepte viel rezipiert. Auch ohne, dass gleich ein Tun-Ergehen-Zusammenhang aktiviert wird, steht auf dem Spiel, ob nicht die Identitätsvorstellungen von als allzeit perfektem Leben die Fiktion eines Gesamt von Leben sind. Mit dem kommt aber auch zum Tragen, dass die systemische Einschätzung von diffusen Identitätsordnungen keinesfalls selbstverständlich konform geht mit den Wahrnehmungen eigener biografischer Diffusion. Henning Luthers Aufweichung von Identität geht nicht den Weg postmoderner Ver(w)irrung in ein unendliches Puzzle – dies findet schon früher, in der Literatur, genügend Raum – prominent bei Max Frisch, der das Biografie-Thema in nahezu allen Romanen und Stücken durchspielt. Von ihm kann man lernen, dass Biografie auch einen Möglichkeitsraum hat – als Spiel1174, als Probe1175 – in dem ungelebtes Leben sich trotz aller Brüche einfügt. Henning Luthers Anknüpfungspunkt, Biografie als verwobenen Kontakt mit dem Fremden, Anderen zu sehen, wird im Fall pathischer Erfahrung als Widerfahrung bestätigt und bestärkt. Verletzlichkeit bedeutet eine Verschiebung biografischer Linien durch den Kontakt mit dem Fremden. Von Waldenfels her begreift sich daher Biografie gerade aufgrund dieser anderen, verletzlichen Subjektivität als nachzeitiger, zugleich zumindest potentiell weltoffener Lebensweg. Biografische Artikula1173 Siehe Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen. 1174 Vgl. Frisch: Biografie: Ein Spiel. 1175 »Ich probiere Geschichten an wie Kleider« – in Frisch: Mein Name sei Gantenbein.
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tionen spüren dem Fluss, den wechselnden Episoden und auch den Krisen und Brüchen des Lebens nach.1176 Und Biografie ist dann vor allem der Prozess des Nachzeichnens der ganz eigenen Lebenslogik, in dessen Verlauf die Einbruchstellen wiederum als Krisen erkennbar werden. Damit ist eine Rückfrage an die Agenten des Einbrechens noch nicht beantwortet. Mit Henning Luther und dem Fall im Gespräch haben wir zwischen situativer Empirie und tradierter Theorie erwogen, was die Dimension des Pathischen für die Rekonstruktion menschlichen Lebens austrägt. Dabei wurde die Aufmerksamkeit der Theorie auf die kritischen Punkte der Identitätsbildung geschärft, an denen Subjektivität und Ganzheit zu intersubjektiver, fragmentarischer Offenheit des Lebens aufbricht. Die empirische Ausdeutung zeigt, dass sich in der Perspektive der Betroffenen Lebenslinien im Nachhinein trotzdem aus den Verbindungslinien des Vertrauten ergeben: Es braucht Kontinuität, um Bruchlinien zu verkraften, damit diese nicht zu Spaltungen und Entzweiungen werden. Diesen Fragen nach Leiden und Identität ist auch in der empirischen Theologie nur mit der Verzögerung nachzukommen; die Bruchlinienerfahrung des Betroffenen selbst ist nicht nur dem Menschen, sondern auch dem theologischen Nachdenken stets voraus. Die theologische Reflexion gibt die Möglichkeit, den Grenzfall strukturell einzubeziehen und auf diese Weise nicht von der Unverfügbarkeit zu lösen. In diesem – und auch nur in diesem Sinne – ist theologische Anthropologie auch Kontingenzbewältigung. Die Dimension des Pathischen im Fall zeigt, dass der Pannenbergsche Fixpunkt der »Selbsttranszendenz« ein Moment des Lebens an der Grenze und im Spannungsfeld zu Weltoffenheit ist, die sich in Bezug auf Glauben als Gestalt gelebter Religion und in Bezug auf Biografie als eine Form der reflexiven Verarbeitung von Leben angesichts der Grenzen zeigt: Zu der offenen Seite der Lebensgestalt gehört eine Empfänglichkeit in Bezug auf Widerfahrnisse und neue Fragen. Gerade diese Seite der Fragmentarität bedeutet aber auch die Schutzbedürftigkeit des Menschen, die sich, wie Luther treffend verdichtet, in Schmerz und Sehnsucht zeigt. Beide Erfahrungen sind jedoch nicht nur auf je eine zeitliche Richtung zu beschränken: Auf der Basis der Struktur von Pathos und Response nehmen beide Erfahrungsformen biografischer Grenzsituationen auch auf Vergangenheit und Zukunft Bezug. Die Erfahrung des Fremden hat hier als Fremderfahrung in alle Richtungen leibraumzeitliche Dimensionalität. Für die Frage, wie aus der Erfahrung des Fremden ein Moment der Transzendenz und Lebens(an)(ver)wandlung wird, ist die Rolle des je Anderen nicht hoch genug einzuschätzen. Für die Gestalt menschlichen Lebens insgesamt bedeutet dieser Zusammenhang die viel stärkere Bezogenheit, ja Angewiesenheit auf den anderen – Diese macht deutlich, dass Identität keineswegs nur ein Konstrukti1176 Vgl. Luther : Religion und Alltag, 44.
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onsprinzip ist, das auf die eigene Identitätsarchitektonik, Bausubstanz und das Handwerk zählt, sondern Identität ist auch zugetragene, aufgegebene, geschenkte und damit verdankte Lebensgestalt. Von daher mutet der Begriff der Selbsttranszendenz mächtiger an, als es die anthropotheologische Auswertung des Falles zeigt. Das legt die Nähe eines Konzepts zur Identitätsbildung nahe, in der die Rolle des und der Anderen deutlicher zum Tragen kommt. Anders gesagt: Die Warum-Frage, das Anklingen der Theodizeethematik ist eine starke biografische Anfrage an die Zurückhaltung, Gott als Leser der Lebensgeschichte zu begreifen. Die Annahme der Konstruktion oder gar »bricolage« von Biografien einerseits und die Annahme einer grundlegenden Passivität des Lebens ergeben ein Paradoxon, dessen sich Henning Luther auf der Ebene vergegenwärtigt, wo es um die kommunikative Bewältigung im Kontakt mit dem fiktiven Anderen geht. Die Frage nach der Entstehung und der biografischen Logik des Leidens ist also selbst eine Unterbrechung des Lektüreprozesses, den Gott dem Menschen widmet. Es bleibt fraglich, inwieweit Gott in der Widerfahrung wirklich nur als Leser oder in der gelebten Religion für die Betroffenen nicht doch als Autor oder zumindest als Motor in Erscheinung tritt, durch den Auto- und Heterobiografie zusammentreffen.
4.3.4 Menschsein zwischen Identität und Alterität 4.3.4.1 Passibles Menschsein im eschatologischen Horizont Angesprochen wurde in den letzten empirisch angestoßenen Diskussionen, in welchem Rahmen und in welcher Verfasstheit Leben im Hinblick auf eine religionspädagogisch praktisch-theologische Anthropologie zum Tragen kommt. An den folgenden Punkten wird deutlich, dass die Rede von Identität und Handeln zur Erfassung der sozialen Wirklichkeit nicht auszumachen ist, ohne die Kontextualität und die Begegnung mit dem unverfügbaren Anderen zu erschließen. Daher wird hier für die theologische Frage nach dem Menschsein: Was ist der Mensch angesichts seiner Passibilität? – einiges nachdrücklich zu vertiefen sein. Die bisherigen Auswertungen haben den Zweifel an nahezu geschlossenen Identitätskonzepten verschärft: Was sich in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht als Notwendigkeit kontextuell-situativer Rahmenbedingungen als bildende Faktoren herausstellt, wird auf der Ebene der Frage nach Individualität und Sozialität potenziert. Damit ist die Aufgabe gestellt, theologisch die Intersubjektivität des Lebens auch für die Frage nach dem Selbst-Werden klarer herauszukristallisieren. Der Fall des Krankseins und die Erfahrung der Passivität wie des Leidens zeigen, wie gerade das unbestimmbare Andere auch prozessual
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lebensweltlich Einfluss nimmt, aber auch Transzendierungsprozesse in Gang setzt. Damit stellen sich dogmatische Fragen nach Identität – wie nicht nur in den idealistischen Konzepten, sondern auch bei Henning Luther – weiterhin in den Kontext der Eschatologie.1177 Und hier beginnt im Gespräch mit Christopher Zarnows Resümee zur Identität die Radikalisierung: Wenn die Fraglichkeit des eigenen Selbstseins, welches Selbstbesitz in Selbstentzug erfahren lässt, eine Selbstsuche mit sich bringt, und wenn die Nähe Gottes, welche die eigene Fremdheit übersteigt, eben diese Fremdheit nicht aufhebt, sondern erst deren Eingeständnis ermöglicht1178 und in die Bonhoeffersche Selbstvergewisserung mündet1179, so bleibt erst recht zu fragen, ob diese Einsicht reicht, um auch Grenzfälle zu begreifen. Sie würden letztlich nicht nur immer wieder zur Selbstreflexivität führen, sondern damit zu einer um sich selbst kreisenden Selbstreziprozität. Für den Kontext der Professionsorientierung ist hier viel bemerkenswerter, dass der Fall auf einen Aufbruch aus dieser Selbstbezogenheit hindeutet und intersubjektive Konturierung von Identitätsbildung durch Einbrüche des Anderen aufwertet. In dem, was sich mit Henning Luther unter Schmerz und Sehnsucht und im Kontext gerechtfertigten Lebens, das Leiden einschließt, fassbar macht, bekundet sich, dass »Subjektivität hier angesichts der Kontingenz ihrer Erlösungsbedürftigkeit in den Blick kommt.«1180 So kommt das Bestreben des Individuums zum alltäglichen Gelingen der eigenen Lebensgeschichte zum Zuge, das an Reibungsflächen zwischen individueller Biografiekonstruktion und sozialer Identität verläuft. Für die Übergänge zwischen diesen Prozessen, an denen nicht nur Anpassungsprobleme auftauchen, sondern die dann auch zur 1177 »Schmerz und Sehnsucht sind radikal subjektive Gefühle, die die Möglichkeit und das Gelingen von Subjektivität selbst zum Inhalt haben.« (Luther : Religion und Alltag, 249) – an ihnen erweist sich die uneingeschränkte Anerkennung der Subjektivität des einzelnen […] angesichts der Erfahrungen von Fragilität und Beschädigungen.« Schmerz und Sehnsucht sind Geschwister auf dem Weg des Fragens nach Heil und Sinn (siehe auch Benjamin: Dialog über die Religiosität der Gegenwart). Hier wird aus der eschatologischen Perspektive auch deutlich, dass für Luther das Sehnsuchtsmoment des Geschwisterpaares stärker und wichtiger ist als der Schmerz. Schmerz und Sehnsucht thematisieren Endlichkeit, aber nicht im Modus des Einverständnisses oder der Hinnahme, sondern von der Erlösung her. So kommt Subjektivität angesichts der Kontingenz von der Erlösungsbedürftigkeit her in den Blick: als Ausdruck des Absoluten, das die Erlösung wäre, in der schlechthinnigen Abhängigkeit. »In Schmerz und Sehnsucht bekundet das Subjekt […] seine Intention für’s Unendliche.« Sie haben ihre Wurzeln im Alltagsleben, aber sie bleiben ihm nicht verhaftet, sondern genau in ihnen scheint eine andere Welt auf: »In Schmerz und Sehnsucht wird nicht anderes, sondern der Alltag anders erfahren« (Luther : Religion und Alltag, 251; siehe auch den Verweis auf Adornos Geste des Lösens). 1178 Vgl. Zarnow : Identität und Religion, 356. 1179 »Wer bin ich? … Wer ich auch bin: Dein bin ich, o Gott«. Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 179 (Militärgefängnis Tegel 1944). 1180 Luther : Religion und Alltag, 251.
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Selbstthematisierung werden, stehen Übergangs- und Passageriten zur Verfügung. An diesen Schwellensituationen bricht auseinander, was das Ich im Alltag an Übereinstimmung mit der sozialen Identität hinbekommt.1181 Hier wird deutlich, dass zum einen die Schwellen sehr viel stärker sein müssen, als es auf den ersten Blick aussieht, da die Brüche unter dem Verdikt der Lebensabbrüche stehen. Zugleich ist sichtbar, wie Biografie damit eine Weitung vom autobiografischen zum heterobiografischen Bezug bekommt, ohne dass die Individualität damit auf dem Spiel steht. Leben ist unter dieser Maßgabe als die Kontinuität der biografischen und leiblichen Zusammenhänge erkennbar, die auch angesichts brüchiger Erfahrung und rissiger Lebensfäden Kohärenz geben. 4.3.4.2 Menschen- und Gottesstory. Zur Fraglichkeit »gelingenden Lebens« Einen Bezug zum göttlichen Anderen, der sich als dogmatischer Entwurf kritisch-konstruktiv an Henning Luther anlehnt, knüpft Gunda Schneider-Flume; sie erhebt wie Henning Luther eine kritische Stimme, um der »Tyrannei gelingenden Lebens«, das in der Identitätsdebatte die Zielrichtung bestimme, die Gegenrede zu erheben.1182 Dabei wendet sie sich – aus der biografischen Erfahrung der Belastung durch schwere Krankheit heraus – gegen eine eudämonistische Ethik, die gegenwärtig wieder Hochkonjunktur hat. Es kommt ihr auch auf die damit verbundenen ethischen Fragen und Werthaltungen an; sie verfolgt jedoch ein grundlegenderes Interesse, das bereits beim Leben als solches ansetzt und die Erfahrung des Pathischen zum grundlegenden Motor für ihre Ausführungen macht.1183
1181 »Das Ich erfährt sich als Differenz. Das Ich wird sich fraglich. Diese Differenzerfahrung macht das einzelne Subjekt entweder im Modus des Schmerzes oder im Modus der Sehnsucht. In beidem verspürt das Subjekt ein ›Ungenügen am Hier und Jetzt‹. In beidem kündigt es das Einverständnis mit dem, was es real ist und geworden ist, und hält die Treue zu einem möglichen anderen, sei es in Treue zu seiner Trauer über Verlorenes, sei es in Treue zu seiner Hoffnung auf Ausstehendes« (a. a. O., 249). 1182 Schneider-Flume: Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei gelingenden Lebens. 1183 »Aber die Rede von gelingendem Leben ist nicht nur eine Bedrohung für alles Leben, dem Gelingen abgesprochen wird, vielmehr verfehlt diese Rede aufgrund der drohenden Bedingung das Leben überhaupt. Die Vorstellung von Leben unter dem Vorbehalte des Gelingens – ganz abgesehen davon, was Gelingen von Leben heißen kann – verkennt, dass Leben ein Phänomen der Fülle, des Überflusses, des Surplus, der Gnade ist, gut von Anfang an, nicht unter der Bedingung ›wenn – dann‹, sondern kostbares Gut, das Freude provoziert. Stattdessen wird Leben unter der Bedingung von Gelingen wird Leben lediglich als Rohmaterial genommen, das Bedeutung und Wert erst erlangt, wenn ich etwas daraus mache, das als Gelingen bewertet werden kann. So wird Leben bis zu einem gewissen Grade verfügbar und die ärgerliche Tatsache der primären Passivität – oder müssen wir schon sagen: Noch-Passivität? – gegenüber dem Leben kann durch eigenen Erfolg und Gelingen verdrängt werden. Die Forderung nach gelingendem Leben verkennt Leben und
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Daher stellt Schneider-Flume dem einen Lebensbegriff entgegen, der zum einen die Passivität der Gabe betont, jedoch zugleich mit Karl Barth verdeutlicht, dass nicht die Passivität und die Unverfügbarkeit des Lebens allein schon darauf schließen lassen, dass dieses Leben gut ist. Mit anderen Worten: Sie gibt dem Autor des Lebens Autorität, die nach dem Geber fragt und hier die biblische Tradition einspielt: Leben ist Wohltat. Der dreieinige Gott tritt hier als Schöpfer auf, der des Menschen gedenkt und sich seiner erbarmt.1184 Maßgeblich ist dabei die Story Gottes als Bewegung des Erbarmens und der passionierten Hingabe an den Menschen: »Gott ist überfließende Lebensfülle, die sich gibt, auf dreierlei Weise: der Vater als Lebensgabe, Lebensgrundlage, Lebensanfang und Lebensstoff; der Sohn als Lebensheilung und Versöhnung; und der Geist als Erneuerung und Erkenntnis, Verwandlung und Neubelebung. Die Geschichte Gottes ist von ihrem Subjekt her nicht schon statisch, sondern überfließend auf die Menschen hin.«1185 So ergibt sich aus der Fülle und Gabe des Gebers die Lebensfreude, Gerechtigkeit als anfängliches heilsames Zurechtbringen, von dem die Menschen leben. Im Verlust des Gegenübers, in der Selbstreduktion setzt sich eine gewaltige und zerstörerische Macht frei, die sich als Lebenswidrigkeit, Gottesfeindschaft und Lieblosigkeit zeigt. Sie zeigt sich als Macht der Sünde1186 ; ihre tödliche Auswirkung hat sich am Kreuz gezeigt. Die brisante Frage der Theodizee, die sich hier anschließen würde, wird nicht biblisch gegeben, sondern am ehesten in der Form des Umgangs mit dieser Erfahrung, nämlich in der Lebensbewegung der Klage; sie ist Aufstand, Rebellion, anders als Resignation und Schicksalsergebenheit. In der Antwort auf diese Form von Passivität und Leiden wird also ein durchaus aktives, belebtes Handeln sichtbar. Passivität verharrt nicht in der Rückbeziehung auf das Selbst, sondern tritt aus sich heraus auf das Gegenüber zu. Am Beispiel Hiobs: Es sei eben das Besondere, dass Hiob nicht auf sich zurückgeworfen, bei sich selbst bleibt, sondern Gott entgegenschreit. Damit wird auch deutlich: »Es ist nicht die Fixierung auf das Selbst und das Verderben, das die Situation erschließt, vielmehr ist es die Erinnerung an den Ursprung in
zerstört Lebenschancen, weil sie Leben auf den Bereich der Machbarkeit einschränkt und unter Bedingungen stellt« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 11). 1184 So »wird das göttliche Schaffen als Äußerung des Lebens Gottes nicht anders denn als freiwillige Selbstzurücknahme, die Raum, Lebenschance und Lebensordnung für kreatürliches Leben gewährt, erzählt« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 31). 1185 Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 32. 1186 Die theologische Kategorie, mit der einige Aspekte gefasst werden, ist die der Sünde. Die räumliche Metaphorik des »Sund« – zeichnet nach, wie Anspruch und Wirklichkeit einander entfernen. Eine differenztheoretische Betrachtung kann gar nicht umhin, im simul iustus et peccator beides zu sehen.
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Güte, Barmherzigkeit und einst erfahrener Gerechtigkeit, die Menschen Sünden erkennen und um Vergebung bitten lässt.«1187 Damit ergibt sich auch eine Kritik an allzu großer Aufwertung von Sinnfragen – diese gelten als eingebettet in bereits bestehende Antworten, nämlich Gottes Erbarmen, das sich täglich neu verifizieren muss.1188 Aus dieser Perspektive werden die Gefahren des Anspruchs gelingenden Lebens benannt: Im Gespräch mit Erik H. Erikson, Henning Luther und Gertrud Nunner-Winkler ergibt sich eine große Gefahr darin, Identität zum einen ins Innerpsychische zu verlegen und zum anderen darin, in ihr nicht nur Ganzheit, sondern Absolutheit und Totalität zu sehen; für die Selbstwerdung des Individuums sind Pluralisierung und Individualisierung nicht einfach aufzuwiegen. Der Druck des Gelingens für das Leben des Einzelnen ist so oder so hoch. Dieser Gefahr des Totalismus wird eine zweite Gefahr anheimgestellt: die des Fundamentalismus, der in der Suche nach festem Halt in Identitätskonzept zu finden ist. Für die Frage nach der Rolle des Pathischen behauptet Flume die Gefahr der Ästhetisierung des Fragmentbegriffes. »Die Feststellung von Fragmentarität ohne das Eingeständnis, dass Menschen daran leiden, fragmentarisch zu sein, ist entweder zynisch, oder sie entstammt der Unkenntnis der Not bei der Identitätssuche.«1189 Damit wird die Stimme dafür erhoben, dass auch Fragmentarität an sich bedrohlich ist. Im Anschluss an Henning Luther und Heiner Keupp fokussiert SchneiderFlume so eine »primär passive […] Konstitution auch des Identitätsbegriffes«.1190 Damit ist soziale Konstitution eingeschlossen, aber im Rahmen theologischer Anthropologie auch die Geschichte des Menschen als eine Verstrickung in die Geschichte Gottes.1191 Leben in der Geschichte mit Gott heißt dann, vom Zuspruch her zu leben, beim Namen gerufen zu sein, erwählt und gewollt zu sein, auch wenn der ursprüngliche Zuspruch – etwa wie bei Bonhoeffer – Mut zur Differenz, zur Entsicherung schafft1192. Hier gilt Gott als starker Anderer durch sein Wirken in der Zeit – und zwar in den Wirkungsformen Rettung, Befreiung, Erlösung und Trost. Menschliche Identität ist, wenn sie von der Verknüpfung der diesbezüglichen Ereignisse und Erfahrungen der Treue Gottes geleitet ist, bestimmt von der Kraft des Wartens, Erwartens und Hoffens.1193 Daher ist nicht Entwicklung, sondern eine positive Form von Verwicklung 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193
Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 45. Vgl. Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 46. Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 63. Ebd. Im Anschluss an den Philosophen Wilhelm Schapp; vgl. auch Dietrich Ritschl. Vgl. Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, 227–248. »[…] dem Aussein auf, das von Luther so trefflich mit Harren umschrieben wird. Harren ist aber nicht reine Passivität, sondern äußerst angespannte Konzentration, die auf die Möglichkeit des die Wirklichkeit Überschreitenden, nicht Erwartbaren gerichtet ist« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 72).
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maßgeblich: »Theologische Anthropologie bringt mit dem Gedanken des Neuwerdens die Brüche und Neustrukturierungen in der Biographie zur Sprache.«1194 Dies ist statt auf Selbigkeit, auf Neuwerdung, Verwandlung angepeilt, die im Neuen Testament mit der Geschichte Jesu Christi zusammengedacht wird1195 – damit erst ergibt sich der neue verändernde Andere. In diesem Prozess, der biblisch als Bewegung des Erbarmens geschrieben ist, kehrt nicht nur der Mensch, sondern Gott selbst um.1196 Schneider-Flume stellt den verletzbaren Menschen in einen Raum der Gnade1197; der begnadete Mensch erwächst aus einer passiven Konstitution in einer Lebensgestalt, die auf Beziehung und das Antworten angelegt ist. Mit dieser deutlich pneumatologisch gefärbten theologischen Anthropologie wird im Zusammenspiel von Auto- und Heterobiografie deutlich, dass Identität nicht ohne Aspekte der Alterität als dynamischer Prozess denkbar ist. An diesem bemisst sich theoretisch die Qualität von Erfahrungen der Selbsttranszendenz, die Hans Joas mit Paul Tillich und anderen im »Sinne eines Herausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung auf mich selbst«1198 beschreibt. Diese benötigen das Deutungspotential des betroffenen Autobiografen. Doch wie sehr ist das Potential solcher Erfahrung der Selbsttranszendenz nicht nur an Ressourcen der Deutung gebunden, wie Hans Joas proklamiert, sondern auch an die Möglichkeiten und Grenzen des intersubjektiven Erfahrungsraumes selbst? Auf den ersten Blick erwirkt Schneider-Flume klarer als Henning Luther eine Anthropologie, die der Passivität des Menschen nachkommt. Ihr Verständnis von Gesundheit als »nicht höchstes Gut und nicht Ideal, sondern Kraft zum Leben, Kraft zur Partizipation am Leben, das nie nur mein Leben ist.«1199 hat zur Folge, dass Gesundheit und Krankheit nicht Machsal, sondern Widerfahrnis im Leben sind.1200 Sie stellt die Verdanktheit des Lebens in seiner Geschöpflichkeit 1194 Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 74. 1195 »Die Beziehung zu dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung durchbricht alte Identitätsstrukturen und feste Kontinuitäten, weil Menschen neu werden, wenn sie jemanden für sich eintreten lassen« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 76). 1196 In Griechischen: spkaccmifeshai. 1197 Vgl. Lüpke: Verletzbarer Körper – begnadeter Mensch. 1198 Joas: Braucht der Mensch Religion?, 17. 1199 Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 95 (H.i.O.). 1200 Es liegt insgesamt nahe zu fragen, worin dann in dieser Bewegung, in diesem Umfangen, das Problem sei. Stimmt es zu sagen: »Das Widerfahrnis von Gesundheit und Krankheit verweist also wiederum auf die Passivität im Leben, mit der Menschen, die ausschließlich auf Selbstbestimmung ausgerichtet sind, so schwer umgehen können« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 82)? Die Problematisierung des Gesundheitsbegriffes als gesellschaftlich höchsten Guts erbringt die Kehrseiten einer makabren, für z. B. chronisch Kranke verfehlten und verheerenden Wirkung. Damit kann ein solch utopischer Gesundheits-
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in den Vordergrund und kommt damit auch in eschatologischer Hinsicht zu einem tröstlichen Ansatz. Die Story Gottes, von der sie ausgeht, entstammt traditioneller Dogmatik; ihre Erfahrbarkeit wird in dem Ansatz vorausgesetzt. Inwieweit damit auch die radikale Gottesfrage, die an genau dieser Erfahrung zweifeln lässt, anthropologisch eingefangen wird, bleibt offen. Problematisch ist für eine lebensweltlich-empirisch inspirierte Theologisierung, dass der dogmatische Weg, in den auch die Story Gottes eingesetzt wird, am Grenzfall – und um den handelt es sich hier wie so oft – die Geschichte und Story des individuellen Menschen zum Verschwinden bringt. Einen für das Einwirken des Anderen und den Gottesbezug wichtigen, deutlicher empirischen Weg zeigt das story-Konzept von Dietrich Ritschl. Es wurde nicht ohne Zufall im Zusammenhang der Wurzeln alttestamentlicher Wissenschaft und Psychoanalyse sowie medizinischer Ethik entwickelt und bezieht sich auf die Narrativität als Struktur von Ethik.1201 Ritschl plausibilisiert den Grund und die Prozesse, wie sich Erzählung, Tradition und Lebensgeschichte ineinander verweben und macht dafür die Story als Lebensfaden deutlich, ohne diese mit sprachlicher Narrativität gleichzusetzen. Grundgedanke des Story-Konzepts ist, dass nicht theologische Begrifflichkeiten und Loci das theologische Verstehen ausmachen, sondern eine Geschichte Gottes, welche in die Geschichte des Menschen und in einer Geschichte Israels verwoben und ohne sie nicht dankbar ist.1202 Hermeneutisch setzt das Konzept auf das Zurücktreten hinter die Selbstverständlichkeit einer Theologie, in welcher theologische Sprachwahrheiten als regulative Sätze, eben Dogmen ausgewiesen werden – ein Differenzprinzip, das Platz lässt dafür, dass der Beginn theologischen Denkens in der Wirklichkeit ansetzt, die es anzueignen und umzugebegriff nur enttäuschen. Dass gegenwärtig Gesundheit ein Gegenstand der Selbstverwirklichung sei – in ihr sieht Schneider-Flume das fatale Ideal gelingenden Lebens verborgen. Wenn Gesundheit das höchste Gut ist, bedeutet Krankheit Zerstörung und Vernichtung. Am Beispiel Hiob wird die archaische Erklärung für Krankheit – nämlich Schuld – reflektiert. Essenz aus dem Hiobbuch: »Nicht die selbstverantwortete Rechtschaffenheit und eine daraus folgende selbstverantwortete Gesundheit, sondern die gelebte Beziehung zu Gott macht die Kostbarkeit des Lebens aus.« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 90). Aber auch diese Menschlichkeit droht aus dem Rahmen des Menschlichen herauszufallen, wenn die Beziehung in Gottesferne umschlägt und doch der rechte Glaube für das gesunde Leben sorgt. Die Frage ist dann, ob es überhaupt noch darum geht, ob krankes und beschädigtes Leben innerhalb oder außerhalb von Gott zu denken sei, Krankheit ist mit dem Fürwahr (Jes 53,4f) der Gottverlassenheit und Verzweiflung verheißungsvoll entrissen. Krankheit ist nicht gut, aber Gott steht parteiisch auf der Seite des Pathischen. Ebenso sind nicht alle Wundergeschichten unumkehrbare Krankheiten, aber sie stellen die Krankheit selbst in ein anderes Licht und erzählen von »aufbrechender Lebenskraft« (Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 93). 1201 Vgl. Ritschl: Zur Logik der Theologie. 1202 Daran erweist sich auch die Unterscheidung von narrativer Theologie, wie sie Harald Weinrich, Johann Baptist Metz u. a. konzipiert haben.
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stalten gilt im Sinne der Gerechtigkeit Gottes. Eingebunden in die trinitas von Mensch, Gott und Natur, gilt umso mehr nicht nur die Grenze des Ortes, der Kraft und der Zeit als Begrenzung der Natur : »Das Natürliche betrifft die Existenz des Menschen in dreifacher Begrenzung: in den Grenzen des Ortes, der Kraft und der Zeit«.1203 Als Bauprinzip kann die Story des kranken Menschen als Partizipation an der Story Gottes den Hiatus zwischen dem Schmerz des Fragments und der Sehnsucht nach Identität verdeutlichen, der auch durch narrative Prozesse überbrückt wird – zumal an den auto- und heterobiografischen Aspekten das Aufscheinen der Differenzen zwischen Darstellbarkeit und Unsagbarkeit eklatant ist. Dass wir es dabei mit differenten Normen des Menschseins zu tun haben, zeigt Dietrich Ritschl in seiner Unterscheidung zwischen dem »Athener Menschen« und dem »Jerusalemer Menschen«.1204 Während Ritschl im Menschenbild der Griechen den Normalmenschen als einen »wohl balancierten und leistungsfähigen, formschönen Menschen« – damit als ein vermeintliches Ideal – verstanden sieht, stellt der Jerusalemer Mensch in Aussicht, »daß die wahre Menschlichkeit der Menschen oft erst in ihrer Niederlage und Krankheit manifest ist«.1205 In dieser Unterscheidung werden zwei Normen gegenübergestellt: der antike Idealmensch und der Mensch Gottes, dessen leidvolle, gebrochene Geschichte biblisch tradiert ist.1206 Und in diese Story klinkt sich die Einzelgeschichte ein. 4.3.4.3 Zur Rolle von biblischen Traditionsgestalten Der Fall gibt eindeutige Hinweise darauf, dass auch in einer Theologie, in der lebensweltliche Erfahrung den maßgeblichen Ausschlag gibt, Motive und Figuren der christlichen Tradition biografisch eine Rolle spielen, ohne dass sie zu Heiligen werden. Ein expliziter Bezug zwischen menschlichem Leben, Leiden und Hiob ist offensichtlich. Dies geschieht jedoch in einem spannungsvollen Verhältnis zwischen Autobiografie und Heterobiografie. An den Erfahrungen schärft sich eigenes Leben im Zusammenklang und spannungsvollen Gegenüber 1203 Sie gelten hier als wesentlicher konstanter als die Triebe und Wünsche, wie diese in der klassischen Theologie beachtet werden (Ritschl: Zur Logik der Theologie, 279). 1204 Ritschl: Menschenrechte und medizinische Ethik, 260. 1205 Schoberth weist mit Recht darauf hin, dass es hier keineswegs umgekehrt um eine Idealisierung von Schwäche gehen darf (vgl. Schoberth: Geist – Energie – Person, 267). 1206 »Wie der Anfang meines Lebens alles andere als eigenverantwortlich, stark und kontrolliert war, so auch das Ende. Das Jerusalemer Modell vom Menschen schärft ein, dass Menschen wesentlich hilfsbedürftig sind und dass Menschlichkeit in der liebevollen Solidarität mit den Schwachen, Leistungsunfähigen und Gestrandeten lebt. Eben diese liebevolle Solidarität braucht jeder Mensch, auch wenn er sich auf den ersten Blick zu den Starken und Gesunden rechnet« (ebd.).
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zur Traditionsgestalt. Eine ungebrochene Übernahme »der Lösung Hiobs« würde zu fatalen moralischen Übergriffen ins Menschsein ausufern, die die Erfahrung wiederum unbeachtet lassen. Eine Nichtbeachtung der Tradition, das schlichte Gleichnis als Analogieschluss jedoch ließe die Tradition zur »Tradition im Kasten« verkommen, die museal kult- und kulturgeschichtlich hinzugezogen wird, ohne dass sie intersubjektiv das Zutrauen zur Einflussnahme in Transfiguration, Befreiung oder Erlösung gewährt. Das pädagogische Lernen am Modell des Jerusalemer Menschen findet theologischen Niederschlag: Wie relationiert sich Menschsein angesichts lebensweltlicher Grenzerfahrung zu traditionellen Topoi und ihren Deutungen? Grundsätzlich wird die Rolle von Tradition mit Henning Luthers Religionsverständnis noch nicht explizit aufgegriffen. In der hermeneutischen Tradition werden ausgehend von Hiob vielerlei Interpretation und Bedeutungsebenen möglich.1207 Mit dem Fall gilt der erste Blick der Funktionalität, mit der Tradition herangezogen wurde, um Erfahrung sprachfähig zu machen. Es deutet sich an, dass es um einen gestaltenden Umgang mit Tradition geht, der aus der Fremdheitserfahrung resultiert. Näher zu bestimmen bleibt, welchen Ort und welche Aufgabe Tradition in einer phänomenologisch-theologischen Anthropologie einnimmt. Um sich in einem phänomenologisch-empirischen Zugang den Stimmen der Verstummten zu nähern, ist der Bezug zu den Figuren theologisch-kultureller Tradition zu untersuchen, welche diese zu artikulieren und die Perspektiven der Passivität begreifen helfen. Wie sieht ein Fallverstehen zwischen empirischen Daten und systematisch- und praktisch-theologischer Interpretation von Tradition und Situation aus? Im Fall kommen theologische Tradition und kulturelle Situation auf eine neue und andere Weise zusammen: In der Fallstudie werden der empirische AusgangsFALL und der biblische Fall zueinander wie Spiegelfiguren, an denen Strukturen und Problemstellungen geschärft werden. Dabei ist das leitende Interesse der empirischen Fallstudie klar die neue Richtung, in der es nicht um Aktualisierung oder gar Adaption eines biblischen Locus geht, sondern vielmehr wirft die biblische Spiegelfigur Licht auf die empirische Situation. Das ist natürlich niemals ohne eine Bewusstwerdung des Rezeptionsvorgangs möglich, da es weder den empirischen Fall »nackt« noch eine nackte Figur Hiob außerhalb der Erzählung gibt, mag sich diese innerhalb der Narration, des Stoffes oder der Deutung noch so nackt fühlen. So wird Hiob in empirisch-theologischer Hin1207 Nach Langenhorst ist das, was bleibt, die Warnung an die Freunde, sonst Trostbuch, das das »rechte Sprechen« weit steckt (Langenhorst: Hiobs Schrei in die Gegenwart, 80). Von daher bleibt zum Beispiel in der Deutung von Erfahrung durch die Tradition offen, ob der Hiob des 20. Jahrhunderts wirklich »keine Antwort« erhielt.
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sicht zur narrativen Verkörperung und intermediären Gestalt der »Grenzerfahrung einer Würde in, mit und unter einer Entwürdigung«.1208 Berücksichtigt man diesen Weg des Verstehens, ist wiederum im zirkulären Umkehrschluss aus dem empirischen Fall ebenso wie aus der Topologie des Pathischen in der Theologie für die Hermeneutik der biblischen Tradition ersichtlich, dass Hiob als narrativer Grenz-Fall von Leben wichtig wird. Das Buch Hiob gibt die Form dafür bereit, dass die Figur(en) eines Hiobfalles mit seiner szenischen Story und der Hiobdichtung1209 zur wiederkehrenden Figur für eine unabgeschlossene und vermutlich unabschließbare Wirkungsgeschichte werden, in deren Verlauf Goethes Faust, etliche weitere große literarische und ästhetische Gestalten ihren Ort finden und in dem biblische Erfahrungswurzeln der theologischen Auseinandersetzung im Aufbrechen der Warum-Gottesfrage bzw. veränderte Gestalten einer Theodizee, Algodizee oder Anthropodizee möglich werden. Ein zweiter Modellfall, der ein Herzstück biblisch-theologischer Tradition und kultureller Diskussion ist, wird in diesem Fallsegment angesprochen, aber empirisch nur implizit aktiviert. Die im Arbeitsblatt angebotetene Option eines Bezuges zu Passion und Auferstehung wird von dem kranken Schüler selbst nicht ergriffen – damit ergibt sich eine Frage bezüglich der Negation eines Bezuges und der Frage nach dessen Interpretation. Die christologischen Traditionen stellen Jesus in völlig unterschiedliche Zusammenhänge. In unserem empirischen Fall wird durch die Hoffnung auf Heilung, die mit der Krankheit des Schülers als Option entsteht, das Fragen nach einer Bezogenheit auf Gott, im Sinne des Wirkens, der Macht und Erscheinungsweise ins Spiel gebracht. Mittelbar kommt damit nicht nur die Logik von Ursache und Wirkung ins Spiel, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis des Leidenden zu anderen Menschen, zur Gemeinschaft und zur Welt. Mit dieser impliziten Aufnahme, die sich auf der textlichen Ebene an den Rändern einer Anspielung bemerkbar macht, ist es möglich, übergreifende Zusammenhänge von Macht und Sozialität, Immanenz und Transzendenz auch in einem soteriologischen, ethischen und eschatologischen Horizont zu durchdenken. Im Kontext dieses empirischen FALLes liegt es nahe, im Fall Jesus Christus die Spannung in der Verkörperung zwischen Tod und Heil bzw. zwischen Verkündigung und Erfahrung aufzusuchen. ›Passion‹ ist der theologische Topos, dessen Relevanz und Bedeutung dabei auf dem Spiel steht. Alle kulturellen Modellfälle sind nicht nur aufgrund des vorliegenden FALLes 1208 Oorschot: Menschenbild, Gottesbild und Menschenwürde, 21. 1209 Insofern ist in diesem Kontext anders als bei Jürgen Ebach zu sagen, dass nicht nur das Hiobproblem unabgeschlossen ist, sondern im kontextuell-theologischen Sinn auch der Fall Hiob selbst(gl. Ebach: Streiten mit Gott. Hiob).
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coindiziert, sondern bewegen sich zudem im weiteren kontextuellen Rahmen des christlichen Religionsunterrichts. Eine Bezugnahme zu ihnen als Fällen kann wie im FALL nur Ausschnitte einbeziehen und muss daher umso mehr die Kontexthaftigkeit des Gebrauchs berücksichtigen. Außerdem schließt das wissenschaftliche theologische Nachdenken einen kritischen Umgang mit den Fällen ein. Das Ineinandergreifen von Lebenswelt, biografischer Erfahrung und theologischem Denken, das sich am Theologietreiben von Dorothee Sölle und Henning Luther orientiert, findet in den vorfindlichen kulturellen und kultischen Falltraditionen der Geschichte und Gegenwart Modelle, an denen sich FALLdeutung und empirisches Theologietreiben als zwei Momente einer zirkulären Verzahnungsheuristik aneinander gestalten. Der »Weltabstand« bildet sich hier eher als eingezogene Differenz zwischen Tradition und biografischer Situation aus, ohne dass er unüberbrückbar wäre oder eine Begegnung verunmöglichen würde. 4.3.4.4 Passivität und Ergriffensein Wenn zur Passivität des menschlichen Lebens Tillichs Ergriffenheit von dem, was uns unbedingt angeht, als ein personaler Akt dazugehört wie bei Schleiermacher die schlechthinnige Abhängigkeit, so wird an den Fällen des Pathischen die interexistenzielle Seite dessen, was ergreift, mit deutlich. Die Abhängigkeit wird als wechselseitige Ergriffenheit im fragmentarischen Menschsein, aber auch im solidarischen Mitsein Gottes deutlich, ohne dessen Story-Zusammenhang zwar manches hängen kann, doch nicht abhängig ist. In diesem Kräftefeld kommt die Passivität als Grundstruktur des Seins in Bezogenheit und Beziehung zum Tragen. Orte und Situationen der Grenze wie der Schrei Hiobs geben als Teile der göttlichen Story einen neuen Hintergrund, nicht um die Einzelgeschichte des Menschen und des Falles einzunorden, sondern als Folie, als narrativen Verstehensraum, in dem Leben als anderes erscheint und in dem es in den Kontexten seinen Anspruch formuliert. Kein athenäischer Ganzheitsmythos, auch keine Glorifizierung des Leidens, sondern als fragmentarische Gestalt aus der Familiengeschichte der Gottesstory schält sich der Fall heraus und lässt sich dort auch wieder hineinplatzieren, ohne dass er automatisch ein fest umrissenes Puzzlestück darstellt. Die Story Gottes mit den Menschen ist geprägt, aber nicht geschlossen! Sie lässt wie alles Fragmentarische Öffnungen, manchmal nur bruchlinienartige Ränder, schmerzhafte Ecken und Kanten, an denen ihre Weltoffenheit nach vorn möglich wird – am und durch biografische Einzelfälle, die nicht als solipsistische Fälle abgeriegelt sind, sondern in die Welt rufen und Responsivität erfordern. Nötig wird damit auch eine Kritik am Ganzheitsmy-
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thos, die sich, wie Ulrich Körtner es für die Medizin als nötig beschreibt, auch gegen eine »mitleidlose Ich-Identität« richtet.1210 Von daher ergibt sich in der Menschenwürde, die nur in der Beziehung des Erbarmens denkbar ist, wie sie in der Phänomenologie des Antlitzes von L8vinas aufscheint, nicht nur : »Dem Anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen – das bedeutet nicht töten zu können«, sondern darüber hinaus der Ruf zur Antwort auf alles Tötende. Anderes Menschsein im Licht der Story Gottes zeigt sich in der Story vom Leiden Jesu; dessen Wahrnehmung offenbart mit dem Leiden auch die Kehrseite, seine Göttlichkeit. So kann den Grenzen des Menschseins zugleich transformatives Anderssein aufscheinen. Diese Menschlichkeit des Anderen führt auch zu einer anderen Menschlichkeit. Eine Kontingenzbewältigungskompetenz kann es daher auch theologisch nicht geben, dennoch Kraft zur Überwindung von Grenzen im sozial-kommunikativen Bereich sowie zur erweiternden Bearbeitung von Grenzerfahrungen im existentiellen Lebensverständnis. Liebe, Freiheit, Menschsein angesichts und aus Passion bedeutet damit das Haben eines verletzbaren Körpers und das Sein als leiblich-begnadeter Mensch, der die Passivität als Grundsituation zu einem Leben aus Passion transformiert. Eine phänomenologische Sinnfrage liegt damit wie bei L8vinas in einer passiven Reduktion; sie legt den Eigensinn der Sinnlichkeit frei, den Sinn des Leidens im genitivus subiectivus, nämlich Sensibilität. Ein treffendes metaphorisches Bild von dieser Art theologischer Sensibilität vermittelt der Topos des Ecce homo. In der lyrischen Auslegung der jüdischen Autorin Hilde Domin wird verdichtet1211: Der Mensch ist nicht der Einzelne, Kaputte, sondern immer der vom Anderen als solcher Gesehene, der mit dem Anderen den Lebensraum teilt. In einer solch beziehungsstiftenden theologischen Anthropologie wird in diesem Sinne auch Verletzlichkeit nicht zu einem Makel, einem Anzeichen des sündhaften Seins, des pejorativen partikular Anderen am oder im Subjekt, sondern kennzeichnet die »andere Subjektivität«: »Die Subjektivität wurzelt nicht in der Selbstbehauptung, sondern beruht gerade auf der Verwundbarkeit dem Anderen gegenüber, auf der Offenheit und der entwaffnenden Aufrichtigkeit dem Anderen gegenüber.«1212 In der Konkretheit des Anderen, in seinem Angesicht entwirft sich also eine intersubjektiv konstituierende Subjektivität, die auf die Öffnung des Subjekts setzt. Darin liegt zugleich eine Asymmetrie, die den Anderen nicht als Dialogpartner sieht, nicht als Mit-Spieler einer gemeinsamen Lebenswelt, sondern als in der Radikalität Beunruhigenden: Noch radi-
1210 Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 65; vgl. im Ganzen 62ff. 1211 Vgl. Domin: Ecce homo; Leonhard: Vom Anderen berührt. 1212 Luther : Religion und Alltag, 77.
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kaler gedacht, würde dann jede Begegnung zum Widerfahrnis?1213 Zwischen Gott und Mensch verläuft eine Story, die genau die Bruchlinie aufgreift – als Linie von Christus, dem leidenden Menschen als Gottes Selbstäußerung und Gegenüber des Menschen.
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Mit Blick auf die dargestellten Zusammenhänge ist Walter Sparns Diagnose der praktisch-theologischen Aufnahme der Leidensthematik immer noch aktuell: »Während die verinnerlichte Existenzialität des Leidens die Professionalisierung des Deutens und Tröstens zum schwierigen Problem gemacht hat, ist im Blick auf die Kulturalität des Leidens die professionelle Kompetenz daher heutzutage wichtiger denn je.«1214 Von daher widmet sich der Schluss der theologischen Beschäftigung mit dem Pathischen der Frage: Welche Elemente, welche Aufgaben individueller Lebensführung, aber auch gemeinschaftlich christlich gestalteten Lebens sind für die Konturierung einer praktischen Theologie entscheidend, die im Horizont einer Professionsorientierung eine Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren fordert und fördert? In meinen Augen reicht eine Differenzierung von Lebenssinn und Lebenszweck dafür nicht aus. Wichtig bleibt als Linie, schon hier angedeutet, Trost im Leiden, Interaktion mit Leidenden von dem Kampf gegen das Leiden zu unterscheiden – ebenso ist damit auch zu fragen, inwieweit Passion und Passivität ethisch, und damit auch praktisch-theologisch zu verarbeiten sind. Damit wird auch die Doppelung der Orientierung wichtig im Auge zu behalten, die Fulbert Steffensky benennt. Denn die Würde der Untröstlichkeit zeigt die doppelte Perspektive – nicht nur : »Wie gehen wir mit dem Leiden um?«, sondern auch: »Wie geht das Leiden mit uns um?«1215 Es geht um ein theologisches Handlungsversagen eines Umgangs, in dem Menschen selbst in die Passivität kommen, weil mit ihnen umgegangen wird. Diese Implikation doppelter und dialektischer Rolle des Praktischen gilt auch für die ethische Frage nach dem Umgang und seinem Maß mit Widerfahrnissen. Wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, wird diese Frage vor dem Horizont der Theologie des 20. und 21. Jahrhunderts relevant. Im 3. Kapitel ist deutlich geworden, dass ihr Erfahrungsgrund, der in einer Kulturphänomenologie zum Religiösen beschreibbar 1213 Im Grunde betont die Rückkehr des verlorenen Sohnes dieses identitätsbildende Moment. Es bleibt die Frage nach der Bewertung des Auszugs. 1214 Sparn: Leiden IV, 704. 1215 Steffensky : Wie gehen wir mit dem Leiden um? Wie geht das Leiden mit uns um?, 11.
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ist, in der Antwortstruktur leiblich-religiöser Passivitätserfahrung liegt und auch von da her ein Anspruch auf Resilienzpotential ergeht. Im Rahmen einer lebensweltbezogenen Theologie muss an dieser Stelle resümiert werden: Welche interdisziplinär begründeten, praktisch-theologischen Konturen sind für einen verantworteten Umgang mit Vulnerabilität maßgeblich und welche Impulse für eine christliche Praxis und christliche Haltung werden durch die theologische Fallaufarbeitung an eine (praktisch-)theologische Ethik gegeben?
4.4.1 Wahrnehmen und Handeln 4.4.1.1 Praktische Theologie »an den Rändern« der Wirklichkeitserfahrung Das Gerüst einer inter-subjektiv orientierten Praktischen Theologie ist ohne die Kulminationspunkte phänomenologisch-ethischer und -ästhetischer Grundlagen nicht denkbar. Nachdem Ansätze wie die von Helmut Peukert, Dietrich Rössler und Gert Otto den Boden bereitet haben für eine Ausdifferenzierung von Religion und Gesellschaft für die Praktische Theologie, sucht die nächste und übernächste Generation wie Manfred Josuttis, Albrecht Grözinger, Wilhelm Gräb u. a. in unterschiedlichen Ausformungen Vorstöße, gelebte Religion und Subjektorientierung begreifbar zu machen. Insbesondere Henning Luther schafft, wie wir gesehen haben, mit seiner lebensweltorientierten Praktischen Theologie einen Durchbruch, der die subjektiven und öffentlichen Lebensräume von Theologie und Praxis ernst nimmt und aufeinander bezieht. Der Beginn im Alltag ermöglicht das Eingehen auf die Erfahrungen von existenziellen Grenzen, wie sie sich in den Metaphern Schmerz und Sehnsucht als mehr denn begriffliche Konstituenten zeigen. Wolf-Eckart Failing und Hans-Günter Heimbrock schlagen Ende der 1990er Jahre im Interesse, die enge Orientierung an kirchlich-institutionellem und an pastoralem Handeln aufzubrechen, einen lebensweltbezogenen Weg zur phänomenologischen Grundierung Praktischer Theologie ein. Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft ist die Linie markiert, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts als notwendig erwiesen hat, um eine am lebensweltlich-theologischen Wirklichkeitsverständnis orientierte Paradigmenentwicklung Praktischer Theologie voranzubringen. Dieser Weg folgt phänomenologisch den Spuren des Subjekts, das sich leiblich-intersubjektiv in kosmologisch einbezogenen Welträumen bewegt und das gelebter Religion an den Rändern von Institution, Alltag und geformter Religion in Transzendenzerfahrungen begegnet. In diesem Entwurf werden Leitbegriffe eingeführt im Sinne
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einer »Re-Vision«1216, deren Herkunft den Bereich der Theologie weiter überschreitet, als es klassische Handlungstheorie in ihrem Bezug auf gesellschaftlichen Bezug getan hat. Die kulturtheoretische Horizonterweiterung betrifft die Ausdehnung des Geltungsbereiches auf Gesellschaft, Alltag und Kultur, eine phänomenologische Erkenntnis von Leben in der Lebenswelt, die Vorbereitung des Praxisbegriffs durch die Erweiterung des Handelns um die Dimension der Wahrnehmung sowie eine doppelte Praxisbewegung in den Haltungen von Kritik und Imagination. Damit ist die kritische Rationalität praktisch-theologischer Handlungstheorie letztlich keinesfalls preisgegeben, aber durch pneumatologische Inspiration um ein anthropologisch-utopisches Moment erweitert. In den letzten Jahren ist dieser Entwurf im Blick auf die Vielfalt der Phänomene, die Ausgestaltung des Empiriebegriffs und das Verhältnis von gelebter Religion, Erfahrung und Theologie weiter entwickelt worden, so dass ›Praktische Theologie‹ im Lichte der Empirie auch eine ›praktische Theologie‹ wird; m. E. ist jedoch bereits mit diesem Projekt »Gelebte Religion wahrnehmen« der entscheidende Boden für einen praktisch-theologischen »Abschied vom Bescheidwissen«1217 zu bereiten, ohne die Lebensdienlichkeit und Praxistauglichkeit preiszugeben und ohne das Praxisverständnis zu ausschließlicher Deutungskultur zu verengen. In besonderer Weise sind die phänomenologischen Dimensionen Leiblichkeit, Räumlichkeit, Sprache und Intersubjektivität als Grundlagen von christlicher Praxis einbezogen.
4.4.1.2 Umgang mit dem Pathischen Auf der Basis dieser Orientierung Praktischer Theologie können wir vor der Auswertung der Schritte zur theologischen Untersuchung des Pathischen ermitteln, auf welchen Ebenen der Einfluss von deren Dimension und der Kategorien in praktisch-theologischer Hinsicht überhaupt anzusiedeln ist. Die Kategorie des Umgangs, die bei Martin Buber zu finden ist und sich in Viktor von Weizsäckers medizinischer Anthropologie im Anschluss an Goethes Umgangsbegriff1218 findet, bildet Handeln und Wahrnehmung und verdeutlicht zugleich deren Facetten. a. Umgang zwischen Handlung, Wahrnehmung und Wirkung. Die kulturelle Wahrnehmung von Wirklichkeit ist hier in das Blickfeld theologischer Handlungstheorie gerückt. Wie der FALL als exemplarischer Grenzfall von Alltag zeigt, macht sich gerade Wahrnehmung im Sinne eines Aufmerkens auf Risse, 1216 Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen, 277ff. 1217 Rumpf: Abschied vom Bescheidwissen. 1218 Vgl. Kap. 3.4.3.
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Brüche, Unterbrechungen und Widerfahrnisse an den Rändern von Wirklichkeit fest. Eine signifikante epistemologische Grundlage für praktische Theologie ist also die Aufmerksamkeitsverschiebung, die sich durch Veränderungen jedweder Art ergibt und die an die passive Seite der Wahrnehmung appelliert. Damit ist ein erkenntnistheoretisches Moment praktischer Theologie ins Auge gefasst, das im Anschluss an Schleiermacher mit Empfänglichkeit für Neues, Irritationen und die Bindung an den anderen beleuchtet wird, ohne die auch kein Selbstbewusstsein möglich ist.1219 Der Praktischen Theologie eignet daher auch auf der Ebene der Handlung ein Element der Passivität, ohne welches sie in einen blinden Aktionismus münden würde. Manfred Josuttis hat bereits strukturell erkannt, dass auch die Logik Praktischer Theologie sich keinesfalls in einer Handlungslogik erschöpft, sondern ihr mindestens eine Wirkungslogik inhärent ist. Die Logik stützt sich jedoch nicht auf ein enges Spektrum religionsphänomenologisch definierbarer Verhaltensweisen, wie es Josuttis voraussetzt1220 und auch nicht auf ein einseitiges »Handeln von Professionellen an jemandem«, sondern ihr Zusammenspiel von Handlungen und Wirkungen ergibt sich aus der Fülle und Breite zwischen alltäglichen und existenziellen Lebensweisen und der Begegnung von Mensch, Welt und Gott. b. Die gestaltoffene Seite des Umgangs. Die Rand- und Grenzerfahrungen der Praxis gelebter Religion lenken nicht nur den Blick auf den Wirklichkeitssinn, sondern evozieren auch im Sinne Henning Luthers eschatologische Fragen nach der Eröffnung eines Möglichkeitssinns.1221 So sehr die lebensweltliche Orientierung auf die empirische und deskriptive Aufnahme gelebter Erfahrung zielt, so wenig darf sie theologisch auf ihr Transformationspotential verzichten. Das Eingehen auf Krankhaftes und Fragmentarisches würde einem regressiv gewendeten Masochismus und einer Apathie frönen, wenn nicht die utopische Perspektive von Heil in heterotopischen Ausformungen von Heilung in den Blick käme. c. Handlungspraxis. Die Orientierung an der Wahrnehmung des religiösen Subjekts unter den Differenzbedingungen der Gegenwart geschieht – auch im Blick auf die Professionsbezogenheit – nicht ohne eine erneute Hinwendung zur Handlungsorientierung. Im Horizont von gelebter Religion und im Umfeld von 1219 Vgl. Schleiermacher : Der christliche Glaube. 1220 Vgl. Josuttis: Religion als Handwerk; ders.: Heiligung des Lebens. 1221 »Weder Religionspädagogik noch Praktische Theologie insgesamt können Glauben vermitteln oder Gotteserfahrungen bewerkstelligen, wohl aber können sie für das Nichtalltägliche im Alltäglichen sensibilisieren, in dem – ubi et quando – jene sich einstellen mögen. Wie sollte den, der sich vorbehaltlos im Alltag eingerichtet hat, der also gelernt hat, sich hier zu Hause zu fühlen, und der den Schmerz über das verlorene Paradies sowie die Sehnsucht nach dem Neuen Jerusalem vergessen hat – wie sollte den die Verheißung treffen und berühren können? Darum braucht der Alltag den Sonntag, um manches zu verlernen und manches zu erinnern« (Luther : Religion und Alltag, 256).
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Theologie können Profis ebenso »nicht nicht handeln«1222 wie in anderen Lebensbereichen. Es kommt jedoch darauf an, was das Grundsätzliche, Spezifische und Grenzwertige christlicher Handlungspraxis ausmacht, wenn man es unter Berücksichtigung der Ausformungen von Begrenztheit und Passivität sieht. Dies geschieht vor dem Horizont des doppelten Praxisbegriffs hier deutlicher auf der normativen Seite. d. Verantworteter Umgang. Dazu trägt bei, dass die Verortung des wahrnehmbaren Handelns in Handlungsfeldern liegt, die unsere Wahrnehmung des Handelns üblicherweise strukturieren. Wenn Praktische Theologie dem Schwachen, Weichen einen Ort gibt, stellen sich Fragen zur Konturierung und ggf. Verschiebung von Autoritäten der Handlungen in Theorie und Praxis. Was bedeutet das Verweilen und Flanieren in Schwebezuständen, Passagen und an den Rändern von Lebenswelten für theologische Felder, im Horizont von Kirche, aber auch im Schnittfeld mit anderen Systemen und Institutionen?
4.4.2 Mit-Leiden, Handeln, Hoffen Im Rahmen praktischer Theologe gibt es kein Handeln und keine Verhaltensform, die nicht in einen ethischen Zusammehang gestellt werden kann. Dennoch wird man Erziehen, Pflegen, Heilen und Teilen klassischerweise eher zu den typischen ethischen Aufgaben zählen als Träumen, Beten, Segnen. Welche Haltungen und welches Verhalten zu der Erfahrung von Leiden, Krankheit werden für professionelles Handeln im theologischen Bereich entscheidend sein? 4.4.2.1 Zur Begrenztheit christlichen Handelns Bonhoeffers Ethik beginnt mit dem Zusammenhang von Hoffen und Handeln. Dazu entwirft er vom Zusammenhang zwischen Eschatologie und Ethik her eine Ethik des Lebens, die sich nicht als angepasste Weltverantwortung und auch nicht als separatistische Weltflucht, sondern als Anleitung zur Weltveränderung verstanden wissen will.1223 Hintergrund ist sicher schon die Erkenntnis der Notation von 1943 bilanzierend nach zehn Jahren nationalsozialistischer Herrschaft: »Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen.«1224 Damit werden eindeutige Grenzen der Passivität im Hinblick auf 1222 Vgl. Watzlawick: Man kann nicht nicht kommunizieren (vgl. Watzlawick / Beavin / Jackson: Menschliche Kommunikation). 1223 Bonhoeffer : Ethik. Vgl. auch Moltmann: Ethik der Hoffnung. 1224 Bonhoeffer :Widerstand und Ergebung. 34f.
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christliches Handeln deutlich, während er zugleich vor der Hybris christlich motivierten Mitleids warnt: »Wir sind gewiß nicht Christus und nicht berufen, durch eigene Tat und eigenes Leiden die Welt zu erlösen, wie sollten uns nicht Unmögliches aufbürden und uns damit quälen, daß wir es nicht tragen können, wir sind nicht Herren, sondern Werkzeuge in der Hand des Herrn der Geschichte, wir können das Leiden anderer Menschen nur in begrenztem Maße wirklich mitleiden.«1225
Bonhoeffer legt weder eine Prinzipien- oder gar Tugendethik im Sinne Kants zugrunde noch geht er utilitaristisch auf Gemeinwohl in quantitativem Sinne besseren Lebens ein. Sein Grundmotiv ist das menschliche Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi.1226 Dieses Antworten, das eine Konkretion von Verantwortung ist, geschieht als je ethische Entscheidung in lebenswirklichen und lebensweltlichen Grenzsituatiuonen. Die ethische Antwort wird darin zu »der konkreten Situation angemessenen[n] Anwendung auf die geschenkte Freiheit.«1227 Entscheidend ist eben, dass diese Antworten nicht prinzipiell, sondern von der geschenkten Überwindung von Gut und Böse in der Versöhnung leben. Herausgefordert wird sie durch konkrete lebenswirkliche Situationen, in denen es gilt das Gegebene und Gebotene zu erfassen. Erst hier kommt eine utilitaristische Nuance in das Ethos: Das relativ Bessere ist dem relativ Schlechteren vorzuziehen – ein Kontextargument, was nicht Absolutes situations- und kontextlos betrachtet, sondern diese Faktoren einbezieht. »Das Verantwortliche ist an den konkreten Nächsten in seiner konkreten Wirklichkeit gewiesen. Sein Verhalten liegt nicht von vornherein und ein für allemal fest, sondern es entsteht mit der gegebenen Situation. Es hat kein ein für allemal gültiges Prinzip zur Verfügung, das er fanatisch gegen jeden Widerstand der Wirklichkeit durchzuführen hätte, sondern er sucht das in der gegebenen Situation Notwendige, ›Gebotene‹ zu erfassen und zu tun. […] Der Verantwortliche hat der Wirklichkeit nicht ein fremdes Gesetz aufzuzwingen, vielmehr ist das Handeln des Verantwortlichen im echten Sinne, wirklichkeitsgemäß«.1228
1225 Ebd. Vgl. die Einbettung in Bonhoeffers intersubjektive Beziehungen seiner frühen Ekklesiologie, die bereits in seiner Dissertation »Sanctorum communio« angelegt wird. Ekklesiologisch wird die Unterscheidung zwischen realisierter und aktualisierter Kirche relevant (Vgl. Welker : Theologische Profile, 94ff), die realisierte Kirche ist die in Christus, dem Auferstandenen wirksame Kirche; die aktualisierte bedarf noch der Aktualisierung durch den Geist – der zeitliche Bau der Kirche als Gemeinde Gottes im Geist. Hier wird das Spannungsverhältnis besonders deutlich – sieht Bonhoeffer an dieser Stelle Kirche realisiert oder zu aktualisieren? 1226 Vgl. Johannsen: Was heißt Leben schützen?, 104f. 1227 A. a. O., 105. 1228 Bonhoeffer : Ethik, 260.
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Wie aber findet man heraus, was wirklichkeitsgemäß ist? Bonhoeffer legt dar, dass sich die Wirklichkeit Gottes nicht anders erschließt »als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor.«1229 Demzufolge könnte man meinen, in dieser Wirklichkeit sei das menschliche Handeln gesichert und geschehe gleichsam theonom wie autonom wie sozionom. Jedoch gibt die Geschöpflichkeit die Begrenzung wirklichkeitsgemäßen Handelns mit: »Wir schaffen uns die Bedingungen unseres Handelns nicht selbst, sondern wir finden uns in ihnen bereits vor. Wir stehen handelnd nach vorwärts wie nach rückwärts in bestimmten Grenzen, die nicht übersprungen werden können. Unsere Verantwortung ist nicht eine unendliche, sondern eine begrenzte. Innerhalb dieser Grenzen freilich umfaßt sie das Ganze der Wirklichkeit; sie fragt nicht nur nach dem guten Willen, sondern auch nach dem guten Gelingen des Handelns, nicht nur nach dem Motiv, sondern auch nach dem Gegenstand, sie sucht das gegebene Wirklichkeitsganze in seinem Ursprung, Wesen und Ziel zu erkennen, sie sieht es unter dem göttlichen Ja und Nein. Weil es nicht um die Durchführung irgendeines grenzenlosen Prinzips geht, darum muß in der gegebenen Situation beobachtet, abgewogen, gewertet, entschieden werden, alles in der Begrenzung menschlicher Erkenntnis überhaupt. Es muß der Blick in die nächste Zukunft gewagt, es müssen die Folgen des Handelns ernstlich bedacht werden, ebenso wie eine Prüfung der eigenen Motive, des eigenen Herzens versucht werden muß. Nicht die Welt aus den Angeln zu heben, sondern an gegebenem Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun, kann die Aufgabe sein. […] Verantwortliches Handeln darf nicht blind sein wollen. Das alles muß so sein, weil Gott in Christus Mensch wurde, weil er zu Menschen Ja sagte und nur wir als Menschen, in menschlicher Begrenztheit des Urteils, der Erkenntnis vor Gott und den Nächsten leben und handeln dürfen und sollen. […]
Mit dieser be- und stets neu zu findenden Umgrenzung wird auch ein Kriterium gegen blinde Ideologiebildung relevant, das mit den Grenzen der Einschätzung rechnet: »Während alles ideologische Handeln seine Rechtfertigung immer schon in seinem Prinzip bei sich selbst hat, verzichtet verantwortliches Handeln auf das Wissen um seine letzte Gerechtigkeit. […] Das letzte Nichtwissen des eigenen Guten und Bösen und damit das Angewiesensein auf Gnade gehört wesentlich zum verantwortlichen geschichtlichen Handeln.«1230
Bonhoeffer bewegt sich mit der spannungsvollen Dialektik von Handeln und Zurückhaltung gegenüber dem Leiden nahe am Sachverhalt, dass beide selbst eine Quelle des Leidens sein können.1231 Damit ergeben sich erneut Fragen nach 1229 A. a. O., 40. 1230 A. a. O., 267f. 1231 Vgl. Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 50.
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der »faktische[n] Untrennbarkeit von veränderbarem und unveränderlichem Leiden«1232, die zu einer Vermengung von Solidarität, Mit-Sein und Mit-Leiden führen.1233 Für eine Ethik auf »theologischen Füßen« ist deutlich: Geboten ist seelsorgerlich die Achtsamkeit vor der Begrenztheit der Heilkunst. »Wie barmherzig oder unbarmherzig therapeutische Konzepte sind, bemißt sich nicht zuletzt am Umgang mit dem Unheilbaren. Die Solidarität mit den Unheilbaren und Sterbenden führt auch die Gesunden ins Leiden.«1234 Hier ist nicht nur Zustimmung zum Ganzen, sondern zugleich Protest gegen Leiden und Tod gefordert.1235 Damit ist auch die Grenze der Passivität erreicht. Körtner nennt das Modell des weinenden Lazarus, in dem sich Protest gegen den Tod und seinen Vorboten, der Krankheit, mischt. »Zugleich verweist sie auf jene höhere Vollendung unserer fragmentarischen Existenz, welche von menschlicher Heilkunst keinesfalls zu leisten ist, für welche diese aber zum Zeichen werden kann. Indem jede Heilung fragmentarisch bleibt, weist sie über sich hinaus.«1236 4.4.2.2 Hoffnung Eine Ethik als Ermutigung und Anleitung zum »transformierenden Handeln«, wie sie Jürgen Moltmann entwirft1237, entspringt sicherlich der Vernunft eines »Veränderungswissens«.1238 Vor dem eschatologischen Horizont des Eintretens des Reiches Gottes nimmt sie Elemente lutherischer, reformierter und täuferischer Ethik in transformierendem Sinne auf und stellt das Weltethos auf befreiungstheologisch-trinitarische Füße. »Sie unterscheidet sich von der lutherischen Ethik unter apokalyptischem Vorzeichen durch die Erkennbarkeit des christlichen Lebens und Handelns, nimmt aber das Prinzip Weltverantwortung auf. Sie unterscheidet sich von der reformierten Ethik unter christokratischem Vorzeichen durch ihre transformierenden Antizipationen im 1232 Dantine: Hoffen, Handeln, Leiden, 247. 1233 Ihr Ursprung liegt in der Legitimierung des Protestes gegen Leiden in allen Erscheinungsformen. Die Grenzerfahrungen, die Fragen zwischen Theodizee und Algodizee nötigen dazu, diese faktisch handlungstheoretische Untrennbarkeit existenzlogisch dennoch zu differenzieren. Insofern spricht Wilhelm Dantines Trias Hoffen, Handeln und Leiden (entgegen seiner eigenen Conclusio) Bände. 1234 Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 73. 1235 Wenn sich für Gunda Schneider-Flume eine Perspektive christlicher Praxis des Erbarmens ergibt, dann ist damit eine Handlungsperspektive eingestellt, die im Sinne der Barmherzigkeit handelt – es droht aber zu verkennen, dass auch dieses Erbarmenshandeln selbst Grenzen hat (vgl. Schneider-Flume: Leben ist kostbar, 108). 1236 Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 73. 1237 Auch Dalferths Radikale Theologie legt das Augenmerk auf das Mögliche, den Potentialis der Hoffnung – dabei ist aufzupassen, dass die Gegenwartswahrnehmung nicht verblasst. 1238 Moltmannn: Ethik der Hoffnung, 59.
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Prozess des Kommens Christi, nimmt aber das Prinzip Widerstand auf. Sie unterscheidet sich von der täuferischen Ethik und ihrem Quietismus durch die aktive Einmischung in die sozialen und politischen Prozesse der Öffentlichkeit, nimmt aber das Prinzip alternatives Leben auf.1239
In dieser globalen und doch konkreten Ethik ist es im Blick auf christliche Praxis im Horizont der Lebenswelt zunächst einmal eine wichtige Aufgabe, in Relation zu den Fragen nach medizinischem, ökologischem und sozialgerechtem bzw. Friedenshandeln auch Bildungshandeln als eine Aufgabe und einen Bereich zu verorten, der kommunikatives Gemeinschaftsleben anvisiert. Mit dem Modus der Hoffnung sind bei Moltmann diejenigen Elemente im Handeln benennbar, die sich nicht transformieren lassen, diejenigen menschlichen Seiten zu benennen, in denen Wandlung, Entwicklung und Bildung passiv verläuft und mit denen man daher, wie gerade Moltmann propagiert, auf die Vollendung der Verheißung setzt, die sich auch im Kommen-lassen ausdrückt. In ihnen spiegelt sich über das Handeln – was bei Moltmann stets ein befreiungstheologisch inspiriertes ist und ökumenische und ökologische Umspannung sieht – was sich anders als bei Giorgio Agambens Auslegung von negativer Potentialität1240 mit den Elementen einer Ökonomie der Zurückhaltung ergeben hat. Sind Abstinenz, Diskretion, Reserviertheit und Beschränkung Haltungsspielräume zwischen Askese und Restriktion1241, so wird der theologische Modus der Hoffnung trotzdem ein Potential evozieren, das mit Hingabe beschreibbar ist, ohne die auch eine in die Zukunft gerichtete Erwartungshaltung nicht auskommt und von der Impulse für ein heilendes Befreiungshandeln ausgehen.
4.4.2.3 Solidarität Die Anerkennung1242 des Leidens Anderer, an dem Menschen als Mit-Leidende am Leiden anderer partizipieren, führt zum Anspruch des Anderen, Nächsten. Pathische Erfahrung ist der Ort, an dem Praktische Theologie auf den Anspruch dieser (auch fremden) Wirklichkeit auch im Sinne des Mitgehens und Mitleidens antwortet. Praktische Theologie geht auch von der Perspektive aus: Der autonome Mensch nimmt an Gottes Leiden in der Welt ebenso teil wie Gott an seinem Leiden. Leiderfahrung in einer christlichen Perspektive ist nicht nur von Deutung, sondern auch von Erfahrung gegründet. Diese kann letztlich weder nur den »Einsatz des eigenen Lebens«1243 noch ausschließlich theoretische Antworten 1239 1240 1241 1242 1243
A. a. O., 60. Vgl. Kap. 3.4.3.1. Vgl. Kap. 3.4.3. Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 50.
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liefern, sondern darf die Einbindung derselben in lebensweltliche Erfahrungszusammenhänge nicht verstellen. Das Spannungsfeld zwischen Solidarität und Protest liegt dort, wo Menschen zusammenleben und füreinander Sorge tragen, besonders auf der Hand. In verschiedenen Trennungen von Leib, Seele, Geist bzw. von partikularer, abgespaltener Krankheit und technizistischem Heilungswahn liegen Wege und Risse der Unterscheidung. Es ist wichtig, Krankheit nicht als Schuldzuweisung oder Strafe zu verbrämen, jedoch genauso notwendig, nicht einem ungeteilten Ganzheitsmythos zu verfallen, der auch in vermeidbarer und heilbarer Krankheit aus der 1. Person-Perspektive Sinn auflädt. Dabei ist bedeutsam, dass der religionsgeschichtlich ältere Tun-Ergehen-Zusammenhang durchbrochen wird, was auch und gerade in neutestamentlichen Krankenheilungen und in Jesu Tod am Kreuz sichtbar wird. Wie in der Unterscheidung zwischen ewigem Heil und irdischem Wohl ist zwischen fragmentarischer Gegenwart und zukünftigem Heil zu unterscheiden. Realisierung von Hoffnung geschieht nicht in körperlicher Unversehrtheit, sondern in der Teilhabe an göttlicher Liebe, was Gegensätzlichkeit relativiert. Christologisch ist »das Christusgeschehen […] folglich nicht das Ende aller Krankheiten und Behinderungen, sondern das Ende von Krankheit und Behinderung als Unwert.«1244 Daher meint Gesundheit »vielmehr die Fähigkeit zum Leben, welche die Fähigkeit zum Leiden einschließt.«1245 Ein solches Verständnis setzt eine Ethik der Solidarität und Barmherzigkeit frei. Das Bestreiten des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist auch eine Kritik an der Annahme von monokausalen Schuldzuschreibungen als Ursachen von Krankheit. Mensch ist eine spannungsvolle Einheit. Gefordert ist also ein »mehrdimensonales Verständnis von Heilkunst und Heilung« – wie im Sinne integrativer Medizin, so auch ethisch .1246 In diesem Sinne ist Heil keine sinnvolle therapeutische Zielsetzung; Heilkunst kann nicht zur Heilslehre erhoben werden. Mit Heinrich Schipperges und anderen wird darum Therapie nirgends zur Elimination von Krankheit und effektivierem Sanieren, sondern sie erweist sich als Handlung: »Wie das Leben selbst, so kann auch jedes Bemühen um Heilung nur fragmentarisch sein in Barmherzigkeit« – daher ist Vollkommenheitsutopie eher unbarmherzig.1247 Eine solche Form der Barmherzigkeit geht professionell nur im Modus der Solidarität, wenn sie nicht ein übermenschliches Machtgefälle aufbauen will.
1244 1245 1246 1247
Körtner : Wie lange noch, wie lange?, 68. Ebd. Ebd., 70. Körtner : Unverfügbarkeit des Lebens, 52.
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4.4.3 Anerkennen und (Ver-)Antworten Auf welche metaethische Grundlage stützt sich professionelles Handeln im Angesicht von Leiden?
4.4.3.1 Fundamentalethische Responsivität Als fundamentalethische Grundlagen von Professionen, die sich in Theologie, aber auch im Umfeld von Humanwissenschaft bewegt, ist eine Verzahnung von theologischen und medizinethischen Grundsätzen hilfreich. Peter Dabrock befasst sich fundamentaltheologisch mit der responsiven Rationalität, die dazu beiträgt, Glaube und Vernunft aufeinander zu beziehen und Glaubensverantwortung differenziell wahrzunehmen. Fundamentaltheologie dient hier intrinsezistisch zur Etablierung von Überkonfessionalität und hat ihren systematischen Platz in einer »Verantwortung auf der Schwelle von theologischen und nichttheologischen Disziplinen« unter Anbindung der spezifischen Ortsangabe, also auch Perspektivität; Dabrock rekonstruiert die Problemlage evangelischer Fundamentaltheologie und setzt auf ein philosophisches Konzept, welches sich der Verantwortung auf der Schwelle von Eigenem und Fremdem widmet.1248 Damit ist der Anschluss an die Waldenfelssche (Hyper-)Phänomenologie gegeben, dies jedoch vor dessen Perspektivenwechsel von der Responsivität auf das Pathische. D. h. Dabrock spielt auf der Klaviatur der xenologischen Differenzen und Einbettungen in das Responsivitätskonzept. Die Einsicht in Zwischensphären, in Inter- und Transferenzen sprachlicher Strukturen und in die Unmöglichkeit der simplen Rückführung in transzendentale Subjektivität, das Aufdecken von komplexen Verflechtungsrelationen, in denen sich zugleich ein »Man kann nicht nicht antworten« bewegt, dynamisieren den Verantwortungsbegriff. Und doch hat das Verständnis responsiver Verantwortung an den Grenzen der Subjektivität und dem Möglichkeiten des Gesprächs auch in der Verabschiedung von Identitätskonzepten noch blinde Flecke, denn es zählt zwar »nicht, was er an Identität mitbringt, sondern wie er als Respondent die Quellen seines Selbst nutzt, so dass er auf den vorgängigen Anspruch wahrhaftig antwortet.«1249 Anders gesagt: Die responsive Differenz zwischen Was und Worauf ahnt schon etwas von der Erfahrung, konzentriert sich aber weitgehend auf das zur Verfügung stehende Antwortregister, das theologisch letztlich mit Karl Barth gezogen wird. Die Differenz wird konstatiert, ohne deren buchstäblicher (nach dem späteren Waldenfels im Sinne pathischer Verant1248 Dabrock: Antwortender Glaube und Vernunft, 17. 1249 A. a. O., 295.
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wortung auch zeitlicher) Vor-Läufigkeit nachzukommen und diese bewusst zu halten.1250 4.4.3.2 Den Anderen wahrnehmen Vermag Dabrocks Fundamentaltheologie noch nicht darauf einzugehen, was es bedeutet, dass die Verantwortungsschwelle einen Riss, eine Diastase bedeutet, so leistet dies sein fundamentalethischer Entwurf: Dieser steht in der Tradition einer Verantwortungsethik, die sich insbesondere mit Bonhoeffer ins Gespräch begibt, eine auf Konturen einer Theologie des Wirklichen basierende responsive Ethik. Fundamental ist diese ethische Position daher, weil sie sich entsprechend der heutigen Situation ethischen Nachdenkens nach Habermas’ Wende zur Anerkennung der Rolle von Religion für die Zivilgesellschaft und nach Nineeleven zwischen Theologie und den fremden Erwartungen an sie bewegt. Dabrock liest Bonhoeffer durch die intentio operis hindurch phänomenologisch mit Waldenfels, wobei er Moltmanns Hinweis auf Bonhoeffers Verankerung seiner Ethik in der (frühen) Ekklesiologie teilt. Er begreift Bonhoeffers Ethik als konkrete, responsive Ethik, die sich der grundlegenden Aufgabe stellt, dem Geheimnis der Wirklichkeit zu antworten. Dabei betitelt er die Unterscheidung von Weltwirklichkeit und Christuswirklichkeit im Rahmen von responsiver Differenz, unter welcher phänomenologisch Wirklichkeitswahrnehmung eingeht. Mit ihr ergibt sich die dialektisch anmutende wechselseitige Herausforderung von »Gotteswirklichkeit als Weltwirklichkeit« und »Weltwirklichkeit als Gottes Wirklichkeit«.1251 Ausgehend von Waldenfels’ Wirklichkeitskonstruktion wird bei Bonhoeffer Verantwortung zu der »zusammengefassten[n] Ganzheit und Einheit der Antwort auf die uns in Jesus Christus gegebenen Wirklichkeit […] im Unterschied zu den Teilantworten, die wir zum Beispiel aus der Erwägung der Nützlichkeit oder aus bestimmten Prinzipien heraus geben können.«1252 Dabrock rekonstruiert und differenziert damit das »Antworten auf den entscheidenden Anspruch Jesu Christi in unseren eigenen, lebensweltlichen Wirklichkeitskonstitutionen«.1253 Wirklichkeit lässt sich also in signifikanten Differenzen erschließen – solche sind auch Weltwirklichkeit und Christuswirklichkeit; letztere erweist sich als für Gläubige unabwendbarer Anspruch, die Weltwirklichkeit im Licht der Versöhnung und unter dem letzten Wort der Rechtfertigung zu sehen. Damit ist ein 1250 Dem trägt auch hinzu, dass es sich wissenschaftslogisch um ein Modell von Explikation und Applikation handelt. Dies müsste mit dem neueren Waldenfels eigentlich anders laufen. 1251 Nach Heinz-Eduard Tödt; Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 133. 1252 Bonhoeffer : Ethik, 254. Vgl. Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 137. 1253 A. a. O., 138.
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asymmetrisches Geltungsgefälle von der Christuswirklichkeit zur Weltwirklichkeit gesetzt. Im Bezug auf den Geltungsanspruch liegt ein Grund theologischer Ethik in der Wirklichkeitsbeobachtung in der Unterscheidungskompetenz, da sie sich im lebensweltlichen Feld von Religion entwickeln lässt. Davon ausgehend ist Ethik mit Bonhoeffer »Wegbereitung als Gestaltung«. Diese wiederum geschieht nun aus der Passivität. Da Bonhoeffer mit Martin Luther von einer anthropologischen Urpassivität ausgeht, die aller Aktivität und Passivität vorgeschaltet ist, meint eine Ethik im Sinne der Gestaltung das »Hineingezogenwerden in die Gestalt Jesu Christi, als Gleichgestaltung mit der einzigen Gestalt des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen«.1254 Damit wird auch der Riss der Parallelisierung deutlich: Man muss sich hüten, Bonhoeffers Gedanken zur Stellvertretung als imitatio Christi zu lesen. Dies ist eher im Sinne einer »dankbare[n] Anerkennung der antwortenden Gestaltung gemeint, dass sie – auch in Kirche – sozial verfasst ist und eben diese responsive und ›kommunikative Freiheit‹ (gegenüber der Welt) zu bezeugen sucht.«1255 In Abgrenzung von Materialethik und von Heroentum macht Dabrock die »grundlegende Deutung der Gestaltung als responsiver Identität« im Sinne einer Vertiefung von Bonhoeffers Gedanken der Verantwortung geltend.1256 Seine Lesart folgt damit dem Dekonstruktivismus von Derrida und L8vinas. In der Folge ordnet er Bonhoeffers Situationsethik einen essenziellen personalen Faktor zu: »Indem ein Mensch Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt – und nur indem er das tut, steht er in der Wirklichkeit – entsteht die echte ethische Situation.«1257 Der konkrete Andere wird zum Maßstab der Verantwortung erklärt. Nicht ohne Grund schließt Dabrock daraus: »Bonhoeffers Verständnis der Verantwortung als Antworten auf die Christuswirklichkeit verlangt eine rückhaltlose Ausrichtung moralischer Prinzipien an einer an der Not des Nächsten ausgerichteten Billigkeit«1258, und das ist mehr und anders als Gesinnungsethik; in der Responsivität ergibt sich Differenzsensibilität für das Überschüssige. Waldenfels formuliert dies so: »Verantwortung ist nicht die Fähigkeit, bei sich selbst anzufangen, sondern die Unausweichlichkeit, mit der wir beim Anderen anfangen. Die Ekstase, die immer noch eine zentrifugale Bedeutung andeutet, schlägt um in eine Exposition: ich bin draußen, au dehors«.1259 Damit bewegt sich christliche Ethik zwischen Situationsethik und Prinzipienethik in der responsiven Differenz der Christuswirklichkeit und im Bezug zu den Anderen – als konkrete, integrative Ethik, die um ihre eigene 1254 1255 1256 1257 1258 1259
Bonhoeffer : Ethik, 80; vgl. Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 146. A. a. O., 147; siehe Bonhoeffer : Ethik, 84.409. Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 147. Bonhoeffer : Ethik, 220; vgl. Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 154. Ebd., 155. Waldenfels: Deutsch-französische Gedankengänge, 335.
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Begrenztheit weiß – mit Green: »mit-leben zu lernen«.1260 Christuswirklichkeit ist der letzte Anspruch für Christen, der auch den Blick für Risse und Begrenztheiten aller moralischen Ansprüche setzt – auch in säkularen Sprachformen mit Gott ohne Gott.1261 Dabrock findet somit einen für eine Praxistheorie tauglichen Weg, ohne einer normativ schwachen Situationsethik nachzugeben, aber auch ohne eine deduktive Prinzipienethik vorauszusetzen.1262 Hier zeigt sich die Anschlussfähigkeit an das metaethische Konzept der Gegenseitigkeit von Viktor von Weizsäcker, das einer medizinischen Fundamentalethik dient. Deren Logik folgt, wie in Kap. 3 erläutert, nicht Normen eines moralischen oder gar ökonomischen Mutualismus, sondern bewegt sich vielmehr in der dynamischen Ordnung einer Beziehung im Interesse des Gestaltwandels. Die Autorität des Leidenden bekommt damit eine intersubjektive Komponente; die Relationierung übt in der Medizin Kritik am Paternalismus und entsprechend in der Theologie an der Grandiosität des Professionellen. Gegenseitigkeit veranlasst Schritte zur Anerkennung der Relation von professionell Handelndem und dem Gegenüber, das nicht vereinnahmt wird, sondern in der je eigenen Geschöpflichkeit und im Anderssein des Anderen anerkannt bleibt.1263 Im Blick auf professionsethische Fragen zur Gestaltung der Identität der Anderen wird damit die Uneinholbarkeit verdeutlicht, die selbst ein Anlass für das Leiden der professionell Handelnden sein kann, wenn es nicht zu Gelingen, Heilung, Vollendung der professionell angestoßenen Prozesse kommt und auch diese sichtlich fragmentarisch bleiben. Responsive Ethik im Sinne einer situativen1264, nicht-symmetrischen, dynamischen Gegenseitigkeit achtet die Gegebenheit des Pathischen im Vertrauen auf die Ressourcen des individuellen, zumindest aber umgreifenden Lebensprozesses.1265
4.4.4 Sensibilität und Achtsamkeit Sensibilität und Achtsamkeit bilden die Basis für eine verantwortbare Haltung gegenüber pathischen Erfahrungen der Anderen.
1260 1261 1262 1263 1264
Green: Ethical theology and contextual ethics, 255–269. Vgl. Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 534. Vgl Dabrock: Wirklichkeit verantworten, 156. Vgl. Achilles: Ethos und Pathos, 123. Zum Zusammenhang zwischen Situationsethik und Verantwortungsethik bei Bonhoeffer siehe Johannsen: Verantwortliches Handeln in konkreter Zeit. 1265 In Schleiermachers Glaubenslehre wird deutlich, dass Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit zusammengehören (vgl. Mädler : Sinn und Geschmack für das Unendliche, 20).
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4.4.4.1 Seelsorgerliche Sensibilität für die Kommunikation des Unsagbaren Der praktisch-theologische Fluchtpunkt geht seit Henning Luther von einem Menschenbild und Bildungsverständnis aus, das nicht mit der »Abschließbarkeit«1266 der Identität rechnet; damit verabschiedet sich auch ein theologisches Verständnis von Identität davon, das Ziel einer zu einem bestimmten Lebensstadium erreichten oder erreichbaren Aufgabe zu werden. Kann Identität also prinzipiell nur kritische Funktion und damit auch eine Differenzierungsaufgabe besitzen, in der das zu sich selbst in kritische Distanz Treten maßgeblich wird? Die Aufgabe lautet, die religiöse Dimension im Lebens- und Bildungsprozess zu gestalten. Henning Luther legt nahe, die Erfahrung der Fragmentarität in einzelnen biografischen Prozessen offenzulegen, sensibel zu machen und durch das Einbringen der christlichen Überlieferung interpretationsfähig zu halten. In der Not der Fragmentarität von Lebensprozessen liegt der Anspruch und das Potential, eine andere, zuweilen »schräge« Aufmerksamkeit auf Verstummtes, Verdrängtes, Abweichendes und Randständiges zu werfen. »Wenn so Schmerz und Sehnsucht des einzelnen zum Vorschein kommen, ist dies [Praktische Theologie] der Ort, an dem Theologie sich zur Sprache bringen, also praktisch werden kann. Eine Theologie ohne Tränen der Trauer und ohne Seufzer der Hoffnung, eine Theologie, die den Menschen in seinem Schmerz und in seiner Sehnsucht verloren hat, hat auch das, was sie für ihr eigentliches Thema halten mag, Gott, verloren.«1267
Henning Luther hat gezeigt, dass genau aus diesem Grund Chancen und Grenzen von Sprache deutlich werden. Failing und Heimbrock haben explizit für eine leibsubjektive Theologie sensibilisiert, deren Sinnlichkeit nicht von Sinnfindung ablösbar ist. Theologie braucht mehr als eine Begriffssprache, vielmehr Handwerkszeug und Kunst für Wege der Artikulation von Bruchlinien und pathischen Erfahrungen – gerade da, wo die Kraft der Verbalsprache versagt. Lyrik, Montage, Collage sind Stilformen, um Brüche auch anderen deutlich zu machen. Diese Sprache muss räumliche Heterotopien ebenso wie leiblichen Schmerz aufgreifen. Ebenso wichtig ist es für die praktisch-theologische Praxis, angesichts der intersubjektiven Verfasstheit Wege der Partizipation von Lebenswirklichkeit und Gottes- und Welterfahrung zwischen Lebenswelt und theologischer Reflexion stets und immer neu aufeinander zu beziehen, damit die Gefahr der Vereinnahmung und damit der erneuten Verdrängung des Leidens, die durch sprachliche Abstraktion entsteht, gebannt werden kann. Dazu sind die heterotopen Sprachräume, in denen sich die leidvolle Seite des Pathischen ar-
1266 Luther : Religion und Alltag, 177. 1267 A. a. O., 252.
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tikuliert, aufzugreifen, ohne jedoch die Tür des Verstehens aus der Normalität des Alltags heraus zu verschließen. Für das christliche Handeln wird deutlich: Sprache bildet einen entscheidenden Zugang zum Anderen. Darum gilt es die Rolle der Sprache in der Kommunikation für die Beschreibung von Praxis auszuloten – wie die Artikulation von Ohnmachtserfahrung nicht nur sprach- sondern auch hörfähig wird. Zentrale Aufmerksamkeit gebührt Sprache im umfassenden Sinn als Medium gelebter Intersubjektivität, die nicht nur Interaktion ist, sondern gleichsam eine »Interpassion« einschließt. In der Medizinethik tritt dieses Verständnis von Personalität im Rahmen von Narrativität in Kraft: Ärzte erzählen von einzelnen Fällen und entnehmen aus Krankengeschichte und Gesprächen Erkenntnisse und Maßgaben für ärztliches Handeln. Es wird deutlich, dass in solchem Handeln im praktisch-theologischen Horizont die Story des Lebens und Gottes Story in ihrer Relationierung klar werden. Den Zusammenhang von Lebensgeschichte und Heilsgeschichte zu verdeutlichen, ist eine praktisch-theologische Aufgabe an Sprach- und Stilfindung. Das Teilen von Sprachräumen und -formen ist eine Grundlage dabei. Wenn im Feld theologischer Praxis religiöse Erfahrung artikuliert wird, geht es um narrative Identität im Horizont des Unsagbaren: Die »erzählte Welt des Krankseins« lässt nur an den Rändern das verborgene Heilshandeln Gottes hineindringen, da dieses letztlich oft erst in der Nachzeitigkeit wahrnehmbar ist. Seelsorgerliches Handeln braucht dabei besondere Sprach-Räume, um heilvolle Öffnungen zwischen Realitäts- und Möglichkeitssinn aufzutun.1268 Dabei gilt es, zum einen auf Formeln und Formen religiöser Tradition und Normierung zurückzugreifen, diese werden aber je individuell-situativ transformiert und geben den zerbrochenen Erzählungen Worte; zugleich sind heilvolle Imaginationen als Ressource dafür hilfreich, Resilienz und Kreativität zu fördern.1269 Zu diesen Räumen gehört auch der des Schweigens und Nicht-Sagens – eines Schweigens, das nicht Verstummen und Verstocken festigt, sondern einen Freiraum bieten kann, den allerleisesten Klängen der Stimmen Verstummter zu folgen und damit Wege aus der Verdrängung zu finden. 4.4.4.2 Achtsames Handeln Menschen haben es in Feldern, in denen man mit gelebter Religion und Theologie zu tun hat und die wie in unserem Fall religiöse Bildung ermöglichen und fördern, mit situierten kulturellen Widerfahrnissen und Erfahrungen der Unverfügbarkeit und Fragmentarität zu tun. Diese pathische Dimension des Lebens 1268 Vgl. Bieler, Verletzliches Leben, 183–227. 1269 Vgl. a. a. O., 224–227.
Leben wahrnehmen. Anstöße zu einer praktisch-theologischen Ethik
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wird insbesondere an Leidenserfahrungen (z. B. schwere Krankheit) deutlich. Die Achtsamkeit der Balance von Handeln zwischen Aktion und Passion findet Anklänge in Knud Eiler Løgstrups xenologischer Ethik der Zurückhaltung.1270 Er geht von einer einseitigen, unerfüllbaren Forderung aus, die an den Menschen ergeht, weil das Leben geschenkt ist. In dieser Forderung ist das widerzuerkennen, was L8vinas unter dem Anspruch versteht – eine Asymmetrie, die Veränderungen der Haltung nach sich zieht. Nach Løgstrup ergibt sich aus der ethischen Forderung, dass Liebe die Behütung des Lebens des anderen ist, eine Haltung der Zurückhaltung1271: Die Zone des Respekts, die Løgstrup in das Leben einzieht, achtet Unantastbarkeit als Maxime und zollt damit Respekt vor der Unantastbarkeit des Anderen. 4.4.4.3 Theologisch-responsive Kompetenz Die Aktualität des Kompetenzbegriffs für theologische Professionalität ist im Eingangskapitel beschrieben worden. Manfred Josuttis ist bereits Ende der 1970er Jahre der Frage nachgegangen, inwieweit der Kompetenzbegriff gattungs- oder berufsspezifisch ist.1272 Er differenziert anhand der sprachlichen Kontexte deklaratorische, deskriptive und postulatorische Verwendungen des Kompetenzbegriffs. Josuttis geht einen sozialphänomenologischen Weg der »Dimensionierung«, der sich anders als die Gesichtspunkte der Relevanz, Leistung, Effizienz, stärker auf die »innersystematische Struktur« bezieht.1273 Ausgehend von einer empirischen Vorbereitungs- (also Ausbildungs)situation ermittelt Josuttis personale, sprachliche und gesellschaftliche Dimensionen homiletischer Kompetenz: So werden Kenntnisse, Emotionen, Einstellungen herangezogen. Die Problematisierung des Systematisierungsversuchs hinsichtlich der Illusion von Vollständigkeit wird dort virulent, wo man fragt, wie sich Religiosität dazu verhält. Religiosität ist hier ein multidimensionales Gebilde, das Kenntnisse, Gefühle, Einstellungen und Verhalten im Blick auf religiöse Erfahrungen und religiöse Praxis hat. Damit steht »homiletische Kompetenz zur Religiosität in einem doppelten Verhältnis«1274 : Religiosität ist einerseits Voraussetzung des Predigers im Lebensbezug, andererseits ist Predigen selbst ein religiöser Akt. Schaut man auf den Prozess, so verhalten sich Wahrnehmung und Interpretation von Text und Gemeinde zur Produktion von Predigt wie Hermeneutik und Rhetorik. Kompetente Predigtproduktion unterliegt dann institutionsbezogenen, theo1270 1271 1272 1273 1274
Vgl. Løgstrup: Die ethische Forderung. A. a. O., 162. Vgl. Josuttis: Dimensionen homiletischer Kompetenz. A. a. O., 51. A. a. O., 58.
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Theologisch-ethische Reflexionen
riebezogenen, interaktionsbezogenen, personbezogenen und regelbezogenen Kriterien. Ausbildung sieht Josuttis in der Pflege der personalen Fähigkeiten. Damit ist homiletische Kompetenz weitgehend konform mit den Zielen, die sich aus der Habermas’schen kommunikativen Kompetenz der Gattung ergibt. Problematisch ist damit nur der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation als Ereignis von Freiheit, Wahrheit, Verstehen und Identität, die »auch durch methodische Perfektion nicht herstellbar« ist.1275 Für Josuttis ist es der christliche Glaube, der es möglich macht, die Aporien des menschlichen Lebensvollzuges noch einmal zu transzendieren. »In der Predigt soll, so entspricht es dem menschlichen Transzendenzbedürfnis, das schlechthin Unsagbare gesagt, das schlechthin Unverständliche verständlich werden. Freiheit, Wahrheit, Verstehen, Identität sollen Ereignis werden im Wort durch die Kraft des Geistes.«1276 Gerade dieser Mehrwert des Nicht-Erkennbaren gibt zu bedenken, das Predigen nie sein zu lassen. Aus den homiletisch interessierten Erkundungen ist generell zu entnehmen, dass eine Differenzierung von Lebenssinn und Lebenszweck für eine Kompetenz, dem Leben – dem fragilen Leben – zu begegnen, nicht ausreicht. Wichtig bleibt als Linie, schon hier angedeutet, Trost im Leiden, Interaktion mit Leidenden von dem Kampf gegen das Leiden zu unterscheiden. Passion und Passivität sind auch in ethischer Hinsicht, und damit auch praktisch-theologisch zu verarbeiten. Eine theologische Kompetenz benötigt die Fähigkeiten des Antwortens auf die Erfahrung der Untröstlichkeit. Mit den Gewährsleuten für eine nachmoderne Theologie und theologische Anthropologie in interdisziplinärer Ausrichtung auf den Fall zu schauen, eröffnet einen praktisch-theologischen Weg, nicht nur ungebrochene Identitäten in den Blick zu nehmen, welche die Aufmerksamkeit auf Fragmentarität als eine kritische Sicht auf Idealbilder des Menschseins verhindert. Im Gegenteil: Der Fokus Passion als Exemplum und Fall des fragmentarischen Menschseins, wie es Bernhard Waldenfels in den Bruchlinien der Erfahrung markiert und in den theologischen Gedankengängen seit dem 20. Jahrhundert verstärkt aufgenommen ist, liegt zugleich auf der Einbruchstelle des Anderen – im Extremfall der Widerfahrnisse, aber auch der intersubjektiven und sozialen Beziehungen überhaupt. Wenn und insofern weiterhin »Schmerz und Sehnsucht nach wie vor im offiziellen Curriculum kaum einen Platz, weder in dem der Schule noch in dem unseres sozialen Lebens«1277, einnehmen, gilt das Plädoyer einer Sensibilisierung für biografische Brüche und Erfahrungen von Diskontinuität und Diskrepanzen, an denen Lebenswertes und Liebenswertes aufscheint. Der An1275 A. a. O., 68. 1276 A. a. O., 69. 1277 Luther : Religion und Alltag, 255.
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satzpunkt für eine am Pathos orientierte Seelsorge im Alltag, welche die Anwaltschaft für das Patrhische mit sich bringt1278, leistet da Vorschub; auch ein kritisch-aufklärerischer Impetus gehört dazu.1279 Eine Empirische Theologie muss sich an den Grenzen des Subjekts messen lassen: Ich bin, der ich bin – und zugleich bin ich’s nicht.1280 Daher benötigt theologische Empirie das leibliche Subjekt als intersubjektives Medium der Erfahrung des Unverfügbaren. Eine Praktische Theologie, die mitten im Leben auch das Jenseitige aufgreift, die sich der »Autorität der Leidenden«1281 verpflichtet, radikalisiert interpersonale Maßstäbe, die an die Wahrnehmung des Anderen appellieren. In den Äußerungen menschlicher Not artikuliert sich auch der not-wendige Ruf nach Heil und Menschenfreundlichkeit. Weil der kulturelle Umgang mit Vulnerabilität und daraus resultierenden Erfahrungen des Unverfügbaren eine entscheidende Auf-Gabe von Berufen im Feld von Religion und Kirche – hier im Rekurs auch auf den FALL vor allem von Religionslehrkräften ist – wird das Problem der uneinholbaren Asymmetrie zwischen Anspruch und Antwort virulent. An dieser Diastase bricht die Frage nach einer spezifischen theologisch fundierten Professionsethik auf. Sie bemisst sich als responsives Handeln am Anspruch des differenziellen Anderen und wird explizit an der Autorität der Leidenden ermessen. Pathos und Passivität legen daher eine erfahrungsgesättigte Theologie der Passion nahe, auf die sich Herausforderungen für ein responsives praktisch-theologisches, religions-pädagogisches Handeln beziehen. Responsivität im theologischen Sinn hat pränormative Dimensionen. Sie setzt auf die Anerkennung von Fragmentarität, entbehrt aber nicht der Schuldigkeit des Antwortens auf Leiden. Diese Verantwortung für die normative Wirklichkeit des Anderen kann nur in responsiver Differenz zur Christuswirklichkeit eingelöst werden. Insofern Passivität als das Andere des Tuns begriffen wird, gehen Erwartung und Verheißung von Antwort zusammen. Diese Gegebenheiten der Nichteinholbarkeit, des Nichtwissens, des impliziten wie expliziten Anderen und Nicht-Intendierten sind Varia des Pathischen, mit denen ein konkreter, situativer Umgang im Interesse professionellen Eingehens auf den Anderen erforderlich wird. Achtsamkeit schließt als Kategorie Leben im Modus der Zurückhaltung zwischen Handeln und Erleiden, zwischen Wahrnehmen und Handeln, zwischen Handeln und Lieben, Handeln und Hoffen.1282 Die Aufmerksamkeit auf dem empirischen Ernst-FALL des Umgangs von ReligionslehrerInnen mit schwerer Krankheit in der Schule wurde zum Anstoß 1278 1279 1280 1281 1282
Vgl. Bieler, Verletzliches Leben, 214. Vgl. Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen, 283. Vgl. Gutmann: Ich bin’s nicht (unter Aufnahme von Ex 3,14). Metz: Im Eingedenken fremden Leids, 13. Vgl. mehr zur Kategorie der Achtsamkeit in der Ethik: Au: Achtsam wahrnehmen, 214ff.
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Theologisch-ethische Reflexionen
für die Frage nach dem Orientierungsrahmen für religionspädagogische Professionstheorie. Dieser GrenzFALL, der zugleich eine alltagstypische Unterbrechung beruflicher »Normalität« von ReligionslehrerInnen darstellt, hat im Vorgehen dieser Arbeit die heuristische Suche nach einer religionskulturellen Orientierung der Dimension des Pathischen evoziert und von dort aus die theologisch-ethische Reflexion von Professionalität vorangetrieben. Da durch die Beleuchtung des Schnittfeldes von Menschsein, Religion und Kultur angesichts von Passivität die Intersubjektivität des Lebens hervorgehoben wurde, hat sich Responsivität als notwendige ethische Grundstruktur christlich verantworteter Professionalität herausgestellt. Konzeptionell wurde dies durch eine intersubjektiv überprüfte Verschränkung von phänomenologisch-empirischen mit hermeneutischen Zugängen zum Pathischen als einer bedeutsamen Lebensdimension betrachtet. Auf dem Weg dieser kontextuellen Fallstudie hat sich damit eine praktisch-theologische Orientierungsstruktur zur ethisch fundierten Wahrnehmung des Pathischen in theologischen Handlungsfeldern ergeben. Deren Ausdifferenzierung hat epistemologische, ethische, aber auch ästhetische Aspekte einer dynamischen Ordnung des Pathischen zur Sprache gebracht, die gewohnte Sichtweisen auf den Beruf irritieren und unterbrechen. Ausgehend vom Fall habe ich mit dem Erkenntnisinteresse an der anthropologischen Seite religionspädagogischer Professionsbezüge auf diese Weise die Teildimensionen Pathik in der gelebten Erfahrung, Leiden sowie Passivität zwischen Ethik und Ästhetik aufgeschlossen. Dabei ist Erfahrung in einer dynamischen Ordnung erschlossen, für die sich Leiblichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Sprachlichkeit als Fundamente erweisen; empirische Phänomene wie Schmerz oder Schweigen markieren Bruchlinien einer Erfahrung des Anderen in einer Phänomenologie des Pathischen. Gegen Apathie lassen sich Wahrnehmung, Elemente von Passivität in jeder Handlung, Ungesagtes und Unsagbares vor und in der Sprache sowie die Fremdheit des Anderen als stetige empirische »Stachel« idealistischer Subjektund Identitätskonzepte beschreiben. Zur weiteren Präzisierung dieser Bezogenheit habe ich zur Kontextualisierung theologischer Modelle Theorien aus der Medizin, Philosophie und Sozialwissenschaft herangezogen und daraus theologische Linien entwickelt. Theologisch-ethische Reflexionen haben den Horizont erhellt, der für eine professionsethische Orientierung am leidenden Anderen maßgeblich ist. Damit sind die Strukturen von Erfahrung genauer ausgelotet sowie Vulnerabilität bzw. Fragmentarität als anthropologische, Widerfahrung bzw. Leiden als kulturtheologische und Responsivität bzw. Verantwortung als ethische Leitkategorien erschlossen.
5.
Pathos und Responsivität. Aufgaben für religionspädagogische Bildung
Im Interesse der Präzisierung eines religions-pädagogischen Professionsbezuges ist nun zu ermitteln: Welche pädagogischen Konsequenzen ergeben sich aus der theologischen und kulturtheoretischen Beschäftigung mit der Kategorie des Pathischen für die Konturierung religionspädagogischer Professionalität? Welche Auswirkungen hat das Konzept der Responsivität für Bildung und Erziehung und für professionelles Handeln in diesen Bereichen? Genauer gefragt: Was bedeutet es für das Verständnis und die Praxis allgemeiner wie religiöser Bildung, wenn berücksichtigt wird, dass Leben nicht idealtypisch als ein fortlaufender Entwicklungsprozess konstruiert wird und dass in der gelebten Praxis Erfahrungen der Unverfügbarkeit und des Leidens auf das Leben Einfluss nehmen? Diese Fragen werden ausgehend von FALLnahen Bearbeitungen angegangen. Zunächst lege ich ein Verständnis von Bildung auf der Basis des hier erschlossenen Lebensverständnisses und Religionsverständnisses dar (5.1). Daraufhin wird in didaktischen Ansätzen das Pathische auf Unterricht hin profiliert (5.2). Weiterhin eruiere ich die Bedeutung dieser Seite von Religion im Schulleben und Schulentwicklung (5.3), um schließlich ein Fazit für die schulkulturelle Gestaltung zu ziehen (5.4).
5.1
Bildung und Religion zwischen Ethik und Ästhetik
5.1.1 Das Pathische als kulturelle Dimension allgemeiner Bildung Zunächst gilt es, das Nachdenken über die Bildungsdimension des Pathischen situationsbezogen am FALL anzuregen. Johannes’ Krankheitserfahrung evoziert in ihm ein eigenes Ziel: Wenn ich das überlebe, lacht keiner mehr über mich. Hierin finden sich nicht nur die Hoffnung, das existenziell Bedrohliche zu überwinden, sondern sein fragmentarisches Leben anerkannt, aufgehoben zu wissen. Das ist weniger
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Aufgaben für religionspädagogische Bildung
ein eigenes Lernziel als der mit Trotzkraft gespickte Hinweis und Versuch, dass diese Bedrohung auch pädagogisch wie religionspädagogisch Elemente braucht, die den Transit, das Über-Leben, gestalten helfen. Auf welchen bildungstheoretischen Sohlen bewegt sich ein theologisch verantwortetes Konzept religiöser Bildung; welche erziehungswissenschaftlichen Implikationen bringt das Ernstnehmen der Dimension des Pathischen mit sich? Ausgangspunkt dieser Denkbewegung ist das Gespräch mit der pädagogischen Rezeption von Phänomenologie. 5.1.1.1 Leibliche Bildung und Sozialität Parallel zu und in Bezogenheit auf Veränderungen der pädagogischen Professionstheorie, welche Kontingenz als die Grenze von Notwendigkeit und Planbarkeit thematisiert, ist auch in der Erziehungsphilosophie ein Perspektivenwechsel zu konstatieren, der mit einer kritischen Revision idealisierter Bildungskonzepte einhergeht. Zu den Maßgaben derjenigen, die an der Klärung von Rahmenvorgaben pädagogischen Denkens interessiert sind, gehört die Kritik an idealistischen Identitätskonzepten, die sich auf moderne Subjektphilosophie stellen1283, die positive Aufnahme und konstruktive Auslegung der »gelebten Erfahrung«1284 des pädagogischen Bezugs und des sozialen Verhältnisses, die Anerkennung von Heterogenität und Pluralität des pädagogischen Handelns sowie eine Rehabilitierung von Lebenswelt in der Pädagogik durch prozesshafte und offene Ordnungen und Sinnauslegungen. Unter Bildung verstehe ich leiblich strukturierte, auf der Erfahrung von Leibräumlichkeit und Lebenszeit beruhende Lebensformung: Weil sie auf die Bildsamkeit des Individuums setzt, das sich im Kontakt zur Welt befindet, schließt sie den pathischen Kontakt zur Um- und Mitwelt ein.1285 Im Blick auf die Verortung der Strukturen des Pathischen und ihrer pädagogischen Auswirkungen ist Käte Meyer-Drawes erziehungswissenschaftlicher Ansatz leiblicher Sozialität von Bedeutung, die in einer Linie mit dem Waldenfelsschen Konzept von Responsivität entwickelt worden ist. Gerade im Hinblick auf Leiblichkeit steht Meyer-Drawe in der Traditon von Merleau-Ponty und Waldenfels. Leiblichkeit wird als Zwischen-Leiblichkeit gedacht, Subjektivität wird von Anfang 1283 Vgl. Pongratz: Subjektivität und Bildung, 295. 1284 Manen: Researching Lived Experience. 1285 Ausführlicher habe ich mein Konzept zur leiblichen Bildung, auf welches ich mich hier berufe, dargestellt in: Leonhard: Leiblich lernen und lehren, 208ff. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Mollenhauer : Vergessene Zusammenhänge; Dietrich / Müller: Bildung und Emanzipation.
Bildung und Religion zwischen Ethik und Ästhetik
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an im Horizont von »Inter-Subjektivität« gesehen. Sozialität wird zwischenleiblich als eine anonyme Welt des Zwischen rekonstruiert: »Die Anonymität der Zwischenleiblichkeit (intercorporeit8), des Zwischen, der lebendigen Interaktion von ego und alter, der vorprädikativen und präreflexiven Koexistenz zeigt, dass die Sozialität weder atomistisch als Pluralität sinnkonstituierender Zentren mit privaten Welten noch holistisch als spiritualistische Überperson aufzufassen ist.«1286
Die leibliche Verfasstheit des Subjekts führt einmal mehr dazu, dass die Idee des autonomen Subjekts zugunsten einer durch und durch heteronomen Bestimmung aufgegeben wird. Dabei wird deutlich, dass insbesondere Käte MeyerDrawe statt auf Konzepte, die sich eindimensional auf instrumentelle Vernunft ausrichten, auf eine stärker intersubjektive Relationierung setzt, die nicht auf der Dualität von Subjekt und Objekt beruht, sondern das Verhältnis von Subjekt und Mitsubjekt als Grund sieht. Lernende, Kinder und Jugendliche, sind nicht Objekte erzieherischer Maßnahmen und auch nicht primär TrägerInnen von Lernleistungen, die es durch Lehrende zu vermitteln gilt, sondern sie sind im Prozess der Subjektwerdung als zwischenmenschliche Geschöpfe auf pädagogische Bezogenheit, Zuwendung und Kooperation angewiesen – essentiell im gestaltpädagogischen Sinn: auf Kontakt. 5.1.1.2 Intersubjektivität, pädagogischer Bezug und Kontakt Seit Herman Nohls klassischen Studien aus den 1930er Jahren zum pädagogischen Bezug gilt dieser als ein zentraler Topos geisteswissenschaftlicher Pädagogik1287. Der Erziehungswissenschaftler Jeong-Gil Woo verfolgt systematisch, inwieweit die responsive Phänomenologie von Waldenfels zu einer kritischen Rekonstruktion der neuzeitlichen Pädagogik beitragen kann.1288 Dazu stellt er das philosophische Konzept von Waldenfels als Folie für eine kritische Rekonstruktion modernener Pädagogik heraus und befragt drei erziehungsphilosophische Ansätze im Blick auf die Revision des Pädagogischen. Waldenfels rückt damit in eine Reihe von WeggefährtInnen wie Käte Meyer-Drawe, Jan Masschelein und Norbert Ricken. Woo streicht heraus: »Mit seiner responsiven Phänomenologie revidiert Waldenfels Modernität und dimensioniert das Verständnis des pädagogischen Bezuges als eines neuen zwischen-menschlichen Verhältnisses«.1289 Zu den Grundzügen dieser Revision zählen die Genealogie der Ordnung in einem »Mehr-oder-weniger«, Nebeneinander und einem Potentialis 1286 1287 1288 1289
Meyer-Drawe: Leiblichkeit und Sozialität, 457. Vgl. Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Vgl. Woo: Responsivität und Pädagogik. A. a. O., 189.
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an Ordnung, die ich dynamische Ordnung genannt habe. Waldenfels durchbricht und erweitert die Subjektperspektive menschlichen Handelns im Hinblick auf eine Dezentrierung und Intersubjektivierung. Fremdheit begegnet intra- wie intersubjektiv ; sie folgt weder der subjektgeleiteten Intentionalität noch der regelgeleiteten Kommunikativität, sondern evoziert eine am Zwischen orientierte Responsivität. Zu dieser Responsivität gehört, dass sie streng genommen gar keine Dialogik ist, weil diese zumindest von Grundsymmetrien ausgehen würde, die dem Gedanken der Unterscheidung von Response und Dialog zuwiderlaufen.1290 Responsivität ist gekennzeichnet von Asymmetrie, Diastase, Hiatus und Überschuss; damit akzentuiert dieses phänomenologisch-ethische Prinzip funktionale, aber auch dysfunktionale Handlungsphänomene wie Diskontinuität, Differenz, Dissens, Außer-Ordentliches, Kreatives und Neues.1291 Menschliches Handeln »findet im Modus des Zwischen-Charakter von Kohabitation (Zusammensein) und Kooperation (Zusammentun) statt: d. h. Handlung als eine Antwort auf den fremden Anspruch ist immer plural und heteronom.«1292 Damit lässt sich die responsive Ethik wie bei L8vinas als das responsive Verhältnis selbst bezeichnen. In jedem Fall zeigt sich das pädagogische Verhältnis, der pädagogische Bezug als asymmetrisch; damit ist weder eine Hierarchisierung gemeint noch intendiert – im Gegenteil: Vielmehr geht es darum, gegebenen situativen Voraussetzungen Achtung zu schenken, um der Heterogenität, Alterität und Pluralität gerecht werden zu können. Bernhard Waldenfels’ responsive Phänomenologie lässt sich in pädagogischer Hinsicht als phänomenologische Präzisierung bzw. Antwort auf Enttraditionalisierung bezeichnen.1293 Aus erziehungsphilosophischer Sicht ist damit eine Neubegründung des Pädagogischen auf der Basis einer responsiven Rationalität gegeben, die auch Subjektivität neu rekonstruiert. In dieser ist kein autonomes, denkendes Subjekt gesetzt, sondern Subjektivität ist von vornherein intersubjektiv ausgedehnt. Das moderne Subjekt ist weder statisch noch hat es einen festen Ort, sondern es muss diesen immer wieder suchen und sich prozesshaft orientieren. Vernunft allein ist nicht unhintergehbar, Handeln ist nicht autonom; im Rahmen einer responsiven Rationalität, wie sie die auf die pathische Dimension des Lebens eingehende Philosophie proklamiert, findet ein Perspektivenwechsel statt, vom denkenden autonomen Subjekt zum leiblichen Respondenten, vom Gedanken des autonomen Handelns zu einer weitaus bescheideneren personalen Partizipation an einem responsiven Verhältnis. Responsive Rationalität rückt an die Stelle einer Ordnung von modernen Subjek1290 1291 1292 1293
Anders als a. a. O., 191. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. a. a. O., 7.
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ten, »die aus einem antwortenden Reden und Tun erwächst und jede bestehende Ordnung sprengt, ohne sie durch eine umfassende Ordnung zu ersetzen«.1294 Indem Waldenfels Fremdheit, Heterogenität und Alterität als Herausforderungen einer Nachmoderne in den Vordergrund rückt, nimmt er Abstand von subjekt-, bewusstseins- und identitätsphilosophischen Traditionen der Pädagogik. Mit Waldenfels und anderen philosophischen Konzepten ist die Unterstützung eines Perspektivenwechsels für pädagogisches Denken möglich: zur Leibräumlichkeitsorientierung, die Verlagerung von Intentionalität auf Responsivität und die Subjektdezentrierung – alles zugunsten eines anthropologischen Modells von Intersubjektivität und einer responsiv orientierten Ethik. Identitätsbildung kann in weitem Maße Heterogenität nicht verhindern, behandeln oder auflösen, sondern diese gibt es nur in der Dimension des Heterologen und Heteronomen. Der pädagogische Bezug gestaltet sich im Zwischen als Verhältnis von »Subjekt-Mitsubjekt oder Konstituierender-Mitkonstituierender«.1295 Daher ist in gewisser Weise auch vom Ende der Erziehung die Rede. Was zunächst nach einer Negation von Pädagogik überhaupt klingt, erweist sich jedoch bei genauem Hinsehen als eine Chance: Damit ist auch eine asymmetrische pädagogische Beziehung eingeschrieben, die einen Aufforderungscharakter enthält, der wiederum nicht direkt einzulösen ist durch Erziehung. Für das Verständnis von Bildung bedeutet diese intersubjektive Weitung eine dynamische Bezugnahme und Adressierung: Mit Hans-Joachim Petsch, der Joachim Bauers Zusammenhang von Lernen und Emotionalität auf eine intersubjektive Ebene transferiert1296, gilt hier das Plädoyer für den ›pädagogischen Bezug‹, der es nicht nur erlaubt, sondern auch überhaupt erst ermöglicht, »gefühlt zu werden«, also wahrgenommen zu werden1297: Du-Erfahrungen, wechselseitige Sympathie und Akzeptanz sind Ausformungen eines im pädagogischen Sinne pathischen, in diesem Sinne emotionalen Verhältnisses, wie es Hermann Nohl sah.1298 Für das im Rahmen von Gestalttheorie und -pädagogik als Kontakt beschriebene Verhältnis zu Menschen und Dingen wird die Seite der Berührung mit Welt akzentuiert, die nicht auf den eigenen Zugriff, sondern auf die passive Komponente setzt. Bildung heißt damit auch: affiziert werden und 1294 1295 1296 1297 1298
Waldenfels: Ordnung im Zwielicht, 27. Meyer-Drawe: Die Belehrbarkeit des Lehrenden, 72. Vgl. Bauer : Prinzip Menschlichkeit. Petsch: »Das Gefühl, gefühlt zu werden«. Vgl. Nohl: Die Theorie der Bildung. Hermann Giesecke kritisiert an Nohls pädagogischem Konzept der Liebe – die dieser wohlweislich von erotischen Formen der Liebe unterscheidet – die hohe Emotionalität, schätzt aber das Prinzip der Wechselseitigkeit und funktionalisiert das Verhältnis auf »gegenseitige Sympathie, Respekt und Akzeptanz« (Giesecke, Hermann: Die pädagogische Beziehung, 258).
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antworten. So ist davon auszugehen, dass diese Form des Weltkontakts im Sinne der Positionalität, des Weltbezugs, explizit auch der exzentrischen Positionalität1299 – der Fähigkeit, von woanders aus zu sein, ohne sich selbst zu verlassen – konkret die Perspektive der anderen einschließt: Weltzugänge werden unter Einschluss der Subjektivität, aber auch im Horizont des Fremden vollzogen. Dass die Perspektive der Anderen keine Weise der Bemächtigung darstellen kann, sondern auch im Erproben der Welt des anderen nur fragmentarisch geschieht, ist dabei unabdingbar. 5.1.1.3 Kontingenz, Ereignishaftigkeit und Gestaltbildung Die Dimension des Pathischen radikalisiert sich auch im pädagogischen Bezug insbesondere hinsichtlich der Dimensionierung von Unverfügbarkeit. In Konzepten wie bei Käte Meyer-Drawe werden Diskontinuität, Differenz und Hiatus innerhalb und zwischen den Handelnden nicht mehr als zu überwindende Hindernisse, sondern als produktive Motive in der Erziehung bewertet. Dies setzt sich insbesondere bei dem Bildungsforscher Norbert Ricken fort, der die Kontingenzthematik zum Motiv pädagogischen Handelns in der Erziehung erhebt.1300 Damit ist ein theoretischer Boden für eine Einbeziehung des Pathischen in der Bildungstheorie bereitet. Ricken setzt wie Meyer-Drawe bei der Phänomenologie der Leiblichkeit an. Er kritisiert allerdings den Fichteschen Begriff der Bildsamkeit auf dem Boden der Anthropologie von Wilhelm Kamlah: Nicht Erziehung bildet zum Menschen, sondern der Mensch ist immer schon erreicht, da »wir ›immer schon‹ Menschen sind«.1301 Auch hierin ist die Bezogenheit auf die Welt inhärent, was eine Dialektik pädagogischen Handelns nach sich zieht: »weil sie in ihrer Relationalität immer schon auf andere angewiesen sind und daher der anderen und ihrer Hilfe bedürfen, ist pädagogisches Handeln – als reflektierte An- und Aufnahme dieser Angewiesenheit – zwar unvermeidbar, aber gerade nicht notwendig.«1302 Inspiriert von Foucault und den kritischen Rückfragen an einen Autonomiebegriff, leitet Ricken mit dem Begriff der Kontingenz die Reflexion eines in sich differenziert gedachten relationalen Subjektbegriffes an, die er als Erfindung einer »Notwendigkeitsbehauptung« gegen die Kontingenzerfahrung der Moderne sieht.1303 Es dreht sich darum, Subjektivität »zugleich als kontingent und relational zu verstehen: als zeitlichen Vorübergang, praktisches Selbstverhältnis und mögliche Selbstveränderung (Existentialität) sowie als soziale Be1299 1300 1301 1302 1303
Vgl. Plessner : Die Stufen des Organischen und der Mensch; ders.: Conditio humana. Vgl. Woo: Responsivität und Pädagogik. Ricken: Subjektivität und Kontingenz, 228. A. a. O., 227. A. a. O., 213.
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dingtheit, Angewiesenheit und Verletzbarkeit (Konditionalität); kurz: Subjektivität als in seiner Selbstveränderung auf andere angewiesene Subjektivität zu denken«.1304 Subjektivität entzieht sich damit den »dualistischen Schematisierungen von Vernunft vs. Unvernunft, Notwendigkeit vs. Unmöglichkeit und Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung«.1305 Damit schafft Ricken einen Ansatz für eine Form der Zurückhaltung und Behutsamkeit im erzieherischen Diskurs. Vor dem Horizont des Ästhetischen hat bereits Mollenhauer eine Revision des Bildsamkeitsbegriffes vorgenommen, der die Brüche des Identitätskonzepts nicht ausklammert.1306 In einer Radikalsierung wäre hier zu entwickeln, dass Bildsamkeit nicht ein normatives Ideal darstellt, sondern vielmehr im Modus des Potentialis zu begreifen ist als eine Anlage des Menschseins, die zur Entfaltung und Anreicherung drängt, auf der im Prozess dieser Entfaltung und Anreicherung aber auch Widerfahrnisse und Erfahrungsrisse ihren Ort bekommen. Bildsamkeit ist die Fremdheit und Heterogenität inkludierende Struktur, mit der die Anverwandlung von Welt an den Menschen und die Verwandlung des Menschen durch und in der Welt vor sich geht. Damit wird auch für eine Bildung, die sich phänomenologisch als Gestaltbildung begreift, nicht nur die selbsttätige Aktivität des Subjekts konstitutiv, sondern das Flüchtige, Unbestimmbare, Zufällige, ja Unsagbare ist selbst ein Moment von Bildung. »Bildung bedeutet in dieser Perspektive gerade nicht Identitätsfindung, sondern Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst, also eine konflikthafte Lebensformung unter historischen, gesellschaftlichen, aber auch naturgegebenen Bedingungen.«1307 Lebensformen angesichts der Unverfügbarkeit sind weiter als bei Eduard Spranger zu denken. 5.1.1.4 Aufmerksamkeit auf Fragmentarität und Heterogenität Mit Waldenfels fragen phänomenologisch inspirierte PädagogInnen nicht mehr primär danach, was Erziehungswirklichkeit sei, sondern wie diese sich in konkreten Bildungs- und Erziehungserfahrung konstituiert.1308 Es ist deutlich geworden, dass die FALLaufmerksamkeit auf der Krankheit eines Jugendlichen für den betroffenen Schüler einen biografischen Stör-FALL bedeutet. Krankheit gehört nicht zum geplanten Alltag von Lebenswelt und Schule, aber zugleich ist sie ein alltäglich vorkommendes Widerfahrnis in der pädagogischen Kultur, das die Lebenswelten und auch die der Schule hinterfragt. Die Unterbrechung von 1304 1305 1306 1307 1308
A. a. O., 225. A. a. O., 214. Vgl. Mollenhauer : Vergessene Zusammenhänge. A. a. O., 154. Vgl. Woo: Responsivität und Pädagogik, 192.
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Routine und Normalität wird von den Betroffenen als eine Herausforderung wahrgenommen, die ein Handeln evoziert. Dieses Handeln kann auch ein scheinbares Nicht-Handeln in Form von Passivität sein. Krankheit ist nicht nur symptomatischer leiblicher Ausdruck im Sinne des Hervorgegangenen, sondern zugleich selbst eine zwischenleibliche pathische Reaktion auf Vorhergegangenes. Im Raum von Schule sind damit Lebenswirklichkeiten von Personen betroffen, deren individuelle und kontextuelle Lebensgeschichte ebenso wie deren Gegenwart und Zukunft. Als solche markiert Krankheit einen ErnstFALL für professionell Handelnde, der Ansprüche auf biografisch orientiertes Antworten erhebt – auch und gerade weil dieses Widerfahrnis selbst in den Rahmen krankmachender Religionen eingebunden ist. Schon deswegen ist er nicht aus dem Bildungszusammenhang wegzudenken. Am FALL der Krankheit wird auch deutlich, wie sehr die Lebenswirklichkeit derjenigen, die im Raum der Schule leben, lernen und handeln, eine durch und durch leibliche Existenz ist, die tiefer, weitreichender und fundamentaler ist als alle schul-, erziehungs- und bildungstheoretischen Annahmen und Rekonstruktionen derselben. Diese Leiblichkeit beschränkt sich keinesfalls auf das persönliche Leben, Lernen und Werden von Einzelnen; so sehr auch Ziele wie Selbstwerdung, Identität und persönliche Bildung in den Vordergrund gestellt werden, bewegen sich diese doch in einem intersubjektiven, zwischenleiblichen Raum, der von Atmosphären bis zu leiblichen Machteinwirkungen strukturiert ist und geformt wird. Das zeigt sich auch und gerade in Verletzungen, Beschädigungen, im Leiden, das die Vulnerabilität von Leben und Leistung verdeutlicht. In der Schule ist der Andere stets gegenwärtig in den Erscheinungen von Fremdheit und Vertrautheit, in ihrem Raum sind der und das Andere auch im Eigenen ebenfalls stets in der Entzogenheit präsent. Krankheit ist ein Exempel für das Ineinander leiblich-sozial wahrnehmbarer Fremdheit und Vertrautheit an diesem Ort. Schwere, lebensbedrohliche Krankheit kann vor dem Horizont der Visualität menschlicher Sterblichkeit auch hier als Verkörperung radikaler Fremdheit erlebt werden: »Was wir sehen, blickt uns an«, nennt der französische Philosoph Georges Didi-Huberman dieses Phänomen der Gewahrwerdung des Unheimlichen.1309 In der Sozialität von Schule, die auf Wachsen, Lernen, Fort- und Weiterentwicklung und stetige Optimierung und in diesem Sinne einen idealistischen Optimismus setzt (und z. T. setzen muss), wird diese Heterogenität in verschiedenen Ausprägungen als fremd erlebt; das Pathos des Fremden stellt daher einen Aufforderungscharakter für professionelles Handeln dahingehend dar, die Einbrüche dieses Lebensverständnisses als Ansprüche zu begreifen, ohne einer Negation pädagogischer Ansprüche anheimzufallen. In diesem Sinne ist 1309 Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an.
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Krankheit ein pädagogischer, exemplarischer Grenzfall auf der pathischen Seite des Lebens, der als Außeralltäglichkeit zur pädagogischen Response herausfordert. Grenzfälle können zu einer produktiven Störung des Lebensgleichgewichts führen, die Neubalancierungen zur Folge haben; so können auch biografisch wie schulisch verankerte Antworten auf diese Grenzfälle in gewisser Hinsicht nachträglich die Chance einer produktiven Unterbrechung pädagogischer Normalität bedeuten, weil sie den Anstoß für Aufmerksamkeitsverschiebungen im professionellen Bereich geben und die Schnittflächen aus Bildungssystem und Personalität erfordern.1310 5.1.1.5 Elemente des Pathischen als Inhalte von Bildung Verfolgt man den bildungstheoretischen Weg von der inhaltlichen Seite, lassen unterschiedliche Argumente kaum daran zweifeln, dass Ausprägungen der Dimension des Pathischen als Bildungsinhalte plausiblerweise dazugehören. Von einer tragfähigen, lebensbezogenen religionspädagogischen Anthropologie her kann Bildung nicht daran vorbeisehen, dass Passivität, Verletzlichkeit und Leiden unabdingbare Dimension des Menschseins sind und daher auch in gewissem Maße als solche erkannt werden müssen. Mit ihnen wird die Dimension der brüchigen Identität im Lebensprozess in Bildungsprozesse eingeflochten. Leidens- und Heilsgeschichte(n) sind im Rahmen von kulturellen Formen sog. »großer« – und kleiner! – Erzählungen im kultischen und kulturellen Gedächtnis als prägender Bestandteile von Kultur und Geschichte präsent. Die Fragen nach Sinn und Umgang mit Leid, Ohnmacht und Passivität sind gerade im Spagat einer Gesellschaft, die sich selbst und die Welt im Risiko zwischen technologischen Allmachtsfantasien und Zerstörbarkeit erlebt, ein für den Einzelnen wie die Gemeinschaft mehr als erforderliches Thema. Mit diesen existenziellen Momenten als Grundlage ethischer Erziehung sind zugleich Argumente für eine Bildung im gesellschaftlichen und pädagogischen Raum der Schule begründet. Damit ist die Frage nach den Antworten zur Kontingenzbewältigung in einer klaren Logik in Bildungsdenken eingewoben; diejenigen, die sich mit diesen Fragen, Inhalten auf dem Weg zu Bildungsgehalten bewegen, erwerben Bildung im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses zum Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren. Auf dem Weg der Identitätsbildung lernen Menschen auch, dass diese Lebenselemente integriert werden müssen und dass Passivität genuin mit zum Leben dazugehört. Dies wahrzunehmen, Formen, Argumente, Normen zu entdecken und zu entwerfen, in denen die pathische Dimension zur Geltung kommen darf, ist vor allem relevant im Hinblick auf die Motivation dazu, ein Antwortgeschehen allererst in Gang zu bringen und zu halten. Dies darf nicht 1310 Fuchs: Zeit-Diagnosen, 28.
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unterschätzt werden. Im Kontext zu Fragen allgemeiner Bildung zählt die Kompetenz, mit den pathischen Seiten des Lebens auf diese Weise – als Bildung – umgehen zu können. Es liegt daher nahe, den Umgang mit dem Pathischen auch als einen von mehreren kulturellen Bildungsinhalten zu begreifen, der Sinnfindung angesichts von Erfahrungen des Unverfügbaren thematisiert und perspektiviert. Man könnte sagen, genau genommen handelt es sich dabei um Bildungsinhalte, die bisher als operationalisierbar und überprüfbar galten. Die Begegnung, die den lernenden Subjekten mit den existenziellen, sozialen Grundsituationen, Erfahrungen und eben auch Grenzsituationen obliegen und die für genau diese Bildungsinhalte auschlaggebend sind, evoziert jedoch eine viel weiter gehende Frage. Geht Bildung in der Kenntnis, den Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kontingenzbewältigung auf ? Ein wissenschaftlicher Zugriff erlaubt – und das Eingehen auf die Wirkungslogik, welche die Dimension des Pathischen mit sich bringt, nötigt dazu –, den Funktionalisierungen des Bildungsbegriffs ein umfassendes bzw. kritisches, aber sehr differenziertes Bildungsverständnis gegenüberzustellen. Religiöse Bildung als Bildung, die auch den Umgang mit dem Pathischen und Erfahrungen von Passivität zum Inhalt hat, muss befragt werden auf die Rolle des Wie und Wohin, den Weg und die Richtung, die diese Bildungsprozesse einschlagen.
5.1.2 Bildung, Religion und Intersubjektivität Was ist Religion im Kontext von Bildung zuzutrauen oder auch zuzumuten? Ist damit ein Verständnis religiöser Bildung angesprochen, das auch der Subjekthaftigkeit und Intersubjektivität des Lebens nachkommt?
5.1.2.1 Bildung und Religion im Differenzverhältnis Worin liegen die Grundlagen einer Verhältnisbestimmung von Bildung und Religion? Für einen diesbezüglich differenztheoretisch geprägten Zugang steht religionspädagogisch vor allem Bernhard Dressler Pate. Entgegen dem aufgeklärten Utilitarismus des nachmodernen Bildungsdenkens setzt er sich für eine Renaissance der »Zweckfreiheit« ein. In ihr kommt der Grundgedanke der von Hermann Giesecke proklamierten Personalität von Bildung zum Tragen, dass »der Mensch mehr ist, als in seinem Alltag von ihm verlangt und erwartet wird«.1311 Dazu gehört die skeptische Haltung gegenüber der Ausrichtung an den 1311 Giesecke: Am Ende pädagogischer Illusionen?, 51.
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Vorstellungen von Planbarkeit und Operationalisierbarkeit.1312 Deren Begründungen liegen jedoch tiefer. Religiöse Bildung wird unter der Maßgabe bildungstheoretischer Legitimation »in ihrem Unterschied zu anderen Praxen und Rationalitätsformen erschlossen«.1313 Die Ausdifferenzierung der Welt und der Verlust der Zentralperspektive auf dieselbe bringt die Misere des verlorenen religiösen Deutungsmonopols mit sich, damit auch die Herausforderung und Chance in der Gegenwart, die Welt »etsi deus daretur« zu zeigen. Im Konzert der Lesarten der Welt, welche die Perspektivität im Umgang mit ihr kennzeichnen und zugleich literacy, nämlich deren Lesbarkeit, als einen Bildungsschlüssel benennen, gehört Religion wie Philosophie zu den Problemen konstitutiver Rationalität und geht daher in keinem anderen Modus und Zugang – daher auch in keinem anderen Schulfach – auf. Die spezifische Weise des Weltzugangs macht Religion als »Lebensdeutung im Horizont des Unbedingten« und damit das »Endliche fürs Unendliche transparent«1314. Ihr Schlüssel liegt in der Möglichkeit des »Perspektivenwechsels«: Damit werden sowohl verschiedene Modi des Weltzugangs in der Unterscheidung von Religion und anderen Zugängen in anderen Wissenschaften und Fächern kenntlich1315 – diese werden in der Bildungstheorie als Domänen verhandelt – als auch die Binnendifferenz von Religion in religiöse und wissenschaftliche Weltsicht. In »gebildeter Religion« kommt differentiell die mehrdimensionale Betrachtung der Wirklichkeit zum Tragen. Was aber genau heißt diese gebildete Religion für das fragmentarische Menschsein? Das Bildungsverständnis setzt hier mit gewichtigen erziehungswissenschaftlichen Traditionslinien auf einen starken Begriff der »Person«. Somit erfolgt auch eine Unterscheidung von Person und Subjekt, in deren Verlauf die Grenzen des Selbstbewusstseins durchscheinen. So sehr Bildsamkeit und Selbsttätigkeit zu den Elementaria von Bildung gehören, so kritisch muss mit einem ungebrochenen handlungstheoretischen Modell von Bildung umgegangen werden, wie es etwa bei Reiner Preul durchscheint. Dem bildungstheoretischen Interesse Peter Biehls und den Gedanken Christoph Schwöbels folgend, »dass Bildung in der Moderne immer dort thematisiert wird, wo Übergänge stattfinden, die mit Unsicherheiten und Undeutlichkeiten verbunden sind«, deckt Dressler die normative Kategorie der Unverfügbarkeit auf, die Pädagogik und Religionspädagogik gemeinsam haben: »Bildung wird dann zum Thema, 1312 Bei Dressler bleibt die Skepsis, auch wenn er sich gegenüber früheren Schriften Zugeständnisse an die Verwendung des Kompetenzbegriffe macht; vgl. dazu auch Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz, 85f. 1313 Dressler : Unterscheidungen, 133. 1314 A. a. O., 135. 1315 Vgl. Baumert: Deutschland im nationalen Bildungsvergleich, 113 sowie BMBF: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, 68.
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wenn der Ausgang des Menschen aus zerbrochenen Selbstverständlichkeiten bewältigt werden soll«.1316 Von dort aus entwickelt Dressler differenztheoretisch eine Dialektik, nach der Religion und Bildung sich unterscheiden, aber einander beeinflussen und kompensieren, weil sie das je andere Ideal der Vollkommenheit, Perfektibilität kritisieren und genau damit die Kategorie der Unverfügbarkeit auf der Reflexionseben in die Argumentation holen. Im Blick auf Peter Biehls phänomenologisch fundiertes Bildungsverständnis wird die Erfahrung deutlich, »dass das Prinzip der Selbsttätigkeit in Bildungsprozessen nicht etwa nur als aktiver Bezug auf die Welt erlebt wird, sondern mit ›grundlegenden Passiverfahrungen‹1317 des Selbst ausbalanciert wird, vermittelt über die eigene Leiblichkeit, über das widerständig Fremde und die anderen, über das Gewissen. Das gilt insbesondere in religiösen Bildungsprozessen, da Religion – ›weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl‹ – ganz auf Rezeptivität angewiesen ist, die dann erst, responsiv, ›antwortende Spontaneität‹ freisetzt.«1318
Nicht ohne Grund legt Bernhard Dressler hier im Bezug auf Schleiermacher Wert darauf, dass »Bildung nicht nur die aktive, sondern auch die passiv-rezeptive Seite des Menschen einbeziehen« soll.1319 Der Rekurs auf Schleiermacher macht die passive Seite der Gestaltbildung deutlich, die sich an den endlich wahrnehmbaren Formen des Unendlichen vollzieht. Damit stellt sich die Frage, auf was solche Bildung zielt, welche Zugänge zur Welt sie in der Perspektive von Religion bildet angesichts der Erfahrung von Unverfügbarkeit. Es kann sich damit nicht mehr nur um eine Selbst-Bildung handeln, sondern die Kategorie des Antwortens auf die Welt, die sich weder in der Immanenz noch gar in der Verfügbarkeit bewegt, orientiert solche Bildung konsequenterweise am Anderen, auch am radikal Anderen. Die radikalste Herausforderung bildet die Frage, inwieweit Bildung auch einschließt, dass Zugänge zur Welt entzogen bleiben, wenn Erfahrung nicht der letzte Grund des Weltkontakts bleibt. Ist Bildung auch dann noch religiöse Bildung, wenn gesammelte Negativität im Zugang liegt? Ist Religion auch dann nur ein Zugang zur unverfügbaren Welt neben anderen, die sich bildungsmäßig ebenso der Kontingenzbewältigung verschreiben? Muss religiöse Bildung nicht schon allein für ihre Plausibilitätsstrukturen einen Surplus, einen qualitativ radikal anderen Zugang zur Welt gewähren – gerade angesichts extremster Leiderfahrung und Riskanz, weil sie sonst auch in Bildungsargumentationen der Religionskritik verfallen würde? 1316 Schwöbel: Glaube im Bildungsprozess, hier bei Dressler : Unterscheidungen, 22. 1317 Zitat: Biehl: Die Wiederentdeckung der Bildung, 136. 1318 Dressler : Unterscheidungen, 93. Zitat in diesem Satz: Kumlehn: Symbolisierendes Handeln, 55. 1319 Dressler : Unterscheidungen, 95; vgl. Schleiermacher : Über die Religion. 3. Rede.
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Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde die Option des Perspektivenwechsels eine Vielfalt, aber auch den Hang zu einer Beliebigkeit im Spektrum der Weltzugänge betonen. Unter dem Gesichtspunkt der Perspektive des Anderen bekommt dieser Schlüssel jedoch gegen alle Beliebigkeit noch eine tiefere Bedeutung hinsichtlich ethischer Verbindlichkeit im verantwortlichen Handeln. Dies ist an mehreren Punkten ersichtlich, wird an dieser Stelle vor allem an zwei Punkten fokussiert und schließlich zusammengeführt.
5.1.2.2 Ein Schlüssel ethisch-ästhetischer Bildung: Mitgefühl Anzusetzen ist im Rahmen der Debatte um ethische Bildung bei Konzepten zur Neubewertung von Empathie und Mitgefühl. Elisabeth Naurath thematisiert in ihrem Entwurf zur ethischen Bildung Mitgefühl als Schlüssel religionspädagogisch-ethischer Bildung. In ihrer Studie kommen exemplarisch und typologisch die Ausgangsvoraussetzungen jugendlicher Gewalt als eines Gegenwartsproblems problemorientiert zu Wort. Das Konzept sieht Ansatzpunkte in einem phänomenologisch-ethischen Interesse und nimmt auch medizinsoziologische Ansätze wie den der Salutogenese auf, berücksichtigt kriminologische Aspekte und nimmt bei allem auch Genderkategorien ernst. Mitgefühl fokussiert sich lebensweltlich auf eine »Notsituation, die emotionale Betroffenheit auslöst«.1320 Im Zentrum stehen emotionspsychologische Struktur- und Entwicklungserkenntnisse, gepaart mit der Differenzierung geschlechtsspezifischer Unterschiede: »Mitgefühl oder mitfühlende Empathie (sympathy) beschreibt also einen engeren Begriff von Empathie; gemeint sind die in erster Linie affektiven Reaktionen, die im Beobachten einer misslichen Situation zugunsten des/der Notleidenden hervorgerufen werden.«1321 Der Weg kulminiert in der Befürwortung von Saarnis Konzept emotionaler Kompetenz, das sie nicht linear, sondern als »Impulse zum Fördern und Verstehen emotionaler Kompetenz« sieht.1322 Naurath führt kognitivistisch geprägte entwicklungspsychologische Begründungen für religiöse Bildung emotionspsychologisch weiter : »Dass sich mit einer kognitiven Erweiterung der Empathiekompetenz in der späteren Kindheit (ab ca. 8 Jahren) auch das didaktische Spektrum der Perspektivenübernahme in fremde Personen oder Situationen weitet, sollte jedoch nicht dazu führen, dass nun emotionale Kompetenzen vernachlässigt werden«, denn es »steigen [mit wachsendem Alter, S.L.] die Möglichkeiten, sich in fremde Perspektiven einzufühlen, andererseits wird die Kopplung der Einfühlungsbereitschaft zunehmend an Kriterien geknüpft, die Mitgefühl sogar hemmen kön1320 Naurath: Mit Gefühl gegen Gewalt, 63. 1321 A. a. O., 122. 1322 A. a. O., 153f.
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nen«.1323 In dieser Argumentation werden Unterscheidungen eines theologisch wie emotionspsychologisch motivierten Mitgefühlbegriffs gegenüber dem theologisch zu verengten Mitleid und der psychologisch zu ausgedehnten Empathie getroffen. Dementsprechend wird die religionspädagogische Relevanz von Mitgefühl als Möglichkeit emotionaler Kompetenzentwicklung gesehen. Damit wird auch Moralentwicklung zu einem weitaus komplexeren Geschehen, das nicht nur kognitive, sondern auch affektive und pragmatische – genauer : sozialisatorische – Komponenten einschließt, denn auch kleine Kinder sind zu prosozialem Verhalten und Mitgefühl in der Lage. Ethische Bildung bestimmt sich auf der Basis dieser Korrelation von emotionspsychologischen Erkenntnissen und rechtfertigungstheologischer Fundierung als »Selbst-Bildung des Subjekts«.1324 Anders als viele moralistisch inspirierte ethische Konzepte liefert Nauraths Ansatz einen wichtigen anthropologischen Zugang dafür, dass Gemeinschaftlichkeit, Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe mehr als kognitiv verankert sind – eine Bekräftigung anderer Vernunft. Von diesem Entwurf ausgehend, ergibt die Untersuchung der Rolle des Pathischen für religiöse Bildung aber auch Rückfragen und müsste weitergeführt werden. Voraussetzung für diesen Ansatz ist: Das »pathische« Verhältnis des Kindes und Jugendlichen zur Wirklichkeit markiert dessen Empfänglichkeit, »gerade dieses Aufgeschlossensein für die Objekte, für die Lebewesen, die Menschen, für das sich Bewegende, das Zarte, das Laute, das Leichte, das Freundliche, das Fesselnde«1325 – von daher liegt auch eine grundlegende Sensibilität für das je Andere vor, die nicht nur das aktive Zugehen, sondern die Ansteckung, Anmutung in einer passiven Haltung einschließt. Das Miterleben dessen, was sich, das eigene und das andere bewegt, ist thematisiert in pädagogisch-anthropologischen Konzepten wie bei Maria Montessori. Dabei darf ein kritisches Verständnis von Empathie jedoch nicht unterschlagen werden, da diese nicht automatisch ein Gelingen und Verstehen nach sich zieht, auch anfällig ist für Misslingen und Missverstehen sowie die Gefahr der Bemächtigung. Aus der psychologischen Inspiration heraus nimmt Nauraths Studie nicht mehr auf, was phänomenologisch elementar zum Tragen kommt. Hier wird betont, dass das 1323 A. a. O., 156. Hier werden Faktoren wie Zeitmangel, unklare Verantwortungsgefühle, aktuelle Stimmungslagen, Kosten-Nutzen-Abwägungen Erwartungen an Reziprozität und Kompetenzzweifel angeführt, welche die »Aktualgenese mitfühlender oder tröstender Reaktionen hemmend« beeinflussen (156). 1324 A. a. O., 166. 1325 So Langeveld: Studien zur Anthropologie des Kindes, 92; Vgl. auch Schultheis begreift Kultur als »formierte Leiblichkeit«; in der Lebensform manifestiert sich Kultur als »gelebtes Weltbild« (Schultheis: Leiblichkeit – Kultur – Erziehung, 146 – nach Erich Rothacker).
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Fremde im Eigenen beginnt – so die sozialitätstheoretische Annahme. Aufgrund der vorliegenden phänomenologischen Analyse müsste man jedoch eher sagen: Das Eigene gibt es gar nicht ohne das Fremde, Andere – die Wirkung, den Schmerz, das Leid, das Berührt- und das Getroffensein. Diese emotionalen Aspekte sind nicht nur ethisch von immenser Bedeutung, sondern darin auch Elemente einer in ethische Bildung integrierten Ästhetik.1326 Von daher ist Mitgefühl bereits eine Antwort in der Struktur von Pathos und Responsivität: In ihr liegt die hier emotional begründete Präsenz des anderen und für den anderen, der Bildung als leiblich affiziertes und affizierendes Ethos markiert.1327
5.1.2.3 Bildung und Lebenskunst? Die Entwicklungen der neueren Praktischen Theologie, die Handlungswissenschaft durch einer Wahrnehmungwissenschaft zu erweitern, bedeuten, wie ersichtlich ist, auch für religiöse Bildung, das Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik aufzugreifen. Dies geschieht vor allem in den religions- und kulturhermeneutischen Ansätzen, die sich auf religiöse Sinndeutung hinter den Phänomenen konzentrieren, aber auch in den phänomenologischen Konzepten, die das Zusammenrücken des Sehens und Erkennens von Wirklichkeit in den Phänomenen selbst fokussieren. Einigkeit herrscht darüber, dass es nicht um ein Ausspielen des einen gegen das andere geht, sondern um eine wechselseitige notwendige Befruchtung im Dienste der Weltzugänge zu Religion und Leben. Bereits früh wurde bei Henning Schröer dafür der Begriff der Lebenskunst in Anspruch genommen, weil er als integrativer Terminus Leben, Bildung und Kunst zusammenbringt.1328 In letzter Zeit wird er in religionspädagogischen Zusammenhängen kulturhermeneutisch im Bezug auf Wilhelm Schmids Modell der Lebenskunst verwendet.1329 Schmid hat in seinem gegenüber der antiken Sorge veränderten Verständnis von Lebenskunst als Aufgabe zur Lebensgestaltung einen Zugriff auf Fragen zu konkreter Lebensführung und spielt damit auch die Perspektive der Adressaten als Beteiligte inhaltlich ein.1330 Ausgehend von der Sorge um das Leben, ist die Aufgabe des Menschen die Formung des Lebens – geleitet von der Ästhetik der Existenz, einer Kategorie der Existenzbejahung. Peter Bubmann sieht in einer »Lebenskunstbildung« nun die Chance, ein ästhetisches Verständnis von Praktischer Theologie freiheitstheologisch zu fun1326 Die ungenannte Aufgabe für eine Erziehung und Bildung zum Mitgefühl wäre auch die Frage nach der Perspektive der Lehrer/innen, die auf solche Bildung hinweisen. 1327 Vgl. Fuchs: Verkörperte Emotionen. 1328 Vgl. Spuren dieser Reflexion in seinem posthum herausgegebenen Band Schröer : In der Verantwortung gelebten Glaubens. 1329 Vgl. Schmid: Philosophie der Lebenskunst. 1330 Vgl. Kumlehn: Inszenierte Form und gestaltete Freiheit.
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dieren und benennt Lebens- und Lernfelder christlicher Lebenskunst, in denen sich christliche Freiheit bewährt und in denen Lebenskunst auch praktisch wird.1331 Die Rolle von Religion wird durch ein theologisches Argument eingetragen angesichts der Kritik, dass das Menschenbild der Lebenskunst als autonomes, eigenmächtig handelndes Subjekt die Intersubjektivität und pathische Dimension des Lebens nicht genügend berücksichtige.1332 Aus diesem Grund tritt Bubmann zu Recht für eine Berücksichtigung der »Beziehungsstruktur und Endlichkeit des Selbst bzw. der Freiheit ein, die »Lebenskunst als Kultivierung des Sinns für Empfänglichkeit und des Geschmacks fürs Unendliche« ein.1333 Diese sieht er in den traditionellen fünf neutestamentlich begründeten Handlungsfeldern von Kirche (Leiturgia, Marytaria, Koinonia, Diakonia, Paideia). Sicherlich ließen sich in den meisten dieser Felder auch pathische Elemente und Situationen eintragen, die unter dieser Sichtweise christliche Lebenskunst thematisiert und erprobt werden könnten. Es hat jedoch den Anschein, dass hier ganz selbstverständlich von einer Lebenskunst ausgegangen wird, die sich ungebrochen kirchlich praktizieren lässt, somit auch ein ungebrochenes Einüben1334 in kirchliche Praxis. Für eine religiöse Bildung, die sich im Schnittfeld von Schule, Lebenswelt und Kirche verortet, müssten die Argumente Konsequenzen in Verortungen haben, welche die Tragfähigkeit schulischer religöser Bildung vor Augen haben, welche die Unterschiedenheit von kirchlichen zu schulischen Orten einbezieht. Aber vorab sind noch andere kritische Punkte zu beachten. Kann bei der Rezeption von Lebenskunst das Verständnis des Schmidschen Begriffs1335 problemlos eingesetzt werden? In Martina Kumlehns Analyse wird deutlich, dass Schmids Menschenbild in einer radikalen Form aufgeklärter Autonomie vom Ideal des sich gestaltenden Menschen ausgeht.1336 Dieser Mensch darf und soll auch passive Seiten gelten lassen, indem er der Dinge auf sich zukommen lässt und sich von Anderen führen lässt; letztlich wird jedoch davon ausgegangen, dass dabei die Wahl- und Entscheidungsfreiheit nie verlorengeht. Auch Brüche, Lebenerschütterungen und Verirrungen werden in diesem modernen Identitätsideal, das sich wandelnd und flexibel durch Wahl und Entscheidung sein Leben1337 baut, integriert. Um der »Kohärenz des Selbst« 1331 Vgl. Bubmann: Lebenskunstbildung – ein Prospekt, 72ff; vgl. Bubmann / Sill: Christliche Lebenskunst. 1332 Vgl. Bubmann: Lebenskunstbildung – ein Prospekt, 70. 1333 Ebd. 1334 So auch die berechtigte Kritik in Kumlehn: Blickwechsel, Gestaltfindung, Experiment und Übung, 274 (Anm. 55). 1335 Vgl. Schmid: Philosophie der Lebenskunst. 1336 Vgl. Kumlehn: Blickwechsel, Gestaltfindung, Experiment und Übung. 1337 A. a. O., 269.
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willen gilt es nach Schmid, Lebensdiskontinuitäten und Schmerz zu integrieren – insgesamt ein ideales Bild von Menschenbildung. Daher fragt auch Jörg Lauster, passend zu meinem FALL, zu Recht danach, ob die Lebenskunst die Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen überschätzt […] in besonderer Weise im Umgang mit Gesundheit und Krankheit«.1338 Seine Lesart von dem Schlüssel der Selbstmächtigkeit, gegen dessen Zentralität sich die massive Kritik aus der Perspektive des Umgangs mit Erfahrungen des Unverfügbarem stellt, ist eine Einschränkung, welche die Unbegrenztheit der Möglichkeiten von Selbstbestimmung klar verneint, jedoch den Appell gelten lässt. Das bedeutet: Vor dem Hintergrund deterministischer Gegenwartsmeinungen, der Mensch habe eigentlich keine Wahl, sei der Aufruf, sich der eigenen Möglichkeiten zu bedienen, richtig. Daher läuft Lausters Sicht zur Frage nach dem Handlungsspielraum auf eine gemäßigte Zustimmung hinaus, die im Rahmen des Findens einer inneren Haltung zu Krankheit immer noch eine gewisse Selbstmächtigkeit beinhaltet; diese stößt aber genau dort an ihre Schranken, wo das menschliche Selbstverhältnis unterwandert wird – etwa in Demenzkrankheiten oder auch in den pathischen Seiten des Lebens, in denen man müde wird oder es gar unerträglich ist, selbst zu sein, wie bei Depression.1339 Aufmerken lässt Lausters Diskussion, weil gerade an dieser Stelle die Rolle von Religion für ihn ansetzt als transzendenzbezogene Möglichkeit der Sinngebung, als Potential, sich selbst in größeren Zusammenhängen zu begreifen. Peter Bubmann formuliert die diesbezügliche Norm von Lebenskunst im Blick auf Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung als »Kunst, sich selbst und die eigenen Begabungen zum Nutzen aller zu entwickeln und zu entfalten, aber auch mit der zwangsläufigen Endlichkeit und Begrenztheit des eigenen Lebens umgehen zu können und entsprechend abschiedlich zu leben«.1340 Auch Martina Kumlehns kritische Rezeption nimmt diese Grenzerfahrung auf: »Lebenskunst wird erst dann zur Lebenskunst, wenn sie um die Grenzen und das Ende jeder Lebenskunst weiß und von daher ars vivendi und ars moriendi beieinander hält.«1341 In ihrem kulturhermeneutischen Blick auf religiöse Bildung wird das phänomenologische Moment des Ästhetischen ein unabdingbarer Teil nicht nur des Verständnisses von Kunst, sondern auch von Leben, wie es im Begriff der Wahrnehmung gelebter Religion offensichtlich wird.1342 Hier geht es um die 1338 Lauster : Vom Sinn der Beunruhigung, 61. 1339 Vgl. Lauster : Vom Sinn der Beunruhigung, 62, mit Verweis auf Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt 2004. 1340 Bubmann: Lebenskunstbildung – ein Prospekt, 74. Dabei lässt diese Zielsetzung einen utilitaristischen Unterton anklingen, die leisen Töne der Kritik an der Individualitätsnorm werden in die Funktionalität überführt. 1341 Kumlehn: Blickwechsel, Gestaltfindung, Experiment und Übung, 272. 1342 So bei Failing / Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen.
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»Kunst, immer neu anzufangen«, die »gerade im religiösen Kontext als Erfahrung von Gnade elementar grundiert und narrativ im biblischen Kontext entfaltet werden« kann.1343 Im Sinne einer Elementarbildung beleuchtet Kumlehn die Erfahrungen des Fragmentarischen darauf, dass sie »christlich religiös im Kontext der Rechtfertigungsbotschaft aufgenommen werden« – damit muss Rainer Maria Rilkes metaphorische Botschaft »Du musst dein Leben ändern« kritisch gegengelesen werden.1344 Die Frage nach dem guten Bild in einer omnipräsenten Medialwelt wird schon an die Frage nach dem guten Leben gebunden; ausgehend von Schleiermachers Verständnis der ästhetischen Haltung, Wahrnehmung und Gestaltung gehört nach Kumlehn allerdings ein Element der Besonnenheit, das für die Formgebungsprozesse nötig ist, dazu; so bekommt ästhetische Distanz die Gabe, ethisches Handeln heilsam zu unterbrechen und vor reiner Funktionalität zu schützen. Mit der Kritik an den Lebenskunstkonzepten ist sicherlich geboten, einem harmonistischen Ideal eines Menschen kritisch gegenüberzutreten. Wie eingeschränkt Wahl und Entscheidungsspielräume sind, ist für die Rezipienten dieses Modells ein Argument dafür, die Frage nach dem »guten Leben im Sinne des gelingenden Lebens, das gerade auch das Unverfügbare und das Dunkle in sich aufnimmt«1345, immer wieder neu zu stellen. Wie fragil der Topos vom »gelingenden Leben« angesichts von Widerfahrnissen ist, wurde bereits aus den theologischen Analysen deutlich – umso spitzfindiger gilt es zu beobachten, inwieweit tragfähige Anschlussmöglichkeiten an religiöse Bildung bestehen.1346 Die »Ganzheit des individuellen Lebens« ist nicht nur wegen ihrer Vorläufigkeit aufzubrechen. Mit der Ästhetik der Existenz ist, wenn sie denn das carpe diem einer ars vivendi et moriendi einschließt, durchaus Bildung als individueller Prozess im Blick. M. E. ist aus Sicht einer phänomenologisch verwurzelten Religionspädagogik ein zweiter Einhalt geboten, da noch nicht klar ist, wie religiöse Bildung als Lebenskunst ihrer notwendigen intersubjektiven Öffnung begegnend nachkommen kann.
5.1.2.4 Begegnung zwischen Bezogenheit und Entzug Mit Hilfe einer Neuverständigung über das Pathische wurde bislang ein neuer bildungstheoretischer Zugang zum pädagogischen Bezug skizziert. Diese bildungstheoretische Reflexion soll nun noch einmal vertieft werden durch die Fokussierung von Bildung als einem Begegnungsgeschehen. Dabei werden eine 1343 1344 1345 1346
Kumlehn: Blickwechsel, Gestaltfindung, Experiment und Übung, 275. Ebd. Kumlehn: Inszenierte Form und gestaltete Freiheit, 145. Vgl. Kap. 4.3.4.2.
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ethische und eine ästhetische Linie im Bildungsgedanken miteinander verschränkt. Ausgehend von Helmut Peukerts Formel »Bildung als der Wahrnehmung des Anderen« und auf der Basis eines dreifach verschränkten Bildungsbegriffs, der ethische, intellektuelle und ästhetische Bildung einschließt, fragt Hans-Günter Heimbrock im Anschluss an Peter Biehl nach der Bedeutung des Ästhetischen für die ethische Bildung1347 – ohne, dass deren Eigenwert eingeschränkt werden soll. Ihm geht es darum, mittels Vorstellungen die Wahrnehmungen des Anderen zu erhöhen und damit auch die ästhetische Einbildungskraft ethisch zu grundieren. Hier ist in pädagogischer Nachfolge die Kategorie der Begegnung von Martin Buber als Schlüssel zur Bildung entscheidend, welcher die Leiblichkeit der Subjekte mitdenkt. Begegnung ist die weisheitliche Kategorie.1348 Begegnung impliziert das Moment der Fremdheit und setzt damit auch eine Haltung der möglichen Anderung voraus. Heimbrock vertieft Bubers Konzept der Begegnung durch die empirische Phänomenologie der Erfahrung von Begegnung, deren Prozess als gelebte Erfahrung damit in Bildungsprozessen andeutungsweise in den Blick kommt. Was am Kontakt mit ästhetischen Objekten auf die Begegnung mit Bildern von Heimbrock als Schaffung eines Begegnungsraumes verdeutlicht ist, wird von Dietrich Zilleßen und Bernd Beuscher noch einmal im Blick auf Transzendenzen in der Profanität hin zugespitzt und damit im Sinne eines Festhaltens an der Undeutlichkeit gekennzeichnet. Zilleßen und Beuscher radikalisieren solche Gedanken zur Differentialität religiöser Bildung dahingehend, dass Religion überhaupt nur in den Zwischenräumen sichtbar wird und nicht für Lebensversicherungssehnsüchte funktionalisiert werden kann, weil eine soziologisch-systemtheoretische Auffassung von Kontingenzbewältigung dem »fragwürdigen Ideal der Angstfreiheit folgt«.1349 Zilleßen wendet sich aus diesem Grund auch massiv gegen eine Funktionalisierung von Kunst zugunsten der Ethik und umgekehrt, aber er legt elementare, phänomenologisch und neostruktualistisch begründete Verzahnungen von Ethik und Ästhetik dar, die im Blick auf den Umgang mit Erfahrungen der Unverfügbarkeit für die Konturierung religiöser Bildung immens wichtig sind. So verwundert es auch nicht, dass Zilleßen den gestaltpädagogischen Überlegungen in der Religionspädagogik einige Skepsis entgegenbringt. Er votiert dafür, auch bei Gestaltbildung ungreifbare, nicht zu verstehende, störende Faktoren zu berücksichtigen und Gestalt als ein Übergangsphänomen zu begreifen, bei dem das Ideal der Authen-
1347 Vgl. Heimbrock: Über den Zusammenhang ethischer und ästhetischer Bildung. 1348 Insofern lässt sich ›Kontakt‹ gestaltpädagogisch als eine Form der Begegnung begreifen. 1349 Beuscher / Zilleßen: Religion und Profanität, 57.
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tizität wenn, dann als eine unmögliche Möglichkeit zu begreifen ist.1350 In der Perspektive des Fremden, die im Fokus der Bildung liegen muss wie die des Eigenen, gilt die Frage: »Wie kann die imaginäre Ordnung für die Wahrnehmung der stillen, stummen Spuren der symbolischen Ordnung durchlässig werden?«.1351 Die Skepsis gegenüber allzu integrativen Formen religiöser Bildung, die einer Harmonisierung unterliegen, wird hier im Schnittfeld von Kunst und Normativität in ein Potential umgewandelt: »Nur in Lebenssituationen, in denen die Ästhetik der Sinne die Ethik des Sinns immer wieder unterlaufen darf, gewinnen Werte und Grundwerte konkrete, aber nicht-rigide, nicht-fundamentalistische Verbindlichkeit.«1352 Die Wertschätzung von Kontakt in Gewahrsamkeit von Differenz gewinnt damit auch aus der lebensweltlichen Situationsbezogenheit ihre Sprengkraft: »Wir fragen nach einer Ästhetik, deren subversive Kraft Ethik menschlich macht.«1353 In der (Religions-)Pädagogik findet das Pathische zumeist dort Anhalt, wo etwas als Problem, Mangel oder Krise wahrgenommen wird. Gegenwärtige bildungspolitisch gedeckte Ansätze von Bildung konzentrieren sich im Wesentlichen auf Ausgleich, Bekämpfung und Vermeidung von Störungen, Nicht-Können und Unvermögen, sofern sie dies berücksichtigen. Eine (religions-)pädagogische Anthropologie kann sich jedoch nicht der Illusion eines idealen Menschenbildes mit einem Höchstmaß an Leistung, Handlung und Kompetenz anheimgeben. Weil sie an der Brüchigkeit, Fragilität, Fragmentarität des Lebens grundsätzlich nicht vorbeisehen darf, ist eine verstärkte Aufmerksamkeit auf solche Konzepte gegeben, welche die intersubjektive Empfänglichkeit und Abhängigkeit nicht außen vor lassen, sondern als integrale Dimension des Menschseins achten. Ähnlich wie die phänomenologische Ästhetik die Präsenz und Ko-Präsenz die Anwesenheit von Dingen als Bedeutung markiert, ist auch das wahrnehmende Miteinander, das Gefühl als leibliches Miteinandersein für religiöse Bildung auf der Basis Schleiermacherscher Empfänglichkeit dafür unumgehbar.1354 In der Lebenskunstbildung wird die ästhetische Frage nach dem guten Bild in einer omnipräsenten Medialwelt an die Frage nach dem guten Leben gebunden. Dies ist aber nicht möglich ohne das Hinsehen, ohne die Begegnung mit den Bruchlinien ebendiesen Lebens. Von daher leistet das Ernstnehmen von Zilleßens Warnung den Idealisierungen Vorschub: »Krankheit ist auch die Krise der Lebenskunst. Was sollte die Krankheit zu lernen geben – außer der Einsicht, dass sich im Verlieren jedes Halts nicht viel lernen lässt? Leiden ist kein Heilsweg. 1350 1351 1352 1353 1354
Vgl. Zilleßen: Gestaltpädagogik, Integrative Pädagogik. Verheißung oder Versuchung. A. a. O., 438. Beuscher / Zilleßen: Religion und Profanität, 113. Ebd. Darauf hat bereits Joachim Kunstmann Wert gelegt: Religion und Bildung.
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Eine solche Didaktisierung wäre unerträglich.«1355 Henning Luther hat daher auf genau die verdrängte, subversive Kraft religiöser Bildung gesetzt – mit seinem Votum für eine fragmentarische Identitätsbildung kommen Brüche und Übergänge zur Geltung: »Religionspädagogik könnte dabei helfen, dieser anderen, abweichenden, unterirdischen Bildungsgeschichte auf die Spur zu kommen, Schmerz und Sehnsucht – bei sich und anderen – nicht spurlos versickern zu lassen, sondern wahrzunehmen und, wie unvollkommen auch immer, zur Sprache und Mitteilung zu bringen.«1356
Der Nachweis, dass Bildungsprozesse im Sinne der Kontaktnahme zur Welt Gestaltbildungsprozesse sind, in denen auch Unsagbares, Transzendentes wahrnehmbar und greifbar wird, lässt darauf schließen, dass von Seiten des im Bildungsprozess befindlichen Subjekts ebenso wie von Seiten der Welt, deren Zugang das Subjekt zuteil wird, ästhetische Impulse der Wahrnehmung ausgehen1357, in denen sich Ansprüche des je Eigenen und Anderen artikulieren. Im Sinne von Waldenfels formuliert: Die Antwort des Bildens – im Sinne von Wahrnehmung und Lernen – antwortet auf ein bekanntes oder unbekanntes Anderes, das außerhalb des Eigenen ist, und es besteht ein Hiatus zwischen dem gegebenen und dem entstehenden Bild, das sich bildet. Damit wird deutlich, dass Bildung selbst eine responsive Differenzstruktur hat: Der Prozess des Bildens und Sich-Bildens ist ein Kontaktprozess im Eingehen auf Ereignisse und Widerfahrnisse; er enthält damit nicht nur Bezüge zur Welt, sondern im Kontext der Tiefe und schlechthinnigen Abhängigkeit des Lebens auch Elemente der Entzogenheit: Wir er-fahren – auch im passiven Sinne – viel und nachdrücklich, aber wer weiß, bzw. Gott weiß, was wir wirklich damit und daraus lernen.
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Religionsdidaktik im Horizont von Passivität und Passion: Aspekte responsiven Lernens im Religionsunterricht
Im Interesse der unterrichtlichen Bedingungen und Konzeptionierung, wie das Pathische in religiöses Lernen einfließt, liegt der Ansatzpunkt bei Lernchancen des FALLs. Im unterrichtlichen Interesse, Hiob als eine Leidensgestalt performativ geltend zu machen, erarbeitet die Lerngruppe u. a. mit einem Bild der klassischen Moderne elementare Haltungen einer lebensweltlichen Hiobsgestalt und erschließt die Ratschläge der Freunde mit Mitteln des 1355 Zilleßen: Krankheit / Gesundheit, 44–55. 1356 Luther : Religion und Alltag, 255. 1357 Vgl. Leonhard: Leiblich lernen und lehren.
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Szenischen Spiels und des Filmens der Szenen, was ein bleibendes reminiszierendes Produkt darstellt. Die Bezüge zwischen Johannes und Hiob werden zu keinem Zeitpunkt des Unterrichts angesprochen, weder von der Lehrkraft noch von den SchülerInnen selbst. Gleichzeitig bleibt das Gefühl, als sei Johannes bei dem Geschehen unsichtbar, doch spürbar mit präsent. Die Umstände von Johannes’ Absenz während der meisten Zeit der Unterrichtseinheit zu »Hiob – eine Leidensgestalt« halten den Religionsunterricht zum Pathischen und den konkreten Lebens- und Lernbezug im gleichen Maße auseinander wie zusammenhalten. Der Prozess, den Johannes mit seiner Krankheit durchlebt, wird von ihm zwar nicht explizit als Lernprozess bezeichnet; zugleich ist aus seinen mündlichen Äußerungen zu spüren, dass er froh ist, diese Zeit hinter sich gelassen zu haben und »fertig« zu sein. Die Wahl seines Praktikumsplatzes in einem medizinischen Labor, seine spärlichen Hinweise auf seine Motivation für dieses Praktikum sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich für ihn aus dieser Erfahrung mehrere pädagogische Lernperspektiven verbinden: die Verarbeitung der existenziellen Schlüsselerfahrung, das berufliche Interesse, die Neugier, genaueres über die Krankheit zu erkunden und ihr in einem anderen Rahmen perspektivisch zu begegnen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln, in denen die Verarbeitung eine vorwärts gerichtete, hier sogar berufliche Perspektive erlangt. In ihnen verankern sich lebensweltlich und biografisch lebensgestaltend religiöse Motive, vor allem zu den vergleichenden Reflexionen zur Hiobsgestalt, und christliche Perspektiven auf die schmerzhafte Unterbrechung seines Alltags.
5.2.1 Zur pathischen Dimension des Lernens Bildung hat unabdingbar einen inhaltlichen Aspekt. Für gewöhnlich lebt die Diskussion um schulische Bildung von Erkenntnis- und Wissensstrukturen, die sehr stark auf das von Viktor von Weizsäcker so benannte »gnostische« Moment des Lernens setzen und das Was, die inhaltliche Seite der Erkenntnis in den Mittelpunkt des Geschehens rücken. Insbesondere Vorstellungen von Allgemeinbildung sind durch diese Schwerpunktsetzung geprägt. Die gegenwärtige bildungspolitische Ausrichtung legt nahe, gegenüber reiner Inhaltsfixierung die personalen Komponenten des Lernens und Wissens einzubeziehen; die Normierung von Bildungsstandards wiederum setzt diesen ein je absolutes Maß und bewegt sich in gewisser Weise im Widerspruch dazu. Dabei ist zu berücksich-
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tigen, dass, je nach Kompetenzmodell, Bildungsstandards auch inhaltliche Prozesskomponenten des Lernens in Bezug auf Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse einschließen. Diese könnten daraufhin überprüft werden, inwieweit auch Elemente pathischen Lernens darin vorkommen. Wichtiger ist jedoch vor allem, die Basis für einen Lernbegriff zu legen, in der die Rolle des Pathischen geklärt wird. Die Lernverständnisse, wie sie gegenwärtig in den meisten gängigen bildungspolitisch akzeptierten Theorien als State of the art gelten, vereinen Erkenntnisse der Ethologie, des Konstruktivismus und werden von Neurowissenschaften und Kognitionspsychologie getragen. Diese idealtypischen, teils technizistischen Modelle suggerieren, dass sich vom Gehirn aus Lernen als logisches Verhalten, Informationsverarbeitung und Konstruktion erschließt – ein Modell, das letztlich auch den Menschen und Lernen als machbar ansieht. Der lernende Mensch ist hier ein mehr oder weniger autonomes Wesen, das durch die entsprechend ausgesuchte Lernumgebung einen nicht nur nachvollziehbaren, sondern auch überprüfbaren und vor allem wiederholbaren Weg zu Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen entwickelt, die abgerufen werden können. Es ist sicherlich in einigen Punkten von Vorteil, wenn Wissenserwerb im Sinne eines kognitiven Problemlöseverhaltens so funktioniert, aber die Modelle verkürzen das tatsächlich situierte Lernen, konkret die kontextuell geprägten Lernsituationen.1358 Im Rahmen eines phänomenologisch reformulierten Bildungsverständnisses greift dieses Modell des Lernens zu kurz, auch wenn es nicht zwangsläufig um Automatismen gehen muss. Von daher ist es notwendig, Argumentationswege zu bahnen, die differenziertere und der inneren wie äußeren Heterogenität von Menschen und ihren Dispositionen gemäße Elemente des Lernens berücksichtigen. Im Besonderen trifft dies angesichts der Negation des Funktionierens von Aktion zu, wofür das Pathische eine Anstoßmetapher bedeuten kann. Solche Argumentationswege, die grundlegend für ein weiter und tiefer gehendes Lernverständnis sind, beschreitet Käte Meyer-Drawe1359, der ich hier mit einigen Ergänzungen folge. Mit der phänomenologischen Widerständigkeit setzt sie an verschiedenen Punkten an, begründet sich jedoch, nicht ohne eine philosophiegeschichtliche Basis, bildungs- und erkenntnistheoretisch im Abgleich mit verschiedenen phänomenologischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Lernen ist grundsätzlich erst einmal selbst eine Erfahrung, die anders als Automatismen, Elemente von Inadäquation, Irritation, Störung, Bewegtheit, Intersubjektivität einschließt. 1358 Vgl. Schröder : Religionspädagogik, 208f. 1359 Vgl. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens.
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Auch ein selbsttätig intendiertes Lernen schließt Elemente von Selbstuntätigkeit, Geduld und Bewegt-Werden ein. Erfahrung von Unverfügbarem ist in einer Form von Begegnung zugänglich. Das Pathische ist insofern die gelebte Erfahrung des je Anderen – und zwar am menschlichen, leiblichen, pathischen Subjekt. Der »Bereitschaft, sich neuen und wahrscheinlich wiederum schmerzhaften Erfahrungen auszusetzen, die das Gebäude der festgefahrenen Gewohnheiten wieder sprengen, entspringt das schöpferische Neue«.1360 Wenn das Pathische eine Dimension von Erfahrung ist, gehört es auch zum Lernen: »Die Abtrennung der aktiven Phase des Tuns von der passiven der Erleidens zerstört die Bedeutung einer Erfahrung für das Leben.«1361 Weil sich Bildung intersubjektiv vollzieht, sind Lernvorgänge Prozesse einer zutiefst anthropologisch verwurzelten Welt-Begegnung. Pathisches Lernen ist ein Lernen, das Empfänglichkeit voraussetzt. Gegenüber »gnostischem« Wissen, das eine gewisse Abgeschlossenheit und Vermitteltheit unterstellt,1362 gebiert es ein Wissen, das sich auch an den Rändern des Abrufbaren, Verfügbaren, Handhabbaren und Sagbaren bewegt.1363 In diesem Lernen, das einen Weltkontakt umfasst, geht es nicht um ein Erfassen der Welt, sondern ebenso um ein Empfangen: »Dem Ziel, die Welt durch Erfassen zu beherrschen, steht die Möglichkeit gegenüber, die Welt zu empfangen, sich von ihr mitreißen zu lassen. Nur so kann eine fungierende Einweihung in die Welt begreiflich werden, welche uns einen Sinn zuspielt, den wir durch unseren Eingriff zur Sprache bringen.«1364 Dabei wird der leiblichen Doppelexistenz entscheidende Bedeutung zugemessen, die ein extra nos, eine exzentrische Positionalität einschließt, wie Plessner diesen Sachverhalt genannt hat.1365 Entscheidend ist, dass es nicht um eine Suche oder Sucht nach reiner Authentizität und Ganzheit geht; aufgrund der phänomenologischen Verankerung, dass Erfahrung niemals unmittelbar und ungebrochen ist – ohne die Grenzen des Erkennens zu verwischen, ohne das Staunen zu verlieren, mit dem Husserl das Begreifen eines je Anderen, Transzendenten verbindet, bleibt die Differenziertheit erhalten. Die Gegebenheit, dass Leben nicht nur aus überlegtem Handeln und geplanten, überschaubaren Schritten besteht, bringt eine konsequente Berücksichtigung solcher Ränder von Erfahrung mit sich. 1360 Bollnow : Was ist Erfahrung?, 28. 1361 Dewey : Demokratie und Erziehung, 202. Ernst Pöppel legt in der populärwissenschaftlichen Veröffentlichung zur Hirnforschung dar, dass Lust und Schmerz die stärksten Anreize sind für Lernen. Inwieweit daraus Motivationen abgeleitet werden, ist fragwürdig. (vgl. Pöppel: Lust und Schmerz). 1362 Vgl. Franz / Rentsch: Gnosis oder die Frage nach Herkunft und Ziel des Menschen. 1363 Relation zum Verhältnis explizites / implizites Wissen klären, vgl. Polanyi, Michael: Implizites Wissen. 1364 Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, 117. 1365 Vgl. Plessner : Die Stufen des Organischen und der Mensch.
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Lernen selbst ist kein eindimensional ungestört fortschreitender Prozess: Legt man die Konzentration statt permanent auf das Was nun auf das Wie, ist zu merken, dass Umwege, Exkurse und Rückwege nötig sind; demzufolge richten phänomenologische Betrachtungen per se gern »ihr Augenmerk auf die produktive Störung und Verzögerung des Lernens […], die sie dem Anspruch auf reibungslose Effektivität entgegensetzen.«1366 Ein pathischer Lernbegriff rechnet also die Möglichkeit der Missverständigung, der Begrenzung und Fehlerhaftigkeit ein. In Bezug auf Dimensionen des Pathischen wird wichtig, dass Lernen auch die Prozesse bezeichnet, die zufällig, unorganisiert und ungewollt vorgängig stattfinden – dass Lernen auch möglich wird aufgrund eines existentiellen Erfahrungsbezuges, eines »Risses auf der intra- und intersubjektiven Ebene«1367: Brüche in der Subjektivität, Nicht-Koinzidenz zwischen Vorverständnis und Erfahrung, Überschuss des Sagens im Gesagten, Asymmetrie zwischen Eigenem und Fremdem, verschiedene Antwortmöglichkeiten auf den Anspruch des Fremden sind existentielle Strukturen, die Lernen verletzen, beschädigen und zugleich andere Erfahrungen des Lernens ermöglichen. In diesem Sinne ist der Riss »Beunruhigung«, »ein Unterbrechen und ein Unterbrochen-werden«.1368 Das Lernen schließt eine Zeitdimension ein, bei dem die Gunst des Augenblicks, des Unerwarteten nahezu im Sinn eines fruchtbaren Moments genutzt wird.1369 Es beansprucht den Betroffenen, ohne dass er sich des Lernens bemächtigen könnte.1370 Das Lernen anfangen ist ein Vollzug, der einem Geburtsschmerz ähnelt; das Neue, das sich entgegenstreckt, wird noch nicht verstanden, dem Alten wird nicht mehr getraut: »Das Anfangen des Lernen gründet in einer Störung eines unter anderen Umständen verlässlichen Vollzuges. Diese Störung ist ein Widerfahrnis und niemals Ergebnis eines Entschlusses«1371 – Lernen geschieht also nicht im behavioristischen Modell des »Stimulus – Response« sondern des »Pathos – Response«. Damit ist Bildung ein responorischer Vollzug. Im Raum der Schule ist Kommunikation ein multidimensionales Geschehen, das über eine Verbalsprachlichkeit hinausgeht. Eine Bestimmung von Lernen muss die Grenzen der Darstellbarkeit einschließen, zugleich ist es eine unabschließbare Suche nach der Vielfalt von Artikulation und Darstellungsmög1366 1367 1368 1369 1370
Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, 28 (Hervorhebung S.L.). Woo: Responsivität und Pädagogik, 156. Masschelein: Die ergebnislose und funktionslose Erziehung, 103. Vgl. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, 141. Dies ist zurückführbar auf Platons Schmerzhaftigkeit der Umwendung des Wissens und Aristotelisches passives, intellektuelles Erleiden – anders als ein gedachtes souveränes Subjekt lernt. 1371 Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, 153.
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lichkeiten auch dessen, was im Normalfall ungesagt bleibt. Der FALL macht deutlich, wie sehr Leiden zwischenleiblich erlebt wird, wie sehr kommunikative Rahmen und Atmosphären die Ausmaße der Sichtbarkeit des wirklichen Lernprozesses verschwimmen lassen, aber auch, wie sich Formen und Grenzen der Artikulation von Erfahrung verschieben. Entscheidend ist die Grundlage – ein Erfahrungsverständnis der Phänomenologie, welches anders als informationstheoretische Zugänge davon ausgeht, dass Erfahrung als nicht unmittelbare eben auch niemals in reiner Unmittelbarkeit den Anfang des Lernens ausmacht, sondern durch Bruchlinien gezeichnet ist, die sie verwundbar machen. Meyer-Drawes Verständnis von Bildung erschließt sich dieser Offenheit und Fragmentarität; Lernen kann daher auch die Gestalt von Umlernen im Sinne einer Produktivität in der Negativität eines Anders-Lernens bekommen. Der Anfang des Lernens ist also keine Initiative, sondern eine Antwort auf einen Anspruch – das Getroffensein bringt eine Verzögerung und diese eine Nachträglichkeit mit sich; der Antwortende ist der, dem etwas widerfahren ist.1372 Daher ist Lernen im aktiven und passiven Sinn Bewegung. Die Dinge bewegen den Lernenden, sie sind nicht nur Objekte in dem Sinn, dass es gilt, sie zu greifen; vielmehr haben sie Aufforderungscharakter und ergreifen den Menschen, sie be- und erwirken etwas in ihm. Lernen als eine solche Kontakterfahrung öffnet Spalten, in denen das Selbst sich zumindest partiell seiner selbst fremd wird. In der Sinnlichkeit werden Menschen von Dingen affiziert. Die griechische Wurzel der Wahrnehmung als aisthesis im Verb (aishamolai) liegt als Medium zwischen Aktiv und Passiv – das, was uns ergreift, ist auch zugleich begreifend. Erkenntnisse werden nicht nur getroffen, sondern zugleich geweckt. Nicht Lernen aus Erfahrung, sondern Lernen als Erfahrung steht im Vordergrund1373 ; Widerfahrnisse gelten hier nicht als Hindernis, sondern als ein »ermöglichender Grund diesseits des Kalküls. Lernen meint unter diesem Aspekt kein Kontinuum und keine Anhäufung. Es ist eine Gratwanderung zwischen Konvention und Aufbruch«1374 – und diese Grenzbegehung betrifft auch die Möglichkeiten der Artikulation der Erfahrung. Damit liegt das Augenmerk darauf, dass das leibliche Symbolisieren1375 als gestaltbildender Lernprozess nicht nur das produkive und tatkräftige Anverwandeln ist, welches sich in den Formulierungen des Modellierens, Schaffens etc. ausdrückt; vielmehr wird deutlich, dass es eine andere Größe gibt, an der ersichtlich ist, wie Lernen mit dem Verwandelt-Werden und den Einflussnahmen des Anderen
1372 1373 1374 1375
Vgl. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, 59. Vgl. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, 153.206. A. a. O., 214. Detaillierter zum Lernverständnis siehe Leonhard: Leiblich lernen und lehren, 237ff.
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verstrickt ist. Insofern wohnt dem Lernen aus dieser Perspektive ein religiöses Moment inne.
5.2.2 Religion lernen: Erfahrungsbezug zwischen Subjektwerdung und Intersubjektivität Auch von theologischer Seite ist der Lernbegriff konturiert worden. Die Spurensuche nach dieser Verbindung in der Religionspädagogik führt zunächst zur Frage nach der Lehrbarkeit von Glauben: Sie ist ein Thema, das sich mit der Geburtsstunde expliziter Religionspädagogik verbindet, aus dem also auch vor etwa einhundert Jahren in der Reformdiskussionen der liberalen Religionspädagogik die Bezeichnung der Religionspädagogik als solche hervorgegangen ist.1376 Indirekt ist damit schon eine Relation angestoßen, die – wie bei Richard Kabisch auch bereits thematisiert – in ihrer fundamentalen Breite erst mit bzw. durch die empirische Wende offen diskutiert wird: der Zusammenhang von Glauben, Lernen und Erfahrung. Dass der Erfahrungsbezug als konstitutiver Faktor bzw. Programmformel für Religionspädagogik der Crux unterliegt, dass Erfahrung nicht nur zwischen verschiedenen Konzepten, sondern zuweilen auch innerhalb eines Ansatzes oder Vertreters und zumal innerhalb der verschiedenen theologischen und außertheologischen Fachdisziplinen variiert, schwächt den Begriff, macht aber zugleich seine Ausdehnung und Präzisierungsnotwendigkeit deutlich.1377 Dietrich Zilleßen gilt als derjenige, der sehr früh (1972) den Zusammenhang von Glaube und Erfahrung nicht diastatisch, sondern eher integrativ verortete.1378 Auch Henning Schröer und Ernst Lange verfassten Thesen zu »Glaube und Lernen.«1379 Karl Ernst Nipkow widmete der Frage nach der Erfahrung reifliche Überlegungen. Die am weitesten elaborierte Beschäftigung mit dem Erfahrungsbegriff ist sicherlich in den 1980er Jahren bei Peter Biehl zu finden. Werner H. Ritter geht in seiner Auswertung bis zu einer Erfahrungskompetenz, die der Erfahrung eine normative Wertigkeit zuspricht. Bei allem liegt die religionspädagogische Nahtstelle, Erfahrung im Blick auf religiöses Lernen aufzuwerten, in Biehls Zuspitzung des Erfahrungskriteriums zu einer pluralismusfähigen religionspädagogischen Kategorie, nämlich der Schlüsselerfahrung. Peter Biehl stützte sich wie Henning Schröer auf Ernst Lange und nutzte dazu Christoph 1376 Vgl. Plagentz: Religion lehren? 1377 Vgl. Übersichten bei Riegger : Erfahrung; Käbisch, Erfahrungsorientierter Religionsunterricht. 1378 Vgl. Ritter : Glaube und Erfahrung im Religionspädagogischen Kontext, 216f: Zilleßens Verständnis von Glaube in Erfahrung. 1379 Lange: Sprachschule für die Freiheit.
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Schwöbels Modell wechselseitiger Durchdringung: »Der Glaube ist ohne Bildung nicht lebbar ; denn Bildung ist die notwendige Vollzugsform von Glauben, und die Freiheit des Glaubens ist Kriterium der Bildung«1380 – nicht ohne den Hinweis der theologischen Aufgabe, sich mit dem geltenden (unabhängig von der Genese Geltung erworbenen) Verständnis von Bildung kritisch auseinanderzusetzen. Wichtig ist dabei die religionspädagogische Konvergenz: das pädagogische Wissen um die Unverfügbarkeit von Lernprozessen und die theologische Einsicht in die Unverfügbarkeit des Glaubens.1381 In Bezug auf die Frage, worin sich religiöses Lernen in pathischer Hinsicht erweist, führt der Weg zur Relation von religiösem Lernen und Erfahrung. Konkret wird das in dem Zusammenhang, der auch pädagogisch die Unverfügbarkeit an Erfahrung koppelt. Für das Wahrnehmen konkreter Lebenserfahrung im pädagogischen Verhältnis hat sich schon früh Hans-Günter Heimbrock eingesetzt. Heimbrock tritt für Revisionen der anthropologischen Verkürzungen in der Bildungsorganisation1382 ein und hat hier auch den verletzlichen Lehrer oder Erzieher vor Augen, die stärkere Position, die ihre Rolle des Starken aufgibt, also auch Macht teilt. Von der Infragestellung verabsolutierter Sinn-Entwicklungsprozesse bis zum atomistisch zerlegbaren Lernprozess geht es ihm um die Rolle des nicht Verfügbaren, Unplanbaren im positiven Sinne. In seinem Lernverständnis kommt dem Zusammenhang von Erfahren und Erleiden in pädagogischer Hinsicht eine besondere Bedeutung zu: Es braucht den konstitutiven Einbezug der Erfahrungen, die nicht verobjektiviert werden.1383 Das betrifft die strukturelle und organisatorische Ebene, aber auch das Zusammengehen von Empfangen und Antworten im Lernen selbst. Hinsichtlich des Blickes auf das lernende Subjekt ist theologisch geboten, aus dem kritischen Augenwinkel auf den »allzu griffigen Zusammenhang zwischen menschlichem Leiden und göttlicher Erziehung«1384 den Blick auf Bonhoeffers Prinzip zu schärfen: »Man muss die Menschen weniger auf das, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden, ansehen«.1385 Religiöses Lernen angesichts des Pathischen kann in Sympathie mit einem leidenden Gott und in der Abgrenzung gegenüber der Verklärung von Leiden ebenso wie gegenüber der Leidensverleugnung rekonstruiert werden. Am Lernbegriff erweist sich das Verständnis von Subjektivität in religiösen Lernprozessen. Lange Episoden didaktischer Konzeptionen und Ansätze dürf1380 Biehl: Erfahrung, Glaube und Bildung, 588. 1381 Vgl. Schröder : Religionspädagogik, 212. Zur Analyse des Erfahrungsbegriffs in der Religionspädagogik siehe auch Käbisch: Erfahrungsbezogener Religionsunterricht. 1382 Heimbrock: Erfahrung des Leidens – Schule des Glaubens, 183. 1383 Vgl. a. a. O., 182. 1384 A. a. O., 173. 1385 Bonhoeffer : Widerstand und Ergebung, 17.
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ten sich keinesfalls den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten nicht diejenigen im Blick, die gebildet, geläutert, erzogen werden. Mit der Streitfrage nach der Lehrbarkeit von Religion und bereits davor ist auch mit bedacht, wer sich Religion aneignet und wie dies geschieht. Die Art der Beteiligung der Lernenden und damit letztlich auch das Verhältnis zu Religion ist schon ohne die dritte Seite eines didaktischen Dreiecks im Blick. Gerieten SchülerInnen in manchen materialkerygmatischen Phasen in die Rolle der Adepten, welche die Kraft der Religion spiegeln oder zum Klingen bringen sollten, so war doch schon selbst bereits bei Richard Kabisch das Erleben und Erfahren im Blick.1386 Die Analyse der Rolle der Leiblichkeit in der Geschichte der religionspädagogischen Konzeptionen und religionsdidaktischen Ansätze ist ein wichtiger Hinweis darauf, in welchem Maße und in welcher Hinsicht SchülerInnen am Unterricht partizipieren, welche Rolle ihnen beim Lernen von Religion zugemessen wird.1387 Dass es sich in jedem Fall um Erfahrung handelt, um die kein Schüler umhin kommt, sobald er sich dem Religionsunterricht aussetzt, ist klar. Erfahrungsorierung gab jedoch eine besondere Richtung dafür, die pädagogisch angestoßene Schülerorientierung religionsdidaktisch zu konturieren. Zuweilen ist jedoch bereits gemachte Erfahrung auch in den abstrakten Modellen entwicklungsorientierten Lernens zu finden. Wenn in der Konzeptionierung von Religionsunterricht von Subjekten die Rede ist, so kann man davon ausgehen, dass es sich nicht um ein materialdidaktisch gedachtes Aufnehmen von Religion handelt, sondern das Subjekt muss als werdendes in seiner Geschöpflichkeit und Unabschließbarkeit vorkommen. Erschließung, Elementarisierung und Personalisierung können als drei Fluchtpunkte des didaktischen Feldes gelten.1388 In jedem der Fluchtpunkte ist die Subjektivität mitgedacht. Diese Perspektive auf didaktische Ansätze schließt nahezu alle neueren didaktischen Ansätze in ihrer Pluralität ein. Henning Luther trat dafür ein, die Erfahrung der Fragmentarität als Heuristik für didaktisches Denken anzusehen. Sein Aufruf kann sich gegenwärtig nicht als Plädoyer für einen problemorientierten, themenzentrierten, ästhetischen oder interreligiösen Unterricht aussprechen. Dennoch hat er sich keinesfalls erledigt, und dafür sind mehrere Gründe zu veranschlagen. »Schmerz und Sehnsucht als didaktischen Suchschlüssel religionspädagogischer Arbeit zu nutzen, würde es ermöglichen, sowohl die jeweilige lebensgeschichtliche Situation der beteiligten Subjekte ernst zu nehmen als auch ein gemeinsames, generationenübergreifendes Lernen-voneinander in Gang zu setzen.«1389 1386 1387 1388 1389
Vgl. Kabisch: Über die Lehrbarkeit der Religion. Vgl. meine Analyse in Leonhard: Leiblich lernen und lehren, 59–88. Vgl. Trocholepczy : Fluchtpunkte religionspädagogischer Praxis und Theorie, 117. Luther : Religion und Alltag, 255.
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Henning Luthers Memorandum ist zu Recht auf einen doppelten Zusammenhang hin ausgelegt: Subjektivität ist nicht als geschlossenes Personalkonzept zu denken; stattdessen ist in nahezu rechtfertigungstheologischer Manier der Fragmentarität der Grad religionspädagogisch-real gelebter Religiosität zuzumessen. SchülerInnen als Subjekte des Lernens sind nicht stets selbsttätige Akteurinnen und Akteure, sondern ihr Lernvorrat erstreckt sich auch auf pathisches Lernen, das zunächst einmal zuzulassen ist und Freiräume benötigt jenseits der Überprüfbarkeit. Verdichtet an heuristischen Punkten von Schmerz und Sehnsucht bedeutet das: An den Bruchlinien des Lebens, seiner Geschichte und Ausrichtung, erweist sich die Subjektivität nicht mehr nur als Plausibilitätskriterium, sondern als existenziell-eschatologische Relevanz. Damit verbindet sich aber nun eine Erweiterung der Subjektivität zur Intersubjektivität – oder besser gesagt: Religiöses Lernen erweist sich allererst in intersubjektiven Zusammenhängen; es berücksichtigt die zeitliche Dimension, in Vor- und Rückgriffen auf andere Generationen. Durch die Einbindung in diesen Lebenszusammenhang wird auch didaktisch Intersubjektivität als Boden erhalten.
5.2.3 Responsive Strategien in der Religionsdidaktik Im Horizont der Dimension des Pathischen ist zwar kein geschlossenes didaktisches Konzept möglich, gleichfalls gilt es auch nicht, ausschließlich mit diesen dargestellten Strategien Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach zu begründen. Die Konsequenz des Einbezugs von auf das Pathische bezogener Aspekte religionsdidaktischer Prinzipien und Dimensionen auszuschärfen und weiterzuentwickeln. 5.2.3.1 An Schlüsselerfahrungen lernen Schlüsselerfahrungen haben nach Biehl den Charakter der Unterbrechung von Alltagserfahrung; als solche eignet ihnen ein Erschließungscharakter, der auf die Wahrnehmung eben jener Erfahrung als besondere Erfahrung setzt. Hier kommt ein kriteriengestütztes Verständnis von religiöser Erfahrung zum Tragen, das sich durch Elemente wie den Grenz-Charakter, das Widerfahrnis sowie die geschichtlich-eschatologische Wertigkeit, die in den Vorwärts- und Rückwärtsverweisen von Erfahrung aufzusuchen ist, auszeichnet. Entscheidend ist bei Biehl der Interpretationsrahmen, der jegliche Erfahrung in einem religiösen Kontext deutbar macht.1390 In diesem verortet Biehl das Gespräch mit Tradition und die Kommunikation innerhalb einer Gemeinschaft. 1390 Vgl. Biehl: Erfahrung, Glaube und Bildung.
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Biehls Konzept der Schlüsselerfahrung setzt in einer Verzahnung aus Lebensweltbezug, Symbolizität und Hermeneutik auf die Artikulation christlicher Erfahrung in Verschränkung mit der theologischen Deutung lebensweltlicher Erfahrung; von daher ist es nicht verwunderlich, dass Biehl von Offenbarung spricht, wenn er ein grundlegend lernendes Erschließungsgeschehen bezeichnet.1391 Ihr Kriterium für die Differenzierung von religiöser gegenüber christlicher Erfahrung ist der Gottesbezug. Grundlegend ist also nicht nur eine hermeneutische, sondern eine dogmatisch gestützte Beziehung, die als Wahrnehmungs- und Deutungsebene für die bildende Subjektwerdung eingezogen wird. Lebensweltliche Erfahrung, die der Ethik des Anderen unterliegt, muss nicht gedeutet werden. Der Widerfahrnischarakter wird in einem christlichen gegenüber einem religiösen Rahmen aufgrund christlicher Gottes-Erfahrung »radikaler als Geschenkcharakter ausgelegt«.1392 In Biehls Rekonstruktion von Offenbarung im Blick auf »den Aspekt am Erkenntnisprozeß, der sich nicht erdenken läßt, sondern der sich vom Erkannten her erschließt«, der Adornos ästhetisch-hermeneutischen Offenbarungsbegriff konnotiert, wird sowohl der schöpferische Akt der Anteilgabe als auch der rezeptiv-empfangende Seite des Erscheinens bezeichnet.1393 Das Religiöse daran ist in Anlehnung an Tillich die Verdichtung dessen, was den, die und das Eigene bzw. was die Person wirklich angeht. Diese Punkte sind lebensgeschichtlich beschreibbar – in persönlichen, soziografischen und historischen Krisen und Wendepunkten. Über diese an Leiden gebundene Struktur hinaus kann es sich ebenso um freudige Ereignisse handeln – entscheidend ist ihre komparative Struktur dahingehend, dass die Lebenswirklichkeit in der Wahrnehmung als Gegenüber geschieht; Augenblicke erscheinen in gesteigerter Erlebnisform. Hier schillert der Erfahrungsbegriff in der religionspsychologisch am ehesten William James zuzuschreibenden Weise durch; die Unterscheidungen, die später Wilhelm Dilthey macht und der zufolge auch Lebensprozesse aufgenommen werden, bleiben für die Qualifizierung theologisch bedeutsamer Erfahrung letztlich kaum relevant.1394 Als theologisch-pädagogisches Offenbarungsverständnis gilt die im Interpretationsprozess mögliche Entsprechung von Rechtfertigungsglaube im Sinne der Anteilgabe und dem in menschlichen Erfahrungen sich setzenden Glauben als Aneignungsprozess.1395 Biehls Symboldidaktik, die sich an den Offenba1391 Vgl. Biehl: An Schlüsselerfahrungen lernen, 30f. Zur auch problematischen Verquickung wissenschaftstheoretischer Konzepte bei Biehl vgl. Wiedenroth-Gabler : Religionspädagogische Konzeptentwicklung. 1392 Biehl: Art. Erfahrung (H.i.O.), 425. 1393 Ebd. 1394 Vgl. Dilthey : Einleitung in die Geisteswissenschaften. 1395 Käbisch weist nach, dass Biehl sich pädagogisch stärker auf kulturtheoretische Strukturen
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rungsbegriffen von Wilfried Härle und Ingolf Dalferth orientiert, diese jedoch eher eklektisch beansprucht, nimmt für die Schlüsselerfahrungen die Metaphorik des Lichtes in Anspruch – jemandem geht ein Licht auf, es erhellt sich etwas etc.: Implizite religiöse Strukturen sollen aufgedeckt werden, die Alphabetisierung (Paolo Freire) grundlegender Erfahrung wie Hoffnung, Klage, Schmerz und Sehnsucht gibt dem Leben Gestalt.1396 Die Struktur zwischen dem Entdecken des Impliziten und Aufdecken zum Expliziten entspricht einer Grund-Erfahrung des Glaubens, die in sich die Differenz zwischen Personsein und Subjektwerden aufnimmt und prozesshaft zutage fördert. Die Analyse, dass das Entdecken, der Prozess des Licht-Aufgehens, dem Strukturmodell der Bekehrung unterliege1397, ist ein Hinweis auf das ontologische Symbolverständnis, das sich in Biehls Überlegungen auch zu Schlüsselerfahrungen spiegelt. Sicherlich muss Biehl daraufhin angefragt werden, inwieweit sein Hang zum Eklektizismus auch zu einer schlüssigen, in sich kohärenten Symbol-, Lern- und Erfahrungstheorie führt.1398 Hier gilt es mit kritischem Blick auf die zugrundeliegenden theologischen Annahmen, die Schlüsselerfahrungen letztlich verengen, zu eruieren, ob das Modell der Schlüsselerfahrungen in diesem empirisch-phänomenologischen Rahmen trotzdem hilfreich ist. Für eine das Pathische nicht unterschlagende Lerntheorie wurde bereits herausgestellt, dass die passive Seite des Lernens als strukturelle Dimension in Bildungsprozessen berücksichtigt werden muss. Insofern wird hier deutlich, dass auch die spezifischen Bedingungen religiösen Lernens die Frage danach, was eigentlich gelernt wird, im Anschluss noch einmal rückbinden. In Bezug auf schulisches religiöses Lernen hat sich Christoph Bizer einer Kernfrage der Erfahrungsorientierung gestellt: »Wie kriegen wir heute gelebte Religion so ins Klassenzimmer hinein, dass Lehrer und Schüler an ihr arbeiten und lernen können?«1399 In Bezug auf das Pathische muss diese Frage radikalisiert und alles Künstliche zu gelebter Ernsthaftigkeit in Beziehung gesetzt werden. Noch stärker wird aber erkennbar, dass ein Lernen am Anderen die Perspektive individueller Erfahrung übersteigt. Aber wie können Elemente von Lebenskunst und Begegnung in Schlüsselerfahrungen sichtbar und lernbar werden? Eine Schlüsselerfahrung, die sich nicht einem punktuellen Verständnis von
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stützt, theologisch jedoch implizit an für die Konzepte von Katechetik, Unterweisung und Hermeneutik gültigen Dogmatiken verhaftet bleibt, vgl. Käbisch: Erfahrungsbezogener Religionsunterricht. Vgl. Biehl: An Schlüsselerfahrungen lernen, 44. So Käbisch: Erfahrungsbezogener Religionsunterricht, 277 – Biehl schlägt die Schlüsselerfahrung des Paulus als modellbildend und grundlegend an. Vgl. zu kritischen Auseinandersetzungen bereits ebd.; Käbisch: Erfahrungsbezogener Religionsunterricht, v. a. 310–318. Bizer : Welchen Religionsunterricht braucht die öffentliche Schule?, 116.
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Erkenntnis verschreibt, sondern einen Weg des Erkennens freimacht, muss auch Raum geben für das Abweichen, Anhalten, Tasten, Verändern, das allem Bekehrenden als Zweifeln, allem Aufklärerischen als Schattenseite inhärent ist. Dabei geht es genau genommen auch nicht darum, dass auch Umwege zu einem von vornherein von woanders her bestimmten Telos führen. Nachdem sich der Widerfahrnischarakter von Erfahrungen im Sinne des Unverhofften, Ungeplanten und bereits im lebensweltlichen Sinne Unverfügbaren oder mit Stoellger als Widerfahrung erweist, fällt auch dem Aufdecken von Schlüsselerfahrungen differenziertere Aufmerksamkeit als nur der Fokussierung von Be- oder Umkehrungen zu. Es wurde schon aus dem vorliegenden FALL für die theologische Ethik deutlich und betrifft auch ein religionspädagogisches Oxymoron: Was für Lernende selbst zu einem Schlüssel wird, der Erkenntnis einleitet oder bereits verkörpert, ist nur sekundär von jemandem selbst oder anderen zu deuten – hier macht sich der Hiatus zwischen Pathos und Antwort strukturell sowohl in der Nachträglichkeit der Qualifizierung als Schlüssel als auch im Antworten auf ein Vorausgegangenes deutlich. Dennoch: Erst recht eignet somit dem Schlüssel das Nach- wie das Vorauseilen, denn als Schlüsselerfahrung schließt sie in diesem Sinne einen Raum der Erfahrung hinter sich wie sie einen neuen, anderen eröffnet. Die Thematisierung der Krankheit als Widerfahrnis bewahrt davor, ausschließlich in der Erhellung einen Schlüssel zu sehen – die Betroffenen, Kranken können auch die Widerfahrung selbst als Schlüssel wahrnehmen, der in andere Lebensräume und Zustände hinüberträgt und alte in neue Wahrnehmung transferiert. Hierbei gebührt erst recht, wie sichtbar wurde, der Sprachfindung besonderes Interesse. Bezüglich der theologisch-semantischen Füllung einer solchen strukturellen Schlüsselerfahrung im Horizont des Pathischen ist auch der traditionelle theologische Topos der Passion zu beleuchten.1400 Unter dem Gesichtspunkt, dass pathisch orientiertes Lernen bereits bei der Verstörung und nicht erst der Klärung ansetzt, zeigt sich im Bezug auf die hermeneutische Lerngeschichte des Christentums nicht erst die von Biehl proklamierte biblische Auferstehungssymbolik als Schlüssel; diese antwortet vielmehr bereits auf die pathischen Schlüsselerfahrungen, die sich im theologischen Rahmen mit der Gestalt und Symbolik des Kreuzes verbinden.1401 Ihre Verkörperung geschieht wie im vorliegenden FALL durch Kranksein, aber auch Gewalt, Schuld, Tod. Und genau hier liegt die Schlüsselfrage, von der auch didaktische Entscheidungen abhängig werden: Für die empirisch-phänomenologische Rekonstruktion religiösen Lernens scheint die Gegebenheit mehr als plausibel, dass Passion, Tod, Leiden – 1400 Vgl. dazu ausführlich Kap. 4 dieser Arbeit. 1401 Vgl. Heimbrock: Das Kreuz.
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die Widerfahrungen – Schlüsselerfahrungen bilden; neuere Erhebungen zu lebensweltlichen Anknüpfungspunkten von Kindern und Jugendlichen an Religion bekräftigen diese Einschätzung.1402 Von daher legt sich diese Beobachtung als wohlgemerkt: religions-didaktische Grunderfahrung und Hinweis darauf nahe, dass Schlüsselerfahrungen, sofern sie mit der Struktur des Widerfahrnisses korrelieren, die Qualität der Hilfe, Therapie, positiven Erschließung eignet. Ohne dass dieser im ureigenen Sinne elementar christliche Fluchtpunkt unterminiert werden soll, ergeben sich dazu verschiedene Aspekte der Diskussion. Im Zuge der lebensweltlich-phänomenologischen Aufarbeitung des Pathischen ist deutlicher zuzuordnen, dass und wie Schlüsselerfahrungen nicht per se eine eindimensionale oder gar punktuelle Pointe in einer erkenntnis- oder gar bekehrungsähnlichen Weise aufzeigen; ihnen liegt mit dem Konzept von Pathos und Response selbst eine dynamische, mindestens zweipolige innere Ordnung zugrunde, in der das Pathos von ganz woanders her kommt und dem die Response nicht als ungebrochene Reaktion folgt. Jede Erfahrung und auch jedes Verstehen von Auferstehung benötigt die differenzierte Eingehen darauf, dass Auferstehung – und dies bezeichnenderweise im historisch-kritischen, im biblisch-geschichtlichen wie im biblisch-narrativen Zugang – erst der responsive Topos zu dem ist, was ihm pathisch vorausgegangen ist.1403 Ohne Kreuz keine Auferstehung, lautet die kanonische Antwort. Die prodidaktische Response müsste so rekonstruiert werden: Es gehört zu einer theologischen Inanspruchnahme von Schlüsselerfahrungen, dass die eschatologische Hoffnungs- und Zielrichtung, die Utopie des religiösen Lernens ins Visier genommen wird. Aus diesem prodidaktischen Grund gilt die Konzentration eher der Auferstehung als sinnerschließender, lebensdienlicher und lebensförderlicher Perspektive denn der ihr vorauseilenden Pathoserfahrung. Die Qualität und Plausibilität einer Schlüsselerfahrung hängt aber daran, dass die pathische Erfahrung als passives Zuteil-Werden in einer doppelten Qualität erfolgt. In den meisten Fällen geht eine Leidens- einer Rettungs-, Heilungs- oder Wandlungserfahrung voraus; ohne deren Fokussierung erscheint eine Schlüsselerfahrung wie eine Auferstehung im luftleeren Raum. Diese Erfahrungsstruktur von religiösem Lernen ist prägend für die meisten und hat Auswirkungen für alle didaktischen Prinzipien, die seit dem Abschied vom Bescheidwissen einer religionspädagogischen Konzeption sich plural, z. T. nebeneinander, doch in den meisten Fällen ineinandergreifend Geltung verschaffen. Welche didaktischen Konsequenzen ergeben sich aus dieser Struktur? 1402 Siehe die Auswertung in Kap. 1.5. 1403 Vgl. Bizer : Die Schlüsselerfahrung der christlichen Bibel geht auf die Transformation zwischen Wort und Leibraum ein.
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5.2.3.2 Biografiebezogenes Lernen Wer Orientierung sucht, möchte sich an Werten festhalten. Im religiösen Lernen waren, so zeigt es auch das Modell von Richard Kabisch, stets Modelle und Vorbilder gefragt. Geht es in den katholischen Lernmodellen dabei stärker um die Heiligen, an denen Glauben gespiegelt und gemessen wird, so werden im evangelischen Bereich sehr unterschiedliche Personen und Figuren in verschiedenen Funktionen herangezogen. Seit etlichen Jahren werden Ansätze zum lebensgeschichtlichen Lernen unter kritischer Aufnahme biografischer Entwicklungsmodelle im evangelischen Bereich von Friedrich Schweitzer, Wilhelm Gräb, Walter Sparn und anderen vorgelegt.1404 Das Interesse liegt vor allem darin, Lebensgeschichte und Religion in Beziehung zu setzen. Die Schwierigkeit und gleichzeitige Chance einer Konzentration auf die Biografie der Lernenden als Angelpunkt religiöser Bildung beginnt nicht erst bei der Theologie: Soziokulturell ist die Dialektik zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung, Anpassung und Individuation als sozialer Spannungsraum, in dem sich Leben bewegt – in ähnlicher, wenngleich anders qualifizierter Weise lässt sich diese Polarität als Leben aus Vergangenheit und Zukunft skizzieren. Die Frage einer Normalbiografie, einer ausgewogenen Vorstellung intensiviert die Problematik normativer Biografiebestimmung. Daher liegt als pädagogische Grundlage ein »Transitorisches Lernen« nahe1405, welches Subjektivität und Strukturen der Lebenswelt ins Zentrum stellt und deren Kalibrierung auslotet. »Dabei kommt die Widersprüchlichkeit und Kontingenz des Lebens zur Sprache, die letztlich nicht aufgehoben, wohl aber kultiviert werden kann. Gegenüber der Zerrissenheit des Lebens hält die christliche Botschaft Zuspruch und Trost bereit, gegenüber den Beschränkungen kann sie Protest legitimieren und gegenüber der Apathie Widerstand aktivieren. Die christliche Perspektive der Verheißung des gelingenden Lebens baut nicht auf Weltflucht auf, sondern sie intendiert Weltgestaltung. Es geht nicht um eine Vertröstung auf eine zukünftige bessere Welt, sondern darum, unter Zuhilfenahme des christlichen Zuspruchs die Welt anders zu sehen – und wer die Welt anders sieht, entdeckt neue Handlungsmöglichkeiten.«1406
Insbesondere das Potential ungelebten Lebens soll dabei ins Blickfeld rücken – der Überschuss, den eine Perspektive im Sinne der hoffnungsvollen Möglichkeit des Andersseins, der Verwandlung, die man etsi vita alia daretur1407 nennen 1404 Vgl. Sparn: Wer kennt meine Lebensgeschichte?; Schweitzer : Lebensgeschichte und Religion. 1405 Ziebertz: Biografisches Lernen, 379ff; nach Peter Alheits Begriff. 1406 A. a. O., 355. 1407 Vgl. Hugo Grotius’ »etsi deus non daretur« in Grotius: De Jure Belli ac Pacis in religionspädagogischer Umkehr auf die Perspektive des Unterrichtens bezogen: Meyer-Blanck:
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könnte, mit sich bringt und die reflektierend zurückwirkt auf das eigene Leben. Überhaupt bildet die Reflexivität den Schlüssel dafür, Brüche, Übergänge, Transite zwischen dem Selbst und Anderen, in entwicklungspsychologischer Hinsicht zwischen einer Lebensphase und einer anderen zur Geltung zu bringen. »Biografisches Lernen als Subjekt-Werden-Können« ist mit Johann Baptist Metz, Peter Biehl und Henning Luther dabei im Blick; eine klare Rolle bekommt auch die christliche Traditon im Verständnis gelingenden Lebens. Für die Inanspruchnahme der Differenz, die Metz mit dem Person-Sein und SubjektWerden aufgreift, ist alle Personalität des Lernens in der Tat keinesfalls eine einlinige, ungebrochene Sache. In Anbetracht dieser theologisch unabdingbaren Perspektive der Brüchigkeit kommt man jedoch aus der Aporie, welche auch ein christliches Paradigma des »gelingenden Lebens« mit sich bringt, nicht heraus. Sicherlich schafft es Freiraum für die Lernenden, das Lernen an Vorbildern durch ein Lernen am Modell zu ersetzen; damit ist nicht ersetzt, dass gelingendes Leben auf ein Erfolgsmodell setzt. Ein Lernweg, der nicht ad hoc beim Dualismus von Gelingen und Scheitern ansetzt, sondern in plural-differenzierterer Weise die Zwischenzonen zwischen Widerfahrnis und Antwort berücksichtigt, geht nicht allein vom autobiografischen Lernen aus, sondern setzt die Heterobiografie ins Zentrum des Wahrnehmens und Erkennens. Dafür ist zum einen maßgeblich, dass alle pathische Erfahrung sowohl eine andere Erfahrung (im Sinne der Irritation und desVerrückens von Gewohntem) als auch eine Erfahrung des Anderen (im Sinne der Öffnung des Selbst) ist. Was wir von Anderen kennenlernen, erfahren und wissen, in erwarteter und erst recht in überraschender Weise, trägt zum Bild bei, das wir von Anderen haben – und erwirkt die Spiegelung und Ausrichtung des eigenen Selbst, im annähernden ebenso wie im abgrenzenden Sinn. Wir bilden uns, heißt damit auch gleichzeitig: Wir bilden indirekt einander. Dass dabei vorgeprägte Muster und auch Vorurteile, im konstruktiven wie im destruktiven Sinn, maßgeblich sind, liegt auf der Hand. Das historische Beispiel Richard Kabischs macht deutlich: In vielen solcher Modelle ist es von Bedeutung, dass die Figuren, an denen gelernt wird, eine typische, als christlich identifizierbare Lebensform haben. Dazu gehören insbesondere Wendepunkte wie Bekehrungserlebnisse. Wenn diese biografischen Narrationen als life stories lesbar und wahrnehmbar werden, treten ganz andere Aspekte zum Vorschein, die unter der Lupe gegebener Fragmentarität aufgebrochen werden können: von vermeintlich unterscheidbaren Biografien in re-
Jugend – Theologie – Bekenntnis, 37 sowie Dressler : Religionsunterricht – Angebot unter Angeboten?, 110.
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ligiöse und nichtreligiöse, bis zum ungebrochenen Vorbildcharakter, der in manchen katechetischen Konzepten durchscheint. Das Lernen an Biografien ist auch in der Religionspädagogik ein Weg, die eigene Lebenshaltung an anderen Gestalten zu spiegeln, zu formen und Leben zu gestalten. In der Logik von Pathos und Response zeigt sich: Existenziell-leibliche Schmerzerfahrung bewirkt in dem einen wie dem anderen Sinne Transitionen. »An ihren Brüchen werdet ihr sie erkennen«: Wie Dorothee Sölles didaktischer Weg, ihre Leidenstheologie aufzuzeigen, über Gestalten der Kirchengeschichte aller Jahrhunderte führte, so werden andere Gestalten über biografische Erfahrungen des Pathischen, die sich explizit mit der Thematisierung von Glauben verbinden, in ihrer Konkretheit sichtbar, d. h. mit der Anschaulichkeit verbindet sich zugleich eine Ernsthaftigkeit. Relativ nah an der gegenwärtigen Wirklichkeitserfahrung im Rahmen einer geschichtlichen Kontextualisierung ist eine Gestalt wie Dietrich Bonhoeffer. Schwierigkeiten tun sich jedoch intentional dort auf, wo die Andersartigkeit Bonhoeffers nur auf eben die historisch-pathischen Umstände von Kriegsbedrohung und Gefangenschaft reduziert werden, ansonsten aber das Glaubensvorbild in den Vordergrund gerückt wird. Wie in verschiedenen Stationen der Religionsdidaktikgeschichte oft aufgegriffen, wird im Zusammenhang pathischen Lernens auch die Begegnung mit den als Vorbildern christlichen Glaubens verstandenen Gestalten aufgegriffen, deren Leiden von dem eigenen eher entfernt ist und deren Rezeption in pädagogischem Sinne zur Legendenbildung neigt. Im Sinne einer Aufdeckung bedeutet das Aufgreifen von Heiligenbiografien im Prozess religiösen Lernens einen Weg von der Fremdheit zur Nähe und zurück, da das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Narrativität hinsichtlich der Biografie spannungsreich bleibt. Soll nicht nur die Spannung zwischen eigenem und anderem Leben, sondern auch die zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit erhalten bleiben, ist ein dynamischer Umgang erforderlich, der einen Raum der Annäherung an und wiederum Distanzierung von Traditionsgestalten gelebter Religion ermöglicht. Insofern ist ein biografisches Lernen am Modell gefragt, welches ein transitorisches Lernen dahingehend ermöglicht, auch abzusehen von heroischen Lernzielen. In der Frage, welche Position Perspektiven von Heil, Resilienz und Salutogenese religionsdidaktisch einnehmen, sind differenzierte Antworten nötig. In der evangelischen religionsdidaktischen Praxis ist der skizzierte Erzähl- und Gestaltungsraum im Umgang mit biblischen Figuren schon besser erprobt. Nicht immer haben die biblischen Gestalten ein überdeutlich konturiertes Gesicht, nicht immer werden ganze Lebensläufe einbezogen. Aber das Lernen, das auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung etwa probeweise Identifikationen mit biblischen Gestalten ermöglicht, kommt ohne biografische Bezüge nicht aus. So werden insbesondere Frauengestalten aufgrund ihrer besonderen Rolle innerhalb der Geschichten zu Modellen, die Momente der Passivität, des
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Leidens und des Beschenktwerdens in sich vereinen. Dazu zählen etwa Rut, Maria aber auch namenlose Gestalten, die von vornherein in einen Zusammenhang gestellt werden, der von ihrem biografischen Pathos erzählt. Als biblische Fallgeschichten sind sie in der Form des Gleichnisses oder der Wundererzählung wie Erfahrungshüllen für die eigene, zumeist identifikatorische Gestaltung gegeben. So bietet die verkrümmte Frau (Lk 13, 10–17) eine Maske für körperliches, soziales Leiden, der Blinde von Jericho (Mt 10, 46–52 parr.) für das Empfangen einer Sicht auf das Leben. In Modellen und Entwürfen zum performativen religiösen Lernen spielt jedoch nicht nur die probeweise Identifikation eine Rolle, sondern auch die Begegnung mit dem Fremden, Anderen.1408 Hier wird die Begegnung mit dem ungelebten Leben in einer Mischung aus Sichtbarkeit – am Anderen, dessen Leben sich vom eigenen unterscheidet – und fragmentarischem Zustand des Noch-nicht-Entworfenseins deutlich. Responsiv wird religiöses Lernen, wenn es die noch nicht gegebenen Antworten des Anderen eröffnet. Bezeichnenderweise geschieht dies in einer radikalen Weise in dem Zusammenhang, der biblisch für die Theo- und Anthropodizeeproblematik Pate steht. Das biblische Buch Hiob erzählt in narrativ-szenischer Weise den Kontext für die Theodizee- bzw. Anthropodizeefrage nach dem Warum, welche die pathische Seite des Lebens verschärfend herausstellt.1409 Was in Heiligenlegenden schwierig erscheint, nämlich die Krisen- und Leiderfahrung in ihrer Fremdheit auch an die gelebte Erfahrung des lernenden Subjekts heranzurücken, zeigt sich in Bezug auf eine biblische Figur wie diese noch einmal anders. Aus dem FALL wurde ersichtlich, dass zwar die biblische Erzähldarstellung eine radikale Erzählung dahingehend ist, dass die Unbescholtenheit des Hiob gerade einen Hiatus gegenüber dem eigenen Selbstverständnis darstellt, doch zugleich bietet die Elementarizität, in der das Mensch-Gott-Verhältnis im Hiobbch aufgenommen und verarbeitet wird, eine größere Nähe zur gelebten pathischen Erfahrung, als es z. B. durch die Thematisierung von Theodizeefragen möglich wäre. Das Material, die Werkstücke, in denen Leben aufgeschrieben ist – als BioGrafie – ist hier kein Life-Course im Sinne eines chronologischen Lebenslaufs, es wird jedoch ein Spot auf markante Lebensepisoden und -szenen gelegt. Biblisches wie biografisches Lernen ist ein heterografischer Prozess, weil durch die eigene Wahrnehmungs- und Verstehensfolie hindurch Facetten des Lebens eines Anderen gezeigt werden und zurückwirken. Das lernende Selbst wird so zu einer Response animiert. Es muss jedoch zugleich an das eigene, vertraute Leben rückgebunden werden, weil die Fremdheit sonst in Bezugslosigkeit versiegt. 1408 Vgl. Klie / Leonhard: Performative Religionsdidaktik. 1409 Vgl. dazu Kap. 4 dieser Arbeit.
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Transformatorisch-biografisch lernt sich auch z. B. an einem literarischen Fall, an dem Biografie heterobiografisch gespiegelt wird: Eric-Emmanuel Schmitt befasst sich in seiner Erzählung »Oskar und die Dame in Rosa«1410 mit dem Fall eines Zehnjährigen und seiner tödlich verlaufenden Krankheit Leukämie. Chemotherapie und eine Knochenmarktransplantation haben bei Oskar nicht angeschlagen. Er erkennt die Aussichtslosigkeit seiner gesundheitlichen Lage und leidet an Einsamkeit; seine Eltern kennen sein Schicksal und versorgen ihn, aber sie reden nicht mit ihm über seine Situation. Die Besuchsdame Oma Rosa gewinnt Oskars Vertrauen und begleitet ihn bei der Auseinandersetzung mit Lebens- und Glaubensbelangen.1411 »Oskar und die Dame in Rosa« greift narrativ Fragen nach Leid, Krankheit und Tod auf, nimmt dabei selbst ebenso Bezug auf biblisch-theologische Tradition und medizinische Erklärungsmuster entfernt sich davon auch wieder. Die fragende Haltung an professionelle Rollen (Pädagogen, Theologen und Mediziner) schafft eine besondere Nähe zu der lebensweltlichen Erfahrungsperspektive des empirischen FALLes – auch durch die Ich-Perspektive des personalen Erzählers, der selbst betroffener Kranker ist, und durch den schlussendlichen Perspektivenwechsel zur professionellen Perspektive der zweiten Hauptfigur Oma Rosa. Durch diesen Fall entsteht das Potential, sich den Leerstellen zu nähern, welche die ungesagte Erfahrung des Schülers Johannes im empirischen FALL hinterlässt; insofern bildet er eine kulturelle Schnittstelle zwischen der Erfahrung im empirischen FALL und der theologisch reflektierten Erfahrung, wie sie in theologischen Entwürfen zutagetritt. Zugleich bietet er eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven auf Pathoserfahrung: Die biografischen Entwicklungsperspektiven, die narrativ im Zeitraffer dargestellt werden, ermöglichen einen Blick auf das
1410 Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa. Die Erzählung hat hohe Auflagen, wird literaturwissenschaftlich jedoch kaum beachtet. Die Widmung gilt der Schauspielerin Danielle Darrieux, die für ihre Rolle der »Mamie Rose« in Pariser Uraufführung prämiert wurde. In den letzten Jahren wurden in Theatern nahezu aller Teile Deutschlands und vieler europäischer Länder Bühnenfassungen aufgeführt. Dann wurde das Werk auch verfilmt und zog am 7. 10. 2010 ins Kino. Vgl. auch Kap. 3.1.1. 1411 Von ihr animiert, schreibt er täglich einen Brief an Gott, obwohl er zunächst nicht an ihn glaubt. Oma Rosa rät ihm, in den zwölf verbleibenden Tagen des Jahres und sein Leben im Schnelldurchlauf von täglichen Zehnjahresschritten vorherzusehen. So antizipiert Oskar sein ungelebtes Leben im Kontakt mit den anderen kranken Kindern, der Freundin Peggy Blue, dem Arzt Dr. Düsseldorf, den Eltern, Oma Rosa. Im imaginativen Schnelldurchlauf wird er Pubertät, Erwachsenwerden, erste Liebe mit Schmerz und Versöhnung, Ablösung, Hochzeit, Trauer und eine Andacht in der Kapelle gewahr. Als er am Morgen des zwölften Tages, Silvester, stirbt, schreibt Oma Rosa selbst einen Brief an Gott und bedankt sich dafür, dass Oskar ihr Leben in der letzten Zeit begleitet hat. Manche Rezensenten sehen Oma Rosa z. T. auch als ältere – ehemalige? – Krankenschwester. Oskar führt sie jedoch in jedem Fall als »von draußen kommen[d]« ein (Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa, 12).
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ganze Leben. Hier wird die Brüchigkeit tradierter theonomer Gottesbilder in der Erzählung selbst relevant.
5.2.3.3 Performatives Lernen und Lehren: Zur Artikulation und Kommunikation von Unsagbarem Von diesen Prämissen her soll ein weiterer Blick den Möglichkeiten und Grenzen performativer Religionsdidaktik gelten.1412 Den Ansätzen und Impulsen zum performativen Religionsunterricht ist bei aller internen Heterogenität1413 Zentrales gemein: Sie gehen davon aus, dass die bestehende religionspädagogische »Großwetterlage« im Zuge von Traditionsbrüchen – inwieweit überhaupt von »Abbrüchen« die Rede sein kann, ist Definitionssache und folglich fraglich – Bindungen zu geformter und verfasster Religion lockerer sind, Beziehungen weniger explizit als selbstverständlich gelten und religiöse Identitätsfindung, soweit man von ihr sprechen kann, in biografische Prozesse der Wahl eingebunden sind – sei es bewusst, durch Gelegenheiten oder Zufall. Aus diesem Grund geht es im Rahmen unterschiedlicher Begründungszusammenhänge auch um verschiedene Richtungen und Intentionen einer Verhältnisbestimmung von verfasster Religion und lernendem Subjekt: Liegt der Schwerpunkt bei den semiotischen Ausprägungen1414 stärker im Hervorheben der referentiellen Funktion von Religion durch ein pragmatisches Verhältnis von gelebter und gelehrter Religion – damit verbindet sich der Akzent auf der Performanz christlicher Religionsgestalten und einem deiktischen Modus bzw. Gestus des Zeigens –, so ist in den poststrukturalistischen Ausprägungen1415 das Gewicht deutlicher auf der performativen Funktion der Wirklichkeitskonstitution, bei der gemäß der Performance die Grenzen zwischen Darstellung und Wirksamkeit fließend sind.1416 Den Ausgangspunkt bei Gestaltbildungsprozessen stellen solche Zugriffe dar, die stärker Verwendungskontexte im Blick haben und für die das phänomenologisch-gestaltherapeutische Paradigma leitend ist. Eine weitere Variante, die vor allem im katholischen Bereich Gehör findet, legt mit der Per1412 Vgl. Klie / Leonhard: Schauplatz Religion; dies.: Performativer Religionsunterricht u. a. 1413 Vgl. dazu Diskussonsbeiträge z. B. von Englert: Performativer Religionsunterricht – eine Zischenbilanz; weitere Diskussion auch aufgenommen in Klie / Dressler : Performative Religionspädagogik. Rezeption und Diskussion 2002–2008. Die Begründungen für diese Heterogenität liegen in der ähnlich auffächerbaren Herleitung des Performanz- und Performativitätsbegriffs zwischen Sprach-, Kultur- und Theaterwissenschaft. 1414 Dazu zählen v. a. Bernhard Dressler, Thomas Klie, in produktiv-kritischer Auseinandersetzung auch Martina Kumlehn. 1415 So vor allem bei Dietrich Zilleßen und Harald Schroeter-Wittke. 1416 Nach Harald Schroeter-Wittke ist wichtig, dass die »Performance die Religion der daran beteiligten Subjekte allererst entstehen und zur Darstellung kommen« lässt (SchroeterWittke: Performance als religionsdidaktische Kategorie, 62.
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formativität die Einführung und Einübung in religiöse Rede nahe – die Suchbewegungen der Lernenden gelten als »Performation, ein ›Durch-Bilden‹ auf Gott hin«1417 Für das pathische Lernen sind diese Zusammenhänge von Religion und lernendem Menschen noch einmal neu zu belichten. Mit und am Pathischen zu lernen, schließt die Grenzen des Sicht- und Sagbaren ein und erfährt damit eine spezifische Bestimmung. Dies ist im Rahmen der Vertiefung religiöser Bildung in mehrfacher Hinsicht relevant. Zunächst entbehrt die Akzeptanz und Wertschätzung, dass Lernende als menschliche Geschöpfe Gottes atmen und am organismischen wie intellektuellen Leben teilnehmen, nicht der Grenzen von deren Ausdruckskraft. Aus anthropologischer Sicht ergeben sich Diastasen jeweils zwischen dem, was Kinder und Jugendliche sagen können, wollen und müssen. Ursachen dafür sind sehr vielfältig. Im Rahmen von Schule und Religionsunterricht werden sie diagnostisch in Bereichen des simplen Nicht-Wissens gesucht, zuweilen werden aber auch Grenzen der Sprache und erst recht der religiösen Rede bedacht. Die Schlussfolgerung aus diesen Diagnosen lautet dann, dass dahinter liegende Erfahrungen entsprechend im Verborgenen liegen können; es bleibt jedoch strittig, inwieweit diese zum offiziellen religiösen Lernen hinzugehören. Gerade im Spannungsfeld der Sichtbarkeit des Gültigen und Beweiskräftigen, das auch in schulpädagogischen und fachdidaktischen Zusammenhängen eine Aufwertung erfahren hat, drohen Lebensseiten, die unerwünscht sind und funktionalen Erfolgsstrategien im Wege stehen, verdrängt zu werden – gleichwohl haben sie unmittelbaren und mittelbaren Einfluss auf das Lernen. Hinsichtlich des Potentials eines performativen Religionsunterrichts im Bezug auf die Dimension des Pathischen ist ein Theorieelement bedeutsam, das aus der Theatertheorie stammt und von dort auf den performativen Religionsunterricht bezogen worden ist. Gemäß Erika FischerLichte sind zwei verschiedene Funktionen des Theaters zu unterscheiden: »Während die referentielle Funktion auf die Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen, Situationen etc. bezogen ist, richtet sich die performative auf den Vollzug von Handlungen – durch die Akteure und zum Teil auch durch die Zuschauer – sowie auf ihre unmittelbare Wirkung.«1418
1417 Darstellung nach Schambeck: Religion zeigen und Glauben lernen in der Schule?, 72. 1418 Fischer-Lichte: Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, 279. Claudia Gärtner fragt mit Austin kritisch zurück, »ob die Differenzierung zwischen der ›performativen‹ und der ›referentiellen‹ Funktion nicht hinter Austin zurückfällt, insofern sie seine Revision der Unterscheidung performativ / konstativ nicht berücksichtigt« (Wirth: Performanz (Anm. 2), 39 in Gärtner : Performative Religionspädagogik im Horizont kunstdidaktischer Performancearbeit, Fußnote.).
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Diese verschiedenen Aufgaben lassen sich auch auf den Religionsunterricht übertragen: Dessen Herausforderung liegt darin, die referentiellen und performativen Funktionen, die sich mit Religionsdidaktik verbinden, nicht nur in Bezug auf die Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Darstellbarkeit von Religion zu beziehen, sondern genau auf deren Grenzen und Negationen. Mit Blick auf die Erfahrung von Widerfahrnissen, die Passivität, die im Nicht-Sagen von Erfahrung liegt, die Tabus, denen Erfahrungen unterliegen, das Leiden, das in der ganzen Dimensionalität nicht in Worte gefasst werden kann, wird es nötig zu ermessen, inwiefern biografische, transitorische oder gar transformative Lernprozesse auch angesichts dieser Tiefe bzw. Höhe gelebter Erfahrung möglich und im Rahmen von Schule sinnvoll sind. Ursula Roth benennt entscheidende Kriterien dafür : »Didaktische und methodische Entscheidungen wären so zu treffen, dass der transitorische Aspekt der Performanz zum Tragen käme, d. h. dass das lebendige Unterrichtsgeschehen Vorrang hätte vor dem ertragssichernden Anfertigen von Hefteinträgen. Schließlich müsste vor allem der transformative Aspekt der Performativität zur Geltung kommen, indem Erfahrungsräume hergestellt und eingerichtet würden, in denen Schüler und Schülerinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrer solche Erfahrungen machen können, die eingespielte Verstehensmuster von Wirklichkeit aufweichen und – vorübergehend oder dauerhaft – durch andere, teilweise quer dazu stehende Deutungsmuster überlagert werden.«1419
Für diese Gangarten transitorischen und transformativen Lernens sind Wege der Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung nötig, die sich gleichsam in der Zurückhaltung einüben. Biehl ging auf Schlüsselerfahrungen ein, die eine stumme radikale Forderung zur Sprache bringen. Ihm ging es jedoch darum, »Gottes imperativische Nähe« im Zusammenhang der Verheißung zu verdeutlichen, die durch lebensweltliche Schlüsselerfahrungen zum Ausdruck im Sinne einer Aufdeckung gebracht werden.1420 Greift man die mit Biehl angestrebte zweite Ebene auf, dass es sich nicht vorrangig um eine kritische Rekonstruktion von Erfahrungen im Religionsunterricht handelt, sondern dass der Religionsunterricht selbst zum Ort von Erfahrung wird, ist schnell deutlich, dass deren Konzeptionierung nicht um eine aisthetische Ebene herumkommt, in der die verletzliche Leib-, Mensch- und Geschöpfllichkeit weder aus- noch eingeklammert wird. Worin die Chance und der Imperativ des Religionsunterrichts liegen, nämlich auch die verborgenen, unsagbaren Segmente von Leben und Religion zum Tragen zu bringen, damit befasst sich Dietrich Zilleßen in Teams mit Bernd 1419 Roth: Von der Inszenierung bis zur Performativität, 49; vgl. Gärtner : Performative Religionspädagogik im Horizont kunstdidaktischer Performancearbeit. 1420 Biehl: An Schlüsselerfahrungen lernen, 34.
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Beuscher und zuweilen mit Uwe Gerber sehr eingängig. Ihnen zufolge hat der Religionsunterricht »ins Spiel zu bringen, was marginalisiert, tabuisiert, verdrängt ist. Er bringt vor Augen, damit sinnenfällig wird, was am Bestehenden verborgen ist. Es soll Verborgenes gezeigt, Noch-nicht-Gesehenes sichtbar werden.«1421 Mit dieser auf psychoanalytisch-dekonstruktivistischer Analyse basierenden Verankerung wird vertieft, dass es mit einer bloßen Akzeptanz des Unsagbaren nicht getan ist – eine Weltsicht, die per se mit Offenbarungen umgeht, muss auch auf die Schattenseiten der Verschleierungen und Vertuschungen Licht werfen. »Der Mut, den es angesichts der Zweideutigkeiten des Lebens bedarf, kann aber nicht in Lernprozessen freiwerden, die sich mit den Zwängen des unbewussten Anderen entziehen und Schüler zum Spiel mit diesem dämonisierten Anderen befähigen. Es wird eine Art pädagogisches Masken-, Rollen- oder Puppenspiel sein müssen, ein Maskenspiel mit den Dämonen unserer Gesellschaft und Zeit, vielleicht auch mit den persönlichen, eigenen Dämonen. Deshalb sind Unterrichtsverfahren zu suchen, die das Argumentieren an das Leben und die Struktur anbinden […] und die alles Erleben und alle Erfahrungen mit Handeln, Spielen und Diskutieren ins Wahrnehmen, Beobachten, Denken und Argumentieren einbringen«.1422
Aus guten Gründen ist ein »Nachspielen« im Sinne einer bloßen Imitation des Fremden, so eben auch fremder Religionen, abzulehnen. Praxen, in denen Rituale ungebrochen imitiert werden, kämen einer ästhetisierten Verkitschung nahe. Im Sinne der Differenzierung von Michael Grimmitt liegt genau an diesem Punkt ein entscheidendes Kriterium für das religiöse Lernen, das als Gestaltbildungsprozess nicht nur in der Abstraktion von Religion Kenntnis gewinnt, sondern auch an Religion, also im Kontakt und in der Begegnung mit ihr entwickelt wird.1423 Beuscher und Zilleßen betonen die »Würde des Undeutlichen, des Ambivalenten und des Fraglichen«1424 ; damit ist auch das Schwankende, Unschlüssige, Unangetastete, nicht konkret Umreißbare angesprochen. Auch wenn auf den ersten Blick damit noch vage bleibt, was daran religiös ist, so wird eine Kritik am Aussparen von Tabus und Leidenserfahrungen deutlich. »Dem fremden Wort die eigene Stimme leihen«1425 : Diese bei Christoph Bizer liturgiedidaktisch kontextualisierte Formel verdeutlicht auch im lebensweltlichen Zusammenhang, dass das religiöse Geschehen zwischen Gott, Mensch und Mensch eine Öffnung der autobiografischen zur heterobiografischen Artikula1421 1422 1423 1424 1425
Zilleßen / Gerber : Und der König stieg herab von seinem Thron, 40. Beuscher / Zilleßen: Religion und Profanität. Vgl. Grimmitt: Religious education and human development. Beuscher / Zilleßen: Religion und Profanität, 128. Christoph Bizers Diktum, ähnlich in Bizer : Die Bibel als Form – in ihren Formen. Vgl. auch Leonhard: Leiblich lernen und lehren, 334.
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tion ist. Die Stellvertretung der Stimme des Anderen ist ein Schritt, die exzentrische Positionalität zu akzeptieren und in Lernprozessen auf Begegnung vorzubereiten bzw. diese zu inszenieren. 5.2.3.4 Ethisches Lernen: Com-Passion mit Gefühl und Vernunft Schon oben wurde der Zusammenhang von Bildung und Mitgefühl thematisiert.1426 Dieser Gedankengang fordert didaktische Konkretion. Einen Ansatzpunkt für konkretes ethisches Begegnungslernen in Anbindung an Konkretion und Hilfe bildet ein Projekt, aus dem sich didaktische Strategien herausgebildet haben: Initiativ für einen Ansatz zum caritativen bzw. diakonischen Lernen wurde das Compassion-Projekt, das als Initiation zu einem »Lernen zur Mitleidenschaft« angesehen werden kann.1427 Mit dem Ziel, sozialverpflichtete Haltungen wie Solidarität, Kooperation, Kommunikation und Engagement« für hilfebedürftige Menschen einzunehmen, lernen Kinder und Jugendliche von Projektschulen im Laufe eines Schuljahrs jeweils zwei Wochen lang eine soziale Einrichtung (u. a. Altenheime, Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen, Obdachlosenheime, Kindergärten, Bahnhofsmissionen) kennen. Als Projekt ist es darauf angewiesen, zeitlich initiiert und begrenzt, aber auch begleitet zu sein. Grundmodell ist eine verantwortungsvolle Gesellschaft als Gemeinschaft, wie sie auch in ekklesiologischen Vorstellungen des Ökumenischen Rates deutlich wird. Die Wirkungsforschung zeigt den Erfolg, dass vor allem veränderte Haltungen maßgeblich sind – die Veränderung betrifft den Wandel von der vertikalen strukturierten Hilfebereitschaft zu einem Sensus für das Zusammenleben in einer Gesellschaft und Gemeinschaft. Daher geht es um eine Verknüpfung von Erlebnis und Fachunterricht, Erfahrung und Reflexion, welche die Nachhaltigkeit der Veränderung und Gewinnung sozialer Haltung sichern soll. So steht intentional am Gegenpol zu Individualisierung1428, nicht jedoch zur Subjektivierung, soweit diese die Intersubjektivität grundsätzlich einschließt und auch berücksichtigt. Compassion distanziert sich davon, das Lernen von Gefühlen zur Basis zu machen – insofern gibt es durchaus auch ein kritisches Moment gegenüber dem Erlebnis; vielmehr setzt das Konzept auf »die Entscheidung, ob ich einem Menschen menschlich begegne und sozialverpflichtet zu handeln bereit bin« als bewusstes rationales Moment für eine »reflektierte Haltung des Sozialen«.1429 Gefühle seien weder zu erzeugen noch sei über sie zu verfügen. Damit gibt es 1426 Vgl. Kap. 5.1.2.3. 1427 Auswertung unter Lothar Kuld, Stefan Gönnheimer : Compassion – Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln. 1428 Vgl. Rekus: Compassion als pädagogisches Projekt. 1429 Vgl. Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg: Compassion.
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einen guten Grund und Gegenpol zu emotionalen Elementen religiösen Lernens, die missbrauchsanfällig sind.1430 Es geht also um Lernen aufgrund einer Entscheidung, die das Gefühl reflektiert: Distanz, Ekel, Abscheu als Gefühle, die ebenfalls gelebt werden, sollen nicht verneint, aber unter die Lupe genommen werden. Demjenigen, dem das Mitleid nicht möglich sei, soll ein vernünftiges Handeln ermöglicht werden. Dazu sind, wenn man die Kategorie der Erfahrung und Widerfahrung einschließt, zwei Diskussionspunkte zu nennen, die den Ansatz weniger in Frage stellen als ihn vielmehr vertiefen. Entgegen ideologieanfälliger Verhaltensmodifikation im behavioristischen Denkansatz ist das rationale Moment des Haltungslernens sicherlich nicht zu unterschätzen. Wenn die Selbständigkeit der Handlungsleitung gefährdet erscheint1431, dann deshalb, weil in ihr Motive deutlich gemacht werden, die die Missbrauchsanfälligkeit von Gefühl verdeutlichen.1432 Trotzdem bleibt hier die Frage, ob der Ansatz in der Realität nicht stärker auf Erfahrung beruht, als die Auswertungsperspektiven dies nahelegen – und damit auch, ob denn Gefühle dabei außer Acht gelassen werden können – ob es wirklich egal ist, ob jemand Mitgefühl zu entwickeln imstande ist oder nicht. Ein phänomenologischer Zugriff auf dieses Konzept ermöglicht, die leiblichen Anteile des Lernens als nicht nur soziales, ja moralisches Lernens zu sehen, sondern deren Erfahrungstiefe bewusst zu machen: Dazu lohnt es sicherlich hinzusehen, welche Bewegungen Menschen nach- und mitvollziehen, wenn sie ihre Haltungen ändern, also was in der Zwischenleiblichkeit auslösend ist für Haltungsänderung.1433 Erkenntnisse über das mimetische Lernen, das der Funktion der Performativität religiösen Lernens zugrund liegt, zeigen dabei auch die Kraft der Mimesis als bildenden Faktor, das sich immer auch am Lernen an Vor-Bildern konkretisiert, das aber nicht auf Entscheidungen allein zurückzuführen ist.1434 Ohne die Urteilskompetenz schmälern zu wollen, die dieser Weg fördert, erscheint die Wahrnehmungsseite dieses Lernens unterbelichtet. Compassion daraufhin zu beleuchten, inwieweit ästhetische Komponenten dieses Lernen tatsächlich fördern und welche ergänzenden bzw. vertiefenden Lernschritte der Wahrnehmung und Gestaltung gerade in diesen Bereichen leidenden Lebens und der Verunsicherung der Lebensperspektiven auch in Bezug auf eigene Biografien gestaltbildend sind, liegt sicherlich im starken Interesse der Intentionen von Compassion. Welche ergänzenden, kontrastierenden, auch künstlerischen Bilder und Klänge vertiefen ein Mitleiden, eine soziale Haltung, geben ihr aber auch die Kraft der 1430 Vgl. dazu die kritische Note in Kap. 5.1.2.2. 1431 Vgl. Rekus: Compassion als pädagogisches Projekt, 8. 1432 Diese Gefahr ist sicherlich durch den Missbrauch innerhalb der Reformpädagogik jüngst noch einmal sehr deutlich geworden. 1433 Siehe dazu Kap. 3. 1434 Vgl. Gebauer / Wulf: Mimetische Weltzugänge.
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Distanzierung, wo die Grenzen zwischen dem fremden und dem eigenen Leid psychisch zu verwaschen drohen – im Sinne von Com-Passion? Gotthold E. Lessings Mitleidstheorie zeigt: Die Reflexion der ästhetischen Anteile unterstützt sicherlich die Akzeptanz und Wirksamkeit von Haltungen, die ohnehin nicht nur in ethische »Bereiche« des Lebens abzuschieben sind. Nicht ohne Grund sind auch Bestrebungen performativen Unterrichts zum ethischen Lernen erfolgt1435 ; ebenso gilt es von der anderen Seite her die Verzahnung von Ethik und Ästhetik fortzusetzen. So wie Martina Kumlehn zu einem Brückenschlag ermahnt, die ästhetische Kategorie in der Diakoniewissenschaft zu reflektieren1436, ist es an der Zeit, dort die Verkettung von ethischen Momenten und ästhetischen Grundlagen auch didaktisch aufzugreifen. Ein zweites Augenmerk lege ich darauf: Com-Passion lebt auch davon, dass auch die Gefühle der anderen sichtbar werden. Das ist die zweite Ebene des ›com‹: nicht nur das Miteinander in den Leid- und Hilfesituationen, sondern das ›com‹ der gemeinsamen Reflexion, die ohne das Zutagebringen der entstanden emotionalen Zustände auch kein Lernen ermöglichen würde. Die phänomenologische Anthropologie hat auch in diesem Bereich die Phänomene der Einleibung und Resonanz der Gefühle der anderen ins Bewusstsein gehoben als prägend für das eigene Befinden und Denken; soziologische sowie religionstheoretische Überlegungen zur affektiven Kraft und Bindung von Werten unterstützen dies.1437 Es ist darüber hinaus ersichtlich, dass solidarisches Lernen und Orientieren nicht am Nicht-Tun orientiert ist, dass aber jede Aktion des Helfens stets ein Gegenüber hat, das durch die Passivität und das Leiden strukturiert ist. Auch die Praxis zeigt, dass Passivitätserfahrungen zu einem Weg der Com-Passion, der Verständigung darüber, dazugehören. Fraglich und reflexionswürdig ist hingegen, wie sich die Passivität im Handeln auch in Com-Passion zeigen kann und darf. Mit diesen exemplarisch am Projekt eruierten Elementen wird ethisches Lernen intersubjektiv ästhetisch geschärft.
5.2.4 Didaktik der Begegnung und Gestaltung Dem oben beschriebenen erziehungswissenschaftlich grundsätzlichen Zusammenhang von Bildung und Begegnung entsprechen didaktische Überlegungen. Berücksichtigt man die pathische Dimension von Bildung und Lernen in Bezug 1435 Siehe dazu auch das performative Beispiel von Eickmann: Vom Rand der Gesellschaft mitten ins Leben hinein. 1436 Vgl. Kumlehn: Irritation und Expression; Leonhard: In der Mitte und an den Grenzen: Leiblich lernen. 1437 Vgl. Joas: Entstehung der Werte; ders.: Braucht der Mensch Religion?
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auf den Religionsunterricht, führen alle Überlegungen zu didaktischen Bestrebungen nicht daran vorbei, dass auch religiöses Lernen auf Begegnung angewiesen ist. Die Form des bildenden Weltzugangs, die sich nach Klieme auch in Domänenspezifiken differenzieren lässt, erfordert Kontakt mit Mensch und Welt und in ethischer wie ästhetischer Hinsicht Didaktiken, die die Formung und Gestaltwerdung des Gegenübers und des Kontakts zutage treten lassen. Diesen Kontaktnahmen und Begegnungen eignet immer eine gewisse Passivität, Hingabe und Geduld. Dass diese Formen auch soziale Formen der konkreten Begegnung erfordern, die das Grundstück der Schule überschreiten, zeigt nicht erst der vorliegende FALL in seiner Evokation zu Begegnung; von den künstlichen Gegebenheiten der Schule, die stets nur zum Teil aufzubrechen sind und doch aufgebrochen werden müssen, führt ein notwendiger Weg zu originalen Begegnungen1438, wie sie grundlegende pädagogisch-anthropologische Konzepte erbracht haben und wie sie auch aus religiösen Gründen wichtig sind. Didaktische Strategien und Konzepte müssen diese Dimension von Begegnung, wie in Kap. 3 entfaltet worden sind, einrechnen; Religionsdidaktik hat die Aufgabe, diese auf den ihr eigenen konstitutiven Weltzugang hin expliziten wie impliziten Gegenstände, Wege und Haltungen so zu entfalten, dass sie den lernenden Subjekten wie der lernenden Gemeinschaft leiblich ersichtlich und einsichtig werden. Dass dabei unterschiedliche didaktische Strategien notwendig sind, zeigt der Weg des vorliegenden Falles ebenso wie dessen in Bezug auf die Weltbegegnung darin unberücksichtigten Elemente. Entscheidende Konsequenz aus dieser Fallstudie ist ein Zusammenspiel von ästhetischen und ethischen Motivationen und Intentionen für das Lernen in, von und letztlich sogar über Religion. Religionskulturelle und theologische Erkundungen haben gezeigt, dass in der Thematik ethische Kristallisationspunkte des Pathischen mit ästhetischen verknüpft sind und dabei insbesondere die ethische Perspektive deren Plausibilität verstärkt. Schlüsselerfahrungen werden durch Wahrnehmung erneuert und reflektiert. Hier handelt es sich auch um eine prodidaktische Entscheidung. Damit rückt jedoch auch das Interesse an den Zielen der Öffnung für Sinnfindung religiösen Lernens in den Blick. Über das heterobiografische, performative Lernen entfaltet sich eine bibeldidaktische Möglichkeit der Kommunikation des Unsagbaren und Verstummten, die Zeichnung des Verborgenen. Deren Konkretion gestaltet sich im Kontext von Begegnung; diese wiederum ist verkürzt gedacht ohne deren ästhetische Voraussetzungen. Wie im sich entrollenden FALL im Raum der Schule und im Kontakt mit den Kontexten zeigt, dass soziale Formen gelebter Begegnung nicht nur im Religi1438 Vgl. Roth: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens; Loch: Pädagogische Untersuchungen zum Begriff der Begegnung; Biehl: An Schlüsselerfahrungen lernen.
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onsunterricht stattfinden und wichtig sind, sondern auch den Religionsunterricht prägen, gilt für alles Begegnungslernen der Zwischenraum als maßgeblich, der den Hiatus zwischen Pathos und Response stets markiert und der aber genau das Antworten auf Ansprüche des Leidenden fordert und fördert. Grundlegender zu berücksichtigen ist daher für alle religionsdidaktischen Ansätze, Dimensionen und Perspektiven1439 der Ausgangspunkt größerer Heterogenität und das Inter in der schulischen Bildung. Es wird zukünftig genauer zu überlegen sein, wie Interaktion, Interkonfessionalität, Interreligiosität, Internationalität, Intergenerationalität im Unterricht dimensional zur Geltung kommen. Religiöses Begegnungslernen ebnet und ermöglicht allererst Wege des Dialogs und folglich des dialogischen Lernens, das zwischen Konfessionen, Religionen, Generationen und Kulturen sich ereignen möge.
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Responsive Schulkultur: Religionssensible Schule und jugendsensible Kirche
Diese Studie nahm ihren Ausgangspunkt bei der kritischen Sichtung von Herausforderungen im professionsbezogenen Feld der Schule. Der Gedankenweg führt nach dem Anfang der Arbeit nun noch einmal ins Feld der Schule zurück mit der Frage, inwieweit Krankheit als Kontext im Schulleben realisiert wird. Während Johannes im Krankenhaus und zuhause ist, läuft der schulische Alltag »nebenbei« weiter. Annett ist herausgefordert, die Klasse weiter zu leiten. Zugleich werden die Bezüge zu den Menschen und Orten außerhalb der Schule weiter geknüpft: zu den Eltern, irgendwann auch an den Ort seines Praktikums. Aber auch in der Schule gestalten sich Beziehungen in diesem Licht anders. Die Verbundenheit und Unterstützung durch den Schulleiter, der sensibel auf den Fall in seiner Schule reagiert und sorgsam auf ein für den Jungen und seine Laufbahn förderliches Umgehen achtet, wissen sich Lehrkraft, SchülerInnen und Eltern getragen. Und vor allem innerhalb der Klasse und in Annetts Kontakt mit ihr verändert die Situation die Ernsthaftigkeit von Themen, die Bereitschaft, aufeinander einzugehen, den Stellenwert von eigenen Bedürfnissen und die Einschätzung von Notwendigkeiten, für andere da zu sein. Die Erfahrungen der Lehrerin tragen als ein Grenzfall ihres beruflichen Alltags dazu bei, dass sie erwägt, sich als Schulseelsorgerin ausbilden zu lassen.
1439 Zur konzeptionellen Terminologie vgl die Übersicht von Grümme / Lenhard / Pirner : Religionsunterricht neu denken, 10f.
Responsive Schulkultur
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Davon ausgehend stelle ich Überlegungen zu einer Raumtheorie von Schule als Lebens- und Lernort sowie zu religionssensibler Schulkultur an und lote aus, was für den Handlungsbereich der Schulseelsorge maßgeblich ist.
5.3.1 Schule zwischen Funktionalität und Lern- wie Lebensort 5.3.1.1 Schule im Blickfeld von Heterotopie Schulen sind institutionalisierte Orte des Lehrens und Lernens. Sie lassen sich auf unterschiedliche Weise theoretisch darstellen. Als gesellschaftliche Institutionen sind sie in den 1980er Jahren strukturfunktional durch die Wahrnehmung unterschiedliche Funktionen bestimmt worden: Sozialisation, Selektion, Qualifikation und Legitimation.1440 Diese Funktionalität hatte auch gesellschaftskritische Widersprecher. Sie wird im Zuge der Veränderung Aufgaben wie Enkulturation zugeordnet. Hartmut von Hentigs Neuentwurf1441 ebnete der Schule als Lebens- und Erfahrungsraum und damit eine Brückenfunktion zwischen dem Mikrokosmos der Familie und dem großen Kosmos der Gesellschaft und Welt, in dem man Unterschiedlichkeit gemeinschaftlich leben lernt. Ihr tritt der Gedanke der Unterrichtsschule1442 entgegen, der als Replik auf die Sozialpädagogisierung der Schule deren Grenzen hervorhebt und die Qualifizierungsfunktionen fokussiert. Ausgehend von diesen Modellen wirken institutionell nach innen unterschiedliche Ansätze zur Schulentwicklung. Michel Foucaults Ansatz der Heterotopien bietet die Möglichkeit, die Wirklichkeit von Schule sozialphänomenologisch im Blick auf Abweichungen beschreibbar zu machen.1443 Wir haben an anderer Stelle gezeigt, dass und wie eine nicht ausschließlich abgrenzende, sondern die Wirklichkeit des Fremden, Anderen auf der Basis von Waldenfels xenologischer Phänomenologie und Foucaults Heterotopiekonzept bauende Wahrnehmung von professionell Handelnden die Wahrnehmung von kultureller Sozialität schärft.1444 Lässt man sich auf die Perspektive ein, dass Schule keinesfalls in einer Beschreibung mittels der Theorie von Heterotopie aufgeght, jedoch in gewisser Weise Züge von Heterotopien in der Gesellschaft in sich trägt, erkennt man: Schule ist mit ihrer un1440 1441 1442 1443
Vgl. Fend: Theorie der Schule. Vgl. Hentig: Die Schule neu denken. Vgl. Giesecke: Wozu ist die Schule da? Vgl. Foucault: Die Heterotopien / ders.: Andere Orte. Michel Foucault hat seine Sozialphänomenologie der Heterotopie als Phänomenologie anderer, abweichender Orte innerhalb der Gesellschaft sozialkritisch in den 1960er Jahren entwickelt und an Gefängnissen, Friedhöfen und andere umgrenzten gesellschaftlichen Orten und Räumen verdeutlicht. 1444 Vgl. Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen.
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bestreitbaren Funktion der Vergesellschaftung nicht dominant von einer Krisenheterotopie her beschreibbar, aber als Ort des Lernens für das Leben und die Welt lebt sie von einem besonderen Modus der Abweichung im Sinne der Vorbereitung. Noch deutlicher wird aber, dass sie innerhalb ihrer selbst mit Abweichungen umgehen muss – systemisch zeigen sich damit Differenzierungen von der Hochbegabtenförderung und der Sonderschule. In sich vereint sie unterschiedlichste Ziele und Orte bzw. Funktionen; nicht von ungefähr geht es dabei auch organisational darum, pädagogische Verhältnisse zu bestimmen.1445 Schaut man auf das Verhältnis von Schule und Zeit, beobachtet man, dass Schule in ihrer Zeitlichkeit schwankt zwischen der Heterochronie, in der Traditionen in der Gegenwart aufgehoben sind, und der flüchtigen, weil ständig sich akkomodierenden und reformierenden chronischen Heterotopie, in welcher die Gegenwart und Aufhebung der Zeit im Erlebnischarakter an Bedeutung gewinnen. Insgesamt kann Schule unter diesem Blickwinkel als eine besondere Heterotopie verstanden werden, weil sie ursprünglich insgesamt weder Abweichungs- noch Kompensationsbetrieb ist. Ihre Funktionalität gegenüber dem sonstigen Leben und Lebensraum zeigt sich vor allem darin, Erkundung und Erprobung von Bildung für das Leben – in lokaler Hinsicht für das Leben außerhalb der Schule sowie in temporaler Weise für das Leben nach der Schule – zu sein. Damit befasst sich Schule auch mit dem Verhältnis von Realität und Illusion bzw. Künstlichkeit innerhalb der sozialen Wirklichkeit. Gegenüber den Phänomenen und Gegebenheiten der Lebenswelt besteht ein System der Öffnungen und Schließungen, das den Umgang mit dem Leben ritualisiert und regelt – diesbezüglich ist die Aufmerksamkeit auf das Geschehen und die Welt außen gerichtet, das durch Öffnung und Schließung auch das Hinausgehen in die Lebenswelt einschließt, aber natürlich auch und vor allem das Hineinholen derselben in den Raum der Schule. Wenn die Funktion der Bezogenheit auf das Draußen verengt wird auf abgegrenzte Aspekte des Lebens und auch hinsichtlich der Bezogenheit und Inhaltlichkeit des Lernens ein reglementiertes System von Öffnungen und Schließungen besteht, ist Schule auch anfällig für Funktionsstörungen: Erst dann werden die Ausprägung von Heteropien zugrundliegende Erfahrungen wie Widerfahrnisse, Einbrüche der Verletzlichkeit, Abweichungsphänomene überhaupt erst als dysfunktional und abweichend wahrgenommen. In dieser Hinsicht ist Schule insgesamt abweichend und insofern liegt der Gedanke nahe, Schule hinsichtlich ihrer Praxis als kulturellen – und hier sozial- wie religionskulturellen – Raum ins Visier zu nehmen. Je nachdem, aus welcher Perspektive erfasst wird und inwieweit Schule als 1445 »Die Schule ist im Unterschied zur Familie eine pädagogische Institution, die allein zum Zweck der Organisation pädagogischer Verhältnisse gegründet worden ist« (Merkens: Pädagogische Institutionen, 21).
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pädagogischer Ort des Lernens und Lehrens oder gar als Unterrichtsort gesehen wird: In der Schule gehören die Krankheit, der Todesfall und andere Widerfahrnisse zwar faktisch leider zum Alltag vieler Jugendlicher wie KollegInnen; das System Schule ist jedoch nicht in erster Linie funktional dafür zugeschnitten. Die Aufgabe von Schule ist primär anders, sie ist eingeliedert in das Erziehungssystem, das funktional wie intentional anders ausgerichtet ist, während beispielsweise Krankenhäuser ein Teil des Gesundheitssystems sind. Systemisch ergeben sich jedoch genau an diesen Stellen Überlagerungen des Alltags und von daher auch herausstechende Phänomene wie der Fall dieser Arbeit, Konflikte und Krisen: Sie stellen Unterbrechungen des prozeduralen Alltags dar und sind nicht intentional verankert, wollen jedoch bedacht sein. Die Schule ist ein Ort auf der Schwelle zwischen dem Gegebenheit des Lebens und der Funktionalität von Bildung; sie arbeitet zwar nie allein für sich selbst, sondern bleibt auf das Leben bezogen; zugleich schafft sie einen – wie auch immer gearteten – Ort mit eigenen Regeln. Insofern bleibt eine gewisse Künstlichkeit im Labor für den Ernst des Lebens erhalten, in dem der Umgang mit Welt, Raum, Zeit und Miteinander erprobt wird. Zugleich ist in ihr die Ernsthaftigkeit des eigenen Lebens vital, welche sich nicht nur funktional auf das Erziehungssystem und intentional auf das Leben-Lernen bezieht.
5.3.1.2 Kirche in der Bezogenheit auf Schule Das Verhältnis von Schule und Kirche hat eine lange, wechselvolle Geschichte, die hier nicht ansatzweise dargestellt werden kann1446. Das Verhältnis zeigt auch in der Gegenwart unterschiedliche Berührungspunkte, die je nach Kontext, Haltung, Organisationsgestalt – auch des jeweiligen Landes und der jeweiligen Kirchenverfasstheit – zu engen oder distanzierteren, einmütigen und konflikthaltigen Beziehungen führen. Zu einer spannungsvollen Geschichte haben die Ablösung der Schulaufsicht und die Autonomisierung von Schule beigetragen, aber in religionsunterrichtlicher Hinsicht auch eine Konzeptionsgeschichte, die zwischen der Lehrbarkeit des Glaubens und religionskundlichen Wegen mit Kirche seit langer Zeit begehbare Wege sucht und sich zu Pluralität, Positionalität und Konfessionalität verhalten muss – dies in Abhängigkeit von der religionspolitischen Entwicklung des jeweiligen Bundeslandes. Säkularität bildet hier einen theoretischen Reflexpunkt, der die Konfessionslosigkeit in den östlichen Bundesländern deutlicher und anders betrifft als die westlichen Bundesländer, in denen sich Abkoppelungs- und Entfremdungsprozesse zu Religion 1446 Vgl. zum instruktiven Überblick immer noch die Darstellung bei Helmreich: Religionsunterricht in Deutschland von der Klosterschule bis heute; vgl. auch Kliss: Schulentwicklung und Religion.
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als verfasster Lebensform gleichwohl wachsend abzeichnen. Deutlich dazu beigetragen hat in personaler Hinsicht auch die Rolle der Religionslehrkraft, die sich allein im letzten Jahrhundert vom Religionserzeuger über den Erzieher als Christ, den Emanzipator, den Lebensbegleiter zwischen Kirche und Staat, Kirche und Schule in unterschiedlichen Schattierungen gewandelt hat. Hier wird auch meine Perspektivität als Forscherin in der Zusammenarbeit mit evangelischen Landeskirchen noch einmal deutlich, in denen Schulleben und Schulseelsorge zwar unterschiedlich, aber doch im Laufe der letzten 10– 20 Jahre eine wachsende Bedeutung als Weg der Einflussnahme im Sinne von Kirche als Bildungspräsenz in der Schule gewonnen hat. Mit Strukturen wie Lehrertagen, Bildungsforen, der Schaffung von geistlichen BegleiterInnen in Schule, SchulpastorInnen und -diakonInnen sind personale VertreterInnen von Kirche in der Schule präsent. Zugleich ist für Religionslehrkräfte wie SchülerInnen damit durch personale Institutionalisierung ein Zugang zu Kirche geschaffen, der Lebensnähe und Lebensbezogenheit auf den Alltag von Schule, ihre Rhythmen, Strukturen, Freiheiten und Zwänge pflegt. Es würde sehr überraschen, wenn diese systemischen Kooperationen unkritisch geschehen und aufgenommen würden. Dennoch zeigt sich im Gefolge sich verändernder Biografien Jugendlicher sowie der sich verlängernden und intensivierenden Bedeutungen von Schule für das Leben, dass Kirche auch als eine Chance der Gegengewichtung, des Ausbalancierens von Leben und Leistung, der Rolle einer Gewährskraft für die Re-Konzentration auf Menschlichkeit wahrgenommen wird. Insofern stellt sich damit auch die Frage danach, wie Erwartungshaltungen dahingehend verändert werden, dass Kirche nicht nur darauf wartet, dass die Schule zur Kirche geht, sondern sich auf den Weg macht, auf Schule zuzugehen und dabei die Anforderungen aus schulischer Perspektive ernsthaft zu verfolgen, ohne alte Machtverhältnisse herstellen zu wollen, aber auch, ohne die eigene Profilierung preiszugeben – ein fortdauernder Annäherungs- und Begegnungsprozess. Kirche hat eine Chance als Ressource und Gestaltungsraum für eine heterotypische Schulkultur.
5.3.2 Heterotopische Herausforderungen: Religionssensible Schulkultur 5.3.2.1 Religion im Schulleben Unter Schulleben und Schulkultur lassen sich gemeinhin die Formen des gemeinsamen kulturellen Lebens in der Schule begreifen.1447 Für sie ist rechtlich Religionsfreiheit in der doppelten Auslegung maßgeblich (Art. 4 GG) und von 1447 Vgl. Schweitzer : Religiöse Bildung als Aufgabe der Schule.
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daher gelten sie als Räume für religiöse Bildung in der Schule, denen jedoch die Abkehr von Möglichkeiten des Zwangs und der Diskriminierung klar sein müssen. Diese Bestimmung von Schulleben ist ebenso pragmatisch wie rechtlich fundiert; sie sagt etwas über die Pflicht der Begrenzung aus, jedoch nichts über die möglichen Fehlhaltungen des Unterlassens. Diese Beschreibung ist jedoch eng gefasst: Sie erfasst kaum, dass der Unterricht die positive Religionsfreiheit bieten muss – und damit ist, wenn der Unterricht selbst dies nicht leistet, eine Form von Religionskultur in der Schule gefragt. Grundsätzlich ist daher Schulkultur als umfassender Zusammenhang des kulturellen Lebens in der Schule in Anlehnung an »die symbolische Ordnung der einzelnen Schule in der Spannung von Realem, Symbolischem und Imaginärem« verständlich.1448 Mir liegt daran, Unterricht und Schulleben als zwei unterschiedliche Phänomene und Organisationsformen von Schulkultur anzubringen; Schulkultur ist hier unter kulturtheoretischer Perspektive als bedeutsame symbolische Ordnung des Sozialen der weitere Begriff.1449 Dabei geht es um die Vermittlung zwischen Handlungs-, Akteurs- und Systemtheorieperspektiven.1450 Unter solchen Gesichtspunkten werden symbolische Ordnungen und Funktionen beschreibbar. Inhaltlich werden auch Teilkulturen greifbar, wie sie Bohnsack unter den Begriffen »Lernkultur«, »Sozialkultur«, »Organisationskultur« und »Zeitkultur« fasst.1451 Öffentliche Schule der demokratischen Gesellschaft hat soziale Funktionen, als Institution kommen ihr Zuständigkeiten für Bereiche und Aufgaben zu. Diese Funktionsbeschreibung, die sich an »Normalität« orientiert, ist jedoch ergänzungsbedürftig. Erfahrungen des Pathischen, wie sie der FALL explorativ offenlegt, erfordern Elemente einer reflexiven und achtsamen Schulkultur und Schulentwicklung, um bedacht zu werden. Schulen für Kranke, etwa für chronisch Kranke, haben deshalb Aufmerskamkeit gefunden, weil sie den Ausnahmefall auch beim Individuum einzelner SchülerInnen zu etwas Dauerhaftem, Konstantem machen.1452 Tatsächlich hat Schule, je mehr sie mit dem Trend zur Ganztagsschule schon allein zeitlich deutlicher zu dem Ort wird, an dem Kinder und Jugendliche während ihrer jungen Jahre einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen, auch mehr mit Erfahrungen zu tun, die in der reinen Unterrichtsschule, wie sie etwa Hermann Giesecke vorschwebt1453, möglicherweise noch ausgeklammert werden kännten – unbedacht der Frage, ob damit nicht neue 1448 Helsper : Schulkulturen – die Schule als symbolische Sinnordnung, 66. 1449 Mir liegt an der »Position einer sinnkonstituierten sozialen Welt, also eine[r] kulturtheoretische[n] Sicht auf die Basis alles Sozialen« (a. a. O., 65). 1450 Vgl. a. a. O., 63. 1451 Vgl. Bohnsack: Schulkultur – Zeitkultur. 1452 Vgl. Harter-Meyer : Wer hier nur Wissen vermitteln will, geht baden. 1453 Vgl. Giesecke: Wozu ist die Schule da?.
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Widersprüchlichkeiten evoziert werden. Mit der Ausdehnung der Schule als Ort des Lebens wird nicht nur ersichtlich, dass der heterotopische Charakter verwischt, sondern dass Schulkultur ein weites Feld ist, in dem Schulleben und das beziehungshafte Miteinander pädagogisch sorgsam als Schwellenkultur zu kultivieren sind. Ohnehin ist die Schule kein in sich abgeschlossener Lernort; unter diesen Bedingungen auch der öffentlichen Schule tritt das zutage, was in unterschiedlichen pädagogischen Schulkonzepten wie den meisten der Reformpädagogik ohnehin als essentiell erschienen ist. Schulleben als Schulkultur hat selbst im Rahmen der allgemeinen Schulpädagogik eine je unterschiedliche Geschichte – im 20. Jahrhundert verlor das Schulleben an Bedeutung im Rahmen politischer Bildungsreform und Curriculumreformen zugunsten der Unterrichtsschule.1454 Seit den 1980er Jahren gilt die Aufmerksamkeit wieder verstärkt dem Ausbau eines Schullebens, das im Zuge wachsender Zeit, die Menschen in ihr verbringen, wichtiger wird.1455 Zur Gestaltung des Schullebens tragen viele kulturelle Elemente bei. Dabei spielt Religion – aus den genannten institutionellen Gründen keinesfalls selbstverständlich – eine entscheidende Rolle: Religion im Schulleben sensibiliert für die Verdanktheit und Zerbrechlichkeit des Lebens – damit auch für das Zueinander von Lernen und Feiern und Begehen. Dazu gehören ebenso Gottesdienste, Andachten und Schulfeiern (wie etwa Einschulung, Jahresfestkreis, Entlassung), räumliche Gestaltung und die Bewusstheit von Raum (Raum der Stille, Religionsraum; wichtig: Gespür für besondere Orte). Schulische Gedenkkultur bildet die Aufmerksamkeit auf das geschichtliche Gewordensein. Außerschulische Lernorte aufzusuchen (z. B. Kirchen; fremde religiöse Stätten, Museen, Ausstellungen, aber auch andere Lebensorte wie Zoo), dient der Begegnung mit anderen Kulturformen, dem Einblick in fremde Welten und Perspektiven auf die eigene Religion – eine grundsätzliche Basis von Dialog. Religiöses Leben in Aus-Zeiten und »Außenstellen« ermöglichen, durch Besinnungstage oder Tage zur Orientierung spirituelle Lebensdimensionen. Regeln und Rituale des Zusammenlebens schaffen und stärken organische, lebensrhythmenbezogene Strukturen. Diakonie- und Sozialpraktika bzw. -projekte fördern die Sozialität. Gesellschaftliche, politische Projekte (Fairtrade-Kaffee, Amnesty-Gruppe, Organisation eines Bazars) unterstützen die engere und weitere Kontextualität. Arbeitsgemeinschaften verbinden die gesellschaftlichen Aspekte in Ideen und Religion. 1454 Wozu ist die Schule da, fragt Hermann Giesecke und antwortet mit der Unterrichtsschule. 1455 Zu den Gründen zählen die Sicht auf Schule als pädagogische Handlungseinheit (Helmut Fend); Hartmut von Hentigs reformpädagogischer Gedanke der Polis, aber auch das Entstehen von Initiativen zu Schulentwicklung, der entsprechenden Darstellung in Schulprofilen und Schulprogrammen und der Schulentwicklungsforschung (vgl. Schröder : Religion im Schulleben, 12f.).
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Um in meinem Zusammenhang grundlegende Befunde aufzugreifen: Krankheit ist ein zentrales Phänomen menschlicher Verletzlichkeit. Wenn wir oder andere krank sind, erinnert uns die Krankheit als ein existentieller Teil des Lebens an das leibliche Geschaffensein und die Zerbrechlichkeit des Lebens. Sie betrifft das Leben in ganz grundlegenden Dimensionen der Lebenswelt wie der leibräumlichen Existenz, Lebenszeit und unterschiedlichen Ebenen des Sozialen, der Kommunikation und des Lebenskontextes. In dieser Form wird sie von anthropologischen, sozialen, kulturellen und in diesem Kontext auch religiösen und theologischen Aspekten berührt. Menschliche Verletzlichkeit, die in Krankheit ihren leibhaften Ausdruck findet, ist eine Herausforderung für eine Auseinandersetzung mit Dimensionen, die jenseits menschlicher Kraft und Handlung liegen, mit dem Unfassbaren. An einer Krankheit als Erfahrung der Verletzlichkeit zu leiden, führt auch im schulischen Rahmen zu der Frage nach mehr und differenzierteren Wahrnehmungen als etwas, das lediglich medizinischer Diagnose und Behandlung bedarf. Krankheit gehört zum täglichen Leben, aber sie ist eine vorfindliche religiöse Herausforderung, sich mit der pathischen Dimension des Lebens, mit Fragen nach Verantwortung und Dimensionen von Heilung auseinanderzusetzen. Was bedeuten diese Erkenntnisse für das pädagogische Denken in Bezug auf Schulleben und auf das System, in dem Religionslehrkräfte tätig sind? Bedenkt man diesen FALL und die mit ihm in Diskursen angestoßenen Impulse für die Entwicklung von Schule, zeigt sich: Die tägliche Situation an der Schule innerhalb einzelner Begrenzungen bringt Lehrkräfte dazu, Situationen der Fürsorge (und -erfordernis) innerhalb eines institutionellen Rahmens wahrzunehmen und zu reflektieren. Schule braucht das Interesse für Räume und Zonen dafür, pädagogische, religiöse Erfahrungen zu machen und zu ermöglichen, indem situierte Begegnungen zwischen LehrerInnen, KollegInnen, SchülerInnen und anderen visualisiert werden und eine Perspektive auf Schule als eine situierte Institution mehr oder jenseits von Unterricht geschärft wird. Wenn die Entscheidung für eine Unterrichtsschule fallen würde, wäre die Dimension des impliziten Schullebens, letztlich der Schule als Lebensort ausgeblendet. Die Zerbrechlichkeit des Lebens im Rahmen von Schule in leiblicher, räumlicher, zeitlicher, sprachlicher wie intersubjektiver Hinsicht zu respektieren – z. B. in Erfahrungen mit Krankheiten – bedeutet, der konkret wahrnehmbaren, aber auch teilweise unaussprechlichen und verborgenen Dimension, wie z. B. des Schmerzes, Leidens, der verborgenen und tabuisierten Lebensseiten im Raum von Schule als einem anderen Raum gewahr zu werden. Gleichzeitig ist es wichtig, die Kontrollinstanzen bewusst zu machen, die diese Wahrnehmung solcher Erfahrungen verdrängen, eine genauere Aufmerksamkeit und alternative Praktiken umgehen. Es zeigt sich, dass eine Schulkultur, die diese nicht nur als Abweichungen abstempelt, sondern auch als Anderes wahrnimmt, im Sinne
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heterotopischer Würdigung erfolgt. Dazu gehört es folglich auch, Einsicht in die Begrenztheit des Handelns an Schule zu sehen: Die Aufmerksamkeit auf Religion sichert damit, wie sich in einem derart prekären Feld zwischen Erfolg und Versagen, zwischen Hoffnung und Enttäuschung auch mit Grenzziehungen Schule normativ denken lassen kann. 5.3.2.2 Religionssensibilität – Anliegen christlicher Erziehungshilfe Der Zusammenhang, in dem diese Fragen in religionspädagogischer Hinsicht relevant werden, kann in einem kulturanthropologischen Anlauf vor allem unter dem Begriff der Religionssensibilität thematisiert werden.1456 Aus der katholischen Erziehungshilfe stammend, prägte insbesondere Martin Lechner zusammen mit Angelika Gabriel und Martin Schweer den Begriff als Maßgabe für einen religionspädagogischen Weg, der die Bedingungen einer Erziehung, die nach Traditionsbrüchen nicht mehr auf die Vertrautheit mit konfessioneller Religion setzt, mit dem Interesse, Religion als einen stark machenden Faktor für Kinder und Jugendliche wertzuschätzen, in Beziehung bringt.1457 Ausgangssituation für ein Forschungsvorhaben, aus dem ein Konzept hervorgeht, ist die Situation vieler Erzieherinnen und Erzieher zwischen den Erwartungen der kirchlichen Träger der Jugendeinrichtungen, religiös zu erziehen, der pluralen Religiosität der Kinder und Jugendlichen und den eigenen heterogenen berufsbiografischen Sozialisationen und Ausbildungen. Das Spektrum der religiösen Orientierungen einer professionellen Berufsgruppe ist weit und von daher als ein Symptom eines beruflichen Religionswandels zu begreifen.1458 Aus diesem Grund liegt Lechners und Gabriels sehr wohl auch pragmatisch gelagertes Interesse darin, eine religionspädagogische Handlungstheorie auf der Basis eines weiten Religionsverständnisses zu entwickeln, »die erstens der Religion aller Jugendlichen (nicht nur der christlichen) gerecht werden will, die zweitens alle Erzieher/-innen angeht (und nicht nur die frommen und religiösen Virtuosen unter ihnen), und die drittens in allen Einrichtungen als positive Aufgabe plausibel erscheint (und eben nicht nur in konfessionellen Einrichtungen).«1459 Die als »Praxiskrise« titulierte Ausgangssituation führt zur Intention einer Handlungstheorie, die sich durch Faktoren auszeichnet, welche sich weitgehend mit der religiösen Kontextualisierung meines Untersuchungsfeldes deckt. Zu ihnen gehört für die Klientel der Kinder und Ju1456 Vgl. Leonhard: Religionssensibilität – Überlegungen zu einer religionspädagogischen Kategorie. 1457 Vgl. Lechner / Gabriel: Religionssensible Erziehung; Lechner: Werkbuch Religionssensible Erziehungshilfe. 1458 Vgl. Heimbrock / Leonhard / Meyer / Plagentz: Religiöse Berufe – kirchlicher Wandel. 1459 Lechner : Werkbuch Religionssensible Erziehungshilfe, 31.
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gendlichen, deren subjektive Religion und Religiosität (in Spannung zu dem von Kirchen angesetzten objektiven Religion) sowie Lebensstärkung als angepeilter Kontrapunkt zu schwierigen und mit vielen negativen Erfahrungen belasteten Biografien. Für die professionell handelnden Erziehenden gilt die Ermutigung zum Umgang mit Religion und dessen kompetenter Ausgestaltung als Teil ihrer Erziehungsaufgaben. Der Raum der Beanspruchung umfasst auf der Basis der anthropologisch gegründeten religiösen Lage auch nichtkirchliche Einrichtungen.1460 Von diesem Interesse aus werden sechs Elementaria religionssensibler Erziehung und Bildung in der Jugendhilfe benannt.1461 Aus diesen normativen Darlegungen lässt sich das hier phänomenologisch anklingende, weiterhin jedoch vor allem funktionale Verständnis von Religionssensibilität extrapolieren: Auf der Basis, dass Religion das allumfassend Angehende ist, geht es um ein Programm zur »Lebensfähigkeit« von benachteiligten Kindern und Jugendlichen, um sie auf einen Weg zu einem gelingenden Leben mit Gott zu bringen. Grundlegend ist die Lebensgeschichte, Lebenswelt und existenzielle Belange, die es wahrzunehmen, herauszufordern und zu begleiten gilt, auch indem darin auftauchende religiöse Spuren identifiziert und versprachlicht werden.1462 Nicht von ungefähr wird Religionssensibilität in diesem originären Kontext als Qualitätsattribut für Erziehungskonzepte verwendet, die sich den Herausforderungen einer durch Pluralität und Heterogenität geprägten Gesellschaft und religionspädagogischen Klientel stellt. Behutsamkeit, sich auf die Suche nach Glauben zu machen (Friedrich Schweitzer), bleibt bei Lechner aber sehr deutlich auf die Jugendhilfe konzentriert, erstaunlicherweise auch in der Abgrenzung der Erziehenden gegenüber TheologInnen und ReligionspädagogInnen.1463 Das Konzept ist, vor allem von katholischer Seite, in andere religiöse Bildungs- und Erziehungseinrichtungen transferiert worden.1464 Auch wenn in einem konstitutionellen Rahmen die enge Verzahnung von Bildung und Religion betont wird, steht in der Regel im Rahmen der Trias Sozialisation, Bildung und Erziehung nach wie vor die religiöse Erziehung im Vordergrund.
1460 1461 1462 1463 1464
Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., 32–43. Vgl. a. a. O., 45. A. a. O., 112. Vgl. z. B. Katrin Bederna / Hildegard König (Hg.): Wohnt Gott in der Kita? Religionssensible Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Berlin u. a. 2009.
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5.3.2.3 Schulkultur und Religionssensibilität Darauf eingehend, aber deutlich erweitert, haben Harald Schroeter-Wittke und Gudrun Guttenberger in einem zweiten, stärker von evangelisch-religionspädagogischer Seite initiierten Ansatz das Verständnis von Religionssensibilität in der Spannung von Religion, Pädagogik und Schulkultur aufgefächert.1465 Im Zusammenhang mit der Bezugnahme auf mehr räumliche, institutionelle, situative und thematische Bedingungsfaktoren erschließen sie das Verständnis von Religionssensibilität hier im Wesentlichen stärker anthropologisch.1466 Dabei wird Religionsensibilität auf den Schleiermacherschen Religionsbegriff als erfahrungsbezogene Kategorie zwischen Sinn und Sinnlichkeit zurückgeführt, ohne dabei fundamentalistischen Missverständnissen verfallen zu wollen. Religionssensibilität ist hier eine Form der religiösen Lebenshaltung, die den Absolutheitsanspruch des Unbedingten kennt und sich dazu in Dankbarkeit verhält – wissend um eine kritische Unterscheidung von lebensfeindlicher gegenüber lebensdienlicher Religion. Interessant wie logisch nachvollziehbar wirkt schon auf den ersten Blick angesichts der veränderten lebensweltlichen pädagogischen Bildungssituationen in Schule der Akzent auf der Wahrnehmung des Fremden im Eigenen im Interesse einer Achtsamkeit des Fremden. Im Wissen um die notwendige Spanne einer subjektorientierten Wahrnehmung, die sich nicht an Missionierung, sondern an »Religionser- und -aneignung« orientiert, stellt sich hier Religionssensibilität als »Zielbestimmung für die Atmosphäre dar, in der in institutionellen pädagogischen Zusammenhängen von und über Religion geredet und gehandelt wird«; das betrifft den Religionsunterricht, aber auch die anderen Ersatzfächer der Fächergruppe.1467 Hier wird Religionssensibilität zu einer »öffentlich und staatlich zu fördernden Bildungsaufgabe«, die der positiven Religionsfreiheit entspricht und sich als Moment von Friedenspädagogik erzeigt.1468 Ohne Zweifel liegt das umfassendere Interesse dieser bei einer ästhetischen Kategorie ansetzenden und ethische Dimensionierung anstrebenden Größe in einem weiteren Rahmen. Dafür sprechen auch die zahlreichen Konkretionen und Ausgestaltungen des Sammelbandes hinischtlich der Übertragung auf Schulkultur. In ihnen spiegeln sich die Tendenz und das Interesse nicht nur an einer Religionssensibilität, sondern insbesondere Religionensensibilität. Die Ausgangssituation, die Religionssensibilität erfordert und die damit einen längst fälligen Brückenschlag auch zu ästhetischen Aspekten des Dialogs und des Miteinanders religiöser Diversität schafft, ist die des religionenverbindenden 1465 1466 1467 1468
Vgl. Guttenberger / Schroeter-Wittke: Religionssensible Schulkultur. Vgl. Schroeter-Wittke: Was ist Religionssensibilität? A. a. O., 28. A. a. O., 29.
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Miteinanders, der Heterogenität von Ungleichheit, das Bestehen des Unterschiedlichen im und im Horizont von Schule. Es sind gerade die Abstinenzen und religionskulturellen Fremdheiten gegenüber anderen Religionen, die aus der phänomenologischen Heterogenität die Notwendigkeit zu Kontakt erwachsen lassen. Deutlich ist: Eine religions- und insofern religionensensible Haltung fördert auch die ästhetischen Zugänge, die für eine friedvolle und heilvolle Wahrnehmung in Toleranz und Offenheit entscheidend sind. Die Dimensionierung des Pathischen, wie ich sie in dieser Studie entwickelt habe, kann dazu verhelfen, Religionssensibilität als eine Größe für die Beschreibung des Umgangs mit Erfahrungen der Unverfügbarkeit zu vertiefen – auch in einem Diskursrahmen, der nicht per se von theologischen Deutungen geprägt ist, sondern lebensweltliche Erfahrungen in pluralen Kontextualisierungen erscheinen: Eine respektvolle Wahrnehmung von Verletzlichkeit an einer Schule fragt nach einem Denken von Heterotypie und Schwellenfunktion her, die Schule religionssensibel begehbar zu einem Ort zu verhelfen, an denen Lehrkräfte antworten können.1469 Am Beispiel des FALLs: Eine Lehrkraft und einen Schüler als verletzliche, aber auch wahrnehmbare Menschen zu respektieren, bedeutet, in einem Rahmen von Möglichkeiten und Grenzen der Professionalität vor dem Horizont genereller existentieller Herausforderung zu antworten. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auch zu Fragen wie: Was fördert die Belastbarkeit und Widerstandskraft kranker oder verletzter Menschen im Umfeld von Schule? Wie können Lehrkräfte in einer ansprechend responsiven Haltung unterstützt oder ausgebildet werden? Wie kann im diakonischmenschlichen1470 wie seelsorgerlichen Sinne die »Etablierung einer Kultur des bewussten Umgangs mit Krankheit, Tod und Trauer«1471, also einer responsiven religiösen Schulkultur, erreicht werden?
5.3.3 Schulseelsorge – passionsbezogene Antwortkulturen 5.3.3.1 Kirche geht zur Schule: Schulseelsorge und kirchliches Handeln Schulseelsorge wird vielerorts als eine religionspädagogische wie poimenische Novität gehandelt. Seelsorge ist allerdings bei genauerer Analyse schon historisch als Teil von Schulleben älter und tiefer verwurzelt als Unterricht; vorreformatorisch ist sie Keimzelle der mittelalterlichen Schultradition.1472 Zu den Praxisfeldern von Schulleben gehören Schulgottesdienst, unterrichtsbezogene 1469 1470 1471 1472
Vgl. Leonhard: Religionssensibilität. Vgl. Leonhard: In der Mitte und an den Grenzen: leiblich lernen. Gutmann / Kuhlmann / Meuche: Praxisbuch Schulseelsorge, 106. Vgl. die Systematisierung in Schröder : Religionspädagogik, 659ff.
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Projektarbeit, Schulsozialarbeit, schulnahe Jugendarbeit und auch Schulentwicklung. Diese haben unterschiedliche Referenzwissenschaften und auch unterschiedliche Akteure.1473 Empirisch scheint sich die Schulseelsorge aufgrund ihres »informellen Charakters« zu entziehen.1474 Schulseelsorge ist konzeptionell auch von Unterrichtsseite bisher im deutschen Raum vor allem durch den sozialisationsbegleitenden, sog. Therapeutischen Ansatz Diether Stoodts befürwortet worden. Insofern fungieren die vier Handlungsfelder, die Harmjan Dam als zentral herausfiltert, als Bezugsfelder : Schulseelsorge nimmt Bezug auf das Individuum (begleitungs- und Betreuungsangebote), auf Gruppen (Bildungs- und Freizeitangebote), auf Schule als System (Gestaltung von Schule als Lebensraum) und auf das Umfeld (Vernetzung).1475 Institutionell ist Schulseelsorge deutlicher etabliert seit den 1990er Jahren. Inzwischen konzentrieren sich theoretische Erfasuungen auf Schulseelsorge als soziales System1476 – hier kristallisiert sie sich als Kirche in gemeinschaftsbildende Zeichen der Zuwendung. Trotzdem ist Schulseelsorge noch nicht beim Selbstverständnis und in der praktisch-theologischen Wahrnehmung als kirchliches Handlungsfeld in seiner hohen Relevanz für die zur Verbesserung des Schullebens und der Schulkultur angekommen, welches unaufdringlich und doch kenntlich antwortend mit der Mit-Gestaltung des Lebensraums von Schule befasst ist.1477 Als wesentliche Matrix für Seelsorge auch in der Schule galt lange Zeit die Pastoralpsychologie. Auch wenn Schule als System den Kontext bildet für einen Raum, in dem die Sorge um die »Seele« im Vordergrund steht, bleibt zu fragen, welches Verständnis von Seelsorge dafür in Anspruch genommen werden kann und welcher Ort und welche Chancen sich für kirchliches Handeln daraus ergeben. Gegenwärtig zeichnet sich aus Praxisherausforderungen stärker ab, dass Aufgaben lebensbezogener Schulseelsorge in der Krisenbearbeitung und Ressourcengestaltung liegen. Auch Gottesdienste und Feiern anlässlich von Todesund Krisenfällen nehmen einen hohen Stellenwert ein.1478 Bezeichnend ist, dass damit vielmehr Systemische Ansätze Pate stehen und Lebensbegleitung und Beratung deutlicher in den Fokus rücken. Zu dieser Entwicklung gehört maß1473 Die Übersicht ist im Wesentlichen plausibel; im Unterschied zu Schröder liegt Schulentwicklung auch in der Hand der Schulleitung, vgl. a. a. O., 661. 1474 Vgl. a. a. O., 667. 1475 Dam / Spenn: Seelsorge in der Schule – Begründungen, Bedingungen, Perspektiven; Dam: Schulseelsorge in der pluralen Schule. 1476 Vgl. Lames: Schulseelsorge als soziales System. 1477 Vgl. Herbig: Religionspädagogische Überlegungen zur seelsorgerlichen Dimension im Schulleben. 1478 Vgl. Arnold / Kraft / Leonhard / Noß-Kolbe: Gottesdienste und religiöse Feiern in der Schule, 32f; Günther : Der Tod ist eine Tür u. a.
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geblich dazu, dass der Lebensbezug nicht allein durch den Berufsstand der PfarrerInnen vertreten wird, sondern – zum einen durch ein Leben, in dem der Hunger nach Sorge und Beratung auch im schulischen Kontext virulenter denn je wird und zum anderen in theologischer Hinsicht als Priestertum aller Gläubigen vollziehbar – professionelle Verlagerung stattfindet: Die Öffnung der Schulseelsorgebeauftragungen unterschiedlicher Landeskirchen für Religionslehrkräfte trägt zu einer engeren Anbindung der Schulseelsorge an die Lebenswirklichkeit bei. Was sind geforderte Kompetenzen in der »dilemmatischen Struktur«1479, die in der Schule herrscht? Welche Rollenklärungen sind vonnöten?1480, Der Blick auf das System ist auch nötig als Schutz vor der Zuschreibung von Leiden als persönliche Mängel. Gefragt ist unabdingbar die Wahrnehmung der Personen in ihren Räumen und Systemen, in der Kontextualität von Schule, da sie im Alltagsgeschäft verortet werden kann. Zugleich muss im Blick bleiben, dass so kirchliches stets in Beziehung gesetzt werden muss zu schulischem und bildungspolitischem Handeln. 5.3.3.2 Schulseelsorge – Heterotopie im Schulleben und ihre Schwellen In einer Schule, die sich systemisch als kultureller Raum begreift, hat Schulseelsorge bei aller Eingebundenheit im engeren Sinne einen eigenen Ort. Sie kann verstanden und initiiert werden als Heterotop inmitten der Schule: Dieser ergibt sich, wie die FALLbearbeitung zeigt, durch das Herausfallen aus der Normalität von Bildungsaufgaben, das responsive Aufgreifen von Krisen und Notfällen in der Krisenbearbeitung und im Krisenmanagement einzelner Personen sowie, wenn es gut geht, auch schulischer Strukturen. Dieser Weg bedeutet eine relative Integration der Heterotopie und deren Durchlässigkeit. Nicht von ungefähr hat sich im FALL faktisch das Gespräch am Rande des offiziellen Unterrichtsdiskurses als hilfreicher Ort der Schulseelsorge ergeben. Nicht nur das Beiläufige ist dafür ausschlaggebend, dass der Schüler wie zufällig mit der Lehrkraft ins Gespräch kommt, sondern sicherlich auch die Tatsache, dass die Lehrkraft in dieser Situation am Rande ihrer Funktionalität als Unterrichtender greifbar ist. Der Unterricht selbst schafft einen systemischen Rahmen, in dem andere Funktionen erfüllt werden; Pathisches muss sich Raum schaffen, pathic involvements brechen geradezu wie Unterbrechungen ein, sie machen sich gerade als Ausnahme, das Besondere, Ungeplante bemerkbar.1481 1479 Collmar : Schulseelsorgerliche Kompetenzen von Pfarrern und Lehrkräften, 130. 1480 Vgl. Luther : Religion und Alltag, 238. 1481 Eine Schule, die eine symbolische wie buchstäbliche »Sozialstation« einrichtet, bekennt sich dazu, diakonisches Handeln zu ihrem eigenen Anderen zu machen: siehe EGG, www.egg.de.
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Dass die Schulseelsorge diese Schwellenzone und das Schwellengespräch nahe am Alltag braucht, ist praxiserwiesen. Es würde sie aber genau dann nicht geben, wenn nicht deutlich würde, dass auch etwas auf der anderen Seite der Schwelle existiert, was genau den Fuß in die bzw. aus der Tür markiert: das Leben in der Schule, das eben nicht nur der Unterricht, nicht nur die Funktionalität bedeutet, der andere Raum, der markiert gehört. In einer auf Alltag und Schule bezogenen Seelsorge zeigt sich: Kinder- und Jugendseelsorge benötigt andere Zugänge und Aufstellungen; Jugendliche thematisieren nicht von sich aus Krankheit, sondern vielmehr geschieht ein Widerfahrnis, das eine implizite Kontaktaufnahme evoziert. Die Schulseelsorge ist entgegen aller Apathien, die dem Alltag unterlaufen, die verlässlich institutionalisierte Garantie dafür, dass die Schule nicht vergisst: Leben ist verletzlich. Als bewusster anderer Raum, Professionalität und Station für anderes Handeln und Erleben bietet Schulseelsorge eine Schutzzone auf der Schwelle zwischen Schule, Lebenswelt und Biografie sowie im engeren Sinne für die große Spannung von Leben, Glauben und Leisten. Im positiven Sinne geht es in der Schulseelsorge um Resilienzförderung des und der Einzelnen, die Wertschätzung, Förderung und Gestaltung von Ressourcen: Zur Heterotopie wird Schulseelsorge vor allem für die in Schule tätigen und lernenden Menschen in dem Interesse befreiten Lebens, Glaubens und Handelns. Dabei geht es eben nicht nur um außerschulische, sondern innerschulische Belange, für die ein Moratorium vonnöten ist, das ein Außen im Innensein ermöglicht. Die Orientierung erfolgt sinnigerweise am Alltag der Zielgruppe – der Kinder und Jugendlichen vor allem, aber auch am beruflichen Alltag der Mitarbeitenden in Schule. Als Schwellenarbeit geschieht je nach Gewichtung beides: die Öffnung für den Besuch und die Begegnung mit Einrichtungen und Personen von Kirche, zugleich aber im vertrauten Raum in Schule. Zu dieser Vertrauens- und insofern auch Schutzzone gehören Verabredungen wie Seelsorgegeheimnis, aber auch feste Räume und Zeiten und Ansprechpartner. Die damit verbundenen Schwellen zwischen verschiedenen Punkten markieren das Ineinander der Systeme und Normen und Freiheiten: Kirche in Schule muss sich dieser Ambivalenz stellen, in Klärungen liegt die große Chance des Aufbrechens von systemimmanenten Fallstricken. Insofern ist auch Kooperation mit den verbundenen Systemen nötig – Familie, Lebenswelt, Umfeld – im Sinne biografisch-kontextueller Förderung des Einzelnen und der Kultivierung von Lebensbezogenem Lernen und Arbeiten in Schule. Das kann auch bedeuten, die Scharnierstellen zwischen den Systemen und Partnern des Klientels der Schulseelsorge ins Gespräch zu bringen und dabei eigene Grenzen zu wahren. Das Seelsorgegeheimnis bietet einen weitestmöglichen Schutzraum, in dem dies glaubwürdig wird. Von solchen heterotypischen Haltungen her können sich fruchtbare Unterbrechungen im Schulsys-
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tem ergeben, in denen Leben als christliche Haltung, Botschaft und Ziel in die Kommunikationsstruktur der Schulkulturen hineinwirkt und Sozialität und Solidarität unterstützt.
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Gestaltungsräume für christliche Präsenz zwischen Unterricht und Seelsorge, Liturgie und Diakonie
In diesem gesamten Kapitel 5 wurde ausgehend von einem pathischen Bildungsverständnis bisher ermittelt, wie didaktisches Arbeiten strukturiert werden muss, wenn das Pathische nicht nur als Dimension von Leben und Glauben, sondern auch als Lerndimension praxisrelevant wird und wie außerdem die schulische Seite angesichts einer religiösen Sensibilität beschreibar wird. Nun ist gegen Ende des Kapitels und der Studie zu fragen: Welche Linien sind von Kirche genügend gesehen? Mit dem FALL wird die Aufmerksamkeit auf Seelsorge als sorgende Wahrnehmung des Anderen geschärft, die sich in einem Kontext von Begegnung ereignet. Dabei liegt der Fokus auf der Begleitung von Grenzbegehungen und Grenzüberschreitungen. Schulseelsorge als gestaltete kirchliche Ressource, welche von der Verletzlichkeit und damit einher gehenden Empfänglichkeit und Sensibilität ausgeht, umfasst jedoch mehr als Krisenbearbeitung; sie geht auf Beratung, Begleitung, Orientierung ein und sucht die Fülle des Lebens in den schulischen Räumen greifbar zu machen – zu feiernde, zu begehende Seiten des Lebens in Raum, Symbol, Feier, Fest und Begehung. Johannes’ Hoffnung im vorliegenden FALL »Wenn ich das geschafft habe, lacht keiner mehr über mich« ist mit der Wiederkehr in die Schule auch ein wahrer Grund zum Feiern. Welche dieser Funktionen im schulischen Rahmen maßgeblich sind, ist situativ selbst eine Frage des Antwortens. Dabei werden phänomenologische Räume professionellen Handelns in Ortsräumen, Leibräumen, Sprachräumen und Beziehungs- bzw. Verhältnisräumen in Anspruch genommen. Daher ist es wichtig aufzuschlüsseln, was im schulischen Feld Jugendsensibilität heißt. Kirchliches Handeln im schulischen Raum hat die Chance, die unterschiedlichen Teilräume mitzugestalten. Jugendsensibilität meint das Eingehen auf jugendgerechte Bedürfnisse und Bedarfe, Kulturen und Kommunikationsstrukturen – nicht im Sinne der Imitation und Nacheiferns, sondern im Sinne des Antwortens. Dazu ist kritische Einsicht in die Frage geboten, wo in der Schule kirchlich Raum für Jugendliche ist und welche Bedeutung ihnen in und für Kirche beigemessen wird, wo Entfaltung und Partizipation, inwieweit Zukunftsmöglichkeiten gefördert und das Nachdenken und Arbeiten an Zukunft angetrieben werden. Der Vielfalt vorliegender Jugendkulturen und -haltungen
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zu begegnen, benötigt differenzierte und differenzierende Kulturen. Die Anerkennung und Selbstentfaltung bzw. Selbstwirksamkeit nehmen dabei einen hohen Stellenwert ein. Um der enger werdenden Zeittaktungen sind Vernetzung von Schule mit Gemeinde- und Jugendarbeit dringend nötig. Das erfordert eine genaue und vertiefte Wahrnehmungsschulung als Gegenpol zu der Konzentration auf Lernen. Insofern ist schon für das kirchlich-religionspädagogische Selbstverständnis wie für die Zielrichtung Seelsorge als Stärkung zu begreifen; sie schließt ein, dass das verletzliche Subjekt sich nicht beruhigen lässt.1482 Wie sieht von dort aus der Blick auf hilfreiche Konzepte von Seelsorge und die schulischen Handlungsräume aus, wenn der Stand in der Praxis den Ausgangspunkt bildet? Nicht von ungefähr steht die neuere Schulseelorge im Blickwinkel systemischer Perspektiven auf Schule im Rahmen von Schulreform1483 oder Schulkultur1484 – Schulseelsorge nicht nur als Individualfokus, sondern immer auch als Teil schulischer Gesamtbildung zu begreifen, ist unabdingbar.1485 Im systemischen Blick bleibt das Verhältnis von Person und Institution in den Blick zu nehmen, der auch networking einschließt – Schulseelsorge braucht dazu sicherlich ein entsprechend integratives Modell, das die unterschiedlichen klassischen Seelsorgeansätze als Ressourcen wahrnimmt, um soziale Verantwortung, psychotherapeutische Kompetenz und religiöse Orientierung bzw. spirituelle Gestaltfindung in Einklang zu bringen. Dass im Sinne der Bildungsgerechtigkeit dabei keiner verloren gehen darf1486, würdigt im diakonischen Interesse die schulischen und (religions-)unterrichtlichen Kulturen des Pathischen. Im System der Schule wird es kontextuell unabdingbar, Rollen zu klären und Unterscheidungen, aber auch die Kooperationen der Arbeit von SchulseelsorgerInnen, SchulsozialarbeiterInnen, Beratungslehrkräften und SchulpsychologInnen gut aufeinander abzustimmen.1487 Dafür hilt die Bezugnahme unterschiedlicher – wohlgemerkt kirchlich strukturierter – Aufgabenfelder : Unterricht und Seelsorge, Diakonie und Liturgie – an ihnen hängen typische Rollen, die Religionslehrkräfte im Laufe ihrer Praxis, im Grund stets in mehrfachem Wechsel an jedem schulischen Tag, einnehmen. Fachlehrkraft, PrüferIn, SeelsorgerIn, LebensbegleiterIn, LiturgiepädagogIn zu sein, entzündet sich gern an 1482 Vgl. Fechtner / Mulia: Henning Luther – Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne. 1483 So Koerrenz / Wermke: Schulseelsorge – ein Handbuch. 1484 Vgl. Gutmann / Kuhlmann / Meuche: Praxisbuch Schulseelsorge. 1485 Vgl. Heimbrock: Evangelische Schulseelsorge auf dem Weg zu »gelebter Religion«; ders.: Evangelische Schulseelsorge als Beitrag zu lebensweltorientierter Bildungsarbeit der Kirchen; Gutmann / Kuhlmann / Meuche: Praxibuch Schulseelsorge. 1486 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.): »Niemand darf verloren gehen!«. 1487 Vgl. dazu Gutmann / Kuhlmann / Meuche: Praxisbuch Schulseelsorge, 84–89.
Gestaltungsräume für christliche Präsenz
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solch einem Fall.1488 Oft reicht er weiter zu damit verbundenen Rollen: ErzählerIn, Theologischer Gesprächspartner, Thanatologin, Fremdenführer, Lebenskünstlerin: Der Umgang mit der Erfahrung des Pathischen fordert zu einem kontrafaktischen Modell zur Standardisierung von religionspädagogischer Professionalität geradezu heraus. Aus der Perspektive der Seelsorge sind mit Christoph Schneider-Harpprecht und anderen die Kontextbezogenheit, (inter-)kulturelle Sensibilität und »interreligiöse Achtsamkeit«1489 zu betonen. Diese bringen auch mit sich, dass Fremdheitserfahrungen wahrgenommen und nicht vorschnell übersprungen werden; sondern es geht darum, nach gemeinsamen Bedeutungen zu suchen. Henning Luthers Seelsorge in Grenzsituationen an den Rändern macht eine allzu große Unterscheidung von seelsorgerlichem und diakonischem Handeln hinfällig und betont das Ineinandergehen.1490 Seelsorge als Hilfe zur Lebenskunst liegt ebenfalls nicht in weiter Ferne – nach Engemann jedoch in klarer Unterscheidung von einer Soteriologie.1491 Der Wechsel von rein individueller zu sozial eingebundener Perspektive der Seelsorge und schulischen Kultur des Christlichen wird anhand des Falles deutlich – ein individualistischer Ansatz allein würde die eigenen Kompetenzen der Lehrkraft überschreiten und die Situation des hilfebedürftigen Schülers nicht genügend ernstnehmen. Henning Luthers emphatischer Einsatz für eine seelsorgerlich-diakonisch ausgerichtete Praktische Theologie findet hier große Bestätigung. Zugleich reicht Seelsorge mit Martin Heidegger kritisch über Alltagssorge hinaus: Entgegen der Überwindung von »Entfremdung« geht es um ein Sprechen gegen die Normalität: »Kein Defizit-Modell mit Hilfsangeboten zur Wiedereingliederung mit zwangsläufigem Oben-Unten-Gefälle! Keiner ist nicht betroffen!«1492 Gegen eine Unterbelichtung der Schulseelsorge in der Praktischen Theologie ist daher nicht nur festzuhalten, sondern auszubauen: Schulseelsorge und schulisch-diakonisches Handeln sind kirchlich verankerte Wahrnehmung des Anderen in der schulischen Praxis. Deren Kommunikation bewegt sich als pathische Herausforderung oft an den Rändern des Sagbaren – umsomehr ist eine kommunikative und performative Kompetenz vonnöten, die Gespräch mit Worten als eine der Handlungsmöglichkeiten sieht, jedoch andere ausloten muss – hier kommen die Leiblichkeit und Ritualität als Modus des religionspädagogischen Handelns stärker zum Zuge. Entscheidend ist die Kategorie der 1488 Vgl. Leonhard: Krankheit und religionspädagogische Fragmentarität. 1489 Gutmann / Kuhlmann / Meuche: Praxisbuch Schulseelsorge, 105; vgl. Schneider-Harpprecht: Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung. 1490 Vgl. Luther : Religion und Alltag. 1491 Vgl. Schieder : Seelsorge und Lebenskunst. 1492 Winkler : Seelsorge, 247.
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Aufgaben für religionspädagogische Bildung
Begegnung: Begreift man sie als Grundvoraussetzung für responsive Seelsorge in der Schule, kommen klassische praktisch-theologische Handlungsfelder in einem besonders situierten Rahmen stärker ins Visier.
6.
ReligionslehrerInnen auf der Schwelle zur Professionalität. Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen
Der Primat von Bildung und religiöser Bildung wird zur professionstheoretischen Aufgabe: Wenn Erziehung wie hier als ein intersubjektiver Vollzug verstanden und Bildung als ein auch pathisches Geschehen begriffen wird, hat das Folgen für die Rekonstruktion, Dekonstruktion und Konstruktion pädagogisch professionellen Handelns. Ausgehend von der professionstheoretischen Leerstelle, die zu Beginn der Arbeit markiert wurde, sollen in diesem letzten Teilkapitel in Auswertung empirischer Daten und in hermeneutischer Aufarbeitung kulturtheoretischer und theologischer Einsichten die religionspädagogischen Theorien professionstheoretisch rückbezogen und ausblicksartig auf weitere Teilbereiche ausgeweitet werden. Die Eingangsfrage dieses Schlussteils führt nun im letzten Teil in der Bearbeitung des Interesses zu der Frage: Auf welche beruflichen religionspädagogischen Ausprägungen stößt der praktische Umgang mit dem Pathischen? Welche Auswirkungen auf die Bestimmung religionspädagogischer Professionalität werden evoziert? Den Schwerpunkt bilden die Erträge, welche die religionspädagogische Professionalität konzentrieren, verorten und damit neu perspektivieren – hinsichtlich inhaltlicher Bestimmungen und Termini ebenso wie forschungsmethodisch (6.1). Im zweiten Schritt soll religionspädagogische Professionalität transformiert werden auf weitere aktuelle Kontextbedingungen: Exemplarisch werden drei gegenwärtige Herausforderungen als Horizont aufgezeigt, vor dem sich religionspädagogische Professionalität angesichts der Dimension des Pathischen neu zu erweisen hat (6.3). Anschließend werden Konsequenzen für die ReligionslehrerInnenbildung in ihren unterschiedlichen Phasen extrahiert (6.3). Den Schluss bildet der Rekurs auf den methodologischen Fokus des Projekts.
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6.1
Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen
Responsive religionspädagogische Haltung. Erträge zu Brennpunkten im religionspädagogischen Professionsdiskurs
In dieser Studie ging es darum, die Professionalität von Religionslehrkräften angesichts von Kontingenz auf der Basis phänomenologischer Grundannahmen empirisch-theologisch genauer zu fassen, um die entsprechende Professionstheorie auf »theologische Füße« zu stellen.1493 Welche Konsequenz ergibt sich aus der Reibung des Falls mit den Schattierungen des Pathischen in Bezug auf die Frage nach der Professionalität – vor allem nach professionellem Handeln? Was bedeutet die so skizzierte Religionssensibilität im Horizont von Pathos und Response für die Haltung und das Handeln von Religionslehrkräften? Die Lehrerin sucht nach Wegen des Ausbalancierens zwischen dem Religionsunterricht, in dem Leiderfahrungen zum Thema werden, und der Leib- und Seelsorge, in die sie – großenteils an einem Ort außerhalb der Schule – eingebunden ist. Damit sind Rollenklärungen verbunden, welche die Professionalität befragen: zwischen Mitgefühl und Distanz, zwischen der Beziehungsebene und der Aufgabe des Bewertens, zwischen der weiterlaufenden Normalität des schulischen Alltags und einem Sonderzustand, zwischen der Frage nach dem expliziten Ansprechen christlicher Perspektiven als Lernchance und der Zurückhaltung angesichts impliziter religiöser Elemente.
6.1.1 Pathos und Response als Strukturmerkmale religionspädagogischen Handelns Die Struktur von Pathos und Responsivität im Horizont pädagogischen Handelns macht deutlich, dass auch im pädagogischen Bereich Affekt und Appell zusammengehören, aufeinander aufbauen und doch nicht deckungsgleich zu be-handeln sind. Der pädagogische Anspruch z. B. der Aufmerksamkeit auf individuelle SchülerInnen oder gar der Schülerzentrierung kann sich nicht ungebrochen im professionellen Handeln niederschlagen, weil er den Hiatus unterschlägt, der zwischen Bedarf und Bedürfnissen von Lernenden und dem potentiellen Eingehen auf dieselben liegt. Noch weniger kann es darum gehen, auf die Erziehungs-Appelle der PädagogInnen hin entsprechende Affekte und Effekte hervorzulocken. Eine Pädagogik, die so verfahren würde, verschriebe 1493 Vgl. Kap. 1.5.4.3.
Responsive religionspädagogische Haltung
497
sich einem ungebrochen fatalen Modell des behavioristschen Reiz-ReaktionsAutomatismus. An pathischen Widerfahrnissen wird ohnehin das Scheitern von allzu rezepthaften Antwortversuchen offensichtlich. Es ist hinreichend deutlich geworden: Bei einem Verständnis von Praxis im Zusammenhang gelebter Erfahrung im Handlungsvollzug zwischen idealer Vorgabe und empirischer Realität kann Professionalität sinnvoll nur als begrenzte gedacht werden. Pädagogische Professionalität, die im Kontext von Kontingenz gesehen wird, lässt sich nicht bis in Letzte bestimmen, auch nicht durch Normierungen. Ihre Bruchstellen sind nicht einkalkulierbar, weder das Was noch das Wie der Responses. Konzepte des Umgangs mit Erfahrungen des Unverfügbaren können und müssen am Unverfügbaren scheitern: Theologisch genau wie pädagogisch liegt hierin die Dialektik, in einem religionspädagogischen Feld zu handeln, in dem man nur begrenzt handeln kann. Umso mehr ging es darum, professionsethische Elemente in religionspädagogischer Berufspraxis zu ermitteln, nämlich das Potential und die Grenzen antwortenden Handelns zu ermessen: jenseits der Handlungstheorien, in den Handlungspraxen und über diese hinaus im Sinne einer Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung in Professionalität. Dafür war der Ansatz von Waldenfels und anderen phänomenologischen Konzepten sehr zuträglich, der gelebte Erfahrung als der Response stets strukturell vorauseilenden PathosErfahrung in Widerfahrnischarakter ansieht. Die Grundierung des am Beispiel des Umgangs mit dem Pathischen (als kulturelle Erfahrungsdimension von Religion) gefundenen Habitus in einer phänomenologischen, genauer gesagt: intersubjektiv angelegten kulturphänomenologischen Wissenschaftstheorie und Ethik hat gezeigt, dass Religionssensibilität die entsprechende Gabe und Haltung der Religionslehrkraft ist, mit der Leiden und andere Ausdrucksformen des Pathischen in der Schule am ehesten professionell und kulturell stimmig zu beantworten sind. Responsivität ist als die ethische Basis anzusehen, mit der das Antwortverhalten auf deren Erscheinungsformen beschreibbar wird. Bildungstheoretische wie didaktische Überlegungen zeigen ebenso wie die Auswertung der empirischen Situation der Fallstudie, dass dieser responsive Habitus nicht nur auf Extrem- und Notfälle, damit in Ausnahmesituationen und Krisen sichtbar ist, sondern als ein grundsätzliches Moment religionspädagogischer Professionalität aufzufassen ist. Mit ihm verbinden sich sowohl biografische Sensibilität im Sinne einer Passibilität, die Selbstreflexion in Bezogenheit auf die Wahrnehmung des Anderen als auch die Antwortprägnanz im Sinne des Respekts gegenüber dem situierten Anderen. Auf der Basis der hier vorgenommenen empirischen Erkundung in Gestalt der Einzelfallstudie und unter Heranziehung der theoretischen Erkenntnisse gilt es nun zu überprüfen, wie in gegenwärtigen Diskursen beschriebene Habitusbildung als geeignetes Modell zur Beschreibung und Analyse auf den Umgang
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Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen
mit Erfahrungen des Unverfügbaren als Konkretionen des Pathischen angesehen werden kann.
6.1.2 Religionssensibilität und Responsivität – Elemente eines religionspädagogischen Habitus 6.1.2.1 Habitueller Umgang mit dem Pathischen? Mit einem Fall wie diesem ist die Rekonstruktion von religionspädagogischen Habitus, wie sie insbesondere von Feige / Dressler in Bezug auf den Umgang mit Religion und von Heil / Ziebertz insbesondere in Bezug auf Unterrichtsinteraktion und dieselbe als Grundlage für LehrerInnenbildung zugrunde gelegt wurden, noch in folgender Weise zu modifizieren. a. In weiterem Rahmen und anders, als es Feige / Dressler u. a. sowie Ziebertz / Heil u. a. nahelegen, wird anhand des FALLs ersichtlich, dass sich religionspädagogisches Handeln und Selbstverständnis nicht nur auf den Zusammenhang von Unterricht erstreckt, sondern den sozialen Raum einschließt; die Situation wie auch die Beziehung zwischen der Religionslehrerin und dem Schüler berührt vielmehr seelsorgerliche Zusammenhänge. Ich habe erkundet, auf welche habituellen Bezugsmodi auf Religion ein/e ReligionslehrerIn in dieser Situation zurückgreift, welche Aspekte von Religion und Religiosität hier zu beschreiben und bestimmen sind. Zum Handlungsradius der Religionslehrkraft gehören biografische Erfahrungen nicht nur in Bezug auf das Feld der Schule und auch nicht nur in Bezug auf Berufs- und Ausbildungserfahrungen.1494 Auch das Verhältnis von Situation und Tradition kommt damit neu in den Blick. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass zumindest hier noch ganz andere Potenziale als Kirche für das Handeln bzw. Nicht-Handeln der Lehrerin maßgeblich sind. Damit rückt die Lebenswelt als Faktor in ganz anderer Weise in den Kontext von religionspädagogischer Professionalität, als dies bisher angedacht war. In Bezug auf Religion wurde bisher der Habitus von ReligionslehrerInnen ermittelt, der jedoch mit einer Rolle der TraditionsagentInnen korreliert wurde. Angesichts des erweiterten Handlungszusammenhangs in dieser Studie konnte erhoben werden, dass Religionslehrkräfte nicht nur als TraditionsträgerInnen fungieren, sondern es ist ersichtlich geworden, wie sie als TransformatorInnen zwischen Lebenswelt, Schule und Kirche agieren. Diese Tatsache gibt Hinweise darauf, dass sie letztlich der Entkoppelung von Kirche und Gesellschaft eher dadurch entgegenwirken, dass sie ein situatives, lebensweltlich und biografisch
1494 So der Ansatz von Renate Hofmann: Religionspädagogische Kompetenz.
Responsive religionspädagogische Haltung
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verbundenes Interesse an und in Religion entgegennehmen und dieses personal darzustellen bzw. zu verändern bereit sind. b. Grundlegend ergibt sich für die Bestimmung dessen, was ein religionspädagogischer Habitus ist, die Frage nach dessen phänomenologischer Grundierung. Habitus als die praxeologische Beschreibung und Erfassung von Professionalität im Sinne einer Praxistheorie des Religionslehrberufes muss als umfänglich und elementar skizziert werden. Der phänomenologische Zugang des hier gewählten Ansatzes legt offen, dass für den Habitus die angeführten Felder durchaus einfließende Faktoren sind, deren Gewicht in der Prägung wie in der Gestaltung nicht unterschätzt werden dürfen. Damit sind jedoch noch nicht die grundlegenden dimensionalen Ebenen erfasst, auf denen sich professionelle Praxis überhaupt erst herausbildet. Die phänomenologisch gegebenen Größen der Leiblichkeit, Räumlichkeit und Sprache – auch als Basis für Intersubjektivität, in welcher die drei ersten kulminieren – werden als grundlegende Systemstellen für den Habitus auch bei Ziebertz und Heil auf der Grundlage des Bourdieuschen Konzeptes genannt, letztendlich jedoch in ihren Professionalitätsanalyen und -bestimmungen der Religionspädagogik so gut wie nicht berücksichtigt. Dies ist zum einen erstaunlich, da es sich um Bemühungen zur Analyse von Strukturen handelt und dabei grundlegende Dimensionen menschlichen Lebens und Handelns doch außer Acht gelassen werden. Auf der anderen Seite schafft die Methodologie für den Blick, wie er in Heils empirischer Studie gerichtet ist, nicht das nötige Interesse für diese Seite der Profession. Wie es insbesondere in seiner Vertiefungsstudie deutlich wird, konzentriert sich das Erfassen des Habitus auf die sprachliche Seite, nämlich auf Interaktionen zwischen Lehrkräften und SchülerInnen, deren Sprachhandlungen, folglich Sprechakte, untersucht werden.1495 Dass das professionelle Geschehen auch andere, weiter reichende Kommunikationsprozesse und Verhaltensebenen erfasst, bleibt hier außen vor. Der Einbruch des Pathischen, wie er in dieser Fallstudie am Beispiel des Umgang mit Widerfahrnissen reflektiert wird, macht Einflüsse auf den professionellen Habitus geltend, die nur dann verständlich werden, wenn sie klarstellen, dass über Sprache hinaus grundlegende Kategorien von Raum, Zeit, Leiblichkeit und Intersubjektivität habitusprägend sein können. Der habituelle Umgang mit Erfahrungen des Leidens und Krankheit am Beispiel von kranken SchülerInnen hat sich hinsichtlich seiner prägenden Elemente durch Zurückhaltung, Lähmung, Ohnmacht, gezeigt; zumindest für Momente waren die eingeübten, routinierten Verhaltensweisen und Einstellungen außer Kraft gesetzt. Dieser Riss in der beruflichen Erfahrung betrifft auf der dimensionalen Ebene des Raumes sowohl ortsräumliche Einschränkungen und Erweiterungen 1495 Vgl. Heil: Strukturprinzipien religionspädagogischer Professionalität.
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Kulturen religionssensiblen Verhaltens zum Pathischen
wie auch sozialräumliche Umbauten. Die leibliche Seite der Lehrkräfte zeigt sich in Spiegelphänomenen als ebenfalls passiv und (mit-)leidend – in einer Ergriffenheit, die sich wiederum auch auf die Gestaltung des Habitus auswirkte. In sprachlicher Hinsicht wird das Ausbleiben verbaler Sprache, das »Fehlen der Worte« zum Indikator für eine Passivität, in der erst mit Verzögerung Sprachfindung geschieht. Intersubjektiv lässt sich daher der Habitus der das Pathische erfahrenden Lehrkräfte als ein re-aktiver – und zwar auch in seinem als Antwortverhalten beschriebenen Gestus deutlich passiverer – Habitus zeigen, dem das je Andere verstärkt in den Fokus rückt. Die genannten Dimensionen der leiblich, räumlich und sprachlich geprägten Intersubjektivität sind keinesfalls ausschließlich auf den Habitusfaktor der Person zu beschränken, sondern als Basis auch den anderen Faktoren inhärent. Bei einer Lebens- und Glaubensbiografie ist es nur mehr als plausibel, dass Erfahrung in den genannten Dimensionen eine zentrale Kategorie ist für den Nachvollzug. Aber auch Institutionen haben habituelle räumliche und raumsprachliche Settings, ebenso sind Routinen im Umgang mit Situationen zutiefst von Dispositionen geprägt, die im Bereich Leib, Raum, Sprache und Zeit beschreibbar sind. Die Unterscheidung im Sinne der Grenze von Lehrerzimmer, Klassenraum und Privatraum ist eine der prägenden räumlichen Settings, deren Grenzüberschreitungen gerade in dieser FALLstudie zutage treten. Hier spanne ich den Bogen vom Schluss zum Ausgangspunkt zurück, dass alle professionellen Handlungen und damit das professionelle Handeln per se in diesen dimensionalen Elementaria verankert sind und daher auch alle analytischen und gestaltenden, ja normativen Schlüsse darauf rückbezogen werden müssen. Damit zeigt sich und gestaltet der Habitus das Ver-Halten, die Haltung; ebenso wird Habitus auch im Lehrberuf von banal anmutenden Grundgegebenheiten unterfüttert. Mit der dimensionalen Kategorie des Pathischen, deren Erfahrungsdimensionen auf eben diesen Ebenen liegen, werden auch gängige Habitusbeschreibungen hinterfragt, indem der Grenzfall auftritt unter der Fragestellung, wie weit Widerfahrnisse überhaupt habitualisiert werden können. In dieser Hinsicht sind also die phänomenologisch grundierten – auch die religionspädagogischen – Lerntheorien den Professionstheorien um einiges voraus. c. Überprüft werden muss, inwieweit die Form und Struktur des polarisierten Felder- und Faktorenschemas, wie es für pädagogische Professionalität generell angesetzt wurde, für einen religionspädagogischen Habitus angesichts der Erfahrung des Pathischen angemessen ist. Der Ausgangspunkt eines Feldes, dem Gegenüberstellungen und Zuordnungen als Zwischenbereiche möglich sind, erlaubt eine relativ fluide Positionierung von Handlungsweisen in verschiedenen Situationen und Anforderungsbereichen. Die Logik dieses Habitusschemas verfährt tolerant innerhalb eines Ordnungssystems, in dem zwar Grenzfälle als Schnittstellen zwischen Polen möglich sind, jedoch gibt es keine wirklichen
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Fälle, die aus dem Rahmen der Interpretationsfelder fallen – also Fälle im Sinne der Herausgefallenen. Die Ordnung lebt sozusagen davon, einen Beobachter zu haben, der alle Einzelfälle in einem Schema unterbringt. Das provoziert die zunächst auch theoretisch schon plausible Frage, ob denn ein anderer Fall das Ordnungssystem erweitere, verändere – hinsichtlich der Variablen oder auch hinsichtlich der Gesamtstruktur. Nicht jeder Fall im Umgang mit dem Pathischen ist solch ein Grenzfall. Im Angesicht des vorliegenden FALLes ließe sich das Handeln der von Religionslehrerinnen innerhalb der bestehenden Ordnung in Teilen sicherlich noch anfänglich plausibilisieren und als Balancen zwischen handelnden Personen und Institution Schule charakterisieren. Aber es springt doch ins Auge, dass ganz andere Felder bzw. Lebenswelten, die dafür eine Rolle spielen, keineswegs mitbedacht werden. Die lebensweltlichen Vorbedingungen einer Situiertheit, die hier biografisch sowie von Seiten der SchülerInnen und KollegInnen mitgebracht werden, und die Einbrüche, die zufallen, sind in der Ordnung, die auf die Beobachtung einer anderen Ordnung zählt, nicht vorgesehen. Um die Leistungsfähigkeit des Schemas in Bezug auf diesen Punkt präziser zu eruieren, gilt es, genauer auf die einzelnen Faktorenpole einzugehen. d. Die Beantwortung der Frage, ob die Habitusbestimmung von Religionslehrkräften möglicherweise gänzlich anders erfolgt als bei anderen LehrerInnen, würde eine Vergleichsstudie erfordern. Hier wird in jedem Fall deutlich, dass das professionelle Handeln im Krisenfall Veränderungen in der Haltung mit sich bringt. Dabei fällt auf, dass die Krise, der Ernstfall als solcher, nicht in die Professionalität einbezogen wird. Zwar geht Stefan Heil in seiner Untersuchung auch von kommunikativen und misslingenden Interaktionen aus, jedoch ist das Agens, welches diesen als Einfluss oder Einbruch zugrunde liegt, weder näher bestimmt, noch ist einbezogen, dass Interaktionen nicht mehr möglich sind.1496 Das hat auch damit zu tun, dass das Feld, welches avisiert wird, ausschließlich der Religionsunterricht in Konkretion der gehaltenen Unterrichtsstunde ist; selbiges bietet das zeitliche Maßband für diese professionellen Prozesse. Diese Fallstudie zeigt also zweierlei auf: Zum einen ist grundsätzlich der Feldrahmen, in dem habitualisierte Professionalität gesehen wird, gedacht als Unterrichtspraxis in Gestalt von Unterrichtsstunden, viel zu eng erfasst; dieser Rahmen ist vielmehr auszudehnen auf die Schnittflächen zwischen Schule bzw. Kirche, Lebenswelt und Biografie. Damit rückt zwischen die Stellen der Institution und der Person noch eine wesentliche andere Instanz der in diesem Modell bisher nicht erfassten lebensweltlichen Einflussnahme, die sich zwischen und jenseits der personalen und systemischen Faktoren platziert. Ihr gebührt hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss der Unverfügbarkeit größere Aufmerksamkeit. 1496 Vgl. ebd.
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Zum anderen sind bei Ziebertz und Heil spezifische Routinen angesiedelt, die im Umgang mit dem Pathischen in Gestalt von Leiderfahrungen eine besondere Prägung dahingehend bekommen, dass sie wiederum zwischen persönlichen, lebensweltlich-kulturellen und institutionellen Gegebenheiten vermitteln. Beachtung verdient jedoch auch der pädagogisch-professionelle Umgang mit Neuem. Heil und Ziebertz sehen religionspädagogisch insbesondere den Umgang mit religiöser Pluralität als Fokus: Die exemplarischen Erläuterungen zeugen auch hier davon, dass Pluralität sowohl im Hinblick auf den Wandel religiös-konfessioneller Kulturen als auch auf lebensweltliche Faktoren bezogen wird. D. h. die Lebenswelt bekommt in diesem Schema einen inhaltlichen Platz, mit dem man umgehen muss – sie wird nicht als prägend für die andere Seite des Habitus gesehen. Auch der Gedankengang, Pluralität mit »Neuem« gleichzusetzen1497, bleibt vage – sind die Erscheinungs- und Wirkungsweisen doch sehr unterschiedlich, zumal auch Pluralität ein Faktor der bereits Einfluss nehmenden Lebenswelt ist. e. Auch eingerechnet werden muss für diese Dimensionalität des Habitus, die durch die Untersuchung des Pathischen deutlich wird, dass für sie Religion eine Rolle spielt. Deren Einfluss- und Bestimmungsfaktoren sind bislang vor allem in der verbalen Kommunikation des Unterrichts berücksichtigt worden. Diese Engführung führte im Rahmen dieser Arbeit zu weiteren Kristallisationspunkten. Die Rolle von Religion zu beschreiben, erforderte die Wahrnehmung von expliziten und impliziten, empirischen und theoretischen Bezugsgrößen. Insofern lässt sich erschließen, dass der religionspädagogische Habitus im Blick auf Religion eine Vermittlung von expliziter und impliziter Religion darstellt, wie sie für die Erkundung und Beschreibung gelebter Religion maßgeblich ist. Im Bezug auf die Phänomene des Pathischen, insbesondere das Phänomen der Krankheit, sind habituell erworbene Haltungen und Handlungen zum Tragen gekommen, die sich auf den im Rahmen der Schule gewonnenen Lebensweltkontext von Religion ebenso wie substanzielle Formen von Religion beziehen. f. In pädagogischer Hinsicht bekommt die von Ziebertz und Heil proklamierte Metakompetenz der Reflexivität als Zentrum des pädagogischen Habitus eine andere Schlagseite: Die empirisch orientierte Frage Haben Religionslehrkräfte einen habituellen Umgang mit Erfahrungen des Pathischen? ist in der Einzelfallstudie explorativ zum Tragen gekommen und kann demzufolge noch nicht in generalisierter Weise beantwortet werden. Jedoch haben sich in der heuristischen Verarbeitung des hier gewählten empirischen Zugangs Haltungen herauskristallisiert, die zumindest als Hinweise auf die empirische Haltung valide sind. Deutlich sind auf der Seite der Handlungsstrukturen die anfängliche Passivität in Form einer 1497 Heil / Ziebertz: Professionstypischer Habitus, 57.
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Zurückhaltung, mit der Widerfahrnissen begegnet wird, demgegenüber aber auch das Hervorbringen von seelsorgerlichen Formen des Tröstens und Ermunterns und organisatorischen Umgangsformen wie das Informieren und Vernetzen. Auf der Seite der Bedingungen des Handelns ergibt sich mit der Fundierung auf Konditionen der Lebenswelt eine Umstrukturierung des Feldes hinsichtlich der Gewichtungen der Bedingungskonstituenten. Der primäre EinzelFALL hat gezeigt, dass der schulische Rahmen, die Bereitschaft, auf Widerfahrnisse dieser Art einzugehen, entscheidend ist für den Handlungsspielraum und auch das Zutrauen zum Handeln. Zunächst so gut wie unerheblich erzeigte sich jedoch der Einfluss von Kirche – Kirche wurde jedoch zum schulsselsorgerlichen Potenzial1498, welches die Religionslehrkraft in profesionellerer Weise zu ergreifen wünschte. Religionssensibilität als Grundlage eines Habitus im Sinne passiv-aktiven Antwortens auf das Pathische, wie es im Fall von Widerfahrnissen virulent wird, schließt Elemente von Passivität ein, die in ästhetischer Hinsicht mit Sensitivität, Empfänglichkeit und Abwarten, in wissenschaftstheoretischer Sicht mit Empfänglichkeit und in ökonomisch-ethischer Sicht mit Zurückhaltung konnotiert sind. Das lässt aus epistemologischen wie ethischen Gründen auf eine notwendige veränderte Akzentuierung des religionspädagogischen Habitus zielen.
6.1.2.2 Hexis – zur leiblichen Akzentuierung des Habitus Die Leiblichkeit von Religionslehrkräften, die ich in einem früheren Projekt in didaktischer Hinsicht analysiert habe1499, wird durch diese Studie nun noch einmal in ethischer Sicht als wichtige Grundlage professionellen Wahrnehmens und Handelns verstärkt. Ohne das leibliche Sensorium, die eigene Emotionalität als Grund und Resonanzraum, wird weder ein pädagogischer noch ein religiöser Habitus plausibel. Nach der vorliegenden Studie zum dimensionalen Einfluss des Pathischen ergibt sich für das religionspädagogische Handeln von Lehrkräften folgendes Bild. Grundlagen für ein Professionsverständnis, das der Subjektivität der Religionslehrkräfte Rechnung trägt, sind phänomenologische Grundkonstanten wie Raum, Leiblichkeit, Zeit, Sprache und Intersubjektivität. Der vorliegende FALL ist ein Fall des pädagogischen Habitus, der auf eine bisher vernachlässigte, insbesondere in religionspädagogischer Hinsicht jedoch entscheidende Spezifik desselben hinweist. Mehr als es in der Studie und in dem Konzept von Heil und 1498 Vgl. den kritischen Einwand gegen den Ressourcenbegriff in diesem Zusammenhang bei Moxter: Kultur als Lebenswelt. 1499 Vgl. Leonhard: Leiblich lernen und lehren.
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Ziebertz erscheint, geht Bourdieu bei allen Habitusformen1500 nicht von den abstrakten Oberflächen, sondern von den gewissermaßen fleischgewordenen, d. h. leiblich eingeschriebenen, einverleibten Erfahrungen und Strukturen aus; damit wird der Habitus zu einer Materialisierung von Erfahrung – der bereits gemachten und der ausstehenden. Das bedeutet, dass auch eine innere Haltung mit dem Ganzen der Existenzbedingungen zusammenhängt. In Anlehnung an den aristotelischen Erfahrungsbegriff verknüpft sich empeiria mit technae, der Kunstfertigkeit, und mit episteme, dem Wissen. Philosophisch handelt es sich dabei um eine »Vermittlungsinstanz«: Der Habitus vermittelt zwischen »reiner Potenz und reiner Handlung als die Umschaltstation zwischen Potentialität und der Ausführung einer Handlung«1501, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Struktur und Praxis, zwischen Objektivismus und Subjektivismus, zwischen Theorie und Empirie, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Interiorität und Exteriorität, Vielheit und Einheit, Bewusstem und Unbewusstem – nach Nickl auch zwischen Akt und Potenz, Vernunft und Gefühl.1502 Damit ist aristotelisch auf das praktische Wissen verwiesen, das unterhalb intellektueller techne, kognitiver Wissensbestände liegt, sich vielmehr in Form von Gewohnheiten als eine körperliche Haltung, als Hexis, herausbildet. Während Bourdieu zum Teil die Begriffe ›Habitus‹ und ›Hexis‹ gleich gebraucht, differenziert er jedoch im Rückgriff auf Chomsky etwas genauer : Mit der Wiederaufnahme des alten aristotelischen Begriffs der hexis, die erst von der Scholastik in Habitus übersetzt wurde, will er der für ihn befremdlichen Handlungsphilosophie des Strukturalismus und deren Akzentuierung des Unbewussten sowie einer Verengung des Menschen als eines funktionalen Trägers von Strukturen entgegentreten.1503 Es geht ihm um das Herausstellen der »›schöpferischen‹, aktiven, inventiven Eigenschaften des Habitus«.1504 Dies verbindet er nicht mit einem universellen Geist oder einem transzendentalen Subjekt, sondern mit einem »aktiv handelnden Akteur«; denn »der Habitus, die Hexis meint die inkorporierte, gleichsam haltungsmäßige Disposition«.1505 Mit der Hexis ist die leibräumliche Erinnerung an die Erfahrung in einzelnen Handlungen, die das Subjekt in Erinnerung behält, zugleich die Grundlage für die Zukunft, das Vermögen und das Potential des Hervorbringens von Handlungen gelegt. Auch als praktische Handlung kann sie Werte erwirken. Der 1500 Gemeint ist der Plural, den er zeitweilig auch deckungsgleich mit den »Habitusformen« bezeichnet. 1501 Nickl: Ordnung der Gefühle, 214; Krais / Gebauer : Habitus, 26. 1502 Vgl. Nickl: Ordnung der Gefühle, 214f. 1503 Vgl. ebd. 1504 Ebd. 1505 Bourdieu: Zur Genese des Begriffs Habitus und Feld, 61f.
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Habitus als Hexis ist eine »innere Instanz, die auf Grund von Handlungen zustande kommt und sich in neuen Situationen ausspielen lässt«.1506 So kommen im Hexisbegriff die Gewohnheit und das Schöpferische, Aktive gleichermaßen zum Ausdruck.1507 Beate Krais und Gunter Gebauer legen dar, wie das Habitus-Konzept gegenüber der Rollentheorie, in welcher der einzelne Mensch zum Träger und Spieler von Rollen wird, stärker die Verbindung von Individualität und Gesellschaft verdeutlicht: Dabei ist nicht nur die doppelte Bedeutung der Übernahme von Rollen und das Mitspielen von Interaktionen wichtig, sondern auch die Erzeugung sozialer Realität – damit also das evozierende und gestaltende Moment.1508 So werde auch deutlich, dass jedes Individuum nur einen, nämlich einen geprägten Habitus habe und entwickle, an dem man die Person als vergesellschaftete Person erkennen kann und an dem sie sich für sich selbst ebenso als identisch erweise. Der Habitus beinhaltet gegenüber der Rolle »eine Art objektiver Zweckbestimmtheit […], ohne daß es bewußt auf einen explizit formulierten Zweck bezogen wäre [… das …] verständlich und schlüssig ist, ohne einem festen Vorsatz und einem klaren Entschluß entsprungen zu sein, [… das …] auf die Zukunft ausgerichtet ist, ohne doch Resultat eines Entwurfs oder Plans zu sein«.1509 Das Muster, die Logik, nach der Handeln im Rahmen eines Habituskonzeptes folgt, ist nur zu einem (geringen) Teil bewusst kalkulierendes und in diesem Sinne rationales Handeln. Da der Habitus ein Moment der Spontaneität einschließt, ist ihm eine gewisse Intuition inhärent; in ihm wird implizites, leiblich gespeichertes intersubjektives Wissen explizit und wahrnehmbar. Daher entwickelt sich der Habitus als Hexis auch im Kontakt und Austausch mit dem Feld, in dem er sich bewegt; er verkörpert Freiheit und Bindung, indem er einen Handlungsspielraum eröffnet, diesen aber auch zugleich beschränkt. Der Hexis-Begriff schärft also das Verständnis dafür, dass der religionspädagogische Habitus weder allein sprachlich auf Wissen hin orientiert noch vorrangig kognitiv geprägter eingeschliffener Modus des Umgangs mit Religion ist. Vielmehr zeigt sich durch diese Akzentuierung, dass auch lebensweltliche Dimensionen der Erfahrung in den Habitus einziehen, indem sie sich in ihn leiblich einschreiben. Damit sind die phänomenale und sozial erlebte Leiblichkeit ebenso wie die Räumlichkeit und auch ein phänomenologisches Verständnis von Sprache, das das Zur-Welt-Sein einschließt, Kategorien, an denen sich ein Habitus bildet, ausprägt und schärft. Umgekehrt kann auch ein befreites 1506 Krais / Gebauer: Habitus, 29f. 1507 Vgl. Nickl: Ordnung der Gefühle, 213f. Im Schöpferischen, Generativen kommt Bourdieu damit der generativen Grammatik Noam Chomskys nahe. 1508 Vgl. Krais / Gebauer : Habitus, 65–78. 1509 Bourdieu: Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht, 169.
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und befreiendes Handeln aus einer gewonnenen Haltung und Gewohnheit resultieren. Dies wird insbesondere in Professionskontexten wie der Schule wichtig, weil sich hier eingespielte Rollen, die sich an soziale Hierarchien binden, verfestigen oder eben auch lösen können.1510 Für das Verhalten in und zu pädagogischen Ungewissheitserfahrungen bedeutet dies: Nicht nur die Einstellung, die kognitive und soziale Weise des Umgangs, ist eingeübt, sondern eine situierte Haltung, mit der leiblich auf Widerfahrnisse eingegangen werden kann und wird. Damit ist auf der Ebene des Habitus das ansgesprochen, was Henning Schluß mit Religionssensibilität als pädagogischer Kompetenz meint: »Offenheit für Aspekte von Glauben, Religion, Weltanschauung, letzten Fragen oder Aspekte des Lebenssinns, aber auch für religiöse Rituale, Orte, Texte, Zeichen und Gebräuche.«1511 Religionslehrkräfte verfügen nicht grundsätzlich über ein abrufbares Repertoire an handlungskonstituierendem Wissen, sondern die Formen des Antwortens konstituieren sich im leiblichen Vollzug als Habitusformen – und dazu braucht es eine gewisse Offenheit. Sie bringen diese jedoch aufgrund des professionellen Selbstverständnisses und der alltäglichen Praxis mit; sie wird geschult, gefördert und nahezu trainiert. Denn Religionslehrkräfte gehen nicht nur mit geprägten Haltungen an solche Fälle von Widerfahrnissen heran, sondern sie lassen sich durch sie ebenso neu und anders prägen. Auch wenn man kaum von einem Einübungseffekt sprechen kann, ergibt sich dadurch doch eine leiblich gegründete Lernfähigkeit einer religionspädagogischen Haltung. Das ist für die religionspädagogische Dimensionierung und den konkreten Umgang mit Religion insofern entscheidend, als die Spannung aus beruflicher religiöser Sozialisation und Weltoffenheit in derartigen Unverfügbarkeitserfahrungen der Lehrkraft zusammenkommen und eine spezifische Form der Ausbalancierung erfordern. Als Religionslehrkraft ausgehend von der leiblichen Wahrnehmung einer schwierigen Widerfahrnissituation nachzuspüren und nachzugehen, bildet eine Chance dafür, auch antrainierten Routinen oder gar Widerständen nachzugehen, sie ggf. abzubauen oder aber neue Zugänge und Offenheiten für herausfordernde Situationen zu schaffen. Ebenso ist es aber wichtig, dass die Ausprägung einer habituellen Hexis auch den biografischen Schutz vor Überflutung oder Überwältigung durch derartige Begegnungen aufbauen kann. Entscheidend ist dabei die Kompetenz, mit der die Interaktionen individuell, intersubjektiv und situationsspezifisch justiert werden. 1510 Welche Verschränkungen diese im Religionslehrerhandeln einverleibten Haltungen mit den Verständnissen von Religion und Kultur haben können, zeigt die Studie von Mette Buchardt, in der die Dominanz der Lehrkraft für habitualisierte Zuschreibungen von Muslim-Sein sorgt. Buchardt: Teachers – and Knowledge and Identity Technologies around »Religion«. 1511 Schluß: Religionssensibilität als pädagogische Kompetenz, 222.
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6.1.2.3 Religionssensibles Antwortverhalten Zusammenfassend wird deutlich, dass das Modell, welches dieser Habitusbestimmung nach Ziebertz / Heil erfolgt, die Verbindungen zwischen den jeweiligen Polen der Handlungsbedingungen sowie der Handlungsstrukturen außer Acht lässt. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen bildet die Lebenswelt nicht nur den Ort, in den hinein religionspädagogisch-professionelles Handeln hinein wirken will, also eine Situierung der Intentionalität, sondern sie stellt einen Bedingungsfaktor her – und zwar nicht nur für die Biografie, sondern auch für die Seite des Glaubens. Insofern ist die Lebenswelt hier ein religionsproduktives Element. Dies klingt im Prinzip im vorliegenden Ziebertz / Heilschen Modell auch schon mit an, weil nach dem Korrelationsprinzip der Umgang mit Neuem hier inhaltlich in der Zuspitzung der pädagogischen auf die religionspädagogische Professionalität mit dem Umgang mit religiöser Pluralität identifiziert wird. Hier werden individuelle Religionsstile als Grund für diesen Fokus angegeben. Auch in den religionspädagogischen Routinen ließen sich seelsorgerliche Habitusanteile unterbringen; sie werden jedoch nicht expliziert. Unberücksichtigt bleibt insgesamt auf der Seite der Handlungsbedingungen, dass das religionspädagogische Handeln, gerade insofern es als Verstrickung von Lebens- und Glaubensbiografie gedacht ist, nicht nur auf die Vermittlung, sondern auch auf einen verbindenden Raum zwischen Person und Institution rekurriert. Die Faktoren, die außerhalb von Schule und Kirche stehen, liegen durch diesen FALL auf der Hand. Das Leben als ein Grund, der biografisch und religionskulturell prägend ist, wird in einem Faktor zu verorten sein, der mehr als offizielle, planbare und umfassende Beschreibbarkeit liefert. Dies hat zum anderen eine Entsprechung auf der Seite der Handlungsstrukturen: Die Kontingenz der Erfahrung und Widerfahrung, die Routinen befragt, bringt unterschiedliche Ausprägungen mit sich. Im positiven Fall kann sie zu neuem, improvisatorischem Handeln an den Grenzen des Lebens herausfordern. Dann wird ermöglicht, aus der Lebenswelt auch als einem wichtigen Potenzial zu schöpfen: Es sind alltagserprobte und z. T. auch in einem dritten, zugrunde liegenden Raum verortbare Antworten, die darauf hinweisen, dass ReligionspädagogInnen nicht nur keinesfalls stupide konform oder widerständig agieren, sondern dass sie dabei ihre leiblich gelebte Erfahrung, Vorprägungen, ihr Ethos und ihre Haltung zu Leben, Bildung und Religion einbringen. Damit hat auch das Antwortverhalten per se Grenzen und kann unsensibel, in geringer Entsprechung auf die Herausforderung, etwa im Bezug auf die Ausprägung des Grades von Zurückhaltung, geschehen. Über das Eingeständnis der Vulnerabilität hinaus lassen sich auch Haltungen finden, die weiterhin zwischen den bekannten Größen vermitteln, ohne dass die
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Balance zwischen Verordnung und Improvisation, Grundsätzlichkeit und Situiertheit verloren gehen muss. Daher liegt das Schöpferische an diesem FALL in Bezug auf die Frage nach einem professionellen Habitus gerade im Antworten, in der Spannung zwischen Bezug und Entzug, die sich in diesem responsiven Habitus zeigt. In Bezug auf das Habitusverständnis von Feige / Dressler u. a. wird die Subjektivität religionspädagogischen Handelns in ihrer personalen Verankerung präzisiert. In der auf das Verständnis von und dem Umgang mit Religion zielenden Studie von Feige, Dressler u. a. geht die objektiv-hermeneutische Ausdeutung der Fallstudien zwar auf den biografischen Bezug zu Religion ein. Damit kommen die Schnittstellen von Biografie und Lehre deutlich zum Ausdruck; das zugrunde gelegte Verständnis von Lehre bezieht sich jedoch auf ein engeres Verständnis von Unterricht. Mit dem FALL tritt der berufsbiografische Zusammenhang religionspädagogischen Handelns auch an den Rändern von Unterricht und im sonstigen Feld von Schule ans Licht. Die Zuordnung zum Vierfelderschema leuchtet als Zielhorizonte ein, sieht für das Handeln angesichts des Pathischen andere Zuordnungen: Was für den Unterricht ein Gegenüber von Ethos und Raum darstellt1512, trifft für den Gestaltungsraum professionellen Handelns angesichts des Pathischen so nicht zu und ist damit für diese Profilierung von religionspädagogischer Professionalität noch nicht genügend im Blick; hier scheint das ansonsten klug entwickelte Schema zur Idealtypik des religiösen Bezugs zu werden und schulsituiert veränderter Religionslehrpraxis nicht genügend zu entsprechen. Im Blick auf die Beschreibung professioneller Wirklichkeit und die Konturierung von pädagogischer Professionalität ist zu berücksichtigen: Erkennt man die dargelegten Überschreitungen von Subjektivität für den Bereich des Pädagogischen und seine Handlungsfelder an, dann wird deutlich, inwieweit eine Professionstheorie eine Handlungstheorie sein kann, da ein erweiterter Handlungsbegriff, wie wir gesehen haben, mehr als ein autonom handelndes Subjekt voraussetzt. Mit dem responsiven Habitus rückt pädagogische Professionalität in den Horizont von Beziehung und Kommunikation. Mit der Rückfrage an Norbert Rickens Erziehungsphilosophie, die auf der Kommunikationstheorie nach Habermas basiert, kann man festhalten: So lange eine Beschreibung des religionspädagogischen Verhaltens Reibungsflächen und Asymmetrien in der Kommunikation übersieht und auf diese Weise Kommunikation idealisiert, handelt es sich nicht um die Aufnahme und Darstellung von Bildungswirklichkeit, die leiblich-intersubjektiven Interferenzen unterliegt.1513 Die habituelle 1512 Vgl. Feige / Dressler u. a.: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen, 144. 1513 Vgl. Ricken: Subjektivität und Kontingenz.
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Orientierung an Responsivität korreliert mit einer Ordnung, die mehr ist als Reize auf Reaktionen, mehr als das Befolgen von Regeln und auch anders als bloße Relativität, sondern Antworten auf Ansprüche des Fremden, Anderen, die sich an den Rändern »gelebter Unmöglichkeit« bewegt.1514 Worin liegen davon ausgehend Perspektiven für eine pädagogisch wie theologisch fundierte Bestimmung einer Kontingenzbegegnung – welche professionellen Kompetenzen also benötigen Religionslehrkräfte?
6.1.3 Professionalität aus Passion: Religionspädagogische Antwortkompetenz und -performanz 6.1.3.1 Zur Erweiterung und Vertiefung religionspädagogischer Kompetenz Nahezu alle gängigen religionspädagogischen Professionalitätsmodelle gehen davon aus, dass der Erwerb von berufs- und auch bereichs- (also: domänen-)spezifischen Kompetenzen sowie die Reflexivität des professionellen Selbst im Sinne einer Metakompetenz für die berufliche Profession grundlegend sind. Die Zuspitzung für die handlungsstrukturelle Seite professioneller Praxis konzentriert sich in dieser Fallstudie auf den professionellen Umgang mit dem Pathischen. Da auch für die Lehrkräfte mit dem Habitus ein Modell des Lernens im Sinne der Habitualisierung maßgeblich ist, soll diese im Sinne des doppelten Praxisbegriffs in zweifacher Ausrichtung gestellt und auch in der wechselseitigen Bezogenheit aufeinander geklärt werden. Ausgehend von der Frage, was Religionslehrkräfte für einen qualitativ wertvollen Religionsunterricht benötigen, dessen Qualität auch überprüfbar ist, hat die kirchliche Fachkommission II der EKD zur Reform der Lehrerausbildung im Gefolge des Bologna-Prozesses Empfehlungen als Gütekriterien für die Bildung der Religionslehrkräfte ausgesprochen. Leitend ist die Suche nach dem Was des Wissens und Könnens: »Welches Wissen und welches Können – also welche Kompetenzen – brauchen Religionslehrkräfte?«1515 Der damit einhergehende Kompetenzbegriff folgt der bereits skizzierten Anforderungslogik1516 und wird normativ zum Leitziel für die Bildung von ReligionslehrerInnen. Wiewohl klar ist, dass der Kompetenzerwerb nicht alle Seiten des Religionsunterrichts abdecken kann, liegt das Interesse doch dabei: »Alle Ausbildungsphasen sollen dazu beitragen, dass sich eine solide ›theologisch-religionspädagogische Kompetenz‹ entwickelt, die alle notwendigen Teilkompetenzen einer Religionslehrkraft 1514 Vgl. Waldenfels: Gelebte Unmöglichkeit. 1515 Kirchenamt der EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz, 7. 1516 Vgl. Kap 5.2.3.
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umschließt.«1517 Maßgeblich ist dafür die Domänenspezifik des Faches, nicht die Praxis der Lehrkräfte. Damit bekommen selbst solche wie die für die Berufseingangsphase formulierte Standards, »sich in Fallberatungsgruppen beraten [zu] lassen«1518, einen deutlichen Konnex zur Unterrichtsqualität. Der Gütemaßstab für die Kompetenzen, die sich messen lassen, sind Standards. Zentrale Kompetenzen lassen sich für alle Fächer und Schulformen ableiten, daher legitimiert sich die Standardisierung; aus ihr wird eine Normierung, die in den Ausbildungscurricula der Länder verbindlich, hier abgemildert als Orientierungsrahmen formuliert wird. Die damit laut Vorwort von Wolfgang Huber intendierte Diskussion schließt ein, dass dieser eruiert und evaluiert wird. Herausforderung sollen dabei nicht in erster Linie andere Theorien sein, sondern es komme darauf an, »die Anforderungen der Praxis phantasievoll und ideenreich in die theologisch-religionspädagogische Ausbildung einzubeziehen und Modelle guter Praxis zu entwickeln, um auf diese Weise eine Religionslehrerausbildung ›aus einem Guss‹ und auf hohem Niveau zu verwirklichen«.1519 Heil und Ziebertz, die von ihren empirischen Erhebungen ausgehen, ordnen im Vergleich dazu den Bereichen des Habitusmodells Teilkompetenzen zu bzw. binden ihre Kompetenzvorstellungen an das Habitusmodell: Differenziert werden theologische / religionspädagogische Kompetenz, institutionelle Kompetenz, pädagogische / didaktische Kompetenz, personale Kompetenz und als Schlüsselkompetenz die reflexive Kompetenz. Anders als der Orientierungsrahmen der EKD werden in der aus dem katholischen Bereich stammenden Studie die institutionellen Kompetenzbereiche zwischen Schule und Kirche genauer präzisiert, indem Adressaten und Interaktionspartner benannt werden: Im Sinne des Begriffes der »extended professionalism« gilt das Handeln von ReligionslehrerInnen somit auch als nach außen wirkende Tätigkeit gegenüber KollegInnen und Eltern im Beraten, Korrigieren, Planen, Verwalten, Konferieren, etc. Dass dabei auch davon ausgegangen wird, es »verkörper[te]n Religionslehrer die Kirche«, ist dabei eine mangelnde Differenzierung – diese wird sicherlich weder von den Subjekten noch von gegenwärtiger Didaktik noch von Professionalitätsbeschreibungen getragen.1520 Heil und Ziebertz beziehen nachfolgend zur Kennzeichnung von Qualifikationen die Teilkompetenzen von ReligionslehrerInnen auf die Bereiche Wissenschaft, Berufsfeld und Person – und zwar im Sinne einer »diagnostischen Anregung«.1521 Die reflexive Kompetenz als Meta-Kompetenz ist nötig für das Zusammenspiel der Teilkompetenzen. Kirchenamt der EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz, 16. A. a. O., 29. A. a. O., 8. Heil / Ziebertz: Kompetenzen der Profession Religionslehrer/in, 72. Vgl. dazu Kap. 1 dieser Arbeit. 1521 A. a. O., 75. 1517 1518 1519 1520
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Diagnostik ausschließlich im Hinblick auf einen Lernstand auszuüben, der einer linear steigerbaren Leistungslogik folgt, lässt die dargelegten Erscheinungsweisen des Pathischen im professionellen Horizont religionspädagogischer Praxis unberücksichtigt. Ein Ansatzpunkt läge sicherlich darin: »Pädagogisch meint, von den Schülerinnen und Schülern aus zu denken und ihre Situation zu diagnostizieren.«1522 Aber auch hier geht der weitere Bezug wiederum auf Unterricht im Sinne der Lehre ein. Ersichtlich ist in den normativen Bestimmungen der EKD wie in dem empirisch fundierten Modell von Ziebertz und Heil: Die gängige normative Grundlage wird in gutem Unterricht gesehen, der im Sinne guter Lehre bildet. Als wissenschaftlich zentrale Kontexte sind entsprechend Fachdidaktik und Theologie benannt, was auch durch eine Rück-Wende aus der Pädagogisierung der Theologie zu sehen ist. Dass die Qualität des Religionsunterrichts für ReligionslehrerInnen ein wichtiges Element der Professionalität ist, soll hier keinesfalls eingeschränkt werden. Allerdings zeigt der FALL, der sich in der Studie herauskristallisiert hat, in seiner Vielschichtigkeit auch weitere Aspekte des Berufes auf, die in den neueren Diskussionen zur religionspädagogischen Professionalität höchstens marginal zum Tragen kommen, in jedem Fall auch für einen normativen Rahmen kaum oder gar nicht ausschlaggebend sind. Mit der Fallstudie habe ich aufgerollt, dass religionspädagogische Kompetenz auch in einem Bereich angesiedelt ist, welcher nicht allein einer Domäne zuzuordnen ist: Der Umgang mit Leid kann sich auf kein Handwerk verlassen, sondern bedarf einer Kunst. Auf dem Hintergrund des empirisch erschlossenen Falls und der theoretischen Erkundungen braucht es eine stärkere Gewichtung der religionskulturellen und pädagogischen Seite, um die Praxis von Lehrkräften im Umgang mit Phänomenen des Pathischen normativ zu orientieren. Auch die im engeren Sinne religions-pädagogische Ausrichtung des Handelns im schulischen Feld wird von den bisherigen normativ ausgerichteten Professionstheorien nicht genügend berücksichtigt. Es wurde schon ersichtlich, dass der Kompetenzbegriff einen der per se heiklen Begriffe angesichts prekärer professioneller Praxis darstellt. Aufgrund der dargelegten Erkundungen ist die Kontextualität des religionspädagogischen Kompetenzverständnisses professionstheoretisch genauer zu berücksichtigten – es gilt also zu fragen, wie die lebensweltlichen Grenz- und Erfahrungsfelder besser einbezogen werden können. Für die Beantwortung der Frage nach dem habituell-normativen Umgang mit dem Pathischen sind die Kontexte, die weiteren verschiedene Blickwinkel auf unterschiedlichen Ebenen, auf denen Klärung erfolgen kann, benennbar. Der Religionslehrberuf ist auch als Profession mit sozialpädagogischer 1522 A. a. O., 71.
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Komponente zu sehen. Von den anderen Professionen her wäre es sehr verwunderlich, wenn nicht Strategien deutlich würden, die auch für den Lehr- und insbesondere für den Religionslehrberuf gültig sind. Daraus ergibt sich auch ganz maßgeblich, dass die Einflussnahme auf Leid nur in dosierter, d. h. geschützter, abgeschwächter Form möglich ist. Der Arztberuf ist sehr genau darauf angewiesen, diesen Habitus zu gewinnen und auch auszubilden. Er lässt darauf schließen, dass es hier zur Routinebildung gehört, mit Erfahrungen des Unverfügbaren, Leiden und Formen der Passivität umzugehen, die in Weisen der Übertragbarkeit auch die eigene Professionalität affizieren. Trotzdem ergeben sich auch dort Einbruchschneisen. Im Kontext sozialer, helfender Berufe – eine Zuordnung, die auch auf pädagogische Berufe zutrifft1523 – ist deutlich, dass das Handwerk zum Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren gelernt sein müsste, wenn es denn professionalisiert werden könnte. Dazu sind Einblicke in die Konzepte und Praxis der Religionslehrerbildung vonnöten. Im Kontext anderer sozialer Professionen und helfender Berufe, wie es etwa auch Sozialarbeit, Diakonie etc. sind, nimmt die Erfahrung von Unverfügbarkeit einen größeren Stellenwert ein. 6.1.3.2 Pädagogische Kompetenz: Antwortfähigkeit aus pädagogischer Beziehung Die Frage, wie sich von bildungstheoretischen und erziehungsphilosophischen Fundamenten her damit umgehen lässt, dass instruktionelle Praxis an Grenzen stößt, betrifft jede Art pädagogischer Professionalität und ist doch religionspädagogisch unter einem besondere Anspruch zu beantworten. Aus der Bearbeitung der Fallstudie lässt sich erschließen: Mit Erfahrungen des Unverfügbaren schulsensibel umgehen, bedeutet, Antworten zu geben und Antwortverhalten zu vermitteln und auf diese Weise die Resilienz der SchülerInnen zu fördern. Die pädagogische Situation als Situation zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erziehenden gibt es in zweifach strukturell unterschiedener Weise: Mit der gestalteten, intentionalen Situation ist vor Augen, wie sie schul- und unterrichtspädagogisch als Situation von und zwischen Lehrkraft und SchülerIn vorherrscht. Sie wird geschaffen, um Erziehung und Bildung voranzubringen. Die faktische funktionale, weil sich ereignende, prekäre Situation, die sich aus Bedingungen und spontanen Gefügen ergibt, greift den phänomenologischen Situs auf, wie er sich konkret und empirisch ereignet. Faktisch ist eine pädagogische Situation meist von beiden Bedingungen bestimmt: Wie im vorliegenden Fall ist die Intentionalität im unterrichtlichen und beraterischen Ver1523 Vgl. Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen.
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hältnis gelagert, während sich zugleich, quasi nicht beabsichtigt, eben als Widerfahrnisse, andere pädagogische Situationen überlagern, die das Verhältnis verändern. Um die professionelle Interaktionsfähigkeit im Blick auf diese so genannten funktionalen pädagogischen Situationen genauer zu beschreiben und begrifflich zu präzisieren, lohnt noch einmal ein Blick in die Bindungstheorie, welche unter dem Einbringen psychoanalytischer, entwicklungspsychologischer und systemtheoretischer Elemente eine genetisches Konzept für Beziehungsfähigkeit liefert. In ihr geht es darum zu erheben, unter welchen Umständen der frühkindlichen Entwicklung sich die Mutter-Kind-Beziehung als besonders gelungen ausprägen kann. Durch die psychologische, psychoanalytische wie biologische Entwicklungsforschung weiß man, dass in den allerersten Lebensjahren die Basis für die soziale wie emotionale Entwickilung gelegt wird. Von daher ist dieser Forschungskonnex basal für die Identitätsbildung des Menschen – dies ist pädagogisch zentral und von dort her bestimmt sich auch, was in diesem Zusammenhang professionell gilt: Die Balance aus der Gestaltung der Beziehungen und Interaktionen in verlässlichen, sicheren und gefestigten Rahmen einerseits und dem Gewähren des Autonomiestrebens der Kinder andererseits verlangt hohe Aufmerksamkeit. Regina Remsperger hat aus der frühkindlichen Bindungs- und Interaktionsforschung ein Konzept für eine pädagogische Feinfühligkeit auf pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten transferiert. Das Konzept der maternal sensitivity nach Mary Ainsworth1524, das Remsperger mit Feinfühligkeit übersetzt, mit anderen Konzepten kombiniert und amalgamiert hat, wurde dabei zum Indikator für Kriterien, die sie anhand einer empirischen Studie operationalisieren konnte. Ergebnis ihrer Untersuchung der Konzepte zu Sensitivität, Responsivität und Feinfühligkeit ist: »Situationen mit einer überwiegend hohen Sensitiven Responsivität sind gekennzeichnet durch das Interesse, Engagement, Verständnis, das Herstellen des Blickkontakts, die Ruhe und nicht zuletzt durch das intensive Eingehen der ErzieherInnen auf die Kinder. Demgegenüber sind Diskontinuität und Inkongruenz Merkmale von Situationen mit einem eher wenig sensitiv-responsiven pädagogischen Verhalten. Ablenkungen und Unruhe sind oftmals Gründe für die sich verringernde Sensitive Responsivität der Fachkräfte.«1525 Maßgeblich dafür ist, dass es ein Antwortverhalten gibt (Responsivität – Quantität des Ansprechverhaltens), wodurch dieses qualitativ bestimmt wird. Feinfühligkeit bildet also den Rahmen für die Interaktion zwischen ErzierIn und Kind. 1524 Vgl. Ainsworth: Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit. Die Übersetzung Feinfühligkeit trifft den Kern noch am ehesten. 1525 Remsperger : Sensitive Responsivität, 18.
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Regina Remsperger und mit ihr auch andere erschließen daraus sensitive Responsivität als frühpädagogische Lernkompetenz: Damit kommt die Fähigkeit zum Ausdruck, Verhalten und Signale von Kindern wahrzunehmen und auf sie alters- und situationsgemäß eingehen zu können. Fachkräfte mit hoher Sensitiver Responsivität zeigen ein starkes Interesse an den Kindern, gehen auf sie ein, sprechen zugewandt, verständlich und halten Blickkontakt zu den Kindern. Es erweist sich durch dieses professionelle Verhalten, dass Emotionen geäußert werden können und eine kontinuierliche Beteiligung an Interaktionen und Gesprächen stattfindet. Sensitive Responsivität wird hier als eine pädagogische Grundhaltung und pädagogische Kompetenz ermittelt, die nicht automatisch und in jeder Situation in Performanz überführt und vollzogen wird – es gibt ebenso Störfaktoren und Hindernisse, die zu der eingeschränkten Aufmerksamkeit und Antworten führen. Hier ist der Gedanke des »pädagogischen Bezugs« noch einmal aufzunehmen. Nimmt man ihn in der Wendung der »pädagogischen Beziehung«, kann deutlich werden, dass man nicht eine pädagogische Nicht-Beziehung haben kann. Entscheidend ist hier insbesondere in Hermann Nohls Kriteriologie die Notwendigkeit, auf die gegenwärtigen Voraussetzungen und zukünftigen Möglichkeiten des Jüngeren einzugehen und Traditionen nicht nur blind zu übernehmen.1526 Aus der angesprochenen Frühpädagogik / Pädagogik frühkindlicher Entwicklung ist ersichtlich, wie entscheidend die Qualität des pädagogischen Bezugs und die Entwicklung sensitiver Responsivität bei pädagogisch-professionellen Fachkräften ist, um ein passgenaues Antwortverhalten im Sinne der Identitätsstärkung zu fördern.1527 Mit einer Pädagogik des Innehaltens geht das somato-psychische Antwortverhalten einher ; es impliziert das kommunikative und sprachliche Antwortverhalten in face-to-face-Interaktionen sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen – ergo mit dem Umfeld der SchülerInnen, das Antwortverhalten in der Arbeit mit Kindern und Erwachsenengruppen (Gruppenresponsivität) sowie das Antwortverhalten im Umgang mit Institutionen. Für die Klärung der Haltung und Komunikation der Religionslehrkräfte ist die Grundierung auf der pädagogischen Situation und Beziehung entscheidend. Auch wenn es nicht um das entwicklungspsychologisch hohe Ausmaß an Bedeutung für die Partner im Erziehungsverhältnis geht, so findet sich doch hier ein deutliche Nähe zu der Bedeutung der pädagogischen Interaktion in der Anerkennung der Asymmetrie des Antwortens: Auf die Belange des Kindes oder Jugendlichen in der funktionalen Situation lässt sich strukturanalog die Be1526 Vgl. Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 1527 Vgl. Remsperger : Sensitive Responsivität; Nentwig-Gesemann u. a.: Professionelle Haltung.
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deuutung einer sensitiven, feinfühligen Abgestimmtheit des Antwortverhaltens der Religionslehrkräfte erheben. Das Messinstrument dieser Untersuchung war weniger systematisch oder gar in mehreren Fällen darauf angelegt, besonders gutes Ansprechen und Indikatoren bewusst herauszufiltern. Und doch ergeben sich auch aus diesem FALL Hinweise darauf, dass der Faktor der Aufmerksamkeit für den einzelnen Schüler, die Zugewandtheit der Religionslehrerin, der engmaschige Kontakt, das Bemühen um sprachliche Verständigung dazu beitragen, dass diese Indikatoren und Faktoren von Responsivität zu einer wirksamen Beteiligung und Auseinandersetzung sowie sozialer Kontaktintensivierung mit den MitschülerInnen beitragen. Die Verwirklichung des Pädagogischen Bezugs auf diese Art und Weise liegt nach Hans-Joachim Petsch im Gefühl, gefühlt zu werden – in der Perspektive des oder der Professionellen also im Fühlen. Mitgefühl ist damit ein Gestus, der nicht nur für SchülerInnen zu lernen ist, sondern auch als eine essenzielle Haltung der Religionslehrkräfte. Erforderlich dafür ist aber zunächst ein leibliches, erspürendes Wahrnehmen. In religionspädagogischer Hinsicht ist Responsivität auch als religiöses Ausdrucks-und Antwortvermögen eine Kompetenz der Religionslehrkraft im Hinblick auf eine erhöhte Kommunikationsfähigkeit in jedweder intentionalen pädagogischen Situation. In sich ereignenden Situationen ist es jedoch in hohem Maße für die Religionslehrkraft erforderlich, anhand der zwischenleiblichen Instrumente einen Kommunikationsraum dafür zu schaffen, in dem Unsagbares, der Umgang mit Erfahrungen der Unverfügbarkeit im Dienste des Gegenüber, in passgenauem Antworten zur Sprache gebracht werden kann. Ebenso geht es darum, lebensweltliche Erfahrung bzw. Widerfahrung so zu verbalisieren und thematisieren, dass an ihr Religion wahrgenommen und aufgezeigt sowie theologisch nachgedacht wird, indem diese als religiöse Erfahrung kommuniziert in unterrichtliche Settings einfließen, mit Traditionsgestalten in Kommunikation gebracht werden und damit auch in intentionale religionspädagogische Situation überführt werden kann. Das setzt nicht nur eine biografisch-leiblich reflektierte Sprachfindung und Rollenklärungen1528 voraus, sondern erfordert auch ein Ethos, das dieser Haltung zugrundeliegt. 6.1.3.3 Performatives Antworten aus Passion Die Erscheinungsweisen von Religion als Bezug und Gegenstand religionspädagogischer, pathosbezogener Professionalität sind in dieser Arbeit näher als kulturwissenschaftlich beschreibbare Praxen orientiert worden. Von daher handelt es sich bei dem Religionslehrberuf auch um einen kulturwissenschaft1528 Vgl. Leonhard: Krankheit und religionspädagogische Fragmentarität.
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lichen Kontext, in dem die Berufspraxis zu verorten und zu werten ist. Das professionelle religionspädagogische Eingehen auf Unverfügbarkeitserfahrung lässt sich an zwei unterschiedlichen Funktionen festmachen. Nicht nur für die Linguistik und Kulturwissenschaft, sondern auch nur für die Pädagogik ist es entscheidend, Performanz (performance) und Performativität zu unterscheiden.1529 Hier wird deutlich: Auch für die religionspädagogische Professionstheorie wird die Differenz von unterschiedlichen Funktionen des Handelns relevant. Deutlich ist, was aufgrund der strukturellen Analogien von Sprechen und Handeln didaktisch bereits in den zuweilen durchaus heterogen erscheinenden Theorien zur Performativen Religionsdidaktik erschlossen ist, dass nämlich Performanz als Aufführung oder Vollzug einer Handlung verstanden wird und damit ein handelndes Subjekt vorauszusetzen scheint.1530 Überträgt man Performanz auf den Umgang mit krisenhaften religiösen und theologischen Herausforderungen, wird deutlich, dass hier der von Heil und Ziebertz angesprochene Antwortmodus die Transformation theologischen Wissens, in diesem Falle das referenzielle Hinzuziehen biblischer Leidensgestalten, als Modell für den Umgang mit Leiden bietet. Ebenso wird aber dabei auch sichtbar, wie sehr diese Traditionsmodelle angesichts nahezu tödlicher Ernsthaftigkeit versagen, da sie die Ränder des Unsagbaren nur dann mitvermitteln, wenn diese Sprache und Tradition dem Anspruchsgegenüber, eben den SchülerInnen und der Schule, situationsgerecht entsprechen. Andernfalls wirkt eine theologische Antwort unter Hinzuziehung christlich traditioneller Referenzen aufgestülpt und moralisch. Dass in diesem Fall gerade die Grenzmodelle, denen die Grenze selbst als Erfahrungsgehalt inhärent ist, wirksamer und passender erscheinen, leuchtet ein. Eine weitere, damit entscheidend verknüpfte Funktion zeigt der Trminus Performativität auf; er geht gerade davon aus, dass es ein autonomes, intentional agierendes Subjekt nicht gibt. Mit der Performativität einer Äußerung, Handlung wird kenntlich gemacht, dass das Subjekt allererst durch eben die Praxis hervorgeht, damit auch hierin eine durchaus passive Rolle einnimmt. Insofern gilt: Wenn religionspädagogisch professionelle Kompetenz nicht nur das entrollbare, darstellbare Wissen bedeutet, sondern in der situativen Entfaltung auch die Teilhabe an Unbeabsichtigtem, Ungewolltem, Unbezwecktem und (Un-)Willkürlichem geschieht, dann liegt die professionelle Praxis nicht nur in der Performanz expliziten religionspädagogischen Wissens, sondern deren 1529 Vgl. zu dem Folgenden Posselt: Performativität; Wulf / Zirfas: Pädagogik des Performativen; Wulf / Zirfas: Bildung als performativer Prozess. 1530 Vgl. Searle: Speech acts. An essay in the philosophy of language; ders.: Sprechakte; Austin: How To Do Things With Words.
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Neustrukturierung kommt in der Tat fallbezogen zur Geltung. Anders als bei Heil und Ziebertz vorausgesetzt, entfaltet jedoch diese mit veränderten Rollen, Situationen und Praxen auch die Veränderung der Subjekte – und zwar nicht nur der Lernenden bzw. derjenigen in Patientenrollen, sondern auch die der in diesem Fall religionspädagogischen Akteure – und zwar gerade und genau durch den Prozess, die Praxis, in die er oder sie sich begibt. Antworten – auch als theologische Kompetenz – bringt dann den Mut des professionellen Selbst mit sich, sich der herausfordernden existenziellen Situation zu stellen, angesichts der passiven Rechtfertigung des Lebens mitten im Leid – kreuzestheologisch gedacht – nahe zu sein im Vertrauen auf die Resilienz, die genau dieser Nähe performativ erwächst. Hier ist es nicht mehr das starke professionelle theologisch verantwortete Selbst der Religionslehrkraft, das in Aktion tritt, sondern vor diesem Hintergrund tritt die nackte und spontane Hingabe an das verletzte Leben zutage – im Dienst des Anderen. Am ehesten kommt der Pathoserfahrung in Schule und Unterricht die Beratungs- und Beurteilungskompetenz entgegen, in der auch die seelsorgerliche Dimension anerkannt wird. Wahrnehmen und gestalten, verstehen und handeln sind nicht nur Kompetenzen des Unterrichtens, sondern sie affizieren Haltungen auch in weiteren Kontexten und Situationen. Und genau in diesen Kontexten kommt auch als Negativität zum Tragen, was Derrida für performative Äußerungen zuschreibt: die uneingeschränkte Iterabilität und Zitathaftigkeit.1531 Hier ist die Performativität gerade auf das inhärente Scheitern hin angelegt. Es erfordert und fördert definitiv eine situative Kompetenz, den Anforderungssituationen zwischen Schule, Religion und Lebenswelt zu antworten, den betreffenden Menschen in und außerhalb der Schule als Religionspädagoge oder Religionspädagogin zu begegnen. Dass der Weinertsche Kompetenzbegriff nicht in der Lage ist, die sozialen und kulturellen Dimensionen einer professionellen Fähigkeit aufzunehmen, um den Umgang mit Krisen zu beschreiben, wurde schon zu Beginn der Arbeit markiert. Der Kompetenzbegriff, so ist auch anhand der Fallstudie zu sehen, darf für die Beschreibung von religionspädagogischer Professionalität nicht nur auf der normativen Ebene der Standards veranschlagt werden; Performativität als – auch Elemente von Spontaneität zutagefördernde – Kraft ist ein Moment von Subjektivität und Freiheit der Kompetenz, das sich anhand religiöser Krisen1531 »Derrida akzentuiert darüber hinaus die Iterabilität und Zitathaftigkeit performativer Äußerungen. Damit eine performative Äußerung gelingen kann, muss sie (je nachdem, ob man eine zeichentheoretische oder kulturtheoretische Perspektive einnimmt) als zitathafte oder ritualhafte Form in einem System gesellschaftlich anerkannter Konventionen und Normen erkennbar und wiederholbar sein. Das heißt auch, dass die Möglichkeit des Scheiterns und des Fehlschlagens performativer Äußerungen dem Sprechen und der Sprache nicht äußerlich, sondern inhärent ist« (Posselt: Performativität).
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phänomene als essenziell zeigt.1532 Diese Kompetenz entwickelt sich mit den Anforderungen mit, sodass auch habitualisierte Praxis zwischen Gewohnheiten und Neuerungen im Sinne von Antwortstrukturen balanciert. Und letztlich ist auch die Performanz hinzuzurechnen, ohne deren korporale Ansichtigkeit Kompetenz auch nicht wahrnehmbar ist. Überträgt man die Differenzierung der Handlungsfunktionen auf das professionelle Handeln, so zeigt sich: Die referenzielle Funktion des Handelns wird durch habitualisierte, jedoch durchaus traditionelle Modelle von Passionsgestalten gewährt. Das Zurückgreifen und Vertrauen auf christliche Modelle in Form personaler Gestalten oder aber Theologoumena dient der Religionslehrkraft als Potenzial für die situationsspezifische Antwort. Zugleich wird die performative Funktion des Lehrerhandelns deutlich in den sich verändernden Eingehen auf den Anspruch des krisenhaften Gegenübers, der SchülerInnnen oder Situationen. Die auf normativ-orientierende Richtung zielende Fragerichtung Kann man den religionspädagogischen Umgang mit Leid und mit der Lebensdimension des Pathischen habitualisieren? lässt sich damit zumindest aspektiv klären. Es kommt nicht nur auf kognitive Kompetenzen, sondern auf habitualisiertes und auch inkorporiertes Praxiswissen und dessen produktive, artikulatorische Praxis an, das mit der Kategorie der Performativität näher gefasst wird. Diese Kompetenz ist mehr als das didaktische Eingehen auf Schülerfragen, aber auch mehr als ein nur emotionales, seelsorgerliches Auffangen.
6.1.4 Religions-Pädagogischer Takt – zum phronetischen Ethos des ReligionslehrerInnenhandelns 6.1.4.1 Professionsethik: Phronesis zwischen Prinzipienbasierung und Situationsbindung Schon in Kap. 5 war im Zusammenhang des Bildungsbegriffs eine ethische Denklinie aufgezeigt worden. Der Zusammenhang von Pathos und Ethos ist jetzt professionstheoretisch aufzunehmen. Eine Professionsethik auf der Grundlage von prinzipienbasierter Ethik beinhaltet Vorstellungen davon, was ein gutes und sinnvolles Leben in der Praxis des beruflichen Handelns darstellt. Man kann davon ausgehen, dass Lehrkräfte als professionell Handelnde über Expertenwissen verfügen, das situationsspe1532 Vgl. Kompetenzbergriff pädagogisch schon nach Heinrich Roth – Differenzierung in Kap. 1.5.3. Phänomeno-logische Differenzierungen zwischen der Logik des Lernens und der Anforderungslogik nach Clement / Piotrowski stellen deutlicher heraus, dass die Lernlogik im Vordergrund steht.
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zifisch angewandet werden kann – so weit die gängige Vorstellung von Professionswissen. Mit dem FALL werden jedoch die Grenzen und damit auch die Fundamente des Handelns ausgeleuchtet. Dass eine regelbasierte Ethik im Umgang mit Grenzerfahrung und Widerfahrnissen allein nicht ausreicht, zeigt sich an unterschiedlichen Seitenblicken in die medizinische und in die pädagogische Professionsethik. In aller Vorsicht ist dabei noch einmal auf Frederik Buytendijks Beschreibung ärztlichen Verhaltens im Umgang mit Schmerz einzugehen und nach einer Analogie zur pädagogischen Profession zu fragen. Wie in Kap. 3 ausführlich behandelt, legt Buytendijk Wert auf das »Ethos und Pathos des ärztlichen Denkens und Handelns«, das »zu allen Zeiten ausschließlich aus der persönlichen Zuwendung zum Patienten hervorgeht«.1533 Pädagogische Professionsethik hat demgegenüber unterschiedliche Ansatzpunkte: die Reflexion von sozialer Macht, von Heterogenität und Differenz. Auf der Basis der Kantschen Moralethik befasst sich Micha Brumlik in seiner advokatorischen Ethik indirekt mit den ethischen Grundlagen und Grenzen – dem pädagogischen Dilemma, als Erziehender eine Vorstellung vom guten Leben des Zöglings entwickeln zu müssen und dabei zugleich den Respekt vor dessen Mündigkeit und Selbstständigkeit zu verletzen.1534 Brumlik nennt das Prinzip der Professionsethik eine »dünne Ethik«1535 : Sie handelt vor allem davon, was vermieden werden muss – nämlich Formen der übergriffigen Bemächtigung, Beschämung, Erniedrigung, Instrumentalisierung. Zu ihrer Grundlage gehört Respekt, was als die angemessene Ausübung einer professionellen Kompetenz gilt. Zugleich bleibt – ähnlich der ethischen Fragen in der Sozialen Arbeit, auf welche Brumliks Ansatz maßgeblich Bezug nimmt – der Zwang bestehen, auf gutes Leben hinzuwirken. Den Umgang mit Krankheit und Widerfahrnissen kann man erfahren, aber nur begrenzt heilen oder einüben. Auch wenn ein Pädagoge, eine Pädagogin die Krankheit, den Vorfall nutzt, um Handlungskompetenzen zu schärfen und zu festigen, so ergäbe sich eine pädagogische und ethische Absurdität, wollte man um der Kompetenzförderung professionell Handelnder etwa Widerfahrnisse »hervorlocken« und Leiden »schaffen«. Nicht ohne Grund ist ein Teil des professionellen Hndelns in der Medizin, in der Theologie, in künstlerischen Berufen und auch in der Pädagogik ein Probehandeln. Die alte Maxime »Aus Leiden lernen« hat sich als zu missbrauchsanfällig erwiesen. Der Hiatus zwischen der Herausforderung für pädagogisches Handeln und dem Probehandeln ist ein anderer, zieht sich aber auch dort durch: Der pädagogische und damit lebendige 1533 Buytendijk: Über den Schmerz, 150. Vgl. Kap. 3.4.3.4. 1534 Brumlik: Advokatorische Ethik. 1535 Ebd.
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Ernstfall übersteigt grundlegende Moral und auch daraus folgende Antizipation von Praxis. Aufgrund von dessen Beobachtung und reflexiv gewonnener Erkenntnisse verweigert sie sich jedoch nicht einem professionsethischen Konzept – im Gegenteil, die Praxis ist ihre größte Herausforderung. Daher ist zu überlegen, wie konzipiert bzw. inwieweit auch antizipiert werden kann, wie der Widerfahrnischarakter von Erfahrung auf professionelles Handeln in die Bildungs- und Erziehungspraxis eingeht – und konkret, welche normativen Elemente bei einem Handeln maßgeblich sind, das sich nicht nur Dilemmata, sondern Elementen der Unverfügbarkeit stellt. In der Übertragung ist daher auch zu fragen: Wie ist der Zusammenhang von Pathos und Ethos, der hier für medizinethische Professionalität geltend gemacht wird, für ein religionspädagogisches Professionsethos geltend zu machen? Eine Basis für eine an Praxis orientierte Ethik religionspädagogischen Handelns stellt die Phronesis dar, die der aristotelischen Nikomachischen Ethik entstammt.1536 Phronesis als Gegenpol zur Techne ist weder an Erkenntnis noch an Herstellbarkeit gebunden, sondern meint eine tugendethisch begründete, »handlungsleitende, wahre und auf Begründung beruhende Haltung [Hexis!] im Bereich des für den Menschen Guten und Schlechten«.1537 Phronesis ist die beste und klügste Form praktischer Vernunft, weil sie Selbstorientierungskompetenz in Denken, Handeln und im Leben einer Person gibt1538 – wenn sie an das Ziel des guten Lebens gebunden ist und eben nicht die Strategie auf dem Weg zum Ziel darstellt. Als Klugheit, die nicht nur das Allgemeine kennt, sondern auf das Einzelne, Individuelle achtet, verkörpert sie eine geradezu leibliche ethische Haltung1539, die als wahrheitserreichendes, vernünftiges Gehaben (hexis, habitus) im Handeln in Bezug auf menschliches Gut und Übel und vor allem auf den Anderen ausgerichtet ist.1540
6.1.4.2 Professionelles Ethos und Pädagogischer Takt Professionelles Handlen einer Lehrkraft erfordert eine klug gestaltete Beziehung, ein Umgehen miteinander und mit dem Dritten. Dieser Zusammenhang wird reflektiert im Begriff des Pädagogischen Taktes. Der pädagogische Takt ist früher diskutiert1541, dann aber lange in der pädagogischen Theorie missachtet 1536 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. 1537 Aristoteles: Nikomachische Ethik VI 5, 1140b 4–6. zitiert nach Ebert: PhronÞsis, 165 (166f.). 1538 Vgl. Luckner : Klugheit, 78. 1539 Vgl. ebd. 1540 Vgl. den Ansatz in Heimbrock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen. 1541 So bei Muth: Pädagogischer Takt.
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worden1542 – in Entsprechung zu den Tendenzen der Planbarkeit, denen Unterricht und Erziehungsformen unterliegen. Dort, wo eine pädagogische Dimension der Nichtplanbarkeit einbezogen wird, wird der pädagogische Takt einsichtig. Er bildet einen Kontrapunkt zu Instrumentalisierung und Funktionalisierung. In der neueren pädagogischen Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg werden in dem pädagogischen Takt eine Erziehungsdimension und eine didaktische Dimension unterschieden. Insbesondere letztere ist es, die auf Herbart zurückzuführen ist. Von daher lässt sich die Begriffsgeschichte aufrollen. Bei Friedrich Herbart bezeichnet der pädagogische Takt nach Wolfgang Klafki »das unverzichtbare Verbindungsglied zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis, m. a. W. jenes pädagogische Einfühlungs- und Urteilsvermögen, das der Pädagoge benötigt, um in immer wieder neuen pädagogischen Situationen und im Umgang mit je individuellen jungen Menschen angemessen entscheiden und handeln zu können.«1543 Die didaktische Auffassung zeigt also: »Was den Takt in der allgemein-menschlichen Kommunikation und im unterrichtlichen Handeln charakterisiert, das ist auch hier gegeben: die Unverfügbarkeit des taktvollen Handelns, seine Äußerung als Feingefühl für das einer Situation angemessene Handeln.«1544 In didaktischer Hinsicht wird damit mit dem Moment der Unplanbarkeit »gerechnet«; es ist stärker das Aufmerksammachen als das Vermitteln wichtig. Während Herbart die Möglichkeit der Ausbildung des Taktes in der vorbereitenden Belehrung sah1545, ergibt sich nach Jakob Muth eine »Zurückhaltung im erzieherischen Handeln«, die eher »ein Unterlassen als ein Tun« darstellt.1546 Diese Haltung zwischen Aktion und Passion ist am anderen ausgerichtet und bedeutet nicht eine Zurücknahme des Engagements, sondern gerade, den Schüler, die Jugendliche im Blick zu behalten. Damit ist eine aktive, liebende Form des Sich-selbst-Zurücknehmens im Sinne der Wahrnehmung des anderen angesprochen.1547 Muth trifft eine Unterscheidung, die auf zwei grundlegende 1542 Katharina Gröning macht dafür den fehlenden Einbezug sozialwissenschaftlicher Perspektiven und Fragen verantwortlich (Gröning: Pädagogische Beratung). 1543 Klafki: Pädagogische Erfahrung und pädagogische Theorie bei Johann Friedrich Herbart. 1544 Muth: Pädagogischer Takt, 53. 1545 »Es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, allererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlangt man Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen gemacht, sich durch sie gestimmt und die künftigen Eindrücke, welche die Erfahrung auf ihn machen sollte, vorbestimmt hatte« (Herbart: Kleine pädagogische Schriften 1964, 127). 1546 Muth: Pädagogischer Takt, 21. 1547 »In letzter Hinsicht läßt die Zurückhaltung den anderen sein und werden, wozu er zu sein begabt und aufgerufen ist …« (ebd.). Zurückhaltung darf jedoch keinesfalls mit einer
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Modi eingeht: Unterschieden werden Erziehung und Unterricht – also der Takt im erzieherischen und im didaktischen Sinne. Aus diesem Grund ergibt sich hier zum einen eine erziehungsphilosophisch begründete Bescheidenheit in pädagogischem Handeln, das Zurückhaltung im Sinne »negativer Potentialität« pflegen sollte.1548 Dies ist eben gerade in den nicht intentionalen, sondern funktionalen, sich ereignenden pädagogischen Situationen wichtig. Der pädagogische Takt ist bei Herman Nohl die Grundlage für den von ihm so benannten pädagogischen Bezug, welcher Grundlage pädagogischer Beziehungen ist. Seit den Aufdeckungen von Missbräuchen, wie sie etwa an der Odenwaldschule zutage getreten sind, aber auch im kirchlichen Rahmen – ist der Begriff der pädagogischen Beziehung heikel, da mit ihm die Überschreitung persönlicher Grenzen mit anklingt. Hierbei handelt es sich vor allem um den in der Lebensreform vielbeschworenen, aus der Antike wiederbelebten pädagogischen Eros; damit wird die Form der pädagogischen Liebe nicht genauer differenziert und versäumt, die pädagogische Freiheit mit der pädagogischen Verantwortung zu paaren. Der pädagogische Takt ist nicht zuletzt deswegen das Regulativ, welches dafür sorgt, dass der Erziehende »dem Zögling auch da nicht ›zu nahe tritt‹, wo er ihn steigern oder bewahren möchte, und der spürt, wenn eine große Sache nicht pädagogisch klein gemacht werden darf«.1549 Die pädagogische Liebe wird ersetzt durch Verlässlichkeit, die Orientierung an Gerechtigkeit und empathische Einfühlung. Klaus Mollenhauer sieht nicht ohne Grund den Takt als Grundeigenschaft des pädagogischen Beraters an.1550 Ganz klar äußert sich der pädagogische Takt, wie er auch bei Jakob Muth gestrickt wird, wie das alltagssprachliche Taktgefühl als Feingefühl und Zurückhaltung. Gegenpole sind pädagogische Aufdringlichkeit, Veränderungswille und Aggressivität. Damit gibt der Alltagsgebrauch des TaktBegriffes wichtige Hinweise auf die pädagogische Reformulierung. Er macht auch deutlich, dass es sich um ein soziales Phänomen handelt: Der Takt steuert auch den Kon-Takt. Taktvoll handelt als Lehrerin, wer situationsadäquat präsent ist, aber auch, wer in der Zurückhaltung nicht auf Veränderung aus ist – auch darin, dass unangebrachtes Handeln unterlassen wird.1551 Das bedeutet, die Phantasie der Allmacht und Machbarkeit der Erziehung aufzugeben. Pädagogischer Takt zeigt sich in der Verbindlichkeit der Sprache, der Na-
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Verringerung des Engagements für den Zögling einhergehen. Wer sich »… zurückhält, weil er sich in einem Geschehen nicht engagieren will, der handelt eigentlich nicht taktvoll, denn ihm kommt es in der Zurückhaltung nicht auf den anderen Menschen an, sondern auf sich selbst«. (Muth: Pädagogischer Takt, 21). Agamben: Über negative Potentialität; selbige proklamiert er im Rekurs auf Aristoteles: De anima. Nohl: Die Theorie der Bildung, 24. Vgl. Mollenhauer / Müller: »Führung« und »Beratung« in pädagogischer Sicht. Muth: Pädagogischer Takt, 22.
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türlichkeit des Handelns und im Respekt vor der Verletzlichkeit des Anderen – außerdem in der Wahrung notwendiger Distanz. Aus diesem Grund ist auch das situative Gefühl für die Angemessenheit des Schweigens maßgeblich. Pädagogische Begründungen für diesen Takt liegen in dem Ideal der Selbständigkeit: »Das Motiv für Zurückhaltung des Lehrers ist […] die Ermöglichung der Selbständigkeit der Schüler«1552 – hieraus legt Muth Wert auf das Tun um des Anderen willen. Erzieherisch wird die Notwendigkeit ersichtlich, »auch für das Tun des professionellen Erziehers den Bereich der Unabsichtlichkeit, des Natürlichen und Unwillkürlichen zu eröffnen und offenzuhalten«.1553 Pädagogischer Takt gilt als besondere pädagogische Sensibilität.1554 Für den professionell Handelnden ergibt sich eine Balanceleistung: Im Wissen um die Erfordernis und Komplexität bestimmter pädagogischer Aufgaben behält er die Situation im Blick. Würde man von einem Abwägen sprechen, das zur Entscheidung für ein bestimmtes Handeln – etwa das Eingreifen oder ein Gewähren-lassen – führt, so würde diese Deskription darüber hinwegtäuschen, dass es hierbei nicht um ein der Ratio verpflichtetes Entscheiden und Urteilen geht. Vielmehr eignet dem pädagogischen Takt angesichts der phänomenalen Gegebenheiten, die auf diese entsprechende Situation einwirken, selbst ein unplanbares Moment.
6.1.4.3 Religionspädagogischer Takt: Zurückhaltung Der Grundgedanke des pädagogischen Taktes kann religionspädagogisch aufgenommen werden. Ist nun religionspädagogischer Takt, sind Taktgefühl, Feinfühligkeit und sensitive Responsivität grundlegend anders als die pädagogische Füllung des Ganzen? Es ist im Laufe der Arbeit deutlich geworden, dass Theologie als eine normative Basis und Reflexionsgröße nicht in erster Linie die Haltung bestimmt, diese aber doch vertieft, zu reflektieren, orientieren und justieren hilft. Für Religionslehrkräfte mag sie individuell und habituell auch als Begründung vorliegen und artikuliert werden – in jedem Fall ist sie in diesem wissenschaftlichen Zugriff das die Forscherin leitende und bindende Movens. Unter dieser Perspektive kommen zwei theologische Momente auch in dem pädagogisch gefassten Pädagogischen Takt deutlich heraus, die das Verhalten und die Haltung von Religionslehrkräften in besonderer Weise prägen. Beide haben wiederum Konsequenzen für didaktisches wie erzieherisches Handeln. In der »Umfassung« liegt eine Verwirklichung des dialogischen Prinzips nach 1552 Die Aufgabe des Lehrers im Gruppenunterricht bei Loch: Schulraum und Schülerrolle. 1553 Muth: Pädagogischer Takt, 48ff. 1554 Vgl. Mühlhausen: Abenteuer Unterricht.
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Martin Buber1555 – eine pädagogische Seite der Ich-Du-Beziehung, die in anderen Ansätzen auch als Empathie, Vertrauen, Akzeptanz gefasst wird: Der Erziehende muss die gemeinsame Beziehungssituation bipolar, d. h. aus der eigenen und der anderen Perspektive erleben, um pädagogisch wirken zu können. Diese Art der Realisation des Lehrer-Schüler-Verhältnisses nennt Buber die Umfassung. Der Lehrer umfasst den Schüler, indem er in der Beziehung zu ihm dessen Perspektive übernimmt, sich in dessen Situation hineinversetzt. Dieses Verhältnis hat seine eigene Assymetrie; es ist nicht völlig gegenseitig realisierbar, denn wenn dem Schüler die entsprechende Umfassung gegenüber der Lehrkraft möglich wäre, wäre die erzieherische Beziehung damit aufgehoben. In der guten pädagogischen Beziehung ist damit eine bestimmte Gegenseitigkeit erreicht, die jedoch auch begrenzt ist. Hier schwingt mit, dass Buber die Krise als Aufrüttelung des Gesichertseins des Menschen in diese Umfassung einfließen lässt, die stets berücksichtigt, dass der Andere einen anderen Blick auf die geltenden Bedingungen hat. Was psychologisch mit Empathie, kulturell mit der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel benannt ist, schärft Buber in seinem religiösen Humanismuskonzept mit der Krise als ein ethisches Prinzip. Diese eigene und zugleich fremde Berührung mit Gegenständen spiegelt sich bei der Lehrkraft als didaktisches Feingefühl, das Öffnungen ermöglicht. Aus dem Prinzip der Umfassung ergibt sich der Impetus für eine Füllung mit Situationssicherheit, der dramaturgischen Fähigkeit der Lehrkraft, improvisatorische Gabe – nicht von ungefähr werden freie Formen von hier aus gefördert – der Zubilligung des Versuchscharakters von Unterricht und der Variabilität von Verstehen, Gestaltung und Urteilsfindung. Es findet sich wieder in einer Didaktik des Perspektivenwechsels1556, die hier stärker und in anderer Nuancierung als bisher die interpersonellen und interleiblichen Ebenen berücksichtigt. Im positiven Sinn spielt die Überraschung hinein. In der genaueren Differenzierung ergibt sich kein Unterricht als Erlebnisunterricht, sondern didaktisches Handeln als ein Bewegungsverhalten der Lehrkraft. Sie berücksichtigt Improvisation als das Zugefallene, das SchülerInnen partiziperen lässt, was ein Ansprechen ermöglicht. Gefragt sind daher in didaktischer Weise Lernformen, in denen SchülerInnen als Gegenspieler agieren dürfen. Taktvolles didaktisches Handeln ist der Weg zur steten Komplementierung als Form der Differenzierung. Im pädagogischen Takt geht es für das erzieherische Handeln darum, den Respekt vor dem Anderen und seinem Eigenrecht zu bewahren. Ein »Gefühl für die letzte Unnahbarkeit« lässt den Anderen als Anderen gelten. Darin steckt als 1555 Buber : Ich und Du. 1556 Vgl. Dressler : Unterscheidungen; ders.: »Religiös reden« und »über Religion reden« lernen.
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theologisches Moment die ethische Forderung nach einer Zone des Respekts, wie sie Knud E. Løgstrup in seiner Ethik der Zurückhaltung als Zurückhaltung bezeichnet.1557 Taktgefühl ist damit eine Form der Empathie, eine innere Stimme, die zur Zurückhaltung aufruft und weder Beschämung einerseits noch pastorales Moralisieren erlaubt.1558 Dass damit auch die jeweilige Andersartigkeit geschützt wird, leuchtet ein – religionspädagogischer Takt ist auch in doppelter Subjektorientierung wichtig.1559 Eine professionelle Haltung erfordert die deutlichere Berücksichtigung des Verhältnisses von intersubjektiver Situation und Gespür : »Die Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen macht auch die Erwachsenen, die mit ihnen zu tun haben, in besonderer Weise verletzlich.«1560 Mit Løgstrups Zone des Respekts, in der Unantastbarkeit als Maxime einer Haltung der Zurückhaltung gewahrt wird, und mit der in der Variabilität der Kompetenz des Perspektivenwechsels verfassten Umfassung begreife ich religionspädagogischen Takt als professionsethisches Prinzip, das die Brüche und Grenzen des Pädagogischen wie des Lebens und Glaubens einschließt. Es käme Henning Luthers Vision als Instrument nach: »Religionspädagogik könnte Religionslehrkräften dabei helfen, diesen Bruchlinien der Berufspraxis auf die Spur zu kommen, Erfahrungen des Leidens – bei sich und anderen – nicht spurlos versickern zu lassen, sondern wahrzunehmen und, wie unvollkommen auch immer, zur Sprache und Mitteilung zu bringen.«1561 Insofern lässt sich weiterführen: Die Dimension des Pathischen als ethischen Suchschlüssel in Einzelfällen professioneller religionspädagogischer Arbeit zu nutzen, ermöglicht es, sowohl die jeweilige Situation der beteiligten Subjekte – der SchülerInnen, der Religionslehrkräfte, aber auch der anderen Beteiligten in Schule – ernstzunehmen als auch eine professionelle religionspädagogische Praxis anzustoßen, die für die Wahrnehmung des Anderen sensibilisiert.
6.1.5 Balancen religionspädagogischer Professionalität zwischen Schule, Religion und Lebenspraxis Damit stellt sich schließlich die Frage, wie der Möglichkeiten und die Grenzen methodisch-technischen Handelns besser transparent gemacht werden können. Religionslehrerin bzw. Religionslehrer zu sein, ist ein Beruf, der eine Vorprägung 1557 Vgl. Løgstrup: Die ethische Forderung. 1558 Vgl. Gröning: Pädagogische Beratung, 95f. 1559 Zum Begriff der doppelten Subjektorientierung siehe Schlag: Rückblicke und Ausblicke, 258. 1560 Bizer : Auf dem Weg zu einer praktischen Anthropologie des Kindes, 747. 1561 Luther : Religion und Alltag, 255.
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biografischer wie sozialisatorischer Art mit sich bringt. Die Tätigkeit wahrzunehmen und auszuüben, birgt Entscheidungen im Hinblick auf die Ausbildung – vor allem die Studienwahl – mit sich. Bereits zu diesem Zeitpunkt erfolgen relative Festlegungen, die – je nach Bundesland – die Schulstufe bzw. Schulform betreffen, aber auch die Fächerkombination, damit die Wahl von Ausbildungsorten. Derartige Entscheidungen sind relativ und nicht immer frei gewählt, sie stehen im Kontext anderer Entscheidungen. Sie machen jedoch auch kontextuell deutlich, dass Berufsausübung und berufliche Praxis ein komplexes Gefüge zwischen Systembedingungen und Systemöffnungen, Freiheit, Zwang, Verantwortung und Gestaltung bedeuten. Schaut man genauer auf die Kontexte, in denen die konkrete Berufspraxis von Religionslehrkräften geschieht, so ergibt sich zum einen ein bildungspolitischsystemisches Gefüge, das Rahmenbedingungen des Handelns vorgibt oder zuweilen auch verschließt, zum anderen aber ebenso Handlunsgspielräume ermöglicht, eröffnet und strukturiert. In der vorliegenden Studie wurden nicht die gesamten Rahmenstrukturen untersucht, aber sie fließen in die Frage nach den beruflichen religionspädagogischen Ausprägungen ein, auf die der praktische Umgang mit dem Pathischen stößt, und konturieren die Auswirkungen auf die Bestimmung religionspädagogischer Professionalität. Den Raum des Handelns bildet nicht nur die Schule, sondern auch die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, der Kolleginnen und Kollegen, letztlich aller Beteiligten. Dies wird in einem KrisenFALL wie dem vorliegenden zum Öffnungstor für eine deutliche Erweiterung des Spielraumes, aber auch des erforderlichen Handlungs- und Beratungsraumes. Was in unterrichtlicher Perspektive des Lehrens und Lernens bewusst gewählte außerschulische Lernorte sind, wird im ungeplanten Krisenfall zwangsweise zum Ort für Beratung, unterrichtliches und seelsorgerliches Handeln, somit auch zum unbeabsichtigten, buchstäblich zu-fallenden außerschulischen Lernort. Damit erfolgt eine nachweisliche räumliche Ausdehnung schulisch-religionspädagogischer Professionalität.1562 Diese im Sinne der Profilierung zu konturieren, ist eine wichtige Aufgabe. Es wäre ein Irrtum zu meinen, Religion finde sich zweipolig in der gelebten Religion, die der Biografie und Lebenswelt zuzuordnen ist, alsdann im Unterricht, welcher das Kerngeschäft darstellt. Die Studie hat gezeigt, dass Religion nicht nur eine Dimension in der Schule darstellt, sondern auch dimensional in jeglicher pädagogischer Professionalität in der Schule verankert ist. Dies ist hier über die Aufgeschlossenheit zu Religiosität hinaus in basalen Zusammenhängen deutlich geworden. Das Pathische ist, darauf setzen Anthropologien von Viktor von Weizsäcker bis zu Bernhard Waldenfels, eine Dimension von Erfahrung. Pathische Existenz 1562 Diese wäre etwa im Gemeindekontext ohnehin anders zu verorten.
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kennzeichnet eine menschliche Lebensform. Erfahrung ist Aktivität und Passivität, Aktion und Passion. Erfahrung von Unverfügbarem ist in einer Form von Begegnung zugänglich. Das Pathische ist insofern die gelebte Erfahrung von Andersheit – und zwar am menschlichen, leiblichen, pathischen Subjekt, das schon immer in einem leiblichen Zwischen steht. Dies wird in Begegnung wahrnehmbar. In der Pädagogik findet das Pathische zumeist dort Anhalt, wo etwas als Problem, Mangel oder Krise wahrgenommen wird. Von daher sind schulische und unterrichtliche Krisenphänomene Indikatoren für professionstheoretische und -ethische Fragen von Lehrkräften; diese sind herausgefordert, die Erfahrungen des Pathischen wahrzunehmen, auf sie einzugehen und dabei die Resilienz der schulischen Zusammenhänge zu stärken. Dies können Lehrkräfte aber nur dann, wenn sie selbst resilient und im Umgang mit diesen Fragen und den geforderten Haltungen wie auch dem Management, etwa, als Krisenmanagement oder Notfallplan einer Schule, vertraut sind. Für Religionslehrkräfte zeigt sich im Gefüge der Schule an konkreten Fällen als professionell bedeutsam der horizontweitende Umgang mit Kontingenz, z. B. in religionspädagogischen Kasualien wie schwerer Krankheit, Tod und anderen existenziellen Bedrohungen. Gegenwärtige Ansätze religiöser Bildung konzentrieren sich im Wesentlichen auf Ausgleich, Bekämpfung und Vermeidung, sofern sie diese Dimension berücksichtigen. Passion ist daher ein zentraler Topos von an Leben und Erfahrung orientierter Theologie und theologisch-pädagogischer Anthropologie; an dessen Situierung wird die Grenze der Erfahrbarkeit von Leben evident. Passion meint nicht die Rechtfertigung von Leiden und auch nicht die Umwertung aller Werte dahingehend, das Leiden auszulöschen. Das Pathische ist ein zentrales Element religiöser Bildung im Sinne einer pädagogischen Kultur des Umgangs mit Unverfügbarem. Sie in der Schule zwischen Unterricht, Beratung, Schulseelsorge, Hilfe und Organisation sichtbar zu gestalten, gehört zu personaler wie systemischer religionspädagogischer Professionalität. Die Subjektivitätsorientierung religiöser Bildung ist in eine kaum prominente Richtung präzisiert: Es ist nicht nur Selbstorganisation, deren Mythos im Zuge »starker« Handlungstheorien wachgehalten wird, doch auch zu scheitern droht, sondern verstärkt wird die Aufmerksamkeit auf die Empfänglichkeit und Abhängigkeit auch im Professionalisierungsbereich. Religiöse Bildung ist nicht nur Kompetenz, sondern Gabe. Im metaphorisch räumlichen Sinne der Professionsbezogenheit geht es auch darum zu bestimmen, in welchen Handlungsfeldern sich der berufliche Alltag von Religionslehrkräften unter solchen Vorzeichen vollzieht und und nach welchen Maßstäben dies geschieht. Mit dieser Fallstudie ist ersichtlich, wie eng sich Handlungsfelder überlagern, die in der wissenschaftlich-disziplinären Entwicklung häufig zwischen Religionspädagogik und Praktischer Theologie ausdifferenziert wurden: Praxis im Bereich Bildung ist durch das Feld der Schule
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vorstrukturiert, zugleich sind jedoch in hohem Maße das Handlungsfeld der Seelsorge und letztlich auch das der Diakonie einbezogen. Zwischen ihnen erfordert der Beruf Schwellenerkundungen und Grenzbegehungen. Aber auch innerhalb der schulischen Aufgaben erfordert eine responsive Professionalität für die Religionslehrkräfte, achtsam im Blick zu behalten, in welchen Situationen welche Aufgaben und Haltungen gefordert sind. Es nützt nichts, eine Bewertungs- und Benotungssituation dadurch zu entkräften, dass die gleichen pädagogischen Beziehungen auch in Sachen Kontingenzbewältigung zusammen tätig waren. Die Vision von absoluten personalen Trennungen von Unterricht inclusive Bewertung und Beratung bzw. Seelsorge mag hilfreich sein, faktisch ist sie im schulischen System und Handlungsfeld – auch je nach Landeskirche – nur selten oder in Teilen durchführbar. Hilfreich wird jedoch, das Miteinander in sozialer Hinsicht als Aufgabe der Gestaltung des Verhältnisses als Lern-Partner zu bedenken, Lern-Prozesse und Lern-Organisationen vorzunehmen. Dazu gehört z. B., dass ReligionslehrerInnen beim biografiebezogenen Lernen der Schülerinnen und Schüler zu Anwälten werden, die für das »Subjekt-Werden-Können« eintreten. Konzentriert sich das Interesse darauf, an eigenen Biografien zu wachsen, geht es für sie auch darum, »sich nicht als Spielball übermächtiger Ereignisse [zu] erfahren, sondern Akteure ihres Lebens bleiben« zu können.1563 Damit wird deutlich, dass es keinesfalls um eine Glorifizierung von Passion und Leiden geht, sondern darum, das pathische Bedingungsgefüge nicht außen vor zu lassen. Rollenvielfalt macht deutlich: Inwiefern es sich hier um situativ bedingte Rollenpluralität einer Profession, um grundsätzlichere »Professionsverschiebungen« oder kontextuelle »Professionsüberlagerungen« handelt oder ob gar im Sinne von »Pluriprofessionalität«1564 im praktisch-theologischen Bereich neben die Hauptprofession eine Nebenprofession tritt, bleibt Ermessensspielraum. Rollenbalancen sind wie in jedem Sozialgefüge unabdingbar. Eine Religionslehrkraft braucht den klaren Kopf des Sortierens, den Leib als Instrument des situativen, erspürenden Einschätzens. Herz, Kopf, Hand und Fuß sind metaphorisch leibliche Instrumente des Ausbalancierens. Das innere Ausloten von Kenntnis, impizitem und explizitem Wissen und Felt Sense unterstützt einen Weg des Mitfühlens, ohne selbst im Anderen aufzugehen; Focusing schult solches leibliche Gespür für ein auch atmosphärisches, leibräumliches und insofern
1563 Ziebertz: Biografisches Lernen, 384. 1564 Christopher Scholtz hat diesen Begriff in der Unterscheidung zur »Rollenpluralität« für das Phänomen vorgeschlagen, »dass die Professionen deutlich voneinander getrennt sind und für die Menschen, die dem Professionellen in dem einen Professionsbereich begegnen, dessen Tätigkeit in dem anderen Professionsbereich keine Rolle spielt« (Praktischtheologische Sozietät Frankfurt, 23. 4. 2011).
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auch geschichtliches Wahrnehmen, das den anderen nicht vereinnahmt, ohne den klaren Sachverstand aufzugeben.1565 Der Verletzlichkeit ansichtig zu werden, bedeutet, dass zwar professionelle Rollen abgestreift werden können; das Antlitz des verletzlichen Anderen lässt sich jedoch nicht wie eine Brille abnehmen. Die Suche nach Modellen, an denen man sich orientiert, ist hilfreich. Die Religionslehrkraft meines Einzelfalls eröffnet diesbezüglich Interpretationsräume und Kontextualisierungmöglichkeiten, die im Laufe der Studie deutlich wurden.1566 Das Spektrum von Erfahrungen des Pathischen im schulischen Leben reicht bis an den Tod heran, zeigt aber diesseits davon eine reichhaltige Morphologie des Pathischen, auch wenn dieser die Grenze sichtbarer denn je markiert. Sie zeigt aber eben auch, dass die Einbindung in das System Schule es einer Religionslehrkraft nicht auf Dauer ermöglicht, ausschließlich Begleiterin zu sein. Religionspädagogische Professionalität muss nicht, aber kann scheitern; sie erweist sich am Leiden des Gegenübers, an dem die Grenzen von Leben, Glauben und Handeln aufscheinen. Das betrifft unterrichtliche, gottesdienstliche, seelsorgerliche und andere kulturelle Aufgaben und Haltungen nicht nur in Kirche und Lebenswelt, sondern auch in der Schule, wo Krankheit eine religionspädagogische Kasualie ist und angesichts der Unverfügbarkeit zuweilen das passive »Aushalten von Un-Heil«1567 im Sinne des Respekts vor der Fragmentarität erfordert.1568 Die Frage, ob eine Religionslehrkraft dahingehend Vorbild im
1565 Vgl. Leonhard: Leiblich lernen und lehren. 1566 Vor einigen Jahren habe ich einen literarischen Modellfall als Parallele behandelt, vgl. Kap. 5.2.3. In »Oskar und die Dame in Rosa« spiegelte sich für mich ein Modell: Die Professionalität der Begleiterin Oma Rosa ist rollen- sowie situationsgebunden und doch an der pädagogischen Beziehung und Erfahrung des Anderen orientiert. Die in ihrer Figur verkörperte Profession hat personale Dimensionen, die weder allein mit theologischem Wissen, Leiblichkeit, politischem Ehrgeiz oder psychologischem Geschick erfassbar wird. Gerade und erst an den Bruchlinien bemessen sich die Stabilität oder Fragilität der Nahtstelle von Wissen und Beziehung. Und gegenüber der Faktizität des nahe an die Empirie angelehneten FALLes wird in dem literarischen Modellfall ein Überschuss deutlich: »Bei Oma Rosa ist nicht mehr verwunderlich, dass im Nachhinein eher Oskar über sie und die Menschen um ihn herum gewacht hat als umgekehrt. Er hat ihr sogar dort vertraut und geglaubt, wo sie sich selbst nichts mehr zutrauen konnte, und sie damit nachhaltig in eine dankbare Liebende verwandelt« (Leonhard: Krankheit und religionspädagogische Fragmentarität). 1567 Heimbrock: Re-Konstruktion von Wirklichkeit, 274. 1568 »Ein Widerfahrnis, von dem wir getroffen oder affiziert werden, rührt stets an das Unmögliche, sofern es den Spielraum unserer eigenen Möglichkeiten durchbricht, sofern es über unsere Erwartungen und Befürchtungen hinausgeht und unsere Entwürfe und Vorkehrungen hinter sich lässt. Die überschüssige Unmöglichkeit, die sich hier inmitten der Erfahrung abzeichnet, nenne ich gelebte Unmöglichkeit. Sie steht im Gegensatz zur logischen, ontologischen, praktischen oder technischen Unmöglichkeit, die an den gegebenen Bedingungen scheitert« (Waldenfels: An Stelle von … , 38f).
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Glauben sei, beantwortet sich in dieser Frage und aus der Responsivität des gelebten Berufs in ihrer Haltung.
6.2
Exemplarische aktuelle Herausforderungen
Nach der grundsätzlichen Bearbeitung der Frage nach dem Stellenwert des Pathischen für religionspädagogische Professionalität sollen gegenwärtig herausfordernde Problemlagen in aller Kürze vorgestellt werden, um die Konsequenzen der elementaren Grundlegung für Konkretionen zu skizzieren und die Relevanz der Bestimmung religionssensibler, responsiver Professionalität für zentrale pädagogische Gegenwartsdiskurse noch einmal rückzubinden. Diese Ausblicke in drei Bereiche bleiben skizzenhaft, sie geben aber Richtungen an, die in Forschung und Praxis maßgeblich sind.
6.2.1 Inklusion Für Bildungsdiskurs wie Schulpolitik spielt der Begriff der »Inklusion« seit Jahren eine fokussierende Rolle. Der Inklusionsdiskurs wird derzeit bestimmt von grundsätzlichen kritischen Überlegungen zum Verhältnis von Inklusion und Integration. Zugleich ist die konkrete Zielsetzung in der Praxis prägend, die UN-Behindertenrechtskonvention – das »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen«, das 2008 in Kraft getreten ist – schulisch zu verwirklichen. Es scheint, dass sowohl der Diskurs als auch die Praxiskonzepte sich daran abarbeiten, einerseits Gleichheits- bzw. Gleichwertigkeitsmaßgaben als Vielfalt, die in einer pädagogischen Einheit aufgehoben gehört, zu verwirklichen und daher große Vorsicht in der Bewertung von Unterschiedlichkeit zu wahren.1569 Auf der anderen Seite ist pädagogisch nicht zu verleugnen, dass es gerade Sonder- und Förderpädagogik sind, denen Inklusion um der – eben insbesondere auch behinderten – Benachteiligten wegen zum systemischen wie beruflichen Anliegen wird. Aus diesem Interesse und Blickwinkel ergibt sich die Plausibilität für eine Pädagogik und Ethik, die Unterschiede nicht verwischt, die Benachteiligungen als solche wahrnimmt. In diese Debatte kann die Erschließung des pädagogischen Feldes mit Gewinn eingebracht werden. Die Frage nach dem Pathischen liegt solchen Konzepten 1569 Wenn Andreas Hinz anmahnt, dass der Diskurs häufig sonderpädagogisch verlaufe und eben nicht inklusiv, klingt der Vorwurf der Verengung, Marginalisierung, Exklusivierung mit (Hinz: Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? – Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland).
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zum pädagogischen Umgang mit behinderten Menschen sehr nahe, die vom sonderpädagogischen Kompetenzansatz ausgehen, auch wenn die präzisere Diskussion Krankheit und Behinderung unterscheiden vermag. Es bleibt jedoch dabei, dass beiden ein diffuses Paradigma zugrundeliegt, das im Kontext der Schulpädagogik lange Zeit als Normalität verhandelt wurde und Regelschulen von besonderen Schulformen unterschieden hat. Inklusion sucht die Vielfalt genau dieser Phänomene einzuschließen und einer Gewichtung entgegenzutreten. Der Blick auf das Pathische als einer Seite des anderen, oftmals eher verleugneten Lebens verhilft den Anliegen einer – vermutlich eher förderpädagogisch motivierten Sicht – zu präziserer anthropologischer Fundierung: Die leiblich begründete Anthropologie als ein pädagogischer Kern schärft das Bewusstsein dafür, dass nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch das pädagogische Personal selbst verwundbar sind und in welchen Dimensionen sowie unter welchen Bedingungen sensitives Antworten pädagogisch notwendig und möglich ist. Das Weizsäckersche Konzept der gelebten Gegenseitigkeit macht die interaktionale Ebene zwischen pädagogischen Profis und Kindern bzw. Jugendlichen als besonderes Verhältnis deutlich; dies ist aber ebenso ein pädagogisches Ethos. Zugleich wird auch deutlich, dass bei einer Wertschätzung von Heterogenität als Vielfalt und Diversität die eben empirisch vorhandene Pathoserfahrung nicht verleugnet werden darf. Das responsive Ethos des Respekts bekommt mit der auf uneinholbare Ansprüche eingehenden Resonsivität eine anthropologische Fundierung der Achtung.1570 Schwellen zwischen dem Umgang mit Fremdheit und der Anerkennung der Vielfalt des Lebens werden damit genauer zu bestimmen sein. Wenn theologisch Diakonie als eine Partnerin der Theologie sichtbar ist, ist der Selbstverständlichkeitsgrad der Aufmerksamkeit auf die Dimension des Pathischen gestiegen – nach moralisierenden Tendenzen der Theologie früherer Jahrhunderte nun aus einem anderen Blickwinkel. Ulrich Bach führt eine europäische Gestalt der Befreiungstheologie an, um theologisch zu verdeutlichen, dass ein Perspektivenwechsel nötig ist.1571 Entsprechend fallen auch theologisch begründete Plädoyers für eine beziehungsstarke inklusive Religionspädagogik aus – ebenso auf Achtung begründete Seelsorge.1572 Es bleibt die Vision und Utopie einer Kirche, die sowohl für alle als auch für andere ist, denn der »Riss zwischen Barmherzigkeit und Fürsorge einerseits sowie Gerechtigkeit und
1570 Vgl. Waldenfels: Achtung. 1571 Vgl. Bach: Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. 133–206. Vgl. auch in der Fortführung Krauß: Barrierefreie Theologie. 1572 Vgl. Joss-Dubach: Gegen die Behinderung des Andersseins.
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Teilhabe andererseits ist nicht geheilt«.1573 Entsprechend ist auch die Zielsetzung der Teilhabekirche unabdingbar. Religionspädagogisch mangelt es m. E. eigentlich nicht daran, dass das Menschenbild einen Irr-Blick veranlassen würde – im Grunde werden Leiden und Fragmentarität nicht geleugnet, sondern die Verletzlichkeit wird als Fragementarität und Fragilität anerkannt.1574 Die Arbeit leistet eine fundierte Bekräftigung des Grundes für den Umgang mit Behinderung. Schwieriger scheint mir die gelebte professionelle Perspektive zu sein. In einem stark normativ geprägten Diskurs, der von Visionen lebt und zugleich mit den angedeuteten Fremdheitserfahrungen umgehen muss, gehört auch zur konzeptionellen Umsetzung die Frage, worauf sich PädagogInnen und ReligionspädagogInnen in der Zusammenarbeit stützen. Auf dem Weg zur inklusiven Schule, in der Lernen und Leben von Menschen mit und ohne Behinderung geteilt wird, fällt das Potenzial für das Miteinander (durch Zuteilungen von Stunden etc.) sehr heterogen aus. Damit werden für entstehende multiprofessionelle Teams Rollenklärungen umso dringlicher – im Interesse, Aufgaben förderungsorientiert zu bewältigen und das Miteinander etwa von Regel- und Förderschullehrkräften oder pädagogischen MitarbeiterInnen nicht zur inhaltlichen Zerreißprobe werden zu lassen. An diesen Stellen sind noch mehr als in kasuellen Einzelfällen wie in dem FALL dieser Studie strukturelle Klärungen für die Kommunikations- und Synergiewege in und außerhalb der Schule nötig. Die Studie »Religion in inklusiven Schulen«, die sich mit den Einstellungen und Überzeugungen der Lehrkräfte als entscheidende Einflüsse auf Handlungkompetenz und Unterrichtsgestaltung befasst1575, setzt auf das Konzept sozialer Deutungsmuster, um die Handlungsprobleme von Religionslehrkräften genauer zu erfassen. Es hat sich in dem Zwischenergebnis gezeigt, dass inklusiv arbeitende Religionslehrkräfte stark wert- und personorientiert arbeiten; dies deutet auf eine besondere Werthaltung und ein Gespür für die deutlicher vorhandene Sensibilität für das Pathische im Förderbereich hin.1576 Dafür benötigen die Lehrkräfte die Förderung theologischer Kompetenzen in didaktischen und hermeneutischen Perspektiven, um die wechselseitige Erschließung im Lernprozess voranzutreiben. Für schulentwicklerische Prozesse liegt es nahe, dass Religionslehrkräfte dort einmal mehr Rollen der AnwältInnen für Förderungen in der Schule einnehmen, diese Seite des christlichen Menschenverständnisses für die Schulentwicklung immer wieder zu erinnern und die Wertbindung wachzuhalten – Repräsen1573 1574 1575 1576
Kirchenamt der EKD: Es ist normal, verschieden zu sein. Pirner : Inklusion und christliches Menschenbild. Pirner spricht von der Fragilität. Vgl. Möller / Bücker / Pithan: Inklusion und religiöse Bildung. Vgl. a. a. O., 196f.
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tantInnen dieser nötigen Werthaltung zu sein.1577 Ähnliches ist für die Rolle von Förderschullehrkräften zu vermuten, die nun weniger segregativ und zunehmend inklusiv in Regelschulen arbeiten. Als AnwältInnen des Pathischen können sie gerade in stärker leistungsorientierten Schulformen wie dem Gymnasium das nötige Gegengewicht setzen. Die Arbeitsbedingungen, Rollenklärungen und Kooperationsweisen benötigen jedoch noch genauere Klärung. Und letztlich ist mit dem Blick auf das Pathische auch die Frage nicht aufgehoben, an welchen Stellen sicherlich nicht Exklusionsprozese, aber doch Differenzierungsprozesse stärker durchdacht werden müssen, um den unterschiedlichen Phänomenen pathischen Lebens gerecht werden zu können. Sie macht sich fest an der Diskussion um die Bewahrung spezifischer Schulen und schulischer Einrichtungen für spezifische Förderbereiche. Die Frage nach Bildungsgerechtigkeit – auch im Sinne einer religionspädagogisch motivierten Befähigungsgerechtigkeit – wird an dieser Stelle in der Spannung zwischen Subjektivität und System wachzuhalten sein.
6.2.2 Lehrergesundheit Diese Studie nimmt in der Exploration aus dem FALL Krankheit als eine Notlage an der Schule ernst, die professionelles Lehrerhandeln dazu bringen will, den anderen als verletzlichen Anderen wahrzunehmen. Die Zerbrechlichkeit des Lebens im professionellen Kontext zu respektieren – z. B. in Erfahrungen mit Krankheiten – bedeutet, der konkret wahrnehmbaren, aber auch teilweise unaussprechlichen und verborgenen Dimension, wie z. B. des Schmerzes, gewahr zu werden. Gleichzeitig ist es wichtig, die Kontrollinstanzen bewusst zu machen, welche die Wahrnehmung dieser Erfahrungen verdrängen, eine genauere Aufmerksamkeit und alternative Praktiken umgehen. Eine respektvolle Wahrnehmung von Verletzlichkeit an einer Schule benötigt einen Blick im Sinne des Heterotopie-Ansatzes auf Räume, in denen Lehrkräfte antworten können. Eine Lehrerin und einen Schüler als verletzlichen, aber auch wahrnehmbaren Menschen zu respektieren, bedeutet, in einem Rahmen von Möglichkeiten und Grenzen der Professionalität vor dem Horizont genereller existentieller Herausforderung zu antworten. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auch zu Fragen wie: Was fördert die Belastbarkeit und Widerstandskraft kranker oder verletzter Menschen im Umfeld von Schule? Wie können Lehrkräfte und pädagogisches Personal in einer ansprechend responsiven Haltung unterstützt oder ausgebildet werden? Nach dem in den Bundesländern geltenden Beamtenrecht ist auch für Lehr1577 Vgl. a. a. O., 193.
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kräfte in der öffentlichen Schule traditionell eine Gesundheitsnorm rechtlich verankert. Diese Norm wird von den Landessozialgerichten erst in jüngster Zeit in Richtung auf veränderte Auslegung von Berufsunfähigkeit verschoben.1578 Hinzu kommen weitere Veränderungen. Seit den veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen im ausgehenden 20. Jahrhundert und mit der gleichzeitigen Sozialpädagogisierung der Schule verändert sich auch der Lehrberuf und mit ihm die entsprechenden Rollen, Aufgaben und Wahrnehmungen. Medizinisch wird ermessen, dass die neuen Funktionen des »Kultur-, Gesellschafts- und Sozialberuf mit bürokratischen Tätigkeiten« den Anschein stärker belasteter Lehrergesundheit erwecken.1579 Während jedoch insgesamt die medizinischen Daten je nach Kontext und Region differieren und in den Ermessungen z. B. auch das kardiovaskuläre Risiko bei Lehrkräften vergleichsweise gering ausfällt, wird deutlich, dass subjektiv hohe Belastungen wahrgenommen werden.1580 Vergleichsweise hohe Arbeitsunfähigkeit wird im Zusammenhang mit psychosozialen Belastungen gemessen. Dabei reichen die widersprüchlichen Befunde nicht aus, Burn-out als typische »Lehrerkrankheit« zu bezeichnen: Dennoch kommt dem Burn-out-Syndrom bei Lehrkräften, insbesondere der Erschöpfungskomponente, eine zentrale Bedeutung unter den Gesundheitseinschränkungen zu. Hier wird eine umfassende betriebsärztliche Betreuung durch einen Sozialpsychologen und ein Kompetenznetzwerk gefordert. Uwe Schaarschmidt hatte bereits Mitte der 2000er Jahre aus seiner Potsdamer Studie zur Lehrerbelastung Indikatoren für wirksame Gesundheit herausgearbeitet. Im Grunde kam bereits diese Studien zu ähnlichen Faktoren.1581 Schaarschmidt hat Unterstützungsangebote im Bereich der Programme für Gruppentraining und individuelle Beratung bei Lehrern, Referendaren und Lehramtsstudierenden, Verfahren zur Arbeitsbewertung und -gestaltung an der konkreten Schule (ABC-L) sowie ein Self-Assessment-Verfahren für die Gewinnung geeigneten Lehrernachwuchses entwickelt.1582 Er erhebt daraus Res1578 Vgl. SPIEGEL Online: Erfolgreich geklagt. Behinderter Lehrer kann Beamter werden (19. 9. 2013). 1579 Scheuch / Haufe / Seibt: Lehrergesundheit, 347. 1580 A. a. O.: In der »Branche« Unterricht und Erziehung liegt bei 22 % der Beschäftigten eine körperliche und emotionale Erschöpfung vor, was im Branchenvergleich dem zweithöchsten Wert entspricht. 1581 Dazu zählen »Druck durch unerledigte Aufgaben und immer neue Forderungen und Veränderungen; Erfordernis ständiger psychischer Präsenz (sich permanent auf verschiedenste Personen und Situationen einstellen müssen); eingeschränkte Erholungsmöglichkeiten in der Unterrichtszeit; Verarbeitung negativer Emotionen (z. T. aus lang anhaltenden konfliktreichen Beziehungen); Mangel an Anerkennung und Wertschätzung; Erleben unzureichender sozialer Unterstützung« (vgl. Schaarschmidt: Lehrergesundheit erhalten und stärken). 1582 Vgl. ebd.
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sourcenfaktoren, die analytisch der Feststellung der Eignungsfähigkeit dienen. Systemische Forderungen zeigen, dass persönliche, organisationale und systemische Bedingungen stimmig sein müssen. Zugleich sind die bildungspolitischen Systembedingungen zu überdenken. Diese sind in der Regel nachvollziehbar, konkurrieren aber zum Teil mit ökonomischen Belangen und konterkarieren bisweilen auch kulturelle Umgangsweisen.1583 Bernhard Sieland setzt letztlich in ähnlicher Weise auf selbstgesteuerte und teamgesteuerte Verhaltensänderungsmuster, die entsprechenden Eignungsdiagnostiken und Potenzialanalysen sowie – anhand der Diagnosen – auf Entwicklungsberatung und Änderungsresistenz von Personen und Organisationen.1584 In all den Untersuchungen und Beratungen finden sich Muster von systemischen Bedingungen und Diagnosen, jedoch wird zunehmend auch der Gegenpol des Pathischen, des Leidensdrucks und der Belastungen erforderlich, da auch das Ändern der Systembedingungen stets Grenzen hat. »Gesunde« Lehrkräfte müssen nicht krankmachende Elemente persönlicher und beruflicher Praxis verdrängen. Die (religions-)pädagogische Exploration des Pathischen macht darauf aufmerksam: Vom phänomenologischen Ansatz her hat man es mit vorfindlichen Teilen anderen Lebens in der Schule zu tun, wahrnehmbar als Aspekte fragmentarischen Lebens oder sogar als Zerbrechlichkeit der Existenz. Die tägliche Situation an der Schule innerhalb einzelner Begrenzungen bringt Lehrkräfte dazu, Situationen der Fürsorge wahrzunehmen und deren Beanspruchung innerhalb eines institutionellen Rahmens zu reflektieren. Von daher ist es religionskulturell plausibel, wo sich in diesem Bereich Elemente von Unterbrechung, Kontemplation und Resilienz auftun, welche die andere, eher passive Seite des Lebens betonen. Rund um den Freiburger Neurologen und Psychiater Joachim Bauer ist im Jahr 2013 ein Sonderforschungsbereich etabliert worden, der sich mit den Phänomen Muße in unterschiedlichen Wissenschaftsdomänen befasst, starke phänomenologische Anklänge in Raum und Zeit berücksichtigt, ebenso kulturelle Ausprägungen in Philosophie, Literatur und Geistesgeschichte, aber eben auch gesellschaftliche Ausprägungen. Dass eine Studie darauf setzt, Muße im schulischen Kontext: Förderung von Muße, Kreativität und seelischer Gesundheit durch eine achtsamkeitsbasierte Intervention zu erkunden, dabei »[u]nbestimmte Freiräume, die achtsames Innehalten und mentale Fokussierung im Sinne der Muße ermöglichen«, aufzuspüren und damit verbunden den Lebensstil kritisch zu reflektieren, liest sich
1583 Vgl. Schaarschmidt / Kieschke: Gerüstet für den Schulalltag. 1584 Eckert / Ebert / Sieland u. a.: Wie gehen Lehrkräfte mit Belastungen um?.
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vielversprechend.1585 Vor allem geht es hier um die Auswertung eines gemeinsamen, zum Leiden kontrafaktisch angelegten Erfahrungsraumes von Lehrenden und SchülerInnen. Religionspädagogisch läge das Interesse an der Erkundung, welche Rolle Religion als Dimension, aber auch als explizite Bzugsgröße, welche Rolle spirituelle Elemente haben und welche kirchlichen Angebote nicht nur zur Bildung, sondern auch zur Gesundheit und Gesundung beitragen und von daher im umfassenden Sinne lebensdienlich sind.
6.2.3 Ganztagsschule Das deutsche System Schule erhält in fast allen Bundesländern seit Beginn dieses Jahrtausends eine weitere grundlegende Veränderung: Angesichts vieler unterschiedlicher familiärer und beruflicher Gegebenheiten der Familien, angesichts der europäischen Kontexte, in denen pädagogisch andere Erfahrungen sichtbar sind, entwickelt sich der Trend zur Ganztagsschule.1586 Schulorganisatorisch wie systemisch erweisen die Studien zur Ganztagsschule1587, dass die Trennung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten für die meisten Lehrkräfte nach wie vor konstitutiv ist für den Erhalt und Sinn der Ganztagsschule. Die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) hat bereits in der ersten Phase herausgearbeitet, dass die kontinuierliche und langfristige Teilnahme am Ganztag förderlich ist. Wesentlich dafür ist die Gestaltung der außerunterrichtlichen Angebote.1588 Dass die individuelle Förderung gleichfalls vertieft werden muss, versteht sich aus diesen raumzeitlichen Bedingungen. Fällt der Blick genauer auf die Lebenszeit von Jugendlichen, wird unschwer deutlich, dass die zeitlichen Teile des jugendlichen Lebens, die nicht auf organisiertes Lernen und gar auf Leistung fallen, mehr denn je nicht in eine andere Zeit, aber an einen veränderten Ort und Kontext fallen. Damit verbunden ist, dass SchülerInnen und Lehrkräfte, pädagogisch Mitarbeitende in ihr mehr Le1585 Vgl. SFB 1015 der Universität Freiburg: Muße, Grenzen, Raumzeitlichkeit, Praktiken www.sfb1015.uni-freiburg.de (abgerufen am 30. 03. 2018). 1586 Zur Geschichte der Bewegung siehe Mattes: Das Projekt Ganztagsschule. Einen Überblick über den konzeptionellen Diskurs bietet Rahm / Rabenstein / Nerowski: Basiswissen Ganztagsschule. 1587 StEG: https://www.projekt-steg.de (abgerufen am 30. 5. 2017). 1588 The assumption that participation in these activities leads to a favorable development of children and adolescents can be based on ecological systems theory (Bronfenbrenner / Morris: The bioecological model of human development), in which extracurricular activities are considered a microsystem in children’s life embedded in the mesosystems of schools and families (Fischer, / Radisch / Schüpbach: International perspectives on extracurricular activities).
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benszeit verbringen und der Ort mehr denn je nicht nur Lern- sondern auch Lebensort sein muss. Mit der Verlagerung der Lebenszeit an den Ort der Schule finden auch elementare existenzielle Belange der SchülerInnen Eingang in die Schule; Eltern und Familien geben gemeinsame Zeit mit dem Kind an die Schule ab, familiäre Zeit und Freizeit sind verdichtete Zeiträume. Das bedeutet auch, dass Freizeit, Erziehungsgestaltung stärker denn je in der Hand der Schule und damit des pädagogischen Personals liegen und damit auch Versorgungs- und Problemzusammenhänge aufgefangen werden müssen, die in der Halbtagsschule bewusst oder ungewollt außen vor liegen. Damit hängt zusammen, dass sowohl die Erziehungspartnerschaft von Schule und Elternhaus intensiver gestaltet werden muss – aber auch die berufliche Arbeit in der Schule, die auf mehrprofessionelle Perspektiven und daher multiprofessionelle Teams angewiesen ist. Mit der fortschreitenden Etablierung von Ganztagsschulen treten in der pädagogischen Praxis Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen stärker ins Blickfeld. Die individuelle Förderung dieser Kinder und die Anerkennung des Anderen im Rahmen multiprofessioneller Teams sind zwei Seiten einer Medaille, wie die Studie zu Chancen und Problematiken besonderer erzieherischer Förderung in Ganztagsschulen verdeutlicht.1589 Sind ohnehin unterschiedliche Kooperationsformen in der Schule gefragt, so gilt dies insbesondere für Kinder in schwierigen Lebenssituationen. Dabei erweisen sich unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse als eine Schwierigkeit in der Professionfrage, sondern auch für die individuelle Förderung. Zudem solle die Lehrerausbildung das kooperative Lernen stärken und das weitere pädagogische Personal in multiprofessionellen Teams schulen. Lehrkräfte sind, wenn sie nicht ohnehin an einer Schulform (vor allem IGS) oder in einer Schule bzw. einem Land tätig waren, in welcher der Ganztag lange zur Organisation der Schule hinzugehört, selbst sind mit einer Situation größerer Unsicherheit konfrontiert – geht diese Öffnung einher mit einer breiteren kulturellen wie religiösen Heterogenität. Da trotz aller Sicherungsversuche von Schulqualität eine derartige Verunsicherung ertragen und bearbeiten werden muss, ergibt sich unabdingbar, dass die Förderung religionssensibler Kompetenzen im Horizont der Resilienz eine klarere Aufgabe für Schule ist. Als solche Kompetenz schärft sie die Aufmerksamkeit auf Unterbrechungen als auch auf systemische Schieflagen im System Schule. Dass Religion im außerschulischen Bereich als eine Dimension in Erfahrung treten kann, gehört zu einer religionssensiblen Entwicklung. Es kommt in der Praxiserfahrung dabei darauf an, wie gut die Partnerschaft von Schule und 1589 Vgl. z. B. Böttcher / Maykus / Altermann / Liesegang: Individuelle Förderung in der Ganztagsschule; dies.: Multiprofessionelle Kooperation an Ganztagsschulen.
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Kirche entwickelt wird – zu diesen konkreten Partnerschaften ist jedoch eine sorgfältige Schulbegleitforschung erforderlich.1590
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Responsivität in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften
ReligionslehrerInnenbildung in den Blick zu nehmen, setzt voraus, nicht nur top-down ein Modell der Kompetenzförderung zu betreiben, sondern dieses auch für die Entwicklung rückzubinden: Die Mühen und Strukturen bilden genau genommen die notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Kernberuf der Religionspädagogik Wirkkraft und die nötige Stärkung erhält. Responsivität ist, was die Motivation für das Lehramtsstudium angeht, auch eine Fähigkeit und Bereitschaft, die mitgebracht werden muss, damit sie entfaltet werden kann. Zugleich ist deutlich geworden, dass die Förderung religionssensibler Kompetenzen zur Ausprägung eines responsiven Habitus ein Strukturelement der LehrerInnenbildung sein muss. Im Folgenden geht es abschließend um dessen argumentative Einbettung und konsekutive Gestaltung.
6.3.1 Plausibilitätskontext Empirische Professionsforschung ist in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland erheblich intensiviert worden. Dabei spielte und spielt auch die Analyse von Studienwahl- und Berufsmotivation eine wichtige Rolle.1591 Auch hier ergeben sich aus meiner Studie Impulse zur Erweiterung der relevanten Fragestellungen. Für neue und zukünftige Generationen von Religionslehrkräften stellt sich der Sinnzusammenhang und entsprechend die Motivation nicht unbedingt für den Lehrberuf generell, aber doch für das Fach Religion. Zusammen mit Plausibilitätsnöten des Faches in der Schule ergibt sich das professionelle Paradoxon: Religionslehrkräfte stehen für ein zu schwinden drohendes Fach ein. Zugleich erscheint ihnen angesichts veränderter religiöser Sozialisationen und sich wandelnder individueller Religionsaffinitäten das ReligionslehrerInnendasein in der Zukunftsperspektive so etwas wie eine doppelte 1590 Das pädagogische, ethnografische Forschungsprojekt Schulkultur der Göttinger Universität; siehe auch einen Ansatz dazu in der wissenschaftlichen Auswertung des Projektes zu Religion wahrnehmen und begleiten an Ober- und Gesamtschulen Niedersachsens durch Birte Löw. 1591 Vgl. Neugebauer : Wer entscheidet sich für ein Lehramtsstudium – und warum?; Noormann: Religionslehrer/in werden: Identitätsbaustelle Studium.
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Beweislast. Zur Professionalisierung gehört die Balancierung von paradoxen Gegebenheiten dazu. Für die ReligionslehrerInnenbildung gilt die Erfahrung, die auch Kirche als Institution zunehmend im Blick auf ihre eigene Begründungsnotwendigkeit und folglich auch Zugänglichkeit macht: Kontingenzbewältigung ist eine pädagogische Alltagsaufgabe und zugleich im Horizont von Religion nur eine, aber doch eine sehr zentrale funktionale Öffnung für Religion. Zugänge zu Kirche werden über wesentliche funktionale lebensdienliche Bestimmungen gefunden: Demzufolge ergibt sich, dass bei steigenden Austrittszahlen und wachsender Skepsis gegenüber Kirche als Organisation die Felder Bildung und Diakonie notwendig und sinnvoll fungieren. Entsprechend ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen aus der Fallstudie für den Bereich der LehrerInnenbildung. Am Ende meiner Studie ist angesichts der Verzahnung von strukturellen Bewältigungen und der Verdeutlichung von pathischen Unverfügbarkeitsszenarien genauer danach zu fragen, wie sich die Erschließung dieser Akzentuierung von Professionalität auf ReligionslehrerInnenbildung auswirkt – zumal ob meiner eigenen faktischen Rollenverzahnung als Forscherin, nach wie vor universitärer Dozentin und Leiterin eines Religionspädagogischen Fort- und Weiterbildungsinstituts. Berücksichtigt man die genannten Herausforderungen, vor und an denen die Dimension des Pathischen und responsiv-ethische Bildung als Elemente auszubilden sind, an denen sich religionspädagogiche Professionalität zeigt, so wird die gegenwärtige LehrerInnenbildung ohnehin deutlicher auf heterogene Belange eingehen müssen. Entscheidungen darüber, gesondert Inklusive PädagogInnen auszubilden, tritt dem Grundlanliegen der Inklusion genauso entgegen wie die Integration der Inklusion in ein bestehendes Schulsystem. Und dennoch gilt es, in der Aus- und Fortbildung den Mut zu wecken, die Freiräume religionspädagogischer Bildung in der Schule auszuschöpfen bzw. zu schaffen und mit religionssensibler und responsiver Kompetenz nicht nur erzieherisch, sondern auch organisationspädagogisch Schule überhaupt für Religion zu öffnen – immer unter dem Vorzeichen, dass der rechtliche Rahmen für Religion in der Schule gewahrt bleibt.
6.3.2 Zur Entwicklung religionspädagogischer Professionalität Im EKD-Modell der Aus- und Fortbildung von Religionslehrkräften zur »Theologisch-religionspädagogischen Kompetenz«1592 gilt ebenso wie in den 1592 Kirchenamt der EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz. Wie bereits zu Beginn der Arbeit deutlich wurde (vgl. Kap. 1.5.3), ist es nicht nur meiner jetzigen
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forschenden und anderen normativen Modellen der Religionsunterricht als Kerngeschäft der beruflichen Identität von Religionslehrkräften. Das Modell konzentriert sich auf den kognitiv zugespitzten Kompetenzbegriff – ausgehend vom Zentrum der Reflexionsfähigkeit. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die auf den Religionsunterricht bezogene Kompetenz auch in Zeiten dringenderer Erfordernisse der Relevanz von Religion und Theologie mehr denn je wichtig ist und dass auch Religionslehrkräfte, die selbst Generationen der Traditionsbrüche entstammen, unabdingbar grundlegende didaktische Kompetenzaufbauten benötigen.1593 Im Sinne der Erweiterung und Vertiefung empirischer Einsichten in das gegenwärtige Berufsfeld der Religionslehrkraft ist entweder die Einklammerung der EKD-Schrift vonnöten mit dem Hinweis, dass der Religionsunterricht zwar zentral, jedoch nicht das einzige Non plus ultra und das konzeptionelle Blickfeld mehr denn je erweitert ist. Noch sinnvoller ist jedoch – und dies musste nicht zuletzt im Zuge der jüngeren Orientierungshilfe bzw. Denkschrift der EKD zum Religionsunterricht1594 geschehen – einen erweiterten Blick auf das Handlungsfeld der beruflichen Kräfte vor Ort an den Schulen geschehen, um ihrer beruflichen Praxis gerecht zu werden. Glücklicherweise ist kurz vor Abschluss dieser Studie die vertiefende Folgeschrift der EKD-Fachkommission mit Empfehlungen für die Weiterentwicklung der Lehramtsstudiengänge erschienen. Sie greifen im Selbstverständnis von »offenen Leitlinien« endlich Nachbesserungen unter Kriterien wie Berufsfeldorientierung und Subjektorientierung und leisten damit einen großen Schritt in die wichtige Richtung, das berufliche Handeln von Religionslehrkräften in umfassenderer Weise zu qualifizieren und auch die Ausrichtung religionspädagogischer Professionalität am Subjekt zu stärken.1595 In den neun Kriterien schlagen sich auch Empfehlungen für den konsekutiven Kompetenzbaufbau in allen drei Phasen der ReligionslehrernInnenbildung nieder. Aus der Exploration der Fallstudie am FALL ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Konzeptionierung der ReligionslehrerInnenausbildung in
kirchlichen Stelle geschuldet, dass ich bei der Frage der Konsequenzen von dem EKDModell der Theologisch-religionspädagogischen Aus- und Fortbildung ausgehe; zum einen war ich selbst in der Schlussphase der Verabschiedung des Manuskripts beteiligt, zum anderen bleibt das Modell als landes- und landeskirchenübergreifendes Ausbildungsmodell in der Doppelstruktur von Entwicklung und Struktur analytisch prägend. Im Übrigen fasst es unterschiedliche Kompetenzmodelle der letzten 10 Jahre gut zusammen. 1593 Vgl. dazu die einleuchtende didaktische Erhellung Rudolf Englerts – ein ausführliches und gestaltetes Plädoyer für eine Lehrstückdidaktik: Englert: Religion gibt zu denken. 1594 Vgl. Kirchenamt der EKD: Religiöse Orientierung gewinnen. 1595 Kirchenamt der EKD: Zur Weiterentwicklung der Lehramtsstudiengänge Evangelische Religionslehre.
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den unterschiedlichen Phasen. In diese zeichne ich die Neuerscheinung der EKD-Empfehlungen mit ein. Zum einen ist ersichtlich geworden, dass das Handlungsmodell nicht ausschließlich auf einem Ausschnitt von Habitusbildung liegen kann, dem eine breite Auffächerung von Kompetenzen folgt. Zum anderen ist die Kompetenzdifferenzierung selbst eingeengt und stimmt noch nicht mit der lebensbezogenen Berufserfahrung überein. Als professionsspezifischer Habitus wird lediglich die unterrichtsbezogene Balancierungsleistung von Routinebildung und Offenheit für Neues aufgegriffen. Dieser als professionstypisch geltende Habitus wird von der EKD zum Fokus in der Berufseingangsphase. Die vorliegende Studie lässt darauf schließen, dass damit eine für die Dauer des Berufes nötige Bewusstheit und Aktualisierung notwendig ist. Sie hat einen responsiven Habitus als resilienznotwendiges Identitätsmerkmal für Religionslehrkräfte herausgearbeitet. Es wird also nötig sein, die Frage des Aufbaus dieses Habitus in den unterschiedlichen Bildungsphasen zu spezifizieren, wenn das Entwicklungskriterium weiterhin gelten soll. Die standardisierten Kompetenzen beziehen sich ausschließlich auf den Unterricht und stellen didaktische Kompetenzen in den Vordergrund. Um einem Modell beruflicher Identität näher zu kommen, wäre folglich das Leitmodell Theologisch-religionspädagogische Kompetenz allein zu kurz gegriffen.1596 Es stellt sich im Anschluss an die Fallstudie die Frage, inwiefern das zweite erschlossene Merkmal der Professionalität, die Religionssensibilität, in den vorliegenden Kompetenzen niederschlägt bzw. an welchen Stellen Veränderungen nötig sind. Mein Vorschlag greift das Entwicklungsmodell der Phasen und ihre jeweiligen Paradigma des forschenden Lernens, des theoriegeleiteten Erprobungslernens und des integrierenden Erfahrungslernens auf und spezifiziert jeweils – z. T. für den Religionsunterricht, aber auch angesichts des erweiterten Handlungsfeldes Schule – welche Aspekte religions- bzw. passionssensibler Kompetenz und eines responsiven Habitus wo und wann zu verorten wären. 6.3.2.1 Erste Ausbildungsphase: Universität In Religionslehramtsstudium gilt es, eine handlungsleitende Theorie zu erlernen, in der Handeln einen theologisch wie phänomenologisch begründeten Radius einnimmt und Passivität exemplarisch einbezieht. Dazu gehört auch, an Modellen theologischer Elementaria wie Passion und Leiden das Handeln Gottes wie des Menschen zu erschließen. Aus religionssensibler Kompetenz ist einzu1596 Vgl. Kirchenamt der EKD: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz, 25.
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schätzen, dass die religionsstheoretische Seite von Religion als gelebter Religion im Sinne des Erfahrungsgrundes und des kultischen wie kulturellen Umgangs mit Unverfügbarkeit erschlossen werden muss. Das kann etwa in einer Lehrveranstaltung mit einem Lernrahmen geschehen, in dem Passion anthropologisch wie christologisch erschlossen wird und in dem christliche Praxen erprobt, aber auch vergleichende Praxen betrachtet werden. Für die Ausprägung der Haltung des forschenden Lernens im Hinblick auf die Ausprägung eines responsiven, auf Pathoserfahrung eingehenden Habitus eignen sich insbesondere Praxisphasen und Forschungseinblicke: Im Handlungsfeld der Schule unterstützt sowie kompetent aus der ersten bzw. zweiten Phase begleitet1597, geht es darum, eben nicht ausschließlich instruktive Praktikumserfahrung zur Unterrichtung von Themen des Pathischen einzuüben. Vielmehr sollten Lehramtsstudierende anhand Teilnehmender Beobachtung1598 lernen, wie andere Lehrkräfte sowohl thematisch mit existenziellen bzw. kreuzestheologischen Themen umgehen, aber auch, wie ihre Haltung gegenüber passionate involvements im Unterricht ist, das schulische Feld zu erkunden und wahrzunehmen, wie dort beraterisch, seelsorgerlich mit Leid und Schmerz verfahren wird, welche Unterstützung die zugeordneten Lehrkräfte anbieten und wo sie fehlen. Aufgrund der Reflexion solcher Beobachtungen ergeben sich erste mimetische wie reflexive Möglichkeiten, das Praxisfeld für diese Dimensionen subjektorientiert aufzuschließen, biografische Bezüge aus der Fremdperspektive damit zu verhandeln und die Tragweite beruflichen religionspädagogischen Handelns ermessen zu lernen. Die EKD-Empfehlungen zur Weiterentwicklung setzen entsprechend ein Gewicht auf die »persönliche Auseinandersetzung mit den Studieninhalten im Sinne der Klärung eigener Glaubensfragen und theologischer Positionen«, die als berufsfeldbezogene Voraussetzung eingestuft werden.1599 Zur berufsbiografischen Reflexion unterstützt eine Studienbegleitung, welche auch den Blick für Kirche als Lebens- und Glaubensort schärft. Von daher empfiehlt sich m. E. dort das Kennenlernen anderer seelsorgerlich gelebter Zusammenhänge und das Lernen an Fallstudien im Praxisbezug.
1597 Je nachdem, wie die Praxiphase im Studium konzeptioniert ist: Das GHR 300-Modell Niedersachsens sieht an der Stelle Schwellengänger aus Universität und Studienseminar vor – mit allen Möglichkeiten und Schwächen. 1598 Eine gute Hinführung bietet Scholtz: Teilnehmende Beobachtung. 1599 Kirchenamt der EKD: Zur Weiterentwicklung der Lehramtsstudiengänge Evangelische Religionslehre, 8f.
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6.3.2.2 Zweite Ausbildungsphase: Studienseminar In der zweiten Phase der LehrerInnenbildung sollte die religionssensible Kompetenz die didaktische Erschließung des Zusammenhangs von Theodizee und Anthropodizee auf keinen Fall vermissen lassen. Den Erfahrungsbezug von SchülerInnen im Religionsunterricht so zur Sprache zu bringen, dass er sich mit Lebensrelevanz und theologischem Nachdenken verknüpft, ist eine hohe Kunst, die das Handwerk der medialen, der ästhetischen, der lebensweltbezogenen Praxis und der auf eine Perspektive der Christentumspraxis zielenden Zugänge benötigt. Demzufolge sind religionsdidaktische Ansätze wie Performativer Unterricht und Hermeneutischer Unterricht sowie unterschiedliche didaktische Strategien in dieser zentralen Kompetenzachse daraufhin zu erproben, wie sie der je gegebenen SchülerInnenschaft lebensbezogen Religion als Lebenskraft und Umgang mit Unverfügbarem an zentralen lebensherausfordernden Themen aufschließen. In dieser Phase stellen die mediale Kompetenz und das Kennenlernen fächerverbindender Zugänge einen großen Wert dar. Für einen responsiven Habitus, der gerade den Schülerinnen und Schülern nicht nur entgegenkommt, sondern auch von ihren Bedürfnissen wie Bedarfen und – gestellten wie sprachlosen – Fragen und Erfahrungen ausgeht, werden Dialog, Zuhören und das Führen von Gesprächen von entscheidender Bedeutung sein, um das eigene professionelle zurückhaltende Tun in den Dienst der Dramaturgie des Unterrichtens zu stellen. Da die Ausbildungsschule für AnwärterInnen und ReferendarInnen meist nicht der Langzeitort beruflicher Festanstellung ist, wäre eine langfristig angelegte seelsorgerliche Arbeit eine Überstrapazierung, wenngleich je nach individuellen Schwerpunkten angehende Religionslehrkräfte daran auch ihr Herz hängen. Die mit dem Aufbau eines responsiven Habitus verbundene starke Beziehungsseite ist projektartig deutlicher auszuleben und verhilft zu Erprobungen von Formen, in denen Artikulationen des Pathischen und auch schulische Umgangsfelder konkret sichtbar werden (z. B. Ausstellung, Rituale etc.). Die eigene Rollenklärung zwischen Lehrkraft und Auszubildender und die Förderung des religionspädagogischen Taktgefühls brauchen jedenfalls gerade dann, wenn pathische Erfahrung und Themen im schulischen Alltag eine Rolle spielen, sorgsame Begleitung – durch Supervision oder andere Angebote.1600 Die Empfehlungen der Gemischten Kommission verorten in dieser Phase insbesondere die Förderung der Wahrnehmungs- und Diagnosefähigkeiten, Gestaltungs- wie Entwicklungskompetenz.1601 Gerade diese werden an der Reflexion von Unterrichts-, Schul- und auch Seminarerfahrungen insofern ge1600 Vgl. Jetzschke: Supervision – Schule – Religion. 1601 Vgl. a. a. O., 10.
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schärft, als der Aspekt des Einübens nicht zu unterschätzen ist – eine Methode, die sich wie dargelegt auf Widerfahrnisse nur begrenzt beziehen kann, zugleich aber in der Kombination mit geförderter Wahrnehmungsschulung sensible Umgangsformen und Resilienz stärken kann. Es ist zu überlegen, inwieweit kirchliche Angebote in den Regionen sich auf die Begleitung dieser Phase konzentrieren. 6.3.2.3 Dritte Phase: ReligionslehrerInnenfort- und -weiterbildung Und schließlich liegt in der dritten Phase der beruflichen Fortbildung von Religionslehrkräften mehr denn je die Notwendigkeit und Chance, die systemischen Perspektiven auf die Zonen in Unterricht und Schulleben zu schärfen, in denen der berufliche Alltag gerade angesichts konkreter pathischer Erfordernisse Aufmerksamkeit fordert. Nach wie vor besteht Anlass, die Erfahrungen mit Leid, Tod, Krankheit, aber auch anderen existenziellen Herausforderungen in Fortbildungen mit didaktischen Konzepten zum Umgang mit Krisen und der Bedingung des begrenzten Handeln-Könnens zu amalgamieren. Für die Fortbildungen von Lehrkräften, die Religion unterrichten, stehen – insbesondere nach den Kürzungen stattlicher LehrerInnenfortbildung – dank der kirchliche Angebote an den Religionspädaqgogischen und PädagogischTheologischen Instituten deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung als für Fortbildugen anderer Fächer. Dazu gehören Fort- und Weiterbildungen und Qualifizierungen in den nebenunterrichtlichen Bereichen, wie sie etwa im kirchlichen Angebot für SchulseelsorgerInnen bestehen, als auch die Schärfung von diakonischen Elementen und Themen. In jedem Fall sind die schulischen Bedingungen prägend für die Erfordernis, die Multiprofessionalität und Rollenvielfalt auszubalancieren. Insbesondere Fortbildungsarbeit für Novizen kann und sollte dazu verhelfen; der Berufseinstieg bildet aufgrund der höheren pädagogischen Verantwortung, z. B. durch Klassen- und Kursübernahmen, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, mit mehr Gruppen einer deutlich größeren Schülerschaft zu unterrichten und zu begleiten, eine intensive Herausforderung für die Frage der Balance zwischen Pensumbewältigung und SchülerInnenorientierung. Fortbildungen, die den Rahmen und Rituale für Krafttanken, für die didaktische Thematisierung passionsbezogener Themen vor dem Horizont eigener unterrichtlicher wie schulseelsorgerlicher und diakonischer Praxis und der Reflexion und Bearbeitung krisenhafter Schulerfahrungen bereitstellen, geben dafür Raum und Kompetenz. Hier kommt es mehr denn je darauf an, den individuellen Habitus mit den konkreten Bedingungen vor Ort in Verbindung zu bringen und damit performative wie kritisch-reflexive Momente der Responsivität einzuziehen. Mit Blick auf gesamtkulturell wachsender Distanz zu Religion und theologischen Themen
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und Sprache bleibt es eine Daueraufgabe, Religionslehrkräfte für die Verständigung über Religion und für die Kommunikation über das Christliche zu sensibilisieren und dabei Kompetenzen in theologischer Positionierung zu stärken, um die Plausibilitätskraft von Religion als Kraft angesichts des Pathischen pädagogisch zur Geltung zu bringen.
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6.4.1 Religionslehrkräfte und beruflicher Alltag Insgesamt fokussieren empirische Untersuchungen zu Religionslehrkräften Handlungsfelder in Ausschnitten oder aber Elemente ihrer Professionalität – als solche in fachlicher, berufsbiogafischer und Kompetenzsicht bzw. Haltungen.1602 Anders als in den vielfältigen Studen zum professionellen Selbst war hier das Selbstbild nur indirekt gefragt. Die Praxis insgesamt ist in den Blick gekommen, und in ihr ist das Subjekt die Gestalt, an der diese Praxis wahrgenommen wird. Entsprechende Aufmerksamkeitsbalancen waren erforderlich zwischen Person, Rolle, Beruf, Feld. In pädagogischer Hinsicht wurde Schule als religionspädagogischer Sozialraum für religionspädagogische Interaktionen aufgetan – eine Perspektive, die z. B. für die Wahrnehmung nicht nur der Professionalität, sondern auch des Religionsunterrichts eine zunehmende Rolle spielt. Das Design der Studie, die im Rahmen einer Empirischen Religionsforschung und Theologie auf pädagogische und religionspädagogische Zusammenhänge hin entwickelt wurde, basierte auf phänomenologisch-empirischen Grundannahmen. Diese zeigten sich nicht in der inhaltlichen Konzentration auf einen zu beforschenden Fokus im Rahmen seiner Erscheinungsformen, sondern der gesamte Forschungsrahmen und das Setting wurde auf der Basis von langjährigen Enticklung und Erfahrung mit dieser Variante qualitativ empirischer Forschung bewältigt. Die Ausgangsfrage, die sich im Zusammenhang eines Beobachtungsrahmens herausbildete und den Anhaltspunkt dafür bot, Professionsforschung mit Lebensweltbezogenheit in Verbindung zu bringen, lässt sich phänomenologisch-empirisch beantworten und geht doch zugleich auf andere Diskurse ein. Der Ausgangspunkt eines Einzelfalls als Kern einer zu entfaltenden Fallstudie konnte in mehreren Diskursen von Kultur-bzw. Religionswisenschaft in Verbindung mit Medizinischer Anthropologie und Theologie sowie Bildungswissenschaften bzw. Pädagogik im heuristischen Sinne eine mehrdimensional vertiefte Auffächerung der Bedeutung des Pathischen liefern, die für die religi1602 Vgl. Rothgangel: Empirische Befunde zu Religionslehrkräften.
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onspädagogische Zusammenhänge spezifiziert und auf religionspädagogische Professionalität zugespitzt wurde. Sicherlich hätte ein Vergleichsfall mögliche Überprüfungen vornehmen oder andere Seitenaspekte des Pathischen anhand anderer exemplarischer Fälle zutage fördern können; das forschungsleitende Erkenntnisinteresse ist jedoch anhand der Tiefengenauigkeit des Einzelfalls verfolgt worden und hat zu konzeptionellen wie konkret fassbaren Strukturdimensionen religionspädagogischer Professionalität geführt. Es hat sich gezeigt, dass die Exploration in der auch textlichen Entfaltung des FALLs nicht ohne die Hinzuziehung derjenigen Felder möglich ist, in denen die Dimensionen sich zeigen. Aus diesem Grund ist auch die anfängliche Überlegung, einen zweiten Parallelfall mit zu verarbeiten, um der Genauigkeit willen nicht mehr verarbeitet worden.1603 Dass eine solche Studie ohne den Lebensweltbezug die professionelle Praxisanbindung nicht hinreichend aufnimmt, hat sich bestätigt. Dies hat sich auch in einer Reihe jüngerer Studien in der methodologischen Weiterführung bereits gezeigt1604 : Die Nähe der Action Research unter Wahrung phänomenologischempirischer Forschung und Forschungshaltung unter Einbezug theologischer Normativität gewährt nicht nur leiblich-intersubjektive Zugänge, sondern spürt auch deren Tragweite in der inhaltlichen Frage subjektbezogener Forschung auf.1605
6.4.2 Phänomenologisch-empirische Religionsforschung als Basis von Didaktik Die empirische Erforschung von Religion erscheint in dieser Weise fast als eine profane: Unverfügbarkeit an anthropologische Gegebenheiten und Erfahrung zu binden, lässt den klassisch religionsphänomenologischen Umgang mit Unverfügbarkeit an die Seite rücken, macht aber angesichts veränderter Welteinstellungen über einen binnentheologische Gedankengänge überschreitenden Weg und Modus viel Sinn. Wenn Niklas Luhmann die Fahne hochhält, dass es keine nicht-religiösen Gründe mehr gibt, religiös zu sein, so ist damit das Herzstück ergriffen, sich 1603 Im Übrigen verspricht das Material des zweiten Falles eine Fortführung der Studie, mit der konkrete schulseelsorgerliche Aspekte deutlicher eruiert werden können. 1604 Vgl. Bakker / Heimbrock: Researching RE Teachers; Dinter / Heimbrock / Söderblom: Einführung in die Empirische Theologie; Heimbock / Wyller : Den Anderen wahrnehmen. 1605 Jüngst wurde in diesem Zusammenhang die subjektbezogene emprisch-theologische Studie zur gelebten Konfessionalität fertiggestell: Heimbrock / Kerntke: Evangelisches Profil im Widerspruch. Vgl. Heimbrock / Kerntke: Positionalität von Religion in lebensweltlicher Perspektive.
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Religion in der Frage der Gestalt zu nähern. Zugleich sind für gesellschaftliche Kommunikationen die wissenschaftlichen Kontexte der Plausbilisierung von religiöser Formung auch von Professionalität unbestreitbar. Es wird in Zukunft sehr darauf ankommen, bei der Begründung von theologischen Inhalten und systematisch-theologischen Gedankengängen säkulare Weltsichten mitzudenken und auf sie hin zu kommunizieren, ohne die christentumsspezifischen Herzstücke und ihre Artikulation aufzugeben. Umso deutlicher mag dies für den Beruf virulent werden, der in den meisten Ländern und Kirchen der Bundesrepublik per se eine Brücke zwischen Schule und Kirche, zwischen dem Erziehungssystem und einem religiösen System darstellt. Von daher gilt es, Fingerspitzengefühl für die Beschreibung derjenigen Profession zu entwickeln und zu bewahren, die sich selbst kaum als kirchliche MitarbeiterInnen begreift1606, aber sehr wohl den Balancen zwischen den Systemen gewogen ist. Empirisch-theologische Forschung benötigt das leibliche Subjekt in der Beziehung der Intersubjektivität als Medium der Erfahrung des Unverfügbaren. Insofern handelte es sich bei der vorliegenden Studie um einen durch ErstePerson- und Zweite-Person-Perspektive einbeziehenden Weg der Handlungsforschung. Dass der Einbezug des leiblichen Subjekts nicht nur in didaktischer Hinsicht, sondern auch für dessen empirische Erforschung unerlässlich ist, dafür liefert die vorliegende Arbeit deutliche Hinweise. Für eine empirisch gestützte Weiterentwicklung ist es unabdingbar, auch subjektiv verankerte Wirksamkeiten zu erforschen. Das impliziert in der Religionsforschung eine tiefere und genauere Zugangsweise zu Ansätzen der Sprachfindung, als es eine methodische Konzentration auf sprachliche Analysen zeigen kann. Inhaltlich wird damit auch ein Boden für die empirische Erforschung des Umgangs mit didaktischen Konzepten gelegt, nicht nur die Konzepte theologischer Gespräche, Kinder- und Jugendtheologie1607, sondern auch stärker phänomenologisch arbeitende Konzepte wie performative Didaktik1608 empirisch zu erkunden, um die Lernbedingungen pathischen und responsiven Lernens angesichts neuer Herausforderungen zu Begegnung und Gestaltung sorgsam zu eruieren. Und allgemein- wie damit auch religionsdidaktisch tragen die noch junge soziologische wie zugleich interdisziplinär angelegte Resonanztheorie Hartmut Rosas1609 und ihre pädagogischen Konkretionen1610 noch einmal mehr dazu bei,
1606 So die Einschätzung der KMU V in EKD: Engagement und Indifferenz, vgl. Hermelink / Leonhard / Schröder : Engagiert und indifferent? sowie Schröder / Hermelink / Leonhard: Jugendliche und Religion. 1607 So z. B. Freudenberger-Lötz: Theologische Gespräche mit Kindern. 1608 Vgl. dazu bisher : Dressler / Klie / Kumlehn: Unterrichtsdramaturgien. 1609 Rosa: Resonanz.
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der Ausrichtung an Kompetenz und Performanz mit der Resonanz eine diese im Wesentlichen positiv irritierende dritte Größe hinzuzugeben, die (religions)didaktisches Denken im Interesse beziehungshafter Welterschließung und pathisch-responsiver Bildunglogik orientieren wird.
1610 Rosa / Endres: Resonanzppädagogik; Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone.
Epilog
Eine entscheidende Auf-Gabe von Religionslehrkräften ist der kulturelle und pädagogische Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren im Raum der Schule. Eine Fallstudie zum personalen Umgang mit schwerer Krankheit im Kontext von Religionsunterricht wurde bei einem empirisch-theologischen Ansatz zum heuristischen Ausgangspunkt für die Erkundung, wie ReligionslehrerInnen Grenzsituationen ihres professionellen Alltags wahrnehmen. Das Projekt dient damit auch als Grundlage für eine lebenswelt- und schulkulturbezogene Perspektivierung von Schulseelsorge. Das Spektrum des Pathos ist aufgerollt, Erfahrungen der Dimension des Pathischen in Unterricht und Schulleben wurden durch den Zusammenhang von Empirie und Normativität auf ihre Bedeutung für die Dimensionierung einer Berufspraxis im Kontext von Religion, Lebenswelt, Theologie und Kirche hin beleuchtet. Religionspädagogische Professionalität ist in ihrer Begrenztheit und in ihren Möglichkeiten entfaltet. Die Erfahrungen des Pathischen und die Stimmen wissenschaftlichen Antwortens sind vernehmbar geworden. Sie liegen nun in der sehenden und denkenden Aufmerksamkeit der LeserInnen. Das Interesse, Grundgegebenheiten, Maßgaben und Formen zu präzisieren, um religionspädagogische Professionalität angesichts der empirisch wahrnehmbaren Passibilität des professionellen Handelns theologisch orientieren und pädagogisch gestalten zu können, ist auf der Linie von Responsivität explorativ entfaltet worden. Konzepte von Habitus und Kompetenz haben auf empirischer Basis eine Profilschärfung erfahren. Die religionspädagogische Professionstheorie hat mit der passionsbezogenen Anerkennung von Vulnerabilität im Horizont von Resilienz nun »theologische Füße« bekommen, die sie nicht nur in der gegenwärtigen Pädagogik, sondern auch in der Theologie standfest machen. In aller Positioniertheit muss religionspädagogische Professionalität dennoch beweglich bleiben. Erfahrungen des vorauseilenden Pathos gehören nicht nur zur Welt der SchülerInnen und Religionslehrkräfte – zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Arbeit betreffen sie auch Menschen auf der Flucht. Mehr
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Epilog
denn je ist im Zusammenhang von Migration und Flüchtlingsarbeit ›Grenze‹ ein Thema, welches bisher kaum beachtete Erfahrungsmomente von Passion auf brisante Weise aus dem Lebensalltag in die pädagogische Aufmerksamkeit an den Bildungsorten holt. Dass es ein Spektrum individueller, sozialer, politischer und religiöser Antworten darauf im Horizont des Anderen braucht, ist gesellschaftlich angekommen, dessen Art und Weise zugleich politisch umstritten. Die religionspädagogisch gefragten Responses werden in den kommenden Jahren darauf ein-, aber noch mehr darüber hinausgehen müssen. An diesen und anderen Erfahrungen des Pathos von Fremdheit wird hoffentlich unter verändertem Blickwinkel öffentlich und evangelisch-lebensbezogen eine sprachfähige Gestalt bekommen, was allzu häufig als privat verhandelt oder gar abgetan wird: eine responsorische Praxisgestalt gelebter christlicher Religion, die Orientierung, Raum und Form für Begegnung und Dialog gibt. Der gewählte Ansatz einer empirisch-theologischen Forschung lebt stark von einem responsiven Verhältnis zwischen Fall und Bezugsgrößen der Arbeit – von daher handelt es sich um ein Resonanzgeschehen zwischen FALL und jeweiliger Bezugstheorie, die wechselseitig und damit responsiv aufeinander eingehen. Die Tatsache, dass der Fall nicht automatisch das Vorausgehende ist, sondern auch theoretische Reflexionspunkte durch die Blicke auf und in den Fall neu justiert werden können, gibt dem Empirischen gegenüber dem Normativen Anschubkraft, darf jedoch nicht dazu führen, dass ausschließlich der Fall und damit ausschließlich Empirie ihr Recht bekommt – weder in der Begrenztheit eines Einzelfalls wie des vorliegenden noch in der statistisch signifikanten Häufigkeit von Fällen. Vielmehr weist das vorliegende Design darauf hin, dass es auch in der religionspädagogischen Forschung und Theoriebildung um das immer wieder fortzuführende aufeinander Hören und Antworten zwischen Praxis und Reflexivität ankommt – und zwar an genau den Stellen und mit genau der erforderlichen Präzision und Weite, mit der und auf die ich als Forscherin angesprochen werde und mit der ich mich ansprechen lasse. Man kann nicht nicht antworten – es kommt dabei auf das Wort und die Resonanzgestalt des Ant-Wortens an.
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