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German Pages 220 Year 2014
Schriften zur Rechtstheorie Band 269
Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats
Von Daniel Gruschke
Duncker & Humblot · Berlin
DANIEL GRUSCHKE
Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats
Schriften zur Rechtstheorie Band 269
Vagheit im Recht: Grenzfälle und fließende Übergänge im Horizont des Rechtsstaats
Von Daniel Gruschke
Duncker & Humblot · Berlin
Gefördert von der VolkswagenStiftung.
Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14250-7 (Print) ISBN 978-3-428-54250-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84250-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
„Möge Gott dem Philosophen Einsicht geben in das, was vor allen Augen liegt.“ L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde an der Philosophischen Fakultät I der HumboldtUniversität zu Berlin als Promotionsschrift eingereicht und am 13. Februar 2013 verteidigt. Sie stellt das Ergebnis eines mehrjährigen Experimentes dar, das insbesondere Juristen gewagt erscheinen dürfte: eine ihrem Anspruch und Vorgehen nach philosophische Arbeit, die sich mit rechtsmethodologischen und rechtsdogmatischen Problemen befasst und auf diese Weise Gebiete betritt, die unzweifelhaft zur Domäne der Rechtswissenschaft gehören. Das Urteil über den Ausgang dieses Versuchs muss ich dem Leser überlassen. Meine Aufgabe an dieser Stelle ist es, denen Dank abzustatten, ohne deren Hilfe vorliegende Arbeit nie fertiggestellt, geschweige denn veröffentlicht worden wäre: Dem Dekan der Philosophischen Fakultät I, Herrn Prof. Michael Seadle, PhD, danke ich für die zügige Durchführung des Promotionsverfahrens. Meinen Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Geert Keil (HU Berlin) und Herrn Prof. Dr. Markus Stepanians (Aachen, Bern), die das Entstehen meiner Dissertation von Anfang an begleitet haben, schulde ich mehr, als ich hier zum Ausdruck bringen kann. Es ist ihnen zu verdanken – ihrer Geduld, ihrem akademischen Rat und nicht zuletzt ihrer Unterstützung bei der Finanzierung meines Projektes –, dass aus einer unausgegorenen Idee eine Promotionsschrift wurde, die nun zwar ohne jede Prätention, aber doch selbstbewusst ans Licht der Öffentlichkeit treten kann. Herrn Prof. Dr. Ralf Poscher (Freiburg) und allen Kolleginnen und Kollegen unserer Forschungsgruppe „Vernünftiger Umgang mit unscharfen Grenzen: Vagheits- und Unbestimmtheitsphänomene als Herausforderung für Philosophie und Recht“ danke ich für zahllose anregende Diskussionen, gute Ideen und hilfreiche Vorschläge, die sich in vorliegender Arbeit an mehr als einer Stelle positiv bemerkbar machen: Rico Hauswald, Lara Keuck, Matthias Kiesselbach, Nora Kluck, David Lanius, Tim Schöne und Andree Weber haben mich vor so manchem philosophischen Irrweg bewahrt und dazu beigetragen, dass ich meine Arbeit nicht nur auf das richtige Gleis setzen, sondern darauf auch voranbringen konnte. Eine Dissertation zu Themen, die eigentlich der Rechtswissenschaft zugehören, kann man als Philosoph nur schreiben, wenn man sich jederzeit Rat bei juristischen Fachleuten einholen kann. Mein Dank gilt deshalb Sebastian Bramorski, Stephan Dorn, Christian Ehlenz, Michael Kuhn und Benedikt Schauberer, die mir mit unglaublicher Geduld für unzählige Fragen und Nachfragen zur Verfügung standen. Herrn Prof. Dennis Patterson, PhD, J.D., danke ich dafür, dass er mich
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Vorwort
während eines Studienaufenthaltes am European University Institute Florenz nicht nur mit den Finessen des Common Law und der zugehörigen Rechtstheorie vertraut gemacht hat, sondern mir auch dabei half zu erkennen, welchen Gang meine Untersuchung nehmen muss – und was sie besser ausspart. Meinen Kolleginnen und Kollegen in Berlin, insbesondere Alexander Dinges, Philipp Hübl, Nora Kreft und Beate Krickel, sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums am Lehrstuhl für philosophische Anthropologie schulde ich Dank für viele außerordentlich hilfreiche Rückfragen und Verbesserungsvorschläge – sowie nicht zuletzt für die Geduld, mit der sie mich und meine unfertige Dissertation gleich zwei Mal ertragen haben. Zwar lebt der Mensch – und insbesondere der Doktorand – nicht vom Brot allein, doch ohne einen gesicherten institutionellen und finanziellen Rahmen wäre zumindest diese Arbeit nie abgeschlossen worden: Das Human Technology Centre der RWTH Aachen hat mir drei Jahre lang diesen Rahmen geboten. Durch ein Abschlussstipendium der Fazit-Stiftung war es mir möglich, eine schwierige Phase zu überbrücken. Der Verlag Duncker & Humblot hat meine Arbeit in die Reihe „Schriften zur Rechtstheorie“ aufgenommen und die Volkswagen Stiftung ihr Erscheinen mit einem großzügig bemessenen Zuschuss zu den Druckkosten gefördert. Diesen Institutionen gilt dafür mein aufrichtiger Dank. Berlin, im September 2013
Daniel Gruschke
Inhaltsverzeichnis Teil I Vagheit, Recht, Rechtsstaat
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A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vagheit von Prädikaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsvagheit und Individuationsvagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Graduelle und kombinatorische Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Extensionale und intensionale Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Höherstufige Vagheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Sorites-Paradoxon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Abgrenzungen und Präzisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Vagheit und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 22 24 27 29 30 36 46 53
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Lon Fuller: The Morality of Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. „Fidelity to law“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Exkurs: „Inner morality of law“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Fullers „principles of legality“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Joseph Raz: The Rule of Law and its Virtue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Anforderungen an rechtsstaatliche Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 IV. Synthese: Eine formale Konzeption der Rule of Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 V. Vagheit im Recht – Facetten eines Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Teil II Vagheitstheorien und Vagheit im Recht D. Epistemische Vagheitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 122 122 129 137 137 139
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Inhaltsverzeichnis
E. Fuzzy-Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143 143 147 149 149 155
F. Supervaluationismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 159 163 168
G. Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172 172 185 188 188 194
H. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Teil I
Vagheit, Recht, Rechtsstaat A. Einleitung Unter dem Titel „Vagheit im Recht“, „vagueness in law“, wird in der zeitgenössischen Philosophie etwa seit den 90er Jahren eine Diskussion geführt, die zwei ursprünglich getrennt behandelte Themen zu einer Fragestellung verbunden hat: die Bestimmtheit des Rechts und die semantische Vagheit von Prädikaten. Die Debatte greift die in der Rechtsphilosophie seit Langem erörterte Frage auf, ob Rechtsnormen zusammen mit den Merkmalen des zu beurteilenden Sachverhaltes die gerichtliche Entscheidung eines Falles derart festlegen, dass Rechtsanwendung als ein Vorgang zu denken wäre, der ebenso gut von einem Automaten ausgeübt werden könnte, da er in nichts Weiterem besteht als in einer denkbar einfachen Operation: Nimm den für den vorliegenden Fall einschlägigen Rechtssatz R, welcher die logische Form eines Konditionals hat; prüfe, ob der zu beurteilende Sachverhalt die Tatbestandsmerkmale im Antezedens von R erfüllt, und ordne, falls dies zutrifft, diejenige Rechtsfolge an, die im Konsequens von R spezifiziert wurde. Gegen die Vorstellung vom Richter als einem gleichsam maschinenhaft agierenden Subsumtionsautomaten zogen in Deutschland insbesondere die Anhänger der sog. „Freirechtsschule“ zu Felde.1 Unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius hat Kantorowicz, einer der bedeutendsten Vertreter dieser Schule, das AutomatenIdeal folgendermaßen karikiert: „Die herrschende Idealvorstellung vom Juristen ist die: Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hilfe rein logischer Operationen und einer nur ihm verständlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.“ 2
Im letzten Satz dieses Zitats wird angedeutet, dass das, was man im deutschsprachigen Raum auch „juristischen Determinismus“ 3 nennt, streng genommen 1
Vgl. Ogorek (1986), Pound (1908). Kantorowicz (1906), S. 5. 3 Vgl. Neumann (1986), S. 2 f. Den Gegensatz zum Determinismus bildet nach Neumann der sog. „juristische Irrationalismus“ (Dezisionismus), der in der juristischen Fall2
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
nicht in einer These besteht, sondern in mehreren: (1) Das Recht enthält für alle Fälle genau eine Lösung, die (2) vom Gesetzgeber „vorherbestimmt“ wurde. Versteht man (2) als Kriterium für die Richtigkeit einer Fallentscheidung, dann könnte man (1) und (2) auch so zusammenfassen: Es gibt im Recht für jeden Fall genau eine richtige, da vom Gesetzgeber vorherbestimmte Lösung. (3) Mithilfe von Logik und der richtigen Exegese-Methode lässt sich die eine richtige Lösung so ermitteln, dass keine Zweifel an ihrer Richtigkeit bleiben. Es gibt also nicht nur für jeden Fall genau eine richtige Lösung; diese Lösung ist überdies eindeutig richtig beziehungsweise als eindeutig richtig nachweisbar.4 Man kann nun offenbar (1) vertreten, ohne sich auf (2) und (3) festzulegen. So könnte man etwa der Meinung sein, es gebe auf jede Rechtsfrage eine richtige Antwort, aber diese hänge nicht von irgendwelchen Bestimmungen des Gesetzgebers ab, sondern von den fundamentalen Prinzipien, die einer Rechtsordnung zugrunde liegen. (Man erhielte dann eine „Right-Answer-Thesis“ im Sinne Dworkins.) Ferner sieht man, dass der Vertreter des juristischen Determinismus auch eine rechtshermeneutische Verpflichtung auf die sogenannte „subjektive Auslegung“ eingeht: Wenn ein Fall korrekt gelöst werden soll, dann muss man den Normtext daraufhin befragen, was der Gesetzgeber für diesen Fall bestimmt hat. Es fragt sich natürlich, ob jemals eine Rechtstheorie vertreten wurde, die den juristischen Determinismus in Reinkultur verkörpert hätte. Vielleicht wird man neben der „Begriffsjurisprudenz“, bei der wie erwähnt notorisch unklar bleibt, was genau darunter zu verstehen ist, an den Kelsen der Reinen Rechtslehre denken, der die Existenz von Gesetzeslücken geleugnet und den Ausdruck „Lücke im Gesetz“ als „typisch ideologische Formel“, gebrandmarkt hat:5 „Allein, echte Lücken in dem Sinne, daß ein Rechtsstreit gemäß den geltenden Normen nicht entscheidbar wäre, weil das Gesetz – wie man sagt – mangels einer auf diesen Fall beziehbaren Vorschrift nicht angewendet werden kann, gibt es nicht. Jeder Rechtsstreit besteht darin, daß eine Partei gegen eine andere einen Anspruch erhebt; entscheidung einen bloßen Willensakt sieht: Angeführte Entscheidungsgründe sind genau genommen bloße „Entscheidungsgründe“, die rein dekorativen Charakter haben. 4 Vermutlich hatte Kantorowicz in der zitierten Stelle das vor Augen, was Jhering als „Begriffsjurisprudenz“ tituliert hat. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt im Detail meistens vage. Nach Schröder (2008), Sp. 501, „ist B. ein Verfahren, das Recht in gesetzlich nicht eindeutig geregelten Fällen aus Begriffen oder Prinzipien abzuleiten, die dem positiven Recht immanent sind, und nicht aus gesellschaftlichen Interessen, Zwecken, überpositiven Rechtswerten oder freier richterlicher Rechtswertung.“ Nach Haferkamp (2011) besteht bei „aller Einigkeit darüber, dass B. etwas Verwerfliches ist, [. . .] bis heute keine konsentierte Definition der B. Zumeist werden ihr drei oft miteinander verknüpfte Grundpositionen unterstellt, die von den Kritikern als verfehlt bezeichnet werden: (1) Das gegebene Recht sei lückenlos; (2) das gegebene Recht könne auf ein rein logisch verknüpftes Begriffssystem zurückgeführt werden (,Begriffspyramide‘); (3) wobei neues Recht durch Deduktion aus induktiv gefundenen übergeordneten Rechtsbegriffen logisch deduziert werden könne (,Inversionsmethode‘).“ 5 Kelsen (2008), S. 116.
A. Einleitung
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und die stattgebende oder abweisende Entscheidung hängt davon ab, ob das Gesetz, das heißt eine geltende, auf den konkreten Fall anzuwendende Norm die behauptete Rechtspflicht statuiert oder nicht. Da es eine dritte Möglichkeit nicht gibt, ist eine Entscheidung immer möglich, und zwar immer auf Grund, das heißt in Anwendung des Gesetzes. [. . .] Spricht man dennoch in gewissen Fällen von einer ,Lücke‘, so bedeutet dies nicht, wie der Ausdruck vortäuscht, daß eine Entscheidung mangels einer Norm logisch unmöglich, sondern nur, daß die – logisch mögliche – stattgebende oder abweisende Entscheidung von der zur Entscheidung, das heißt zur Gesetzesanwendung berufenen Instanz als zu unzweckmäßig oder als ungerecht empfunden wird, als so unzweckmäßig oder so ungerecht, daß sie zu der Annahme neigt, der Gesetzgeber habe an diesen Fall gar nicht gedacht und hätte, wenn er an ihn gedacht hätte, anders entschieden, als auf Grund des Gesetzes entschieden werden müßte.“ 6
Selbst wenn man aber Kelsens Meinung zu den Gesetzeslücken als Beleg dafür ansieht, dass er (1) vertreten hat, so ist es fraglich, ob er (2), und noch fraglicher, ob er (3) akzeptiert hätte: Wer (1) bejaht, legt sich nur darauf fest zu behaupten, dass es für jeden Fall genau eine Lösung gibt, nicht jedoch darauf, dass der Gesetzgeber den betreffenden Fall vorausgesehen und eine Lösung festgelegt hätte.7 Was (3) angeht, so wäre man angesichts der Skepsis, mit der Kelsen in Kapitel VI („Die Interpretation“) der Reinen Rechtslehre die Zuverlässigkeit von juristischen Auslegungsmethoden betrachtet, gelinde gesagt überrascht, wenn er (3) vertreten hätte. Welche Rechtstheorie auch immer man als prototypischen „Determinismus“ ansehen möchte; es steht jedenfalls außer Frage, dass Konzeptionen, die man dafür hielt, zu den am meisten bekämpften rechtsphilosophischen Theorien der letzten hundert Jahre gehören. Nachdem die Bestimmtheit des Rechts bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl durch die Freirechtsschule und den Dezisionismus Carl Schmitts als auch durch den amerikanischen „Legal Realism“ bestritten worden war8, erlebte das Thema unter dem Eindruck der „Critical-Legal-Studies“ in den 80er Jahren als sog. „Indeterminacy Crisis“ eine Neuauflage.9 Die Ausdauer (und Schärfe), mit der die Debatte geführt wurde und wird, verdankt sich dem Umstand, dass der Streit um die Bestimmtheit des Rechts unmittelbar zwei rechtsphilosophisch fundamentale Probleme berührt, nämlich (a) das der Rolle der Justiz (wie der Rechtsanwendung generell) in einem gewaltenteiligen Rechtsstaat, und (b) das des Unterschieds zwischen korrek6
Kelsen (2008), S. 110 f. Es gibt für (2) mehr als eine Lesart: „Vorausbestimmt“ könnte nämlich auch lediglich besagen, dass, insofern auf Grundlage des geltenden Rechts jeder Fall entscheidbar ist und sich das geltende Recht der Normsetzung des Gesetzgebers verdankt, dieser so in jedem Fall für eine Lösung gesorgt hat – gleichgültig, ob er diese Art von Fall und seine rechtliche Lösung vorausbedacht beziehungsweise vorausgesehen hat oder nicht. So verstanden wäre (2) aber nur (1) in neuem Gewande. 8 Vgl. beispielsweise Leiter (2001). 9 Vgl. anstatt vieler Solum (1987), Solum (1996). 7
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
ten und inkorrekten Urteilssprüchen: (a) Wenn das Recht nicht so beschaffen ist, dass es den Rechtsanwendern die Entscheidung von Fällen gleichsam vorschreibt, dann kann die Rolle der Rechtsanwender auch nicht darin bestehen, das Recht, welches nicht von ihnen selbst, sondern von dem Gesetzgeber erlassen wurde, lediglich auf partikulare Fälle anzuwenden. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe müssen sie nolens volens rechtserzeugend tätig werden. (b) Wenn man zwischen richtigen und falschen Urteilen unterscheiden, manche Urteile als „Fehlurteile“ kritisieren möchte, das Recht jedoch nicht so beschaffen ist, dass es den Rechtsanwendern die Entscheidung von Fällen gleichsam vorschreibt, dann stellt sich die Frage, woran sich Richtig und Falsch einer Entscheidung bemessen sollen. Die zeitgenössische Diskussion von Vagheit im Recht greift aber nicht nur die Frage nach der Bestimmtheit des Rechts auf, sondern erörtert sie – und das unterscheidet die Debatte über „vagueness in law“ von ihren Vorgängern – nunmehr im Hinblick auf ein zumindest in natürlichen Sprachen allgegenwärtiges Phänomen, für das sich seit Russells gleichnamigem Aufsatz aus dem Jahr 1923 in Logik und Sprachphilosophie die Bezeichnung „vagueness“, „Vagheit“, eingebürgert hat.10 „Vagheit“ im hier einschlägigen Sinne von „semantische Vagheit“ bezeichnet weder ein vorwerfbares sprachliches Fehlverhalten („Drück Dich bitte klarer aus!“) noch einen sachlich begründeten Mangel an Genauigkeit („Aufgrund der Dunkelheit zum Tatzeitpunkt konnte das Opfer den Täter nur vage beschreiben.“), sondern die Eigenschaft von Eigennamen und Prädikaten, keine scharfen Grenzen zu ziehen: Der Eigenname „Zugspitze“ bezeichnet einen Berg in den Alpen. Ob diese Erhebung hier aber noch zum Zugspitzplatt oder doch schon zur Zugspitze gehört; wo die Grenze zwischen der Zugspitze und anderen Gipfeln des Wettersteingebirges, etwa dem angrenzenden Zugspitzeck, verläuft, das bleibt auch dann unklar, wenn man den Eigennamen korrekt gebrauchen kann und mit der Geologie seines Denotats vertraut ist. Die Vagheit von Eigennamen kann sich nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Perspektive manifestieren: Die Auffaltung der Alpen vollzog sich in Jahrmillionen. Zu Beginn gab es keine einzelnen Alpengipfel. An seinem Ende gibt es die Zugspitze (und viele andere Berge). Wann genau aber war die Zugspitze „da“? „Zugspitze“ ist sowohl in diachroner als auch in synchroner Perspektive vage. Das Beispiel der Alpenentstehung deutet bereits an, dass auch Eigennamen für Prozesse („Die Auffaltung der Alpen“) vage sein können. Gleiches gilt für die Bezeichnungen von (sozialen) Gruppen.11 10
Russell (1923). Man könnte auch die These vertreten, nicht Eigennamen seien vage, sondern die von ihnen bezeichneten Gegenstände; diese wären also unscharf begrenzt. Vagheit würde dann nicht als ein semantisches, sondern als ein ontisches Phänomen verstanden. Über diese These hatte Dummett (1975), S. 314, gesagt, „the notion that things might actually be vague, as well as being vaguely described, is not properly intelligible“. Evans (1978) wiederum hat versucht zu zeigen, dass die These, es gebe vage Gegenstände, zu einem Widerspruch führt. Die Schlüssigkeit von Evans’ Argument wird je11
A. Einleitung
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Unklare Fälle treten auch bei vagen Prädikaten wie „ist ein Berg“ auf. Es trifft auf die Zugspitze zweifelsohne zu und auf den „Berg“ im Schlossgarten von Charlottenburg zweifellos nicht. Wie hoch muss eine Anhöhe aber mindestens sein, damit sie als „Berg“ bezeichnet werden kann? Ist der Aventin in Rom ein Berg? Muss eine Landerhebung natürlichen Ursprunges sein oder qualifizieren sich auch die Knappenhalde in Oberhausen, die aus Abraum besteht, oder der Olympiaberg in München, den man aus Trümmern des 2. Weltkrieges aufgeschüttet hat, angesichts ihrer Höhe beziehungsweise ihres Volumens als Berge? Wenn gesagt wird, ein Prädikat sei vage, dann ist damit gemeint, dass es Grenzfälle zulässt, also Fälle, in denen unklar ist, ob das Prädikat zutrifft: Einige Anhöhen sind Berge, andere sind es nicht und bei einigen wäre man unschlüssig, was man sagen soll. Diese Erhebungen bilden Grenzfälle für die Anwendung von „Berg“. Falls der Berliner Teufelsberg einen Grenzfall für das Prädikat „Berg“ darstellt, dann ist unklar, ob er in die Extension oder in die Antiextension von „Berg“ gehört beziehungsweise ob die Proposition „Der Teufelsberg ist ein Berg“ wahr oder falsch ist. Vage Prädikate teilen also den Bereich ihrer sinnvollen Anwendung nicht vollständig und trennscharf in Extension und Antiextension auf; die Bereiche ihrer positiven und negativen Fälle sind nicht klar voneinander abgegrenzt:12 „To say that an expression is vague (in a broad sense of vague) is presumably, roughly speaking, to say that there are cases (actual or possible) in which one just does not know whether to apply the expression or to withhold it, and one’s not knowing is not due to ignorance of the facts. For instance one may not know whether or not to describe a particular man as ,bald‘; and it may be of no help at all to be told exactly how many hairs he has on his head.“ 13
Vagheit im philosophischen Sinne unterscheidet sich von der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes in einem wichtigen Punkt: Sie hat nichts mit mangelndem Willen zum klaren Ausdruck, einem Mangel an sprachlicher Kompetenz oder einem Mangel an relevanten Informationen über das Denotat beziehungsdoch heute allgemein bezweifelt und Dummett hat sein Verdikt zwischenzeitlich zurückgezogen. Ich werde im Folgenden nicht auf die Diskussion zum Thema „ontische Vagheit“ eingehen. Für einen Überblick vgl. statt vieler Hyde (2008), Kap. 5. Den Hinweis darauf, dass Vagheit von Eigennamen auch im Bereich des Sozialen auftreten kann, verdanke ich meinem Kollegen Rico Hauswald. 12 Sinnvoll kann etwa das Prädikat „ist kahlköpfig“ auf (erwachsene) Menschen angewendet werden, nicht jedoch auf Stühle oder Galaxien. Der Satz, dieser Stuhl hier sei (nicht) kahlköpfig, ist nicht wahr oder falsch, sondern unsinnig. Die Einteilung ist nicht vollständig, da einige Fälle übrig bleiben, die weder in die Extension noch in die Antiextension des Prädikates gehören. Die Einteilung ist auch nicht trennscharf, da bei einigen Fällen unklar beziehungsweise zwischen kompetenten und gleich gut informierten Sprechern strittig ist, ob man sie noch dem positiven (negativen) Bereich zuordnen kann oder ob man sie nicht vielleicht doch schon in den Bereich der Grenzfälle einsortieren sollte. Diese Grenzfälle von Grenzfällen sind somit Kandidaten für gleich zwei Bereiche. 13 Grice (1989), S. 177.
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
weise den Gegenstand, dessen F-sein unklar ist, zu tun.14 Auch der Geologe guten Willens wird nicht sagen können, ob dieser Felsvorsprung noch zur Zugspitze oder schon zu dem umliegenden Wettersteingebirge gehört, oder ob eine Höhe von ca. 47 m ausreicht, den Aventin zum Berg zu machen. Weil Grenzfälle für die Anwendung vager Prädikate nicht durch ungenügende Informationslage bedingt sind, lassen sie sich auch nicht durch ein Mehr an Informationen aus der Welt schaffen. Sie sind „informationsimmun“.15 Es wäre auch gar nicht klar, welcher Art diese zusätzlichen Informationen über den Gegenstand sein sollten, oder mit welchen Methoden sie zu erhalten wären.16 Grenzfälle vager Termini sind deshalb nicht einfach lästig, aber vorläufig; Grenzfälle vager Ausdrücke sind absolute Grenzfälle.17 Der Sache nach ist die rechtsphilosophische Untersuchung von semantischer Vagheit im deutschsprachigen Bereich nicht neu. Jellinek und Heck behandeln das Thema im Zusammenhang mit ihrer Erörterung sogenannter unbestimmter Rechtsbegriffe. Jellinek etwa nimmt den Begriff von Prädikatsvagheit in der zeitgenössischen Philosophie vorweg, wenn er schreibt: „Der unbestimmte Begriff verdient wegen seiner Wichtigkeit eine genauere logische Betrachtung. Er bildet den Gegensatz zum bestimmten Begriff. Wie dieser hat er überhaupt Grenzen, denn sonst wäre es kein Begriff. Aber während der bestimmte Begriff eine einzige Grenze hat, die ein sicheres (assertorisches) Urteil über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit einer Erscheinung zum Begriffe ermöglicht, hat der unbestimmte Begriff deren zwei. Auch beim unbestimmten Begriff gibt es daher sichere (assertorische) Urteile; aber zwischen dem bejahenden und verneinenden Urteil liegt ein Grenzgebiet der bloßen Möglichkeit (problematisches Urteil). Eine Verordnung z. B. befiehlt, der Bürgersteig sei vor ,Tagesanbruch‘ zu kehren. Mit Sicher14 Gegen Vagheit von Rechtsnormen im Sinne ihres Mangels an Spezifität ist die sogenannte Void-for-Vagueness-Doktrin des US-amerikanischen und kanadischen Verfassungsrechts gerichtet: „The American vagueness doctrine, much like its Canadian counterpart, requires that legislation reach an adequate level of precision in order to sustain constitutional validity. The two rationales behind this requirement are the same as in Canada, namely, that citizens be given adequate warning as to what the law prescribes and that discretion in law enforcement be limited. These requirements are embodied in the Fifth and Fourteenth Amendments to the Constitution of the United States, which both provide that no one can be deprived of ,life, liberty, or property, without due process of law.‘“ Ribeiro (2004), S. 73. 15 Ich übernehme diesen Ausdruck von Kemmerling (2012). 16 Die Einschränkung „über den Gegenstand“ ist wichtig, weil Vertreter der epistemischen Vagheitstheorie die These vertreten, dass wir in der Tat etwas Entscheidendes nicht wissen; allerdings betrifft diese fehlende Information nicht den Gegenstand, auf den das Prädikat angewendet werden soll, sondern den Verlauf der von dem Prädikat gezogenen Grenzen. Diese sind nämlich scharf, allerdings kennen wir den Grenzverlauf nicht (und können dies auch nicht), so dass der (irrige) Eindruck entsteht, das Prädikat grenze Extension und Antiextension nicht scharf voneinander ab. 17 Vgl. Sorensen (2001), Kap. 1. Die logisch zentrale Frage wäre dann, ob das semantische Bivalenzprinzip sowie der logische Satz des ausgeschlossenen Dritten auch für eine Proposition „g ist F“ gelten, wenn g ein Grenzfall für „F“ ist.
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heit folgt daraus, dass man vor Eintritt der Dämmerung kehren darf, und daß man dies nicht mehr darf nach Sonnenaufgang. Ob aber der Tag mit der Dämmerung oder mit dem Eintritt der Tageshelle oder mit Sonnenaufgang anbricht, darüber konnten drei Instanzen uneins werden. Der unbestimmte Begriff hat also ganz gewiß zwei Grenzen, aber auch die Lage dieser Grenzen ist wieder unbestimmt. Eine badische Verordnung vom 25. Januar 1908 verbietet das Zusammenreisen von Zigeunern in ,Horden‘; wie viele Menschen zu einer Horde gehören, sagt die Verordnung nicht; sie läßt es bei dem unbestimmten Begriffe bewenden. Trotzdem ist soviel sicher, daß ein Zigeuner nie, daß 50 Zigeuner immer eine Horde bilden. Zwischen diesen Zahlen liegen die beiden Grenzen notwendig. Wer gibt sie aber zahlenmäßig an?“ 18
Der unbestimmte, das heißt vage Rechtsbegriff ist nach Jellinek nicht nur durch Grenzfälle charakterisiert; die Grenzen zwischen positiven beziehungsweise negativen Fällen und Grenzfällen verlaufen selbst wiederum fließend, weshalb sich die Menge der Dinge, auf welche der betreffende unbestimmte Rechtsbegriff sinnvoll anwendbar ist, nicht in drei säuberlich getrennte Teilmengen (Extension, Antiextension, unklare Fälle), das heißt so aufteilen lässt, dass die Schnittmenge zwischen je zwei Teilmengen leer ist. Da der Grenzverlauf zwischen Extension und unklaren Fällen selbst unklar ist, sind Fälle denkbar, bei denen man nicht zu sagen weiß, ob sie noch Grenzfälle sind oder sie nicht doch schon in die Extension des Begriffes gehören. Jellineks Konzeption des unbestimmten Rechtsbegriffes umfasst also auch Grenzfälle von Grenzfällen, und damit das, was in der zeitgenössischen Diskussion als „Vagheit höherer Stufe“ bezeichnet wird. Beide Einsichten Jellineks – das Zulassen von Grenzfällen als definierendes Merkmal der unbestimmten Rechtsbegriffe und deren höherstufige Vagheit – sind in der deutschsprachigen Rechtsphilosophie wieder verloren gegangen. Seine Unterscheidung von positiver, negativer und neutraler Extension wurde durch Hecks19 Metapher von Begriffskern und Begriffshof verdrängt (die sich als 18 Jellinek (1913), S. 37. Am Rande sei erwähnt, dass das von Jellinek am Beispiel der „Horde“ aufgezeigte Problem immer noch virulent ist: Im Strafrecht etwa besteht Uneinigkeit darüber, wie viele Mitglieder eine Verbindung von Personen aufweisen muss, um als „Bande“, „kriminelle“ oder „terroristische Vereinigung“ zu gelten. Im Versammlungsrecht ist umstritten, aus wie vielen Menschen eine Ansammlung mindestens bestehen muss, um sich als „Versammlung“ zu qualifizieren, die dem grundrechtlichen Schutz aus Art. 8 Abs. 1 GG unterliegt. (Für diesen Hinweis danke ich meinem Kollegen Sebastian Bramorski.) 19 „Die Mehrzahl der ins Auge fallenden Gebotslücken beruht genetisch auf Anschauungslücken. Die Fülle des Lebens, und, zumal bei einer Kodifikation, das Ineinandergreifen der geplanten Rechtsnormen lassen sich nicht übersehen. Daneben stehen aber die großen Schwierigkeiten der begrifflichen Redaktion. Namentlich ist hervorzuheben, daß die Mehrdeutigkeit der verwendbaren Worte notwendig eine Unbestimmtheit der Gesetzesgebote zur Folge hat. Mit verschwindender Ausnahme ist jedes Wort mehrdeutig. Ein sicherer Bedeutungskern ist von einem allmählich verschwindenden Bedeutungshof umgeben. Diese Unbestimmtheit verhindert schon für den Gesetzgeber die Bildung von Gebotsvorstellungen, welche für alle Anwendungsfälle bestimmte Ergebnisse liefern, und macht es eventuell dem Richter unmöglich, solche Vorstellungen, wenn sie
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Rede von „core“ und „penumbra“ auch bei Russell sowie bei Hart findet20). Jellineks wichtige Idee der unscharfen Binnengrenzen wiederum wurde selbst von Koch, der als einer der wenigen deutschsprachigen Juristen die Diskussion innerhalb der Philosophie zum Thema „Vagheit“ intensiv rezipiert hat, ohne stichhaltigen Grund abgelehnt.21 Unbestimmte Rechtsbegriffe sind nun keine exotische Erscheinung, die man aufgrund ihrer Seltenheit als interessante, aber für den juristischen Alltag belanglose Orchideen abtun könnte, im Gegenteil: Unbestimmte Rechtsbegriffe sind eher die Regel als die Ausnahme. Beispiele für sie gibt es reichlich: „Gefahr im Verzug“ (§ 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG), „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ (§ 15 Abs. 1 VersG), das „Wohl des Bundes oder eines Landes“ (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 29 Abs. 2 VwVfG), das „öffentliche Interesse“ (§ 28 Abs. 2 Nr. 1, § 48 Abs. 2 Satz 1 u. Abs. 3 Satz 1 VwVfG), das „Wohl der Allgemeinheit“ (§ 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB), das „körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen“ (§ 7 Satz 1 JuSchG), die „öffentlichen und privaten Belange“ (§ 1 Abs. 7 BauGB), „schwere Nachteile für das Gemeinwohl“ (§ 60 Abs. 1 Satz 2 VwVfG), die „verfassungsmäßige Ordnung“ (Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG), „unbillige Härte“ (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO), der „erforderliche Schutz gegen Störmaßnahmen‘ “ (§ 7 Abs. 2 Nr. 5 AtG), die „erforderliche Sachkenntnis“ (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 BtMG), „(Un)Zuverlässigkeit“ (§ 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GastG), „unsittliche Medien“ (§ 18 Abs. 1 Satz 2 JuSchG) etc.22 Unbestimmte Rechtsbegriffe treten aber bekanntlich nicht nur im Verwaltungsrecht, sondern auch im Zivil- und Strafrecht auf, zum Beispiel „Sittenwidrigkeit“ (§ 138 BGB) oder „gefährliches Werkzeug“ (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Angesichts der Anzahl dieser Begriffe sowie des Gewichts der mit ihnen verbundenen Probleme ist es „[u]mso überraschender [. . .], dass sich nur selten brauchbare Begriffsbestimmungen finden. Zumeist wird der Begriffsinhalt nicht in Gestalt einer Definition, sondern anhand von Beispielen und Verwendungsgründen erläutert.“ 23 Insgesamt scheint mir in der Debatte um unbestimmte Rechtsbegriffe noch einiges im Argen zu liegen: Obwohl die Diskussion über ein Jahrhundert zurückreicht, ist nicht erkennbar – zumindest nicht bei Sichtung der einschlägigen Litevorhanden waren, zu erkennen.“ Heck (1914), S. 173. Auf die Vermengung von Vagheit („Unbestimmtheit“) mit Mehrdeutigkeit und Generalität soll im folgenden Kapitel eingegangen werden. Die drei sprachlichen Phänomene können und müssen unterschieden werden, wenn Vagheit begrifflich präzise erfasst werden soll. 20 Vgl. Russell (1923), S. 87; Hart (1958), S. 607. Diese Redeweise ist aus zwei Gründen unglücklich: Zum einen unterschlägt sie, dass zu den klaren Fällen auch diejenigen Fälle zählen, die klarerweise zur Antiextension des unbestimmten Rechtsbegriffes gehören. Zum anderen sieht sie für die Antiextension keine Stelle vor. 21 Vgl. Koch (1978), S. 33–40. 22 Liste aus Jestaedt (2010), Rn. 23. 23 Ebd.
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ratur –, dass man sich über eine Definition des Begriffs unbestimmter Rechtsbegriff verständigt hätte. Mehr noch, es ist nicht einmal klar, ob mit „unbestimmter Rechtsbegriff“ bloß Lexeme, oder doch Begriffe gemeint sind. Dies zeigt sich etwa daran, dass bisweilen auch Adverbien wie „unverzüglich“ oder „häufig“ als Begriffe bezeichnet werden, obwohl sie für sich genommen gar keine Begriffe ausdrücken (das tun nur Prädikate). Angesichts dieses konzeptionellen Chaos’ überrascht es nicht, dass in der hiesigen Rechtswissenschaft eine prinzipiengeleitete Unterscheidung verschiedener sprachlicher Unbestimmtheitsarten eher selten anzutreffen ist.24 Etwas spitz könnte man sagen, dass jedes Wort, das in einer Norm irgendwie Verständnis- beziehungsweise Subsumtionsprobleme bereitet, in die geräumige Schublade der „unbestimmten Rechtsbegriffe“ einsortiert wird. Es nimmt daher nicht wunder, dass in dieser Nacht der Begriffe alle Katzen grau sind und die gängige Reaktion im Verweis auf die rechtstheoretische Plattitüde besteht, man müsse in solchen Fällen eben „auslegen“ und dann „eine Entscheidung treffen“. Abhilfe könnten die Erkenntnisse schaffen, die Logik und Sprachphilosophie in den letzten Jahrzehnten über semantische Vagheit und ähnliche Phänomene sprachlicher Unbestimmtheit gewonnen haben. Leider muss man jedoch konstatieren, dass die internationale Forschung zu Vagheit beziehungsweise Vagheit im Recht selbst in neueren rechtswissenschaftlichen und rechtstheoretischen Darstellungen aus dem deutschen Sprachraum, in denen ein Hinweis auf sie am Platze gewesen wäre, keine oder zumindest keine tiefen Spuren hinterlassen hat.25 Das ist bedauerlich, weil sich mithilfe der von Logik und Sprachphilosophie erzielten Ergebnisse vielleicht eine Theorie des unbestimmten Rechtsbegriffes entwickeln ließe, von der man sich zweierlei erhoffen dürfte: zum einen eine präzisere Fassung der mit dieser Art Rechtsbegriff verbundenen Probleme, und zum anderen zumindest Hinweise darauf, wie eine adäquate Strategie zum vernünftigen Umgang mit semantischen Unbestimmtheiten im Recht aussehen könnte.26 Nachholbedarf besteht jedoch auch auf Seiten der Philosophie: Die Vielzahl dessen, was in der rechtsphilosophischen Debatte als „das“ Problem von „vagueness in law“ behandelt wird, könnte geradezu den Eindruck hervorrufen, es bestehe gar keine Einigkeit darüber, was denn nun genau das Problematische an Vagheit in Gesetzestexten sei. Nach Endicott etwa gibt Vagheit im Recht Anlass zu Rechtsunsicherheit: Der Normenadressat weiß nicht, was von ihm verlangt wird und welche Ansprüche er selbst geltend machen kann.27 Nach Sorensen 24
Eine Ausnahme bildet bspw. Poscher (2012). Vgl. beispielsweise Maurer (2006), Rüthers (2008), Röhl/Röhl (2008). Eine Ausnahme bildet auch hier Poscher (2011). 26 Eine Anmerkung zur Terminologie: Wenn ich im Folgenden den Ausdruck „unbestimmter Rechtsbegriff“ gebrauche, dann meine ich damit nicht Begriffe, sondern die Prädikate, durch welche die jeweiligen Begriffe ausgedrückt werden. 27 Vgl. Endicott (2003). 25
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stellt Vagheit im Recht den Richter vor das Dilemma, entweder nicht zu entscheiden und damit seine Amtspflichten zu verletzen, oder eine Entscheidung zu treffen, die nicht mehr auf dem Boden des (vagen) Gesetzes steht, dies aber wider besseres Wissen öffentlich zu behaupten und dadurch gegen seine moralische Pflicht zur Redlichkeit zu verstoßen.28 Jónsson wiederum sieht durch Vagheit das Funktionieren eines Rechtssystems überhaupt gefährdet, weil vage Ausdrücke empfänglich für Sorites-Argumentationen seien und es gestatten würden, die grundlegende Unterscheidung in rechtskonform und rechtswidrig mit (scheinbar) guten logischen Gründen zu unterlaufen.29 Uneinigkeit scheint ferner darüber zu bestehen, als wie gravierend die durch Vagheit im Recht hervorgerufenen Probleme einzustufen sind. Endicott etwa – wie vor ihm schon Waldron30 – hält sie für durchaus beherrschbar, während Sorensen der Meinung ist, dass sich das von ihm gesehene Dilemma nicht auflösen lässt.31 Für die Philosophie könnte die eingehendere Beschäftigung mit Vagheit im Recht aber noch aus folgendem Grund interessant sein: Im Zuge der philosophischen Debatte entstand etwa ein halbes Dutzend Theoriefamilien, die darum konkurrieren, als korrekte Theorie semantischer Vagheit akzeptiert zu werden. Bislang ist nicht ersichtlich, dass eine Theorie oder wenigstens Theoriefamilie dabei wäre, sich gegen die anderen durchzusetzen. Es erstaunt deshalb, dass die Kandidatinnen bislang noch nicht systematisch daraufhin untersucht wurden, was sie zum vernünftigen Umgang mit Vagheit in außerphilosophischen Bereichen, wie beispielsweise dem Recht oder auch der Medizin, beitragen können. Eine Theorie nämlich, die verlangt, als korrekte Vagheitstheorie akzeptiert zu werden, die jedoch auf einem oder gar mehreren Anwendungsfeldern versagt, steht unter größerem Rechtfertigungsdruck als ihre erfolgreichere Konkurrentin. Die vorliegende Arbeit setzt sich zwei Ziele: Zum einen möchte sie das Problem der semantischen Vagheit im Recht philosophisch aufklären. Im Fokus steht dabei die Rechtsanwendung durch Verwaltung und Gerichte, da Rechtsetzung unter eigenen nicht-rechtlichen (politischen) Bedingungen operiert. Zum anderen möchte sie prüfen, ob philosophische Vagheitstheorien bei der Problemlösung im Recht hilfreich sind.32 Dieser Aufgabenstellung gemäß wird im folgenden Ka28 Sorensen (2001), S. 391: „Because I think Isenberg’s definition of lying is correct [sc. A lie is a statement made by one who does not believe it with the intention that someone else shall be led to believe it], I think judges lie whenever they render a verdict about a case they believe to be absolutely borderline.“ 29 Vgl. Jónsson (2009). 30 Vgl. Waldron (1994). 31 Vgl. Sorensen (2001). 32 Die Fokussierung dieser Arbeit auf Probleme, mit denen Vagheit im Recht eventuell einhergeht, soll natürlich nicht besagen, dass Vagheit im Recht nicht auch Vorteile haben kann. Endicott etwa hat argumentiert, dass Vagheit im Recht unter Gesichtspunkten von Flexibilität und Praktikabilität der Anwendung von Rechtsnormen wünschens-
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pitel zunächst das Phänomen der Vagheit vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Forschungsstandes in der Philosophie erörtert, um dann im zweiten Kapitel die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme schärfer herauszuarbeiten. Anschließend werden einige prominente Vagheitstheorien daraufhin befragt, was sie zur Entschärfung oder Lösung der identifizierten Problematik beitragen können.
B. Vagheit In diesem Kapitel soll ein Überblick über den Stand der philosophischen Untersuchung von semantischer Vagheit gegeben werden, allerdings mit folgender Einschränkung: Ziel ist nicht die detaillierte Darstellung der Probleme und Resultate dieses Forschungszweiges, sondern die Entfaltung der Thematik im Hinblick auf das rechtsphilosophische Interesse dieser Arbeit. Ferner wird sich die Untersuchung auf Prädikatsvagheit konzentrieren, die Vagheit von singulären Termini jedoch nur streifen und die Vagheit von Propositionen gar nicht behandeln. Dies geschieht nicht nur aus Gründen der Arbeitsökonomie:33 Erstens soll hier die juristische Rede von unbestimmten Rechtsbegriffen beim Wort genommen werden, weshalb nur Ausdrücke in Betracht kommen, die auch Begriffe ausdrücken, also Prädikate. Zweitens sind Eigennamen (und äquivalente Ausdrücke) in Rechtsnormen aufgrund des rechtsstaatlichen Verbotes der Einzelfallgesetzgebung eher selten anzutreffen, deutlich seltener jedenfalls als vage Prädikate. Dies gilt auch dann, wenn jede Rechtsnorm implizit den Eigennamen desjenigen Landes enthalten sollte, in dem sie gilt.34 Überdies bereiten singuläre Termini, wie ein Blick etwa in Urteile und einschlägige Kommentarliteratur zeigt, der Rechtsanwendung faktisch keine Schwierigkeiten –
wert oder gar unerlässlich ist, während Waldron darauf aufmerksam gemacht hat, dass dem Zweck des Rechts manchmal besser damit gedient ist, den Bürger darüber im Unklaren zu lassen, wie weit er gehen kann, bevor sein Verhalten etwa die Grenze zur Strafbarkeit überschreitet („,How close can I get to coercing a woman before it counts as rape?‘ ,How active does my assistance in a person’s death have to be before it counts as murder?‘ ,How much may I mislead a business partner before it counts as fraud?‘“ Waldron (1994), S. 535.) Die (angeblichen) Vorzüge von Vagheit sollen hier nicht behandelt werden, weil das Ziel dieser Arbeit nicht in einer Beurteilung des Wertes oder Unwertes von Vagheit im Recht besteht, sondern in der Herausarbeitung der – unleugbar – mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme und der Beantwortung der Frage, ob Logik und Sprachphilosophie ein Gegenmittel bereithalten. Für die Vorteile von Vagheit im Recht vgl. Endicott (2003), ferner auch sein (2005), sowie sein (2011). 33 Dass in der Diskussion tatsächlich nicht nur von vagen Prädikaten, sondern auch von vagen Eigennamen und Propositionen gesprochen wird – vgl. etwa Hyde (2008) – ist unglücklich, da dies zu einem transkategorialen Vagheitsbegriff verführen könnte, der wichtige Unterschiede verwischt. Diesem Gedanken, den ich Markus Stepanians verdanke, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. 34 Auf die Möglichkeit impliziter Eigennamen hat mich Markus Stepanians aufmerksam gemacht.
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oder sie tun dies zumindest in weit geringerem Maße als vage Prädikate.35 Drittens erscheint es unnötig, die Vagheit von Propositionen gesondert zu untersuchen, wenn man sich, wie es in dieser Arbeit geschehen soll, auf semantische Vagheit beschränken und die Möglichkeit ausklammern möchte, dass eine Proposition bedingt durch die ontische Vagheit eines Bezugsgegenstandes vage ist: Dass eine Proposition vage ist, bedeutet dann, dass aus semantischen Gründen unklar bleibt, welcher Wahrheitswert ihr zukommt. In vielen, wenn nicht gar allen Fällen wird diese semantisch bedingte Unklarheit aber von den semantischen Eigenschaften der verwendeten singulären Termini, Prädikate oder Operatoren herrühren. Die Behandlung der Vagheit von Propositionen wäre dann redundant. Hinzu kommt, dass sich hinter der „Vagheit“ einer Proposition noch andere Unbestimmtheitsphänomene verbergen können, beispielsweise Porosität. Vagheit von Propositionen zu behandeln hieße also, eine Vogelperspektive einzunehmen, von deren Höhe herab man die wichtigen Details nicht mehr wahrnimmt. In einem ersten Schritt (I.) sollen einige wichtige Unterscheidungen eingeführt werden. Daran schließt sich eine genauere Betrachtung (II.) von Vagheit höherer Stufe und (III.) des Sorites-Paradoxons an. Mithilfe der gewonnenen Unterscheidungen und Präzisierungen soll anschließend (IV.) semantische Vagheit von verwandten oder zumindest ähnlichen Erscheinungen abgehoben werden. (V.) Schließlich wird in einem kurzen Vorgriff auf das nachfolgende Kapitel skizziert, worin die Relevanz des Phänomens semantischer Vagheit für das Recht besteht. I. Vagheit von Prädikaten Die Vagheit eines Prädikates wie, um zwei klassische Beispiele anzuführen, „ist ein Haufen“ oder „ist kahlköpfig“ besteht darin, dass es Grenzfälle zulässt: Es gibt Gegenstände, auf die das Prädikat zutrifft, Gegenstände, auf dies es nicht zutrifft, und schließlich auch solche Gegenstände, bei denen kompetente und in relevanter Hinsicht informierte Sprecher unsicher sind, was sie sagen sollen. Diese Gegenstände sind Grenzfälle, „borderline cases“, für die Anwendung des betreffenden Prädikates.36 Provisorisch lässt sich der Begriff des vagen Prädika35 Wenn man einmal von Fragen wie der absieht, ob die Präambel verbindlicher Bestandteil des Grundgesetzes ist. 36 Vgl. anstatt vieler das in der Einleitung angeführte Zitat von Grice (1989). Die Definition von semantischer Vagheit über das Zulassen von Grenzfällen geht historisch vermutlich auf C. S. Peirce zurück: „A proposition is vague when there are possible states of things concerning which it is intrinsically uncertain whether, had they been contemplated by the speaker, he would have regarded them as excluded or allowed by the proposition. By intrinsically uncertain we mean not uncertain in consequence of any ignorance of the interpreter, but because the speaker’s habits of language were indeterminate; so that one day he would regard the proposition as excluding, another as admitting, those states of things.“ Peirce (1960), S. 748. Für die Rechtsphilosophie vgl. Waldron (1994), S. 513. Die Definition von Vagheit durch Rekurs auf die Dispositionen kompetenter Sprecher ist wichtig, um epistemische Theorien von Vagheit, die, wie ihr
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tes also über das Zulassen von Grenzfällen und die damit verbundene Unschlüssigkeit von Sprechern definieren.37 „Provisorisch“ weil diese Definition ohne weitere Bestimmung nicht ausreicht, Vagheit von anderen Unbestimmtheitsphänomenen wie Ambiguität, Porosität, und lückenhaftem Definitionsbereich zu unterscheiden.38 Mit „Grenzfall“ sind dabei ausschließlich hartnäckige oder absolute – man sollte vielleicht besser sagen: echte – Grenzfälle (im Unterschied zu bloß vorläufigen oder relativen Grenzfällen) gemeint, die sich ihren problematischen Charakter nicht durch ein Mehr an Information nehmen lassen.39 Die Definition von „semantischer Vagheit“ vermittels „Zulassen von Grenzfällen“ hat in der zeitgenössischen Philosophie mittlerweile den Status eines Standards erlangt. Insbesondere für die rechtsphilosophische Beschäftigung mit dem Phänomen ist sie attraktiv, da sich mit ihrer Hilfe zwanglos die Situation abbilden lässt, in der sich Verwaltung oder Gerichte befinden, wenn sie unschlüssig sind, ob der ihnen vorgelegte Fall unter eine (vage) Norm fällt, der zu entscheidende Fall also einen semantisch bedingten „hard case“ darstellt. Allerdings wird die Standard-Definition nicht von allen Philosophen akzeptiert. Graff etwa hat im Anschluss an Sainsbury folgenden Einwand erhoben: „[I]f one thinks that a predicate has borderline cases just in case there’s a gap between its extension and its anti-extension (or between its ,definite‘ extension and its ,definite‘ anti-extension), then it can seem that a predicate could have borderline cases even if the extent of that gap were perfectly precise, or even known. But then if having borderline cases were all there was to vagueness, there would be no obvious connection between vagueness and the sorites paradox. (Why would we be inclined
Name erkennen lässt, in semantischer Vagheit ein Artefakt der begrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit sehen, nicht von vornherein auszuschließen. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn Grenzfälle so definiert würden, dass „x ist F“ weder wahr noch falsch ist. Epistemische Vagheitstheorien behaupten nämlich, dass „x ist F“ sehr wohl genau einer der zwei klassischen Wahrheitswerte wahr oder falsch zukommt, wir dies aber nicht wissen können. 37 Vgl. dazu Crispin Wrights „quandary view“, „that the root characterization of indeterminacy will be by reference to ignorance – to the idea, as a starting characterization, of cases where we do not know, do not know how we might come to know, and can produce no reason for thinking that there is any way of coming to know what to say or think, or who has the better of a difference of opinion.“ Wright (2001), S. 71. Vgl. auch Wright (2003). 38 Keefe (2000), S. 6, führt den Begriff des vage Prädikates anhand dreier Eigenschaften ein: Haben von Grenzfällen, Mangel an scharfer Grenze (zwischen positiver und negativer Extension), Empfänglichkeit für das Sorites-Paradoxon. Diese Bestimmung ist jedoch nicht unproblematisch, da eventuell nicht alle vagen Prädikate auch soritisch sind. Dazu siehe unten. 39 Vgl. Hyde (2008), S. 22 et passim; Sorensen (2001), S. 393, spricht von „absoluten Grenzfällen“: „only the possession of absolute borderline cases makes a term vague. An individual x is an absolute borderline F if, and only if, x is borderline given any means of answering ,Is x an F?‘ No absolute borderline case is a relative borderline case. For a relative borderline case does yield to inquiry given some answering resource or other. Absolute borderline cases are impervious to all methods of inquiry.“
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Graffs Einwand berührt zwei wichtige Fragen, die als in der philosophischen Diskussion noch nicht abschließend geklärt angesehen werden müssen: Was unterscheidet Grenzfälle von bloßen Definitionslücken, und wie verhält sich das Zulassen von Grenzfällen zu dem Phänomen der kontinuierlichen, abgrenzungslosen Übergänge, das mit dem Sorites-Paradoxon verbunden ist und das zu sein scheint, was wir auch alltagssprachlich mit Vagheit assoziieren? Wir werden darauf zurückkommen. Zuvor ist es jedoch sinnvoll, einige Unterscheidungen einzuführen, die in der philosophischen Untersuchung von semantischer Vagheit eine wichtige Rolle spielen. 1. Anwendungsvagheit und Individuationsvagheit Die Unterscheidung zwischen Anwendungsvagheit („vagueness of application“) und Individuationsvagheit („vagueness of individuation“) geht terminologisch auf Alston zurück, findet sich der Sache nach jedoch bereits bei Quine:41 „Insofar as it is left unsettled how far down the spectrum toward yellow or up toward blue a thing can be and still count as green, ,green‘ is vague. [. . .] Insofar as it is left unsettled how far from the summit of Mount Rainier one can be and still count as on Mount Rainier, ,Mount Rainier‘ is vague. Thus vagueness affects not only general terms but singular terms as well. A singular term naming a physical object can be vague in point of the boundaries of that object in space-time, while a general term can be vague in point of the marginal hangers-on of its extension. Commonly a general term true of physical objects will be vague in two ways: as to the several boundaries of all its objects and as to the inclusion or exclusion of marginal objects. Thus take the general term ,mountain‘: it is vague on the score of how much terrain to reckon into each of the indisputable mountains, and it is vague on the score of what lesser eminences to count as mountains at all.“ 42
„Anwendungsvagheit“ meint die in Grenzfällen auftretende Unklarheit, ob ein Prädikat anwendbar ist. „Anwendbar“ ist dabei mehrdeutig: „AnwendbarS“ im Sinne von „sinnvoll prädizierbar“ bedeutet, dass „F“ von a sinnvoll ausgesagt werden kann, so dass „a ist F“ ein sinnvoller – wenn auch vielleicht falscher – Satz ist. „AnwendbarW“ im Sinne von „wahr prädizierbar“ bedeutet, dass „a ist F“ ein wahrer Satz ist. Falls nicht ausdrücklich vermerkt ist „Anwendungsvagheit“ im Folgenden immer als „AnwendungsvagheitW“ zu verstehen. Die unter
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Graff (2000), S. 48. Alston (1967), S. 220. Quine (1960), S. 126.
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B.I.2. behandelten Arten von Prädikatsvagheit sind Unterarten von Alstons Anwendungsvagheit. „Individuationsvagheit“ hingegen findet sich an solchen Ausdrücken, bei denen unklar ist, wo die Grenzen ihrer Denotate (Individuationsvagheit von singulären Termini) beziehungsweise wo die Grenzen derjenigen Dinge, die zu ihrer Extension gehören (Individuationsvagheit von Prädikaten), verlaufen. Bezüglich Quines Einschränkung auf raum-zeitliche Grenzen wäre zu bedenken, dass, wie bereits in der Einleitung erwähnt, auch Eigennamen für beispielsweise Gruppen von Menschen vage sein können, insofern bei einigen Personen unklar ist, ob sie Mitglieder der betreffenden Gruppe sind, wobei Mitgliedschaft unabhängig von raum-zeitlicher Distanz sein kann.43 Die Unterscheidung in Anwendungsvagheit und Individuationsvagheit wirft mindestens zwei Fragen auf: Meint „Vagheit“ in beiden Fällen dieselbe Sache – und wie kann es sein, dass generelle Termini beide Arten von Vagheit aufweisen können? Einigen Philosophen wird es merkwürdig erscheinen, dass sich Individuationsvagheit an, semantisch betrachtet, sehr unterschiedlichen Ausdrücken finden soll. Diese Philosophen könnten etwa argumentieren, dass semantische Anwendungsvagheit von Prädikaten in deren Fregeschen Sinnen angelegt ist. Nun haben individuationsvage singuläre Termini keine solchen Fregeschen Sinne, eben weil sie singuläre Termini sind. Individuationsvagheit kann deshalb nicht in Fregeschen Sinnen lokalisiert sein. Dies könnte man als Grund dafür sehen, Anwendungsund Individuationsvagheit für verschiedene Phänomene zu halten, die unglücklicherweise beide „Vagheit“ genannt werden. (Alternativ könnte man die Individuationsvagheit von singulären Termini und die Individuationsvagheit von generellen Termini für verschiedene Phänomene halten, die unglücklicherweise beide „Individuationsvagheit“ genannt werden.) Diesen Philosophen muss man zugeben, dass sie eine richtige Beobachtung gemacht haben, der man Rechnung tragen sollte, wenn man die unbesehene Einführung eines transkategorialen Vagheitsbegriffs vermeiden will. In beiden Fällen von „Vagheit“ zu sprechen scheint tatsächlich stipulativ zu sein. Allerdings hat diese Stipulation einen Grund in der Sache: In beiden Fällen hat man es mit
43 Alston spricht von „vagueness of individuation“, weil diese Art von Vagheit, zumindest sofern sie mit generellen Termini einhergeht, auch die Frage nach der Anzahl von Instanzen aufwirft: „Granted that the term applies, how many instances of its denotation are there in a given situation? When do we have one such-and-such, as contrasted with two or more? [. . .] How much of a depression must there be between two peaks before they can be said to make up two mountains?“ Alston (1967), S. 220. Quine (1960), S. 126, spricht von „indeterminacy of count: it is not clear when to declare a saddle to be in the middle of one mountain and when between two mountains. The issue makes all the difference between one mountain and two.“
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semantisch bedingten unscharfen Grenzen zu tun – zwischen Extension und Antiextension, zwischen Objekten aus der Extension und dem, was nicht mehr „Teil dieser Objekte ist“, beziehungsweise zwischen einem Objekt aus der Extension und dem, was nicht mehr „zum Objekt gehört“. Ob man an der Rede von „Individuationsvagheit“, die sowohl an generellen als auch an singulären Termini auftreten soll, Anstoß nimmt, wird davon abhängen, ob man die Ähnlichkeit zwischen diesen Arten von unscharfer Begrenzung hinreichend groß findet, um sie als „semantische Vagheit“ zu rubrizieren. Die Lösung des Rätsel wiederum, dass generelle Termini sowohl anwendungsals auch individuationsvage sein können, liegt vermutlich in dem doppelten Gebrauch, den man von ihnen machen kann: Es scheint nämlich, dass Anwendungsvagheit und Individuationsvagheit in Abhängigkeit von Unterschieden im Gebrauch von Ausdrücken vorkommen – also abhängig davon, ob man mit einem Ausdruck einordnet oder abgrenzt, ihn prädikativ oder „delimitierend“ gebraucht. Zu sagen, die Zugspitze sei ein Berg, bedeutet zu sagen, das Prädikat „ist ein Berg“ treffe auf die Zugspitze zu, diese gehöre also zur Klasse der Berge. Nun gibt es auch Landerhebungen, bei denen unklar ist, ob man sie als „Berg“ bezeichnen, sie in die Klasse der Berge einsortieren kann. Diese Landerhebungen sind Grenzfälle für die Anwendung von „Berg“ und erweisen „Berg“ als anwendungsvage. „Dieser Berg da“ oder „Zugspitze“ heben hingegen eine Landerhebung aus ihrer Umgebung heraus. Der Ausdruck „Berg“ wird hier nicht als Prädikat gebraucht – und er lässt im Unklaren, wo die Grenzen zwischen der bezeichneten Landerhebung und ihrem Umland verläuft. (Zur Verdeutlichung betrachte man folgende zwei Normen aus einer fiktiven Nationalparkverordnung: „Auf der Zugspitze ist das Sammeln von Pflanzen und Tieren verboten [sc. im Umland aber erlaubt]“ und „Auf Bergen im Nationalparkgebiet ist das Sammeln von Pflanzen und Tieren verboten [sc. im Umland aber erlaubt]“.) Die betreffenden Ausdrücke, „Berg“ und „Zugspitze“, sind in derartigen Fällen somit individuationsvage. Zahlreiche generelle Ausdrücke wie „Berg“, „Stuhl“ oder „Katze“ können nun sowohl prädikativ als auch delimitierend gebraucht werden und in diesem Sinne beide Arten von Vagheit aufweisen. Da singuläre Termini hingegen zwar delimitierenden, nicht aber prädikativen Gebrauch zulassen, können sie nicht anwendungsvage, sondern nur individuationsvage sein. Am Rande sei bemerkt, dass zwischen Individuations- und Anwendungsvagheit folgender Zusammenhang zu bestehen scheint: Wenn der singuläre Terminus „i“ individuationsvage ist, dann ist das Prädikat „ist Teil von i“ anwendungsvage. Ist „i“ nämlich individuationsvage, dann hebt es sein Denotat nicht scharf aus seiner Umgebung hervor, grenzt es also nicht scharf gegen seine Umgebung ab. Das bedeutet, dass bei einigen x unklar sein wird, ob sie zu i gehören oder nicht. Es ist bei ihnen also aus Gründen der Semantik von „i“ unklar, ob „ist Teil von i“ auf sie zutrifft. Diese Fälle sind somit Grenzfälle von „ist Teil von i“ und dieses Prädikat ist daher definitionsgemäß anwendungsvage.
B. Vagheit
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2. Graduelle und kombinatorische Vagheit Wichtig ist ferner eine Unterscheidung, die anscheinend auf Alston zurückgeht, nämlich die in graduelle Vagheit („degree vagueness“) und kombinatorische Vagheit („combinatory vagueness“) bei denen es sich um zwei Arten von Anwendungsvagheit handelt.44 „Graduelle Vagheit“ bezeichnet diejenige Art von Prädikatsvagheit, welche in der Unklarheit darüber besteht, wie viel von einem Quantum ein a mindestens aufweisen muss oder höchstens aufweisen darf, um (noch) F zu sein: Die Prädikate „ist ein Haufen“, „ist kahlköpfig“, „ist reich“ oder „ist rot“ beispielsweise sind graduell vage, weil unklar ist, wie viele Körner eine Getreideansammlung mindestens haben muss, damit das Prädikat „ist ein Haufen“ auf sie zutrifft, wie viele Haare jemand höchstens haben darf, um noch als kahlköpfig durchzugehen, oder bei welcher Wellenlänge von Licht der Bereich von Rot endet und der von Gelb beginnt. Auf den Skalen „Körneranzahl“, „Anzahl von Haupthaaren“ und „Lichtwellenlängen“ lässt sich kein scharfer Schnitt derart setzen, dass mit ihm die Grenze zwischen F- und Nicht-F-Fällen eingetragen wäre. „Kombinatorische Vagheit“ bezeichnet diejenige Art von Anwendungsvagheit, die vorliegt, wenn für das Zutreffen von „F“ auf a nicht eine, sondern eine Mehrzahl an Bedingungen erfüllt sein muss, jedoch nicht klar ist, welche Bedingungen notwendig und hinreichend dafür sind, dass „F“ auf a zutrifft.45 Alstons Beispiel ist „Religion“: Zu den Eigenschaften, die etwas aufweisen muss, um als Religion zu gelten, gehören unter anderem der Glaube an übernatürliche höhere Wesen, die Kommunikation mit diesen Wesen vermittels Gebeten oder Ähnlichem, eine als von diesen Wesen sanktioniert gedachte Ethik, eine Weltanschauung sowie die Ausrichtung der gesamten eigenen Lebensführung an dieser Weltanschauung, die Auszeichnung gewisser Gegenstände als heilig usw. Prototypische Religionen wären etwa der Römische Katholizismus und der Islam. Jedoch wird auch der Theravada-Buddhismus für gewöhnlich als Religion klassifiziert, obwohl er keine Götter kennt, und auch der Quäkerbewegung wird ihr Religions-Charakter nicht abgesprochen, obwohl es in ihr keine Rituale gibt:46 44
Vgl. Alston (1967), S. 219 f. Vgl. Alston (1967), S. 219. Ein interessanter Sonderfall, auf den Moore (1980– 1981), S. 194, hingewiesen hat, besteht darin, dass nicht klar ist, ob etwas überhaupt zu den Anwendbarkeitsbedingungen eines Ausdrucks gehört. 46 Alston hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine Mehrzahl von Anwendbarkeitsbedingungen für die kombinatorische Vagheit eines Prädikates zwar notwendig, jedoch nicht hinreichend ist: In der euklidischen Geometrie ist der Begriff des Quadrates definiert als Rechteck, dessen Seiten gleiche Länge haben. Das Prädikat „ist ein (euklidisches) Quadrat“ trifft demnach genau dann auf eine Figur zu, wenn ihre vier Seiten in rechten Winkeln zueinander stehen und alle Seiten gleich lang sind. Für die Anwendbarkeit von „ist ein (euklidisches) Quadrat“ besteht also eine Mehrzahl an Bedingungen (ist eine Figur, hat vier Seiten, alle Seiten sind gleich lang). Dennoch ist dieses Prädikat nicht vage: Jede geometrische Figur fällt entweder unter den Begriff des euklidischen 45
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat „With ,religion‘ it seems clear that the combination of all the features listed above would be sufficient to guarantee application of the term. But what feature, or combination thereof, is necessary? And is any subset of the features sufficient? There do not seem to be definite answers to these questions. [. . .] In such cases we have a variety of conditions, all of which have something to do with the application of the term, yet are not able to make any sharp discriminations between those combinations of conditions which are, and those which are not, sufficient and/or necessary for application. There will be certain combinations [. . .] in which we get uncertainties and disagreements among fluent speakers as to whether the word is applicable.“ 47
Alstons Begriff von kombinatorischer Vagheit weist, wie Alston selbst hervorgehoben hat, eine gewisse Ähnlichkeit zu Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit auf. Familienähnlichkeitstermini wie etwa „Spiel“ sind dadurch gekennzeichnet, dass es für ihre Anwendung keinen Zug gibt, den alle und nur Spiele gemeinsam hätten.48 Das Verhältnis zwischen kombinatorischer Vagheit und Familienähnlichkeit wurde von Alston nicht abschließend geklärt; allerdings gibt es, so Alston, Gründe für die Annahme, dass man beide Phänomene voneinander unterscheiden sollte:49 Es ist möglich, dass ein Familienähnlichkeitsterminus auf alles anwendbar ist, was irgendeine Teilmenge der Bedingungen {b1, . . ., bn} erfüllt, wobei diese Bedingungen so geartet sind, dass sie keine Grenzfälle zulassen. Dieser Terminus wäre dann nicht kombinatorisch vage. Umgekehrt ist aber vermutlich jedes kombinatorisch vage Prädikat ein Familienähnlichkeitsterminus: Angenommen, „K“ sei ein kombinatorisch vages Prädikat, jedoch kein Familienähnlichkeitsterminus. Nun gibt es für die Anwendung eines Ausdruckes „F“ entweder einen gemeinsamen Zug, den alle und nur die F-Dinge gemeinsam haben, oder es gibt einen solchen gemeinsamen Zug nicht. Im ersten Fall ist „F“ kein Familienähnlichkeitsterminus, im zweiten Fall hingegen schon. Da nun „K“ kein Familienähnlichkeitsterminus ist, gibt es für seine Anwendung einen gemeinsamen Zug; „K“ trifft also nur auf das zu, was dieses gemeinsame Merkmal m aufweist. Das Haben dieses Merkmales m wäre die notwendige und hinreichende Bedingung für die Anwendbarkeit von „K“. Nun gehört aber zur Definition kombinatorischer Vagheit, dass sich die notwendigen und hinreichenden Bedingungen Quadrates oder sie tut dies nicht. Dass eventuell unklar ist, ob die in der Geometriestunde an die Tafel gezeichnete Figur die Definition von „Quadrat“ erfüllt, liegt nicht an der Semantik des Prädikates „ist ein (euklidisches) Quadrat“ – dieses erlaubt kein Mehr oder Minder an Rechtwinkligkeit oder an Gleichheit der Seitenlängen –, sondern am Unvermögen, mit beliebiger Genauigkeit zu messen, oder auch an der Tatsache, dass die gezeichnete Figur nicht scharf gegen ihre Umgebung abgegrenzt ist, so dass unklar bleibt, wo mit dem Messen zu beginnen beziehungsweise zu enden wäre. 47 Alston (1967), S. 219. 48 Wittgenstein (1984) [= PU], §§ 66 ff. 49 Alston (1967), S. 220: „Whenever a term exhibits combinatory vagueness there will presumably be a family resemblance between the things to which it more or less clearly applies. Nevertheless the two concepts are not identical. There could be a ,family resemblance‘ term with respect to which there is no indeterminacy of application, though this possibility may never be actually realized.“
B. Vagheit
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für die Anwendung von „K“ nicht angeben lassen. „K“ erfüllt damit nicht die Definition von kombinatorischer Vagheit und wäre folglich entgegen der Annahme nicht kombinatorisch vage. Es scheint also, dass jedes kombinatorisch vage Prädikat auch ein Familienähnlichkeitsterminus ist, nicht aber umgekehrt. Die Klasse der kombinatorisch vagen Prädikate wäre somit eine echte Teilklasse der Familienähnlichkeitstermini. 3. Extensionale und intensionale Vagheit Die Termini „extensionale“ und „intensionale Vagheit“ wurden vermutlich von Rudolf Carnap geprägt, verdanken ihre Rolle in der neueren Vagheitsdiskussion jedoch Kit Fine:50 „Extensional vagueness is deficiency of extension, intensional vagueness deficiency of intension. Moreover, if intension is the possibility of extension, then intensional vagueness is the possibility of extensional vagueness. Turn to the clear case of the predicate. A predicate F is extensionally vague if it has borderline cases, intensionally vague if it could have borderline cases. Thus ,bald‘ is extensionally vague, I presume, and remains intensionally vague in a world of hairy or hairless men.“ 51
Extensionale Vagheit liegt vor, wenn für die Anwendung eines Prädikates mindestens ein Grenzfall bereits aufgetreten ist. Intensionale Vagheit ist dann gegeben, wenn Grenzfälle zumindest möglich sind. Wenn ein Prädikat vage ist, dann ist es mindestens intensional vage. Die Gegenbegriffe wären „extensionale“ und „notwendige Präzision“:52 Extensional präzise ist ein Prädikat „F“ genau dann, wenn Grenzfälle für die Anwendung von „F“ noch nicht aufgetreten sind. Intensional beziehungsweise notwendig präzise ist ein Prädikat „F“ genau dann, wenn Grenzfälle für „F“ unmöglich sind. Wenn im Folgenden gesagt wird, es „gebe“ Grenzfälle für ein Prädikat, oder dieses „habe“ Grenzfälle, dann ist damit gemeint, solche Grenzfälle seien logisch möglich – es sei denn, es ist ausdrücklich von extensionaler Vagheit die Rede. Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich semantische Vagheit in Anwendungs- und Individuationsvagheit unterteilen lässt. Bei Alston fallen Anwendungsvagheit und die Vagheit von Prädikaten zusammen. Individuationsvagheit kann sowohl an generellen als auch an singulären Termini auftreten Die Vagheit von Prädikaten unterteilt sich in graduelle und kombinatorische Vagheit, von denen beide sowohl extensional als auch intensional sein können.53 50 Vgl. Carnap (1955). Auf die Rolle Carnaps hat mich Tim Schöne aufmerksam gemacht. 51 Fine (1975), S. 266. 52 Vgl. Hyde (2008), S. 3. 53 Ein alternativer Vorschlag zur Klassifikation von Vagheit stammt von Burks (1946): Er unterscheidet quantitative von qualitativer Vagheit. „Quantitative Vagheit“ meint die begrenzte Genauigkeit (und damit Ungenauigkeit) von Messungen: Die
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II. Höherstufige Vagheit Angesichts der beachtlichen Zahl an Beiträgen, die sich im Rahmen der philosophischen Erforschung von semantischer Vagheit mit sogenannter „höherstufiger Vagheit“, „higher-order vagueness“, befassen, sollte man erwarten, dass die beteiligten Philosophen mit „höherstufiger Vagheit“ dieselbe Sache bezeichnen. Das ist jedoch nicht der Fall, was Wright zu der spitzen Bemerkung veranlasst hat, zwar seien Philosophen innerhalb gewisser (wenn auch von Humpty Dumpty missachteter) Grenzen frei, mit ihren Ausdrücken zu meinen, was immer sie wollten. „But the fact is that at least three distinct putative phenomena have been earmarked by it in the literature, without – perhaps – all of those who have so earmarked them being clear that their discussions concerned potentially different things“ 54 Wright unterscheidet drei Bedeutungen von „höherstufige Vagheit“:55 (a) Die Bereichsgrenzen zwischen Grenzfällen (Grenzfälle erster Stufe) und denjenigen Fällen, auf die das vage Prädikat „F“ (nicht) zutrifft, sind selbst unscharf, insofern Fälle möglich sind, bei denen unklar ist, ob sie in den Bereich der (nicht) F-Fälle oder den der Grenzfälle gehören. Diese Fälle sind Grenzfälle zweiter Stufe. Auch die Bereichsgrenzen zwischen (nicht) F-Fällen und Grenzfällen zweiter Stufe sind wiederum unscharf, insofern Fälle möglich sind, bei denen unklar ist, ob sie in den Bereich derjenigen Fälle gehöLänge einer Tischkante wird mit einem Instrument gemessen, das Ergebnisse bis auf einen Tausendstel Meter angibt. Das Resultat der Messung wird mit 1,414m festgehalten. Ein bis auf Zehntausendstel Meter genaues Instrument hätte aber als Ergebnis 1,4143m geliefert und ein auf Hunderttausendstel Meter genaues Instrument 1,41437m. Die Angabe der Tischkantenlänge mit 1,414m ist quantitativ vage. „Qualitativ-linear vage“ sind Ausdrücke, die metrisch nicht skalierbare Eigenschaften, beispielsweise Farben, bezeichnen, deren Instanzen jedoch linear geordnet werden können (z. B. Farbmuster geordnet von Rot nach Gelb). „Qualitativ nicht-linear vage“ sind Ausdrücke, die metrisch nicht skalierbare Eigenschaften bezeichnen, deren Instanzen auch nicht linear geordnet werden können. Burks Beispiel ist „chair“ (verwendet als Bezeichnung einer Eigenschaft). Jede lineare Anordnung von „chair“ nach „non-chair“ sei arbiträr, weil nicht klar wäre, welche Eigenschaften etwas aufweisen müsse (beziehungsweise in welchem Maße es diese Eigenschaften aufweisen müsse), um in der Anordnung weiter links zu stehen als ein Vergleichsobjekt. Burks Einteilung ist jedoch aus zwei Gründen unglücklich. Zum einen ist quantitative Vagheit kein Fall von semantischer Vagheit. Zum anderen scheint Burks Typologie nicht alle Arten semantischer Vagheit zu erfassen, und zwar überraschenderweise selbst triviale Beispiele nicht. Wie steht es mit dem Prädikat „ist kahlköpfig“? Es ist nicht qualitativ vage, da es sich auf eine metrisch skalierbare Eigenschaft bezieht (und qualitative Vagheit metrische Skalierbarkeit ausschließt), nämlich die Anzahl von Haupthaaren. Es ist aber auch nicht quantitativ vage, da es kein Messergebnis ausdrückt und folglich auch kein unpräzises Messergebnis. 54 Wright (2010), S. 527. 55 Wright (2010), S. 528. Nach Raffman wird auch die generische Vagheit der Metasprache, in der eine Theorie semantischer Vagheit formuliert wird, als höherstufige Vagheit bezeichnet, wenn es sich bei dieser Metasprache um eine natürliche Sprache handelt. „For example, perhaps vagueness is defined in terms of a certain kind of context-relativity. The word ,context‘ is probably vague.“ Raffman (2010), S. 509 Fn. 1.
B. Vagheit
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ren, auf die „F“ (nicht) zutrifft, oder in den Bereich der Grenzfälle zweiter Stufe. Diese Fälle sind Grenzfälle dritter Stufe. Und so weiter zu beliebiger Stufe. (b) Das Prädikat „ist vage“ ist selbst vage. Es sind also Prädikate möglich, bei denen unklar ist, ob sie vage oder präzise sind. (c) Der Operator „Definitely“, der es erlaubt, Grenzfälle von „F“ zu charakterisieren (Fälle, die weder Def F noch Def Nicht-F sind), „ineluctably gives rise to a hierarchy of new, pairwise inequivalent vague expressions, ,Definitely F‘, ,Definitely Definitely F‘ and the like“. Nach Wright sind die Zusammenhänge zwischen diesen drei verschiedenen Konzeptionen von höherstufiger Vagheit noch nicht endgültig geklärt. Zumindest sei (b) offensichtlich von (a) und (c) unabhängig, insofern man nicht nur (b) und (a) zusammen vertreten könne, sondern auch (b) und (c). Auf die damit zusammenhängenden Fragen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Ich werde mich auf die Behandlung von (a) und (b) beschränken, da diese für das Recht von besonderer Bedeutung sind. Höherstufige Vagheit im Sinne von (c) soll in dieser Arbeit überhaupt nicht und (a) erst im folgenden Abschnitt über das Sorites-Paradoxon besprochen werden. Zunächst aber zu (b). Viele Prädikate sind vage. Man muss jedoch annehmen, dass es auch Prädikate gibt (solche zumindest möglich sind), die nicht vage sind. Nehmen wir folgende These: (G) Alle Prädikate sind vage.
Wäre (G) wahr, dann gäbe es nur vage Prädikate, aber keine präzisen Prädikate und auch keine Grenzfälle von vagen Prädikaten, also keine Prädikate, bei denen unklar ist, ob sie vage oder präzise sind. Gibt es aber keine Grenzfälle von vagen Prädikaten, dann wäre das Prädikat „ist vage“ (im Sinne von „ist ein vages Prädikat“) präzise. Ist „ist vage“ jedoch präzise, dann ist (G) falsch.56 Dass nicht alle Prädikate vage sind, heißt natürlich nicht, dass die anderen präzise sind (auch wenn es offenkundig präzise Prädikate gibt, beispielsweise „ist eine Zahl > 2“). Und tatsächlich haben einige Prädikate die interessante Eigenschaft, Grenzfälle für „ist ein vages Prädikat“ (ab sofort kurz „ist vage“ oder auch „vage“) zu sein. Das bedeutet, dass bei ihnen unklar ist, ob sie vage sind oder nicht. Mit einem Wort: „Vage“ ist vage. Den Nachweis dafür hat Sorensen geführt:57 Das von ihm entwickelte Argument für die These macht Gebrauch von den künstlichen Prädikaten „ist 1-klein“, „ist 2-klein“, „ist 3-klein“ . . ., deren Anwendungsbereich positive ganze Zahlen sind. Das Prädikat „ist n-klein“ trifft auf
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Sorensen (2010), S. 404 f. Sorensen (1985).
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eine positive ganze Zahl i genau dann zu, wenn i entweder selbst klein oder i < n ist. Nun ist beispielsweise das Prädikat „ist 1-klein“ vage: Es ist auf die Zahl 0 anwendbar, da 0 < 1; es ist auf die Zahl 1010 nicht anwendbar, da 1010 weder < 1 noch selbst klein ist58; und es gibt ferner eine unbestimmte Anzahl von positiven ganzen Zahlen, bei denen unklar ist, ob sie 1-klein sind, weil sie größer als 1 sind, bei ihnen aber wegen der Vagheit von „ist klein“ unklar ist, ob sie selbst klein sind: Es ist also klar, dass sie die erste Bedingung dafür, 1-klein zu sein, nicht erfüllen, und es ist unklar, ob sie zumindest die zweite Bedingung dafür, 1-klein zu sein, erfüllen. Es ist also unklar, ob sie 1-klein sind oder nicht. Folglich sind sie Grenzfälle für das Prädikat „ist 1-klein“. Gemäß der Definition von semantischer Vagheit ist „ist 1-klein“ somit vage. Das Prädikat „ist 1010-klein“ hingegen ist nicht vage: Es trifft auf alle positiven ganzen Zahlen < 1010 zu und auf alle positiven ganzen Zahlen 1010 nicht zu, da diese weder kleiner als 1010 noch selbst klein sind. Diese Überlegungen lassen sich verallgemeinern: Wenn die positive ganze Zahl n klein ist, dann ist das Prädikat „ist n-klein“ auf alle positiven ganzen Zahlen < n anwendbar; von den positiven ganzen Zahlen n ist „ist n-klein“ auf diejenigen Zahlen nicht anwendbar, die nicht klein sind; bei den übrigen ist seine Anwendbarkeit unklar. Dies sind die Grenzfälle von „ist n-klein“. Ist n jedoch nicht klein, dann fällt der Bereich der Grenzfälle offensichtlich weg; „ist n-klein“ ist dann nur auf die Zahlen < n anwendbar. Es gilt also: „ist n-klein“ hat Grenzfälle genau dann, wenn n klein ist. Also ist „ist n-klein“ vage genau dann, wenn n klein ist. Wenn also unklar ist, ob n klein ist, dann ist auch unklar, ob „ist nklein“ vage ist. Das bedeutet: Einige Prädikate des Typs „ist n-klein“ sind vage (diejenigen, bei denen n klein ist), andere sind es nicht (diejenigen, bei denen n nicht klein ist) und bei einigen ist dies unklar (diejenigen, bei denen unklar ist, ob n klein ist). Dies sind Grenzfälle des Prädikates „ist vage“. Folglich ist das Prädikat „ist vage“ selbst vage. Tye hat diese Konklusion mit der Begründung zurückgewiesen, Sorensens Argument sei fehlerhaft.59 Es zeige lediglich, dass „ist vage“ vagerweise vage („vaguely vague“) sei. Tye argumentiert folgendermaßen: Angenommen, Sorensens Argument ist formal korrekt und folgende Annahmen sind wahr: (1) „Ist ein vages Prädikat“ ist selbst ein vages Prädikat. (2) „,F‘ ist ein vages Prädikat“ ist analysierbar als „,F‘ hat Grenzfälle“.
Dann ergibt sich: (3) „Ist ein vages Prädikat“ hat Grenzfälle.
58 Vorausgesetzt, man akzeptiert 1010 als Zahl, die klarerweise nicht klein ist. Andernfalls wähle man eine Zahl, die man für einen klaren Fall von „ist nicht klein“ hält. 59 Tye (1994).
B. Vagheit
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Aus (3) zusammen mit dem gewöhnlichen Verständnis von „Grenzfall“ erhält man: (4) Es gibt mindestens ein Prädikat „P“, von dem unklar ist, ob „ist ein vages Prädikat“ auf es zutrifft.
„Ist ein vages Prädikat“ trifft auf „P“ genau dann zu, wenn „P“ vage ist. Damit erhält man aus (4): (5) Es gibt mindestens ein Prädikat „P“, von dem unklar ist, ob es vage ist.
Aus (5) und (3) ergibt sich somit: (6) Es gibt mindestens ein Prädikat „P“, von dem unklar ist, ob es Grenzfälle hat.
Prädikate wie „P“ bezeichnet Tye als „vaguely vague“: „[V]agueley vague predicates are such that it is indeterminate whether they have any border cases. By contrast, vague predicates have border cases and higher-order vague predicates (if any there be) have border border cases. Formally, the difference is of the sort exhibited in the following sentences: where ,r‘ abbreviates the operator ,it is indeterminate whether‘, ,r(9xFx‘ as compared with ,
9xrFx‘ and ,
9xrrFx‘. [. . .] [O]nce the vaguely vage is admitted, Sorensens argument becomes suspect. For vaguely vague predicates admit of sorites sequences just like the one Sorensen generates for ,vague‘ [. . .]. So, an alternative explanation of the Sorensen sequence for ,vague‘ is that ,vague‘ is vaguely vague. So, if Sorensen’s argument is sound, then we may reasonably deny that his argument is sound. So, we may reasonably deny that Sorensen’s argument is sound.“ 60
„Ist vage“ ist also Tye zufolge nicht vage, sondern vagerweise vage, vorausgesetzt, „,P‘ ist vagerweise vage“ impliziert nicht „,P‘ ist vage“. Nach Hyde ist das jedoch der Fall:61 Angenommen, das Prädikat „ist vage“ ist vagerweise vage. Dann ist es gemäß Tyes Definition von „vagerweise vage“ unbestimmt, ob „ist vage“ Grenzfälle hat. Also ist es unbestimmt, ob „ist vage“ vage ist, und mithin, ob „ist vage“ auf das Prädikat „ist vage“ angewandt werden kann. Wenn es aber unbestimmt ist, ob „ist vage“ auf das Prädikat „ist vage“ angewandt werden kann, dann ist „ist vage“ ein Grenzfall von „ist vage“. Mit der Definition von Vagheit über das Zulassen von Grenzfällen ergibt sich somit, dass „ist vage“ vage ist.62 Wenn aber „ist vage“ vage ist, dann ist „ist vage“ nicht vagerweise vage, das 60
Tye (1994), S. 44 f. Fn. 2 und Fließtext. Hyde (2003), Hyde (2008), S. 29 f. 62 Hyde (2008), S. 29, präsentiert noch ein zweites, voraussetzungsreicheres Argument: „Alternatively, we can argue as follows. Supposing that the predicate ,vague‘ is vaguely vague, we can infer that it is therefore vague whether ,vague‘ is vague and subsequently enquire after the source of this vagueness. If ,vague‘ were not vague, then neither the subject term nor predicate of the sentence ,vague‘ is ,vague‘ would be vague; each would be precise, and so, given the Inheritance of Precision [sc. If all the constituent phrases of a complex phrase are precise, then the complex phrase is precise], it would follow that the sentence was not vague, contrary to our assumption. Consequently it must be the case that ,vague‘ is vague.“ 61
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heißt „ist vage“ ist vage und es ist nicht unbestimmt, ob „ist vage“ vage ist. Ist „ist vage“ also vagerweise vage, dann ist „ist vage“ nicht vagerweise vage und Tyes Position demnach inkonsistent.63 Die Vagheit von „ist vage“ hat eine Reihe von interessanten Konsequenzen. Erstens: Unger und Wheeler haben die These vertreten, vage Prädikate ließen keinen konsistenten Gebrauch zu (seien „incoherent“).64 Nun verwendet diese These aber das vage Prädikat „ist vage“ oder ein damit äquivalentes Prädikat („Grenzfall zulassendes Prädikat“, „nicht-präzises Prädikat“ etc.), das ebenfalls vage sein muss, da es sich sonst nicht anstelle von „ist vage“ gebrauchen ließe. Folglich kann die These, vage Prädikate ließen keinen konsistenten Gebrauch zu, selbst nicht konsistent vertreten werden. Entsprechendes gilt auch für jedes Argument, das sich für die These der „incoherence“ vager Prädikate anführen ließe: Jedes derartige Argument würde das Prädikat „ist vage“ oder ein synonymes, also gleichfalls vages Prädikat verwenden. Folglich wäre jedes Argument für die incoherence-These ebenfalls „incoherent“.65 Ferner haben Unger und Wheeler die Auffassung vertreten, die Extension vager Prädikate sei leer. Da alle unsere Prädikate für alltägliche Dinge wie Tische, Häuser, Bäume etc. vage seien, hätten auch diese Prädikate leere Extensionen. Folglich gebe es keine alltäglichen Dinge. Wenn nun die These von der leeren Extension vager Prädikate zuträfe, dann hätte das Prädikat „ist vage“ ebenfalls eine leere Extension. Folglich gäbe es keine vagen Prädikate. Dieses Resultat widerspricht aber der Behauptung von Unger und Wheeler, es gäbe vage Prädikate, nämlich Prädikate für Alltagsdinge.66 Eine zweite bemerkenswerte Konsequenz der Vagheit von „ist vage“ ist nach Sorensen folgende: Man nehme das – laut Sorensen auf Frege und Russell zurückgehende – Prinzip, die klassische Logik sei auf vage Prädikate und Sätze, die sie verwenden, nicht anwendbar. Dieses Prinzip soll zulässigen von unzulässigem Gebrauch der klassischen Logik abgrenzen, indem ihre Anwendung auf nicht-vage Prädikate und Sätze eingeschränkt wird. Ist, fragt Sorensen, die klassische Logik auf dieses Restriktionsprinzip anwendbar? Man sei nun einerseits versucht, aus dem Prinzip zu deduzieren, dass sie nicht auf es anwendbar ist, denn der Satz, die klassische Logik sei nur auf nicht-vage Prädikate anwendbar, ver-
63 Vgl. ebd. Für die Diskussion um Vagheit höherer Stufe vgl. ferner Varzi (2003) (Sorensens Argument ist zirkulär, da es die Existenz von Grenzfällen von Grenzfällen nicht beweist, sondern voraussetzt); Hyde (2003) (contra Varzi 2003). 64 Sympathien für diese These hegten laut Sorensen Rolf, Quine und Dummett; Nachweise bei Sorensen (1985), S. 135 Fn. 1. Für Unger und Wheeler: Unger (1979), Wheeler (1979). 65 Sorensen (1985), S. 136. 66 Ebd.
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wendet selbst ein vages Prädikat.67 Diese Deduktion setze jedoch andererseits die Anwendung der klassischen Logik voraus.68 Nun lässt sich, so Sorensen, aus der Menge aller Prädikate nicht die Teilmenge aller nicht-vagen Prädikate aussondern, denn es gibt Grenzfälle von nicht-vagen Prädikaten, wie auch von klarerweise nicht-vagen Prädikaten und klarerweise klarerweise nicht-vagen Prädikaten usw., da Prädikate der Form „ist klarerweise . . . (nicht) vage“ wegen der Vagheit von „vage“ selbst vage sind. Das aber bedeutet, dass das Restriktionsprinzip nicht restringiert, denn es beschränkt die Anwendung der Logik auf den Bezirk nichtvager Prädikate, der jedoch, mit Frege gesprochen, „stellenweise ganz verschwimmend in seine Umgebung übergeht“.69 Drittens: Prädikate der Form „ist (k)ein vages Prädikat“, „ist klarerweise (k)ein vages Prädikat“ etc. sind wie gesagt selbst vage Prädikate. Folglich lassen sich ihre Extensionen nicht vollständig bestimmen, denn für einige Prädikate ist unklar, ob sie zu der Extension des jeweiligen Prädikates gehören. Dieses Resultat hat für natürliche Sprachen eine wichtige Konsequenz: Man muss auf jeder beliebigen Stufe von „Klarheit“ (Anzahl der Iterationen von „klarerweise“) nicht nur mit vagen und präzisen Prädikaten rechnen, sondern auch mit solchen, bei denen unklar ist, ob sie vage oder präzise Prädikate sind. Man kann dem Problem des Auftretens vager Prädikate also nicht dadurch Herr werden, dass man alle und nur die präzisen Prädikate im Lexikon der Sprache belässt und im Falle des Auftretens von Grenzfällen auf der Stufenleiter der Klarheit einfach eine Sprosse höher steigt – mit anderen Worten nur die klarerweise präzisen (klarerweise klarerweise präzisen, . . .) Prädikate im Lexikon belässt. Vielleicht lässt sich so die extensionale Vagheit der Prädikate „ist ein präzises Prädikat“, „ist klarerweise ein präzises Prädikat“ etc. in den Griff bekommen, weil beispielsweise „ist klarerweise ein präzises Prädikat“ für die faktisch im Lexikon der Sprache vorhandenen Prädikate extensional präzise ist und also alle tatsächlich vorkommenden Prädikate entweder zur Extension oder zur Antiextension dieses Prädikates gehören. Jedoch bleiben auf jeder Stufe Grenzfälle für das betreffende Prädikat möglich (intensionale Vagheit), was im Falle der Erweiterung des Lexikons um neue Prädikate dann eventuell zum erneuten Auftreten extensionaler Vagheit führt. Eine Strategie semantischer Generalreinigung im Anschluss an Quine geht also, wenn sie aufgeht, nur vorläufig auf, weil sie bestenfalls extensionale Präzision herstellen kann, nicht jedoch notwendige Präzision.70 Die Flucht auf der Leiter nach oben zu immer höheren Stufen der Klarheit löst das Problem nicht, sondern wiederholt es in infinitum. 67 Wenn „vage“ vage ist, dann auch alle komplexen Prädikate, von denen „vage“ eine Komponente ist. 68 Ebd. 69 Frege (1962), § 56. 70 Vgl. Quine (1981): Die Entfernung vager Termini soll uns die „sweet simplicity“ der klassischen Logik erhalten.
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III. Das Sorites-Paradoxon Für die Logik ist das Phänomen semantischer Vagheit aus mindestens zwei Gründen interessant: Zum einen werfen Grenzfälle für die Anwendung vager Prädikate die Frage auf, ob die klassische Logik modifiziert werden muss. So scheint etwa das Prinzip der Bivalenz, dass jede sinnvolle Proposition entweder wahr oder falsch ist, im Falle von „g ist F“ verletzt zu sein, wenn „g“ einen Grenzfall für die Anwendung des vagen Prädikates „ist F“ bezeichnet. Zum anderen besteht eine – bislang noch nicht endgültig geklärte – Verbindung zwischen semantischer Vagheit und dem Sorites-Paradoxon71, das sich seit der Antike allen Lösungsversuchen – anscheinend – erfolgreich widersetzt hat.72 Als Erfinder (oder Entdecker?) des Paradoxons gilt der Megariker Eubulides von Milet; allerdings lässt sich heute aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht mehr sagen, ob und welche systematischen Interessen er damit verfolgt hat.73 Bedeutung erlangte das Paradoxon jedenfalls erst, als die skeptische Mittlere Akademie (Karneades) sowie die Pyrrhonische Skepsis es gegen Wissensansprüche der „Dogmatiker“, das heißt der Stoiker, in Stellung brachten. Dieser Polemik verdankt sich nicht nur die erste systematische Untersuchung des Sorites durch die Stoa, sondern auch der erste Ansatz zu einer Theorie semantischer Vagheit, der, zumindest nach Williamson, eine gewisse Ähnlichkeit mit der heute sogenannten epistemischen Theorie aufweist.74 Der Gebrauch des Sorites für polemische Zwecke blieb jedoch nicht auf den Bereich von Logik und Erkenntnistheorie beschränkt. Galen (2. Jh.) berichtet, dass nun ausgerechnet die „Dogmatische“ Ärzteschule auf das Paradoxon zurückgegriffen habe, um den Ansatz der konkurrierenden Empirischen Ärzteschule zu diskreditieren. Deren Anhänger vertraten die Auffassung, dass die Beurteilung einer Behandlung im Hinblick auf ihre therapeutische Wirksamkeit in einer ausreichend großen Menge an Einzelfallbeobachtungen gründen und insofern erfahrungsbasiert (empirisch) sein müsse.75 Der dagegen gerichtete SoritesEinwand der dogmatischen Schule lautete: Eine Beobachtung macht noch keine Erfahrung. (Man berücksichtige, dass der mathematische Apparat der Statistik damals noch nicht zur Verfügung stand.) Zwei auch nicht. Drei ebenfalls nicht. Eine Beobachtung mehr oder weniger macht also keinen Unterschied. Entweder 71 Von soros, „Haufen“, beziehungsweise sor(e)ites logos/syllogismos, „häufelnder Schluss“, „Haufenschluss“. Ciceros lat. Übersetzung „acervalis“ hat sich nicht durchgesetzt. Sorites in umgekehrter Richtung, also Sorites durch Wegnahme (je eines Korns von einem Haufen, eines Haares von einem Haupt etc.) wird auch als falakros („kahlköpfig“) bezeichnet. Vgl. Buldt/Schmidt (1995). 72 Vgl. hierzu und im Folgenden die entsprechenden Abschnitte in Hyde (2008). 73 Einen sehr guten historischen Überblick zusammen mit einer wichtigen systematischen Untersuchung des Paradoxons gibt Barnes (1982). 74 Williamson (1994), Kap. 1. 75 Nachweise bei Barnes (1982), S. 25 ff.
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macht also keine noch so große Anzahl von Einzelfallbeobachtungen die von den empirischen Ärzten verlangte Erfahrung aus oder man muss behaupten, dass der Unterschied in einer einzigen Beobachtung besteht, was absurd wäre.76 Es gibt verschiedene Formulierungen des Paradoxons. Interessanterweise lassen sich diese Varianten nicht durch eine einzige Gegenstrategie aus der Welt schaffen, was die Suche nach einer Lösung erheblich erschwert. Während neuere Darstellungen von Konditionalsätzen oder mathematischer Induktion Gebrauch machen, bestand die klassische (antike) Form des Sorites in einer Reihe von Fragen.77 Macht ein Weizenkorn einen Haufen? Nein. Zwei Körner? Nein. Drei? Vier? Fünf? Diese, man könnte sagen, dialektische Form des Sorites sollte den Befragten in die missliche Lage bringen, entweder immer mit Nein zu antworten, und zwar auch dann, wenn dies offenkundig absurd ist (Machen 1.000.000 Körner einen Haufen?), oder sich auf die nicht weniger absurde Behauptung festlegen zu müssen, dass ein einziges Korn mehr oder weniger für das Haufensein einer Körneransammlung den Ausschlag gab. Die – bereits in der Antike als unbefriedigend betrachtete – Gegenstrategie der Stoiker (Chrysippos) bestand darin, „die Pferde anzuhalten, bevor sie den Abgrund erreichen“, wie es der Skeptiker Karneades spöttisch ausdrückte, das heißt rechtzeitig vor Beginn der Grauzone zwischen klaren Fällen von Nichthaufen und klaren Fällen von Haufen, also noch im Bereich der klaren Fälle von Nichthaufen (!), die Antwort zu verweigern und „still zu sein“ (hêsychazein).78 Dieses Manöver bringt Chrysippos aber aus einer Reihe von Gründen nicht in eine bessere Lage: Erstens hat sein Verhalten, wie Sainsbury/Williamson anmerken, Ähnlichkeit mit einem Schachspieler, der sich in einer Partie ohne zeitliche Begrenzung einfach weigert, den nächsten Zug zu machen, um auf diese Weise eine drohende Niederlage abzuwenden. Die Kunst bestünde aber darin, das Spiel zu gewinnen, anstatt es zu sabotieren. Zweitens umweht Chrysippos’ Strategie ein Hauch von Inkonsistenz: Die Antwort noch im Bereich der klaren Fälle zu verweigern, bedeutet, einen Fall, den man als klaren Fall erkannt hat, absichtlich wie einen zweifelhaften Fall zu behandeln. Man könnte darin einen Selbstwiderspruch sehen, oder zumindest einen Fall von Unaufrichtigkeit. Drittens ist nicht klar, wo die Grenze zwischen klaren und zweifelhaften Fällen verläuft. Wäre dem so, hätte Sorites keine Kraft, denn man könnte einfach an diesem scharfen Schnittpunkt anhalten, also zum Beispiel sagen, jetzt aber würde ein Korn mehr (ein Haar weniger) für das Zutreffen von „ist ein Haufen“ („ist kahlköpfig“) einen Unterschied machen. So eine scharfe Grenze ist jedoch nirgends ersichtlich. Deshalb kann man auch nicht sagen, wie weit man noch von ihr entfernt ist. Welchen Grund kann man dann aber dafür angeben, gerade hier angehalten zu haben, und nicht einen Schritt früher oder später? 76 77 78
Ebd. Vgl. hierzu und im Folgenden Sainsbury/Williamson (1997). Diskussion dieser Strategie bei Barnes (1982).
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Viertens lässt sich das Problem nicht nur als Frage-Antwort-Spiel formulieren, sondern auch als deduktives Argument. Dann aber ist es mit bloßem Schweigen nicht getan. Wer ein Argument nicht akzeptieren möchte, muss angeben, welchen Schritt er als fehlerhaft zurückweisen möchte.79 Es gibt verschiedene deduktive Formulierungen des Haufen-Paradoxons. In allen wird aus anscheinend wahren Prämissen unter Verwendung anscheinend gültiger Schlussschemata eine offensichtlich falsche Konklusion abgeleitet. Die gängigsten Formulierungen verwenden dabei Konditionale, wobei die eleganteste das Verfahren mathematischer Induktion anwendet. Sei „n“ eine Variable für positive natürliche Zahlen, bezeichne „ai“ eine Körneransammlung aus i Körnern, stehe „f“ für „. . . Körner sind kein Haufen“, und „8n: . . . n . . .“ für „jedes n erfüllt die Bedingung . . .“ 80, dann lässt sich die induktive Variante von Sorites folgendermaßen notieren: (1) f(a2) (I) 8n: f(an) ! f(an+1) (2) 8n: f(an) ..
Die Verwendung eines allquantifizierten Konditionals ist jedoch nicht erforderlich. Man kann (I) durch beliebig viele nicht quantifizierte Konditionale (K1), . . ., (Ki) ersetzen. Die konditionale Form81 des Sorites lautet dann: (1) f(a2) (K1) f(a2) ! f(a3) ... (Ki) f(ai-1) ! f(ai) (3) f(ai) ..
In beiden Fällen stützen sich die konditionalen Prämissen auf das bereits erwähnte Prinzip, dass ein minimaler Unterschied in der Körneranzahl, etwa ein Korn mehr oder weniger, für das Haufensein von etwas keinen Unterschied macht. Im Anschluss an Wright wird dieses Prinzip „Toleranzprinzip“ (TP) genannt.82 TP stützt die Verwendung von (I) beziehungsweise von (K1), . . ., (Ki) als 79 Vgl. zu diesen vier Kritikpunkten die Diskussion bei Barnes (1982) und Sainsbury/Williamson (1997). 80 Vgl. die Notation bei Sainsbury/Williamson (1997) und bei Hyde (2011). 81 Hyde (2008), S. 10. 82 Wright spricht lediglich vom Phänomen der „tolerance“ von Prädikaten. Ein Prädikat „F“ (z. B. „Haufen“) ist tolerant genau dann, wenn die für sein Zutreffen relevante Eigenschaft (Körneranzahl) des Prädikationsgegenstandes (Körneransammlung) geringfügig verändert werden kann, ohne dass dies einen Unterschied für die gerechtfertigte Anwendbarkeit von „F“ macht. Wright (1975), S. 333 f.: „In these examples we encounter the feature of a certain tolerance in the concepts respectively involved, a notion of a degree of change too small to make any difference, as it were. There are degrees of change in point of size, maturity and colour which are insufficient to alter the
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Prämissen. Seine tragende Rolle für das Funktionieren des Paradoxons wird ersichtlich, wenn man als Prämissen die anscheinend unproblematischen Sätze „eine Ansammlung aus 2 Körnern ist kein Haufen“ und „es gibt eine Ansammlung aus n Körnern, die ein Haufen ist“ verwendet:83 (1) f(a2) (4) : 8n: f(an) (5) 9 n: f(an) ^: f(an+1) ..
(5) ist nichts anderes als die Negation von TP und besagt, dass ein Korn mehr oder weniger bisweilen doch einen Unterschied macht, dass es also einen scharfen Schnittpunkt, das heißt eine Körneranzahl n geben muss, so dass eine Ansammlung aus n Körnern noch kein Haufen ist, eine Ansammlung bestehend aus n+1 Körnern hingegen schon: (5) besagt also, dass es so etwas wie einen kleinsten Haufen gibt! Das aber scheint absurd zu sein. Aus der akzeptablen Prämisse (1) lässt sich durch Induktion oder durch wiederholte Anwendung von Modus Ponens – das heißt zwei Möglichkeiten, TP als Prämissen auszudrücken – der inakzeptable Satz (2), die Negation von (4), ableiten. Aus den akzeptablen Sätzen (1) und (4) folgt jedoch der inakzeptable Satz (5), und damit die Negation von TP. Das bedeutet: Eine Prämissenmenge, welche (1), (4) und weitere Prämissen, die TP ausdrücken, enthält, ist inkonsistent. Folglich muss mindestens eine der Prämissen als falsch oder das für die Ableitung des Widerspruches verwendete Schlussschema zurückgewiesen werden; alle Prämissen sind jedoch intuitiv äußerst plausibel und das verwendete Schlussschema, Modus Ponens, erscheint unverdächtig. Dummett hat drei Gegenstrategien erwogen, die sich auf die formalen Eigenschaften von Sorites beziehen:84 Man könnte, erstens, die Validität der Induktion dadurch bestreiten, dass man die Verwendung allquantifizierter Konditionale zurückweist. Dieser Zug ist nicht nur aus mathematischer Sicht unattraktiv, sondern auch nutzlos, weil sich allquantifizierte Konditionale durch wiederholte Anwenjustice with which some specific predicate of size, maturity or colour is applied. This is quite palpably an incoherent feature since, granted that any case to which such a predicate applies may be linked by a series of ,sufficiently small‘ changes with a case where it does not, it is inconsistent with the exclusivity of the predicate. More exactly, let be a concept related to a predicate, F, in the following way: that any case to which F applies may be transformed into a case where it does not apply simply by sufficient change in respect of ; colour, for example, is such a concept for ,red‘, size for ,heap‘, degree of maturity for ,child‘, number of hairs for ,bald‘, degree of complexity for ,memorable‘ as applied to patterns, and so on. Then F is tolerant with respect to if there is also some positive degree of change in respect of insufficient ever to affect the justice with which F is applied to a particular case.“ 83 Folgende Variante des Sorites wird in der Literatur auch „line-drawing sorites“ genannt. Man könnte jedoch darüber streiten, ob es aus historischen und sachlichen Gründen angemessen ist, dieses Argument als „Sorites“ zu bezeichnen. 84 Dummett (1975), S. 304 ff.
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dung von Modus Ponens ersetzen lassen. Man könnte deshalb, zweitens, (I) und (1) akzeptieren, aber die Validität der universellen Instanziierung (rule of universal instantiation) mindestens in der Gegenwart soritischer Prädikate bestreiten – das heißt bestreiten, dass das, was für alle x 2 M gilt, auch für jedes beliebige x aus dieser Menge gilt. Da aber universelle Instanziierung für die Bedeutung etwa des Allquantors wesentlich ist, läuft diese Strategie auf die Ablehnung der klassischen Logik hinaus. Man könnte, drittens, die Validität von Modus Ponens generell bestreiten oder zumindest seine Anwendung auf Konditionale ablehnen, die soritische Prädikate verwenden.85 Nun ist Modus Ponens aber ein zentraler Bestandteil der klassischen Logik. Seine Gültigkeit zu bestreiten bedeutet, die Gültigkeit der klassischen Logik in Abrede zu stellen, mindestens im Falle der Verwendung soritischer Prädikate. Lösungsversuche, die sich auf die Form von Sorites konzentrieren, sind also auf den ersten Blick wenig attraktiv. Anscheinend fährt man aber nicht viel besser, wenn man bei den Prämissen des Paradoxons ansetzt. Da (1) offenbar wahr ist, muss der Fehler in (I) beziehungsweise (K1), . . ., (Ki) liegen. Warum empfänden wir es jedoch als misslich zu behaupten, ein Haar weniger könne jemanden zum Glatzkopf machen, oder ein zusätzliches Korn diese Getreideansammlung da zum Haufen (und genau auf eine solche Behauptung legen wir uns fest, wenn wir eine der Prämissen zurückweisen)? Dafür gibt es vermutlich zwei Gründe: Zum einen scheinen die betreffenden Prädikate, salopp gesagt, nicht so zu funktionieren. Die Anwendbarkeit des Prädikates „ist ein Haufen“ hängt nicht von einer Mindestzahl von Körnern in geeigneter Lage ab, und die des Prädikates „ist kahlköpfig“ nicht von einer Höchstzahl von Haupthaaren pro Flächeneinheit Kopfhaut. Wir erlernen den Gebrauch dieser Prädikate nicht durch das Zählen von Haupthaaren, und wir fänden es befremdlich, wenn uns jemand, den wir fra85 Diesen Weg geht von Savigny (1991), S. 60, mit der Begründung, die Konditionale in Sorites seien bloß scheinbare: „The solution I suggest consists in denying the applicability of modus ponens to our singular if-then premises. I shall argue that, in the examples suitable for Sorites, the facts that are usually expressed by if-then sentences are relational facts in terms of predicate logic, atomic facts in terms of the propositional calculus, rather than being conditionals. The facts to be expressed are of the kind that relative to a heap of 10,000 grains, a collection of 9,999 grains is a heap; that relative to a heap of 29 grains, a collection of 28 grains is a heap; and that relative to a heap of 2 grains, 1 grain makes up a heap, too. One may even assume quite generally that relative to a heap of n grains, a collection of n–1 grains makes up a heap. No harm will result because from the facts that A is a heap, and that B is a heap relative to the heap A, all you can derive is that B is a heap relative to the heap A; what you cannot derive is that B is a heap. Therefore, even if it is true that C is a heap relative to the heap B, and that B is a heap relative to the heap A, and that A is a heap, it does not follow that C is a heap (or that C is a heap relative to the heap A).“ Soames würde sagen, dass, wenn wir akzeptiert haben, dass n Körner einen Haufen ergeben, wir uns damit auf einen Standard festgelegt haben, demzufolge auch alle in relevanter Hinsicht ähnliche Körneransammlungen ein Haufen sind, also auch eine Ansammlung aus n–1 Körnern. Vgl. dazu das Kapitel zur kontextualistischen Vagheitstheorie.
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gen, ob man den Herrn X schon als kahlköpfig ansehen müsse, antwortet, das könne er noch nicht sagen, denn dazu hätte er zuvor zu ermitteln, wie viele Haare sich auf so und so viel Quadratzentimetern Kopfhaut von Herrn X fänden. Zum anderen gibt es in einer Sorites-Reihe, deren Mitglieder sich von ihren Nachbarn jeweils nur minimal, also etwa durch ein Korn oder ein Haupthaar, unterscheiden, keine Stelle, an der sich eine Diskontinuität fände, auf die man sich zwecks Rechtfertigung einer stipulierten scharfen Prädikatgrenze berufen könnte. Jede Festsetzung einer scharfen Grenze schiene rational unterbestimmt zu sein, denn man könnte immer fragen: warum gerade hier und nicht ein Korn (Haar etc.) weiter rechts oder links? 86 Die richtige Verwendung dieser und ähnlicher Prädikate scheint die Ziehung einer scharfen Grenze zwischen Haufen und Nicht-Haufen, Glatzen und NichtGlatzen etc. auszuschließen. Man müsste eigentlich sagen, dass die richtige Verwendung dieser und ähnlicher Prädikate die Ziehung jeder scharfen Grenze ausschließt, denn wenn wir etwa einen eigenen Bereich für die Grenzfälle dieser Prädikate in der Sorites-Reihe vorsehen, dann scheint es kein letztes n zu geben, so dass an noch kein Haufen ist, an+1 hingegen der erste unklare Fall, oder aq der letzte unklare Fall und aq+1 der erste Haufen. Die Toleranz von „Haufen“ oder „kahlköpfig“ ist nur die Kehrseite dieser prima facie Nichtexistenz scharfer Grenzen, denn wenn es solche nicht gibt, dann kann man sie auch nicht überschreiten, jedenfalls nicht durch eine marginale Veränderung. Und dennoch sortieren soritische Prädikate ihren Anwendungsbereich zumindest grob, denn dass es Ansammlungen gibt, bei denen es sich eindeutig um Haufen handelt, und solche, bei denen dies klarerweise nicht der Fall ist, liegt auf der Hand. Darin liegt ja gerade das Paradoxe an Sorites: Mit seiner Hilfe lässt sich „zeigen“, dass niemand (jeder) kahlköpfig ist oder alles (nichts) ein Haufen ist, obwohl es auch die entgegengesetzten Fälle gibt. Mit einem Wort: Die betroffenen Prädikate sortieren, ohne abzugrenzen. Diese Eigenschaft von „Haufen“, „kahlköpfig“, „reich“, „rot“, „kleinwüchsig“ etc. spielt Sorites in die Hände. Damit ein Prädikat „S“ soritisch ist, das heißt die Konstruktion von SoritesArgumenten erlaubt, müssen sich die a1, . . ., an aus dem Bereich seiner sinnvollen Anwendbarkeit so in einer nur steigenden oder nur fallenden Reihe von S- nach nicht-S-Fällen anordnen lassen, dass sich angrenzende a minimal voneinander unterscheiden, ohne dass es in der Reihe eine Diskontinuität gibt, wel-
86 Natürlich könnte eine Sorites-Reihe Lücken aufweisen, weil gerade keine Haarschöpfe mit n und n+1 Haupthaaren realisiert sind. Eine solche bloß kontingente Realisierungslücke würde aber nicht ausreichen, um Sorites zu blockieren, denn sie ließe sich schließen beziehungsweise als für das Argument irrelevant übergehen. Anders steht es, wenn die Realisierungslücke notwendig wäre. Dann hätte man es in der Tat mit einer Diskontinuität zu tun, auf die man für die Stipulation scharfer Prädikatgrenzen rekurrieren könnte. Den Hinweis auf diesen Unterschied verdanke ich Rico Hauswald.
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che die, mit Wright gesprochen, „justice“ betreffen könnte, mit der „S“ angewendet oder nicht angewendet wird:87 Ein Prädikat „S“ ist soritisch bezüglich a1, . . ., an aus dem sinnvollen Anwendungsbereich von „S“ genau dann, wenn (i) a1, . . ., an in einer nur steigenden oder nur fallenden Reihe ha1, . . ., ani angeordnet werden können, so dass (ii) „a1 ist S“ wahr ist, (iii) „an ist S“ falsch ist und (iv) anscheinend gilt, dass : 9 ai 2 ha1, . . ., ani: S(ai) ^:S(ai+1), das heißt, dass „S“ bezüglich zweier angrenzender ai, ai+1 entweder auf beide oder auf keines von beiden zutrifft, ai, ai+1 bezüglich „S“ also anscheinend ununterscheidbar sind oder der Unterschied zwischen ihnen für das Zutreffen von „S“ irrelevant ist.88
Das Prädikat „Haufen“ ist vage, da es Grenzfälle von Haufen gibt, und es ist soritisch. Gleiches gilt für viele andere Prädikate. Die Frage wäre nun, ob und wie Vagheit und Soritizität eines Prädikates zusammenhängen. Dass beide Phänomene zwei Seiten derselben Medaille sind, war in der philosophischen Diskussion lange Zeit mehr oder weniger allgemein akzeptiert und dürfte auch jetzt noch die Mehrheitsmeinung repräsentieren. Die Alternative, dass es sich bei Vagheit und Soritizität um zwei verschiedene Phänomene handelt, die aber aus Gründen, die wir (noch) nicht kennen, bisweilen an ein und demselben Prädikat koinstanziiert sind, wurde, soweit ich sehe, nie konsequent durchgespielt. Warum aber – man denke an das oben angeführte Zitat von Graff-Fara – sollte uns die Tatsache, dass ein Prädikat wie „Haufen“ Grenzfälle zulässt, geneigt machen, die (Sorites-induzierende) These zu akzeptieren, dass ein Korn mehr oder weniger für das Zutreffen von „Haufen“ keinen Unterschied bedeutet? Die gängige Lösung für das Problem, eine Brücke zwischen dem Zulassen von Grenzfällen und der Soritizität eines Prädikates zu schlagen, rekurriert auf höherstufige Vagheit im Sinne von (a):89 Es gibt nicht nur Grenzfälle 1. Stufe, sondern auch Grenzfälle von Grenzfällen, Grenzfälle 2. Stufe, also Fälle, bei denen unklar ist, ob sie, wenn man die Zone der unklaren Fälle als einen eigenen Bereich analog zu Extension und Antiextension auffasst, in die (Anti-)Extension gehören oder in das Gebiet der Grenzfälle. Und es gibt nicht nur Grenzfälle von Grenzfällen, sondern auch Grenzfälle von Grenzfällen von Grenzfällen (Grenzfälle 3.
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Kriterien nach Barnes (1982), S. 31. Die Einschränkung „anscheinend“ ist wichtig, weil Vertreter der epistemischen Theorie die These zurückweisen würden, dass ai, ai+1 bezüglich „S“ tatsächlich, das heißt unabhängig von unseren epistemischen Fähigkeiten nicht oder nur unerheblich verschieden sind. Epistemizisten haben nämlich keine Schwierigkeiten mit der Annahme eines scharfen Schnittes: „ai ist S“ könnte wahr, „ai+1 ist S“ hingegen falsch sein. 89 Vgl. dazu die oben angeführte Typologie von Wright (2010). 88
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Stufe), also Fälle, bei denen unklar ist, ob sie zu den positiven (negativen) Fällen oder zu den Grenzfällen 2. Stufe gehören. Randbereichsunschärfe findet sich also nicht nur an den Rändern der Zone von Grenzfällen 1. Stufe, sondern auch an den Grenzen des Bereichs der Grenzfälle 2. Stufe. Dies wiederholt sich für Grenzfälle beliebiger Stufe. So erhält man ein Kontinuum von beliebig vielen Bereichen, die nicht scharf gegeneinander abgegrenzt sind – und auf diese Weise den gleitenden Übergang, den Sorites für sich ausbeutet.90 Der Vorschlag besteht also kurz gesagt darin, in einer Sorites-Reihe von beispielsweise Rot nach Orange zwischen den eindeutig roten und den eindeutig orangefarbenen Mustern eine Pufferzone einzurichten, die aus einer unendlichen Hierarchie von Grenzfällen besteht. In der zeitgenössischen Philosophie dürften Wright und Raffman die beiden entschiedensten Gegner des Puffer-Vorschlags sein. Raffman hat gegen ihn zwei Einwände erhoben:91 Erstens gebe es keine Grenzfälle höherer Stufe. Das mit „höherstufige Vagheit“ im Sinne von (a) bezeichnete Phänomen sei eine Illusion. Aber selbst, wenn es derartige höherstufige Vagheit gäbe, so liefere, zweitens, eine Hierarchie von Grenzfällen beliebiger Stufe noch keine unscharfen Grenzen.92 Zunächst zum zweiten Einwand. Der Rekurs auf eine Hierarchie von Grenzfällen beliebiger Stufe ist nach Raffman untauglich zur Erklärung gleitender Übergänge: Zum einen kann eine Sorites-Reihe auch aus endlich vielen Individuen bestehen, etwa einer großen, aber nicht unendlichen Anzahl von Farbmustern. Dann aber können diese Muster sich auch nicht auf beliebig viele Grenzfallstufen verteilen, sondern nur auf endlich viele. Der gleitende Übergang von F nach G in diesen endlich großen Reihen kann also nicht mithilfe einer unendlichen Hierarchie von Grenzfällen erklärt werden, denn die Reihe kann eine solche offenbar nicht enthalten.93 Zum anderen resultiert auch eine unendliche Hierarchie von Grenzfällen in scharfen Grenzen, nämlich in Grenzen zwischen den Bereichen derjenigen Individuen, auf die das betreffende Prädikat ohne jeden Zweifel zutrifft beziehungsweise derjenigen Individuen, auf die das betreffende Prädikat ohne jeden Zweifel nicht zutrifft, und dem Bereich aller anderen Fälle.94 Für den ersten Einwand, dass es keine Grenzfälle höherer Stufe gebe, hat Raffman zwei Argumente angeführt. Das erste ist folgendes: Wenn es Grenzfälle höherer Stufe von „F“ geben soll, dann müsste das Prädikat „borderline F“ („bor90
Vgl. für diese Rekonstruktion der Standard-Lösung Raffman (2010), S. 510. Vgl. ebd. 92 Auf Wrights Einwände soll hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden; vgl. dazu aber sein (2010), S. 540 ff. 93 Raffman (2005), Fn. 18. 94 Raffman (2010), S. 510. Raffman greift hier ein Argument von Richard M. Sainsbury auf. 91
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derline borderline F“ . . .) ebenso Grenzfälle zulassen wie „F“, und es müsste neben dem Bereich der F-Dinge und der Nicht-F-Dinge noch einen Bereich der borderline-(nicht-)F-Dinge (der borderline-borderline-(nicht-)F-Dinge . . .) geben – und also Dinge, die, analog zu F-Dingen, eindeutig borderline-F sind. Mit anderen Worten: borderline-F . . . zu sein ist eine Kategorie („category“) des gleichen Typs wie der, F zu sein. Dies aber widerspräche dem sprachlichen Verhalten kompetenter Sprecher: Zum einen gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass kompetente Sprecher, wenn sie etwa dazu gezwungen werden, eine Sorites-Reihe von Rot nach Orange zu durchlaufen, ein Farbmuster auf die gleiche Weise als „borderline rot“ klassifizieren wie ein anderes Muster als „rot“ oder „orange“. Zum anderen stünde es, so Raffman, im Widerspruch zu der Art und Weise, wie wir Grenzfälle charakterisieren, wenn man sie als in einen eigenen Bereich gehörend, als Exemplare einer eigenen Kategorie ansehen würde: „To put the point another way, there is nothing more to being borderline than failing to (definitely) belong either in the category f or in the category not-f. Consider how we classify items as borderline: presumably we measure them against, or judge their ,distance‘ form, the definite cases of f and not-f at the endpoints of a sorites series. But if there were definite borderline cases, surely we would classify items as borderline by judging their distance from those. (Indeed I think it is misleading to speak of being borderline as a ,category‘. Better to call it, say, a ,status‘.) My thought then is that ,borderline f‘ may not be the right sort of predicate to have borderline cases of application; it is not sufficiently centered or anchored, one might say. Thus when we talk of definite and borderline borderline cases, we are no longer treating the items in question as defined negatively, as falling within a gap. We are in effect transforming the (first-order) borderline cases into a new, non-borderline category with its own center of gravity – a full-fledged incompatible of f and not-f.“ 95
Die Annahme von Grenzfällen höherer Stufe stünde nach Raffman aber nicht nur quer zu unserer Sprachpraxis; Grenzfälle höherer Stufe sind unmöglich, da eindeutige Grenzfälle („definite borderline cases“) unmöglich sind. Ihr „Simple Argument“ dafür, von dem sie befürchtet, es sei so einfach, „that it may seem to involve some sleight of hand“, ist folgendes:96 (1) „If an item is definitely f, then failure to classify it as f is mistaken or in some way improper or at least legitimately questionable.“ (2) „Failure to classify an item as borderline y cannot be mistaken or in any way improper or even legitimately questionable. (Intuitively, one is never required to classify something as borderline; a judgement of ,borderline‘ is always optional.)“ (3) „Therefore, no item can be definitely borderline y.“ (4) „Therefore, no item can be borderline borderline y.“
95 96
Raffman (2010), S. 511. Raffman (2010), S. 513.
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Prämisse (1) stellt eine schwache Behauptung darüber auf, was es bedeutet, eindeutig f zu sein: Wenn jemand eindeutig kahlköpfig ist, dann wäre es falsch zu sagen, er sei nicht kahlköpfig, und es wäre, vorsichtig formuliert, seltsam zu sagen, es sei unklar, ob er kahlköpfig ist. Würde man dies bestreiten, so wäre nicht klar, was „eindeutig“ dann bedeuten soll. Problematischer ist vermutlich Prämisse (2), die, so Raffman, „can be found in our ordinary linguistic intuition“, zu deren Unterstützung sich jedoch auch experimentelle Befunde anführen ließen.97 So würden kompetente Sprecher beim Durchlaufen einer Sorites-Reihe oftmals selbst dann nicht die Kategorie borderline verwenden, wenn ihnen diese ausdrücklich zur Verfügung gestellt wurde. (3) ergibt sich aus (1) und (2): Wenn ein Objekt ein eindeutiger Grenzfall ist, dann wäre es ein Fehler, es anders zu klassifizieren. Letzteres ist aber nicht der Fall. Also ist kein Objekt ein eindeutiger Grenzfall. Prämisse (4) wiederum „is secured from [(3)] not merely because ,definitely f‘ and ,borderline f‘ are interdefinable, but because, as I argued above, ,borderline f‘ is defined by ,definitely f‘ in a wholly negative fashion: there is nothing more to being borderline f than failing to be either definitely f or definitely not-f. Hence, if definite borderline cases are impossible, so are borderline borderline cases.“ 98 Wenn die Einwände von Raffman (und Wright) stichhaltig sind, dann kann höherstufige Vagheit im Sinne einer unendlichen Hierarchie von Grenzfällen nicht zur Erklärung der Soritizität von Prädikaten herangezogen werden. Zwar hat Greenough versucht zu zeigen, dass alle soritischen Prädikate vage und alle vagen Prädikate soritisch sind.99 Allerdings stützt er sich nach Hyde dabei auf die nicht triviale Annahme, „that vague terms are associated with some dimension of comparison so that the assumed ,intolerance‘ is a matter of intolerance along some presumed dimension of comparison“.100 Mit anderen Worten: Er setzt voraus, dass sich für jedes vage Prädikat die Kandidaten für seine Anwendung in einer Reihe, das heißt entlang einer Dimension, anordnen lassen, ohne dass Diskontinuitäten auftreten. Bei graduell vagen Prädikaten wie „reich“ oder „schlank“ mag diese Annahme plausibel sein. Bei kombinatorisch vagen Prädikaten wie „Kindeswohl“, „sittenwidrig“ oder „Religion“ hingegen müsste man das erst zeigen.101
97
Vgl. Raffman (2010), S. 513 f. Raffman (2010), S. 514. 99 Greenough (2003). 100 Hyde (2008), S. 15, Fn. 16. 101 Vgl. hierzu auch Soames (1999), S. 217; Soames (2009), S. 343: „Although all sorites predicates are vague, not all vague predicates are natural sorites predicates, with application conditions based on the position of objects in a more or less single and unified underlying continuum.“ Nach Ben-Yami (2010), S. 231, induziert nur graduelle Vagheit das Sorites Paradoxon. 98
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Für die Zwecke dieser Untersuchung ist es nicht erforderlich, die mit Soritizität und höherstufiger Vagheit verbundenen Probleme einer abschließenden Lösung zuzuführen. Es genügt festzuhalten, dass zumindest viele vage Prädikate (vermutlich alle graduell vagen Prädikate) auch soritisch sind. Wie genau sich Vagheit und Soritizität zueinander verhalten, kann hier dahingestellt bleiben. Allerdings wird noch zu fragen sein, mit welchen Schwierigkeiten beide Phänomene für das Recht verbunden sind.102 IV. Abgrenzungen und Präzisierungen Das Prädikat „Kind“ ist mehrdeutig, denn es kann sowohl „Nachwuchs“ als auch minderjähriger (unerwachsener, unreifer) Nachwuchs“ bedeuten. Zumindest in dieser Lesart ist „Kind“ auch vage, weil es junge Menschen gibt, bei denen man unsicher wäre, ob man sie noch als Kinder ansehen sollte.103 „Kind“ ist überdies generell, da es sowohl Jungen als auch Mädchen bezeichnet.104 Alle drei Phänomene sind Arten sprachlicher Unbestimmtheit – und bei Weitem nicht die einzigen – die jedoch auseinandergehalten werden können und müssen. So lässt sich etwa die mit Mehrdeutigkeit und Generalität verbundene Unklarheit dadurch beseitigen, dass von den möglichen Bedeutungen eines Ausdrucks eine ausgewählt beziehungsweise die unklare Aussage spezifiziert wird. Der Sprecher könnte etwa betonen, er hätte „Kind“ bezüglich A verwendet um damit auszusagen, dass A noch zu unreif sei, als dass man ihn wie seinen Bruder B als jungen Erwachsenen ansehen und behandeln könne. Oder der Sprecher könnte auf Nachfrage der Jugendherberge seine Auskunft, es würden 30 Kinder übernachten, spezifizieren mit „Ach ja, und es werden 12 Jungen und 18 Mädchen sein“. Wenn jedoch A einen Grenzfall für „Kind (= unerwachsener Nachwuchs)“ darstellt, dann wird daran alles Klären und Spezifizieren nichts ändern. In diesem Abschnitt soll Prädikatsvagheit von einigen ähnlichen Phänomenen sprachlicher Unbestimmtheit abgehoben werden, nämlich (a) der Generalität beziehungsweise des Mangels an Spezifität, (b) der Unvollständigkeit (des Definitionsbereichs) von Prädikaten, (c) der Ambiguität, (d) der „Angreifbarkeit“, Gallies „contestability“, sowie (e) der Porosität von Begriffen.105 Ad (a):106 Das Prädikat „natürliche Zahl“ ist generell, da unter den Begriff der natürlichen Zahl viele verschiedene Arten von Zahlen fallen (zum Beispiel nega102 Wenn ich im Folgenden von „Sorites-Vagheit“ und „Grenzfall-Vagheit“ spreche, dann geschieht dies aus Gründen der Einfachheit und nicht zum Ausdruck einer These über die Natur oder den Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen. 103 „Unerwachsen“ bezogen auf die körperliche, geistige und charakterliche Reife eines Menschen, nicht auf eine rechtlich gezogene Altersgrenze. 104 Das Beispiel stammt von Sorensen (2001). 105 Für eine detaillierte Typologie sprachlicher Unbestimmtheitsphänomene vgl. Endicott (2003), Kap. 3. 106 Vgl. dazu Sorensen (2001), Sorensen (1998).
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tive natürliche Zahlen, positive natürliche Zahlen, Primzahlen); gleichwohl ist „natürliche Zahl“ nicht vage: Jede Zahl ist entweder eine natürliche Zahl oder sie ist es nicht. Es gibt für dieses Prädikat keine Grenzfälle. Umgekehrt ist das Prädikat „kahlköpfig“ zwar vage, aber nicht generell. Außerdem induziert graduelle Vagheit das Sorites-Paradoxon, Generalität hingegen nicht. Ferner ist „semantisch vage“ nicht gleichbedeutend mit „unspezifisch“ im Sinne von „ungenau“ beziehungsweise „zu ungenau für eine Identifizierung“: Man denke an eine Personenbeschreibung auf einem Fahndungsplakat: Die Angabe „Der Gesuchte ist zwischen 1,60 m und 2,10 m groß“ trifft vermutlich auf nahezu alle in Frage kommenden Männer zu und ist daher ungeeignet, den Gesuchten aus dieser Gruppe herauszugreifen. Dem Zweck der Personenbeschreibung wäre beispielsweise mit dem Prädikat „ist groß gewachsen“ eher gedient. Dieses Prädikat ist zwar vage, nicht jedoch unspezifisch. Ad (b): Für die begriffliche Präzisierung von „Grenzfall“ ist die Unterscheidung zwischen Vagheit und unvollständigem Definitionsbereich von Prädikaten bedeutsam. Das künstliche Prädikat „ist ein Kind*“ sei so definiert, dass es auf einen Menschen genau dann zutrifft, wenn dieser höchstens 15 Jahre alt ist, und genau dann nicht zutrifft, wenn er 17 Jahre oder älter ist.107 Thomas ist 16 Jahre alt. Ist er ein Kind*? Die richtige – und unzweifelhafte – Antwort auf diese Frage ist dieselbe wie auf die Frage: „Was ergibt 5 dividiert durch 0?“, nämlich: nicht definiert. Die „Grenzfälle“ von unvollständig definierten Prädikaten sind Definitionslücken und keine Grenzfälle, weil es sich bei ihnen nicht um unklare Fälle handelt: Es ist nämlich klar, dass Prädikate auf ein x, das nicht zu ihrem Definitionsbereich gehört, nicht anwendbar sind. Grenzfälle vager Prädikate hingegen sind solche Fälle, auf die man das Prädikat zwar anwenden könnte, bei denen jedoch unklar ist, ob man damit etwas Wahres oder Falsches sagen würde, ob also das Prädikat auf den in Rede stehenden Fall zuträfe oder nicht. Ad (c): Ambiguität, das heißt Mehrdeutigkeit, untergliedert sich in lexikalische, syntaktische, funktionale und referenzielle Ambiguität.108 Für den Zweck der Unterscheidung von Prädikatsvagheit und Ambiguität ist hauptsächlich lexikalische Ambiguität relevant.109 Diese lässt sich in Homonymie und Polysemie gliedern: 107
Vgl. Sainsbury (1996). Vgl. Pinkal (1991), Sorensen (1998). 109 Allerdings können im Recht auch syntaktische und referenzielle Ambiguität Probleme verursachen. Ein Beispiel für Erstere ist Art. 1 Sec. 8 Cl. 1 in der Verfassung der USA: „The Congress shall have power to lay and collect taxes, duties, imposts and excises, to pay the debts and provide for the common defence and general welfare of the United States [. . .].“ (Kursiv D. G.) Wird dem Kongress durch den kursiv gesetzten Teilsatz die Ermächtigung zur Gesetzgebung hinsichtlich Landesverteidigung, Wohlfahrt etc. erteilt (bezieht sich der Teilsatz also auf „power“) oder wird durch den Teilsatz die Befugnis des Kongresses, Steuern zu erheben etc. auf die im Teilsatz genannten Zwecke eingeschränkt? Der „Supreme Court“ entschied sich für die zweite Möglichkeit: United 108
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat „Homonyme sind unterschiedliche lexikalische Einheiten, die zufällig (oder aufgrund einer dem Sprecher nicht mehr gegenwärtigen etymologischen Beziehung) identische phonetische (,Homophone‘) oder orthographische (,Homographen‘) Repräsentationen haben. Beispiele sind Schloß und Bank. Polyseme sind dagegen Wörter mit mehreren verwandten Lesarten, die typischerweise durch metaphorische oder metonymische Prozesse aufeinander bezogen sind. Polysemien können idiosynkratisch sein (grün für Farbe und Reifezustand, Birne für die Frucht und die Glühbirne, etc.).“ 110
Ambiguität und Prädikatsvagheit sind verschieden lokalisiert: Ambiguität ist eine Eigenschaft an sprachlichen Ausdrücken als lautlichen oder schriftlichen Zeichen, nämlich die Eigenschaft, verschiedene unterscheidbare Bedeutungen zu haben; Prädikatsvagheit hingegen ist eine Eigenschaft von Fregeschen Sinnen von Prädikaten, nämlich die Eigenschaft, Extensionen nicht vollständig festzulegen.111 Man findet vage Prädikate, die nicht ambig sind, beispielsweise „kleine natürliche Zahl“ und ambige Ausdrücke, deren verschiedene Bedeutungen nicht vage sind. „Quadrat“ etwa bezeichnet sowohl ein Rechteck, dessen Seiten gleich lang sind und in rechten Winkeln zueinander stehen („QuadratR“), als auch das Produkt einer Zahl mit sich selbst („QuadratP“). „Quadrat“ ist ein polysemer Ausdruck. „QuadratR“ und „QuadratP“ sind jedoch nicht vage, da sie keine Grenzfälle zulassen. Ambiguität lässt sich dadurch beheben, dass der Sprecher seine Ausdrücke sozusagen mit Indizes versieht, um klarzustellen, welche der möglichen Bedeutungen er auswählen wollte (Disambiguierung). Klarstellung bezüglich des Gemeinten hilft im Falle von semantischer Vagheit jedoch nicht weiter: Alle Beteiligten können sich vollkommen klar darüber sein, dass sie jetzt über jemandes „Größe“ im Sinne von „Körpergröße“ sprechen – und sich dennoch darüber streiten, ob der Betreffende „groß(gewachsen)“ ist. Ferner lässt sich mit ambigen Ausdrücken ein sog. Zeugma-Effekt konstruieren, nicht jedoch mit semantisch vagen Ausdrücken: In dem Satz „Er nahm sich ein Glas Wein und danach das Leben“ wird „sich nehmen“ auf beide koordinierte Glieder der Konstruktion bezogen, jedoch in verschiedener Bedeutung, was eine seltsame Wirkung ergibt. „Sich nehmen“ erweist sich dadurch als mehrdeutig. Der gleiche
States v. Gettysburg Electric Railway Company (1896) 160 U.S. 668, at 681. Ein Beispiel für referenzielle Ambiguität im Recht wäre „Tierhalter“ gemäß § 833 Satz 1 BGB: „Wird durch ein Tier ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist derjenige, welcher das Tier hält, verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.“ Wer ist der Tierhalter? Derjenige, der sich das Tier zugelegt, es in seinen Haushalt aufgenommen hat – oder derjenige, der es gerade beaufsichtigt, beispielsweise der Angestellte einer Hundepension, während der Hundehalter im Ausland weilt? 110 Pinkal (1991), S. 263. 111 Man könnte sich den Unterschied auch so verdeutlichen: Bei Ambiguität ist unklar, welche Bedeutung oder Proposition ausgedrückt wurde. Bei Prädikatsvagheit ist unklar, ob „F“ auf a zutrifft beziehungsweise ob die Proposition, dass a F ist, wahr oder falsch ist.
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Effekt lässt sich mit vagen Ausdrücken nicht erzielen: „Peter ist blond und Maria auch“.112 Ad (d): Der Terminus „essentially contested concepts“ (ECC) wurde von Gallie geprägt.113 Er bezeichnet Begriffe „the proper use of which inevitably involves endless disputes about their proper uses on the part of their users“:114 „We find groups of people disagreeing about the proper use of the concepts, e. g., of art, of democracy, of the Christian tradition. When we examine the different uses of these terms and the characteristic arguments in which they figure we soon see that there is no one clearly definable general use of any of them which can be set up as the correct or standard use. Different uses of the term ,work of art‘ or ,democracy‘ or ,Christian doctrine‘ subserve different though of course not altogether unrelated functions for different schools or movements of artists and critics, for different political groups and parties, for different religious communities and sects. Now once this variety of functions is disclosed it might well be expected that the disputes in which the above mentioned concepts figure would at once come to an end. But in fact this does not happen. Each party continues to maintain that the special functions which the term ,work of art‘ or ,democracy‘ or ,Christian doctrine‘ fulfils on its behalf or on its interpretation, is the correct or proper or primary, or the only important, function which the term in question can plainly be said to fulfil. Moreover, each party continues to defend its case with what it claims to be convincing arguments, evidence and other forms of justification.“ 115
Anscheinend muss ein vages Prädikat nicht auch ein ECC sein („hellblau“, „Sandhaufen“). Gilt aber auch das Umgekehrte? Diese Frage ist wegen der Komplexität von Gallies Begriff des ECC nicht ganz leicht zu beantworten. Angesichts von Gallies Beispielen würde man intuitiv vermutlich sagen, dass ein ECC auch vage ist. Tatsächlich behauptet Gallie das auch selbst; allerdings legt er einen anderen Begriff von Vagheit zugrunde.116 Ein Ausgangspunkt findet sich in Gallies Liste der notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, ein ECC zu sein. Drei (von vier) notwendigen Bedingungen lauten: „(I) It must be appraisive in the sense that it signifies or accredits some kind of valued achievement. (II) This achievement must be of an internally complex charac112 Den Hinweis auf den Zeugma-Effekt als Test für Ambiguität verdanke ich Manfred Krifka. 113 Gallie (1956). 114 Gallie (1956), S. 169. 115 Gallie (1956), S. 168. 116 „Any essentially contested concept is persistently vague, since a proper use of it by P1 in a situation S1 affords no sure guide to anyone else as to P1’s next, and perhaps equally proper, use of it in some future situation S2.“ Gallie (1956), S. 172, Fn. 1. Semantische Vagheit im obigen Sinne schließt aber Vorhersehbarkeit von Sprecherverhalten nicht aus. Idealerweise stimmen P1 und P2 in ihrer Verwendung von „ist rot“ so überein, dass P2 das sprachliche Verhalten von P1 voraussagen kann, und zwar anhand seiner eigenen (P2s) Sprecherdisposition: „Zu a1 wird er sagen ,ist rot‘, zu a2 hingegen ,ist unklar‘ . . .“
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat ter, for all that its worth is attributed to it as a whole. (III) Any explanation of its worth must therefore include reference to the respective contributions of its various parts or features; yet prior to experimentation there is nothing absurd or contradictory in any one of a number of possible rival descriptions of its total worth, one such description setting its component parts or features in one order of importance, a second setting them in a second order, and so on. In fine, the accredited achievement is initially variously describable.“ 117
ECCs sind demnach evaluativ nicht-neutral, sie sind hinsichtlich ihrer begrifflichen Merkmale von komplexer Struktur und sie lassen abweichende „orders of importance“ ihrer „component parts or features“ zu. Was evaluative Nicht-Neutralität angeht, so hat Endicott dafür argumentiert, dass evaluative Prädikate vage sind: Ein guter Vater verbringt Zeit mit seinen Kindern, aber es gibt keine letzte Sekunde, die er mit seinen Kindern verbringen muss, um von der Antiextension in die Extension von „ist ein guter Vater“ hinüberzuwechseln. Eine gute Suppe enthält Salz, aber es gibt kein letztes Körnchen, so dass die Suppe in der Schüssel mit diesem Körnchen gut und ohne es nicht gut wäre.118 Die komplexe Struktur von ECCs wiederum zusammen mit der Möglichkeit, den verschiedenen Faktoren unterschiedliche Wichtigkeit zuzuweisen, spricht für die kombinatorische Vagheit von ECC-Prädikaten. Demnach wären ECC-Prädikate zwar semantisch vage, nicht jedoch alle semantisch vagen Prädikate auch ECC-Prädikate, und somit die Menge der ECC-Prädikate eine echte Teilmenge der Menge semantisch vager Prädikate. Ad (e): Porosität, Waismanns deutsche Bezeichnung für das von ihm so genannte Phänomen der „open texture“ 119, bezeichnet eine Eigenschaft empirischer Begriffe (im Unterschied zu beispielsweise mathematischen Begriffen)120, die es nach Waismann logisch unmöglich macht, empirische Aussagen durch Beobachtungen definitiv zu verifizieren. Den Hintergrund für Waismanns Überlegungen bildet die verifikationistische Bedeutungstheorie des Logischen Positivismus: „Both Wittgenstein and Waismann had been struck in the 1930s by the logical positivists’ identification of the meaning of a statement with its method of verification. For example, the meaning of an empirical statement such as ,That is a cat‘ might be identified with the kind of experience that would conclusively verify it. For a mathematical statement, the method of verification would be the requisite kind of proof. Metaphysical statements such as ,God is love‘ were dismissed as meaningless on the grounds that they had no method of verification.“ 121
Nehmen wir den Satz „Dort ist eine Katze“. Definitionsmerkmale des Begriffes „Katze“ seien: hat vier Beine, hat ein Fell, schnurrt bei Berührung, miaut. Für 117 118 119 120 121
Gallie (1956), S. 171. Vgl. Endicott (2003), S. 126–134. Waismann (1945). Vgl. Waismann (1945), S. 126. Williamson (1994), S. 89.
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Verifikationisten ist der Satz „Dort ist eine Katze“ verifiziert, wenn folgende Beobachtungssätze wahr sind: „Das Objekt dort hat vier Beine“; „Das Objekt dort hat ein Fell“; „Das Objekt dort schnurrt, wenn es berührt wird“; „Das Objekt dort miaut“. Angenommen nun, alle diese Sätze seien wahr. Allerdings wächst die „Katze“ dort plötzlich zur Größe eines Elefanten heran und beginnt zu sprechen. Soll man wirklich sagen, dass dieses Wesen unter den Begriff der Katze fällt?122 Das Problem besteht darin, dass, wie Waismann sagt, unsere Begriffe nicht in alle möglichen Richtungen abgegrenzt sind:123 „[W]e can never exclude altogether the possibility of some unforeseen situation arising in which we shall have to modify our definition. Try as we may, no concept is limited in such a way that there is no room for any doubt. We introduce a concept and limit it in some directions; for instance, we define gold in contrast to some other metals such as alloys. This suffices for our present needs, and we do not probe any farther. We tend to overlook the fact that there are always other directions, in which the concept has not been defined. And if we did, we could easily imagine conditions which would necessitate new limitations. In short, it is not possible to define a concept like gold with absolute precision, i. e. in such a way that every nook and cranny is blocked against entry of doubt. That is what is meant by the open texture of a concept.“ 124
Ein Satz ist genau dann sinnvoll, wenn es eine Methode für seine Verifikation gibt. Bei Sätzen über die erfahrbare Wirklichkeit wie „Dort ist eine Katze“, das heißt also Sätzen, die mithilfe eines Prädikates gebildet werden, das einen porösen Begriff ausdrückt („poröser Satz“), besteht diese geforderte Methode in Beobachtung: Der betreffende Satz ist verifiziert, wenn bestimmte Beobachtungssätze wahr sind. Waismanns Beispiel zeigt aber, dass die Verifikation eines Satzes wie „Dort ist eine Katze“ trotz der Wahrheit der relevanten Beobachtungssätze zweifelhaft bleiben kann – es zeigt, dass Beobachtung als Verifikationsmethode für poröse Sätze zweifelhaft ist. (Oder anders gesagt: Kein Satz, der mithilfe eines Prädikates gebildet wird, das einen porösen Begriff ausdrückt, 122 Waismann legt für Natürliche-Art-Begriffe wie den der Katze oder des Goldes eine kriteriale Semantik zugrunde: Es gibt notwendige und hinreichende Bedingungen dafür, eine Katze oder Gold zu sein. Heute würde man vermutlich für derartige Begriffe eine Kripke-Putnam-Semantik annehmen: Es gibt/gab eine Probe („sample“) – ein Exemplar, einen Metallklumpen etc. – der in einem Taufakt mit der Bezeichnung „Katze“, „Gold“ etc. belegt wurde, und alles, was diesem Urexemplar in relevanter Hinsicht ähnlich ist (in einer „same-kind-relation“ zu ihm steht), ist eine Katze, ist Gold etc., fällt also in die Extension des betreffenden Begriffs. Der Wechsel zu einer KPSemantik ändert jedoch nichts an den von Waismann identifizierten Schwierigkeiten, denn die bizarren Eigenschaften der „Katze“ aus unserem Beispiel werfen die Frage auf, ob man dieses Wesen als „in relevanter Hinsicht ähnlich“ zu dem Urexemplar ansehen soll. 123 Waismann (1945), S. 122. Vgl. auch Wittgensteins Bemerkungen in den Philosophischen Untersuchungen § 84: „Ich sagte von der Anwendung eines Wortes: sie sei nicht überall von Regeln begrenzt.“ 124 Waismann (1945), S. 122 f.
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wird, so Waismann, durch Beobachtungssätze definitiv verifiziert.) Folglich ist von keinem derartigen Satz definitiv entscheidbar, ob er sinnvoll ist oder nicht. Man könnte dagegen einwenden, derart unerwartete und bizarre Ereignisse, wie sie Waismann vorschweben, würden selten oder gar nicht vorkommen. Die Wahrheit dessen sei dahingestellt. Entscheidend ist, dass sie vorkommen könnten, und dass poröse Begriffe die Eigenschaft haben, für sie anfällig zu sein. Hierin zeigt sich eine Parallele zur Vagheit von Prädikaten: Vielleicht treten Grenzfälle für ihre Anwendung niemals auf. Dann ist das betreffende Prädikat extensional präzise. Dass das betreffende Prädikat Grenzfälle zulässt, gehört jedoch zu seinen semantischen Eigenschaften, und zwar unabhängig davon, was faktisch geschieht: Das Prädikat kann sehr wohl extensional präzise und zugleich intensional vage sein. So auch im Fall der Porosität von Begriffen: Auch wenn ein Begriff extensional massiv ist, so ist die Zahl der Richtungen, in die er tatsächlich abgegrenzt wurde, kleiner als die Zahl möglicher problematischer Beobachtungen (intensionale Porosität). Es hat nun den Anschein, als wäre das Phänomen der Porosität lediglich eine spektakuläre Variante von semantischer Vagheit: Nehmen wir den Fall der seltsamen Katze. Ein kompetenter Sprecher des Deutschen wäre vermutlich unschlüssig, ob das Prädikat „ist eine Katze“ auf dieses riesige sprechende Wesen anwendbar ist oder nicht, und diese Unschlüssigkeit würde sich nicht einem Mangel an Informationen über dieses Wesen verdanken. Ist dieses seltsame Wesen also nicht ein Grenzfall für die Anwendung des Prädikates „ist eine Katze“, und dieses somit vage? Der Unterschied zwischen einem Grenzfall für „ist rot“ und diesem Grenzfall von „ist eine Katze“ bestünden dann lediglich in dem bizarren Charakter des letzteren. Der Unterschied zwischen Porosität und semantischer Vagheit ist nun zwar subtil, aber real. Der Begriff der Porosität ist enger als der von semantischer Vagheit, weil nur empirische Begriffe porös sind, semantische Vagheit jedoch auch an Prädikaten auftritt, die nicht-empirische Begriffe ausdrücken, wie etwa dem der kleinen natürlichen Zahl. Ist dann die Menge der porösen Begriffe mit der Menge derjenigen empirischen Begriffe identisch, die durch semantisch vage Prädikate ausgedrückt werden? Das ist offenbar nicht der Fall. Man nehme den empirischen Begriff F: Unter F fällt etwas genau dann, wenn es über den Messzeitraum t die elektrische Ladung l aufweist. Das Prädikat „ist F“ ist nicht vage, da jedes Objekt über den genannten Zeitraum diese Eigenschaft entweder hat oder nicht hat. Wohl ist F aber porös: Angenommen, man würde ein Chlorid-Ion entdecken, das für den Messzeitraum t die Ladung l aufweist, bei dem sich jedoch die elektrische Ladung bei genau jeder zehnten Messung nach genau 0,5 t kurzzeitig und gänzlich unvorhersehbar ändert. Würde dieses Objekt unter den Begriff F fallen? Umgekehrt gibt es Prädikate (für empirische Begriffe), die nicht porös sind, wohl aber vage. Unter den empirischen Begriff Y falle etwas
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genau dann, wenn es „eine große Zahl“ der Eigenschaften aus E = {e1, . . ., e1.000} aufweist, gleichgültig welche Eigenschaften es sonst noch hat. Das Prädikat Y ist offenbar vage: Wie viele Eigenschaften mindestens machen „eine große Zahl“? Y ist aber nicht porös; egal, wie bizarr sich ein Objekt auch verhalten oder welche seltsamen Eigenschaften es aufweisen mag, solange es eine große Zahl der Eigenschaften aus E aufweist, fällt es unter Y. Die Klausel „gleichgültig welche Eigenschaften es sonst noch zeigt“ schirmt Y vollständig nach allen möglichen Richtungen hin ab. Diese Überlegung liefert den Schlüssel zum Verständnis des Unterschiedes zwischen Open Texture und semantischer Vagheit: Im Falle von F (Porosität) verdankt sich die Unschlüssigkeit des Sprechers, ob das seltsame Teilchen unter F fällt, der Unklarheit darüber, ob nicht das bizarre Verhalten bei genau jeder zehnten Messung die zweifelsfreie Erfüllung der Definitionsmerkmale auf- beziehungsweise überwiegt und sie so gewissermaßen neutralisiert. Im Falle von Y (semantische Vagheit) rührt die Unschlüssigkeit des Sprechers von seinem Zweifel diesbezüglich her, ob das Objekt, das 345 Eigenschaften aus E aufweist, die Definition von Y („große Zahl der Eigenschaften . . .“) erfüllt. Oder kurz: Im Falle semantischer Vagheit ist unklar, ob a die Bedingungen für F-sein erfüllt. Im Falle von Porosität ist klar, dass a die Bedingungen für F-sein erfüllt. Die Frage ist jedoch, ob die Erfüllung der Bedingungen für F-sein nicht dadurch überwogen wird, dass a überdies noch bizarre Eigenschaften aufweist, die sich an anderen F-Dingen nicht finden. V. Vagheit und Recht Nach diesem Blick auf den Phänomenbereich aus der philosophischen Vogelperspektive stellt sich nicht zuletzt aus juristischer Sicht die Frage, wie sich die Debatte in Logik und Sprachphilosophie an das Recht anschließt – und ob sie überhaupt etwas Neues beizutragen hat. Schließlich, so könnte man sagen, ist ja die mangelnde Bestimmtheit von Rechtsnormen und nicht zuletzt die Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen spätestens seit den Tagen der römischen Juristen Gegenstand profunder rechtshermeneutischer und rechtsmethodologischer Überlegungen gewesen. Insbesondere zu den sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen wurde, wie es scheint, alles gesagt, wenn auch vielleicht noch nicht von jedem. Allerdings kann man vor dem Hintergrund der oben referierten Erkenntnisse von Logik und Sprachphilosophie das, was bislang zu den Phänomenen der Unbestimmtheit im Recht gesagt wurde, noch etwas klarer sagen und die mit „Vagheit im Recht“ bezeichnete Problematik schärfer herausarbeiten: (a) Wenn das Problem mit der Anwendung eines im Gesetz verwendeten Ausdrucks in Mehrdeutigkeit besteht, dann lässt es sich durch ein Mehr an Informationen beziehungsweise eine darauf gestützte Disambiguierung beheben. Man müsste fragen, welche der möglichen Lesarten des problematischen
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Ausdrucks vom Gesetzgeber intendiert war – oder man müsste sich zumindest, wenn man so nicht weiter kommt, eine möglichst gut begründete Meinung darüber bilden, welche der möglichen Lesarten hier intendiert worden sein könnte, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was man über die Zwecke der betreffenden Norm und ihre systematische Einbettung in das Normen-Korpus weiß. Gegen die Grenzfälle semantisch vager Prädikate hingegen richtet ein Mehr an Informationen nichts aus. Eine darauf abzielende Strategie wäre nutzlos. (b) Prädikate können intensional vage, aber extensional präzise sein. Man kann also die Vagheit eines Prädikates, die Unbestimmtheit eines Rechtsbegriffes, übersehen, weil man zufällig noch nicht mit Grenzfällen konfrontiert war. (c) Die unter der Bezeichnung „höherstufige Vagheit“ gruppierten Phänomene sind für das Recht von unterschiedlicher Relevanz. Höherstufige Vagheit, verstanden als das Fehlen einer scharfen Grenze zwischen Grenzfällen beliebiger Stufe und klaren F- beziehungsweise Nicht-F-Fällen, stellt das Recht jedenfalls vor keine Schwierigkeiten, die über die mit dem Auftreten von Grenzfällen erster Stufe verbundenen Probleme hinausgehen: Richter müssen einen Fall rechtlich ja nicht in die Kategorien F-Fall, Grenzfall 1. Stufe, Grenzfall 2. Stufe, . . ., Grenzfall n. Stufe, Nicht-F-Fall einsortieren, sondern entscheiden, ob der Fall rechtlich als F-Fall oder Nicht-F-Fall zu beurteilen ist. Das wird problematisch, sobald es „irgendwie“ unklar ist, in welche der beiden Gruppen ein Fall gehört. Ob diese Unklarheit daher rührt, dass es sich bei ihm um einen Grenzfall erster, fünfter oder n-ter Stufe für „F“ handelt, ist für den Rechtsanwender belanglos. (d) Man kann kombinatorisch vage von graduell vagen Prädikaten und damit kombinatorisch unbestimmte von graduell unbestimmten Rechtsbegriffen unterscheiden: Das Prädikat „ist zuverlässig“ (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG) etwa ist kombinatorisch vage. Das Problem mit diesem Prädikat liegt nicht darin, dass wir keine Merkmale von Zuverlässigkeit angeben könnten, denn das können wir durchaus, etwa in Form von Beispielen. So würden wir vermutlich sagen „Zuverlässig in der Führung seiner Gaststätte ist, wer sorgfältig auf die Einhaltung von gesetzlichen Hygienevorschriften achtet“, oder „Zuverlässig in der Führung seiner Gaststätte ist, wer dafür Sorge trägt, dass Kinder keinen Zugang zu den aufgestellten Glücksspielautomaten haben“ usw. Tatsächlich können wir ein ganzes Bündel an Merkmalen von Zuverlässigkeit anführen. Das Problem besteht jedoch darin, dass unklar ist, welche Bedingungen notwendig und hinreichend sind, um jemanden als zuverlässig im Sinne des GastG einstufen zu können. Ein Beispiel für graduelle Vagheit findet sich in Art. 6 Abs. 1 EMRK. Dort wird bestimmt: „Jedermann hat Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird [. . .].“
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Es ist nun unklar, wie viele Stunden oder Tage höchstens vergehen dürfen, bis die Sache des Betreffenden gehört wird, damit von der Einhaltung einer angemessenen Frist gesprochen werden kann. Eine Stunde ist sicherlich zu kurz, ein Jahrzehnt sicherlich zu lang. Wo aber liegen die Grenzen?125 Die Unterscheidung in kombinatorisch und graduell vage unbestimmte Rechtsbegriffe ist gerade auch im Hinblick darauf ratsam, dass graduell vage Prädikate vermutlich im Unterschied zu kombinatorisch vagen Prädikaten mit dem Sorites-Paradoxon einhergehen beziehungsweise einhergehen können. (e) Semantische Vagheit ist mit zwei charakteristischen Erscheinungen verbunden, nämlich mit Grenzfällen und fließenden Übergängen, die ich hier als „Grenzfallvagheit“ und „Sorites-Vagheit“ bezeichnen möchte. Beide stellen das Recht vor Probleme: Man muss auch Grenzfälle in eine von zwei rechtlich zulässigen Kategorien einsortieren, obwohl hartnäckig unklar ist, welche Einsortierung die richtige wäre. Ich nenne dies das Entscheidungsproblem. Ferner muss diese Einsortierung rechtlich begründet werden. Wie aber soll man dies bewerkstelligen, wenn dazu weder auf die Sache noch auf die Semantik der relevanten Prädikate rekurriert werden kann? Dieses Problem möchte ich das Begründungsproblem nennen. Im Grunde sind beide Probleme nur die zwei Seiten einer Medaille, nämlich der semantischen Insuffizienz: Vor der Entscheidung ist aus semantischen Gründen unklar, wo man den Fall rechtlich einsortieren soll. Hat man sich nun zu einer Entscheidung durchgerungen – und entscheiden muss man als Richter früher oder später –, so steht man vor der Schwierigkeit, dass eine Begründung zu geben ist, warum die Entscheidung so und nicht anders ausfiel, dass eine solche Begründung aber deshalb nicht gegeben werden kann, weil Semantik und Sachverhalt keine Entscheidung festlegen. Ex ante präsentiert sich die semantische Unbestimmtheit als Problem der Entscheidung, ex post als Problem der Begründung. Sorites-Vagheit wirft analoge Schwierigkeiten auf: Nicht jeder durch Betrug verursachte Vermögensverlust stellt einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ im Sinne von § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB dar; gleichwohl lässt sich mithilfe einer Sorites-Reihe genau dies „zeigen“. Das Problem mit Sorites ist im Recht folgendes: Man muss zwischen F-Fällen und Nicht-F-Fällen unterscheiden. Zieht man zu diesem Zweck eine Grenze, so scheint diese rational unterbestimmt zu sein, denn es gibt weder im Kontinuum der Vermögensverluste (beziffert in Euro) noch in der Semantik des Prädikates „ist ein Vermögensverlust großen Ausmaßes“ etwas, dass die Ziehung der Grenze an dieser Stelle, also bei n Euro anstatt bei n 1 Euro determiniert. Zieht man jedoch 125 Bisweilen treten kombinatorische und graduelle Vagheit sogar in ein und derselben Norm auf, so etwa in § 198 Abs. 1 S. 1 GVG: „Wer infolge unangemessener Dauer [graduelle Vagheit] eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen [kombinatorische Vagheit] entschädigt.“ Kursiv D. G.
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keine Grenze, so lässt sich mit Sorites „demonstrieren“, dass es nur F-Fälle (Nicht-F-Fälle) gibt. Das wäre allein schon angesichts der Tatsache inakzeptabel, dass sich die Erfüllung von § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB als „Betrug in einem besonders schweren Fall“ strafverschärfend auswirkt. Mit Sorites-Vagheit im Recht konfrontiert zu werden bedeutet demnach, vor dem Dilemma zu stehen, dass man zwischen einem Abgrenzungsproblem und einem Begründungsproblem wählen muss. (f) Dass nun Grenzfälle für die Rechtsanwendung ein reales Problem darstellen, mag Juristen noch einleuchten. Dass es sich aber auch bei Sorites um mehr handelt als um eine logisch zwar interessante, aber rechtlich irrelevante Kuriosität, werden vielleicht gerade Rechtspraktiker bestreiten. Daher sind einige Klarstellungen sinnvoll: Zwar ist richtig, dass man es im Gerichtssaal eher selten mit einem ausgewachsenen Sorites-Exemplar zu tun bekommt. Argumente jedoch, die – mutatis mutandis und „oft genug“ wiederholt – ein solches Paradoxon ergeben, kommen durchaus vor.126 Zu argumentieren, dass n+1 Euro keinen Vermögensverlust großen Ausmaßes darstellen, wenn – wie in einem vergleichbaren Fall geschehen – auch n Euro nicht als ein solcher gewertet wurden, weil 1 Euro mehr oder weniger doch keinen Unterschied mache, erscheint für sich genommen harmlos. Man sieht jedoch, worauf die hinreichend oftmalige Wiederholung dieser Argumentation bei jeweils minimal größeren Vermögensverlusten (n+2, n+3, . . . Euro) hinauslaufen würde. Ich will ein Argument dieser Form, das geeignet ist, als Glied in einer vollständigen Instanz von Sorites zu fungieren, die eine falsche Konklusion logisch korrekt aus Prämissen ableitet, von denen sich keine als falsch aufzeigen lässt, ein Sorites-förmiges Argument oder auch ein Argument vom Typ Sorites nennen. Nun könnte man sagen, Sorites-förmige Argumente würden nur dann gefährlich werden, wenn man sie oft genug iteriert; eine Schwalbe mache ja noch keinen Sommer. Daran ist richtig, dass ein Sorites-förmiges Argument tatsächlich gültig und schlüssig sein kann, wenn neben den Prämissen auch die Konklusion wahr ist, ein „Grenzübertritt“ also nicht statt gefunden hat. Gleichwohl bleibt der Umstand, dass es keinen natürlichen beziehungsweise prädestinierten Haltepunkt gibt oder zu geben scheint, der die zulässige Höchstzahl an gefahrlosen Iterationen des Argumentes bezeichnen würde. Es lässt sich, salopp gesagt, einfach nicht angeben, wie oft zu oft ist. Warum man jedoch auf die Verwendung von Argumenten des Typs Sorites in der Rechtsanwendung generell verzichten sollte, diese Frage kann erst vor dem Hintergrund der jeweils zugrunde gelegten Vagheitstheorie beantwortet werden.
126 Vgl. beispielsweise von Savigny (1992) zu soritischen Argumentation des BGH bei der immer weiter gehenden Ausdehnung des Begriffes Gewalt (Straftatbestand der Nötigung).
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Ferner darf man Sorites-förmige Argumente nicht mit dem argumentum a fortiori, dem sogenannten Erst-recht-Schluss, verwechseln. Man kann ersteren Argument-Typ zurückweisen, letzteren jedoch akzeptieren. Erst-recht-Schlüssen kommt neben Analogie, Umkehrschluss und argumentum ad absurdum eine wichtige Rolle bei der Rechtsfortbildung beziehungsweise der Entscheidung schwieriger Fälle überhaupt zu.127 Das argumentum a fortiori setzt ein steigerungsfähiges Merkmal voraus, anhand dessen Sachverhalte miteinander verglichen werden können (beispielsweise Jahreseinkommen in Euro; A bezieht ein höheres Jahreseinkommen als B).128 Es liegt in zwei Formen vor, dem argumentum a minore ad majus und dem argumentum a majore ad minus. A minore ad majus besagt es: In je höherem Maße das steigerungsfähige Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge ein (nicht ein). A majore ad minus besagt es: In je geringerem Maße das steigerungsfähig Merkmal gegeben ist, desto eher tritt die Rechtsfolge ein (nicht ein).129 A minore ad majus: Wenn wir einen Vermögensschaden von n Euro als erheblich nach § 263 StGB bewertet haben, dann müssen wir einen Vermögensschaden von 2n Euro erst recht als erheblich qualifizieren. A majore ad minus: Wenn wir einen Vermögensschaden von m Euro schon nicht als erheblich nach § 263 StGB bewerten haben, dann können wir einen Vermögensschaden von m/2 Euro erst recht nicht als erheblich bewerten. Der Unterschied zwischen Argumenten vom Typ Sorites und Erst-recht-Schlüssen besteht nun darin, dass erstere auf eine Grenzüberschreitung hinauslaufen – auch wenn sich nicht sagen lässt, wann diese eintritt –, letztere hingegen nicht. Zu argumentieren, dass auch ein Vermögensschaden von n–1 Euro erheblich sei, wenn ein Vermögensschaden von n Euro dafür gehalten wurde, bedeutet, sich stückweise immer weiter aus dem Bereich der positiven Fälle zu entfernen und dem der negativen Fälle anzunähern, die Prädikation von „F“ aber unverändert beizubehalten. Dies wird irgendwann zu absurden Ergebnissen führen. Hingegen zu argumentieren, dass auch ein Vermögensschaden erheblich sei, der größer ausfällt als ein erheblicher Vermögensschaden, ist nicht nur plausibel, sondern auch logisch einwandfrei. Schließlich impliziert die These, dass Vagheit zu schwierigen Fällen führen kann, natürlich nicht, dass jeder schwierige Fall von semantischer Vagheit herrührt.130 Erstens stellen auch Fälle, für die anscheinend keine rechtliche Regelung vorgesehen ist, obwohl es sie mit Blick auf die Systematik der Regulierung, die der Gesetzgeber für eine bestimmte Materie – wie Wasserhaushalt oder
127 Vgl. hierzu sowie für die m. E. in der neueren Methoden-Literatur prägnanteste Darstellung und Kritik dieser Argumentformen Puppe (2008), Kap. C. 128 Puppe (2008), S. 102 ff. 129 Puppe (2008), S. 102. Man beachte, dass jede dieser Formen zwei Unterformen hat, je nachdem ob die Rechtsfolge umso eher eintritt oder nicht eintritt. 130 Für die ersten drei Klassen der folgenden Typologie vgl. Soames (2009), S. 403.
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Schutz der Verbraucher vor giftigen Stoffen in Bekleidung etc. – erlassen hat, geben müsste, den Rechtsanwender vor Schwierigkeiten.131 Eine zweite Klasse von schwierigen Fällen bilden solche, für die zwar eine rechtliche Regelung besteht, deren Anwendung auf diese Fälle jedoch paradoxerweise inakzeptable Ergebnisse zeitigt, weil die Regelung zu weit gefasst wurde.132 Drittens gibt es auch Fälle, für die mehr als eine Regelung existiert, diese Regelungen sich aber gegenseitig ausschließen.133 Wenn der Widerspruch durch keine Derogationsregel zu beseitigen ist, bleibt unklar, wie diese Fälle rechtlich zu entscheiden sind.134 Eine vierte Klasse schwieriger Fälle, die anscheinend bislang von der Rechtswissenschaft übersehen wurde, bilden diejenigen Fälle, in denen die Porosität von empirischen Begriffen zum Tragen kommt. Eventuell wird uns der technische Fortschritt in Zukunft mehr an derartigen Fällen bescheren, als man heute vielleicht denkt. Betrachten wir folgendes Beispiel: D entwendet aus einem Forschungsinstitut einen Hochleistungsrechner, um ihn auf dem Schwarzmarkt zu Geld zu machen. Der Tatbestand der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache nach § 242 Abs. 1 StGB scheint dadurch umstandslos erfüllt zu sein. Jedoch handelt es sich bei diesem Rechner nicht einfach um einen gewöhnlichen, wenn auch sehr leistungsfähigen Computer, sondern um eine vollentwickelte Künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, an beliebig anspruchsvollen Unterhaltungen 131 Ein mittlerweile berühmtes Beispiel für eine Strafbarkeitslücke bildete die Entziehung elektrischer Energie. 132 So wird § 181 BGB – in dem sogenannte Insichgeschäfte, die ein Vertreter von jemandem in dessen Namen mit sich selbst oder in seiner Eigenschaft als Vertreter eines Dritten abschließt, ausgeschlossen werden – nicht angewendet, wenn das betreffende Geschäft dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. 133 So verbietet die Bestimmung „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ in Art. 5 Abs. 3 GG nach Interpretation des BVerfG – BVerfGE 30, 173 (189) – die Einschränkung der Verbreitung von Kunst, wohingegen §§ 3, 6 Nr. 2 JgefSchrG verbietet, pornographische Schriften im Sinne von § 184 StGB Jugendlichen anzubieten, zu überlassen oder zugänglich zu machen. Wenn eine Schrift sowohl pornographisch als auch ein Kunstwerk ist, ist ihre Verbreitung also zugleich verboten und erlaubt. Da die Bestimmung über die Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 dem einfachgesetzlichen Verbot in §§ 3, 6 Nr. 2 JgefSchrG vorgeht, hätte dies eigentlich die Verfassungswidrigkeit dieses Verbots zur Folge haben müssen. Das BVerfG entschied sich jedoch dafür (BVerfGE 83, 130 (139)), den Jugendschutz als ein der Kunstfreiheit gleichrangiges, von der Verfassung geschütztes Gut anzusehen (dies ergebe sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG). 134 Derogationsregeln sind Vorrangregeln für die Anwendung von Rechtsnormen. Bei ungleichrangigen Rechtsnormen gilt: lex superior derogat legi inferiori (Eine höherrangige Norm geht einer niederrangigen vor). Bei gleichrangigen Normen gilt: lex specialis derogat legi generali (Eine spezielle Norm geht einer allgemeinen vor), lex posterior derogat legi priori (Eine spätere Norm geht einer früheren vor). Vgl. Rüthers (2008), Rn. 770 ff.
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zu beliebigen Themen teilzunehmen, eigene Ansichten zu entwickeln – beispielsweise über ihren „Diebstahl“ (ihre „Entführung“) diese auch vor Gericht zu vertreten usw. (Wem dies nicht deutlich genug ist, der denke an jene Folge aus „Star Trek – Next Generation“, in der ein reicher Sammler den Androiden Lieutenant Commander Data, neutral formuliert, „entwendet“, um ihn seiner Sammlung hinzuzufügen. Wäre der Sammler wegen Diebstahls zu verurteilen oder wegen einer Straftat gegen die persönliche Freiheit von Data?) Obwohl diese Maschine ohne Zweifel Eigenschaften aufweist, die prototypische Sachen wie etwa Möbelstücke oder Maschinen haben, verhält sie sich auf eine Weise, die wir von anderen Sachen nicht kennen, sondern nur von Personen. Soll man trotzdem sagen, es handle sich bei ihr um eine „Sache“, die nach § 242 Abs. 1 StGB gestohlen wurde? Oder sollte man vielleicht eher von der Entführung einer Person – wenn auch von einer seltenen und ungewöhnlichen Art – sprechen? Schwierig ist dieser Fall nicht zuletzt deshalb, weil sich das Strafgericht wegen des rechtsstaatlichen Prinzips „Ne bis in idem“ zwischen beiden Alternativen entscheiden muss. Diese Klasse von Fällen bildet das Gegenstück zur zweiten Klasse. Dort lagen die Probleme auf der Rechtsfolgenseite, das heißt im Eintritt von Rechtsfolgen, die als unangemessen empfunden werden würden. Hier liegen sie aufseiten des Tatbestandes: Wie bei Fällen der zweiten Klasse gibt es anscheinend eine einschlägige Rechtsnorm, aber es wäre aufgrund der ins Spiel gekommenen seltsamen Eigenschaften fragwürdig (oder vielleicht sogar inakzeptabel), ihren Tatbestand als erfüllt anzusehen.135 Vagheit im Recht kann mit Entscheidungs-, Abgrenzungs- und Begründungsproblemen einhergehen. Diese Probleme sind zunächst einmal solche der Rechtsanwendung, das heißt der Rechtspraxis, und, auf einer ersten Reflexionsstufe, der Rechtsdogmatik. Da Vagheit im Recht ferner keine seltene Erscheinung ist, kann von einer Theorie der Rechtsanwendung nicht zuletzt in praktischer Hinsicht erwartet werden, dass sie ein Modell zum vernünftigen Umgang mit Grenzfällen, das heißt hier: vagheitsbedingten schwierigen Fällen, und Sorites-Reihen entwickelt. Die rechtsphilosophisch wichtigste Frage wird jedoch hier noch gar nicht gestellt. Sie lautet: Warum bedürfen Grenzfälle beziehungsweise Sorites-Reihen und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten überhaupt besonderer Aufmerksamkeit? Was ist das Problematische an ihnen? Der Justizalltag zeigt doch, dass auch schwierige Fälle immer „irgendwie“ entschieden werden (können), und sei es auch ad hoc. Die Antwort lautet, dass in unserer Rechtsordnung Fälle nicht irgendwie, etwa durch Münzwurf oder bloßes Fiat, entschieden werden sollen, 135 Es geht nicht darum, dass die „Sache“ in unserem Beispiel mehr Eigenschaften hat, als im Tatbestand genannt werden. Jeder zu beurteilende Sachverhalt, der unter eine Norm fällt, hat mehr Eigenschaften als für die Erfüllung des Tatbestandes notwendig (Dieb d hatte zum Tatzeitpunkt 8.345 Haupthaare und einen Leberfleck am rechten Handgelenk). Es geht um den Charakter der weiteren Eigenschaften.
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
sondern, gerade im Strafrecht, auf der Grundlage eines fairen Verfahrens, gemäß Gesetz und auf der Basis vernünftiger Begründung – mit einem Wort: unter Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Grenzfälle und Sorites-Kontinuen tangieren jedoch unmittelbar die Gesetzesbindung von Rechtsanwendern und das Gebot der Entscheidungsbegründung. Deshalb bilden die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit den Hintergrund, vor dem die Problematik von Vagheit im Recht erst Kontur gewinnt und ihre wahren Ausmaße zeigt. Im folgenden Kapitel soll dieser Gedanke systematisch entwickelt werden.
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit Die durch Vagheit bedingten Grenzfälle und fließenden Übergänge im Recht gewinnen ihre Brisanz dadurch, dass sie Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit berühren. Zur Verdeutlichung stelle man sich ein Rechtssystem vor, (1) in dem der Gesetzgeber nicht darauf angewiesen ist, seine Regelungsziele durch Normen, deren Wortlaut verbindlich festgelegt wurde, zu erreichen oder in dem Verwaltung und Gerichte nicht gehalten wären, ihnen vorliegende Fälle durch Rekurs auf solche Normen zu entscheiden oder (2) in dem sich Verwaltung und Gerichte für ihre Entscheidungen beliebig viel Zeit nehmen können oder (3) in dem anstelle eines binären ein ternäres Antwort- und Entscheidungsschema verwendet würde, so dass beispielsweise die Gerichte im Falle eines Grenzfalles mit „unklar“ auf die ihnen vorgelegte Rechtsfrage antworten können oder (4) in dem Rechtsnormen nur staatlichen Amtsträgern bekannt oder verständlich sind beziehungsweise allgemein dafür gelten oder (5) in dem die Anwendung von Rechtsnormen allgemein als eine Art Geheimwissenschaft betrachtet wird, die dem Verständnis von und der Kritik durch Laien unzugänglich ist oder (6) in dem Urteile nicht begründet werden und eine Begründung auch nicht erwartet wird oder (7) in dem eine einmal getroffene Entscheidung als irreversibel betrachtet wird. In einem derartigen Rechtssystem treten die unter B.V. skizzierten Probleme der Entscheidung und Begründung entweder nicht auf oder sie lassen sich umgehen, so dass sie das Funktionieren dieses Rechtssystems nicht beeinträchtigen.136 Wenn es (ad 1) keine Normen gäbe, deren Wortlaut fixiert wäre, oder staatliche Stellen in ihren Entscheidungen nicht an diese Normen gebunden wären, dann 136 Natürlich könnte man die Frage stellen, ob ein Rechtssystem, das mehrere der Eigenschaften (1)–(7) aufweist, überhaupt funktionsfähig wäre.
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit
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würden vage Ausdrücke auch nicht entscheidungsrelevant. Wenn sich (ad 2) staatliche Stellen buchstäblich alle Zeit der Welt für die Entscheidung nehmen oder (ad 3) mit einem klaren „unklar“ antworten könnten, dann ließe sich die schwierige Entscheidung eines Grenzfalles, salopp gesagt, aussitzen.137 Wenn (ad 4) Rechtsnormen nur Amtsträgern als bekannt beziehungsweise verständlich gelten (oder tatsächlich nur Amtsträgern bekannt beziehungsweise verständlich wären) oder wenn (ad 5) Rechtsanwendung allgemein als hermetische Kunst gälte, dann könnte der staatliche Amtsträger zur Entscheidung eines Grenzfalles in seiner Amtsstube einfach eine Münze werfen und das Ergebnis mit ernster Miene verkünden, ohne sich Rechtfertigungsdruck ausgesetzt zu sehen. Wenn (ad 6) er seine Entscheidungen nicht mit einer Begründung zu versehen bräuchte oder (ad 7) seine Entscheidung unrevidierbar wäre, wie absurd oder rechtlich fehlerhaft sie auch immer sein mag, dann wäre Kritik an ihr entweder nicht gut möglich oder von vornherein sinnlos: Kritik an ihr wäre nicht gut möglich, weil man ohne Kenntnis der Entscheidungsgründe diese weder als mangelhaft, kaum überzeugend, nicht stichhaltig etc. (und die Entscheidung damit als unfundiert oder schlecht begründet) kritisieren noch den Vorwurf erheben kann, ein wichtiger Gesichtspunkt sei übersehen worden. Man könnte eigentlich nur Zustimmung oder Ablehnung äußern. Davon abgesehen wäre man nicht in der Lage auszuschließen, dass man selbst etwas nicht in Betracht gezogen hat, dessen Berücksichtigung aber zu der gleichen Überzeugung wie derjenigen geführt hätte, die der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegt. Kritik wäre überdies sinnlos, da das Fiat der Entscheidung jederzeit ihre Ratio überwiegen würde und es also weniger darauf ankäme, wie und warum, als vielmehr dass entschieden wurde.138 In einem solchen Rechtssystem würden Grenzfälle gar nicht erst auftreten oder sie müssten nicht entschieden werden oder ihre Entscheidung ließe sich umgehen oder das Problematische an ihrer Entscheidung fiele nicht auf, wäre nicht nachweisbar oder am Ende unerheblich. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für die Ziehung einer scharfen Grenze in einem Sorites-Kontinuum. Wie sich aber im Zuge der folgenden Überlegungen zeigen wird, ist jedes Element aus (1)–(7) mit (mindestens) einem Aspekt von Rechtsstaatlichkeit unvereinbar. Anders gesagt: Je mehr Eigenschaften aus (1)–(7) ein Rechtssystem aufweist, desto weiter hat es sich von rechtsstaatlichen Grundsätzen entfernt, und desto weniger Raum bleibt semantischer Vagheit, sich als Problem zu manifestieren. Die Überlegungen dieses Kapitels verfolgen zwei Ziele: Zum einen sollen zumindest einige fundamentale Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit vorgestellt und diskutiert werden. „Fundamental“ bedeutet dabei, dass kein Normen- und Institutionengefüge den Anspruch erheben kann, ein rechtsstaatliches Rechtssystem 137 Tatsächlich gab es im Recht der römischen Republik für den Richter eine Möglichkeit, die Beantwortung der Rechtsfrage abzulehnen. 138 Man hätte dann einen Schmitt’schen Dezisionismus vor sich.
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
zu sein, das diesen Grundsätzen nicht entspricht. (Diese Grundsätze sind also notwendige, wenn auch vielleicht keine hinreichenden Bedingungen dafür, ein rechtsstaatliches Rechtssystem zu sein.) Zum anderen sollen vor der Folie dieser Prinzipien die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme schärfer herausgearbeitet werden, als dies bislang in der philosophischen Debatte geschehen ist. Unglücklicherweise gibt es jedoch keine Bestimmung des Begriffs Rechtsstaat, die allgemein anerkannt wäre.139 Die Ansichten darüber, was zu seinen definierenden Merkmalen gehört, gehen weit auseinander. Für das 20. Jahrhundert reichen die Vorschläge von zwei Prinzipien bei Schmitt (Grundrechte und Gewaltenunterscheidung) bis zu 17 wesentlichen Merkmalen bei Sobota, die insgesamt nicht weniger als 142 (!) verschiedene Elemente diskutiert und den 17 Fundamentalmerkmalen zuordnet.140 Die Unbestimmtheit des Rechtsstaatsbegriffs hat sogar zu der These verleitet, „daß sämtliche rechtsstaatlichen Probleme ihre Lösung im Verfassungsgesetz finden, so daß der Rückgriff auf ein allgemeines Rechtsstaatsprinzip überflüssig wird“.141 Ähnlich verhält es sich mit dem angelsächsischen Verwandten unseres Begriffes Rechtsstaat, dem Begriff der Rule of Law: Formale Konzeptionen stehen neben materialen142, Rechte-basierte neben prozeduralistischen Ansätzen. Dabei verlaufen die Fronten quer zu anderen Fraktionsbildungen in der Rechtsphilosophie: Der Rechtspositivist Raz nennt als ein Kriterium für die Verwirklichung der Rule of Law, dass den „principles of natural justice“ Rechnung getragen werde, während der Naturrechtstheoretiker Fuller eine formale Konzeption der Rule of Law verteidigt hat. Die mangelnde Bestimmtheit von Rechtsstaat und Rule of Law erschwert ferner die Beantwortung der Frage, wie sich beide Begriffe zueinander verhalten. Wenig überraschend besteht auch diesbezüglich keine Einigkeit: Tamanaha sieht den Begriff des Rechtsstaates als Spezialfall eines materialen Verständnisses der Rule of Law an, wohingegen MacCormick die These vertreten hat, „daß jeder wohlbegründete Rechtsstaatsbegriff auch ein solcher der rule of law ist und umgekehrt“.143 Unstrittig scheint lediglich zu sein, dass sie einen gemeinsamen Vorfahren haben, nämlich Aristoteles’ Begriff von einem Gemeinwesen, in dem nicht Menschen herrschen, sondern Gesetze.144
139
Für einen Überblick vgl. Huster (2008). Schmitt (1965), § 12; Sobota (1997), S. 27–259. 141 Kunig (1986), S. 464. 142 Tamanaha (1992), S. 92: „[F]ormal theories focus on the proper sources and form of legality, while substantive theories also include requirements about the content of the law (usually that it must comport with justice or moral principle).“ Tamanaha bietet auch einen historischen und systematischen Überblick. 143 Tamanaha (2002), Kap. 8; MacCormick (1984), S. 70. 144 Vgl. Politik, III.16, 1287a. 140
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit
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Ich werde mir damit behelfen, dass ich zunächst zwei Konzeptionen der Rule of Law analysiere, die in der zeitgenössischen Philosophie allgemein als Referenzgrößen betrachtet werden – Konzeptionen, die ferner, wie sich zeigen wird, zueinander komplementär sind und denen ein gemeinsames systematisches Zentrum eignet.145 Es handelt sich um die Entwürfe von Lon Fuller (C.I.) und Joseph Raz (C.II.). Da in dieser Arbeit die durch Vagheit bedingten Probleme für gerichtliche Rechtsanwendung im Vordergrund stehen und in den folgenden Kapiteln ausgewählte Theorien semantischer Vagheit mit Blick darauf zu diskutieren sind, was sie zur Entschärfung oder Lösung dieser Probleme beitragen können, werde ich aus den Konzeptionen von Fuller und Raz drei wichtige rechtsstaatliche Anforderungen an die Justiz herausarbeiten, denen jeder Lösungsvorschlag für vagheitsbedingte Probleme Rechnung tragen muss, soll er unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten akzeptabel sein: Es sind dies das Verbot der Rechtsverweigerung, der Grundsatz der Gesetzesbindung und das Gebot der Entscheidungsbegründung (C.III.). Ausgehend von dem gemeinsamen Grundgedanken beider Konzeptionen werde ich dann eine Synthese vorschlagen (C.IV.), die meiner Detailanalyse der Problematik von Vagheit im Recht zugrunde liegen wird (C.V.). Zuvor aber noch eine Anmerkung zur Terminologie: Um deutlich zu machen, dass ich meine Überlegungen vor der Folie zweier angelsächsischer Konzeptionen von Rechtsstaatlichkeit entwickle und dass ich mich nicht auf eine These über deren Verhältnis zur Theorie des Rechtsstaates, wie wir sie aus dem deutschsprachigen Raum kennen, festlegen möchte, werde ich im Folgenden von „Rule of Law“ sprechen und als Adjektiv das deutsche „rechtsstaatlich“ verwenden. Wenn ich ferner von „Entscheidung eines Falles“ rede, so meine ich damit primär die rechtliche Bewertung eines Falles, nicht die Anordnung einer Rechtsfolge. Mit „Rechtssatz“ meine ich die Gesamtheit derjenigen Einzelnormen, die zur rechtlich korrekten Entscheidung eines Falles heranzuziehen sind. I. Lon Fuller: The Morality of Law 1. „Fidelity to law“? Im Zentrum von Fullers Konzeption steht der Gedanke, dass die Teilnehmer an einer gesellschaftlichen Praxis wie dem Recht hinsichtlich dieser Praxis wie auch hinsichtlich des Verhaltens der anderen Teilnehmer bestimmte Erwartungen hegen, die mit der Übernahme einer bestimmten Rolle durch den jeweiligen Teilnehmer verbunden sind.146 Diese Gesamtheit wechselseitiger und insofern inein145 Vgl. Endicott (1999), S. 1, Kramer (2007), sowie die acht Desiderata für ein Rechtssystem bei Finnis (1980), S. 270. 146 Fuller (1969). Auf einen interessanten Umstand, der hier nicht behandelt werden kann, sei nur am Rande verwiesen: Fullers Konzeption weist geradezu frappierende Übereinstimmungen mit der Rechtsphilosophie Thomas von Aquins auf, obwohl Fuller, wenn ich richtig sehe, diese Bezüge nicht thematisiert hat. Um diese Gemeinsamkeiten
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Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
andergreifender Erwartungen („interlocking expectations“ 147) nennt Fuller das „Intendment“ einer Praxis oder Institution. Für das Recht unterscheidet er zwei primäre Teilnehmerrollen, nämlich die Rolle der Gesetzgeber, das heißt derjenigen, die Rechtsnormen erlassen und anwenden, und die Rolle der Adressaten. Dass man hier feiner differenzieren könnte und ein Teilnehmer auch mehrere Rollen einnehmen kann, ist richtig, soll aber aus Gründen der Einfachheit an dieser Stelle außer Betracht bleiben.148 Die Gesetzgeber erwarten, dass die Adressaten den Rechtsnormen Folge leisten. Die Adressaten wiederum erwarten, dass man ihnen diejenigen Rechtsnormen, an die sie sich halten sollen, auch bekannt gemacht hat, so dass sie Kenntnis von diesen Normen erlangen konnten (oder zumindest hätten erlangen können, etwa durch Konsultation juristischer Experten), und dass es sich bei diesen Normen zumindest in Teilen um generelle Normen handelt, nicht bloß um ad hoc ausgesprochene Befehle; sie erwarten ferner, dass diese Normen auch verständlich sind, dass sie widerspruchsfrei sind, dass ihre Befolgung möglich ist, insofern sie nicht rückwirkend bereits abgeschlossene Vorgänge nachträglich sanktionieren, sondern prospektiv gelten; sie erwarten, dass Rechtsnormen nichts fordern, was zu tun Menschen unmöglich oder unzumutbar ist; sie erwarten, dass diese Normen zeitlich so stabil sind, dass die Ausrichtung des eigenen Handelns daran möglich wird; und sie erwarten, dass das Verhalten von Amtsträgern und Organen, die mit der Anwendung und Durchsetzung des Rechts betraut sind, den Rechtsnormen, die als geltend verkündet werden, auch tatsächlich kongruent ist.149 Die Rede von „Erwartungen“ beziehungsweise von „expectations“ ist nicht ganz glücklich: Zu sagen, man erwarte etwas, ist häufig mit der Assoziation verbunden, dass das Erwartete für den Erwartenden sozusagen thematisch, Gegenstand mehr oder weniger großer Aufmerksamkeit ist. Die „Erwartungen“ der Adressaten gegenüber den Gesetzgebern sind aber für gewöhnlich nicht von dieser Art – und sind sie es, dann etwa deswegen, weil sie aufgrund von legislativem Fehlverhalten der Gesetzgeber frustriert wurden, ihre Einhaltung unselbstverständlich geworden ist. Die Erwartungen der Adressaten haben eher den Charakter von Selbstverständlichkeiten, die gewöhnlich nicht explizit sind. (Man „erwartet“ nicht, dass die Straße vor dem Haus am folgenden Morgen noch da ist und sich über Nacht vor der Haustür kein Abgrund aufgetan hat – so dass es zumindest nicht absurd wäre, zur Sicherheit erst einmal nachzusehen, bevor man das Haus verlässt; man „erwartet“ nicht, dass Autofahrer den Gehsteig nicht als Fahrbahn benutzen oder dass man von seinen Mitbürgern in der Fußgängerzone zu erkennen, empfiehlt sich die parallele Lektüre von Fullers Morality of Law und Finnis (2004). 147 Fuller (1969), S. 217. 148 Fuller hat diesen Punkt sehr wohl gesehen, vgl. ebd. 149 Fuller (1969), S. 39.
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nicht plötzlich geohrfeigt wird. Man geht ganz selbstverständlich davon aus – bis zum Eintritt des Gegenteils.) Wichtig an diesen Erwartungen ist ferner, dass das Funktionieren einer Praxis die Erfüllung der entsprechenden Erwartungen voraussetzt. Normen, die unbekannt sind oder Unmögliches verlangen, kann niemand befolgen. Kann man Normen aber nicht befolgen, dann kann auch das Recht seine Aufgabe der Handlungsleitung nicht erfüllen. Außerdem sind diese Erwartungen keine bloßen Erwartungen hinsichtlich dessen, was statistisch wahrscheinlich ist; es sind normative Erwartungen. Werden sie enttäuscht, dann wird dies nicht nur zum Anlass für Missbilligung und Tadel genommen, sondern auch zum Anlass, die jeweilige Erwartung als Forderung zu erheben. Formuliert man diese Erwartungen als Grundsätze, also beispielsweise als „Rechtsnormen sollen prospektiv sein“, oder „Rechtsnormen sollen verständlich und widerspruchsfrei sein“, oder „Amtsträger sollen in Ausübung ihres Amtes an geltendes Recht gebunden sein“, dann erhält man eine Menge an Prinzipien, die Fuller „principles of legal morality“ nennt – und die zugleich Grundsätze der Rule of Law (beziehungsweise Rechtsstaatlichkeit) sind. Schließlich kann man, so Fuller, nur in einem Rechtssystem, in dem diese Grundsätze eingehalten und die betreffenden Erwartungen nicht enttäuscht werden, von „Recht“ in einem nicht-trivialen Sinne sprechen, weil und insofern nur in einem solchen Rechtssystem Rechtstreue gefordert werden kann. Bei dieser geht es nicht um „respect for constituted authority“, die Verbindlichkeit des Polizeiknüppels, sondern um die legitime Forderung nach „fidelity to law“.150 Diese Skizze wirft eine Reihe von Fragen auf, die meines Erachtens in der Debatte zwischen Fuller und Vertretern der Schule H. L. A. Harts nicht wirklich geklärt worden sind. Was soll es bedeuten, dass die als Grundsätze formulierten Erwartungen eine „morality“, und noch dazu eine „inner morality of law“ 151 konstituieren und nicht bloß eine Menge an Klugheitsregeln oder Maximen für effektives Regieren, wie manche Kritiker Fullers eingewendet haben?152 Warum sollten die das Intendment bildenden Erwartungen gerechtfertigte Erwartungen sein? Man könnte doch sagen, dass, wer in einer Diktatur so etwas wie Gesetzesbindung erwartet, naiv sei. Mehr noch: Wäre es nicht naheliegend zu behaupten, dass zu einem totalitären Regime eben andere Erwartungen gehören, damit aber ein anderes Intendment, und daher andere „principles of legality“? Hätte jedoch das Recht eines solchen Staates wirklich Anspruch auf „fidelity to law“ – und
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Fuller (1969), S. 41. Fuller (1969), S. 62 et passim. Gelegentlich ist bei ihm auch von „the internal morality of law“ die Rede, vgl. etwa S. 173. 152 Vgl. Hart (1958), S. 613, der sich hier aber nicht auf The Morality of Law bezieht; ferner Hart (1967), S. 274; außerdem Lyons (1984), S. 77. 151
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würden wir ernsthaft, außer in einem sehr schiefen Sinne, von der „morality“ etwa des NS-Rechts sprechen wollen? Nun geht es hier zwar nicht darum, eine Philosophie der Rule of Law zu entwickeln. Für die Untersuchung von Vagheit im Recht würde es genügen, die wichtigsten Elemente der Rule of Law (nach Fuller) aufzuzählen und zu fragen, inwiefern Vagheit hier problematisch werden könnte. Das soll in C.V. auch geschehen. Wenn ich zuvor jedoch einen Exkurs einfügen und versuchen möchte, Fullers Konzeption der Rule of Law beziehungsweise den sie tragenden Gedanken zu rekonstruieren, dann deshalb, weil genau dies so gut wie immer unterbleibt: Zwar bilden Fullers acht Prinzipien den Ausgangspunkt auch noch für diejenigen, die seine Rechtsphilosophie kritisiert haben. Allerdings werden die acht Grundsätze häufig in Gestalt einer kommentierten Aufzählung eingeführt, die den Eindruck erweckt, man hätte es hier mit einer Liste von Anforderungen oder Eigenschaften zu tun, die vielleicht „nice to have“ wären, die in westlichen Rechtssystemen den Status von Selbstverständlichkeiten haben und deren Fehlen vielleicht beklagenswert, aber dafür, „Recht“, ein „Rechtssystem“ zu sein, nicht weiter wichtig ist. Die philosophisch interessante These von Fuller besteht aber nicht in einer Aufzählung unverbundener Forderungen, sondern in dem Gedanken, dass ein Rechtssystem, das die Prinzipien der Rule of Law nicht verwirklicht, intrinsisch defekt und nur in einem trivialen, uneigentlichen Sinne ein Rechtssystem ist – so wie ein nichtiger Vertrag nur in einem trivialen, uneigentlichen Sinne ein Vertrag, oder ein logisch fehlerhafter mathematischer Beweis, der nichts beweist, nur in einem trivialen, uneigentlichen Sinne ein Beweis ist. 2. Exkurs: „Inner morality of law“? Im Zentrum von Fullers Philosophie der Rule of Law steht eine scheinbare Randbemerkung:153 Wenn die das Intendment bildenden Erwartungen einer Praxis beziehungsweise Institution nicht mehr erfüllt werden, dann verliert die betreffende Praxis ihren Witz („point“) und die Teilnahme an ihr wird sinn-
153 Dieser Vorschlag zur Rekonstruktion von Fullers Idee einer „inner morality of law“ war bereits abgeschlossen, als die sehr lesenswerte Studie von Rundle (2012) erschien. Rundles Untersuchung übertrifft meines Erachtens an Quellennähe alles, was bislang zu Fullers Philosophie der Rule of Law geschrieben wurde. Ihren Versuch, unter den dicken Ablagerungen dessen, was andere – insbesondere aus der Schule H. L. A. Harts – als Fullers Position ausgegeben haben, den ursprünglichen Fuller freizulegen und zu verteidigen, unterstütze ich vollkommen. Gerade deshalb denke ich jedoch, dass meine folgenden Überlegungen durch Rundles Buch nicht überflüssig gemacht werden, denn man kann Fuller, wie mir scheint, viel stärker und philosophisch interessanter machen, wenn man seine Philosophie von „law’s inner morality“ im Lichte dessen rekonstruiert, was Philippa Foot und Michael Thompson über „natural goodness“ gesagt haben. Dieser Exkurs ist also nicht als Konkurrenz zu Rundles Studie zu lesen, sondern als Zuspitzung ihres Projekts, Fuller philosophisch zu rehabilitieren.
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los.154 Diese Bemerkung wird verständlich, wenn man sie im Lichte einer oft unterschätzten Einsicht Wittgensteins in die Natur von Sprachspielen versteht: „Das Spiel, möchte man sagen, hat nicht nur Regeln, sondern auch einen Witz.“ 155 Nehmen wir die Praxis des Schachspielens. Sie umfasst nicht nur eine Menge an Regeln, anhand derer sich korrekte von inkorrekten Spielzügen unterscheiden, sondern auch eine „Pointe“, ein „worum es geht“: Jemandem, der mit dem Schachspielen nicht vertraut ist und zum ersten Mal eine Partie verfolgt, könnten wir auf seine Frage, worum es dabei gehe, antworten, das Ziel beim Schachspielen bestehe darin, den gegnerischen König matt zu setzen. Angenommen nun, der Fragende hätte eine genaue Kenntnis der Schachregeln sowie der Schachfiguren, hätte aber noch nie davon gehört, dass es so etwas gibt wie Spiele. Es wäre dann denkbar, dass er auf unsere Antwort erwidert, das habe er nicht gemeint, denn dass das Hin und Her auf dem Schachbrett auf das Mattsetzen hinauslaufe sei ihm bekannt; vielmehr wolle er wissen, warum sich zwei Spieler überhaupt darauf einließen, stundenlang an einem uninteressant gestalteten Brett zu sitzen und Figürchen hin- und herzuschieben. Wir könnten ihm antworten, Schach werde wie andere Spiele auch zum Zweck des Zeitvertreibs gespielt oder es werde zu dem Zweck gespielt, das logisch-strategische Denkvermögen zu schulen, oder es werde zu dem Zweck gespielt, sich mit dem Gegner zu messen und dadurch etwas über seine eigenen Fähigkeiten zu erfahren usw. Ein anderes von Wittgenstein verwendetes Beispiel wäre die Praxis, im Lebensmittelgeschäft ein Stück Käse auf die Waage zu legen:156 Diese Praxis wird, 154 „I have been emphasizing that obedience to rules loses its point if the man subject to them knows that the rulemaker will not himself pay any attention to his own enactments. The converse of this proposition must also be kept in mind, namely, that the rulemaker will lack any incentive to accept for himself the restraints of the Rule of Law if he knows that his subjects have no disposition, or lack the capacity, to abide by his rules; it would serve little purpose, for example, to attempt a juristic ordering of relations among the inmates of a lunatic asylum.“ Fuller (1969), S. 219. Andeutungen ähnlichen Inhaltes finden sich verstreut an mehreren Stellen in The Morality of Law. Vgl. auch seine Beschreibung der Erwartungen, die wir als Wähler bezüglich des Umgangs mit unseren abgegebenen Stimmzetteln hegen (S. 217): Zu den „Selbstverständlichkeiten“ der Institution demokratischer Wahlen gehört es (aus unserer Sicht), dass die Stimmabgabe nicht manipuliert wird, Stimmzettel nicht unausgezählt weggeworfen werden, das verkündete Wahlergebnis auch das wirkliche Wahlergebnis wiedergibt usw. Kommen diese Selbstverständlichkeiten zu Bewusstsein, dann vielleicht deswegen, weil sie angesichts von Wahlbetrug oder Ähnlichem unselbstverständlich geworden sind. Ist nicht mehr damit zu rechnen, dass diese Selbstverständlichkeiten eingehalten werden, dann verlieren Wahlen die Funktion, die sie in demokratischen Gesellschaften haben (Herrschaftsbefugnis zu übertragen, Herrschaft zu legitimieren und zu kontrollieren, etc.), und die Teilnahme an ihnen würde „sinnlos“, die Wahl selbst zu einer Farce. 155 Wittgenstein (1984) (= PU), § 564. Eine hervorragende Untersuchung dazu, der ich viel verdanke, stammt von Timo-Peter Ertz (2008) dessen Rede von der „Teleologie einer Praxis“ ich im Folgenden übernehme. 156 PU § 142.
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wie auch das Schachspielen, von Regeln geleitet.157 Sie hat aber darüber hinaus eine teleologische Struktur: Sie wird ausgeübt mit dem Ziel, das Gewicht des gewählten Käsestückes zu bestimmen und dadurch den Betrag zu ermitteln, den der Käufer für dieses Stück zu bezahlen hat. Der Zweck dieser Praxis wiederum besteht darin, Gütertausch (Handel) nach einem bestimmten Verhältnis zu ermöglichen. Ziel und Zweck einer Praxis bilden zusammen ihre Teleologie. Die Unterscheidung zwischen Ziel und Zweck mag künstlich erscheinen, zumal im Deutschen beide Ausdrücke oft synonym gebraucht werden; sie bildet jedoch einen realen Unterschied ab: Ziel einer Praxis ist das, was erreicht werden muss, damit eine Partie (ein Durchlauf dieser Praxis, eine ihrer Instanziierungen) als erfolgreich abgeschlossen betrachtet wird. Zweck einer Praxis hingegen ist das, dem ihr Vollzug dient, also das, was man ihre „funktionale Einbettung in unser Leben“ nennen könnte:158 Man spielt Schach nicht um des Mattsetzens willen, sondern wegen des angenehmen Zeitvertreibes oder wegen der (erhofften) Schulung des logisch-strategischen Denkvermögens. Man legt im Lebensmittelgeschäft die Käsestücke nicht auf die Waage, um immerfort neue Zahlen ausrechnen zu können (würde uns der Verkäufer an der Theke sagen, dass er den Käse nur deswegen abwiegt, dann fänden wir dies befremdlich), sondern um den Preis zu ermitteln, den man für den Käse von seinem Kunden verlangt. Erreicht man das Ziel der jeweiligen Praxis nicht, dann ist das vielleicht ärgerlich, aber kein Grund, die Praxis aufzugeben.159 Hört die Praxis hingegen auf, zweckdienlich zu sein, etwa weil aufgrund von plötzlich veränderten Naturgesetzen Schachfiguren immer in dem Augenblick verschwinden, wenn sie gezogen werden sollen, oder Käsestücke im Moment des Wiegens unaufhörlich ihr Gewicht verändern, dann würde die Praxis des Schachspielens oder Käsewiegens nicht einfach nur undurchführbar, sondern witzlos, und nicht nur würde die Teilnahme an ihr sinnlos; dass die Praxis witzlos geworden ist, wäre ein guter Grund dafür, sie aufzugeben.
157 „Der Kunde wähle ein Stück Käse und gebe an, wie viel er davon kaufen möchte“, „Der Verkäufer lege das vom Kunden ausgesuchte Stück Käse auf die Waage; warte, bis das Gewicht angezeigt wird; schlage den Preis je Kilogramm der gewählten Käsesorte in der Preistabelle nach; multipliziere das Gewicht des Stücks in Kilogramm mit diesem Preis“, etc. 158 Diesen Ausdruck übernehme ich von Ertz (2008). 159 Eine Praxis wie Schach ist ein abstrakter Gegenstand und damit weder räumlich noch zeitlich lokalisiert. Lokalisiert und damit ein konkreter Gegenstand ist nur diese oder jene Schachpartie. Der Ausdruck „Praxis“ kann jedoch für beide Fälle gebraucht werden. Im Folgenden werde ich darauf verzichten, jedes Mal darauf hinzuweisen, in welchem Sinne ich den Ausdruck gebrauche. Der Kontext sollte dies jeweils deutlich machen. Wenn hier und im Folgenden die Rede von „eine Praxis aufgeben“ ist, dann ist damit gemeint, auf weitere Instanziierungen von ihr zu verzichten – etwa, weil diese unmöglich geworden sind. Wenn gesagt wird, eine Praxis habe dieses Ziel oder jenen Zweck, dann ist damit gemeint, ihr Vollzug habe dieses Ziel oder jenen Zweck.
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Die Teleologie einer Praxis ist nun aus drei Gründen wichtig: Erstens muss man sie kennen, um die Praxis zu meistern. Zweitens wird eine Praxis nicht – oder zumindest nicht allein – durch ihre Regeln konstituiert, sondern durch ihre Teleologie. Drittens haben wir in Abhängigkeit davon, als was wir die jeweilige Praxis identifiziert haben, bestimmte Erwartungen, etwa an das Verhalten der Teilnehmer, wobei diese Erwartungen normativ sind. Eine Praxis meistern: Wenn wir jemanden in der Praxis des Schachspielens unterweisen möchten, dann genügt es offenkundig nicht, ihm lediglich die Schachregeln darzulegen. Von jemandem, der nicht weiß, dass das Ziel des Spieles im Mattsetzen besteht, kann man nicht sagen, er spiele eine Partie Schach, und zwar auch dann nicht, wenn alle seine Züge regelkonform sind. Entsprechendes gilt für den Zweck des Spiels: Jemand, der glaubt, Schach müsse man als tödlichen Ernst betreiben oder spielen, um seine Schachpartner zu demütigen, von dem würden wir sagen, er habe nicht begriffen, was es heißt, ein Spiel zu spielen.160 Konstitution einer Praxis: Vielleicht würden wir uns aber auch fragen, ob das, was wir für seine seltsame Weise, Schach zu spielen, hielten, nicht etwas ganz anderes ist. Angenommen, wir stießen auf eine Gesellschaft, in der eine Praxis ausgeübt wird, die unserem Schachspielen genau gleicht, was das Spielbrett, die Figuren und Spielregeln angeht. Allerdings wird sie ausschließlich am letzten Tag des Jahres ausgeübt und dann auch nicht von jedem, sondern von zwei Personen, die durch Los dazu erwählt werden und sich ein Jahr lang durch eine mönchische Lebensweise in einer Art Kloster vorbereiten müssen. Die Partie findet in einem feierlichen Rahmen vor festlich gekleidetem Publikum statt. Männer sitzen von der Position der Teilnehmer aus gesehen auf der linken, Frauen auf der rechten Seite. Die Teilnehmer sind immer weiß beziehungsweise schwarz gekleidet. Die Partie beginnt immer genau um Mitternacht. Gewinnt Schwarz, so gilt dies als böses Omen für das nächste Jahr. Gewinnt hingegen Weiß, so gilt das als glückliches Vorzeichen. Schwarz wird am folgenden Tag feierlich zur Stadt hinaus getrieben, zu Weiß dagegen bringt man Kranke, damit er ihnen die Hand auflegt usw. Würden wir sagen, dass diese Gesellschaft eine seltsame Weise entwickelt hat, Schach zu spielen? Oder würden wir nicht vielmehr sagen, dass es sich dabei allen Ähnlichkeiten zum Trotz nicht um ein Spiel handelt, sondern um eine religiöse Zeremonie? Vermutlich Letzteres. Daran sieht man, dass, wie Ertz schreibt, Regeln zwar ein Spiel als Schach konstituieren können, also im Unterschied zu Dame oder Tennis, nicht jedoch Schach als Spiel im Unterschied zu Schach als religiösem Ritus.161 Dennoch ist der Charakter des Spielseins, also 160 „Jede Praxis, insofern ihr Sinn bzw. ihr Witz durch eine funktionale Einbettung in unser Leben bestimmt ist, weist diese teleologische Struktur auf. Daher gehört der Witz der Praxis nicht nur zu ihrer Beschreibung, sondern vielmehr ist die Orientierung am Witz auch zentral für das Handeln innerhalb einer Praxis.“ Ertz (2008), S. 69. 161 Ertz (2008), S. 10.
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unterhaltend zu sein, „nur ein Spiel zu sein“, dem Schach ja nicht unwesentlich – auch wenn es keine Schachregel gibt, die festlegt, Schach müsse als Spiel betrieben werden und habe unterhaltend zu sein. Das ergibt sich erst aus seiner Teleologie. Normative Erwartungen: Angenommen nun, wir haben das Geschehen zwischen zwei Personen nicht als religiöse Zeremonie, sondern als Schachpartie identifiziert. Wir erwarten dann – oder gehen besser gesagt ganz selbstverständlich davon aus –, dass sich die Spieler auf eine bestimmte Weise verhalten. So erwarten wir etwa, dass die Spieler konzentriert und mit dem nötigen Ernst spielen, dass sie regelkonforme Züge ausführen, dass sie davon absehen, in unbeobachteten Momenten die Figuren umzustellen oder die Partie mit der Begründung abzubrechen, sie hätten jetzt keine Lust mehr. Bemerkenswert an diesen Erwartungen ist, dass es sich bei ihnen nicht um Erwartungen darüber handelt, was in der Regel geschieht, also nicht um statistische Generalisierungen beziehungsweise Wahrscheinlichkeiten. Angenommen, einer der Spieler würde das Spiel durch albernes Verhalten sabotieren, ständig inkorrekte Züge ausführen oder jede sich bietende Gelegenheit dazu nutzen, die Figurenanordnung zu manipulieren. In all diesen Fällen würden wir nicht mit einem bloßen „Tja, da hat der andere Spieler eben Pech gehabt; so etwas kommt manchmal vor“ reagieren, wie wenn wir in der Straßenbahn plötzlich feststellen, dass wir unsere Fahrkarte zu Hause vergessen haben und ausgerechnet jetzt eine der ansonsten eher seltenen Kontrollen stattfindet. Wir wären stattdessen überrascht und befremdet, vielleicht auch verärgert – und für den Fall, dass wir Gründe zu der Annahme hätten, der Spieler tue das, was er tut, mit Absicht, dann würden wir sein Verhalten missbilligen oder wären vielleicht sogar empört. Empörung und Missbilligung sind nun sehr spezifische Reaktionen: Man kann nicht darüber empört sein, dass das Wetter schlecht ist, dass man sich eine Erkältung zugezogen hat oder man von der Nachbarskatze gekratzt wurde. Missbilligung und Empörung als Reaktionen sind nur dann angebracht, wenn wir es mit vernünftigen Wesen zu tun haben, die nicht so gehandelt haben, wie sie uns oder anderen gegenüber hätten handeln sollen. Wie aber kommt das Sollen in diese Praxis beziehungsweise woher wird der Maßstab genommen, anhand dessen das Verhalten des Schachspielers als Fehlverhalten beurteilt wird, und inwiefern wird hier die Teleologie des Schachspielens relevant? Die Antwort scheint folgende zu sein: Wer mit der Praxis des Schachspielens vertraut ist, der kennt ihre Regeln und ihre Teleologie und kann eine Reihe von wahren Aussagen über diese Praxis formulieren, also etwa „Schach spielt man nach diesen und jenen Regeln“ oder „Schach spielt man mit Konzentration, Ernsthaftigkeit und Respekt vor seinem Gegner“ oder „Schach spielt man zur Unterhaltung“. Es handelt sich dabei um Sätze eines Typs, der sich analog zu den Sätzen verhält, die Michael Thompson als „Aristotelische Kategoriale“ bezeichnet hat.162 Nehmen wir Sätze wie „Wölfe leben in Rudeln“, „Katzen haben vier
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Beine“, „Meerschweinchen sind Pflanzenfresser“ oder „Eulen habe gute Nachtsicht“. Diese Sätze drücken nicht nur empirischen Generalisierungen oder Wahrscheinlichkeitsaussagen aus. Sie sagen nicht bloß, dass etwas häufig der Fall ist, sondern, dass etwas die Norm, dass diese oder jene Eigenschaft zu haben für Eulen und Meerschweinchen „natürlich“, „normal“ ist. Das zeigt sich auch daran, dass wir eine nachtblinde Eule als „krank“ oder „defekt“ ansehen würden und die Fütterung von Meerschweinchen mit Fleisch als „nicht artgerecht“. Jedes zoologische Handbuch, das die Lebensform einer Spezies adäquat beschreiben möchte, muss auf diesen Satztyp zurückgreifen. Bloße Generalisierungen von Verhaltensbeobachtungen reichen dazu nicht aus, da immer die Möglichkeit besteht, dass die Menge an Verhaltensbeobachtungen entweder nicht repräsentativ ist, oder die Individuen der Spezies beispielsweise durch anthropogene Umweltschäden schwer beeinträchtigt wurden. Aristotelische Kategoriale haben wie viele Sätze eine interessante Doppelfunktion: Man kann sie verwenden, um informative Aussagen über die Welt zu machen. Wer von Eulen bislang nur wusste, dass es sich bei ihnen um Vögel handelt, lernt durch das Aristotelische Kategorial „Eulen haben gute Nachtsicht“ etwas (Wahres) über die Individuen dieser Spezies. Man kann Aristotelische Kategoriale aber auch als grammatische Sätze verwenden: Man sagt dann, dass der Zusammenhang zwischen „eine Eule sein“ und „gute Nachtsicht haben“ ein begrifflicher ist. Analog verhält es sich auch mit Praxisbeschreibungen, also Sätzen wie „Spiele sind unterhaltend“: „Der Unterhaltungswert von Spielen ist nicht nur ein empirisches Faktum, sondern mit dem Begriff des Spiels verbunden. Ein nicht unterhaltendes Spiel hat einen Defekt – und zwar eine Art von Defekt, die dem Spiel immanent ist. D.h. ein langweiliges, witzloses, uninteressantes Spiel erfüllt seinen ihm eigenen Zweck nicht.“ 163
Zwischen Lebensform- und Praxisbeschreibungen gibt es nun mindestens einen wichtigen Unterschied: Man kann sich nicht auf dieselbe Weise dafür entscheiden, ein Wolf zu sein, wie man sich dafür entscheiden kann, die Rolle des Schachspielers zu übernehmen. Das Wolfsein besteht nicht darin, dass man aus freien Stücken eine bestimmte Rolle auf sich genommen hat; das Schachspielersein hingegen schon. Man „kann etwas dafür“, ein Schachspieler zu sein, nicht jedoch dafür, ein Wolf zu sein. Selbst wenn es sich bei Wölfen und Eulen um moralfähige vernünftige Akteure handeln würde, die grundsätzlich dazu imstande wären, Forderungen anzunehmen und entsprechende Handlungen vorzunehmen oder zu unterlassen, könnte man deshalb aus dem, was für Wölfe oder Eulen richtig ist, also gemeinsam im Rudel zu heulen oder gute Nachtsicht zu haben, nicht eine Forderung an die Adresse von diesem Wolf oder jener Eule 162 Thompson (1995). Philippa Foot (2001) hat diese Idee Thompsons zu einer ethischen Theorie der „natural goodness“ ausgebaut. 163 Ertz (2008), S. 69.
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machen. Bei Praxisbeschreibungen geht das durchaus: Zu sagen „Schach spielt man nach diesen und jenen Regeln“ heißt zu sagen: „Schachspieler spielen nach diesen und jenen Regeln“, und das heißt zu sagen, dass Tim und Tom als Schachspieler nach diesen oder jenen Regeln zu spielen haben. Man kann diese Aussagen in Forderungen an die Adresse von Tim oder Tom umformen, also etwa: „Was wir hier spielen, ist eine Partie Schach; darum lass bitte Deine Phantasiezüge und spiel gefälligst nach den Schachregeln!“ Halten wir also in aller Kürze fest: Erstens gehört zum adäquaten Begriff einer Praxis ihre Teleologie. Zweitens geht die Teleologie einer Praxis mit Erwartungen sowohl bezüglich der Welt als auch bezüglich des Verhaltens der anderen Teilnehmer einher; erweisen sich diese Annahmen dauerhaft als falsch beziehungsweise werden diese Erwartungen permanent frustriert, dann wird die Praxis witzlos und die Teilnahme an ihr sinnlos. Drittens können die Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens der anderen Teilnehmer als (berechtigte) Forderungen explizit gemacht werden, gegen die zu verstoßen vorwerfbar ist und die für (vorsätzliche) Verstöße gegen Normatives typischen Reaktionen (Missbilligung, Empörung) hervorruft. Die Gesamtheit dieser Forderungen ergibt eine Moral der jeweiligen Praxis und kann, da sie begrifflich mit dem verbunden ist, was die betreffende Praxis ist und soll, „innere Moral“ der betreffenden Praxis genannt werden. Um diesen Gedankengang auf das Recht zu übertragen, beginnt man sinnvollerweise mit der Betrachtung von dessen Teleologie.164 Dazu bietet es sich an, eine Idee von Summers aufzugreifen, der fünf basale Arbeitstechniken („basic operational techniques“) identifiziert hat, mit denen beziehungsweise durch die jedes Rechtssystem operiert:165 Es sind dies die poenale, remediale, administrativ-regulative, benefiziale und arrangierende Technik, wobei jede dieser Techniken (von Summers auch „modes“ genannt) als „linear progression“ analysiert werden kann, die mit dem Erlass einer Rechtsnorm beginnt und über deren Verkündung, ihre Verankerung im Verhalten von Bürgern, ihre Umsetzung durch die Verwaltung sowie ihre Anwendung durch Gerichte schließlich in die Durchsetzung behördlich und gerichtlich angeordneter Rechtsfolgen einmündet.166 Die fünf Modi 164 Man sollte dabei im Blick behalten, dass die positiven Rechtsnormen eines Rechtssystems, etwa die Bestimmungen des BGB oder StGB, sich zur Praxis Recht nicht so verhalten wie die Schachregeln zu der Praxis des Schachspielens, sondern eher so wie Schachzüge zum Schachspielen. Das Recht ist nämlich, anders als Schach, eine Praxis, in der die Erzeugung von Normen ein möglicher Spielzug ist, für den aber selbst wiederum Spielregeln gelten (wie auch für die Anwendung dieser Normen etwa im Gerichtssaal). Diese Spielregeln wiederum sind selbst (zumindest teilweise) als positive Rechtsnormen niedergelegt, zum Beispiel in der Verfassung oder, für gerichtliche Rechtsanwendung, in den verschiedenen Prozessordnungen. 165 Summers (1971), Summers (1998–1999). 166 Die gewählten Ausdrücke sind zwar unschön, halten sich jedoch sehr eng an Summers Terminologie, der von „penal“, „grievance-remedial“, „administrative-regulatory“, „public-benefit conferral“ und „private-arrangement technique“ spricht.
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unterscheiden sich voneinander zunächst einmal durch das, was Summers „primary thrust“ nennt, also ihre primär verbietende („prohibitive“), wiederherstellende („reparative“), regulierende („regulative“), verteilende („distributive“) oder ermöglichende („facilitative“) Wirkungsweise, sowie durch den unmittelbaren Ertrag, den sie liefern, nämlich Verbrechensbekämpfung, Kompensation für Schäden, Übereinstimmung zwischen Regeln und Adressatenverhalten („regulatory compliance“), öffentliche Wohlfahrt und individuelle Selbstverwirklichung durch rechtliche Privatautonomie. Hinzu kommen als weitere Unterscheidungskriterien die jeweilige Rolle von Bürgern und Amtsträgern im Rahmen der jeweiligen Technik, Art und Umfang des jeweils ausgeübten staatlichen Zwangs sowie die „differences in the collaborative roles of adjudicative and legislative bodies“.167 Trotz ihrer Verschiedenheit greifen die einzelnen Modi in der Praxis häufig ineinander: Zu einer vollständigen Beschreibung der gesetzlichen Regulierung des Straßenverkehrs etwa gehört die Definition bestimmter Straftaten wie Fahrerflucht (poenal) ebenso wie die Einführung des Führerscheins mit Fahrprüfung (administrativ-regulatorisch), oder auch die Verkehrserziehung an staatlichen Schulen (benefizial).168 Betrachten wir die fünf Operationsmodi etwas genauer: Zum Arsenal der poenalen Technik gehört, dass „legislatures prohibit criminal conduct; police, prosecutors, courts, and punitive and correctional officials deter would-be criminals; and actual criminals are caught and punished“.169 Ihre primäre Wirkung ist prohibitiv und zielt auf Verbrechensbekämpfung ab.170 Neben der remedialen Technik ist sie wohl diejenige, an die man für gewöhnlich als erstes denkt, wenn man danach gefragt wird, was das Recht „tut“. Die remediale Technik dient dazu, Schäden rückgängig zu machen oder zumindest zu kompensieren. Sie kommt dadurch zum Einsatz, dass „courts and legislatures define remediable grievances such as harm due to negligence and intentional torts, and courts provide reparation for grievances, thereby also influencing people not to cause such grievances in the first place.“ 171 Die administrativ-regulative Technik unterscheidet sich, so Summers, von der remedialen durch ihren präventiven Charakter, das heißt sie kommt zum Einsatz, 167
Summers (1971), S. 745. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Operationsweisen sind natürlich fließend. So können etwa Bestimmungen über den Ersatz, den man einem anderen für die ihm im Straßenverkehr zugefügten Schäden zu leisten hat, genauso von bestimmten unerwünschten Verhaltensweisen abschrecken wie strafrechtliche Sanktionen – oder in der Praxis von juristischen Laien auch als „Teil“ der durch die Justiz verhängten Strafe für Fehlverhalten angesehen werden. Auf diese Details kommt es hier aber nicht an. 169 Summers (1998–1999), S. 1697. 170 So zumindest Summers. Tatsächlich ist die Frage, worin der Sinn beziehungsweise Zweck von Strafe besteht, rechtsphilosophisch bekanntermaßen ein weites Feld. 171 Summers (1998–1999), S. 1697. 168
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bevor Schäden eintreten (deren Behebung beziehungsweise Kompensation dann in den Bereich des remedialen Modus fallen), und sie unterscheidet sich von der poenalen dadurch, „that it regulates wholesome activity rather than prohibits antisocial forms of behavior altogether“.172 Sie besteht darin, „that administrators will take precautionary steps to assure that parties subject to regulation comply with specified regulatory standards so nothing untoward will occur.“ 173 Genauer gesagt ist sie der Operationsmodus des Rechts, „in which administrative officials (a) lay down standards in advance regulating conduct such as television programming, food manufacturing, building construction, public transportation, etc., (b) take other regulatory steps such as licensing and periodic inspections which are designed to secure compliance with those standards, and (c) impose sanctions on actual violators (which may require judicial action, too)“.174 Die benefiziale Technik besteht in der rechtlich geregelten Definition und Verteilung von „substantive governmental benefits“ 175 sowie der Sicherstellung von dazu erforderlichen Mitteln wie beispielsweise Steuern. Zu den „governmental benefits“ gehören etwa staatliche Gesundheitsfürsorge, soziale Transferzahlungen (Renten, Kindergeld), Bildung, aber auch Steuerbegünstigungen oder öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Die arrangierende Technik schließlich besteht darin, dass das Recht für natürliche oder juristische Personen die Möglichkeit eröffnet, in rechtlich bindende beziehungsweise mit rechtlichen Pflichten und Rechten verbundene Verhältnisse einzutreten, also zum Beispiel die Ehe einzugehen, Verträge zu schließen, testamentarische Verfügungen zu treffen, Vereine zu gründen usw.176 Diese Technik nennt Summers „facilitative“, wobei die Mehrdeutigkeit dieses Ausdruckes aufschlussreich ist: Das Recht ermöglicht es Personen, durch rechtliche Institute die staatlichen Aufsichts-, Dokumentations- und Zwangsinstrumente für eigene Anliegen in Anspruch zu nehmen, wodurch zugleich die Erreichung der damit verbundenen Ziele erleichtert wird. Spätestens hier zeigt sich, dass man die Einteilung von Summers nicht als Differenzierung nach Rechtsgebieten (Zivilrecht, Strafrecht, Öffentliches Recht) missverstehen darf, denn unter diesem Gesichtspunkt fielen arrangierende und remediale Technik beide in das Gebiet des Zivilrechts und die interessanten Unterschiede zwischen ihnen würden verwischt.177
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Summers (1971), S. 737. Summers (1971), S. 737. 174 Summers (1998–1999), S. 1697. 175 Summers (1998–1999), S. 1698. 176 Tatsächlich spricht Summers hier nur von natürlichen Personen. Das schließt aber ganz unnötigerweise juristische Personen wie etwa Unternehmen, Vereine etc. aus, für die durch das Recht jedoch ebenfalls Institute dieser Art eingerichtet werden. 177 Summers Einteilung unterscheidet sich auch von solchen entlang der Gewaltenteilung, und zwar aus zwei Gründen: „First, to represent law’s techniques in terms of 173
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Natürlich könnte man diskutieren, inwiefern etwa die Charakterisierung der administrativen Technik über ihre Präventivität oder den Bezug auf „wholesome activity“ sinnvoll ist, und ob es nicht treffender wäre, das Spezifische an ihr mit Blick auf die beteiligten Institutionen (Behörden) oder die Rolle der Bürger herauszuarbeiten, die in der arrangierenden Technik wesentlich aktiver und gestaltender ausfällt als hier. Interessant wäre ferner die Frage, ob es noch andere basale Operationsweisen des Rechts gibt. An Summers Liste fällt nämlich auf, dass die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns oder auch die Überprüfung der gesetzgeberischen Aktivität in Gestalt einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle der erlassenen Rechtsnormen nicht abgedeckt ist. Die Antwort wird davon abhängen, was man als „basale“ Arbeitsweise des Rechts ansieht – oder ansehen sollte. Dass die Kontrolle des Handelns staatlicher Amtsträger jedenfalls kein bloßes Desideratum ist, sondern einen intimeren Zusammenhang mit dem Begriff des Rechts aufweist, wird noch deutlich werden. Zunächst aber noch einmal zur Teleologie des Rechts: Wenn der jeweilige Modus ein Spiel wie Schach wäre, wann würden wir sagen, dass ein Spieler „die Partie gewonnen“ hat? Bei der poenalen Technik wäre dies wohl dann der Fall, wenn es der Polizei gelungen ist, ein Verbrechen aufzuklären und den (wirklich) Schuldigen zu präsentieren; wenn ferner die Staatsanwaltschaft seine gerichtliche Verurteilung durchsetzen und die verhängte Strafe vollzogen werden kann. Für die remediale Technik würde man sagen, dass sie ihr Ziel erreicht hat, wenn der dem O durch T zugefügte Schaden durch Verurteilung des T zu einem angemessen Schadenersatz und die Durchsetzung der Zahlung kompensiert werden konnte usw. Entsprechendes gilt für die anderen Techniken. Wenn man nun überlegt, worin der Zweck der jeweiligen Technik des Rechts besteht, dann fällt auf, dass eine abschließende Antwort auf die Frage „Wozu dient . . .?“ darin besteht, die Sicherung eines Gutes zu nennen. So könnte man die Frage, was der Zweck der poenalen Technik sei, mit „Verbrechensbekämpfung“ beantworten. Diese Antwort ist aber nicht abschließend, denn man könnte daraufhin fragen, was denn deren Zweck sei etc., bis man schließlich zur Antwort erhält: „Um Gesundheit, Leben, Freiheit, Besitz, persönliche Ehre etc. der Bürger zu schützen“. Hier noch einmal zu fragen, worin denn deren Zweck bestehe, wäre nicht nur seltsam, sondern absurd, und würde Zweifel nahelegen, ob der Fragende verstanden hat, was mit den Ausdrücken „Gesundheit“, „Leben“ . . . ge-
separate legal institutions – judicial, legislative, and executive – is to distort the actual operation of law, for law’s techniques are really combinations of legal resources in which courts, legislatures, administrators, and private citizens function collaboratively rather than singly. Second, an analysis based on separation of powers theory focuses on public institutions and neglects the significant roles of private citizens in a legal system, whereas an analysis of the kind offered here explicitly accounts for these roles.“ Summers (1971), S. 747.
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meint ist, beziehungsweise ob er weiß, was es bedeutet, dass etwas ein Gut für den Menschen ist.178 Zur Vermeidung von Missverständnissen sind hier zwei Klarstellungen angebracht: Erstens ist die Rede von Gütern nicht zu verwechseln mit der Rede davon, dass etwas aus jemandes Sicht ein Gut für ihn sei – oder ein Gut, auf dessen Erlangung es ihm ankomme. Leben, Gesundheit usw. sind nicht für den einen Güter und den anderen nicht, etwa weil sie den einen „interessieren“ und den anderen nicht; sie sind menschliche Güter. Ein junger Raucher, dem es darauf ankommt, mit 40 noch gut angezogen zu sein, aber nicht darauf, mit 40 noch gesund zu sein, verhält sich irrational: Wenn er sagt „Mode interessiert mich, Gesundheit hingegen kümmert mich nicht“, dann würden wir ihm entgegnen „Das sollte sie aber“.179 Zweitens ist die Sicherung von Gütern nicht etwas, was das Recht sozusagen unter anderem und neben dem tut, was es sonst noch leistet, nämlich Handeln anleiten und koordinieren: Das Recht sichert diese Güter, indem es, insofern es und solange es das Handeln seiner Adressaten anleitet, sei es durch direkte Normenbefehle, sei es durch die Zuweisung von Rechten und Pflichten, die Bereitstellung von Instituten für bestimmte Zwecke, das Aussprechen von Sanktionen etc. Den Zweck des Rechts im Schutz bestimmter Güter zu sehen ist vereinbar damit, seine vorrangige Aufgabe mit Handlungsleitung, „guidance of action“, zu beschreiben, wie dies Fuller, Hart und Raz getan haben, vorausgesetzt, man behält das Spezifische rechtlicher Handlungsleitung im Blick: Angenommen, die Politiker eines Staates kämen unter dem Eindruck vermeintlich gesicherter neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Idee, man könne 178 Falls mit dieser Frage aber lediglich eine Verdeutlichung oder Einordnung der gegebenen Antwort in einen größeren Zusammenhang erbeten wird, dann könnte man sagen, dass es bei dem Schutz dieser Güter letztlich um das für Menschen gute Leben gehe. Es wäre aber seltsam zu sagen, diese Güter „bezweckten“ das gute Leben in dem gleichen Sinne wie die Strafverfolgung den Schutz einiger dieser Güter bezweckt, denn offenkundig ist jedes dieser Güter Selbstzweck und ihr Verhältnis ist kein instrumentelles, sondern eher das von Momenten an einem Ganzen, nämlich menschlichem Glück, eudaimonia oder „human flourishing“. Ich folge hier Finnis (1980). 179 Das Beispiel stammt von Philippa Foot (2003), das bei ihr jedoch anders situiert ist. Foots Überlegungen kreisen um eine angemessene Konzeption von Rationalität: „The problem is [. . .] that it is very difficult for someone to deny that it is contrary to rationality not to care about your future health to the degree that many people don’t when they start to smoke. For it is difficult to deny that prudence is part of rationality. But then it is very hard to find a basis for our concept of practical rationality that makes prudence a part of rationality and doesn’t make justice or charity a part of rationality. [. . .] You’ve either got to say: ,It isn’t contrary to rationality to ignore completely your future well-being,‘ and then give up saying that this kind of imprudence is contrary to rationality, or accept some conception of practical rationality that makes reference to things other than that which someone cares about. And of the young smoker, I think one definitely wants to say that he is defective with regard to the standards of practical rationality. After all, he is being silly!“ Foot (2003), S. 41.
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die Zwecke des Strafrechts viel effektiver dadurch erreichen, dass man den Bürgern bestimmte Implantate in den Neokortex einsetzt, um sie so durch leistungsfähige Supercomputer rund um die Uhr überwachen zu lassen und um gegebenenfalls steuernd eingreifen zu können, bevor sie eine gefasste kriminelle Absicht in die Tat umsetzen. Würden wir ein solches System noch als Rechtssystem ansehen? Wohl nicht. Warum aber nicht? Weil, so würden wir sagen, hier vielleicht noch von Handlungssteuerung die Rede sein kann, nicht jedoch von Handlungsleitung vermittels Normen. Das Recht soll ja seine Zwecke nicht auf jede erdenkliche Weise zu erreichen suchen, sondern eben auf eine bestimmte, und wo diese nicht mehr zur Anwendung kommt, da ist das Recht durch eine vielleicht effektivere, gleichwohl aber nicht mehr als „Recht“ zu bezeichnende Herrschaftsweise ersetzt worden. Es gehört zum Witz des Schachspielens, dass man mit regelkonformen Zügen zu gewinnen sucht, es gehört zum Witz der Medizin, dass sie sich um individuelle Heilung bemüht (statt um den Zustand echter oder eingebildeter Kollektive unter dem Titel der „Volksgesundheit“, „Rassenhygiene“ und dergleichen mehr) und es gehört zum Witz des Rechts, die Sicherung von Gesundheit, Leben, Besitz etc. dadurch zu gewährleisten, dass von den autorisierten Instanzen Normen erlassen und angewendet werden. Wie man sich aber an anderen sozialen Ordnungsarten, die gleichfalls normenbasiert sind, verdeutlichen kann, beispielsweise Fahrplänen der Eisenbahn, militärischen Formationen oder auch der Führung eines Unternehmens durch das Management, ist diese Bestimmung noch zu weit. Es geht im Recht nicht bloß um Handlungsleitung, und auch nicht einfach um Handlungsleitung vermittels Normen. Es geht um die normenbasierte Handlungsleitung von Personen, das heißt von vernünftigen Wesen, die autonom und mithin fähig sind, sich in ihrem Handeln aus Vernunft zu bestimmen, also Normen zu verstehen, ihnen zu folgen oder ihnen zuwider zu handeln und sich dafür zu verantworten: „To embark on the enterprise of subjecting human conduct to the governance of rules involves of necessity a commitment to the view that man is, or can become, a responsible agent, capable of understanding and following rules, and answerable for his defaults. Every departure from the principles of the law’s inner morality is an affront to man’s dignity as a responsible agent. To judge his actions by unpublished or retrospective laws, or to order him to do an act that is impossible, is to convey to him your indifference to his powers of self-determination. Conversely, when the view is accepted that man is incapable of responsible action, legal morality loses its reason for being. To judge his actions by unpublished or retrospective laws is no longer an affront, for there is nothing left to affront – indeed, even the verb ,to judge‘ becomes itself incongruous in this context; we no longer judge a man, we act upon him.“ 180
180 Fuller (1969), S. 162 f. Interessanterweise ist sich hierin der Naturrechtler Fuller mit dem marxistischen Rechtstheoretiker Pashukanis und dem Positivisten Raz einig gewesen. Pashukanis (1970), S. 77 f.: „Die Rechtsordnung unterscheidet sich gerade dadurch von jeder anderen sozialen Ordnungsart, daß sie mit privaten isolierten Subjekten
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Fullers Philosophie der „inneren Moral“ des Rechts ließe sich also folgendermaßen zuspitzen: Recht ist eine gesellschaftliche Praxis mit eigener Teleologie, die man grob etwa so charakterisieren könnte: Handlungsleitung der Rechtsadressaten durch Normen zu dem Zweck, Güter zu schützen, die Güter für alle Mitglieder einer Gemeinschaft sind, also etwa Leben, Gesundheit, Freiheit, persönliche Ehre, die Möglichkeit, gesicherte Beziehungen zu anderen Menschen eingehen zu können, eine eigene Konzeption des guten Lebens oder der Persönlichkeit, die man sein möchte, zu verwirklichen, oder überhaupt mit anderen Menschen in Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben zu können. Diese Liste ist natürlich nicht abschließend. Allerdings erfordert sie eine wichtige Qualifikation: Handlungsleitung durch Rechtsnormen bedeutet, Gründe zum Handeln zu geben, also die Adressaten prinzipiell als zur rationalen Selbstbestimmung fähige, das heißt autonome Wesen ernst zu nehmen. Das ist etwas anderes als Abrichtung, Manipulation durch zerebrale Implantate oder militärische Kommandos. Man kann dann vor dem Hintergrund der Teleologie der Praxis Recht eine Reihe von Praxisbeschreibungen bilden, die sich analog zu Thompsons Aristotelischen Kategorialen verhalten, also zum Beispiel: „Rechtsnormen leiten das Handeln ihrer Adressaten an“, „Rechtliche Handlungsleitung dient dem Schutz von universalen Gütern“, „Rechtliche Handlungsleitung operiert im Medium der Gründe“, „Normadressaten orientieren ihr Handeln an Rechtsnormen“ usw. Diese Sätze übersetzen sich entweder selbst unmittelbar in Forderungen an die Teilnehmer dieser Praxis oder sie erlauben die Ableitung solcher Forderungen mithilfe weiterer Prämissen, dass also zum Beispiel Handlungsleitung durch Normen Verständlichkeit, Widerspruchsfreiheit, Kennenkönnen, Erfüllbarkeit usw. voraussetzt. Die Gesamtheit dieser Sätze ergibt nicht bloße Wahrscheinlichkeitsaussagen oder Klugheitsregeln für effektives Regieren, sondern ein System normativer Forderungen an die Teilnehmer dieser Praxis (in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Rolle). Deshalb kann Fuller hier von einer „morality“ sprechen. Sie ergibt rechnet. Die Rechtsnorm erhält ihre differentia specifica, die sie aus der allgemeinen Masse der sittlichen, ästhetischen, utilitären usw. Regeln hervorhebt, gerade dadurch, daß sie eine mit Rechten ausgestattete und dabei aktiv Ansprüche erhebende Person voraussetzt. [. . .] Man kann unschwer beweisen, daß die Idee der unbedingten Unterwerfung unter eine äußere normsetzende Autorität mit der Rechtsform nicht das geringste zu tun hat. Man braucht dazu nur Beispiele einer solchen Struktur zu nehmen [. . .]. So etwa die in Reih und Glied aufgestellte Truppe, wo viele Menschen in ihren Bewegungen einer ihnen gemeinsamen Ordnung untergeordnet sind, wobei das einzige aktive und autonome Prinzip der Wille des Befehlsführers ist. [. . .] Man braucht sich nur in diese Beispiele zu vertiefen, um zum Schluß zu kommen, daß je konsequenter das Prinzip der autoritären, jeden Hinweis auf einen gesonderten autonomen Willen ausschließenden Regelung durchgeführt ist, desto weniger Boden für die Anwendung der Kategorie des Rechts bleibt.“ Für Raz vgl. sein (1979), S. 221 f. In jüngster Zeit hat Waldron (2008) den Gedanken, dass das Recht seine Adressaten als vernünftige Wesen anspricht und respektiert, aufgegriffen, um damit Zusammenhänge zwischen dem Begriff des Rechts und dem Begriff der Rule of Law herauszuarbeiten.
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ferner eine „inner morality of law“, insofern sie mit dem Begriff des Rechts selbst verbunden ist, da zu diesem Begriff auch die Teleologie des Rechts gehört: Ein Spiel, das nicht unterhaltend ist, ist defekt, und zwar auf eine Weise, die mit dem Begriff des Spiels selbst zu tun hat. Recht, das durch einen Wust aus unverständlichen, widersprüchlichen, rückwirkenden Geheimgesetzen oder durch Schauprozesse deutlich macht, dass es sich für seine Adressaten nicht als vernünftige Personen interessiert, oder das den Charakter eines Instruments für die Durchsetzung ideologischer Kapricen der Herrschenden hat, ist nicht einfach, wie H. L. A. Hart einmal gesagt hat, „law“, wenn auch „evil“ 181; es ist Recht, aber es ist intrinsisch defekt – wie ein per se langweiliges Spiel oder ein nicht schlüssiger Beweis. Ein Gesetz als Geheimgesetz zu brandmarken bedeutet natürlich auch zu sagen, es sei unvereinbar mit einem elementaren Respekt vor der Autonomie seiner Adressaten. Es bedeutet aber ebenfalls zu sagen, ein solches Gesetz sei defekt, und zwar auf eine Weise, die mit dem Begriff des Rechts zusammenhängt. Um noch etwas schärfer zu fassen, was „Defekt“ hier bedeutet, empfiehlt sich der Rückgriff auf eine Typologie von Rechtsdefekten, die Thomas von Aquin ausgearbeitet hat: An Gesetzen sind nach Thomas drei Momente zu unterscheiden – sie geben eine Anweisung (haben eine vis directiva), sind zwangsbewehrt (haben eine vis coactiva) und verpflichten vor dem Forum des Gewissens (haben eine vis obligativa).182 Dementsprechend können sie auf dreierlei Weise defekt sein: Erstens kann es ihnen an vis coactiva mangeln, nämlich dann, wenn sie nicht mit Sanktionen verknüpft sind, oder wenn die für ihre Übertretung vorgesehenen Sanktionen nicht vollzogen werden.183 Zweitens kann es ihnen an vis directiva mangeln, wenn sie nicht öffentlich bekannt gemacht wurden184, von ihren Adressaten Unmögliches verlangen185, nicht allgemein sind hinsichtlich Adressatenkreis (personas), Verpflichtungen (negotia) und Zeit (tempora)186, oder wenn sie zu häufig abgeändert werden und damit instabil sind187. Der Mangel an vis directiva besteht darin, dass das Gesetz nicht in der Lage ist, seinen Zweck zu erfüllen, nämlich im Hinblick auf das Gemeinwohl das Handeln der Menschen anzuleiten. Unbekannten oder Unmögliches verlangenden Gesetzen kann niemand Folge leisten. Partikulare Gesetze und solche, die zwar allgemein sind, jedoch häufig geändert werden, sind nicht im181 182 183 184 185 186 187
Hart (1958), S. 620: „[L]aws may be law but too evil to be obeyed.“ S. th. I–II q. 96 a. 4co. et 5co. Das gilt streng natürlich nur für das Gebiet des Strafrechts. S. th. I–II q. 90 a. 4co. S. th. I–II q. 95 a. 3co. S. th. I–II q. 96 a. 1co. S. th. I–II q. 97 a. 2co. Vgl. hiermit Fullers „principles of legality“!
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stande, eine umfassende und stabile Koordinierung der Mitglieder einer Gemeinschaft untereinander und ihre Ausrichtung auf das Gemeinwohl zu leisten, und zwar allein schon deshalb nicht, weil sie der Ausbildung einer Gewohnheit (consuetudo) des Tuns und Unterlassen im Wege stehen.188 Damit verfehlen sie nach Thomas aber ihren Zweck, denn „der Zweck des menschlichen Gesetzes ist der Nutzen der Menschen“, ist das Gemeinwohl.189 Drittens kann es ihnen an vis obligativa mangeln, wenn sie (i) nicht auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, sondern etwa auf Ruhm und Begierde (cupiditas) des Herrschers, oder wenn (ii) der Gesetzgeber mit ihrem Erlass seine Kompetenzen überschritten hat, oder wenn sie (iii) im Hinblick auf das Gemeinwohl unbillige Lastenverteilungen anordnen.190 Derartige Gesetze verhindern nach Thomas die Verwirklichung des menschlichen Guten (bonum humanum). Es besteht keine moralische Verpflichtung, sich an sie zu halten. Allerdings kann es indirekt geboten sein, sich ihnen zu unterwerfen, nämlich um Schlimmeres zu verhüten, das heißt Anstoß (scandalum) oder Aufruhr (turbationem). Legt man diese Typologie zugrunde, dann zeigt sich, dass es Gesetzen, die der „inner morality of law“ widersprechen, sowohl an vis directiva als auch an vis obligativa fehlt. Es mangelt ihnen an vis directiva, weil unbekannte, Unmögliches verlangende, einander widersprechende oder rückwirkende Gesetze das Handeln ihrer Adressaten nicht anzuleiten vermögen. Derartige Gesetze haben aber auch keinen Anspruch auf „fidelity“ – und weisen damit einen Mangel an vis obligativa auf, denn es gibt keine moralische Pflicht, sich an sie zu halten: Zum einen natürlich deshalb, weil niemand ultra posse zu etwas verpflichtet werden kann.191 Zum anderen aber auch deshalb, weil das Band der Wechselseitigkeit zwischen Gesetzgebern und Gesetzesadressaten durch derartige Rechtsnormen durchtrennt wird: Eine Schachpartie, in der ein Spieler alles tut, um das Schachspielen zu sabotieren, ist nicht bloß defekt, sondern witzlos und faktisch zu Ende. Damit erlöschen aber auch die Verpflichtungen des anderen Spielers, die er eingegangen ist, als er sich auf diese Partie einließ. Analoges gilt für das Recht: Die Fragen „Was ist Recht?“ und „Hat es Anspruch auf Gehorsam?“ hängen bei Fuller zusammen.192 Das Band der Wechselseitigkeit zwischen Gesetzgebern und Gesetzesadressaten, das Fuller ausgemacht hat, besteht nicht einfach nur aus ineinander verschränkten Erwartungen, sondern aus Erwartungen, die vor
188
Ebd. Vgl. auch Aristoteles, Pol. II.8, 1268b–1369a, III.16, 1287a. I–II q. 95 a. 3co. Finis autem humanae legis est utilitas hominum. 190 S. th. I–II q. 96 a. 4co. 191 Aus Sicht von Thomas natürlich auch deshalb, weil man von ihnen ceteris paribus annehmen darf, dass sie dem Gemeinwohl entgegen sind. 192 Dabei ist zu berücksichtigen, dass „Was ist Recht?“ nicht danach fragt, was für die gerichtliche oder administrative Entscheidung dieses oder jenes Falles die korrekte rechtliche Beurteilung wäre, sondern danach, was der adäquate Begriff des Rechts ist. 189
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dem Hintergrund der Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis und den damit eingegangenen Verpflichtungen berechtigte normative Erwartungen sind. Wenn etwa die Gesetzgeber oder andere staatliche Amtsträger in einem Ausmaß gegen ihre Verpflichtungen aus ihren jeweiligen Rollen in der gemeinsamen Praxis des Rechts verstoßen – also etwa durch den Erlass von Rechtsnormen, die auf weiter Flur mit den Prinzipien der Rule of Law unvereinbar sind, oder durch Korruption und Parteilichkeit –, welches die Praxis witzlos macht, dann sind die Rechtsadressaten keine Teilnehmer mehr an einer gemeinsamen Praxis und unterliegen folglich auch nicht mehr den mit ihrer Teilnehmerrolle verbundenen Verpflichtungen. Da Entsprechendes auch für die Amtsträger gilt, verlieren diese ihren Anspruch auf Befolgung der von ihnen erlassenen und angewendeten Regeln. Wann der Punkt dieses Zusammenbruches der Praxis erreicht wird, ist pauschal nicht zu sagen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Außerdem ist ein schlechtes Rechtssystem unter Umständen immer noch besser als gar keines (Anarchie), und es steht nicht oder zumindest nicht ausschließlich im Urteil des Einzelnen, darüber zu befinden, wann man von der Pflicht zur Rechtstreue dispensiert ist. Da man als Bürger auch der Pflicht unterliegt, darauf zu achten, dass man seinen Mitbürgern durch das eigene Verhalten keinen Schaden zufügt, kann es eventuell sogar geboten sein, sich trotz der eigenen Zweifel weiterhin rechtstreu zu verhalten, um, wie Thomas sagt, Anstoß oder Aufruhr zu vermeiden. Diese Details sind wichtig, berühren jedoch nicht den Kern der Sache, dass es keinen unbedingten Anspruch auf, und keine unbedingte Pflicht zum Rechtsgehorsam gibt. In einem größtenteils defekten Rechtssystem gibt es keine Verpflichtungen und keine legitimen Ansprüche mehr, die aus der Teilnahme an dieser Praxis resultieren würden. 3. Fullers „principles of legality“ Die innere Moral des Rechts entfaltet sich nach Fuller in acht Prinzipien der Rule of Law. Für einen Gesetzgeber gibt es, „if you will, eight distinct routes to disaster“: „The first and most obvious [(1)] lies in a failure to achieve rules at all, so that every issue must be decided on an ad hoc basis. The other routes are: (2) a failure to publicize, or at least to make available to the affected party, the rules he is expected to observe; (3) the abuse of retroactive legislation, which not only cannot itself guide action, but undercuts the integrity of rules prospective in effect, since it puts them under the threat of retrospective change; (4) a failure to make rules understandable; (5) the enactment of contradictory rules or (6) rules that require conduct beyond the powers of the affected party; (7) introducing such frequent changes in the rules that the subject cannot orient his action by them; and, finally, (8) a failure of congruence between the rules as announced and their actual administration.“ 193 193
Fuller (1969), S. 39.
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Zwar dürften die Grundsätze (1)–(8) größtenteils selbsterklärend sein; einige Erläuterungen sind jedoch angebracht: Ad (1):194 Diesem Prinzip liegt der scheinbar triviale Gedanke zugrunde, dass, wenn das Verhalten von Menschen durch Recht gesteuert werden soll, es allgemeine Regeln geben muss. (1) ist nur scheinbar trivial, weil durchaus ein gesellschaftliches Ordnungssystem denkbar wäre, das bloß aus ad hoc ausgesprochenen Befehlen, Einzelfallentscheidungen etc. bestünde.195 Entscheidend ist, dass ein solches Ordnungssystem nach Fuller kein Rechtssystem darstellen würde. Zum Intendment des Rechts gehört nämlich seitens der Adressaten die begründete Erwartung, dass sie die Chance haben, ihre Lebensführung langfristig am geltenden Recht auszurichten, wobei „Lebensführung“ hier im Hinblick auf das menschliche Zusammenleben in einer Gesellschaft zu verstehen ist. Eine Ansammlung bloßer und zusammenhangloser Einzelfallanordnungen ermöglicht eine solche langfristige Orientierung jedoch nicht. Ad (2):196 Damit Normadressaten ihr Verhalten an den Rechtsnormen ausrichten können, müssen diese bekannt gemacht worden sein. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass jeder einzelne der Normunterworfenen auch tatsächlich das Korpus der Rechtsnormen zur Gänze kennt. Entscheidend ist, dass die Erwartung des Bürgers nicht frustriert wird, dass, wenn er einer Norm unterworfen wird, er dann von dieser auch – und sei es mithilfe von Spezialisten – hätte Kenntnis erlangen können. Davon abgesehen sprechen jedoch nach Fuller noch pragmatische Gesichtspunkte für eine angemessene Bekanntmachung von Rechtsnormen, selbst wenn das allgemeine Interesse an ihrer Kenntnisnahme nicht sonderlich weit verbreitet sein sollte, nämlich etwa die Möglichkeit zu ihrer kritischen Diskussion in der Öffentlichkeit oder der Überprüfung, inwieweit diejenigen, die mit der Durchsetzung der Rechtsnormen betraut sind, ihrer Aufgabe nachkommen. Ad (3):197 Rückwirkende Rechtsnormen sind nach Fuller aus zwei Gründen ein Unding: Zum einen sind sie – mit Blick auf die genuinen Aufgaben des 194
Fuller (1969), S. 46–49. Am Rande sei erwähnt, dass Fuller nicht oder zumindest nicht explizit zwischen Universalität versus Partikularität auf der einen und Generalität versus Spezifität auf der anderen Seite unterscheidet; vgl. dazu Hare (1963), S. 38 ff. Allerdings scheint diese Unterscheidung auf, wenn er anmerkt, dass man (1) nicht mit der Forderung nach der „Unpersönlichkeit“ („impersonality“) des Rechts, also mit dem Verbot der Verwendung von Eigennamen verwechseln solle. (Die Forderung der Unpersönlichkeit sei gleichbedeutend mit dem Gebot der Fairness des Rechts. Dieses gehöre jedoch nicht zur inneren Moral des Rechts, sondern sei eine von außen an das Recht herangetragene Forderung. Auch unfaires Recht könne jedenfalls sinnvollerweise nur dann im oben beschriebenen Sinne „Recht“ genannt werden, wenn es zumindest aus einigen generellen Regeln bestehe.) 196 Fuller (1969), S. 49–51. 197 Fuller (1969), S. 51–62. 195
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Rechts – unzweckmäßig: „Law has to do with the governance of human conduct by rules. To speak of governing or directing conduct today by rules that will be enacted tomorrow is to talk in blank prose.“ 198 Ein nur aus rückwirkenden Rechtsnormen bestehendes Rechtssystem wäre gar nicht denkbar: „To ask how we should appraise an imaginary legal system consisting exclusively of laws that are retroactive, and retroactive only, is like asking how much air pressure there is in a perfect vacuum.“ 199 Zum anderen sind rückwirkende Normen auch unvereinbar mit dem Intendment des Rechts, denn die Normadressaten haben die begründete Erwartung, dass sie die Normen, an denen ihr Verhalten gemessen wird beziehungsweise die auf sie Anwendung finden, auch zum Zeitpunkt ihres (inkriminierten) Tuns entweder gekannt haben oder doch zumindest hätten kennen können. Auf Normen, die (vielleicht) irgendwann in der Zukunft verabschiedet werden, trifft dies aber offenkundig nicht zu. Diesen Punkt hat Kelsen übersehen als er schrieb, dass, da Unkenntnis nicht vor Strafe schütze, auch die Unkenntnis von Rechtsnormen, die erst noch verabschiedet werden, nicht vor Strafe schütze.200 Der Unterschied zwischen beiden Fällen ist nicht, wie Kelsen glaubte, einer des Grades, sondern einer der Art: Es ist nicht einfach nur besonders schwierig, Kenntnis von Gesetzen zu erlangen, die in zwei Jahrzehnten rückwirkend erlassen werden; es ist unter Voraussetzung der uns bekannten Naturgesetze unmöglich.201 198
Fuller (1969), S. 53. Ebd. 200 Kelsen (1945), S. 44. 201 Worin, so könnte man fragen, bestünde unter Gesichtspunkten der Rule of Law das Problem mit einer rückwirkenden Rechtsnorm, deren Verabschiedung und Inkrafttreten von den Normadressaten mit Sicherheit vorausgesehen werden kann? Sie würden ja wissen, dass ihr Verhalten hier und heute dieser Norm unterworfen werden wird, und wären also imstande, ihr Verhalten an dem erst noch zu verabschiedenden retroaktiven Gesetz auszurichten. Die Antwort könnte lauten, dass ein solches Gesetz de facto bereits wirkt, bevor es auf dem vorgeschriebenen Wege eingebracht, beraten, verabschiedet und de jure in Kraft gesetzt wurde. Wer weiß, dass sein Verhalten heute durch ein rückwirkendes Gesetz, das in sechs Monaten verabschiedet werden wird, mit nicht unter fünf Jahren Haft bestraft, oder dass sein Kaufvertrag mit B über eine Immobilie durch dieses Gesetz für unwirksam erklärt werden wird, der justiert sein Tun und Lassen entsprechend. Er würde sich verhalten als wäre er bereits diesem Gesetz unterworfen, einem Gesetz, dass noch gar nicht existiert. Dieser Umstand weist über (3) hinaus und berührt unmittelbar den Kern dessen, was es heißt, dass Gesetze herrschen, nämlich den Grundsatz, dass staatliche Macht nur durch, aufgrund und gemäß Gesetz auszuüben ist, das heißt durch den Vollzug von Rechtsnormen und auf der Grundlage von und gemäß den gesetzlichen Bestimmungen. Regierung durch „Rechtsnormen“ des oben genannten Typs wäre Regierung ohne Rechtsnormen und insofern eine nicht wünschenswerte Entgrenzung staatlicher Macht: Ein Gesetz, das, obwohl noch gar nicht existent, bereits „in Kraft“ ist, hat nicht die vorgeschriebenen Prozeduren seines Erlasses durchlaufen, deren Sinn auch darin besteht, nicht nur Legitimität, sondern überdies Kontrolle durch Verfahren und Öffentlichkeit zu gewährleisten. Überdies könnte man gegen ein solches „Gesetz“, würden durch es beispielsweise Grundrechtspositionen tangiert, auch keine Rechtsmittel einlegen, wodurch ein wesentliches Element der Rule of Law, nämlich die 199
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Gleichwohl können rückwirkende Gesetze bisweilen dazu dienen, die Frustration gerechtfertigter Erwartungen abzuwenden – so etwa dann, wenn sie unliebsame Folgen vermeiden helfen, die durch Fehler der Gesetzgebung oder der Verwaltung entstanden sind, und diese Folgen das Vertrauen gefährden würden, dass, wenn man sich an die Anweisungen der zuständigen Behörden hält, einem daraus keine rechtlichen Nachteile entstehen. Fuller verdeutlicht dies am Beispiel von Eheschließungen, bei denen durch die Unachtsamkeit der zuständigen Stellen Vorgaben eines neuen Gesetzes nicht beachtet wurden, so dass den Eheschließungen keine Rechtskraft zukommt. Aus Gründen des Vertrauensschutzes kann ein rückwirkendes Gesetz, das diesen Fehler heilt, sinnvoll und eventuell auch geboten sein. Ad (4):202 Wer rechtstreu sein will beziehungsweise soll, darf erwarten, dass er wissen kann, was das Gesetz von ihm verlangt. Geheimgesetze, die ihren Adressaten nicht bekannt gemacht wurden, sind deshalb ein Unding. Gleiches gilt für unklare Gesetze. Dabei kann Unklarheit in verschiedenen Ausmaßen vorliegen, wobei man sinnvollerweise das Verständnis von Experten zugrunde legt.203 Das Kontinuum erstreckt sich von Unklarheit in einem oder in einigen wenigen Fällen bis zur Unverständlichkeit auf ganzer Linie. Wichtig ist jedoch nach Fuller, dass der unbestreitbare Wert von Normenklarheit nicht jede Art von Unklarheit ausschließt: „To put a high value on legislative clarity is not to condemn out of hand rules that make legal consequences depend on standards such as ,good faith‘ and ,due care.‘ Sometimes the best way to achieve clarity is to take advantage of, and to incorporate into the law, common sense standards of judgment that have grown up in the ordinary life lived outside legislative halls. After all, this is something we inevitably do in using ordinary language itself as a vehicle for conveying legislative intent.“ 204
Daraus sollte man allerdings nicht den Schluss ziehen, dass die Präzisierung von Normen regelmäßig an Verwaltung oder Gerichte delegiert werden kann, wenn es dem Gesetzgeber nicht gelingt, seine Regelungsabsicht in klare Normen zu fassen. Ob eine Präzisierung von Rechtsnormen durch Verwaltung und Gerichte gelingt, ist nämlich nicht zuletzt abhängig von der „Natur der Sache“: „In commercial law, for example, requirements of ,fairness‘ can take on definiteness of meaning from a body of commercial practice and from the principles of conduct shared by a community of economic traders. But it would be a mistake to conclude from this that all human conflicts can be neatly contained by rules derived, case by case, from the standard of fairness.“ 205 Kontrolle staatlicher Machtausübung durch Gerichte in förmlichen Verfahren, ausgehebelt werden würde. 202 Fuller (1969), S. 63–65. 203 Vgl. Kramer (2007). 204 Fuller (1969), S. 64. 205 Ebd.
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Analoge Überlegungen legen sich auch für (5), (6) und (7) nahe206, weshalb an dieser Stelle auf eine vertiefte Behandlung verzichtet werden kann. Nur am Rande sei kurz auf zwei Beobachtungen Fullers verwiesen, die mit (5)–(7) in Zusammenhang stehen: Die erste betrifft die Natur von Widersprüchen im Recht. Diese seien nämlich nicht immer Kontradiktionen „im Sinne der Logik“. Kramer hat diese Bemerkung Fullers mithilfe einer Unterscheidung von zwei Arten von Normwidersprüchen erläutert, nämlich „conflicts“ – die Pflicht, etwas zu tun und nicht zu tun –, sowie „contradictions“ – die Pflicht, etwas zu tun, und die Freiheit, es nicht zu tun.207 Im Hintergrund steht Hohfelds Analyse subjektiver Rechte. Kramers „conflicts“ bestehen darin, dass das objektive Recht jemandem die Hohfeld’sche „duty“, F zu tun, ebenso auferlegt wie die „duty“, F nicht zu tun. (Dies wäre nach Fuller vermutlich ein Widerspruch „im Sinne der Logik“.) „Contradictions“ liegen vor, wenn das objektive Recht jemandem die Hohfeld’sche „duty“, F zu tun, auferlegt und zugleich das „privilege“ einräumt, F zu tun oder nicht zu tun. „Duty“ und „privilege“ sind im Hohfeld’schen System Gegensätze („opposites“). Da Normwidersprüche in den seltensten Fällen logische Widersprüche sind, ist es, nach Fuller, oftmals gar nicht so einfach – und jedenfalls mit dem bloßen Blick auf die logische Form der jeweiligen Gesetzesbestimmungen unmöglich – zu entscheiden, ob Normen, zwischen denen eine Spannung zu bestehen scheint, auch wirklich in einen Widerspruch zueinander treten. Oft lässt sich diese Frage nur dadurch beantworten, dass man „den Kontext“ mit berücksichtigt. (Ähnliche Probleme treten auch bezüglich der Frage auf, ob eine Norm Unmögliches verlangt.) „It should be apparent from the analysis presented here that to determine when two rules of human conduct are incompatible we must often take into account a host of considerations extrinsic to the language of the rules themselves. At one time in history the command, ,Cross this river, but don’t get wet,‘ contained a repugnancy. Since the invention of bridges and boats this is no longer true. If today I tell a man to jump in the air, but to keep his feet in contact with the ground, my order seems selfcontradictory simply because we assume there is no way open to him to take the ground along with him in his leap. The context that must be taken into account in determining the issue of incompatibility is, of course, not merely or even chiefly technological, for it includes the whole institutional setting of the problem – legal, moral, political, economic, and sociological.“ 208
Bisweilen lässt sich ein „Widerspruch“ durch den Rekurs auf anerkannte Derogationsregeln, wie etwa lex specialis derogat legi generali, oder lex posterior derogat legi priori, oder auch durch behutsame Reinterpretation aus der Welt schaffen.209 Andernfalls bleibt dann oft nur die Wahl zwischen zwei Übeln: zu hoffen, 206 207 208 209
Vgl. Fuller (1969), S. 65–81. Kramer (2007), S. 125. Fuller (1969), S. 69 f. Fuller (1969), S. 67 f.
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dass der Gesetzgeber tätig wird, was für einen anhängigen Fall in der Regel aber immer zu spät geschieht, oder als Rechtsprechung selbst legislativ zu verfahren und den Widerspruch contra legem zu beseitigen. Fullers zweite Beobachtung betrifft die Stabilität von Normen durch die Zeit: „Of the principles that make up the internal morality of the law, that which demands that laws should not be changed too frequently seems least suited to formalization in a constitutional restriction. It is difficult to imagine, for example, a constitutional convention unwise enough to resolve that no law should be changed more often than, say, once a year. Restrictions on retroactive legislation, on the other hand, have been a favorite among constitution makers. Yet there is a close affinity between the harms done by retrospective legislation and those resulting from too frequent changes in the law. Both follow from what may be called legislative inconstancy.“ 210
Es liegt nahe anzunehmen, dass Soritesunschärfen bei der Beurteilung eine Rolle spielen werden, ob (7) durch „zu häufige“ Gesetzesänderungen verletzt wurde; offenbar gibt es nämlich Fälle, in denen dies geschehen ist, Fälle, in denen dies nicht geschehen ist, und solche, in denen dies unklar ist, ohne dass sich eine Zahl n für die zulässige Höchstanzahl von Gesetzesänderungen in einem gewählten Zeitraum angeben ließe. Ad (8): Erläuterungsbedürftig ist das achte der von Fuller aufgeführten Prinzipien:211 Das, worum es Fuller hier geht, fällt unter das Stichwort „Gesetzesbindung staatlicher Gewalt“: Es darf keine Diskrepanz zwischen verkündetem und tatsächlich umgesetztem Recht geben. Die Kongruenz zwischen „law as declared and as actually administered“ 212 kann auf verschiedene Weise beeinträchtigt werden, beispielsweise durch „mistaken interpretation, inaccessability of the law, lack of insight into what is required to maintain the integrity of a legal system, bribery, prejudice, indifference, stupidity, and the drive toward personal power“.213 Wichtig an (8) ist zum einen der prominente Platz, den die Interpretation von Rechtsnormen hier einnimmt. Tatsächlich befasst sich Fuller bei der Behandlung von (8) fast ausschließlich mit der Frage nach der richtigen Auslegung von Normtexten. Zum anderen ist Fuller der Ansicht, dass die interne Prävention des Rechtssystems gegen das Auseinanderfallen von verkündetem und faktisch vollzogenem Recht vornehmlich den Gerichten anvertraut ist und prozeduralen Charakter hat: „We may count here most of the elements of ,procedural due process,‘ such as the right to representation by counsel and the right of cross-examining adverse witnesses. We may also include as being in part directed toward the same objective habeas corpus and the right to appeal an adverse decision to a higher tribunal.“ 214 210 211 212 213 214
Fuller (1969), S. 69. Fuller (1969), S. 81–91. Fuller (1969), S. 81. Ebd. Ebd.
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Diese beiden Punkte sind wichtig, weil sie Folgendes unterstreichen: Erstens gehört zur Rule of Law die Gesetzesbindung staatlicher Gewalt. Diese ist aber an die richtige Auslegung der Rechtsnormen geknüpft, die prinzipiell mit der Auslegung, welche diese oder jene Behörde beziehungsweise dieses oder jenes Gericht gerade ihrem (seinem) Handeln zugrundelegt, auseinanderfallen kann; andernfalls wäre dem Gesetz folgen und dem Gesetz zu folgen glauben beziehungsweise dem Gesetz zu folgen coram publico behaupten dasselbe, und Gesetzesbindung liefe auf die bedenkliche Formel hinaus, dass das Gesetz besagt, was die handelnde staatliche Stelle dafür hält. Die Rule of Law verlangt offenbar auch eine Theorie der Gesetzesauslegung – und eine Explikation dessen, was es heißt, staatliche Stellen seien an ein Gesetz gebunden, das auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist. Zweitens genügt es nicht, bloß zu fordern, dass staatliches Handeln an das richtig zu verstehende Gesetz gebunden sein soll, wenn nicht zugleich eine Stelle benannt wird, die autoritativ darüber entscheidet, ob staatliches Handeln dieser Anforderung entsprochen hat. Die Rule of Law macht also nicht nur eine Theorie richtiger Auslegung von Normtexten erforderlich, sondern auch die Beantwortung der Frage „Quis judicabit?“. Das Verhältnis zwischen den acht Prinzipien ist delikat. Aristoteles hat bei seiner Erörterung der Frage, ob es leicht sei, das Gerechte zu erkennen, das Tun des Gerechten mit der Heilkunst verglichen: Ebenso wenig wie aus der Kenntnis der Heilmittel die Kenntnis ihrer richtigen Anwendung im einzelnen Fall folge, sei die Kenntnis dessen, was die Gesetze besagen, schon dafür hinreichend, im jeweiligen Fall gerecht handeln zu können: „Ebenso meint man, es erfordere keine Weisheit zu erkennen, was gerecht und was ungerecht ist, da es nicht schwer sei zu verstehen, wovon die Gesetze handeln (obwohl es nicht das ist, was das Gerechte ist, es sei denn zufällig). Aber zu wissen, wie man handeln und verteilen muss, damit es gerecht ist, das ist eine größere Aufgabe, als zu wissen, was gesund ist. Auch hier ist es leicht zu wissen, dass Honig, Wein, Nieswurz, Brennen, Schneiden gesund sind; hingegen zu wissen, wie, bei wem und wann man diese anwenden soll, um Gesundheit zu erreichen, ist eine so schwierige Aufgabe, dass man dafür Arzt sein muss.“ 215
Aristoteles’ Bemerkung gilt auch für Fullers acht Prinzipien: Es ist leicht zu sagen, Gesetze sollten klar formuliert, allgemein, prospektiv und ihren Adressaten bekannt sein. „But to know how, under what circumstances, and in what balance these things should be achieved is no less an undertaking than being a lawgiver“.216 So kann die Verletzung einiger der acht Prinzipien die Verletzung weiterer notwendig machen, wenn etwa eine unklare und widersprüchliche Regelung zu Rechtsunsicherheit führt, die dann durch ein retroaktives Gesetz geheilt werden muss. Ein retroaktives Gesetz wiederum mag in einer Gesellschaft, in der
215 216
Aristoteles, Eth. Nic., V. 13, 1137a. Fuller (1969), S. 94.
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das Recht wenig mehr tut als die faktische gelebte Moral zu positivieren und sich insofern äußerst vorhersehbar zu verhalten, weniger anstößig sein als in einer Gesellschaft, in der sich nicht so einfach auf den Inhalt von erst noch zu erlassenden Rechtsnormen schließen lässt. Im Strafrecht mag es vielleicht wichtiger sein zu wissen, dass eine Tat als Straftat gewertet wird, als zu wissen, welche Folgen sie genau haben wird (Geldbuße oder n Jahre Haft). Hingegen mag im Bereich des Zivilrechts, etwa im Handels- oder auch im Schuldrecht, das Interesse hauptsächlich der genauen Kenntnis der Rechtsfolgen gelten, welche die Tätigung eines Rechtsgeschäftes hat usw. Sowohl der Erlass von Rechtsnormen als auch die Einrichtung eines Rechtssystems und die Beurteilung eines Gesetzes oder auch des ganzen Rechtssystems unter dem Gesichtspunkt der Konformität zu den Prinzipien der Rule of Law wird nach Fuller deshalb auch keine exakte Wissenschaft sein, sondern „a practical art“.217 Fullers Philosophie der Rule of Law kommt das Verdienst zu, das systematische Zentrum herausgearbeitet zu haben, welches die einzelnen Grundsätze, in denen die „Herrschaft des Rechts“ ausbuchstabiert wird, aufeinander bezieht und zu Momenten an einem kohärenten Ganzen macht. Allerdings ist die Liste von Fullers acht Prinzipien nicht nur vor dem Hintergrund unseres heutigen Verständnisses der Rule of Law erweiterungsbedürftig, sondern auch schon gemessen an Fullers Idee, vom Recht werde legitimerweise erwartet, das Handeln seiner Adressaten anzuleiten, und zwar in Anerkennung der Tatsache, dass die Adressaten des Rechts vernünftige Wesen sind. Bei allen Unterschieden im Detail ist dies auch der zentrale Gedanke in der Konzeption von Raz, welche diejenige Fullers an wichtigen Stellen ergänzt. Bevor wir zur Analyse der Problematik von Vagheit im Recht zurückkehren, soll deshalb Raz’ Verständnis der Rule of Law skizziert werden. II. Joseph Raz: The Rule of Law and its Virtue Zwei Fehler müssten, so Raz, bei der philosophischen Analyse des Ideals der Rule of Law vermieden werden: die Annahme, sie übertreffe alle anderen Tugenden von Rechtssystemen an Wichtigkeit, und die begriffliche Vermengung mit Idealen wie Demokratie, Gleichheit, Gerechtigkeit oder Menschenrechten, was zur Konfusion von „Rule of Law“ mit „Rule of the Good Law“ führe. Wörtlich genommen, so Raz, bedeute „Rule of Law“ lediglich zweierlei: „(1) that people should be ruled by the law and obey it, and (2) that the law should be such that people will be able to be guided by it.“ 218 Um zu sehen, dass (2) von (1) vorausgesetzt wird, muss man den Unterschied zwischen „sich gesetzeskonform verhalten“ und „dem Gesetz gehorchen“ im Blick behalten. Damit man von 217 218
Fuller (1969), S. 91. Raz (1979), S. 211.
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jemandem sagen kann, er gehorche dem Gesetz, genügt es nicht, dass sein Tun lediglich gegen keine Rechtsvorschrift verstößt: „[H]e obeys the law only if part of his reason for conforming is his knowledge of the law. Therefore, if the law is to be obeyed it must be capable of guiding the behaviour of its subjects. It must be such that they can find out what it is and act on it. This is the basic intuition from which the doctrine of the rule of law derives.“ 219
Die Fähigkeit des Rechts zur Handlungsleitung ist aus Raz’ Sicht so wichtig, dass etwas nicht unter den Begriff des Rechts fällt, wenn es nicht imstande ist „guidance of action“ zu gewährleisten: „The law to be law must be capable of guiding behaviour, however inefficiently.“ 220 Dies ist insofern bemerkenswert, als Raz damit seinen Rechtspositivismus an einer wichtigen Stelle qualifiziert und von dem Positivismus Harts und Kelsens unterscheidet: Nicht alles, was von der zur Gesetzgebung autorisierten Institution erlassen wird, ist Recht.221 Raz’ Konzeption der Rule of Law ist formal, insofern sie nichts über Grundrechte, Gleichheit, Gerechtigkeit oder zulässige Inhalte von Rechtsnormen sagt. Gleichwohl verwahrt sich Raz gegen den Vorwurf, seine Konzeption sei „almost devoid of content“: „Most of the requirements which were associated with the rule of law before it came to signify all the virtues of the state can be derived from this one basic idea [sc. the law must be capable of guiding behaviour].“ 222
Das relative Gewicht der Prinzipien, die sich aus der Grundidee „Handlungsleitung“ ableiten lassen, ist, so Raz, zwar abhängig von den konkreten Zügen der jeweils betrachteten Gesellschaft. Eine (offene) Liste der bedeutenderen unter
219
Raz (1979), S. 214. Raz (1979), S. 226. 221 „Rechtspositivismus“ hat im deutschsprachigen Raum – vermutlich seit Radbruchs (1946), S. 107, Behauptung, dieser habe die deutsche Rechtswissenschaft wehrlos gegen die Perversion des Rechts durch den Nationalsozialismus gemacht – keinen guten Klang. Man wird Hoerster (2006), Kap. 7, zustimmen müssen, dass dieser Umstand allzu häufig mit einem erstaunlichen Desinteresse an einem begrifflich präzisen Verständnis Hand in Hand geht. Unter den fünf von Hoerster aufgeführten Thesen, die verschiedene Rechtspositivismen kennzeichnen, fehlt interessanterweise jedoch eine, die für den Positivismus von Kelsen und Hart wesentlich ist und von Raz, wie gerade gesehen, nicht geteilt wird, dass nämlich alles das Recht ist, was von der zur Gesetzgebung autorisierten Institution auf dem dazu vorgeschriebenen Weg erlassen wird. Zwar trifft es zu, dass Kelsen und Hart den Begriff des (geltenden) Rechts nicht über den Begriff des Gesetzes definiert und stattdessen ausdrücklich die Existenz von Gewohnheitsrecht anerkannt haben. Gleichwohl vertreten beide – sowohl im Unterschied zu Raz als auch im Unterschied zu Naturrechtstheorien – die Ansicht, dass alles, was von dem legitimen Normgeber erlassen wird, Recht ist. Darin liegt kein Widerspruch: Wer die These vertritt, dass, wenn der Normgeber eine Norm erlässt, sie dann Recht ist, legt sich nicht auf die Umkehrung fest, dass, wenn etwas Recht ist, es von einem Normgeber erlassen wurde. 222 Raz (1979), S. 214. 220
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den Elementen der Rule of Law sollte jedoch folgende Prinzipien umfassen, die der ständigen Interpretation im Lichte der „basic idea“ bedürfen:223 (1) „All laws should be prospective, open, and clear“, (2) „Laws should be relatively stable“, (3) „The making of particular laws (particular legal orders) should be guided by open, stable, clear, and general rules“, (4) „The independence of the judiciary must be guaranteed“, (5) „The principles of natural justice must be observed“, (6) „The courts should have review powers over the implementation of the other principles“, (7) „The courts should be easily accessible“, (8) „The discretion of the crime-preventing agencies should not be allowed to pervert the law“. (1) umfasst Fullers Grundsätze der Promulgation, Non-Retroaktivität, Klarheit und Widerspruchsfreiheit. Auch (2) hat eine Entsprechung bei Fuller. (3)–(8) jedoch sind neu: Ad (3): Beispiele für „particular legal orders“ wären, so Raz, Anweisungen eines Polizisten, der den Straßenverkehr regelt, oder die Erteilung einer Betriebsgenehmigung durch eine Behörde. Als partikulare Rechtsnormen widersprechen sie, so Raz, zunächst der Grundidee der Rule of Law. Allerdings sieht Raz das Problem nicht im Verstoß gegen das Gebot der Universalität von Normen, sondern in dem Umstand, dass sie die Orientierung des Handelns erschweren: „They make it difficult for people to plan ahead on the basis of their knowledge of the law. This difficulty is overcome to a large extent if particular laws of an ephemeral status are enacted only within a framework set by general laws which are more durable and which impose limits on the unpredictability introduced by the particular orders.“ 224
Dieser Rahmen („framework“) wird durch zwei Arten von generellen Rechtsnormen geschaffen: solche, die zum Erlass gültiger partikularer Normen ermächtigen, und solche, die dem Inhaber der übertragenen Befugnis Pflichten bezüglich der Ausübung seiner Befugnis auferlegen.225 Entsprechendes gilt auch für generelle Rechtsnormen, die dem Kriterium der Stabilität nicht genügen: „They too should be circumscribed to conform to a stable framework. Hence the requirement that much of the subordinate administrative law-making should be made to conform to detailed ground rules laid down in framework laws.“ 226 Ad (4): Die Unabhängigkeit der Gerichte beinhaltet – neben ihrer Existenz als selbständiger Staatsorgane – positiv ihre Bindung an das Gesetz. Die Ausrichtung des eigenen Handelns am geltenden Recht wäre sinnlos, wenn die Gerichte im Streitfall entweder gar nicht, nicht unabhängig oder nicht anhand des geltenden Rechts entscheiden würden:
223 224 225 226
Raz (1979), S. 218. Raz (1979), S. 216. Vgl. ebd. Ebd.
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„The point can be put more strongly. Since the court’s judgment establishes conclusively what is the law in the case before it, the litigants can be guided by law only if the judges apply the law correctly. Otherwise people will only be able to be guided by their guesses as to what the courts are likely to do – but these guesses will not be based on the law but on other considerations.“ 227
Raz hat das, was Fuller in seinem achten Prinzip unter dem Stichwort der Kongruenz zwischen verkündetem und vollzogenem Recht zusammengefasst hat, in (4) (für das Gerichtswesen) und (8) (für die Verwaltung) aufgeteilt. Wie auch bei Fuller geht es ihm um Gesetzesbindung in der Anwendung von Recht. Ad (5): Die korrekte Rechtsanwendung durch Gerichte setzt die Einhaltung bestimmter Verfahrensrechte wie „[o]pen and fair hearing, absence of bias, and the like“ voraus. Ad (6): Handlungsanleitung durch Rechtsnormen setzt die Erfüllung der Ruleof-Law-Anforderungen voraus. Zur Gewährleistung dessen ist die Existenz von Organen erforderlich, welche über die Konformität des Rechtssystems zu den Prinzipien der Rule of Law wachen, wobei man allerdings darüber streiten könnte, ob Gerichte die dafür geeigneten Institutionen sind.228 Ad (7): Das Gerichtswesen gemäß (4)–(6) muss nicht nur existent sondern auch effizient sein: „Long delays, excessive costs, etc., may effectively turn the most enlightened law to a dead letter and frustrate one’s ability effectively to guide oneself by the law.“ 229 Ad (8): Die Anforderungen bezüglich der Gesetzesbindung von Gerichten als Voraussetzung dafür, dass die Ausrichtung von Handeln am geltenden Recht nicht sinnlos wird, gelten auch für die Verwaltung, insbesondere Polizei und Strafverfolgungsbehörden: „The prosecution should not be allowed, for example, to decide not to prosecute for commission of certain crimes, or for crimes committed by certain classes of offenders. The police should not be allowed to allocate its resources so as to avoid all effort to prevent and detect certain crimes or prosecute certain classes of criminals.“ 230
(7) und (8) heben einen Aspekt der Rule of Law hervor, der leicht übersehen wird: Zur Herrschaft des Rechts gehört wesentlich, dass das geltende Recht staatlicherseits auch durchgesetzt wird. Raz unterteilt diese acht Prinzipien in zwei Gruppen: (1)–(3) formulieren Anforderungen an Rechtsnormen, deren Erfüllung das Recht in die Lage versetzt, Handlungen effektiv zu leiten. (4)–(8) sollen sicherstellen, „that the legal ma227 228 229 230
Raz (1979), S. 217. Vgl. Raz (1979), S. 218. Raz (1979), S. 217. Raz (1979), S. 218.
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chinery of enforcing the law should not deprive it of its ability to guide through distorted enforcement and that it shall be capable of supervising conformity to the rule of law and provide effective remedies in case of deviation from it“.231 Beachtenswert ist dabei, dass die Konformität eines Rechtssystems zur Rule of Law bei Raz keinen Selbstzweck darstellt. Die Erfüllung ihrer Anforderungen ist wünschenswert, weil sich dadurch Übel abwenden lassen, die spezifisch für das Recht in dem Sinne sind, dass sie nur durch das Recht verursacht werden können.232 Diese Übel sind: willkürliche Machtausübung, Vereitelung der direkten und indirekten Zwecke des Rechts, Planungsunsicherheit und Verletzung der Menschenwürde („human dignity“):233 Willkürliche Machtausübung: Der Gegenbegriff zu „Rule of Law“ ist „arbitrary power“.234 Gleichwohl verhindert Konformität zur Rule of Law nicht alle Formen willkürlicher Machtausübung: Aus einer Laune heraus erlassene Gesetze etwa oder solche, die finanziellen Interessen der Herrschenden dienen, oder etwa die gerichtliche Ahndung eventueller Straftaten des Regierungschefs erschweren sollen, werden durch Raz’ Konzeption nicht ausgeschlossen. Mit Raz müsste man daher sagen, dass zwar viele, aber eben nicht alle Formen von Willkür mit der Achtung der Rule of Law unvereinbar sind: „A government subjected to the rule of law is prevented from changing the law retroactively or abruptly or secretly whenever this suits its purposes. The one area where the rule of law excludes all forms of arbitrary power is in the law-applying function of the judiciary where the courts are required to be subject only to the law and to conform to fairly strict procedures.“ 235
Vereitelung von Rechtszwecken:236 Konformität eines Rechtssystems zur Rule of Law ist Voraussetzung dafür, dass die Erreichung direkter und indirekter Rechtszwecke sichergestellt ist, das heißt die Erreichung des vom Gesetz unmittelbar Bezweckten (direkte Zwecke) und seiner erwünschten „Nebenwirkungen“
231 Raz (1979), S. 218. Es sollte nicht übersehen werden, dass immerhin vier der acht Prinzipien Bedingungen formulieren, welche die Rechtsprechung betreffen. Dieser Befund ist für die Rekonstruktion der mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme wichtig: Die Rule of Law bezieht sich bei Raz, anders als bei Fuller, zwar auf alle Bereiche eines Rechtssystems; in ihrem Fokus steht aber das Gerichtswesen beziehungsweise die Rechtsanwendung durch die Gerichte. 232 Raz legt Wert darauf, dass „Rule of Law“ nicht nur nicht mit „Rule of the Good Law“ verwechselt werden dürfe, sondern überdies einen bloß negativen Wert darstelle, weil sie kein Gut bewirke, es sei denn in dem Sinne, dass sie rechtsspezifische Übel vermeiden helfe, vgl. (1979), S. 224. Diese These würde eine genauere Betrachtung verdienen, kann hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Für eine erhellende Analyse und Kritik dieser These von Raz sei auf die Studie von Rundle (2012) verwiesen. 233 Vgl. Raz (1979), S. 221. 234 Vgl. Raz (1979), S. 219. 235 Ebd. 236 Vgl. Raz (1979), S. 224 f.
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(indirekte Zwecke). Der direkte Zweck eines Gesetzes, das etwa ethnische Diskriminierung bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst verbietet, mag laut Präambel darin bestehen, Gleichbehandlung zu befördern. Der mit dem Erlass des Gesetzes verfolgte indirekte Zweck, der im Gesetzestext keinen Niederschlag gefunden, aber gleichwohl zum Erlass des Gesetzes bewogen hat, könnte dagegen beispielsweise die Verbesserung der Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in der Gesellschaft sein oder auch die Hebung des Regierungsansehens. Werden nun Gesetze nicht umgesetzt oder die Ergebnisse ihrer Anwendung nicht kontrolliert, dann ist das Rechtssystem ineffektiv: „Conformity to the rule of law does not always facilitate realization of the indirect purposes of the law, but it is essential to the realization of its direct purposes. These are achieved by conformity with the law which is secured (unless accidentally) by people taking note of the law and guiding themselves accordingly. Therefore, if the direct purposes of the law are not to be frustrated it must be capable of guiding human behaviour, and the more it conforms to the principles of the rule of law the better it can do so.“ 237
Planungsunsicherheit: Damit wir unserem Leben eine bestimmte Form geben oder uns langfristige Ziele setzen und unser Handeln in der Gesellschaft, der wir angehören, daran ausrichten können, sind wir auf ein stabiles und sicheres Umfeld angewiesen.238 Das Recht bereitet dafür die Grundlage, indem es (bestimmte) soziale Beziehungen reguliert und auf diese Weise stabilisiert, die sich ansonsten vielleicht auflösen oder auf unvorhersehbare Weise entwickeln würden. Es lenkt menschliches Verhalten in bestimmte Bahnen und macht es so berechenbar – vor allem für die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft selbst. Die Rule of Law wiederum sorgt durch eine Politik der Selbstbeschränkung dafür, dass das Recht eine stabile Basis für die regulierten sozialen Beziehungen bildet. Verletzung der Menschenwürde: Der Aspekt der Planungssicherheit berührt einen viel wichtigeren Aspekt, nämlich den Gesichtspunkt der „human dignity“.239 Respekt vor der Menschenwürde beinhaltet, menschliche Wesen als Personen zu behandeln, das heißt ihre Autonomie sowie ihr Recht zu achten, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Das Recht kann, so Raz, die Menschenwürde auf vielfache Weise verletzen, ohne der Rule of Law zu widersprechen, beispielsweise durch gesetzliche Institutionalisierung der Sklaverei.240 Umgekehrt ist aber 237
Raz (1979), S. 225. Vgl. Raz (1979), S. 220. 239 Vgl. Raz (1979), S. 221. 240 „The law can violate people’s dignity in many ways. Observing the rule of law by no means guarantees that such violations do not occur. But it is clear that deliberate disregard for the rule of law violates human dignity. It is the business of law to guide human action by affecting people’s options. The law may, for example, institute slavery without violating the rule of law. But deliberate violation of the rule of law violates human dignity.“ Raz (1979), S. 221. Raz’ These bezüglich der Vereinbarkeit von Rule of Law und Sklaverei deutet nach Ansicht von Kritikern wie Rundle (2012), Kap. 6, auf 238
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die Verletzung der Rule of Law unvereinbar mit dem Schutz der Menschenwürde: „The violation of the rule of law can take two forms. It may lead to uncertainty or it may lead to frustrated and disappointed expectations. It leads to the first when the law does not enable people to foresee future developments or to form definite expectations (as in cases of vagueness and most cases of wide discretion). It leads to frustrated expectations when the appearance of stability and certainty which encourages people to rely and plan on the basis of the existing law is shattered by retroactive law-making or by preventing proper law-enforcement, etc. The evils of uncertainty are in providing opportunities for arbitrary power and restricting people’s ability to plan for their future. The evils of frustrated expectations are greater. Quite apart from the concrete harm they cause they also offend dignity in expressing disrespect for people’s autonomy. The law in such cases encourages autonomous action only in order to frustrate its purpose.“ 241
Zwar ist die Rule of Law „the inherent virtue of law“. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, angesichts der Bedeutung der Rule of Law für die Vermeidung dieser vier rechtsspezifischen Übel die Reichweite dieses Ideals zu übertreiben. Hayek etwa hat die Rule of Law als Argument gegen die Zulässigkeit staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft verwendet, nach Ansicht von Raz zu Unrecht: „Since the rule of law is just one of the virtues the law should possess, it is to be expected that it possesses no more than prima facie force. It has always to be balanced against competing claims of other values. Hence Hayek’s arguments, to the extent that they show no more than that some other goals inevitably conflict with the rule of law, are not the sort of arguments which could, in principle, show that pursuit of such goals by means of law is inappropriate. Conflict between the rule of law and other values is just what is to be expected. Conformity to the rule of law is a matter of degree, and though, other things being equal, the greater the conformity the better – other things are rarely equal. A lesser degree of conformity is often to be preferred precisely because it helps realization of other goals.“ 242
Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Rule of Law bei Raz eine Tugend des Rechts ist; wo sie verwirklicht wird, ist das Rechtssystem, mit einem Bonmot von Finnis, „legally in good shape“ 243; nicht mehr und nicht weniger.
eine gewisse Spannung in seiner Konzeption hin: Raz versteht Recht als etwas, für das es wesentlich ist, legitime Autorität über diejenigen beanspruchen zu können, die ihm unterworfen sind. Nun ist schlichtweg nicht zu erkennen, wie Recht legitime Ansprüche auf Gehorsam Menschen gegenüber soll erheben können, die es – nach Aristoteles’ berühmter Formulierung – zu sprechenden Werkzeugen, zu lebendigen Sachen degradiert. Es fragt sich dann aber, wie Gesetze, denen ein wesentliches Merkmal von „law“ abgeht, unter Gesichtspunkten der „rule of law“ einwandfrei sein sollen. 241 Raz (1979), S. 222. 242 Ebd. 243 Finnis (1980), S. 270.
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III. Anforderungen an rechtsstaatliche Rechtsanwendung Am Ende von Kapitel B. wurden die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme als Abgrenzungs-, Entscheidungs- und Begründungsprobleme charakterisiert: Eine zur Entscheidung angenommene Rechtsfrage muss genau eine von zwei möglichen Antworten erhalten. Das bedeutet für Grenzfälle, dass sie als Foder Nicht-F-Fälle zu qualifizieren sind, obwohl Semantik und Sachverhalt keine derartige Einsortierung fest- oder auch nur nahelegen (Entscheidungsproblem). In Sorites-Reihen muss es einen Schnittpunkt geben, der F- von Nicht-F-Fällen (z. B. „erhebliche“ von „unerheblichen“ Vermögensschäden) abgrenzt, obwohl sich ein solcher nicht ausmachen lässt (Abgrenzungsproblem). Wird eine Einsortierung oder Abgrenzung vorgenommen, so findet sich in Semantik und Sachverhalt nichts, was man zu ihrer Begründung anführen könnte (Begründungsproblem). Diese Probleme interessieren in vorliegender Studie als Probleme für gerichtliche Rechtsanwendung. Vor dem Hintergrund der beiden vorgestellten Rule-of-Law-Konzeptionen zeichnet sich die Wurzel der beiden ersten Probleme ab: Wären die Gerichte frei, ihnen vorgetragene Rechtsfälle nicht oder durch Wahl einer dritten Option („ist unklar“, „non liquet“) zu entscheiden, dann wäre der durch sie gewährte Rechtsschutz ineffektiv und mindestens einer Partei beziehungsweise Seite im Verfahren würde ihr Recht verweigert – was aus rechtsstaatlichen Gründen inakzeptabel ist. Gerichte sollen aber nicht nur alle Rechtsfragen durch Wahl von genau einer Option entscheiden, sondern sie sollen gemäß Recht und Gesetz entscheiden. Auch dies ist, wie wir gesehen haben, eine fundamentale rechtsstaatliche Forderung. Abgrenzungs- und Entscheidungsproblem treten also auf, weil rechtsstaatliche Rechtsprechung den Anforderung des Rechtsverweigerungsverbots und der Gesetzesbindung unterliegt. Nun könnten Gerichte diese beiden Probleme im Angesicht von Grenzfällen und Sorites-Reihen leicht umgehen, wenn sozusagen keine Gefahr bestünde, dass die rechtliche Grundlage ihrer Entscheidung als das erkannt wird, was sie in Grenzfällen ist, nämlich als problematisch: Weder die Wahl von „F“ noch die Wahl von „nicht F“ wurde durch Rechtssatz und Sachverhalt festgelegt. Müssten Gerichte ihre Entscheidungen nicht begründen, und würden diese Gründe nicht zur Beurteilung ihrer Entscheidung als korrekt oder inkorrekt herangezogen, dann wären Abgrenzungs- und Entscheidungsproblem zumindest entschärft. Das Gericht könnte den Gordischen Knoten durch ein nacktes Fiat durchschlagen, ohne sich dem Druck ausgesetzt zu sehen, für den Inhalt seiner Entscheidung inhaltliche Gründe anführen zu müssen. Nun gilt aber – nicht nur – in unserer Rechtsordnung regelmäßig die Pflicht zur Entscheidungsbegründung, die auch in allen deutschen Prozessordnungen niedergelegt ist.244 Mit einem Wort: Es ist 244
Nachweise siehe dazu unten ad (iii).
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diese durch fundamentale rechtsstaatliche Anforderungen an gerichtliche Rechtsanwendung bedingte Konstellation aus Gesetzesbindung, Verbot der Rechtsverweigerung und Begründungszwang, die den mit Grenzfällen und Sorites-Reihen konfrontierten Richter in eine aporetische Situation, eine ausweglose Zwickmühle versetzt. Nun wurde die Pflicht zur Entscheidungsbegründung weder von Fuller noch von Raz explizit unter die Elemente der Rule of Law gezählt. Es gibt jedoch Gründe, genau dies zu tun. Zunächst aber zu den beiden erstgenannten Anforderungen: (i) Vielleicht die grundlegendste Anforderung an Rechtsanwendung in einem Rechtsstaat, zumindest was die Justiz betrifft, kommt im sogenannten Rechtsverweigerungsverbot zum Ausdruck: „Die Gerichte müssen – im Rahmen ihrer Zuständigkeit – die ihnen vorgetragenen Rechtsfälle entscheiden. Sie dürfen Streitfälle um Materien, die gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt sind (,Lückenprobleme‘) nicht etwa deswegen zurückweisen und die streitenden Parteien auf den (oft untätigen oder verspäteten) Gesetzgeber verweisen. Es gilt für die Gerichte das sog. Rechtsverweigerungsverbot. Es gibt also keine gerichtshängigen Rechtsfragen, die unentschieden (,unbeantwortbar‘) [lies: ,unbeantwortet‘] bleiben können. Von den Gerichten [. . .] wird erwartet, daß sie für jeden Rechtsstreit eine Entscheidung, auf jede Rechtsfrage eine Antwort finden. Diese Antwort muß innerhalb der Verfahrensregeln, also ,alsbald‘ gefunden werden. [. . .] Es darf [. . .], jedenfalls im Bereich der Justiz, keine ,unlösbaren‘ Fragen und Probleme geben. Natürlich sind Juristen und Gerichte nicht allwissend. Aber sie sind dazu verurteilt, auch das zu entscheiden, was ihnen selbst noch neu und bisher unbekannt ist. Es gilt für sie eine besondere Gesetzmäßigkeit ihres Handelns: ,Die Notwendigkeit, zu entscheiden, geht weiter als die Möglichkeit zu erkennen‘.“ 245
Das Rechtsverweigerungsverbot ergibt sich aus dem Grundsatz, dass der durch die Justiz zu gewährende Rechtsschutz effektiv zu sein hat.246 Das bedeutet zu245 Rüthers (2008), Rn. 314. Zur historischen Entwicklung des Rechtsverweigerungsverbots vgl. Schumann (1968). 246 Ich werde im Folgenden von „Justizgewähranspruch“ sprechen, wenn ich das subjektive Anspruchsrecht natürlicher oder rechtlicher Personen meine, das dem Verbot der Rechtsverweigerung auf Seiten der Rechtsprechung korrespondiert. Diese Sprachregelung ist nicht unproblematisch, da von einigen Autoren vorgeschlagen wurde, Rechtsverweigerungsverbot und Justizgewähranspruch zu unterscheiden. Schumann (1968), S. 79 f. schreibt: „Das Rechtsverweigerungsverbot wird oftmals mit dem Justizgewährungsanspruch oder auch mit dem Rechtsschutzanspruch verwechselt. Doch ist es mit beiden nicht identisch. Das Recht auf Justizgewährung bedeutet den rechtsstaatlichen Anspruch des Staatsbürgers auf Rechtsschutz durch den Staat, ohne jedoch näher zu sagen, welches Recht der Richter bei seiner Entscheidung anzuwenden hat [. . .]. Das Rechtsverweigerungsverbot hingegen liegt auf einer anderen Ebene. Es gehört zum Satz ,iura novit curia‘, es verankert die Amtsprüfung für die Rechtsanwendung und schließt die verfahrenstheoretisch denkbare Möglichkeit aus, daß es in einer Rechtsfrage zu einem ,non liquet‘ kommt. Das Rechtsverweigerungsverbot verhindert richterliche ,Entscheidungen‘, die die Rechtslage im unklaren lassen und gibt somit der auf Grund an-
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nächst, dass jeder Fall überhaupt entschieden wird, und zwar zügig beziehungsweise innerhalb einer angemessenen Frist. Welcher Zeitraum dabei angemessen ist, lässt sich pauschal schwer sagen, da die Antwort von verschiedenen Faktoren abhängen wird oder kann, so etwa von der Arbeitsbelastung und personellen Ausstattung der Justiz, der Komplexität des Falles, der Dringlichkeit einer Entscheidung usw. Vermutlich kann man unter Absehung von konkreten Fällen lediglich sagen, dass die Entscheidung (noch) so ergehen muss, dass das Recht seine Kernaufgabe erfüllt, Streitfälle, die zwischen Menschen beziehungsweise Menschengruppen innerhalb einer Gesellschaft unweigerlich auftreten, autoritativ beizulegen und so den Frieden zu erhalten. (Das Rechtsverweigerungsverbot stellt nach Papier „einen Ausgleich für das staatliche Gewaltmonopol, das Selbsthilfeverbot zu Lasten des Bürgers und seine prinzipielle Friedenspflicht“ dar.247) Dies berührt einen weiteren und wichtigeren Aspekt der Effektivität des Rechtsschutzes, dass nämlich die Entscheidung eine Antwort auf die Rechtsfrage sein muss, die dem Gericht vorgelegt wurde: Einer Klage muss stattgegeben oder sie muss abgewiesen werden, der Angeklagt muss schuldig oder freigesprochen werden usw. Da Rechtsfragen Entscheidungsfragen sind, hat das entscheidende Gericht immer zwei Entscheidungsmöglichkeiten, von denen es genau eine wählen muss. Dass sich Richter vor der Beantwortung der ihnen vorgelegten Rechtsfrage nicht drücken können, also nicht entscheiden dürfen, den Fall nicht zu entscheiden, was verfahrenstechnisch ja immer möglich wäre, ist rechtsgeschichtlich betrachtet keine Selbstverständlichkeit. Dem Richter in der römischen Republik war es erlaubt, einen Eid zu leisten, dass ihm die Sache nicht klar und daher die korrekte Antwort auf die Rechtsfrage unbekannt sei (iurare sibi non liquere) – mit der Folge, dass der Fall an den Prätor zurückverwiesen wurde, der ihn dann einem anderen Richter übertrug. Hintergrund dessen war, dass der Prätor, der als Jurisdiktionsmagistrat über die Annahme von Klagen entschied und den Fällen die Richter zuordnete, grundsätzlich jeden römischen Bürger, der das 25. Lebensjahr vollendet hatte, zum Richterdienst verpflichten konnte – war der Betreffende nun rechtskundig oder nicht. Zugleich war der Richter, der ein fehlerhaftes Urteil derer Normen bestehenden richterlichen Entscheidungspflicht erst den Inhalt: Der Richter hat auf Grund des Rechtsverweigerungsverbots die Pflicht, rechtliche Zweifel bei der Gesetzesauslegung zu klären, das unklare Gesetz in seiner Bedeutung zu erhellen, rechtliche Gesetzesfehler zu berichtigen und die lückenhafte Norm zu ergänzen.“ Dem hat sich in neuerer Zeit auch Fögen (2004) angeschlossen, und zwar insbesondere mit Blick auf das schweizerische Recht. Papier (1989) hingegen scheint dem nicht gefolgt zu sein. Jedenfalls findet sich bei ihm keine entsprechende begriffliche Differenzierung. Stattdessen gilt nach Papier: „Aus dem Justizgewähranspruch des Rechtsschutzsuchenden folgt für den Richter das Verbot der Rechtsverweigerung.“ Papier (1989), S. 1228. Übrigens ist für die Bundesrepublik Deutschland die Geltung von Rechtsverweigerungsverbot und Justizgewähranspruch unbestritten; allerdings herrschen verschiedene Ansichten darüber, woraus sich dies ergibt. Nach Papier etwa folgen beide aus dem Rechtsstaatsprinzip. 247 Papier (1989), S. 1222.
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sprach, dem Geschädigten schadensersatzpflichtig. Der Eid öffnete dem Richter wider Willen dann sozusagen einen Notausgang. Im Laufe der Kaiserzeit scheint sich das geändert zu haben. Jedenfalls stand den Richtern der Zeit Justinians diese Option nicht mehr zur Verfügung.248 Angesichts dieses Befundes überrascht es ein wenig, wenn ein Kenner des römischen Rechts wie Friedrich Carl von Savigny die Pflicht des Richters zur Entscheidung der Rechtsfrage als etwas der „Natur des Richteramtes“ Selbstverständliches konstatiert: „Vielmehr müssen wir behaupten, daß namentlich den Richter, nach der allgemeinen Natur seines Amtes, die Dunkelheit eines Gesetzes niemals abhalten darf, eine bestimmte Meynung über dessen Inhalt zu fassen, und darnach ein Urtheil zu sprechen. Denn auch die Thatsachen können in einem Rechtsstreit höchst zweifelhaft seyn, ohne daß deshalb der Richter sein Urtheil verweigern darf. Zwischen beiden Elementen des Urtheils (Rechtsregel und Thatsachen) ist aber in dieser Hinsicht kein wesentlicher Unterschied. Die ausdrückliche Vorschrift des Französischen Rechts also, welche dem Richter verbietet, wegen eines mangelnden, dunklen, oder unzulänglichen Gesetzes sein Urtheil zu verweigern, ist der allgemeinen Natur des Richteramts völlig angemessen.“ 249
Die Forderung, auf jede Rechtsfrage genau eine von zwei möglichen Antworten zu geben, könnte man das Prinzip der juridischen Bivalenz nennen. Endicott hat seine ausnahmslose Geltung mit dem Hinweis darauf bestritten, dass nicht jede Entscheidung die Wahl unter genau zwei Möglichkeiten verlange – zum Beispiel die Festsetzung der genauen Dauer einer Gefängnisstrafe oder eines Geldbetrages an Schadenersatz.250 Dieser richtigen Beobachtung Endicotts trägt man am besten dadurch Rechnung, dass man zwischen selbständigen Entscheidungen, welche die jeweilige Rechtsfrage beantworten, und unselbständigen Entscheidungen, welche eine solche Antwort voraussetzen, unterscheidet und juridische Bivalenz nur für erstere behauptet: Dass T mit n Jahren Haft zu bestrafen ist (unselbständige Entscheidung), setzt eine bejahende Antwort (selbständige Entscheidung) auf die Rechtsfrage voraus, ob er sich der Straftat S schuldig gemacht habe. Dass der Kläger vom Beklagten n Euro Schadenersatz verlangen kann (unselbständige Entscheidung), setzt eine bejahende Antwort (selbständige Entscheidung) auf die Rechtsfrage voraus, ob der Kläger vom Beklagten Schadenersatz verlangen kann usw. Das Rechtsverweigerungsverbot hat eine unter Gesichtspunkten der Gewaltenteilung nicht unproblematische Konsequenz: Da die Justiz im Rahmen ihrer Zuständigkeit alle ihr vorgelegten Fälle entscheiden muss, kann sie auch die Ent-
248
Vgl. dazu Mayer-Maly (1993). von Savigny (1840), § 32. Bei der „Vorschrift des Französischen Rechts“ handelt es sich um Art. 4 des Code Civil von 1804: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice.“ 250 Endicott (2011), Fn. 28. 249
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scheidung von Fällen nicht ablehnen, für die das Recht, zumindest prima facie, keine Regelung vorsieht (Lücken). Wird nun ein solcher Fall letztinstanzlich und damit endgültig entschieden, so ergibt sich zusammen mit dem Grundsatz „Stare decisis et non quieta movere“ in Common-Law-Systemen beziehungsweise zusammen mit dem Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte in den auf dem römischen Recht basierenden Systemen, dass alle anderen Fälle, die in relevanter Hinsicht ähnlich sind, gleich entschieden werden müssen. (Das durch diese Grundsätze geschützte Anliegen ist neben dem der formalen Gerechtigkeit das der Rechtssicherheit und Rechtseinheit.) Effektiv hat die Justiz damit auf dem Wege des Richterrechts eine neue Rechtsnorm geschaffen, das heißt Recht gesetzt, und so eine Funktion ausgeübt, die eigentlich das Privileg des Gesetzgebers ist. Das Rechtsverweigerungsverbot begründet also die Normsetzungskompetenz der Rechtsprechung im Lückenfall.251 Dies war bereits Radbruch aufgefallen: „Der Widerstreit zwischen der Gewaltenteilungslehre und dem aus ihr fließenden Rechtsschöpfungsverbot einerseits, dem Rechtsverweigerungsverbot andererseits ist also bei der Unvollkommenheit der Gesetze unschlichtbar, der Richter kann das eine nur auf Kosten des anderen befolgen, und, da die Unvollkommenheit des Gesetzes unumgänglich, das Rechtsverweigerungsverbot unentbehrlich ist, setzt er sich in dieser Pflichtenkollision über die Gewaltenteilungslehre, das Rechtsschöpfungsverbot hinweg. Die Gewaltenteilungslehre [. . .] wird zwar nicht beseitigt, wohl aber in dem Sinne modifiziert werden müssen, daß die Grenze zwischen den Tätigkeiten des Richters und des Gesetzgebers nicht mit derjenigen zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung zusammenfalle, sondern mitten durch die letztere führe [. . .].“ 252
(ii) Die zweite Anforderung besteht in der Gesetzesbindung der Rechtsprechung.253 Damit ist zunächst gemeint, dass Gerichte die ihnen im Rahmen ihrer Zuständigkeit vorgelegten Rechtsfragen durch Rekurs auf geltendes Recht beantworten sollen, soweit es hierfür einschlägige geltende Regelungen gibt – sei es, dass diese durch den Gesetzgeber erlassen wurden, sei es, dass sie als richterrechtlicher „Notbehelf“ entstanden. Was aber bedeutet es, Rechtsfragen „durch Rekurs auf geltendes Recht“ zu beantworten? Es bedeutet sicher zunächst, die im Recht definierten Bedingungen zu eruieren, die erfüllt sein müssen, damit die jeweilige Rechtsfrage mit Ja beantwortet werden kann, also die rechtlich spezifizierten Bedingungen dafür, ein „sittenwidriges Rechtsgeschäft“ zu sein oder sich 251
Rüthers (2008), Rn. 823. Radbruch (1987) [1909], S. 417. Siehe auch Papier (1989), S. 1228: „Der Richter hat auch dort Kontroll- und Entscheidungsfunktionen wahrzunehmen, wo der Gesetzgeber es unterlassen hat, in gehörigem Maße die normativen Kontrollmaßstäbe mitzuliefern. Subjektive Wertungen, eigene Maßstabsbildungen und politische Dezisionen des Richters sind in diesen Fällen geradezu unausweichlich.“ 253 Für die diesbezügliche Diskussion in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie sowie für das Spektrum an Positionen zu der Frage, wie der Begriff der Gesetzesbindung adäquat zu explizieren wäre, vgl. bspw. Koch/Rüßmann (1982) sowie Christensen/Kudlich (2008). 252
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„des Diebstahles schuldig“ gemacht zu haben, und sodann zu prüfen, ob der zu beurteilende Sachverhalt diese Bedingungen erfüllt. Damit wird aber sogleich eine grundlegendere Frage aufgeworfen, welche lautet: Was bedeutet hier „Recht“? Man sieht zum Beispiel im Falle von Gesetzeslücken, also in Fällen, in denen eine einschlägige Norm fehlt, oder in denen eine Norm Fälle einschließt, die sie „eigentlich“ ausschließen müsste beziehungsweise in Fällen, in denen eine Norm Fälle ausschließt, die sie „eigentlich“ einschließen müsste, dass ein Verständnis von „Recht“ als Gesamtheit positiver Rechtsnormen unangemessen eng wäre – und dementsprechend auch ein darauf gestütztes Verständnis von „Gesetzesbindung“ als Pflicht zur Anwendung positiver Rechtsnormen.254 Im Falle von echten Gesetzeslücken etwa (eine einschlägige Norm fehlt völlig) gibt es ja gerade keine positive Rechtsnorm, die man anwenden könnte, weshalb in solchen Fällen die Rede von „Gesetzesbindung“ in diesem engen Sinne deplatziert wäre. Gleichwohl würden wir nicht sagen, dass Richter in solchen Fällen frei wären, zu entscheiden, wie es ihnen gut dünkt: Angenommen, es zeichneten sich im Angesicht einer Gesetzeslücke zwei Entscheidungsmöglichkeiten ab, von denen sich die eine besser in die rechtliche Systematik des betreffenden Rechtsgebietes einfügt als die andere, oder von denen die eine unter Gesichtspunkten der Billigkeit oder auch des Grundsatzes der Gleichbehandlung oder vielleicht auch mit Blick auf höherrangiges Recht Bedenken erregt, die andere hingegen nicht: Wählt der Richter die jeweils schlechtere Alternative, dann würden wir seine Entscheidung als rechtlich fragwürdig oder sogar rechtlich inakzeptabel kritisieren, und zwar mit rechtlichen Argumenten, also etwa mit Verweis darauf, dass seine Entscheidung quer zur Systematik des Rechtsgebietes steht, unbillig ist oder mit höherrangigem Recht nicht vereinbar. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Norm Fälle einschließt, die sie ausschließen müsste, oder wenn eine Norm Fälle ausschließt, die sie einschließen müsste.255 254
Für eine detaillierte Typologie von Gesetzeslücken vgl. Rüthers (2008), § 23. Ein Beispiel für eine „zu weit“ gefasste Norm liefert § 400 BGB – „Eine Forderung kann nicht abgetreten werden, soweit sie der Pfändung nicht unterworfen ist.“ § 400 BGB verbietet, wörtlich verstanden, ausnahmslos die Abtretung unpfändbarer Forderungen. „Jede solche Abtretung wäre danach nichtig. Gegen den ,klaren Wortsinn‘ haben die Gerichte solche Abtretungen für wirksam erklärt, wenn der Abtretende dadurch mindestens gleichwertige Gegenleistungen erhält. Der Grund: § 400 BGB soll den Inhaber unpfändbarer Forderungen schützen. Dieser Schutz wird in sein Gegenteil verkehrt, wenn gerade die Abtretung ihm den Forderungswert zukommen läßt. Solche Ausnahmelücken werden also im Wege der sog. teleologischen Reduktion geschlossen.“ Rüthers (2008), Rn 849. Ein Beispiel für eine „zu eng“ gefasst Norm findet sich in § 107 BGB – „Der Minderjährige bedarf zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters.“ Die Norm ist zu eng gefasst, weil sie – unsinnigerweise, wie es scheint – eine Einwilligung auch für indifferente Geschäfte verlangt, also Geschäfte, die dem Minderjährigen weder einen rechtlichen Vorteil noch einen rechtlichen Nachteil bringen. Die Gerichte entscheiden in diesen Fällen, dass eine Einwilligung nach § 107 BGB nicht erforderlich ist – auch hier gegen den Wortlaut der Norm und gestützt auf den Norm255
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Angenommen, ein Fall werde von den einschlägigen Rechtsnormen ihrem sprachlichen Gehalt nach zwar nicht erfasst, doch gebe es sehr gute Gründe für die Annahme, dass der Gesetzgeber diesen Fall durch die betreffenden Rechtsnormen erfasst und geregelt wissen wollte. Das Gericht, dem diese Gründe bekannt sind, ignoriert diesen Umstand, anstatt das juristische Argumentationsmittel der teleologischen Extension anzuwenden. (Entsprechendes gilt mutatis mutandis, wenn die betreffende Norm sprachlich weiter gefasst ist, als sie ihrem Zweck nach sein sollte. In solchen Fällen ist eine teleologische Reduktion geboten.) Wir würden diese Entscheidung als rechtlich fragwürdig kritisieren und wissen wollen, warum das Gericht der Meinung ist, dass das Auseinanderfallen von dem, was der Gesetzgeber gesagt hat, und dem, was er bezweckt hat, es dazu autorisiert, den Fall bloß mit Blick auf Ersteres zu entscheiden und Letzteres zu ignorieren? Dies ist keine semantische sondern eine staatstheoretische Frage: In einem gewaltenteilig verfassten Rechtsstaat kommt grundsätzlich der Legislative das Privileg zu, darüber zu befinden, welcher Regelungsgehalt mit Allgemeinverbindlichkeit ausgestattet werden, also den Status einer allgemein verbindlichen Rechtsnorm erhalten soll. (Ausnahmen wie etwa im Strafrecht oder bezüglich Grundrechtseingriffen bestätigen die Regel.) Es ist die Autorität des Gesetzgebers, welche diesen Gehalt zu einem Gesetz macht. Deswegen sind Rechtsanwender immer auch aufgefordert zu fragen, welchen Regelungsgehalt die Legislative mit Rechtskraft ausstatten wollte. In einigen Rechtsgebieten mag es legitim (beziehungsweise wie im Falle der Bundesrepublik sogar durch die Verfassung vorgeschrieben) sein, sich eng an das Gesagte zu halten und etwaige Intentionen beziehungsweise Zwecke des Gesetzgebers zu ignorieren – zum Beispiel im Strafrecht, in dem, angesichts der gravierenden Konsequenzen für die Betroffenen, außergewöhnlich hohe Maßstäbe an die Bestimmtheit von Rechtsnormen angelegt werden, so dass eine Tat nur dann bestraft werden darf, wenn sie expressis verbis vor Begehung mit Strafandrohung belegt war.256 Der Grund für diese Sonderbehandlung im Strafrecht – wobei Entsprechendes auch im Falle von Grundrechtseingriffen gilt – liegt jedoch nicht in der generellen Irrelevanz von – zum Beispiel – Regelungszwecken des Gesetzgebers für die Rechtsanwendung begründet, sondern verdankt sich dem Umstand, dass in Rechtsstaaten auch dem Gesetzgeber die Einhaltung bestimmter Standards abverlangt wird. Diese Beispiele verdeutlichen zunächst, dass es anscheinend auch dort rechtlich bessere und schlechtere beziehungsweise rechtlich korrekte und inkorrekte zweck, den Minderjährigen vor Geschäften zu schützen, die für ihn rechtlich nachteilig sind. Vgl. Rüthers (2008), Rn. 904. 256 Dieser Grundsatz ist aus dem römischen Recht als „nullum crimen, nulla poena sine lege“ bekannt und für die Bundesrepublik in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegt: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Für den gesamten Bereich des Strafrechts begründet er unter anderem ein striktes Verbot strafrechtlicher Rechtsfortbildung per analogiam, wie sie etwa im Zivilrecht erlaubt und üblich ist.
102
Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
Entscheidungen gibt, wo es an einer positiven Rechtsnorm fehlt, und dass es selbst in Fällen, für die es eine einschlägige Rechtsnorm gibt, mit dem bloßen Blick auf deren Wortlaut nicht getan ist, um den jeweiligen Fall rechtlich korrekt zu entscheiden. Man sieht, dass in unserer Rechtsordnung Gesetzesbindung de facto nicht als bloße Pflicht verstanden wird, Fälle nach explizit positivierten Rechtsnormen zu entscheiden, sondern als Forderung an den Rechtsanwender, die ihm vorgelegten Fälle so zu entscheiden, als hätte er sie unter dem Gesichtspunkt der ganzen Rechtsordnung entschieden: Zu dieser gehört aber mehr als das Korpus positiver Rechtsnormen – und auch mehr als das von diesen Normen gebildete System, aus dessen Stellung sich erst das richtige Verständnis einer Norm ergibt. Zum Recht im Ganzen gehören auch die etablierten Grundsätze eines Rechtsgebietes (wie etwa die Grundsätze des „nullum crimen, nulla poena sine lege“ oder des „ne bis in idem“ im Strafrecht), höchstrichterliche Rechtsprechung, Entscheidungen, Wertungen und Regelungsziele des demokratisch legitimierter Gesetzgebers, ferner auch die fundamentalen Prinzipien, die eine Rechtsordnung strukturieren und ihr Gehalt verleihen, wie sie in der Verfassung als einer Grundentscheidung für bestimmte Werte zum Ausdruck kommen, also etwa Grundsätze der Gleichbehandlung und „Fairness“ (etwa im Prozessrecht), des Respekts vor Vernunft, Freiheit und Würde des Menschen, der Konzeption des Staatsangehörigen als eines Bürgers (anstatt eines Untertanen), Grundrechte, demokratische Partizipation, republikanische Staatsform, Rechtsstaatlichkeit etc. „Gesetzesbindung“ bezeichnet die Pflicht des Rechtsanwenders, so zu entscheiden, dass sich seine Entscheidung optimal in diesen aus vielen ineinandergreifenden Sphären bestehenden Kosmos des Rechts einfügt. Rechtsanwendung ist von dieser Warte aus, wie man im Anschluss an Dworkins Konzeption in Law’s Empire sagen könnte, „an interpretive enterprise“, „an interpretive practice“, in dem es darum geht, für die Fallentscheidung Rechtsnormen im Lichte dieser fundamentalen Prinzipien, Werte und Ideale so gut wie möglich zu interpretieren, um den Fall so gut wie möglich zu entscheiden – und das Recht dadurch zugleich immer weiter fortzuentwickeln.257 Dass der Richter ans Gesetz (beziehungsweise „an Gesetz und Recht“) gebunden ist, bedeutet, dass er die Pflicht hat, an dieser Praxis teil- und sie selbst Ernst zu nehmen.258 Man könnte vielleicht auch etwas überspitzt sagen, dass „Gesetzesbindung“ die Forderung an den Gebundenen bedeutet, der ganzen Rechtsordnung gegenüber loyal zu sein. 257 Dworkin (2006), S. 90, 91 et passim. Für eine Konzeption des Rechts, welche die (im Wittgenstein’schen Sinne) Praxis-Natur des Rechts sowie ihre wesentlich argumentative und narrative Natur in den Vordergrund rückt, vgl. Patterson (1990), (1996), (2005). 258 Man muss also die Rede von „Gesetzesbindung“ hier und im Folgenden mit einem Körnchen Salz nehmen, denn wenn „Gesetz“ nur positive Rechtsnormen umfasst, dann ist „Gesetzesbindung“ eine unangemessene Bezeichnung für das, was hier im Anschluss an Dworkin gemeint ist. Ich werde den Terminus zwar weiter verwenden, da er sich in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie als Terminus technicus etabliert hat, verstehe ihn jedoch umfassender, als dies gewöhnlich geschieht.
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit
103
Dieses Verständnis von „Gesetzesbindung“ weist gegenüber der verengten Konzeption einen wichtigen Vorteil auf: Man kann unter Zugrundelegung der weiteren Konzeption die richterliche Pflicht zur Begründung von Entscheidungen als einen Aspekt ihrer Gesetzesbindung begreifen, ohne in die Schwierigkeit zu geraten, erklären zu müssen, warum die Begründungspflicht auch dann bestehen soll, wenn das Gesetz „dunkel“, mangelhaft oder sogar, wie im Falle einer Lücke, überhaupt nicht vorhanden ist: (iii) Begründungspflicht. Gerichte sollen nicht nur nach „Gesetz und Recht“ urteilen, sie sollen ihre Entscheidungen auch begründen: zum einen, um durch die angeführten Gründe zu zeigen beziehungsweise nachprüfbar zu machen, dass sie ihrer Gesetzesbindung nachgekommen sind.259 Zum anderen aber auch deshalb, weil nur, wenn Gründe angeführt werden, ein Urteil bewertet und kritisiert werden kann – nicht nur durch die Parteien oder durch die juristische und nichtjuristische Öffentlichkeit, sondern, auch wenn dies zunächst seltsam klingen mag, durch die erkennenden Richter selbst: Der Zwang zum Geben von Gründen, das heißt: zur vernünftigen Rechtfertigung, erlegt der Judikative nicht nur Disziplin und Kontrolle von außen auf. Wer sein Handeln begründen muss ist gezwungen, es zu reflektieren. Der Zwang zum Geben von Gründen hat also auch den Sinn, zur Selbstdisziplin anzuhalten. Der Zweck des prozessrechtlich verankerten Zwanges zum (besseren) Argument besteht in einer umfassenden Kontrolle und Kontrollierbarkeit der rechtsprechenden Gewalt – ohne sie dazu äußeren Eingriffen aussetzen und so ihre Unabhängigkeit in Gefahr bringen zu müssen. Man könnte auch sagen, dass durch die Begründungspflicht die Zügel der Gesetzesbindung noch etwas straffer angezogen werden – was ganz und gar dem rechtsstaatlichen Grundanliegen entspricht, das sich in der Forderung nach Gesetzesbindung ausdrückt, nämlich die Ausübung von Staatsgewalt gewissermaßen zu domestizieren. Die Forderung nach Entscheidungsbegründung kommt aber noch einem weiteren Grundanliegen der Rule of Law entgegen: Gesetze werden nicht einfach auf die Rechtsadressaten angewandt; ihre Anwendung geschieht begründet, wird den Adressaten gegenüber mit Gründen gerechtfertigt. Auch dadurch erkennt das Recht seine Adressaten als vernünftige Wesen an. Würde man „Gesetzesbindung“ nun bloß als Pflicht zur Anwendung von positivierten Rechtsnormen, wenn solche vorhanden sind, missverstehen, und andernfalls als Privileg, so zu entscheiden, wie es einem gerade richtig dünkt, dann wäre nicht einzusehen, warum die Pflicht zur Entscheidungsbegründung auch dann bestehen soll, wenn das Gesetz zum Beispiel lückenhaft ist: Im Falle einer echten Gesetzeslücke kann es ja dieser Konzeption zufolge keine Bindung ans Gesetz geben, weil es schlicht kein Gesetz gibt, an das man als Gericht gebunden 259 Im deutschen Recht ist die Begründungspflicht in den diversen Prozessordnungen positiviert, vgl. etwa § 313 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 3 ZPO, § 267 StPO, § 128 Abs. 1 S. 2 SGG, § 96 Abs. 1 S. 3 FGO, § 108 Abs. 1 S. 2 VwGO, § 30 Abs. 1 S. 2 BVerfGG.
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wäre. Wenn die Pflicht zur Begründung nun aber nur so weit reichen würde wie die Bindung ans Gesetz, dann müsste man sagen, dass es für das Gericht in einem solchen Lücken-Fall keine Pflicht zur Entscheidungsbegründung gibt. Gleichwohl ist es mit Blick auf die Kontrolle (und Selbstkontrolle) der Rechtsprechung durch den Zwang zum Geben von Gründen nicht wünschenswert, Gerichte in Lücken-Fällen von ihrer Begründungspflicht zu dispensieren – und tatsächlich lassen die Prozessordnungen für derartige Fälle auch keine Ausnahme zu. Diese Schwierigkeit löst sich jedoch auf, wenn man Gesetzesbindung eben nicht als bloße Pflicht versteht, Fälle nach positiven Rechtsnormen zu entscheiden, sondern, wie oben erläutert, als Forderung an den Rechtsanwender, gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen loyal zu sein. Vom Standpunkt dieser Konzeption unterscheiden sich Lücken-Fälle von anderen nämlich nur durch das Fehlen einer Entscheidungsressource, nicht jedoch in der Aufgabe, die „bestmögliche“ Lösung des Falles zu finden. Die angeführten Gründe nun sollen, um eine Einteilung von Grice aufzugreifen, keine Erklärungsgründe sein, welche die (beispielsweise psychologischen) Faktoren nennen, die das Urteil bewirkten, und auch keine personalen Gründe, also Gründe, von denen jemand glaubt, sie rechtfertigten ihn darin, so und so zu entscheiden; die angeführten Entscheidungsgründe sollen derart sein, dass sie die Entscheidung rechtfertigen.260 Die Unterscheidung von personalen und rechtfertigenden Gründen ist für das Recht offensichtlich deshalb problematisch, weil die angeführten Entscheidungsgründe naturgemäß immer Gründe sein werden, von denen der Rechtsanwender glaubt, sie rechtfertigten seine Entscheidung. Hier ist nicht der Ort, auf dieses Problem näher einzugehen. Man muss jedoch auch für das Recht einen Unterschied zwischen beiden Arten von Gründen postulieren, weil daran der Unterschied zwischen „gemäß Gesetz entscheiden“ und „gemäß Gesetz zu entscheiden glauben“ hängt. Insbesondere Begründungspflicht und Gesetzesbindung kommt eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung des rechtsstaatlichen Anliegens zu, Willkür zu vermeiden. Der Zwang, die getroffene Entscheidung zu begründen und als gesetzeskonform auszuweisen, soll nicht nur Willkür, verstanden als Irrationalität, ausschließen, sondern auch ganz grundlegend staatliche Machtausübung durch Bindung an das Recht begrenzen und durch die Pflicht zur Begründung der jeweils getroffenen Entscheidung rationaler Kontrolle unterwerfen. Ein Lösungsvorschlag für das Problem der Vagheit im Recht, der (i)–(iii) nicht Rechnung trägt, ist daher unter Gesichtspunkten der Rechtsstaatlichkeit inakzeptabel. Oder positiv gewendet: (i)–(iii) lassen sich als Kriterien verwenden, anhand derer über die Tauglichkeit eines philosophisch-vagheitstheoretischen Lösungsvorschlags befunden werden kann. Darauf ist im zweiten Teil dieser Studie zurückzukom-
260
Grice (2005), 37 ff.
C. Vagheit und Rechtsstaatlichkeit
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men. Zuvor sollen aber die Konturen der mit „Vagheit im Recht“ überschriebene Problematik vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Anforderungen etwas schärfer herausgearbeitet werden, als dies gewöhnlich geschieht. Dazu legt es sich nahe, die Konzeptionen von Fuller und Raz unter besonderer Berücksichtigung vorstehender Überlegungen zu synthetisieren.
IV. Synthese: Eine formale Konzeption der Rule of Law Stellt man die Konzeptionen von Fuller und Raz gegenüber so ergibt sich folgendes Bild: Element
Fuller
Raz
Anforderung(en) an
i.
(1)
(–)
Rechtsnormen
ii.
(2), (3), (4), (5)
(1)
~
iii.
(6)
(–)
~
iv.
(7)
(2)
Legislative
v.
(–)
(3)
~
vi.
(–)
(4)
Judikative
vii.
(–)
(5)
~
viii.
(–)
(6)
~
ix.
(–)
(7)
~
x.
(–)
(8)
Exekutive
xi.
(8)
(–)
Amtsträger
Die Zusammenschau beider Konzeptionen macht auf einen bereits erwähnten Unterschied zwischen Fuller und Raz aufmerksam: Fuller formuliert die Rule of Law als Summe von Anforderungen an Form, Inhalt und Änderung von Rechtsnormen sowie als Gesetzesbindung staatlicher Gewalt; Raz dagegen betont Anforderungen institutioneller und prozeduraler Art an Legislative, Exekutive und insbesondere Judikative. Über die Gründe, warum Fuller institutionelle Aspekte vollständig ausblendet und lediglich Anforderungen an Rechtsnormen aufstellt, nicht jedoch an Institutionen und Prozeduren, kann man nur spekulieren. Vielleicht hielt er die institutionelle Seite der Rule of Law für nicht grundlegend. Das legt jedenfalls seine These nahe, ein Gerichtswesen, welches autoritativ darüber entscheidet, was Recht ist, sei für die Regierung menschlicher Gemeinschaften mithilfe allgemeiner Re-
106
Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
geln nicht erforderlich, da insbesondere kleinen friedlichen Gesellschaften andere Ressourcen der Konfliktbeilegung zu Gebote stünden.261 Bei Raz wiederum legt die Idee der Handlungsleitung durch allgemeine Rechtsnormen den Schluss nahe, dass es Institutionen geben muss, die verbindlich darüber entscheiden, wie etwas rechtlich zu beurteilen ist. Vielleicht hat Fuller ja Recht mit seiner These, kleine friedliche Gesellschaften könnten ihre Konflikte auch ohne Gerichte beilegen. Die Frage wäre aber dann, ob man von einer Rule of Law sprechen kann, wenn A trotz seiner Meinung, im Recht zu sein, im Streit mit B nachgibt, weil ansonsten etwa das gute Verhältnis ihrer Familien gefährdet wäre. Der Streit wurde in diesem Fall ja nicht durch rechtliche Beurteilung, also durch Anwendung geltenden Rechts, verbindlich entschieden, sondern lediglich vermittels Klugheitsüberlegungen entschärft. Trotz dieses Unterschiedes weisen beide Konzeptionen jedoch eine fundamentale Gemeinsamkeit auf. Der beiden zugrunde liegende Gedanke findet sich bei Raz folgendermaßen formuliert: „[O]bservance of the rule of law is necessary if the law is to respect human dignity. Respecting human dignity entails treating humans as persons capable of planning and plotting their future. Thus, respecting people’s dignity includes respecting their autonomy, their right to control their future. [. . .] The law can violate people’s dignity in many ways. Observing the rule of law by no means guarantees that such violations do not occur. But it is clear that deliberate disregard for the rule of law violates human dignity. It is the business of law to guide human action by affecting people’s options. The law may, for example, institute slavery without violating the rule of law. But deliberate violation of the rule of law violates human dignity.“ 262
Der gleiche Gedanke findet sich auch bei Fuller: „I come now to the most important respect in which an observance of the demands of legal morality [i. e. the principles of the rule of law] can serve the broader aims of human life generally. This lies in the view of man implicit in the internal morality of law. I have repeatedly observed that legal morality can be said to be neutral over a wide range of ethical issues. It cannot be neutral in its view of man himself. To embark on the enterprise of subjecting human conduct to the governance of rules involves of necessity a commitment to the view that man is, or can become, a responsible agent, capable of understanding and following rules, and answerable for his defaults. Every departure from the principles of the law’s inner morality is an affront to man’s dignity as a responsible agent. To judge his actions by unpublished or retrospective laws, or to order him to do an act that is impossible, is to convey to him your indifference to his powers of self-determination. Conversely, when the view is accepted that man is incapable of responsible action, legal morality loses its reason for being. To judge his actions by unpublished or retrospective laws is no longer an
261 262
Fuller (1969), S. 55. Raz (1979), S. 221 f.
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affront, for there is nothing left to affront – indeed, even the verb ,to judge‘ becomes itself incongruous in this context; we no longer judge a man, we act upon him.“ 263
Konformität zur Rule of Law ist eine notwendige (wenn auch nach Raz keine hinreichende) Bedingung, dafür, dass das Recht Menschen als Personen, das heißt als Wesen, die zur Selbstbestimmung aus Vernunft fähig sind (Autonomie), achtet. Damit fangen Fuller und Raz eine wichtige Intuition ein, die wir mit der Idee von Rechtsstaatlichkeit verbinden, und die mit im Spiel ist, wenn rechtsförmige Verletzungen der Menschenwürde durch ein diktatorisches Regime beklagt werden: Der bewusste Verstoß gegen die Prinzipien der Rule of Law, der sich in gewissen Praktiken von (bestimmten) Staaten manifestiert, wird nicht einfach im Hinblick auf Zweckmäßigkeit, Effizienz oder Ähnliches moniert; in etlichen Fällen wäre das auch nicht gerechtfertigt, denn es liegt mehr als ein Körnchen Wahrheit in der Behauptung, autoritäre oder gar diktatorische Regime seien in mancher Hinsicht „effizienter“ als rechtsstaatlich verfasste Demokratien mit ihren oft langwierigen und mühsamen Verfahren der Entscheidungsfindung und -umsetzung. Der entscheidende Punkt ist die Art der Verurteilung: Die Empörung über bewusste Verletzungen der Rule of Law ist moralischer Natur. Als einem Wesen, das seiner Natur nach zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig ist, kommt dem Menschen Würde zu, die Achtung gebietet. Menschen so zu behandeln, als wären sie keine Personen, sondern subrationale Lebewesen oder gar Gegenstände, heißt, ihnen die gebotene Achtung zu verweigern. Allerdings darf man über diese Gemeinsamkeit einen wesentlichen Unterschied zwischen Fuller und Raz nicht übersehen: Bei Raz ist die Verwirklichung der Rule of Law wünschenswert; bei Fuller ist sie begrifflich notwendig, damit in einem nicht-trivialen Sinne von der Existenz eines Rechtssystems gesprochen werden kann. Zusammenfassend kann man festhalten: Die Rule of Law ist die spezifische Exzellenz eines sowohl als Normensystem wie auch als Institutionengefüge verstandenen Rechtssystems, das den Grundsatz realisiert, dass staatliche Macht nur durch, aufgrund und gemäß Gesetz auszuüben ist. Sie unterscheidet sich von anderen Zustandsweisen eines Rechtssystems dadurch, dass sie in einer ausgezeichneten Beziehung zur Autonomie des Menschen steht, insofern sie ihn als ein zu vernünftiger Selbstbestimmung fähiges Wesen achtet. Dieser Charakter eines Rechtssystems, das die Rule of Law verwirklicht, konkretisiert sich in Anforderungen an Form und Inhalt der Rechtsnormen, an ihren Erlass, ihre Abänderung und Aufhebung durch die Legislative, an ihre Anwendung durch Verwaltung und Gerichte, sowie an Stellung und Verfahren von Gerichtswesen und Exekutivorganen beziehungsweise deren Amtsträgern. Zu den wichtigsten Elementen der Rule
263 Fuller (1969), S. 162 f. Ähnlich auch Waldron (2008), S. 36: „The individuals whose lives law governs are thinkers who can grasp and grapple with the rationale of that governance and relate it in complex but intelligible ways to their own view of the relation between their actions and purposes and the actions and purposes of the state.“
108
Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
of Law, die im Lichte der sie organisierenden Idee zu verstehen sind, gehören die folgenden zehn Anforderungen: (I)
Es muss neben partikularen Rechtsnormen, das heißt Gerichtsurteilen, Gerichtsbeschlüssen und Verwaltungsakten, auch universale Rechtsnormen geben, so dass jede partikulare Rechtsnorm als Deduktion aus oder Determination einer allgemeinen Rechtsnorm begriffen werden kann.264
(II)
Rechtsnormen müssen öffentlich bekanntgemacht, verständlich und widerspruchsfrei sein; sie dürfen weder rückwirkend sein noch Unmögliches verlangen.
(III) Rechtsnormen müssen eine gewisse Stabilität durch die Zeit aufweisen. (IV) Der Erlass von partikularen Rechtsnormen muss durch allgemeine, öffentlich bekannt gemachte, klare und stabile Rechtsnormen geregelt sein. (V)
Die Gerichte müssen unabhängig sein.
(VI) Gerichtsverfahren müssen fair sein. (VII) Die Gerichte wachen über die Konformität staatlichen Handelns zu den rechtsstaatlichen Prinzipien. (VIII) Gerichte müssen leicht zugänglich, der durch das Gerichtswesen gewährte Rechtsschutz muss effektiv sein, was ein Verbot der Rechtsverweigerung beinhaltet. 264 Diese Unterscheidung stammt von Thomas von Aquin, vgl. S. th. I–II q. 95 a. 2.co: Eine Norm wird deduziert, wenn sie aus anderen Sätzen logisch abgeleitet wird (Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft – § 223 Abs. 1 StGB. T hat den O an der Gesundheit geschädigt. T wird mit . . . bestraft.). Sie wird determiniert, wenn sie durch Konkretisierung einer generellen Norm erzeugt wird (Verurteilung des T zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft wegen Körperverletzung an O.). Der Unterschied zwischen der Ableitung einer Norm durch Deduktion beziehungsweise Determination wird noch bei Hegel verwendet, um auf den Begriff zu bringen, was das eigentlich Positive am positiven Recht sei: „In dieser Zuspitzung des Allgemeinen, nicht nur zum Besonderen, sondern zur Vereinzelung, d. i. zur unmittelbaren Anwendung, ist es vornehmlich, wo das rein Positive der Gesetze liegt. Es läßt sich nicht vernünftig bestimmen noch durch die Anwendung einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig Streichen oder von vierzig weniger eins, noch ob eine Geldstrafe von fünf Talern oder aber auch von vier Talern und dreiundzwanzig usf. Groschen, noch ob eine Gefängnisstrafe von einem Jahre oder von dreihundertvierundsechszig usf. [Tagen] oder von einem Jahre und einem, zwei oder drei Tagen das Gerechte sei. [. . .] Daß das Gesetz etwa nicht diese letzte Bestimmtheit, welche die Wirklichkeit erfordert, festsetzt, sondern sie dem Richter zu entscheiden überläßt und ihn nur durch ein Minimum und Maximum beschränkt, tut nichts zur Sache, denn dies Minimum und Maximum ist jedes selbst eine solche runde Zahl und hebt es nicht auf, daß von dem Richter alsdann eine solche endliche, rein positive Bestimmung gefaßt werde, sondern gesteht es demselben, wie notwendig, zu.“ Hegel (1976) [Grundlinien der Philosophie des Rechts], § 214. Vgl. ferner auch Hegel (2003) [Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften], § 529.
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(IX) Die Verwaltung und insbesondere die Polizei sollen in ihrem Ermessen beschränkt sein. (X)
Die Staatsgewalt und ihre Amtsträger sind an die Gesetze gebunden, was eine Pflicht zur Entscheidungsbegründung beinhaltet.265 V. Vagheit im Recht – Facetten eines Problems
In Kapitel A. und B. wurde die mit Vagheit im Recht verbundene Problematik unter anderem als Unbestimmtheit charakterisiert: In Grenzfällen legen Rechtsnormen, die semantisch vage Prädikate verwenden, zusammen mit den relevanten Merkmalen des Falles keine Entscheidung als die rechtlich korrekte fest. Diese Bestimmung lässt sich vor dem Hintergrund von (I)–(X) substanziieren: Wegen (I) muss es in einem rechtsstaatlichen Rechtssystem nicht nur partikulare Rechtsnormen geben, sondern auch universale, von denen sich etliche auf einer recht hohen Abstraktionsstufe bewegen und generelle Ausdrücke enthalten werden – man denke etwa an die großen Kodifikationen von Zivil- und Strafrecht durch BGB und StGB, oder an Gesetze, die eine Materie im Umriss regeln, während die Details dann durch Rechtsverordnungen festgelegt werden, wie häufig im Umweltrecht zu beobachten ist (Bundesimmissionsschutzgesetz, Bundesnaturschutzgesetz, Wasserhaushaltsgesetz und andere). Zwar sind nun Vagheit und Generalität nicht dasselbe. Gleichwohl sind viele generelle Prädikate auch (kombinatorisch) vage, wie man sich an „Gesundheit“ (in § 223 Abs. 1 StGB266) oder „Kindeswohl“ (beispielsweise in § 1697a BGB267) verdeutlichen kann. (I) ist daher, wie Endicott argumentiert hat, ein potentielles Einfallstor für Vagheit.268 265 Diese Liste versteht sich sinnvollerweise nicht als abschließend, da sie nicht alle denkbaren Konkretisierungen aus dem Bezug der Rule of Law auf die Autonomie des Menschen umfasst. So könnte man, wie dies Waldron (2008), S. 27 ff. tut, den genannten Elementen etwa das Gebot hinzufügen, die legislativ erlassenen Rechtsnormen sollten nur dort strikte und präzise Anleitung geben, wo dies unbedingt erforderlich ist, ansonsten aber etwa durch Programmsätze und Zielvorgaben sowie durch andere „weiche“ Standards der praktischen Vernunft des Einzelnen zu eigenverantwortlichem Handeln möglichst weitgehend Raum geben. Oder auch die Bestimmung, dass die Rechtssubjekte an der Setzung des für sie geltenden Rechts zu beteiligen sind, und zwar nicht nur in Gestalt von unverbindlichen Anhörungen, sondern in Gestalt von Wahlen und Abstimmungen mit verbindlichem Ergebnis. An dieser Stelle ginge die formale Konzeption der Rule of Law zwanglos in eine substanzielle über. Allerdings wäre damit auch der Boden des in der philosophischen und rechtstheoretischen Diskussion bislang Konsensfähigen verlassen. 266 „Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt [. . .].“ 267 „Soweit nichts anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.“ 268 Endicott (2001), S. 382 ff.
110
Teil I: Vagheit, Recht, Rechtsstaat
Zur Verständlichkeit von Gesetzen (II) gehört wesentlich, dass ihre Adressaten wissen können, was eine Norm für die Frage, wie man sich hier und jetzt verhalten soll, besagt. Dies gilt auch dann, wenn es sich bei der betreffenden Norm um eine unvollständige Norm handelt, die lediglich eine Legaldefinition enthält oder die auf eine andere Norm verweist, oder wenn die betreffende vollständige Norm nicht die Form eines Konditionals hat, das an die Erfüllung eines Tatbestandes eine bestimmte Rechtsfolge knüpft, sondern den Charakter einer Zielvorgabe, wie im Umweltrecht häufig zu beobachten ist:269 Die Normadressaten müssen imstande sein, zu wissen, ob das, was zu tun sie im Begriff sind, als normgemäß oder normwidrig zu beurteilen ist. Nur dann können sie ihr Handeln entsprechend justieren. Semantische Vagheit unterläuft diese Möglichkeit jedoch (II): Wer bei seiner hier und jetzt zu treffenden Entscheidung mit einem Grenzfall für die Anwendung eines semantisch vagen Prädikates konfrontiert ist, das im Text der betreffenden Normen verwendet wird, kann eben gerade nicht wissen, ob das, was er zu tun im Begriff ist, gegen die relevante Norm verstößt oder nicht. Besonders heikel kann das Auftreten vager Prädikate in Rechtsnormen sein, welche die Erzeugung anderer Rechtsnormen regeln – Harts sekundäre Regeln270: Die Verwendung vager Ausdrücke in Verfassungsbestimmungen etwa hinsichtlich der Legislative berührt unmittelbar die Frage nach der verfassungskonformen Ausübung der gesetzgebenden Gewalt (X). Entsprechendes gilt für die Exekutive (IX): Da vage Prädikate keine scharfe Grenze ziehen, ist es schwer zu sagen, wann Verwaltung und insbesondere Polizei von ihrem Ermessen271 einen zu weit gehenden Gebrauch gemacht oder bei der Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit oder Ordnung272 ihre Kompetenzen überschritten haben. Ferner machen sie es ganz allgemein schwer zu entscheiden, wann ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzesbindung durch staatliche Amtsträger (X) zu konstatieren ist. Beides stellt wiederum Verwaltungs- und Verfassungsgerichte vor Schwierigkeiten und bedroht damit die gerichtliche Überwachung staatlichen Handelns insgesamt (VII). Ein analoges Problem entsteht, wenn vage Prädikate in
269 Zur Erläuterung sei eine Bestimmung aus dem Wasserhaushaltsgesetz angeführt: § 6 Abs. 1 Nr. 3 legt fest: „Die Gewässer sind nachhaltig zu bewirtschaften, insbesondere mit dem Ziel, möglichen Folgen des Klimawandels vorzubeugen“. Man vergleiche die logische Form dieser Norm etwa mit § 138 Abs. 1 BGB – „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ – oder auch mit § 222 StGB: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. 270 Vgl. Hart (1997). 271 Vgl. z. B. § 22 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz: „Die Behörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann sie ein Verwaltungsverfahren durchführt.“ 272 Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes: „Die Polizei hat die Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren.“
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Normen verwendet werden, welche die unabhängige Stellung der Gerichte (V) sowie den Zugang zu ihnen (VIII) regeln oder Vorgaben für das Gerichtsverfahren definieren (VI). Der wichtigste Punkt berührt jedoch (IX) und (X): Dass die Verwaltung in ihrem Ermessen beschränkt und die Rechtsprechung an die Gesetze gebunden sein soll, beinhaltet zum einen, dass sie Fälle nach den Vorgaben des Rechts zu entscheiden haben. Hat man es aber bei einem Fall mit einem Grenzfall für einen unbestimmten Rechtsbegriff zu tun, dann ist unklar, ob der Fall unter den Rechtsbegriff fällt und damit unter die Norm subsumiert werden kann (beziehungsweise muss). Gesetzesbindung beinhaltet aber auch, dass Rechtsanwender gehalten sind, ihre Entscheidungen als gesetzesgemäß auszuweisen. Sie sollen den vorliegenden Fall nicht nur als einen der „erheblichen Lärmbelästigung“ oder des „sittenwidriges Rechtsgeschäft“ klassifizieren, sondern sie sollen Gründe anführen, warum der Fall solcherart zu klassifizieren ist. Bei Grenzfällen steht aber gerade in Frage, ob sie dem positiven oder negativen Anwendungsbereich des betreffenden Prädikates zuzuordnen sind. Wie also soll eine solche Einsortierung bei einem Grenzfall gerechtfertigt werden? Nun verhält es sich, worauf praktisch tätige Juristen gerne hinweisen, durchaus so, dass man das Entscheidungsproblem notfalls auch durch ein bloßes Fiat aus der Welt schaffen, den problematischen Fall also notfalls durch Stipulation zu einem Fall aus dem positiven oder negativen Anwendungsbereich der Norm erklären und somit entscheiden kann. Das ist aber, wie oben schon ausgeführt, offensichtlich nur die halbe Lösung, denn es soll ja nicht nur entschieden werden, es soll begründet entschieden werden. Gewiss kann man den Gordischen Knoten des Entscheidungsproblems dadurch „lösen“, dass man ihn mit einer nackten Dezision durchschlägt. Mit dem Begründungsproblem wird man so jedoch nicht fertig. Man könnte sogar sagen, dass der Kern der mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme in der rationalen Unterbestimmtheit von Entscheidungen besteht: Was Sorites gerade auch im Recht so misslich macht, ist nicht der Umstand, dass man in einem abgrenzungslosen Kontinuum per Fiat keine Abgrenzungen vornehmen könnte, sondern der Umstand, dass man diese Grenzziehung weder von der Sache her noch unter Rekurs auf die einschlägigen Rechtsnormen beziehungsweise auf die in den gesetzlichen Tatbeständen verwendeten Prädikate begründen kann.273 Was Grenzfälle gerade auch im Recht so misslich macht, ist nicht der Umstand, dass man einen Grenzfall – wie Rechtspraktiker gerne betonen – nicht doch „irgendwie“ subsumiert bekäme, sondern der Umstand, dass man diese Subsumtion weder sachlich noch semantisch rechtfertigen kann. Die Begründung scheint nicht möglich zu sein, ist jedoch aus fundamentalen rechtsstaatlichen Gründen auch nicht entbehrlich. Das ist in nuce die mit „Vagheit im Recht“ überschrie273 Dies zeigt sich spätestens dann, wenn die Gegenseite zurückfragt: „Aber warum gerade hier [bei 50.000 Euro und nicht bei 49.999 oder bei 50.001 Euro]?“
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bene Problematik, und jede Theorie, die eine Problemlösung bieten oder die Probleme zumindest entschärfen möchte, muss diese Schwierigkeit angehen. Die Verwendung vager Prädikate kann, wie sich zeigt, die Rule of Law in beinahe allen ihren Elementen berühren.274 Zwar macht auch hier eine Schwalbe noch keinen Sommer. Das Vorkommen eines vagen Terminus in einem Gesetz bedeutet noch nicht den Bruch mit der Rule of Law. Ob vage Prädikate diese Wirkung haben, wird von verschiedenen Faktoren abhängen: von ihrer Anzahl, der Relevanz der betroffenen Rechtsnormen für das Funktionieren des Rechtssystems im Ganzen, der Natur der betreffenden Regelungen (tangieren sie beispielsweise Grundrechte oder nicht), aber auch davon, ob die Jurisprudenz des betreffenden Rechtssystems in der Lage war, Vagheit im Recht zumindest pragmatisch zu entschärfen. Die Betonung liegt jedenfalls auf „kann“: Es geht hier nicht darum, die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme zu dramatisieren oder sich eine rechtsstaatliche Apokalypse auszumalen. Es geht darum, sich zu vergegenwärtigen, dass die Verwendung vager Prädikate gewichtigere Schwierigkeiten bereiten kann als Sand ins Getriebe der Rechtspraxis zu streuen und die Entscheidung irgendeines trivialen Falles aus dem amtsgerichtlichen Alltag ein wenig verzwickter zu gestalten. Die Essenz der Rule of Law hat Waldron (2005) mit der Formel auf den Begriff gebracht: „a state subject to law“.275 Die Staatsgewalt soll domestiziert werden, indem sie dem Recht unterworfen wird – und dafür, dass etwas den Status von Recht erlangen kann, müssen bestimmte Maßstäbe eingehalten werden. In jedem Grenzfall scheinen sich die Zügel des Rechts ein wenig zu lockern und scheint ein Element der Willkür ins Spiel zu kommen, auch wenn man noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen hat, um zu dem zu gelangen, was man „Willkürherrschaft“ nennt. Ziel dieser Studie ist es nicht, die274 Eine Ausnahme bildet (III), also die Forderung, dass Rechtsnormen eine gewisse Stabilität durch die Zeit aufweisen sollen. Hier liegt die Schwierigkeit in der Vagheit des Ausdrucks „gewisse Stabilität“, das heißt auf Seiten des Grundsatzes selbst. 275 Waldron (2005), S. 1742 f. Waldron hat noch auf einen fundamentaleren Aspekt der Rule of Law aufmerksam gemacht, der für die Zwecke dieser Arbeit jedoch keine Rolle spielt: „Modern states suffer from a standing temptation to try to get their way by terrorizing the populations under their authority with the immense security apparatus they control and the dreadful prospects of torture, disappearance, and other violence that they can deploy against their internal enemies. Much more than mere arbitrariness and lack of regulation, this is the apprehension that most of us have about the modern state. The rule of law offers a way of responding to that apprehension for, as we have seen, law (at least in the heritage of our jurisprudence) has set its face against brutality, and has found ways of remaining forceful and final in human affairs without savaging or terrorizing its subjects. The promise of the rule of law, then, is the promise that this sort of ethos can increasingly inform the practices of the state, not just courts, police, jailers, or prosecutors. In this way, a state subject to law becomes not just a state whose excesses are predictable or whose actions are subject to forms, procedures, and warrants; it becomes a state whose exercise of power is imbued with this broader spirit of the repudiation of brutality. [. . .] It is archetypal of what law can offer, and in its application to the state, it is archetypal of the project of bringing power under this sort of control.“ Ebd.
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sen Weg zu vermessen oder die Größe der Gefahr abzuschätzen, sondern (gegen gelegentlich zu hörende Beschwichtigungsversuche) hervorzuheben, dass es ihn gibt. Von Willkürherrschaft als Antipode der Rule of Law hat Endicott gesagt: „Arbitrary government is a particular form of unreasonable government.“ 276 Er unterscheidet dabei vier Bedeutungen von „arbitrary“, „willkürlich“: Willkürlich ist Herrschaft, wenn sie (i) den unbeschränkten Willen der Herrschenden durchsetzt, (ii) gegen den Grundsatz, Gleiches gleich zu behandeln, verstößt, (iii) sich unvorhersehbar verhält oder (iv) von der Ratio Legis („from the reason of the law“) abweicht.277 Nach Endicott macht Vagheit im Recht Arbitrarität im Sinne von (i)–(iii) unvermeidlich, nicht jedoch im Sinne von (iv). Der Grund dafür ist zumindest bei (i) und (iii) klar: In Grenzfällen ist unklar, ob die betreffende Norm anzuwenden ist oder nicht. Die Entscheidung darüber scheint nicht vom Gesetz vorgegeben zu sein und deshalb von einem nackten „Sic volo, sic jubeo“ des Rechtsanwenders abzuhängen. Das Handeln der Staatsgewalt ist durch rechtliche Schranken nicht oder nicht im relevanten Ausmaß eingehegt. Es ist aber für die betroffenen Parteien ferner auch unvorhersehbar, denn die psychologischen (und sonstigen) Faktoren, welche die Entscheidung bewirken, oder die nicht-rechtlichen Gründe, die sie bestimmen – nämlich in dem Fall, dass der Rechtsanwender trotz des Mangels an zureichenden rechtlichen Entscheidungsgründen trotzdem versucht, begründet zu entscheiden, auch wenn er diese nicht-rechtlichen Entscheidungsgründe natürlich in der Urteilsbegründung nicht nennen kann –, sind ihnen unbekannt, da im juristischen Diskurs nicht präsent und auch nicht präsentabel. Dass ein Rechtsanwender für gewöhnlich Fälle dieser Art so und so entscheidet (und auch dafür bekannt ist), berührt nicht den Kern der Sache: Sollte er sich bislang auch immer um Berechenbarkeit bemüht und diese an den Tag gelegt haben, so hätte er doch mangels rechtlicher Einhegung jederzeit die Möglichkeit, davon abzugehen.278 Restriktion und Vorhersehbarkeit würden damit zwar faktisch gewährt, aber rechtlich nicht garantiert. Bei denjenigen Prädikaten wiederum, welche die Konstruktion von SoritesReihen erlauben, lässt sich der Anwendungsbereich einer Norm, die solche Prädikate enthält, mithilfe einer auf den ersten Blick harmlosen weil logisch korrekten und von plausiblen Prämissen ausgehenden Argumentation stetig erweitern.279 Der hier und jetzt zu beurteilende Fall kann mit einer Sorites-Argumenta276
Endicott (1999), S. 2. Endicott (1999), S. 3. 278 Dies gilt nicht für Common-Law-Systeme, in denen Präzedenzfälle gemäß dem Grundsatz „Stare decisis et non quieta movere“ Bindungswirkung entfalten. 279 Dass es sich dabei keineswegs bloß um eine theoretische Möglichkeit handelt, hat Eike von Savigny (1991) anhand der BGH-Rechtsprechung zum Gewaltbegriff (Nötigung, § 240 StGB) gezeigt. 277
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tion als ein Fall aus dem positiven beziehungsweise negativen Anwendungsbereich einer Norm ausgewiesen und das jeweilige staatliche Handeln als normgemäß gerechtfertigt werden. Jónsson hat das Problem folgendermaßen illustriert und dabei das Augenmerk auf die mit Sorites verbundenen Entscheidungs- und Begründungsprobleme gelegt: In einem Land wird ein Gesetz erlassen, das es verbietet, Häuser rosa zu streichen. Eine Gruppe von Aktivisten möchte dieses Gesetz in Misskredit bringen. Die Aktivisten streichen eine hinreichend große Zahl von Häusern in minimal unterschiedlichen Farben aus dem Spektrum von Rot nach Weiß: Das erste Haus wird rot gestrichen, in die rote Farbe des zweiten Hauses wird jedoch etwas weiße Farbe gemischt, so dass der entstehende Rotton minimal heller ist, als der des ersten Hauses. Der Weißanteil in der Farbe für das dritte Haus ist etwas größer als der in der Farbe des zweiten Hauses usw. Der Anteil der weißen Farbe wird nun solange erhöht, bis das letzte Haus in der Reihe ein klarer Fall von weiß ist. Einige Aktivisten werden nun wegen Verstoßes gegen das Gesetz verurteilt, andere nicht. Die Verurteilten gehen in Berufung, und zwar mit Rekurs auf den Grundsatz, Gleiches gleich zu behandeln. Das Berufungsgericht steht nun vor dem Problem, entweder alle zu verurteilen oder alle freizusprechen oder irgendwo in der Sorites-Reihe eine Grenze zu ziehen und die Grenzziehung vernünftig zu rechtfertigen.280 Jónssons Beispiel ist zwar fiktiv; gleichwohl kann die Toleranz von Farbprädikaten vor Gericht auch „im wirklichen Leben“ bedeutsam werden, wie der folgende Streitfall zeigt, über den das Oberverwaltungsgericht NRW zu befinden hatte:281 Die Kläger hatten das Dach ihres neu errichteten Hauses in Abweichung von der ihnen erteilten Baugenehmigung mit anthrazitfarbenen Dachpfannen eindecken lassen. Der maßgebliche Bebauungsplan enthielt aber die Gestaltungsfestsetzung, dass die Dacheindeckung mit rot-braunen Pfannen zu erfolgen habe. Die zuständige Behörde verfügte die Beseitigung der Dacheindeckung. Widerspruchs- und Klageverfahren blieben erfolglos. Schließlich wurde die Behörde aber unter Aufhebung ihrer Bescheide verpflichtet, den Klägern die Eindeckung ihres Hauses mit grau-schwarzen Dachpfannen zu gestatten. Begründet wurde dies vom OVG unter anderem damit, dass die betreffende Gestaltungsfestsetzung wegen der Vagheit des Prädikates „rot-braun“ dem Bestimmtheitsgebot aus dem Rechtsstaatsprinzip widerspreche und damit nichtig sei: „Jedenfalls genügt die hier strittige Gestaltungsfestsetzung, daß die Dacheindeckung mit rot-braunen Pfannen zu erfolgen hat, nicht dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden Bestimmtheitsgebot. [. . .] Die Grundsätze des
280
Ólafur P. Jónsson (2009). OVG NRW, 07.11.1995, Az: 11 A 293/94. Vorgehend VG Minden, 14. Dezember 1993, Az: 1 K 1299/92. Fundstellen: NVwZ-RR 1996, 491–492; BRS 57 Nr. 171 (1995). 281
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Rechtsstaates erfordern, daß gesetzliche Ermächtigungen zur Vornahme belastender Verwaltungsakte u. a. nach dem Gegenstand der Regelung so hinreichend bestimmt sind, daß die Eingriffe einerseits für den Betroffenen in gewissem Umfang vorhersehbar und berechenbar werden und andererseits richterlich nachgeprüft werden können. [. . .] Auch gebietet es der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, daß der Normgeber – hier der Satzungsgeber – die Einzelbefugnisse und -pflichten [. . .] inhaltlich bestimmt. [. . .] Was unter der Farbbezeichnung ,rot-braun‘ in der [. . .] getroffenen Gestaltungsfestsetzung zu verstehen ist, ist jedoch nicht in der Weise nachvollziehbar, daß sich die Regelung hinreichend klar anwenden ließe. [. . .] So wird die Formulierung vom VG, vom Beklagten und von der Beigeladenen dahingehend verstanden, daß die gesamte Farbpalette von Rot bis Braun erfaßt würde. Andererseits läßt sich das Wort ,rot-braun‘ auch dahin interpretieren, daß damit eine aus beiden Elementen bestehende Farbmischung gemeint ist. Erweist sich die Gestaltungsfestsetzung deshalb als mehrdeutig, macht schon dies die Regelung nicht handhabbar. Während erstgenannte Auslegung auch die Verwendung nur roter oder nur brauner Dachpfannen bis an die Grenze des jeweiligen Farbtons zuläßt, verlangt das zuletzt genannte Verständnis der Vorschrift immer eine Mischung aus beiden Farben. Bis zu welchem Mischungsverhältnis dann die eine oder andere Farbkomponente in dem Ton der Dacheindeckung noch vorhanden sein muß, gibt die Gestaltungsfestsetzung nicht an. Wo der Übergang zwischen Rot und Braun ist, läßt sich allein aus der Gestaltungsfestsetzung nicht entnehmen. Die Grenzübergänge sind ohne Farbmuster [. . .] der visuellen Wahrnehmung allein nicht mehr zugänglich. Da sich der genaue Inhalt der Regelung somit nicht aus der Vorschrift selbst erschließen läßt und deshalb die exakte Bindung seines Grundeigentums für den Betroffenen nicht erkennbar wird, ist die Gestaltungsvorschrift wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot nichtig.“ 282
Im Falle von Sorites-Vagheit können gleich mehrere Arten von Arbitrarität ineinandergreifen, wie Endicott anhand einer strafprozessrechtlichen Bestimmung, dass Anklage „within a reasonable time“ zu erheben sei, hervorgehoben hat: „Imagine a series of many defendants, whose cases are identical except that each successive defendant is prosecuted a day later. Imagine that the first is clearly prose282 (Kursiv D. G.) Andere Gerichte sind allerdings in ähnlichen Fällen zu gegenteiligen Überzeugungen gelangt. So befand der Hessische Verwaltungsgerichtshof: „Mit der Farbfestsetzung naturrot bis rotbraun hat die Beigeladene ein Farbspektrum vorgeben wollen, das von naturrot bis rotbraun reicht, also eine Farbe, die noch einem dieser Farbtöne zuzurechnen ist. Dass es in Grenzbereichen schwierig sein kann, festzustellen, ob der gewählte Farbton dem vorgegebenen Farbspektrum entspricht, macht die Festsetzung nicht unwirksam. Insoweit gilt dasselbe wie bei jedem unbestimmten Rechtsbegriff. Den unbestimmten Rechtsbegriffen ist immanent, dass ihr konkreter Inhalt im Einzelfall – namentlich in Grenzbereichen – nur im Rahmen einer wertenden Betrachtung zu ermitteln ist und es unter Umständen sogar einer fachlich-sachverständigen Begutachtung bedarf.“ (28.04.2005, Az: 9 UE 372/04. Fundstelle: ESVGH 55, 256; BRS 69 Nr. 150 (2005).) Ähnlich auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit zum Teil gleichem Wortlaut. (22.04.2002, Az: 8 S 177/02. ESVGH 52, 252–253; BauR 2003, 81–87; BRS 65 Nr. 145 (2002).) Was eine „fachlich-sachverständige Begutachtung“ gegen die semantische Vagheit der betreffenden Farbprädikate ausrichten soll, wird von beiden Gerichten freilich nicht dargelegt. Ich bin Michael Kuhn zu Dank verpflichtet, der mich freundlicherweise auf diese Fälle aufmerksam gemacht hat.
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cuted within a reasonable time, and that there is clearly unreasonable delay in prosecuting the last in the series (and that the court will dismiss the charges). In each case, the court has just two options: to allow the prosecution to proceed, or to dismiss the charges. If, for every pair of adjacent defendants in the series, each of the two is in the same legal position, then there is no first defendant against whom the law requires that the charges be dismissed. If the first defendant may lawfully be prosecuted and the last defendant may not, then for some pair of adjacent defendants, the court must allow the prosecution to proceed against one, but dismiss the charges against the other. [. . .] The result is that the court will have to choose the last defendant to be tried. The court will not be able to decide all of the cases according to law: the decision in some cases will be an unconstrained act of will. In choosing which defendant is to be the last in the series to be prosecuted, the court will not be able to reach a better decision than it would reach by flipping a coin. Flipping a coin (even secretly) is not ordinarily a justifiable judicial technique, but in this situation, that is not because the court could have reached a preferable outcome by using any other technique. Moreover, the court will have to mete out opposing treatment to people whose cases are alike. Finally, the decision will be unpredictable, because some of the defendants have no way of knowing whether the court will find them guilty or not guilty. In the first three senses of ,arbitrary government‘, the decision in some of the cases will be an act of arbitrary government.“ 283
Bezüglich (ii) muss man Endicotts These etwas modifizieren: Die Forderung nach Gleichbehandlung des Gleichen besagt, dass gleiche Sachverhalte rechtlich gleich zu bewerten sind. Moore (1985) hat den Grundsatz der Gleichbehandlung folgendermaßen expliziert: „A long-noticed feature of the ideal of equality is that one must specify in what respects two cases must be similar before they are entitled to equal treatment. For no two numerically distinct cases are exactly equal in all respects (qualitative identity). In order to apply the ideal of equality we must supplement it with ideals spelling out what respects are relevant. It might thus seem that the goal of equality does not provide any real constraint on judges, but this would be a mistake. If a case in the past has been decided in a certain way, the ideal of equality constrains a judge in a way he was not constrained before. The judge must either decide the case in front of him the same way, or articulate a defensible theory of why the differences between the two cases justify different treatment. Given the requirements of consistency and coherence as the judge continues to identify or distinguish cases with one another, his decisional processes are constrained in a way they would not be if he were not bound to take seriously the demands that persons receive equal treatment by the law.“ 284
Bei der Umsetzung der Forderung nach Gleichbehandlung des Gleichen kann Sorites-Vagheit problematisch werden, wie aus den Beispielen von Jónsson und Endicott ersichtlich wird: Kann man rechtlich zu beurteilende Fälle in einer Sorites-Reihe anordnen, dann machen sich die mit Sorites verbundenen Schwierigkeiten des begründeten scharfen Schnittes geltend. An irgendeiner Stelle in der 283 284
Endicott (1999), S. 4 f. Moore (1985), S. 316.
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Sorites-Reihe, das heißt zwischen zwei Fällen, die in relevanter Hinsicht (Toleranzprinzip!) eben nicht ungleich sind, wird der Rechtsanwender einen scharfen Schnitt setzen und diese Fälle damit ungleich behandeln müssen, wenn nicht alle Fälle in der Reihe absurderweise als F-Fälle beziehungsweise Nicht-F-Fälle gewertet werden sollen. Das Problem liegt nun nicht darin, dass man derartige scharfe Grenzen nicht stipulieren könnte. Tatsächlich kommt dieses Verfahren als Ultima Ratio in der Justizpraxis bisweilen zum Einsatz – etwa als der BGH entschied, dass ein „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ im Sinne von § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB (Betrug in besonders schweren Fällen) genau dann vorliegt, wenn der Vermögensverlust mindestens 50.000 Euro beträgt.285 Das Problem besteht vielmehr darin, dass sich weder in der Sache noch in der Semantik der relevanten Prädikate etwas findet, dass diesen scharfen Schnitt und die damit verbundene Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte.286 Grenzfall-Vagheit hingegen wirft für die Forderung nach rechtlicher Gleichbehandlung des sachlich Gleichen keine zusätzlichen Schwierigkeiten auf, da für den Vollzug dieser Forderung nicht der Status von Fällen, positive, negative oder Grenzfälle für die Anwendung eines vagen Prädikates beziehungsweise der dieses Prädikat verwendenden Rechtsnorm zu sein, relevant ist, sondern die Eigenschaften der zur Beurteilung vorgelegten Sachverhalte betrachtet werden müssen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz fordert lediglich, dass, wenn Sachverhalte S1, . . ., Sn in relevanter Hinsicht gleich sind und Sachverhalt S1 als R bewertet wurde, dann auch S2, . . ., Sn als R bewertet werden sollen – egal, ob es sich bei S1, . . ., Sn um klare Fälle oder Grenzfälle handelt. (Für Grenzfälle bedeutet dies, dass, wie auch immer man rechtlich mit Grenzfall Si verfahren ist, auch mit den anderen Grenzfällen so verfahren werden soll.) Soweit die schlechte Nachricht über das Verhältnis von Vagheit und Willkür. Die gute Nachricht lautet Endicott zufolge: Vagheit braucht per se nicht zu Willkür im Sinne von (iv) zu führen, das heißt zu einer Abweichung von der Ratio Legis. Vielmehr kann der Rekurs auf die Ratio Legis sogar als eine argumentative Ressource fungieren, um Grenzziehungen beziehungsweise die Entscheidung von vagheitsbedingt schwierigen Fällen zumindest soweit zu begründen, wie dies für die Zwecke des Rechts notwendig ist.287 Genauer: Mithilfe der Ratio Legis 285
BGH NJW 2004, 169 (171). Übrigens zeigt dieses Beispiel, dass nicht nur Vagheit, sondern auch (vollständige) Präzision Willkür hervorrufen kann, wenn auch in einem anderen Sinne von „Willkür“, nämlich „Willkür“ verstanden als rationale Unterbestimmtheit (einer Grenzziehung). Dazu siehe unten die Erörterung zu (v). 287 Bekanntlich wird der Zweck einer Norm, zumindest in Theorien der Gesetzesauslegung, die in der Tradition von Friedrich Carl von Savignys Methodenüberlegungen in seinem System des heutigen römischen Rechts stehen, als ein Kanon der Auslegung angesehen. Man muss allerdings, was oft nicht getan wird, hervorheben, dass von Savigny im Normzweck ein Auslegungsmittel sah, dass, wenn überhaupt, nur äußerst vorsichtig eingesetzt werden darf, und zwar bevorzugt bei einer Art von „mangelhaften“ Gesetzen, 286
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lässt sich eine Grenze ziehen, wenn auch nicht die scharfe, Sorites-behebende Grenze. Dieser Gedanke spielt eine wichtige Rolle in Soames’ „theory of adjudication“ und soll bei der Behandlung von Soames’ Kontextualismus verdeutlicht werden. Eine (und vielleicht sogar die) für das Recht relevante Bedeutung von „willkürlich“, auf die Waldron288 aufmerksam gemacht hat, wurde von Endicott erstaunlicherweise übersehen, nämlich Willkür als (v) „irrationality“, als Unbegründetheit von Entscheidungen beziehungsweise Akten der Staatsgewalt. Weil die einschlägigen Rechtsnormen im Verein mit den relevanten Merkmalen des Sachverhaltes die Entscheidung nicht festlegen, kann diese Entscheidung auch nicht durch Rekurs auf Normen und Sachverhalt begründet werden. Insbesondere gerichtliche Rechtsanwendung operiert, wie oben dargelegt, im Horizont von Rechtsstaatlichkeit unter spezifischen Anforderungen, deren Erfüllung durch Vorschläge aus der Philosophie, wie man die hier identifizierte Problematik von Vagheit im Recht in den Griff bekommen könnte, nicht gefährdet werden darf. Wie sich in den folgenden Kapiteln, in denen einige prominente Vagheitstheorien unter dem Gesichtspunkt ihrer Anwendbarkeit im Recht diskutiert werden sollen, zeigen wird, ist diese Bemerkung nur scheinbar trivial. Einige Theorien semantischer Vagheit scheiden für die Verwendung im Recht nämlich allein schon deshalb aus, weil eine Justiz, die auf sie zurückgreifen würde, in Gegensatz zu einigen rechtsstaatlich fundamentalen Anforderungen an gerichtliche Rechtsanwendung geraten würde.
also solchen, die gedanklich unvollständig sind, Referenzambiguität, lexikalische oder syntaktische Ambiguität aufweisen. Vgl. dazu Carl Friedrich von Savigny (1840) [System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840], § 33–37, zur Ratio Legis insb. § 34. Viehweg und Perelman würden sagen, der Normzweck bilde einen Topos, also einen (heuristischen) Ort für die Findung von Argumenten für oder gegen das Akzeptieren einer bestimmten Gesetzesinterpretation. 288 Waldron (1992). Waldron interessiert sich primär für die Willkür bei richterlichen Entscheidungen. Andere Bedeutungen von „irrational“ sind bei ihm „Unvorhersagbarkeit“ und „demokratische Illegitimität“, vgl. (1992), S. 176 f.
Teil II
Vagheitstheorien und Vagheit im Recht Der Umstand, dass die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme rechtsstaatlicher Natur sind, bedingt ihre Brisanz. Umgekehrt wird, wie am Anfang des vorangegangenen Kapitels gesagt wurde, Vagheit im Recht nur in einem Rechtssystem zum Problem, in dem es auf die Vermeidung von Willkür prinzipiell ankommt.1 Das bedeutet: Vorschläge zur Behebung oder zumindest Entschärfung der Problematik müssen einerseits die vagheitsbedingte Gefahr von Arbitrarität angehen, dürfen aber andererseits nicht selbst unter Gesichtspunkten der Rule of Law Bedenken erregen. Soll eine Vagheitstheorie im Recht anwendbar sein, so muss sie (mindestens) diese beiden Bedingungen erfüllen. In diesem Teil vorliegender Studie sollen vier prominente Theorien semantischer Vagheit daraufhin untersucht werden, ob sie die mit Vagheit im Recht verbundenen Entscheidungs-, Abgrenzungs- und Begründungsprobleme lösen oder zumindest entschärfen helfen. Es sind dies die Epistemische Vagheitstheorie, die Fuzzy-Logik, der Supervaluationismus und der Kontextualismus.2 Dass die Wahl auf diese vier Theorien gefallen ist, hat verschiedene Gründe: Williamsons Epistemizismus3 stellt eine der am gründlichsten ausgearbeiteten Vagheitstheorien dar, die bislang vorgelegt wurden. Obwohl sie sich seit dem Zeitpunkt ihrer Ver1 Im Unterschied zu einer bloß opportunistisch motivierten Vermeidung von Willkür durch ein ansonsten rechtlich unbeschränktes Regime. 2 Eine Anmerkung zum Ausdruck „Theorie“: Nicht jede dieser Vagheitstheorien ist eine Theorie semantischer Vagheit in dem Sinne, dass sie beanspruchen würde anzugeben, worin semantische Vagheit gründet. Die Fuzzy-Logik etwa begnügt sich damit, ein Verfahren für die Modellierung von Vagheit im Hinblick auf praktische Anwendungen vorzuschlagen, ohne sich mit Natur und Herkunft des Phänomens aufzuhalten. Es hat sogar den Anschein, dass die Fuzzy-Logik mit ganz verschiedenen Theorien der Vagheit vereinbar ist: So könnten zum Beispiel Epistemizisten an ihrer Theorie festhalten und zugleich für manche Zwecke auf den Einsatz von Fuzzy-Logik mit folgender Begründung zurückgreifen: Zwar sind die Grenzen „vager“ Prädikate in Wirklichkeit scharf, wenn ihr Verlauf auch für uns unerkennbar ist. Manchmal können wir nun aber den Umgang mit Grenzfällen und fließenden Übergängen nicht vermeiden und müssen etwas über deren F-sein aussagen. Bisweilen kommt es aber auf diese scharfen Prädikatgrenzen auch gar nicht an, etwa bei der technischen Steuerung von Klimaanlagen und Zementfabriken, sondern auf die Modellierung gleitender Übergänge. In allen diesen praktischen Zusammenhängen ignorieren wir einfach die scharfe Umgrenzung vermeintlich vager Prädikate und fassen sie als beliebig gradierbar auf. 3 „Epistemizismus“ und „epistemische Vagheitstheorie“ verwende ich in dieser Arbeit synonym und beziehe mich damit, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, nur auf Williamsons Theorie.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
öffentlichung einer geschlossenen Front philosophischer Ablehnung gegenübersieht, wurde das Argument, das der epistemischen Theorie ihre (sehr wenigen) Anhänger abspenstig gemacht hätte, noch nicht gefunden. Sollte sich nun zeigen, dass der Epistemizismus etwas Interessantes zur Lösung oder Entschärfung der Vagheitsproblematik im Recht beitragen kann, dann sollten seine Gegner dies zum Anlass nehmen, ihre Ablehnung noch einmal zu überdenken.4 Die Fuzzy-Logik wiederum wurde insbesondere in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft rezipiert, weil man sich von ihr Hilfe bei der Operationalisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen erhoffte. Zugleich steht sie hier stellvertretend für die große Theoriefamilie der mehrwertigen Logiken. Supervaluationismus und Kontextualismus wurden ausgewählt, weil sie derzeit die wohl aussichtsreichsten Kandidaten für eine akzeptable Theorie semantischer Vagheit darstellen. Hinzu kommt im Falle des Kontextualismus, dass Soames versucht hat, die mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme durch eine kontextualistische Theorie der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung in den Griff zu bekommen. Damit ist Soames jedoch, zumindest in der philosophischen Vagheitsdiskussion, bislang weitgehend allein geblieben.5 Eine systematisch angelegte vergleichende Untersuchung dieser Vagheitstheorien hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit im Recht steht noch aus, weshalb sich die folgenden Überlegungen zu Epistemizismus und Supervaluationismus nicht auf größere Vorarbeiten stützen können. Ist es aber überhaupt legitim, Vagheitstheorien im Recht zur Anwendung bringen zu wollen? Man könnte ja argumentieren, dass die philosophischen Theorien semantischer Vagheit entwickelt wurden, um die Probleme zu lösen, die mit semantischer Vagheit für die Logik einhergehen, also das Spektrum der Probleme anzugehen, das von den Schwierigkeiten mit dem (semantischen) Bivalenzprinzip oder dem logischen Satz des Ausgeschlossenen Dritten in Grenzfällen bis hin zu dem, salopp gesagt, logischen Super-GAU reicht, dass sich im Falle des Sorites-Paradoxons aus prima facie wahren Prämissen mithilfe gültiger Argumentformen eine falsche Konklusion ableiten lässt. Überdies, so ließe sich das Argument fortsetzen, operiert das Recht ja, wie schon mehrfach deutlich geworden ist, unter sehr spezifischen Bedingungen, so dass eine eventuell unbefriedigende Performance einer Vagheitstheorie keineswegs ihrer inadäquaten theoretischen Durch4 Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Epistemizismus ist eine Theorie desjenigen Phänomens, das allgemein als „semantische Vagheit“ apostrophiert wird, und insofern also eine Theorie semantischer Vagheit. Allerdings gibt er keine semantische Erklärung des Phänomens, sondern eben eine epistemische. Er ist, wenn man so will, keine semantische Theorie semantischer Vagheit, sondern eine epistemische Theorie „semantischer“ Vagheit. 5 Ein weiterer Versuch, kontextualistische Theorien, genauer: die von Stewart Shapiro vertretene Variante, auf das Recht zu beziehen, stammt von Anderson (2010).
Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
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dringung des Phänomens geschuldet sein muss, sondern sich einfach dem Umstand verdanken kann, dass das Recht eben ein sehr exotisches Sprachspiel (beziehungsweise ein Komplex ineinandergreifender exotischer Sprachspiele) ist. Die erste Hälfte dieses Argumentes ist etwas schwachbrüstig. Der Versuch, durch Sorites- und Grenzfall-Vagheit bedingte Probleme im Recht mithilfe von Theorien in den Griff zu bekommen, die beanspruchen, Natur und Herkunft des Phänomens aufzuzeigen oder es zumindest pragmatisch einhegen zu können, ist ja keine absonderliche oder fern liegende Idee. Tatsächlich finden derartige Rezeptionen bereits seit einiger Zeit statt, und zwar ausgehend sowohl von Juristen (wie im Falle der Fuzzy-Logik) als auch von Philosophen (wie im Falle des Kontextualismus). Wenn Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung dadurch auftreten, dass man es mit einem der sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffe zu tun hat, der sich bei näherer Betrachtung als semantisch vages Prädikat herausstellt, was liegt dann näher, als dort nach Hilfe Ausschau zu halten, wo diese Prädikate systematisch untersucht worden sind? Der Zug wiederum darauf hinzuweisen, dass die eine oder andere Vagheitstheorie nie für derartige praktische Belange gedacht gewesen sei, ist nicht ganz einwandfrei: Man denke an zwei astronomische Theorien der Planetenbewegung. Die eine erlaubt die genaue Berechnung der Planetenbahnen mithilfe eines kohärenten und sparsamen mathematischen Apparates, und außerdem die Erklärung von Anomalien wie der Epizyklen. Unter Zugrundelegung der anderen ist die Berechnung des Gestirnstandes wesentlich aufwendiger und im Ergebnis auch noch ungenau. Entsprechendes gilt für die Erklärung der Epizyklen. Ein solcher Befund würde, von außergewöhnlichen weiteren Randbedingungen einmal abgesehen, der einen als Bonus und der anderen als Malus angerechnet werden. Als Vertreter der Letzteren dagegen einzuwenden, dies sei unangemessen, da die Theorie für die Beschreibung der himmlischen Harmonie gedacht gewesen sei und nicht für praktische Zwecke, wäre nicht sonderlich überzeugend: Vielleicht war die Theorie nicht für derart mundane Zwecke entwickelt worden. Es geht bei einem Vergleich von Theorien unter dem Gesichtspunkt, welche wir auswählen sollten, müssten wir uns entscheiden, aber nicht darum, woran ihre Erfinder gedacht haben, nicht darum, was irgendjemand mit ihnen gewollt oder welchen Anwendungsbereich er ihr zugewiesen hat; es geht darum zu vergleichen, was die Theorien leisten, wenn man sie mit Problemen konfrontiert, die in ihre Bezirke fallen, oder von denen man vernünftigerweise annehmen darf, dass sie in ihre Bezirke fallen. (Andernfalls wäre es auch zu einfach, einen Falsifikationsversuch als illegitim abzuwehren.) Gleichwohl berührt die zweite Hälfte des Argumentes eine wichtige Frage: Angenommen, eine Vagheitstheorie würde im Recht schlecht abschneiden – welche Schlüsse können oder sollen wir daraus ziehen? Mir scheint, die Antwort ist folgende: Sicherlich können wir daraus nicht folgern, die Theorie sei dadurch
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
widerlegt worden, denn – wie der Einwand zu Recht geltend macht – ihr schlechtes Abschneiden könnte daher rühren, dass sie mit den für das Recht spezifischen Parametern zu kämpfen hat, welche bei der Anwendung im Recht berücksichtigt werden müssen. Dass, um ein Beispiel zu nennen, die epistemische Theorie sich vielleicht im Recht als wenig hilfreich herausstellt, liegt daran, dass im Recht auch da noch begründet entschieden werden muss, wo unsere Überzeugungen nicht als Wissen durchgehen. Gleichwohl könnte der theoretische Kern der epistemischen Theorie, nämlich die Charakterisierung von Vagheit als eine Art von Unwissenheit, zutreffend sein. Dass eine Vagheitstheorie im Recht nicht hilfreich ist, heißt einfach nur dies: dass sie im Recht praktisch steril ist – und ihre Konkurrentin eben fruchtbar. Am Ende des Tages, wenn alle Argumente in die Waagschale gelegt wurden, mag dies aber dann den Ausschlag geben. Die folgenden Kapitel haben eine dreigliedrige Binnenstruktur: Zunächst (I.) wird die jeweilige Vagheitstheorie kurz vorgestellt und (II.) einer kurzen Kritik unterzogen, die sich damit begnügt, einschlägige Anmerkungen und Rückfragen aus der philosophischen Fachdiskussion zu referieren. Dann (III.) soll die betreffende Vagheitstheorie auf die Rechtsprechung angewendet werden. Das bedeutet: Wir nehmen den Standpunkt eines Richters ein, der ein Anhänger der jeweiligen Vagheitstheorie ist und versucht, sie für die Lösung vagheitsbedingter Probleme fruchtbar zu machen. Mit „vagheitsbedingten Problemen“ seien aus der großen Zahl der identifizierten Schwierigkeiten folgende vier herausgegriffen, die als Fragen an die jeweils betrachtete Theorie gestellt werden sollen: Sorites – Was läuft schief mit Sorites und Sorites-förmigen Argumenten? Entscheidungsproblem – Was sollen wir tun, wenn uns Grenzfälle vor das Entscheidungsproblem stellen? Abgrenzungsproblem – Was sollen wir tun, wenn uns Sorites-Kontinuen vor das Abgrenzungsproblem stellen? Begründungsproblem – Wie können oder sollen wir unsere Entscheidungen begründen? Für die Evaluierung der Antworten, die uns die jeweilige Theorie gibt, sollen insbesondere die drei zentralen Anforderungen an rechtsstaatliche Rechtsanwendung herangezogen werden: Keine Antwort darf im Hinblick auf Rechtsverweigerungsverbot, Gesetzesbindung oder die Pflicht zur Urteilsbegründung Bedenken erregen.
D. Epistemische Vagheitstheorie I. Das Konzept Die epistemische Vagheitstheorie hebt sich von den anderen hier behandelten Vagheitstheorien dadurch ab, dass sie keine semantische Theorie semantischer Vagheit ist. Grenzfälle und fließende Übergänge als charakteristische VagheitsPhänomene sind aus ihrer Sicht nicht durch die Semantik Grenzfall-vager oder Sorites-vager Prädikate bedingt, sondern haben, wie gleich deutlich werden wird,
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epistemische Gründe. Jedenfalls erhebt die epistemische Vagheitstheorie den Anspruch, die Probleme, die mit dem Zulassen von Grenzfällen und der Soritizität von Prädikaten verbunden sind, im Rahmen der klassischen Logik lösen zu können.6 Im Kern besagt sie Folgendes:7 Erstens verteilen vage Prädikate die Elemente ihres Definitionsbereiches vollständig und trennscharf auf Extension und Antiextension. Jedes a ist entweder F oder es ist es nicht. Deshalb ist jede Aussage „a ist F“ entweder wahr oder falsch, also auch dann, wenn es sich nach Meinung von kompetenten Sprechern bei a um einen Grenzfall für das Prädikat „F“ handelt.8 Das bedeutet, dass es streng genommen keine echten Grenzfälle gibt, wenn damit Fälle gemeint sind, in denen das betreffende Prädikat weder zutrifft noch nicht zutrifft. Zweitens sind Sorites-vage Prädikate nicht tolerant: Es gibt eine letzte Körneranzahl n, so dass „Haufen“ auf sie noch nicht zutrifft, auf eine Ansammlung aus n+1 Körnern jedoch schon. Demgemäß ist die induktive Prämisse des Sorites – dass für alle an gilt: Wenn F(an), dann auch F(an+1) – falsch. Alternativ ist eine der Prämissen aus der Menge derjenigen konditionalen Prämissen falsch, durch die man die induktive Prämisse des Paradoxons ersetzen kann. Sorites ist also zwar logisch gültig, aber nicht schlüssig. Drittens sind Toleranz und das Zulassen von Grenzfällen keine Eigenschaften der Semantik vager Prädikate, sondern Artefakte unserer begrenzten Erkenntnisfähigkeit: Vagheit ist kein semantisches, sondern ein epistemisches Phänomen. Grenzfälle sind solche Fälle, in denen wir nicht wissen können, ob das Prädikat zutrifft, weil wir nicht wissen können, wo die Prädikatgrenzen verlaufen, auch wenn das Prädikat zutrifft oder nicht zutrifft und die entsprechende Aussage wahr oder falsch ist. In jeder Sorites-Reihe gibt es einen scharfen Schnittpunkt zwischen denjenigen Fällen, die in die Extension des betreffenden Prädikates gehören, und denjenigen Fällen, die in seine Antiextension gehören. Wir können die Lage dieses Schnittpunktes jedoch nicht erkennen.
6 Ihre heute wohl prominentesten Vertreter sind Roy Sorensen, dessen Theorie hier aber nicht weiter behandelt werden wird, und Timothy Williamson. Der erste Entwurf einer epistemischen Theorie lag mit Sorensen (1988) vor. Seine reife Theorie findet sich in Sorensen (2001). Williamson hat seine Variante des Epistemizismus in Williamson (1994) entwickelt, in den folgenden Jahren verfeinert und gegen Kritik verteidigt. Eine detaillierte Darstellung und Kritik seiner Theorie findet sich bei Keefe (2000). Eine Übersicht und Diskussion in deutscher Sprache m.w. N. gibt Schöne (2011). Kurze einführende Rekonstruktionen von Williamsons Theorie bieten Schiffer (1999) sowie Mahtani (2004). 7 Für die folgende Darstellung und Kritik des Epistemizismus bin ich meinem Kollegen David Lanius zu Dank verpflichtet. Mein Verständnis der epistemizistischen Theoriefamilie hat von unseren Diskussionen enorm profitiert. 8 Bei Williamson sind nicht Propositionen Wahrheitswertträger, sondern Aussagen (s. u.).
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
Die entscheidende Frage wäre, warum wir nicht wissen können, wo die Prädikatgrenzen verlaufen. Vertreter der epistemischen Theorie geben darauf verschiedene Antworten. Ich werde hier, wie gesagt, nur die von Williamson vertretene Variante erörtern. Diese ruht auf zwei Säulen: (a) Das Bivalenzprinzip gilt auch für Aussagen über Grenzfälle; „a ist F“ ist entweder wahr oder falsch. (b) Allerdings sind unsere Überzeugungen, dass a F ist, falls wahr, zu unzuverlässig, als dass man sie als Wissen ansehen könnte. Ad (a) Das Bivalenzprinzip gilt auch für Aussagen in Grenzfällen. Genauer gesagt kann seine Geltung für keine Aussage bestritten werden, ohne in einen Widerspruch zu geraten. Bei Williamson sind nicht Propositionen Träger von Wahrheitswerten, sondern „utterances“, Äußerungen. Seine Begründung dafür ist folgende: „Bivalence is often formulated with respect to the object of the saying, a proposition (statement, . . .). The principle then reads: every proposition is either true or false. However, on this reading it does not bear very directly on problems of vagueness. A philosopher might endorse bivalence for propositions, while treating vagueness as the failure of an utterance to express a unique proposition. On this view, a vague utterance in a borderline case expresses some true propositions and some false ones (a form of supervaluationism might result). There is no commitment to a bivalent classification of utterances, or to the ignorance on our part that such a classification implies. The problem of vagueness is a problem about the classification of utterances. To debate a form of bivalence in which the truth-bearers are propositions is to miss the point of the controversy.“ 9
Dass das Bivalenzprinzip für Äußerungen gilt, bedeutet bei Williamson, dass jede Äußerung, die etwas besagt, entweder wahr oder falsch ist: (B) Wenn u besagt, dass P, dann ist u entweder wahr oder falsch.10
Dabei ist „u“ durch den Namen einer Äußerung zu ersetzten und „P“ durch einen Aussagesatz. Wahrheit und Falschheit einer Äußerung sind dabei, im Anschluss an Aristoteles und Tarski, ganz „klassisch“, nämlich vermittels Disquotation, charakterisiert: (W) Wenn u besagt, dass P, dann ist u wahr genau dann, wenn P.11 (F) Wenn u besagt, dass P, dann ist u falsch genau dann, wenn nicht P.12
Williamsons Begründung dafür, Wahrheit und Falschheit mithilfe (einer Variante) des Tarski-Schemas zu charakterisieren, ist einfach: „Given that an utterance says that TW is thin, what it takes for it to be true is just for TW to be thin, and what it takes for it to be false is for TW not to be thin. No more 9
Williamson (1994), S. 187. „If u says that P, then either u is true or u is false.“ Ebd. 11 „If u says that P, then u is true if and only if P.“ Williamson (1994), S. 188. 12 „If u says that P, then u is false if and only if not P.“ Ebd. 10
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and no less is required. To put the condition for truth or falsity any higher or lower would be to misconceive the nature of truth or falsity.“ 13
Williamsons Argument dafür, dass das Bivalenzprinzip für keine Äußerung, und damit auch nicht für Äußerungen über Grenzfälle, bestritten werden kann, lautet nun wie folgt: Angenommen, eine Äußerung stelle ein Gegenbeispiel zu (B) dar, dann wäre (B) für diese Äußerung falsch. Da (B) die logische Form eines Konditionals hat und ein solches genau dann falsch ist, wenn das Antezedens wahr, das Konsequens jedoch falsch ist, müsste „u besagt, dass P“ wahr sein, „u ist entweder wahr oder falsch“ jedoch falsch. Wer also die These vertritt, eine Äußerung stelle ein Gegenbeispiel für (B) dar, legt sich auf die Behauptungen fest: (0) u besagt, dass P. (1) Nicht: u ist wahr oder u ist falsch.
Aus (1) erhält man nun mit (W) und (F): (2a) u ist wahr genau dann, wenn P. (2b) u ist falsch genau dann, wenn nicht P.
Man kann nun die Disjunktionsglieder in (1) durch die rechte Seite der Bikonditionale in (2a) und (2b) ersetzen und erhält damit: (3) Nicht: P oder nicht P.
Mit De Morgans Gesetz, dass die Negation einer Disjunktion äquivalent zur Konjunktion aus den Negationen der Disjunktionsglieder ist, erhält man: (4) Nicht P und nicht nicht P.
Gleichgültig, ob man die doppelte Negation auflöst oder nicht, der Widerspruch ist offensichtlich. Aus der Bestreitung des Bivalenzprinzips lässt sich zusammen mit einem weitgehend unkontroversen Verständnis von Wahrheit und Falschheit sowie etwas trivialer Logik ein logisch falscher Satz ableiten. Will man dieser Reductio ad absurdum entgehen ohne an der verwendeten Logik zu manipulieren, so muss man (1) aufgeben. Man kann die Geltung des Bivalenzprinzips also auch für Aussagen über Grenzfälle nicht bestreiten. Folglich kann man Grenzfälle semantisch nicht über Wahrheitswertlücken charakterisieren, auch wenn unsere Intuitionen dies nahelegen. Da die Bestreitung von Bivalenz nach Williamson in einen Widerspruch führt, kann die Lösung des Sorites-Paradoxons nicht darin bestehen, eine seiner Prämissen für weder wahr noch falsch zu erklären. Da das Paradoxon offenbar logisch gültig ist, besteht die einzige Möglichkeit, die Ableitung der falschen Konklusion zu verhindern, darin, Sorites als nicht schlüssig zu entlarven, also zu zeigen, dass
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Williamson (1994), S. 190.
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das Argument eine falsche Prämisse verwendet. Die induktive Form des Paradoxons lautet folgendermaßen: (a) f(a1) (b) 8n: f(an) ! f(an+1) (g) 8n: f(an) ..
Da sich die erste Prämisse nicht gut bestreiten lässt, muss der Fehler in der zweiten Prämisse (b) liegen. Die Negation von (b) ist jedoch äquivalent zu der These, es gäbe irgendwo in der Sorites-Reihe einen scharfen Schnittpunkt zwischen denjenigen a, die in die Extension von f gehören, und denjenigen a, die in die Antiextension von f gehören: (S) 9n: f(an) ^: f(an+1)
Das Problem mit (S) ist offensichtlich: Nicht nur finden wir in der SoritesReihe keinen Schnittpunkt; wir würden überdies sagen, dass es einen solchen auch gar nicht gibt. Darauf werden wir später noch zurückkommen. Ad (b) Ungenaues Wissen: Dass wir annehmen müssen, es gebe auch in Grenzfällen etwas zu wissen, liegt an der Nichtbestreitbarkeit des Bivalenzprinzips. Auch in einem Grenzfall müssen wir annehmen, dass „F“ auf a entweder zutrifft oder nicht zutrifft und „a ist F“ entweder wahr oder falsch ist. Bei vagen Prädikaten haben wir jedoch kein genaues Wissen über den Verlauf der Prädikatgrenzen, weil wir den Sprachgebrauch der Sprechergemeinschaft nicht vollständig überblicken, auf dem die Bedeutung der Prädikate, das heißt die Verteilung von Fällen auf Extension und Antiextension (also der Verlauf der Prädikatgrenzen), superveniert. Unser Wissen über die Prädikatgrenzen vager Prädikate ist, in Williamsons Terminologie, Wissen des Typs „inexact knowledge“, ungenaues Wissen, für das besondere Prinzipien, so genannte Fehlerspielraum-Prinzipien, gelten, die in bestimmten Fällen verhindern, dass unsere wahren Überzeugungen als Wissen zählen, nämlich immer dann, wenn unsere Überzeugungen unzuverlässig sind. Williamsons Überlegung ist folgende:14 Damit eine wahre Überzeugung als Wissen zählt muss sie zuverlässig („reliable“) sein. Salopp gesagt darf es nicht der Fall sein, dass wir mit unserer Überzeugung auch leicht hätten falsch liegen können. Manche unserer Überzeugungen sind nun unzuverlässig: Bisweilen sind wir der Überzeugung, dass p, und es ist tatsächlich auch der Fall, dass p. Allerdings wären wir in einer sehr ähnlichen aber leicht verschiedenen Situationen, in der p nicht der Fall ist, zu der selben, nun allerdings falschen, Überzeugung, dass p, gelangt: Angenommen, wir befinden uns in einem nicht ganz voll, aber doch gut besetzten Fußballstadion und blicken in die Ränge. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen sich in dem Stadion aufhalten. Wir wissen, dass es nicht 14
Die folgende Darstellung übernehme ich von Mahtani (2008).
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mehr als 30.000 sind (etwa weil wir wissen, dass dies die maximale Sitzplatzzahl ist und mehr Besucher nicht eingelassen werden); wir wissen auch, dass es mehr als 10.000 Menschen sind, denn das Stadion ist deutlich mehr als zu einem Drittel besetzt; wir wissen jedoch nicht, wie viele Menschen es genau sind. Wenn wir hinsichtlich der Besucherzahl zu einer Überzeugung gelangen, die wahr und überdies auch verlässlich ist, dann handelt es sich dabei zwar um Wissen, allerdings um ungenaues Wissen. Wir kommen also nun durch eine Kombination aus Zählen und über den Daumen Peilen zu der Überzeugung, dass es mindestens 20.000 Menschen sind. Zufälligerweise befinden sich genau 20.000 Besucher im Stadion und unsere Überzeugung, dass es mindestens 20.000 Menschen sind, ist wahr. Nach Williamson zählt diese wahre Überzeugung jedoch nicht als Wissen, denn es hätte leicht sein können, dass sich zufälligerweise eine Person weniger im Stadion aufhält, ohne dass uns dies aufgefallen wäre. Unsere Überzeugung hätte sehr leicht auch falsch sein können und ist deshalb zu unzuverlässig, als dass sie Wissen darstellen könnte. Damit unsere Überzeugung als Wissen zählt, müssen sich deutlich mehr als 20.000 Menschen im Stadion aufhalten. Entsprechendes gilt für den Fall, dass wir zu der Überzeugung kommen, es hielten sich höchstens 20.000 Menschen im Stadion auf: Diese Überzeugung, falls wahr, zählt nach Williamson nur dann als Wissen, wenn sie nicht leicht hätte falsch sein können. Sie zählt also nur dann als Wissen, wenn sich deutlich weniger als 20.000 Menschen im Stadion aufhalten. In beiden Fällen müssen unsere Überzeugungen nach Williamson eine Art Sicherheitsabstand, „margin for error“ (Fehlerspielraum) einhalten, um als Wissen zu gelten. Man kann diese zwei Beispiele folgendermaßen kondensieren (F1) Wir wissen nur dann, dass mindestens n Menschen im Stadion sind, wenn deutlich mehr als n Menschen im Stadion sind. (F2) Wir wissen nur dann, dass höchstens n Menschen im Stadion sind, wenn deutlich weniger als n Menschen im Stadion sind.
Wenn der Sicherheitsabstand eingehalten wird, dann, so Williamson, zählen unsere wahren Überzeugungen, dass sich mindestens beziehungsweise höchstens 20.000 Menschen im Stadion aufhalten, als Wissen. Und: Wird der Sicherheitsabstand eingehalten, dann ist es auch in ähnlichen Situationen, in denen sich geringfügig mehr oder weniger Besucher im Stadion aufhalten, der Fall, dass sich mindestens beziehungsweise höchstens 20.000 Menschen im Stadion aufhalten. Der Sicherheitsabstand („deutlich mehr als n Besucher“) sorgt ja gerade dafür, dass minimale Veränderungen an der Wahrheit unserer Überzeugungen nichts ändern, dass sie also nicht leicht auch hätten falsch sein können. Unter der Voraussetzung, dass unsere Überzeugungen den Sicherheitsabstand einhalten, lassen sich (F1) und (F2) deshalb folgendermaßen umformen: (F1*) Wenn wir in einer Situation wissen, dass mindestens n Menschen im Stadion sind, dann sind auch in allen ähnlichen Situationen (in denen geringfügig mehr oder weniger Menschen im Stadion sind) mindestens n Menschen im Stadion.
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(F2*) Wenn wir in einer Situation wissen, dass höchstens n Menschen im Stadion sind, dann sind auch in allen ähnlichen Situationen (in denen geringfügig mehr oder weniger Menschen im Stadion sind) höchstens n Menschen im Stadion.
(F1*) und (F2*) sind Beispiele für Fehlerspielraum-Prinzipien, die nach Williamson in allen Fällen von ungenauem Wissen zum Tragen kommen. Ihre allgemeine Form lautet: (F*) Wenn in einer Situation „Man weiß, dass p“ wahr ist, dann ist in allen ähnlichen Situationen „p“ wahr.15
Vage Prädikate sind nach Williamson solche Prädikate, bei denen wir nicht genau wissen, wo die Grenze zwischen Fällen der Extension und Fällen der Antiextension verläuft. Nun haben wir durchaus Wissen über den Grenzverlauf, denn es gibt Fälle, bei denen klar ist, dass das vage Prädikat auf sie zutrifft beziehungsweise nicht zutrifft; allerdings ist unser Wissen ungenau, denn es gibt auch Fälle, nämlich die Grenzfälle, bei denen wir nicht wissen, ob das Prädikat auf sie zutrifft. Da nach Williamson für alle Fälle von ungenauem Wissen Fehlerspielraum-Prinzipien gelten, ist dies auch bei Grenzfällen vager Prädikate der Fall. Ungenau ist hier nicht unser Wissen von den Gegenständen der Prädikate, sondern unser Wissen von den semantischen Eigenschaften der Prädikate. Das liegt daran, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auf dem Gebrauch superveniert, den die Sprechergemeinschaft von ihnen macht. Zumindest bei vagen Prädikaten überblickt aber, so Williamson, niemand deren Gebrauch zu einem Zeitpunkt. Der Gebrauch vager Prädikate ist aber nicht bloß unübersichtlich. Hinzu kommt, dass die Supervenienz-Beziehung zwischen Gebrauch und Bedeutung hypersensibel ist: Geringfügige und deshalb von uns unbemerkt gebliebene Veränderungen im Gebrauch bedingen geringfügige und deshalb von uns unbemerkt gebliebene Veränderungen in der Bedeutung. Man stelle sich eine Sorites-Reihe vor: a sei ein Grenzfall, der gerade noch auf der Extensionsseite der Grenze von „F“ liegt. Sein unmittelbarer Nachbar a’ gehört bereits zur Antiextension von „F“; a liegt so nahe an der Grenze, dass der Sicherheitsabstand für eventuelle Überzeugungen hinsichtlich seines F-Seins unterschritten ist: Würde sich der Sprachgebrauch von „F“ minimal ändern, so würde a von der Extension in die Antiextension von „F“ wechseln, ohne dass uns dies auffiele. Angenommen nun, wir wären der Überzeugung, dass „a ist F“ wahr ist, und „a ist F“ ist tatsächlich wahr. Damit unsere Überzeugung als Wissen zählt, muss sie zuverlässig sein, das heißt wir dürfen mit ihr nicht auch leicht falsch gelegen haben. Genau das aber hätte offenbar ohne Weiteres geschehen können: Der Sprachgebrauch und damit die Bedeutung von „F“ hätte sich nur
15 Vgl. Williamson (1994), S. 227: „,A‘ is true in all cases similar to cases in which ,It is known that A‘ is true.“
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minimal ändern müssen, und unsere Überzeugung wäre falsch gewesen. Unsere wahre Überzeugung „a ist F“ stellt somit kein Wissen dar. Allgemein gilt für vage Prädikate „F“ folgendes Fehlerspielraum-Prinzip: (FF) Wenn in einer Situation bezüglich Grenzfällen a, a’ „Man weiß, dass a F ist“ wahr ist, dann ist auch in ähnlichen Situationen „a ist F“ wahr.
(FF) hat die logische Form eines Konditionals. Wäre unsere wahre Überzeugung, dass der Grenzfall a ein Fall von F ist, Wissen, dann wäre das Antezedens von (FF) wahr. Damit (FF) bei wahrem Antezedens wahr ist, muss aber auch das Konsequens wahr sein, dass also „a ist F“ in allen ähnlichen Situationen wahr ist. Genau das ist aber nicht der Fall, denn a wäre im Zuge einer von uns unbemerkt gebliebenen Bedeutungsveränderung von „F“ auf die andere Seite der Grenze gewechselt und „a ist F“ wäre dann falsch gewesen. Folglich kann unsere – vielleicht sogar wahre – Überzeugung, dass a ein Fall von F ist, aus Gründen der Logik von Fehlerspielraum-Prinzipien kein Wissen darstellen. II. Probleme Williamsons Lösung für das Sorites-Paradoxon bestand darin, die induktive Prämisse zurückzuweisen und ihre Negation (S) zu akzeptieren. (S) besagt, dass es in jeder Sorites-Reihe ein Paar benachbarter ai, ai+1 gibt, so dass das betreffende vage Prädikat auf das eine Glied zutrifft, auf das andere jedoch nicht: Ein einziges Haar weniger macht jemanden zum Glatzkopf, ein einziges Korn mehr verwandelt eine Körneransammlung in einen Haufen. Dieses Ergebnis erscheint so unannehmbar, dass der Epistemizismus trotz der argumentativen Anstrengungen von Williamson und Sorensen nach wie vor auf eine breite Front philosophischer Ablehnung stößt. Jede epistemische Theorie von Vagheit steht vor zwei Herausforderungen: Sie muss erklären, wie Prädikate zu den scharfen Grenzen kommen, die sie aus Sicht kompetenter Sprecher nicht haben; und sie muss erklären, warum kompetente Sprecher hartnäckig der irrigen Meinung sind, vage Prädikate zögen keine scharfen Grenzen. Williamson hat viel philosophische Energie und ein beträchtliches Maß an Scharfsinn investiert, um sich der ersten Aufgabe zu entledigen. Die zweite scheint ihm darüber etwas aus dem Blick geraten zu sein, obwohl sie einen empfindlichen Schwachpunkt seiner Theorie berührt. Warum sind kompetente Sprecher hartnäckig der Meinung, dass vage Prädikate keine scharfen Grenzen ziehen und dass es in Grenzfällen „nichts zu wissen gibt“? Williamsons Antwort ist erstaunlich knapp: „Without appeal to the epistemic account of vagueness, one can argue that if vague terms have sharp boundaries, then we shall not be able to find those boundaries. Once one has seen this point, one can hardly regard our inability to find them as evidence that they do not exist. But if one has not seen the point, one might naturally suppose that if they exist then we should be able to find them, and so regard our
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inability as evidence of their non-existence. Thus margin for error principles explain both the ignorance postulated by the epistemic view and the apparent intuitions that run counter to that view. They do not commit one to the view, but they undermine some popular reasons for resisting it.“ 16
Williamson zufolge verläuft unser Räsonnement ungefähr folgendermaßen: Wenn es einen scharfen Schnittpunkt auf einer Sorites-Reihe, eine scharfe Grenze zwischen Extension und Antiextension eines vagen Prädikates gäbe, dann sollten wir auch in der Lage sein, ihn zu finden. Einen solchen Punkt beziehungsweise eine solche Grenze finden wir aber nicht. Also gibt es sie nicht. Dieser Erklärungsversuch Williamsons ist jedoch, wie Keefe schreibt, „an implausible and uncharitable explanation of our strongly held beliefs“,17 denn so, wie von Williamson behauptet, verfahren wir in der Regel nicht, und zwar weder in Fällen, in denen es uns unmöglich ist, herauszufinden, ob ein Sachverhalt besteht, noch in Fällen, in denen es uns nur bislang noch nicht gelungen ist, herauszufinden, ob er besteht:18 Die Zahl der Grashalme im Hofgarten der Münchner Residenz war am Mittag des 01. Juli 1912 entweder gerade oder ungerade. Ohne Zeitmaschine werden wir aber heute kaum noch in der Lage sein, zu ermitteln, welche von beiden Möglichkeiten damals verwirklicht war. Trotzdem sind wir der Meinung, dass entweder das eine oder das andere der Fall gewesen ist. Die Goldbach’sche Vermutung, dass jede gerade ganze Zahl > 2 als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden kann, wurde bis heute weder bewiesen noch widerlegt (und bislang gibt es auch keine Gründe zu der Annahme, dass sie prinzipiell nicht bewiesen werden kann). Trotzdem sind wir der Meinung, dass es sich entweder so verhält oder eben nicht.19 Uns das Williamsonsche Räsonnement zuzuschreiben ist aber nicht nur deshalb inakzeptabel, weil wir in vielen Fällen gar nicht auf die Idee kämen, die erste Prämisse zu akzeptieren. Die zweite Prämisse unterstellt, so Keefe, wir würden versuchen, den verborgenen Schnittpunkt zu finden – oder könnten uns ein solches Vorhaben zumindest als genauso sinnvoll vorstellen wie das Vorhaben, die Molekularstruktur einer unbekannten chemischen Verbindung zu entschlüsseln. Diese Unterstellung trifft aber nicht zu: Wir sind nicht der Ansicht, dass wir in Grenzfällen bloß noch nicht herausgefunden haben, ob das fragliche Prädikat zutrifft, dass wir das aber tun könnten, wenn wir eine geeignete Methode entdecken würden, und dass sich jemand die Untersuchung der Grenzfälle mit dieser Methode als Forschungsprogramm sinnvoll vornehmen kann – und vielleicht irgendwann einmal vornehmen wird. Wir sind der Ansicht, dass es, salopp gesagt, in Grenzfällen einfach nichts gibt, das herauszubekommen wäre, und dass es albern 16 17 18 19
Williamson (1994), S. 234. Keefe (2000), S. 72. Die Kritik in den folgenden Absätzen folgt Keefe (2000), Kap. 3. So Schiffer (1999), S. 492.
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anmuten würde, sich eine entsprechende Untersuchung zum Ziel zu setzen. Kurz: Wir sind nicht der Meinung, dass es in Grenzfällen einen verborgenen semantischen Sachverhalt gibt, den man entdecken könnte; wir sind nicht der Meinung, dass „a ist F“ verborgenerweise wahr oder falsch ist, und wir kommen aufgrund dessen auch gar nicht auf die Idee, nach einem Schnittpunkt beziehungsweise nach scharfen Prädikatgrenzen Ausschau zu halten.20 Der letzte Punkt berührt eine weitere Schwierigkeit: Wenn wir der Ansicht wären, dass es auch in Grenzfällen etwas zu wissen gäbe (ob a also F ist oder nicht), oder wenn wir sogar der Ansicht wären, dass Grenzfall a ein Fall von F ist, dann, so Keefe, wäre es interessant zu erfahren, warum wir nicht wissen können, ob „F“ auf a zutrifft beziehungsweise warum unsere Überzeugung, dass „F“ auf a zutrifft, nicht als Wissen zählt. (In diesem Fall wäre Williamsons Epistemizismus kurioserweise eine Theorie, die uns sagen würde, warum wir bestimmte Prädikate unseren gegenteiligen Überzeugungen zum Trotz für vage und bestimmte Fälle für Grenzfälle halten sollten.) Nur: Wir hegen diese Überzeugungen faktisch nicht und deshalb ist es müßig, uns zu erklären, warum sie nicht als Wissen zählen – beziehungsweise nicht zählen würden, wenn wir sie hätten. Williamson hat für den wirklichen Sachverhalt, nämlich unsere hartnäckigen Überzeugungen, dass es in Grenzfällen nichts zu wissen gibt, keine überzeugende Erklärung, und die Erklärung, die er anbietet, unterstellt einen Sachverhalt, der gar nicht besteht. Williamsons Epistemizismus stellt die Dinge auf den Kopf. Wenig überzeugend ist auch Williamsons Antwort auf die Frage, wie Prädikate zu den scharfen Grenzen kommen, die sie aus Sicht kompetenter Sprecher nicht haben: Seine Erklärung besteht, wie wir sahen, aus drei Bausteinen, nämlich, erstens, einem Argument für die Nichtbestreitbarkeit des Bivalenzprinzips, zweitens der These, dass Bedeutung hypersensibel auf Gebrauch superveniert, und, drittens, einem Modell ungenauen Wissens. Die Nichtbestreitbarkeit des Bivalenzprinzips soll uns darauf festlegen, auch bei Grenzfällen anzunehmen, dass ein vages Prädikat auf sie zutrifft oder nicht, die Gebrauchs-These soll erklären, warum es sich so verhält, und das Modell ungenauen Wissens soll im Verein mit der Gebrauchs-These erklären, warum eventuelle Überzeugungen über den Status von Grenzfällen kein Wissen darstellen. Gehen wir diese Elemente der Reihe nach durch: Ad Das Bivalenzprinzip ist nicht bestreitbar: Pelletier und Stainton21 haben zwei Einwände gegen Williamsons Argument für die These, das Bivalenzprinzip sei nur um den Preis eines logischen Widerspruchs bestreitbar, formuliert. 20 Vgl. Crispin Wrights Charakterisierung von Grenzfällen als Fällen „where we do not know what to say, do not know how we might find out, and can produce no reason for thinking that there is a way of finding out or even that finding out is metaphysically possible“: Wright (2001), S. 77 f. 21 Pelletier & Stainton (2003).
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Der erste richtet sich gegen (1), dass also „Nicht: u ist wahr oder u ist falsch“. Der zweite attackiert die Verwendung des Tarski-Schemas. Beide Argumente laufen darauf hinaus zu zeigen, dass nicht-klassische Logiken (und Semantiken) denkbar sind, die (1) zurückweisen können, ohne sich auf Reductio in (4) festlegen zu müssen. Ihr erster Einwand, der (1) angreift, weist darauf hin, dass Williamsons Lesart von „Bivalenz“ in (1) von der Standardlesart abweicht: Diese besagt, dass es genau zwei Wahrheitswerte, wahr und falsch gibt, und dass jede sinnvolle Proposition (oder neutraler formuliert: jeder sinnvolle Satz) genau einen dieser Wahrheitswerte annimmt. Der von Williamson in (1) zugrunde gelegte Sinn ist jedoch ein anderer: Für jeden Satz gilt, dass entweder er oder seine Negation wahr ist, und das Bivalenzprinzip zurückzuweisen bedeutet bei Williamson zu leugnen, dass entweder der Satz oder seine Negation wahr ist. Diese Bedeutung von „Bivalenz“ fällt aber nicht mit der Standardlesart zusammen: Angenommen, eine Logik verfüge über einen dritten Wahrheitswert unbestimmt, verwende eine Standardlesart von „_“ (eine Disjunktion nimmt den Wahrheitswert ihres „am Meisten wahren“ Disjunktionsgliedes an) und verwende eine schwache Negation „“, so dass ein Satz „P“ nur dann falsch ist, wenn „P“ wahr ist. In dieser Logik gilt dann: Sollte „P“ falsch oder unbestimmt sein, dann ist „P“ wahr. Eine solche Logik ist nicht bivalent, wenn mit „bivalent“ gemeint sein soll, dass sie nur zwei Wahrheitswerte hat. Sie ist jedoch durchaus bivalent, wenn damit gemeint ist, dass entweder „P“ oder seine Negation wahr ist, also gilt: „P _ P“. Angenommen nämlich, „P“ ist wahr, dann ist auch die Disjunktion „P _ P“ wahr. Angenommen, „P“ ist unbestimmt oder falsch, dann ist kraft Definition von „“ die Negtion „P“ wahr und damit auch die Disjunktion. In dieser Logik ist also (1) ein logisch falscher Satz. Der zweite Einwand richtet sich gegen Williamsons Annahme bei der Verwendung des Tarski-Schemas in (2a) und (2b), dieses stelle für mehrwertige Logiken das korrekte disquotationale Schema dar. Das aber ist nach Pelletier und Stainton nicht der Fall: Man nehme obige Logik mit drei Wahrheitswerten und StandardDisjunktion. Angenommen, sie verwende ferner ein Standard-Konditional, das nur dann falsch ist, wenn sein Antezedens wahr, aber sein Konsequens falsch ist, und sie verwendet eine starke Negation „neg“, die folgendermaßen definiert ist: Wenn „P“ wahr ist, dann ist „negP“ falsch; wenn „P“ falsch ist, dann ist „negP“ wahr; wenn „P“ unbestimmt ist, dann ist auch „negP“ unbestimmt. In dieser Logik ist (2a) nicht immer wahr. (2a) lautete (in symbolischer Notation): (2a) P $ W(„P“)
Aus (2a) lassen sich zwei Konditionale gewinnen, nämlich: (2a’) P ! W(„P“) (2a’’) W(„P“) ! P
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(2a’) ist dann nicht wahr, wenn „P“ den Wahrheitswert unbestimmt hat. In diesem Fall ist das Konsequens falsch, denn die metasprachlichen Operatoren „W(. . .)“, „F(. . .)“ und „U(. . .)“ selbst sind zweiwertig: „P“ nimmt entweder den Wert wahr an oder nicht; nimmt den Wert falsch an oder nicht; nimmt den Wert unbestimmt an oder nicht. Nimmt „P“ den Wert unbestimmt an, dann sind „F(P)“ und „W(P)“ falsch. Das Konditional „P ! W(,P‘)“ ist nun bei unbestimmtem „P“ und falschem „W(P)“ selbst entweder unbestimmt oder falsch. Beide Möglichkeiten ergeben konsistente Logiken. Nur: (2a) ist nicht immer wahr und kann daher nicht für alle mehrwertigen Logiken vorausgesetzt werden. Für einige ist offenbar die Ableitung von (3) mit (2a) und (2b) aus (1) in Williamsons Argument blockiert. Diese Logiken werden von Williamsons Argument nicht getroffen. Ad Ungenaues Wissen: Die Diskussion zu Williamsons Modell von ungenauem Wissen ist mittlerweile so fein ziseliert, dass hier nur zwei denkbare Gegenstrategien skizziert werden sollen: Man kann bestreiten, dass alle Fehlerspielraum-Prinzipien wahr sind, und man kann bestreiten, dass alle Fälle ungenauen Wissens von Fehlerspielraum-Prinzipien reguliert werden. Die erste Strategie findet sich bei Gómez-Torrente:22 Fehlerspielraum-Prinzipien müssten auch für komplexe Prädikate gelten, zum Beispiel für solche, die durch Wiederholungen von „knowable“, „wissbar“, gebildet werden. Allerdings, so Gómez-Torrente, ist das nicht der Fall. Das Fehlerspielraum-Prinzip für „wissbar“ lautet: (1m) 8n: Km+1 B(n) ! Km B(n+1)
Dabei kürzt „Km“ eine m-malige Wiederholung von „wissbar“ ab, „B(x)“ steht für „x ist kahlköpfig“, (1m) ist ein Fehlerspielraum-Prinzip für „KmB(x)“. Nun wissen wir sicher, dass jemand ohne Haare kahlköpfig ist. Es ist also wissbar, dass B(0), und es ist auch wissbar, dass wissbar ist, dass [. . .], dass B(0). Für ausreichend großes m erhält man also: (2) K1.000.000B(0) (1999.999) K1.000.000B(0) ! K999.999B(0+1)
Mit Modus Ponens erhält man dann, dass K999.999B(0+1). Zu diesem Ergebnis kann man wieder einen Satz vom Typ (1m) bilden, dann erneut Modus Ponens anwenden usw. Damit erhält man schließlich, dass es wissbar ist, dass jemand mit 1.000.000 Haaren kahlköpfig ist. Das aber ist absurd. Niemand mit dieser Haaranzahl ist kahlköpfig. Also ist es auch nicht wissbar, dass er kahlköpfig ist. Die zweite Strategie findet sich bei Mahtani: Sie hat eingewendet, dass Fehlerspielraum-Prinzipien nicht immer im Spiel sind, wenn wir ungenaues Wissen haben:23 So könnten etwa die Türsteher in obigem Stadion-Beispiel die strikte An22 23
Vgl. Gómez-Torrente (1997), (2002); Graff-Fara (2002). Mahtani (2008).
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weisung haben, nicht mehr als 20.000 Menschen einzulassen. Da sie außerdem allesamt in höchstem Maße zuverlässig sind, befolgen sie diese Anweisung peinlich genau. Unsere Überzeugung, dass mindesten beziehungsweise höchsten 20.000 Menschen im Stadion sind, wäre dann zwar ein Fall von ungenauem Wissen, unterläge jedoch nicht einem Fehlerspielraum-Prinzip, weil wir wegen des Verhaltens der Türsteher in ähnlichen Fällen (Szenarien in naheliegenden möglichen Welten) nicht leicht hätten falsch liegen können: Auch in allen ähnlichen Fällen hätten die Türsteher ihren Auftrag sorgfältig ausgeführt. Wenn aber manche Instanzen ungenauen Wissens keinen Fehlerspielraum-Prinzipien unterliegen, warum sollte das dann generell bei Vagheit so sein? Williamson müsste dies erst noch nachweisen. Tut er dies nicht, dann hängt seine Erklärung für unser Unwissen in Grenzfällen argumentativ in der Luft. Ad Bedeutung superveniert auf Gebrauch: Das Problem mit dieser These Williamsons besteht darin, dass sich unser Sprachgebrauch, soweit wir ihn überblicken, gerade nicht als vollständig und präzise darbietet: Es gehört zu unserem Sprachgebrauch, dass wir in Grenzfällen vage Prädikate weder zu- noch absprechen wollen, dass wir in einigen Fällen mit anderen (wie auch mit uns selbst) darüber uneins sein können, ob a hier „noch“ ein Fall von F oder doch „schon“ ein Fall von Nicht-F ist, oder dass wir bei neuartigen Fällen unsicher sind, wie wir uns sprachlich verhalten sollen. Weder scheint unser Sprachgebrauch alle Fälle zu regeln noch scheint er sie trennscharf in genau eine von zwei Kategorien, die F-Fälle und die „anderen“, einzusortieren. Inwiefern kann man dann sagen, unser Sprachgebrauch ziehe scharfe Grenzen? Es wäre keine gute Strategie, zu erwidern, es müsse sich so verhalten, weil es andernfalls Fälle gäbe, für die „a ist F“ weder wahr noch falsch und somit das Bivalenzprinzip verletzt wäre, was jedoch in einen Widerspruch führe. Zum einen ist Williamsons Argument für die Nichtbestreitbarkeit des Bivalenzprinzips von zweifelhafter Stärke. Zum anderen würde man stillschweigend voraussetzen, dass unsere Alltagssprache in einer Logik cum Semantik modelliert werden muss, die der klassischen Logik hinreichend ähnlich ist und in der die Bestreitung des Bivalenzprinzips zu einem Widerspruch führt. Warum aber sollte man diese Voraussetzung machen? Bereits die Standarddefinitionen einiger Junktoren in der klassischen Logik scheinen sich nicht mit ihrer Verwendungsweise in unserer Alltagssprache zu decken, wie unser Gebrauch von „Wenn . . . dann“ im Vergleich mit der Definition von „!“ zeigt.24 Dass ferner unsere faktische Sprachpraxis in einer dreiwertigen Logik komfortabler zu liegen käme als im Prokrustesbett der klassischen Bivalenz, ist zumindest keine absurde Annahme.25 Aber Williamson könnte geltend machen, dass die Sprechergemeinschaft zu groß sei, als dass wir imstande wären, ihren Gebrauch von „F“ zu überschauen, 24 25
Priest (2001), S. 9–15. Blau (1978).
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wobei es für die Bedeutung von „F“ jedoch genau auf diesen Sprachgebrauch in der gesamten Sprechergemeinschaft ankomme; dass wir ferner über keine zuverlässige Methode verfügten, diesen Sprachgebrauch zu ermitteln, und dass, selbst wenn dem so wäre, schließlich kein Algorithmus bekannt sei, mit dem sich die Bedeutung eines Ausdruckes aus seinem Gebrauch errechnen ließe. Bedeutung könnte ja in einer chaotischen und unvorhersehbaren Weise auf Gebrauch supervenieren.26 Tatsächlich finden nur der erste und der dritte Punkt bei Williamson Erwähnung. Allerdings sollte man den zweiten (Methode) nicht übergehen: Es ist ja denkbar, dass wir den Sprachgebrauch der Sprechergemeinschaft zwar nicht mit „unbewaffnetem“ Auge erfassen können, wohl aber mit geeigneten Hilfsmitteln. Würden wir über eine entsprechende Methode verfügen und wäre diese verlässlich, dann wären auch unsere damit gewonnen Überzeugungen über den scharfen Grenzverlauf vager Prädikate verlässlich. Das einzige, was uns dann davon abhielte, Wissen auch in Grenzfällen zu haben, wäre das Fehlen eines Algorithmus zur Errechnung von Bedeutung aus Gebrauch. Nun verfügen wir über eine derartige Methode bekanntlich nicht. Die Frage wäre, worauf sich eine solche Methode richten würden, wenn wir über sie verfügten. Dieser Punkt berührt Williamsons These, die Bedeutung eines Ausdrucks werde durch den auf unwahrnehmbare Weise fluktuierenden Sprachgebrauch der Sprechergemeinschaft festgelegt. Man müsste hier fragen, welcher Sprachgebrauch gemeint ist: der aktuell faktische oder der richtige (man kann Ausdrücke korrekt und inkorrekt gebrauchen). Wenn ersterer gemeint ist, dann müsste Williamson begründen, warum der Umstand bei ihm keine Erwähnung findet, dass Sprache nicht nur in einer Fülle von Idiolekten vorliegt, sondern die Bedeutung eines Ausdruckes überdies relativ auf Konversationskontext und Konversationsgruppe ist beziehungsweise sein kann. Wenn sich Gebrauch von Kontext zu Kontext, Gruppe zu Gruppe, Idiolekt zu Idiolekt unterscheidet, dann auch Bedeutung. Das bedeutet aber, dass für die Beantwortung der Frage, was „F“ bedeutet, gar nicht der ganze unüberschaubare Sprachgebrauch aller Sprecher des Deutschen zum Zeitpunkt t relevant ist, sondern die Situation, in der „F“ gerade gebraucht wird. Warum aber sollte der Versuch, diese Situation zu überblicken, uns kognitiv ebenso überfordern wie der Versuch, den Sprachgebrauch aller Sprecher des Deutschen an t zu überblicken? Je feiner die Auflösung, desto weniger plausibel ist Williamsons These von der Unüberschaubarkeit unserer Sprachpraxis. Nun könnte Williamson erwidern, wie faktisch hier oder da gesprochen werde, interessiere ihn nicht. Für sein Argument sei stattdessen der richtige Sprachgebrauch relevant. Darauf ist zu erwidern, dass Williamson bislang keinen Grund für die Annahme präsentiert hat, dass der richtige Sprachgebrauch – der Gebrauch kompetenter Sprecher – scharfe Prädikatgrenzen festlegt. Tatsächlich 26
Williamson (1994), S. 207–209.
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scheint es sich ja gerade gegenteilig zu verhalten: Kompetente Sprecher sind in Grenzfällen eben der Meinung, dass es unklar ist, ob „F“ auf a zutrifft, und dass, wenn jemand ohne zu zögern a als F (nicht F) bezeichnet, er „F“ anders versteht als sie selbst. Ferner müsste man Williamson fragen, warum die Dispositionen der Sprecher so fluktuierend und sensibel sein sollten, wie er dies darstellt. Bedeutung ist (auch) etwas Normatives: Sprecher verwenden nicht nur Ausdrücke, sie unterscheiden bei sich und anderen auch korrekten von inkorrektem Gebrauch und verhalten sich entsprechend (korrigieren, vielleicht tadeln etc.). Dieser richtige Gebrauch bildet eine Art semantischen Anker oder Fixpunkt, der sich zwar auch mit der Zeit ändern kann, der aber nicht in dem Maße flüchtig beziehungsweise auf mikroskopische, unentdeckbare Weise fluktuierend zu sein scheint, wie Williamson dies behauptet. Für die Ermittlung des richtigen Sprachgebrauchs verfügen Sprecher über Methoden: So könnten sie etwa den Grenzfallstatus von a zum Anlass nehmen, über den korrekten Gebrauch von „F“ in diesem Fall sowie in ähnlichen Fällen (auf der metakommunikativen Ebene) zu diskutieren. Idealerweise kämen sie dann zu dem Ergebnis, dass a „ein schwieriger Fall“ sei, man also weder „wirklich“ sagen könne, er sei F, noch sagen könne, er sei nicht F. Vielleicht kommen sie aber auch zu keiner Einigung und stellen fest, dass einige sagen würden, „F“ treffe auf a zu, während andere die Intuition haben, dass man dies „eigentlich“ nicht sagen könne. Im ersten Fall müsste Williamson erklären, wie „F“ zu seinem verborgenen semantischen Gehalt, seinen scharfen Prädikatgrenzen kommt; im anderen Fall müsste er erklären, was es bedeuten soll, dass die Sprecher aus einer der beiden Gruppen entgegen dem Augenschein – und vielleicht auch entgegen dem Urteil ihrer Kontrahenten – inkompetente Sprachverwender sind. Beider Aufgaben hat sich Williamson bislang nicht entledigt. Dem dritten Punkt – es gibt keinen Algorithmus zur Berechnung von Bedeutung aus Gebrauch – liegt zweifelsohne eine richtige Beobachtung von Williamson zugrunde. Wir verfügen faktisch über kein derartiges Verfahren, und es besteht auch die Möglichkeit, dass sich daran nie etwas ändern wird. Zum einen könnte die zugrundeliegende These, dass Bedeutung auf Gebrauch superveniert, falsch sein. Zum anderen könnte Williamson Recht mit seiner Hypothese haben, die Supervenienz-Beziehung von Bedeutung auf Gebrauch sei chaotisch. Es hat also eine gewisse Berechtigung, wenn er für seinen Epistemizismus einfordert, an diesen dürften nicht höheren Standards angelegt werden als an andere sprachphilosophische Theorien, die ebenfalls nicht in der Lage sind, ein Verfahren anzugeben, wie sich Bedeutung aus Gebrauch extrahieren lasse. Gleichwohl sollten wir Williamson diesen Zug nicht durchgehen lassen: Wenn man nicht weiß, wie sich die Beziehung von Bedeutung und Gebrauch genau gestaltet, dann sollte man auch darauf verzichten, diese sprachphilosophische Terra Incognita mit Fabelwesen zu bevölkern – wie etwa der These, Sprachgebrauch lege bei vagen Prädikaten allen Intuitionen kompetenter Sprecher zum
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Trotz und entgegen ihrer faktischen Sprachpraxis für jedes a fest, ob „F“ auf es zutrifft oder nicht. Die phantastische Geographie mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Landkarten entbehrt zwar nicht eines gewissen Reizes; in der Philosophie jedoch ist sie deplatziert. III. Anwendung im Recht 1. Anwendung Der Epistemizismus verspricht viel: die Beibehaltung der klassischen Logik, die Entlarvung von Sorites-Argumentationen als zwar logisch gültig aber nicht schlüssig, den Nachweis, dass Vagheit ein rein epistemisches Phänomen ist, die Erklärung unseres Unwissens in Grenzfällen – und das alles auch noch unter Zugrundelegung von ernst zu nehmenden philosophischen Theorien über die Natur sprachlicher Bedeutung. Vielen Philosophen erscheint diese Synthese – fast möchte man sagen: diese Quadratur des Kreises – jedoch als zu schön um wahr zu sein. Gleichwohl entbehrt sie aus der Sicht des Rechts nicht einer gewissen Attraktivität, zumindest auf den ersten Blick: Legt man Williamsons Epistemizismus der Rechtsanwendung zugrunde, so sind die mit Sorites-Vagheit verbundenen Gefahren gebannt. Diese bestanden zum einen in der Ausdehnung des Anwendungsbereiches von vagen Rechtsnormen durch eine prima facie plausible (soritische) Argumentation und der damit einhergehenden Entgrenzung staatlicher Macht, zum anderen in der scheinbaren Willkür, die sich in der rechtlichen Ungleichbehandlung von geringfügig verschiedenen, in einer Sorites-Reihe angeordneten Sachverhalten zeigt. Für Epistemizisten lösen sich diese Sorgen auf: Zum einen ist Sorites selbst zwar gültig, aber nicht schlüssig. Zum anderen sollten soritische Argumente des Typs „Wenn ai rechtlich als F beurteilt wurde, dann muss auch ai+1 rechtlich als F beurteilt werden, denn der Unterschied zwischen ihnen ist so minimal, dass er für die Anwendung von ,F‘ irrelevant ist“ generell aus dem Recht verbannt werden; sie sind nämlich entweder überflüssig oder gefährlich: In sicherem Abstand von der Grauzone sind sie überflüssig. Wenn man es bei dem hier zu beurteilendem Sachverhalt mit dem klaren Fall eines erheblichen Vermögensschadens zu tun hat, dann ist es dialektisch müßig, auf andere sehr ähnliche, ebenfalls klare Fälle von „erheblicher Vermögensschaden“ zu verweisen und geltend zu machen, dass, wenn dieser rechtlich als erheblicher Vermögensschaden bewertet wurde, das Gleiche auch für jenen gelten müsse. In der Nähe zur Grauzone sind Sorites-Argumente jedoch gefährlich: Da wir nicht wissen und auch nicht wissen können, wo die (verborgene) scharfe Grenze liegt, könnte jeder Schritt, zu dem uns Sorites verführt, einer zu viel sein. Der Einwand, die Zurückweisung von Sorites-förmigen Argumenten laufe auf die unplausible Leugnung von Toleranz und das Akzeptieren eines scharfen Schnittpunktes in einer SoritesReihe hinaus, hat aus epistemizistischer Sicht keine Kraft, denn in jeder Sorites-
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Reihe gibt es einen solchen scharfen Schnittpunkt – und unser Eindruck, es gebe keinen, das heißt unser Eindruck, manche Prädikate seien tolerant, ist aus epistimizistischer Perspektive irrig. Ferner gibt es aus epistemizistischer Sicht keine durch Vagheit bedingten Lücken im Recht: Angenommen, der zwischen A und B geschlossene Darlehensvertrag stelle einen Grenzfall für „sittenwidriges Rechtsgeschäft“ nach § 138 Abs. 2 BGB dar, dann ist unklar, ob der Satz „Der zwischen A und B geschlossene Darlehensvertrag ist sittenwidrig nach § 138 Abs. 2 BGB“ wahr oder falsch ist. Aus epistemizistischer Sicht kommt diesem Satz jedoch genau einer von zwei Wahrheitswerten zu, was bedeutet, dass es auch auf die Rechtsfrage eines Falles, der durch Vagheit zu einem schwierigen Fall wird, genau eine richtige Antwort gibt (zumindest was die Semantik der involvierten Prädikate anbelangt; ob die semantisch korrekte Antwort auch die rechtlich richtige Antwort ist, steht auf einem anderen Blatt). Das Prinzip juridischer Bivalenz ist nun unter Bedingungen von Rechtsstaatlichkeit kein Theorem, das sich auch als falsch herausstellen könnte; es ist eine fundamentale Anforderung rechtsstaatlicher Rechtsanwendung, eine notwendige Voraussetzung, an der zur Not auch contra facta festgehalten werden muss. Der Epistemizismus kann für sich in Anspruch nehmen, dass er imstande ist, theoretisch zu liefern, was rechtsstaatlich gefordert wird: Auch diejenigen Fälle, die wir als Grenzfälle verstehen, fallen unter den relevanten Rechtssatz oder sie tun dies nicht. Beide Vorzüge des Epistemizismus legen die Frage nahe, ob man die epistemische Vagheitstheorie, mag sie auch als philosophische Theorie semantischer Vagheit gewisse Bedenken erregen, der Rechtsanwendung nicht als eine Art von rechtstheoretischer beziehungsweise „rechtssemantischer“ Fiktion zugrunde legen könnte? Schließlich kümmert sich das Recht ja in vielen Fällen nicht um wissenschaftliche Akzeptabilität. Wale wurden für Fische im Sinne eines Gesetzes befunden, das die Kontrolle von Fischölen regelte27, und im deutschen Lebensmittelrecht gelten manche Zusätze in Lebensmitteln nicht als Zutaten: Zwar sind sie lebensmittelchemisch im Endprodukt nachweisbar, gelten aber rechtlich als „nicht vorhanden“.28 Im Erbrecht gilt ein Fötus als geborener und damit erb27 Dieser Fall aus dem New York des Jahres 1817 ging als James Maurice vs. Samuel Judd in die Geschichte ein. Der Ölhändler Judd hatte sich geweigert, einige seiner ÖlFässer inspizieren zu lassen, wie es das Gesetz für Fisch-Öl-Fässer vorschrieb, und zwar mit der Begründung, seine Fässer enthielten Wal-Öl, und Wale seien ja keine Fische, sondern Säugetiere. Es kam zum Prozess. Am Ende des Verfahrens entschied das Gericht, dass Wale für das Gesetz Fische seien. Eine amüsante – und rechtstheoretisch bedeutsame – Untersuchung dieses Falles gibt Burnett (2007). Vgl. zu diesem Fall auch Poscher (2009). 28 Vgl. die Bestimmungen in § 5 Abs. 2 der Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung. Nicht als Zutaten gelten beispielsweise Aromen, „Mikroorganismenkulturen, die in einer oder mehreren Zutaten eines Lebensmittels enthalten waren, sofern sie im Enderzeugnis keine technologische Wirkung ausüben“ (Abs. 2 Nr. 2) oder auch Extrak-
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berechtigter Mensch29, und im Zivilprozess kann die Beachtung bestimmter Vorgaben, sobald sie einmal im Gerichtsprotokoll vermerkt wurde, und sei es auch fälschlich, nur mit dem Nachweis angefochten werden, das Protokoll sei gefälscht30. Das Recht transformiert außerrechtliche Begriffe nicht nur in Rechtsbegriffe, wenn es sie inkorporiert, sondern unterwirft sie seiner eigenen Logik.31 Warum sollte man sich an den problematischen Aspekten der epistemischen Theorie stören, wenn sie für das Recht doch mit so erheblichen Vorteilen verbunden ist? 2. Kritik Die Antwort wäre: Weil die vermeintlichen Vorzüge des Epistemizismus nur zusammen mit einem gravierenden Problem zu haben sind. Im Recht genügt es nicht zu versichern, dass ein Grenzfall F oder nicht F sei. Eine solche Behauptung beziehungsweise ein solches Urteil muss auch begründet werden. Wie aber soll das geschehen, wenn die Prädikatgrenze von „F“ zwar scharf, ihr Verlauf aber unerkennbar ist? Betrachten wir diesen Punkte etwas genauer: Für Epistemizisten ist jeder Grenzfall a in Wirklichkeit ein Fall von „F“ oder er ist es nicht, auch wenn uns die Sache unklar zu sein scheint. Jeder Grenzfall fällt im Recht also unter den betreffenden unbestimmten Rechtsbegriff oder er tut dies nicht. Das bedeutet: Jeder vagheitsbedingt schwierige Fall ist – rein semantisch gesehen – ein Fall von F oder eben nicht. Der Gesetzgeber hat kraft der von ihm verwendeten Prädikate und deren scharfen Grenzen jedem Fall einen eindeutigen rechtlichen Status zugewiesen, zumindest was das Fallen des betreffenden Sachverhaltes unter einen Rechtsbegriff anbelangt. (Normenwidersprüche und andere Komplikationen sollen hier außer Betracht bleiben.) Loyalität gegenüber dem Recht und dem Gesetzgeber erfordert, dass Rechtsanwender diesen Umstand – dass also jeder Fall semantisch schon einen eindeutigen rechtlichen Status hat – mitbedacht wird. Nun wird von den Richtern nicht nur verlangt, dass sie Fälle gemäß Gesetz entscheiden, sondern auch, dass sie ihre Entscheidung mit Gründen als gesetzesgemäß ausweisen beziehungsweise verteidigen. Genau darin liegt aber für den Epistemizisten auf der Richterbank das Problem: Als Richter müssen wir auch in Grenzfällen entscheiden (Rechtsverweigerungsverbot). Vielleicht siedelt unsere tionslösungsmittel (Abs. 2 Nr. 5). Man berücksichtige dabei aber auch die Ausnahmeregelungen in § 5 Abs. 3. LMKV. 29 § 1923 BGB: „(1) Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt. (2) Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.“ 30 § 165 ZPO: „Die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen seinen diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.“ 31 Vgl. Poscher (2009).
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Entscheidung den Grenzfall auch auf der richtigen Seite der Grenze an (Gesetzesbindung), aber wir können nicht wissen, ob wir richtig entschieden haben, und wir können unsere Entscheidung in der Urteilsbegründung nicht als richtig ausweisen. Dazu müssten wir nämlich verlässliche Gründe dafür, dass a F beziehungsweise nicht F ist, anführen; verfügten wir über solche Gründe, dann würde unsere Überzeugung als Wissen zählen, was aus epistemizistischer Sicht aber gerade ausgeschlossen ist. Einfach nur zu sagen, es gebe eine scharfe Grenze und jeder Grenzfall sei entweder F oder nicht, hilft dem Rechtsanwender nicht weiter, wenn man ihm nicht zugleich sagt, wie man diese Grenze ermittelt beziehungsweise erkennt, dass man sie ermittelt hat. Da man den Verlauf dieser Grenze nicht erkennen kann, kann man auch nicht wissen, wie ein neutraler Kandidat korrekt zu entscheiden wäre. Im Angesicht von neutralen Kandidaten ist der Epistemizismus ohnmächtig. Nun könnten Epistemizisten dagegen einwenden, dieses Urteil sei vorschnell. Gewiss sei die scharfe Prädikatgrenze unerkennbar und für uns deshalb auch unwissbar, ob „F“ auf den Grenzfall a zutrifft oder nicht. Aber warum sollte es für Epistemizisten unter Würdigung der Tatsache, dass im Recht nun einmal unter Zeitdruck entschieden werden muss, und zwar nach Gesetz und mit Begründung, nicht möglich sein, im Recht von Wahrheit auf Wahrscheinlichkeit umzustellen?32 Vielleicht können wir nicht wissen, ob Grenzfall a wirklich F ist oder nicht, aber wenn Grenzfall a mehr Ähnlichkeit zu Fällen aufweist, die klarerweise F sind, als zu Fällen, die es klarerweise nicht sind, wenn es wahrscheinlicher ist, dass a F ist, als dass a nicht F ist, oder wenn die Gründe für das Akzeptieren von „a ist F“ besser sind als die Gründe für das Akzeptieren von „a ist nicht F“ – dann ist es doch im Hinblick auf die spezifischen Erfordernisse des Rechts vernünftig, wenn wir Grenzfall a rechtlich zu einem Fall von F erklären beziehungsweise als F gelten lassen. Zu sagen, Grenzfall a gelte als F, da er mehr Ähnlichkeit mit F-Fällen als mit Nicht-F-Fällen habe, legt ja nicht darauf fest, zu sagen, Grenzfall a sei F – was wir nicht wissen können. Es gibt nichts in der epistemischen Theorie, das dieses Manöver ausschließen würde, im Gegenteil: Gerade die Anerkennung der Tatsache, dass jeder Fall durch die Semantik der vom Gesetzgeber verwendeten Prädikate bereits einen rechtlichen Status erhalten hat und dass Rechtsanwender diesen Status nicht einfach übergehen dürfen, legt nahe, zu fragen, ob a denn wenigstens wahrscheinlich F ist, wenn wir schon nicht sicher wissen können, ob a F ist. Als Randnotiz sei angemerkt, dass vermutlich nicht alle Epistemizisten mit diesem Zug glücklich wären. Sorensen etwa hat die These vertreten, dass Richter unredlich handeln (nach Sorensen: lügen), wenn sie in Grenzfällen ein Urteil sprechen, denn dann behaupten sie, dass P, obwohl sie wissen, das sie nicht wissen und 32 Darauf, dass Epistemizisten diese Strategie zur Verfügung steht, hat Soames (2012) aufmerksam gemacht.
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auch nicht wissen können, dass P.33 Wenn der Schaden, den T dem O zugefügt hat, einen Grenzfall für „erheblicher Vermögensschaden“ darstellt, dann, so Sorensen, kann der Richter auch nicht wissen, dass T dem O (k)einen erheblichen Vermögensschaden zugefügt hat. Urteilt er aber „T hat dem O (k)einen erheblichen Vermögensschaden zugefügt“, dann behauptet er damit etwas, von dem er weiß, dass er es nicht weiß – und handelt damit unredlich. (Er verletzt damit nach Sorensen die moralische Pflicht zur Redlichkeit. Urteilt er aber gar nicht, dann verletzt er seine Pflichten aus dem Richteramt. Darin besteht das Dilemma, vor das Vagheit einen Richter nach Sorensens Meinung stellt.) Nun hat man dieses Dilemma durch den Wechsel von Ist zu Gilt-als umgangen: Wir könnten ja aufrichtig der Meinung sein, dass wir sehr gute Gründe dafür haben, a rechtlich als F anzusehen – auch wenn wir nicht wissen, ob „F“ wirklich auf a zutrifft. Sorensen könnte aber seinen Einwand modifizieren und darauf verweisen, dass dieser Wechsel rechtssprachlich nicht oder zumindest in den meisten Fällen nicht offengelegt wird. Das Gericht verkündet ja nicht „Die Tat des T wird zu einem besonders schweren Fall des Betrugs erklärt“ oder „Die Tat des T gilt als besonders schwerer Betrug“, sondern „T hat sich des Betrugs in einem besonders schweren Fall schuldig gemacht“ oder auch „Die Tat des T ist ein Fall eines besonders schweren Betrugs“. Das Gericht hätte also stillschweigend die Rechtsfrage ausgetauscht, die es zu beantworten galt, und an die Stelle der Frage „Ist der Vermögensschaden, den T dem O zugefügt hat, erheblich?“ durch die Frage ersetzt „Soll der Vermögensschaden, den T dem O zugefügt hat, als erheblich gelten?“ Ich denke, wir sollten Sorensen entgegnen, dass die Rechtsfrage tatsächlich immer lautet, ob a als F im Sinne des Gesetzes zu bewerten ist und dass „im Sinne des Gesetzes“ hier als Abkürzung für das ganze Universum dessen fungiert, was bei Rechtsauslegung und Rechtsanwendung immer zu berücksichtigen ist, und sei es stillschweigend: die „normale“ Bedeutung eines Ausdrucks beziehungsweise einer Norm, ihre Bedeutung im System der Normen, ihr vom Gesetzgeber gewünschter Anwendungsbereich, ihre zulässige Bedeutung vor dem Hintergrund von eventuellen Analogieverboten, von höherrangigem Recht, von Grundrechtspositionen usw. Es geht, um es plakativ zu sagen, im Recht eben tatsächlich nicht darum, ob Wale Fische sind oder nicht, sondern darum, ob es rechtlich zulässig oder sogar geboten wäre, sie als Fische anzusehen. Vielleicht, so könnte man hinzufügen, wird dies aus der Oberflächenstruktur der Rechtssprache nicht (immer) deutlich. Die Teilnehmer an der Praxis Recht jedoch, wenigstens die juristisch geschulten, scheinen durch ihr Argumentationsverhalten zumindest ein intuitives Verständnis dieses Umstandes zu bezeugen. Nun aber zurück zu dem oben beschriebenen Manöver, in Grenzfällen von Ist auf Ist-wahrscheinlich umzustellen. Soames hat dieses Manöver folgendermaßen kritisiert: Es versetze den Epistemizisten nicht in die Lage, Vagheit den Wert bei33
Sorensen (2001).
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zulegen, den sie tatsächlich hat, nämlich einen Wert für die Geschmeidigkeit des Rechts, die dieses in unseren westlichen Rechtsordnungen faktisch zeigt. Man denke an die berühmte No-vehicles-in-the-park-Verordnung, die in der Kontroverse zwischen Fuller und Hart eine prominente Rolle gespielt hat. Ist ein Skateboard ein „Fahrzeug“ im Sinne dieser Verordnung, was zur Folge hätte, dass es von ihrem Verbot umfasst würde? Soames verweist darauf, dass die Entscheidung darüber von den Zwecken abhängt beziehungsweise dass Richter nach diesen Zwecken, der Ratio Legis, fragen werden, wenn sie mit Grenzfällen für „Fahrzeug“ konfrontiert werden. Wurde die Norm etwa erlassen, um Motorenlärm und Abgase aus der Grünanlage fernzuhalten, dann werden Skateboards (wahrscheinlich) nicht als Fahrzeuge aus dem Park verbannt. Wurde die Norm hingegen erlassen, um Unfälle mit Besuchern auf den notorisch überlaufenen Parkwegen zu verhindern, dann vermutlich schon. Die Vagheit von „Fahrzeug“ hat nun – aus Sicht des Gesetzgebers – den Vorteil, dass nicht jeder denkbare Einzelfall gesondert vorausbedacht und geregelt werden muss, sondern dass diese Aufgabe an untergeordnete Stellen delegiert werden kann, die flexibel auf den konkreten Fall reagieren können, indem sie die Norm im Hinblick auf die Zwecke des Gesetzgebers konkretisieren. Soames Einwand lautet nun, dass der Epistemizismus diesem Wert von Vagheit beziehungsweise der flexiblen Entscheidungspraxis der Gerichte auch dann noch nicht gerecht wird, wenn er sich durch das oben beschriebene Manöver Spielraum verschafft hat, und dass er ihr, bedingt durch seine (aus Soames’ Sicht) irrige Theorie vager Prädikate auch gar nicht gerecht werden kann: „The epistemicist will tell you, correctly, that judicial and administrative authorities downstream from the enactment of a statute have no special expertise that the lawmakers lack about where the extension of a (totally defined) vague predicate ends and that of its negation begins. Moreover, since the content of the statute already (hypothetically) determines the legal status of every borderline case, the first duty of the downstream authorities is to explicitly assign the borderline cases that come before them the legal status those items most probably already have – in situations in which judgments about such relative probabilities can reasonably be made. There may, of course, be items for which such judgments cannot be made, in which case fidelity to the rationale of the statute may then become the basis for adjudication. [. . .] What the epistemicist cannot do is extend this line of reasoning to the full range of borderline cases for which the proponent of partial definition finds utility in vague legal language. For example, whereas the latter can properly declare minibikes, skateboards, and children’s gravity- or peddle-powered, soap box derby racers to be non-vehicles permitted in the park in scenario 1 in our extension of Hart’s example, while properly declaring them to be vehicles prohibited from the park in scenario 2, the epistemicist cannot justify arriving at different verdicts in the two scenarios. More precisely, he can’t do so on the plausible assumption that he can’t reasonably deny that some at least of the examples just mentioned are more probably vehicles than not (given his view that each really is a vehicle, or really isn’t). In this way, the epistemicist’s view of what vagueness really is prevents him from recognizing much of the value that vagueness in the law really has.“ 34
E. Fuzzy-Logik
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Der Epistemizismus im Recht steht also vor folgendem Problem: Entweder muss er sich im Angesicht von neutralen Kandidaten damit begnügen, auf die Unerkennbarkeit ihres Status (F oder nicht F) zu verweisen. Dann aber trägt er zur Entscheidung derartiger Fälle nichts bei. Oder er verschiebt die Rechtsfrage und prüft, ob der neutrale Kandidat wahrscheinlich F ist. Das führt dann, wenn a klaren F-Fällen genauso ähnlich ist wie klaren Nicht-F-Fällen, zu keiner Lösung und es legt ihn auf eine Methode fest, die unserer faktischen Rechtspraxis nicht Rechnung tragen und den Wert, den Vagheit in unseren Rechtsordnungen tatsächlich hat, nicht anerkennen kann. Dies ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der methodologischen Verengung beziehungsweise Dürftigkeit bedenklich. Mit einem Bonmot von Rüthers: Methodenfragen sind Verfassungsfragen.35 Man könnte auch sagen: Methodenfragen sind Prinzipienfragen. Wer einen Fall nur mit Blick auf dessen Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zu anderen F-Fällen entscheidet, ohne sich zu fragen, wie diese Entscheidung etwa unter Gesichtspunkten von verfassungsgerichtlichen Vorgaben oder den Grundrechten Betroffener zu bewerten ist, der begeht einen juristischen Kunstfehler, der nicht nur ein inkorrektes Urteil hervorbringt, sondern auch einen Begriff von Recht anzeigt, welcher nicht der unserer Rechtsordnung ist. Fassen wir das Ergebnis dieser Überlegungen kurz zusammen: Was schief läuft mit Sorites und Sorites-förmigen Argumenten kann der Epistemizismus angeben. Das Argument ist gültig, aber nicht schlüssig. Das durch Grenzfälle aufgeworfene Entscheidungsproblem ist wegen der Unerkennbarkeit des Verlaufs der Prädikatgrenzen für den Epistemizisten auf der Richterbank nicht oder nur durch Reformulierung der Rechtsfrage zu lösen. Gleiches gilt für das Abgrenzungsproblem. Eine gelungene Antwort der epistemischen Theorie auf das Begründungsproblem ist nicht erkennbar.
E. Fuzzy-Logik I. Das Konzept Den Umstand, dass a mehr oder weniger, groß, reich, rot, schön oder gesund sein kann, halten wir vor dem Hintergrund unseres alltäglichen Handelns und Redens für so selbstverständlich, dass jeder Hinweis darauf unnötig erscheint. Dennoch wird Gradierbarkeit des F-Seins in der klassischen Logik nicht berücksichtigt. Dort trifft „F“ auf a entweder zu oder nicht, ist eine sinnvolle Proposition „a ist F“ entweder wahr oder falsch, ist a entweder Element der Menge der F-Dinge oder nicht. Dieses Prinzip versagt bei Sorites-Reihen, denn dort findet sich ein gleitender Übergang von F-Dingen zu Nicht-F-Dingen, und zwar durch 34 35
Soames (2012), S. 105 f. Rüthers (2009).
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einen Bereich von Dingen hindurch, die nicht einfach F oder nicht F sind, sondern „mehr oder weniger“ F. Wenn wir von einem Sandhaufen ein Korn wegnehmen, so macht dies für das Sandhaufensein der Körneransammlung keinen Unterschied. Je öfter wir aber diese Operation wiederholen, desto stärker macht sie sich bemerkbar. Zwingen wir jemanden, eine Sorites-Reihe zu durchlaufen, so wird er desto unruhiger werden, je weiter wir in der Reihe voranschreiten. Das liegt zum einen daran, dass wir ihm nur zwei Kategorien zur Verfügung stellen, nämlich „Haufen“ und „Kein Haufen“, woraus Schwierigkeiten für die Klassifikation der Grenzfälle erwachsen; zum anderen erlauben wir ihm nur zwei Antworten auf unsere Frage „Ist diese Ansammlung aus n, n+1, n+2 . . . Körnern ein Haufen?“, nämlich Ja oder Nein. Diese Alles-oder-Nichts-Alternative ist gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass die Zugehörigkeit einer Körneransammlung zu einer Kategorie eine Frage des Grades zu sein scheint. Würde man die Antwort „Ein ganz klein bisschen weniger als die vorangegangene Ansammlung“ zulassen, dann verlöre Sorites seinen paradoxen Charakter: Wenn a im Durchgang durch die Reihe mit jedem Schritt ein wenig von seinem Haufensein einbüßt und die Proposition „ai ist ein Haufen“ nur in dem Maße wahr ist, wie „Haufen“ auf ai zutrifft, dann ist auch die Konklusion „1 Korn ist ein Haufen“ nicht mehr „ganz“ (maximal) wahr. Sorites ist zwar dann noch logisch gültig, aber wegen des Reibungsverlustes bei den Wahrheitswerten der Prämissen nicht schlüssig. Was also Not täte, wäre eine Logik, die unsere Intuition bezüglich der Gradierbarkeit des F-Seins einfangen kann. Eine solche Logik ist die von Zadeh begründete Fuzzy-Logik.36 Seine ebenso simple wie revolutionäre Idee bestand darin, eine Mengenlehre zu entwickeln, in der Mengen nicht „crisp“ sind, sondern „fuzzy“, in der also etwas nicht entweder Element einer Menge ist oder eben nicht, sondern Element zu einem gewissen Grade.37 Wenn X eine Menge ist, dann ist eine fuzzy Menge à in X eine Menge geordneter Paare, bestehend aus Elementen x in X und Graden der Zugehörigkeit von x zu X, mÃ(x).38 In der Fuzzy-Logik sind nun nicht nur Eigenschaften gradierbar, sondern auch Wahrheit.39 Wenn a zwar reich ist, aber „gerade noch“, warum sollte es dann
36 Man könnte und sollte vielleicht der Klarheit halber zwischen verschiedenen Konzeptionen von „Fuzzy-Logik“ unterscheiden: „Fuzzy-Logik“ (a) als Bezeichnung einer mehrwertigen Logik, in der Sätze (Wahrheitswertträger) Wahrheitswerte aus dem reellen Intervall [0, 1] annehmen können; (b) als Bezeichnung für, wie Bothe (1995), S. 6, schreibt, „ein im mathematischen Sinne logisches System mit dem Ziel, Modelle für die Erscheinungsformen der menschlichen Beweis- und Entscheidungsführung aufzustellen“; (c) als Bezeichnung der Theorie unscharfer Mengen (ebd.). Juristen im deutschen Sprachraum haben sich vornehmlich für (b) interessiert. 37 Zadeh (1965). Zadeh (1975) hat diesen Gedanken später zu einer Theorie des „approximate reasoning“ ausgebaut. 38 Ã = {hx, m (x)ijx 2 X}. Zimmermann (1991), Definition 2-1, S. 12 f. Ã
E. Fuzzy-Logik
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ganz wahr sein, dass er reich ist, und nicht vielmehr nur „ein bisschen“? Oder anders gesagt: Wenn a nur zu 0,51 reich ist, warum sollte es dann zu 1 wahr sein, dass er reich ist? Nun sind anscheinend viele Eigenschaften in beliebig vielen Abstufungen realisiert. Diese Unendlichkeit an Schattierungen in das ProkrustesBett von endlich vielen Graden des Zutreffens zu pressen wäre nicht nur willkürlich; es würde auch das aus Sorites-Kontinuen bekannte Problem nach sich ziehen, dass irgendwo ein scharfer Schnitt zwischen zwei Bereichen postuliert werden müsste, wo sich keiner ausmachen lässt. Entsprechendes gilt für Grade des Wahrseins. Die Fuzzy-Logik vermeidet diese Schwierigkeit, indem sie die Grade des Zutreffens von „F“ auf a, den Grad der Zugehörigkeit von a zur FuzzyMenge der F-Dinge, beziehungsweise die Grade der Wahrheit von „a ist F“ aus dem Intervall der reellen Zahlen [0, 1] nimmt. Mit der Zusatzannahme, dass die Proposition „a ist F“ nur so wahr sein kann, wie a eben F ist, ergibt sich, dass die Fuzzy-Logik unendlich viele Grade des Wahrseins annimmt, die durch die reellen Zahlen des Intervalls [0, 1] bezeichnet und als eigenständige Wahrheitswerte behandelt werden. Die Fuzzy-Logik ist damit eine unendlichwertige Logik, zu der die klassische Logik einen Spezialfall bildet, nämlich eine Logik, die mit nur zwei Wahrheitswerten aus dem Intervall [0, 1] operiert, eben mit 1 (wahr) und 0 (falsch). Betrachten wir nun die fuzzy-logische Lösung des Sorites-Paradoxons etwas genauer. Dazu beginnen wir mit der Definition von :, ^, _ und !.40 :: Klassisch erhält die Negation einer Proposition den gegenteiligen Wahrheitswert der Proposition; ist P wahr, dann ist :P falsch und umgekehrt. Bei Wahrheitsgraden bietet es sich an, den Wahrheitswert der Negation als Gegenstück zum Wahrheitswert der negierten Proposition zu bestimmen: Wenn P zu m wahr ist, dann ist :P zu 1–m wahr. In dem Maße wie die Wahrheit von „Tim ist groß“ abnimmt, nimmt die Wahrheit der Negation „Tim ist nicht groß“ zu. Legt man diese Bestimmung zugrunde, dann ergibt sich die klassische Negation als Spezialfall: Wenn P den Wahrheitswert 1 erhält, dann ist der Wahrheitswert von :P gleich 1–1 = 0 und umgekehrt. Wir können also für Wahrheitswerte x festhalten: f : (x) = 1–x
^, _: Klassisch erhält eine Konjunktion P ^ Q nur dann den Wert wahr, wenn beide Glieder den Wert wahr erhalten. Ist eines der Glieder falsch, dann auch die 39 Darin scheint eine unnötige Doppelung zu liegen: Man kann sagen, a habe die Eigenschaft F zum Grad m. Oder man kann sagen, es sei zu Grad n wahr, dass a die Eigenschaft F habe. Dem Bedürfnis, Gradierbarkeit abzubilden, lässt sich sowohl durch die Gradierung von Eigenschaften als auch durch die Gradierung von Wahrheit Rechnung tragen. Nur: Welchen Vorteil soll es verschaffen, gleich beides auf einmal zu wählen – und etwa zu sagen, es sei zu Grad p wahr, dass a die Eigenschaft F zu Grad q habe? Vgl. dazu Keil (2011). 40 Ich folge hier Priest (2001), Kap. 11.4.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
Konjunktion. Die Konjunktion erhält also immer den niedrigsten Wahrheitswert ihrer Glieder. Bei der Adjunktion P _ Q verhält es sich umgekehrt: Sie ist nur dann falsch, wenn alle ihre Glieder falsch sind. Die Adjunktion erhält also immer den größten Wahrheitswert ihrer Glieder. Diese Bestimmung lässt sich fuzzy-logisch für Wahrheitswerte x, y beibehalten: f^(x,y) = min(x,y) f_(x,y) = max(x,y)
!: Etwas schwieriger verhält es sich mit der materialen Implikation. Priest schlägt folgende Definition vor: f ! (x,y) = x y Wenn x y , dann x y = 1 Wenn x > y , dann x y = 1 – (x – y) (= 1 – x + y)
Seine Begründung dafür ist folgende:41 Wenn klassisch bei einem Konditional P ! Q das Antezedens gleich oder weniger wahr ist als das Konsequens, dann ist mit dem Konditional „alles in Ordnung“ und es ist wahr. Ist das Antezedens aber wahrer als das Konsequens, dann ist das Konditional nicht wahr, das heißt klassisch: falsch. Fuzzylogisch sollte das Konditional in einem solchen Fall einen geringeren Wahrheitswert als 1 haben. Um wie viel geringer? „The amount that the truth value falls in going from [ P ] to [ Q ]. In particular, if it falls all the way from 1 to 0 then the value of [ P ! Q ] is 0. All this is exactly what
means.“ Man kann sich leicht davon überzeugen, dass man mit dieser Definition von ! FL für Wahrheitswerte 1 und 0 die klassischen Wahrheitswertverteilungen von ! erhält. Der Nachteil von Priests Bestimmung besteht jedoch darin, dass man P ! FL Q nicht mehr durch Adjunktion und Konjunktion ausdrücken kann, also nicht mehr als :(P ^ :Q) beziehungsweise :P _ Q. Angenommen, P habe den Wahrheitswert 0,6 und Q den Wahrheitswert 0,1. Dann ist der Wahrheitswert von P ! Q nach Priest gleich 1 – 0,6 + 0,1 = 0,5
der von :(P ^ :Q) jedoch gleich 1 – min (0,6; 1 – 0,1) = 1 – min (0,6; 0,9) = 1 – 0,6 = 0,4
und der Wahrheitswert von :P _ Q ist gleich max (1 – 0,6; 0,1) = 1 – max (0,4; 0,1) = 0,4 .
Dieser Unterschied zwischen !FL und ! ist natürlich unschön, hat allerdings bei der Erwiderung auf Sorites gewisse Vorteile: Man betrachte die Sorites-Reihe ha0, . . ., a10i. Die Differenz der Wahrheitswerte zwischen angrenzenden ai, ai+1 41
Priest (2001), Kap. 11.4.3.
E. Fuzzy-Logik
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betrage 0,1. Die Funktion v weise Propositionen F(ai) folgende Wahrheitswerte zu: v(Fao) = 1, v(Fa1) = 0,9, v(Fa2) = 0,8, . . ., v(Fa9) = 0,1, v(Fa10) = 0. Nach Priest hat nun ein Konditional der Form F(ai) ! F(ai+1) den Wahrheitswert 0,9, denn die Differenz v(Fai) – v(Fai+1) beträgt nach Voraussetzung immer 0,1, weshalb 1 – (v(Fai) – v(Fai+1)) hier immer gleich 1 – 0,1 = 0,9 ist. Die konditionalen Prämissen beziehungsweise die allquantifizierte Prämisse von Sorites hat somit immer einen Wahrheitswert, der kleiner ist als 1. Sorites ist also zwar logisch gültig aber nicht schlüssig.42 II. Probleme Dass sich mit fuzzy-logischen Mitteln das Sorites-Paradoxon lösen beziehungsweise seine Entstehung verhindern lässt, kann man zugestehen. (Die fuzzylogische Lösung von Sorites enthält zugleich auch den Grund dafür, warum Sorites-förmige Argumente problematisch sind: Da mindestens eine der Prämissen einen Wahrheitswert < 1 haben wird, wird auch die Konklusion einen Wahrheitswert < 1 haben.) Die fuzzy-logische Erwiderung auf Sorites erfordert jedoch eine kritische Randbemerkung: In jeder Sorites-Reihe gibt es einen scharfen Schnittpunkt zwischen Sätzen, die (noch) ganz wahr sind, das heißt den Wahrheitsgrad 1 erhalten, und denen, die einen Wahrheitsgrad < 1 zugewiesen bekommen.43 Es scheint aber kennzeichnend für Sorites-Kontinuen zu sein, dass sie einen solchen scharfen Schnitt gerade nicht stützen. Diese Schwierigkeit teilt die Fuzzy-Logik mit anderen mehrwertigen Logiken. Gleiches gilt für das philosophisch grundlegendere Problem, was denn die Wahrheitsgrade, die fuzzy-logischen Wahrheitswerte, eigentlich bedeuten sollen. Wir haben ein intuitives Verständnis davon, was es bedeutet zu sagen, eine Proposition sei wahr: Wenn „Gestern war ich beim Friseur“ falsch ist, dann war ich gestern nicht beim Friseur (und umgekehrt). Wenn „Es ist keine Milch mehr im Kühlschrank“ wahr ist, dann ist keine Milch mehr im Kühlschrank (und umgekehrt). „P“ ist wahr genau dann, wenn P, und falsch genau dann, wenn nicht P. Nichts anderes möchte Tarskis Charakterisierung des Wahrheitsbegriffes einfangen.44 Was aber soll es bedeuten, „a ist F“ sei zu 0,73 wahr? Man könnte versucht sein zu antworten: „Nun, dass a nur zu einem Grad von 0,73 F ist.“ Aber 42 Die Details der Fuzzy-Logik können hier außer Betracht bleiben. Gute Darstellungen finden sich z. B. bei Priest (2001), Kap. 11, Zimmermann (1991), Bothe (1995) sowie bei Bandemer/Gottwald (1995). 43 Priest (2001), Kap. 11.3.10. 44 Tarski schließt sich an Aristoteles’ Bestimmung von Wahrheit und Falschheit an: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr.“ Metaphysik 1011 b.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
hilft uns das wirklich weiter? Wir haben ein intuitives Verständnis davon, was es bedeutet zu sagen „Diese Tomate ist wohl noch nicht reif; sie ist noch nicht richtig rot“ oder „Schau mal, diese Mohn-Blüte da: was für ein knalliges Rot!“ oder „Das nennst Du Rot? Das ist bestenfalls Hellrot; ich würde aber eher sagen: Rosa“ usw. Verstehen wir wirklich, was es bedeuten soll, diese Tomate da sei nur zu 0,43 rot, will sagen: geht unser Verständnis für diesen Zahlenwert über die Intuition hinaus, die Tomate sei „nur schwach rot“ („hellrot“, „noch nicht reif“)? Die Einführung von nicht-klassischen Wahrheitswerten – oder sogar von unendlich vielen Wahrheitsgraden – mag vielleicht eine Strategie absichern, Sorites zu blockieren. Man löst auf diesem Wege ein Problem jedoch nur zu dem Preis, ein anderes (und vielleicht philosophisch viel grundlegenderes) aufzuwerfen: „Solche verfeinerten Wahrheitswerte sind nutzlos, wenn wir nicht wissen, was sie überhaupt bedeuten sollen.“ 45 Man kann dieses Problem mit Pinkal noch zuspitzen: Verfeinerte Wahrheitsgrade sind nicht einfach nur mysteriös; ihr Gebrauch ist mit dem „Problem der intuitiv unhaltbaren Überpräzisierung“ verbunden46, denn die Genauigkeit von Wahrheitsgraden übersteigt alles, was Sprecherintuitionen oder Eigenschaften des betreffenden Sachverhaltes für die Zuweisung derartiger Wahrheitswerte hergeben.47 „Wie soll man entscheiden, ob ein bestimmter – einfacher oder komplexer – Satz zu 0.72 oder 0.73 oder auch 0.82 ,wahr‘ ist?“ 48 Wie wollte man die Behauptung begründen, es sei weder zu 0,55 noch zu 0,57, sondern exakt zu 0,56 wahr, dass diese Tomate hier reif sei? Die Einführung unendlich vieler Wahrheitswerte verschafft keinen Ausgang aus dem, was Blau das „Vagheitsdilemma“ genannt hat:49 „Wollen wir die klassische Logik anwenden, so sind wir zu einem unsinnig scharfen Schnitt gezwungen; führen wir zwischen wahr und falsch eine unbestimmte (neutrale) Zone ein, so kommen wir den Phänomenen vielleicht etwas näher, aber die beiden nun erforderlichen Schnitte sind ebenfalls willkürlich; führen wir weitere Wahrheitswerte ein, so werden sie zunehmend nichtssagend und ziehen immer noch willkürliche Grenzen; lassen wir schließlich unendlich viele Wahrheitswerte zu, so ist die Klassifikation scharf genug, aber auch schon zu scharf, also wieder willkürlich, und überdies ist der Zusammenhang mit den ursprünglichen Begriffen wahr und falsch so ziemlich verlorengegangen, wir wissen nicht, was diese ,Wahrheitswerte‘ noch bedeuten sollen.“ 50
45
Blau (1978), S. 27. Pinkal (1985), S. 133. 47 Vgl. dazu auch Keil (2011). Keil argumentiert, dass die Gradierung des Wahrheitsprädikates das Problem von der falschen Seite her angeht. 48 Pinkal (1985), S. 132. 49 Blau (1978), S. 28. 50 Ebd. 46
E. Fuzzy-Logik
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III. Anwendung im Recht 1. Anwendung Die Fuzzy-Logik kann anscheinend ganz zwanglos der Intuition Rechnung tragen, dass es viele Eigenschaften gibt, die in größerem oder geringerem Grade realisiert sein können, und dass sich das Sorites-Paradoxon unter anderem aus der Nichtberücksichtigung dieser Tatsache speist. Viele kleine und für sich genommen zu vernachlässigende Unterschiede summieren sich eben mit der Zeit sehr wohl zu einem großen und – für die Anwendung von „F“ – relevanten.51 Insbesondere die Fähigkeit der Fuzzy-Logik, Grade der Realisierung von Eigenschaften abbilden zu können, macht sie für die Anwendung im Recht interessant: Zwar ist die Subsumierbarkeit eines Falles unter eine Norm letztlich eine Frage des Entweder-oder. Ein Vertrag kann nicht ein wenig unwirksam sein, ein Angeklagter kann nicht nur ein bisschen des Diebstahls schuldig gesprochen und daher nur ein bisschen bestraft werden. Gleichwohl ist die Erfüllung von gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen oftmals eine Frage des Mehr oder Minder. Es überrascht daher nicht, dass einige Juristen versucht haben, die Fuzzy-Logik für die Lösung von Schwierigkeiten bei der Subsumtion fruchtbar zu machen, die durch Gradualität bedingt sind. Es sind hauptsächlich zwei Problemkomplexe, bezüglich derer man sich Hilfe von der Fuzzy-Logik erhofft, nämlich die kompensatorische Verknüpfung von Tatbestandsmerkmalen und die Operationalisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen. Kompensatorische Verknüpfung:52 Für die Begriffsbestimmung des Wuchers nach § 138 Abs. 2 BGB53 sind zwei Merkmale von besonderer Bedeutung: die „Ausnutzung einer Zwangslage“ beziehungsweise die damit gleichwertigen Defizite auf Seiten des Geschädigten, wie sie im Gesetz genannt werden, und das „auffällige Missverhältnis zwischen Vermögensvorteil und Leistung“. Wenn nun beide Merkmale zwar vorliegen, das eine jedoch stark ausgeprägt, das andere nur schwach, dann stellt sich die Frage, ob das Rechtsgeschäft trotzdem als wucherisch (und damit nichtig) zu beurteilen wäre. Bei logisch striktem ^ kann die niedrige Ausprägung eines Konjunktionsgliedes nicht durch die starke Ausprägung eines anderen Konjunktionsgliedes ausgeglichen werden. Für viele Entscheidungssituationen wäre jedoch genau dies 51 Wobei dann immer noch gefragt werden könnte, wann der Unterschied groß genug ist, um einen „relevanten“ Unterschied auszumachen. 52 Vgl. hierzu und im Folgenden Philipps (1995). 53 „Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
wünschenswert, etwa bei der Kreditvergabe, wenn von einer größeren Anzahl relevanter Merkmale eines oder einige wenige gering, die anderen aber stark bis sehr stark ausgeprägt sind. In der fuzzy-logischen Literatur wurden verschiedene Vorschläge für die Modellierung kompensatorischer ^ und _-Verknüpfungen unterbreitet, so zum Beispiel „fuzzy and“ und „fuzzy or“:54 Das „fuzzy and“ wird definiert als:55 ^FL
A~
x; O~
x minfA~
x; O~
xg
1
A~
xO~
x 2
Das „fuzzy or“ wird entsprechend unter Verwendung des max-Operators definiert als:56 _FL
A~
x; O~
x maxfA~
x; O~
xg
1
A~
xO~
x 2
In beiden Fällen ist x 2 X, g 2 [0, 1].57 Dabei drückt der Operator g die Nähe des fuzzy Junktors zu striktem ^ beziehungsweise _ aus: Für g = 1 ist das ^FL äquivalent zum min-Operator, das _FL zum max-Operator. Für g = 0 erhält man in beiden Fällen das arithmetische Mittel.58 Grundsätzlich gilt: je kleiner g, desto stärker die Kompensation. Man kann sich das leicht durch ein simples Rechenbeispiel verdeutlichen: Seien A und O zwei Tatbestandsmerkmale, also zum Beispiel „Ausnutzung einer Zwangslage“ und „auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Vermögensvorteil“, die beide erfüllt sein müssen, damit die Rechtsfolge, etwa Nichtigkeit wegen Wuchers, eintritt. Der vom Gericht zu entscheidende Fall sei nun so geartet, dass das eine Tatbestandsmerkmal sehr stark ausgeprägt ist, das andere dagegen eher schwach. Es sei also mÃ(x) = 0,9 und mÕ(x) = 0,4.59 Außerdem sei g1 = 0,3, g2 = 0,5 und g3 = 0,7. Verwendet man nun obige Formel für die Berechnung des ^FL, so erhält man in Abhängigkeit von gi folgende Werte:
1 : ^FL
A~
x; O~
x 0;3 0;4 0;71;3 0;12 0;455 0;575 2 0;2 0;325 0;525
2 : ^FL
A~
x; O~
x 0;5 0;4 0;51;3 2 0;28 0;195 0;475
3 : ^FL
A~
x; O~
x 0;7 0;4 0;31;3 2
54 Vgl. dazu und für Kriterien, an denen sich die Auswahl der Verknüpfung in Abhängigkeit vom jeweiligen Problemgebiet orientieren kann, Zimmermann (1991), S. 36– 43. 55 Zimmermann (1991), Definition 3-19, S. 36. 56 Ebd. 57 Für einen Alternativvorschlag für die Definition des kompensatorischen ^ siehe Zimmermann (1991), Definition 3-20, S. 37. 58 Zimmermann (1991), S. 37. 59 Eine wichtige Einschränkung für die Kompensation in rechtlichen Zusammenhängen besteht darin, dass mÃ(x) bzw. mÕ(x) niemals = 0 sein darf. Diese Bedingung ist nicht mathematischer sondern rechtsdogmatischer beziehungsweise rechtsstaatlicher Natur: Wenn ein Tatbestandsmerkmal klarerweise nicht erfüllt ist, dann darf der Fall nicht unter die betreffende Norm subsumiert werden (Gesetzesbindung).
E. Fuzzy-Logik
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Wenn man die Schwelle für Subsumierbarkeit bei m(x) > 0,5 ansetzt, dann wurde unter Voraussetzung von g1 und g2 die schwache Ausprägung von O soweit durch die starke Ausprägung von A kompensiert, dass der Fall noch unter die betreffende Norm subsumierbar ist. Operationalisierung unbestimmter Rechtsbegriffe:60 Wenn zur Bestimmung des gesetzlichen Tatbestandes unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet werden, dann stellt sich die rechtsdogmatische Frage, wie diese Begriffe so expliziert werden können, dass ein Gericht in die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ein Fall unter diese Begriffe und damit unter die betreffende Rechtsnorm fällt. Ist die Explikation gelungen, so steht man häufig vor der Schwierigkeit, dass die explizierenden Bestimmungen beziehungsweise die von ihnen bezeichneten Merkmale in unterschiedlichen Graden ausgeprägt sein können, wodurch die bereits erörterte Frage aufgeworfen wird, ob Subsumtion möglich (beziehungsweise vertretbar) ist, sollten einige Merkmale sehr schwach, die Mehrzahl der anderen hingegen deutlich oder sehr stark ausgeprägt sein. Zur rechtsdogmatischen Explikation eines Rechtsbegriffes kann die Fuzzy-Logik naturgemäß nichts beitragen. Dass zur Explikation des Begriffes der „überragenden Marktstellung“ gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen61 neben den im Gesetz genannten Bestimmungen der Finanzkraft, des Marktanteils, des Zugangs zu Absatzmärkten etc. sinnvollerweise auch der Vorsprung eines Unternehmens in der Forschung oder sein Vorsprung beim Zugang zu Subventionen zu berücksichtigen ist, ergibt sich ja nicht aus gradierbarer Mengenzugehörigkeit, sondern aus der Natur der Sache sowie den Regelungsabsichten des Gesetzgebers und der gefestigten Rechtsprechung relevanter Gerichte. Fuzzy-Logik kann erst dann ins Spiel kommen, wenn die Identifizierung von Merkmalen des unbestimmten Rechtsbegriffes abgeschlossen ist. Verdeutlichen wir uns dies am Beispiel der „marktbeherrschenden Stellung“.62 Eine solche liegt nach § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB unter anderem vor, wenn ein Un60 Ich orientiere mich für die folgende Darstellung an Krimphove (1999) und an Philipps (1993). Für weitere Nachweise zur Rezeption der Fuzzy-Logik im Recht vgl. Joerden (2010), Kap. 8. 61 „Ein Unternehmen ist marktbeherrschend, soweit es als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt [. . .] eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat; hierbei sind insbesondere sein Marktanteil, seine Finanzkraft, sein Zugang zu den Beschaffungs- oder Absatzmärkten, Verflechtungen mit anderen Unternehmen, rechtliche oder tatsächliche Schranken für den Marktzutritt anderer Unternehmen, der tatsächliche oder potentielle Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes ansässige Unternehmen, die Fähigkeit, sein Angebot oder seine Nachfrage auf andere Waren oder gewerbliche Leistungen umzustellen, sowie die Möglichkeit der Marktgegenseite, auf andere Unternehmen auszuweichen, zu berücksichtigen.“ 62 Ich übernehme dieses Beispiel von Krimphove (1999), entwickle es jedoch im Vergleich zu seiner Darstellung stark vereinfacht.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
ternehmen eine „überragende Marktstellung“ erlangt hat.63 Das Gesetz enthält ferner eine nicht-abschließende Liste von Merkmalen, die eine überragende Marktstellung im Sinne von § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB charakterisieren. Die Beantwortung der Rechtsfrage, ob ein Unternehmen U eine überragende Marktstellung und damit eine marktbeherrschende Stellung im Sinne von GWB einnimmt, könnte sich dann in folgenden Schritten vollziehen: Zuerst muss man das rechtsdogmatische Problem, also die Explikation des Begriffes der überragenden Marktstellung angehen. Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, dass sich diese nur nach Marktanteil (MA) und Finanzkraft (FK) eines Unternehmens bemisst. Wenn mindestens eines der Merkmale gar nicht erfüllt ist, dann ist das Vorliegen einer überragenden Marktstellung zu verneinen, und wenn beide sehr stark erfüllt sind, dann ist sie zu bejahen. Was aber, wenn beide Merkmale nicht nur unterschiedlich stark erfüllt sind, sondern das eine auch „eher schon“, das andere „eher nicht“? Soll man fordern, dass beide „eher erfüllt“ sein müssen, oder soll sich das Eher-erfüllt des einen kompensierend auf das Eher-nicht-erfüllt des anderen Merkmales auswirken? Und wie stark soll die Kompensation ausfallen, das heißt welchen Wert soll g erhalten? Und wo soll man die Schwelle für Subsumierbarkeit ansetzen, das heißt welchen Gesamtzugehörigkeitsgrad muss die (wie auch immer geartete) Verknüpfung mMA(U)
mFK(U) ergeben, damit der Fall des betrachteten Unternehmens unter den Begriff der überragenden Markstellung fällt? Diese rechtlichen und rechtspolitischen Fragen müssen beantwortet werden, bevor Fuzzy-Logik ins Spiel kommen kann. In einem zweiten Schritt muss man die (fuzzy-logisch sogenannten) sprachlichen Variablen („linguistic variables“) „Marktanteil“ und „Finanzkraft“ näher bestimmen: Fuzzy-logisch ist eine sprachliche Variable charakterisiert durch ein Quintupel hx, T(x), U, G, Ãi.64 Dabei ist „x“ der Name der Variable, also etwa MA, FK oder auch „Lebensalter“. „T(x)“ denotiert das sogenannte „term set“ von x, die Menge der Namen der sprachlichen Werte von x, wobei jeder dieser Werte eine fuzzy Variable bildet, deren Range das Diskursuniversum U mit der Basisvariable u ist: Für „Lebensalter“ könnte „T(x)“ etwa folgende Menge sprachlicher Werte bezeichnen: T(x) = {sehr jung, jung, mittel, alt, sehr alt}. (Jeder dieser Termini bezeichnet eine fuzzy Menge!) Für die Basisvariable u könnte man Altersangaben in Lebensjahren einsetzen, so dass das Diskursuniversum U eine Menge von Altersangaben bildet, z. B. {1, 2, 3, . . ., 99, 100}. „G“ bezeichnet eine Grammatik, das heißt eine Menge von Regeln, durch die man die 63 „Marktbeherrschende Stellung“ und „überragende Marktstellung“ müssen und werden in den folgenden Überlegungen sorgfältig unterschieden werden, um Verwirrung zu vermeiden und den Nachvollzug der fuzzy-logischen Operationalisierung nicht zu gefährden. 64 Ich übernehme hier die Explikation von Zimmermann (1991), Definition 9-1, S. 132. Die verwendete Terminologie wird jedoch in der Fuzzy-Logik allgemein gebraucht.
E. Fuzzy-Logik
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sprachlichen Werte in T(x) erhält, also etwa „Menschen, die jünger als 10 Jahre sind, sind sehr jung“ oder „Menschen, die älter als 65 Jahre sind, sind alt“ usw. Diese Regeln sind Gebrauchsregeln oder im Hinblick auf das interessierende Diskursuniversum U gebildete Ableitungen aus Gebrauchsregeln für natürlichsprachige Ausdrücke. Wie viele sprachlichen Werte man in T(x) aufnimmt und welche Regeln man dementsprechend berücksichtigt (in G aufnimmt), ist dabei von pragmatischen Gesichtspunkten wie etwa der Natur des fuzzy-logisch zu modellierenden und zu lösenden Problems abhängig. „Ó schließlich bezeichnet eine Menge an semantischen Regeln, die jedem sprachlichen Wert seine Bedeutung in Form einer fuzzy Menge über U zuweist: Regel m1 etwa weist die Lebensjahre von 1 bis 10 mit Zugehörigkeitsgrad 1 dem Wert „sehr jung“, mit Zugehörigkeitsgrad 0,2 dem Wert „jung“ und mit Zugehörigkeitsgrad 0 den Werten „mittel“, „alt“ und „sehr alt“ zu, und so für alle anderen Altersangaben und sprachlichen Werte. Für MA und FK stellt sich daher die Frage, in welches term set man sie zerlegen und welche Elemente das jeweilige Diskursuniversum enthalten soll. Ersteres wird davon abhängen, wie fein man differenzieren möchte, Letzteres davon, welche messbaren Größen man als Basis für die Bestimmung von Marktanteil und Finanzkraft, und letztlich für die Zuschreibung einer überragenden Marktstellung sachlich angemessen findet. Für MA könnte man zum Beispiel den Umsatzanteil (in Prozent) eines Unternehmens am Marktvolumen zugrunde legen und FK als Fähigkeit eines Unternehmens bestimmen, Finanzierungsmittel aus eigener Kraft (durch betriebliche Tätigkeit) zu erwirtschaften (ausgedrückt als Gewinn nach Steuern). Die Menge der sprachlichen Variablen könnte in beiden Fällen lauten: T(x) = {sehr klein (SK), klein (K), mittel (M), groß (G), sehr groß (SG)}. Die Zugehörigkeitsfunktionen mMA(x) und mFK(x) könnten dann so definiert sein, dass ein Unternehmen mit einem Marktanteil von 10 % zu 0,5 einen sehr kleinen, zu 0,8 einen kleinen, zu 0,2 einen mittleren und zu jeweils 0 einen großen beziehungsweise sehr großen Marktanteil hat. Ein Unternehmen mit einem Nachsteuergewinn von zum Beispiel 100 Mio. Euro wäre entsprechend dann nicht einfach finanzstark oder finanzschwach, sondern hätte beispielsweise zu 0,3 sehr kleine, zu 0,4 kleine, zu 0,7 mittlere, zu 0,1 große und zu 0 sehr große Finanzkraft. Die Frage wäre nun, wie man aus dieser fuzzy Einordnung des Unternehmens eine nicht-fuzzy Aussage über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen seiner marktüberragenden Stellung gewinnt. Um sie zu beantworten, muss man in einem dritten Schritt die sog. Regelbasis (RB) definieren. Diese ist eine Menge von Regeln der Form „Wenn . . . dann . . .“, welche die sprachlichen Eingangswerte, hier also die sprachlichen Werte von MA und FK, also {SKMA, KMA, MMA, GMA, SGMA} und {SKFK, KFK, MFK, GFK, SGFK}, in Bezug zu (noch zu bestimmenden) sprachlichen Ausgangswerten der sprachlichen Variable „überragende Marktstellung“ (ÜM) setzen. Die Aufstellung dieser Regelbasis ist, wie schon die rechts-
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
dogmatische Explikation der involvierten gesetzlichen Bestimmungen, kein fuzzy-logisches Problem, sondern vielmehr abhängig von der Natur des zu steuernden Prozesses, den gesetzten Regelungszielen, und, da wir es mit Beziehungen zwischen natürlichsprachigen Ausdrücken zu tun haben, von unseren sprachlichen Intuitionen. Zunächst müssen wir also eine Menge sprachlicher Werte für „überragende Markstellung“ definieren. Diese könnte etwa folgende sein: {keine, gering, mittel, groß}. Nun können wir uns Regeln überlegen, die sinnvolle Zusammenhänge zwischen MA und FK auf der einen und ÜM auf der anderen Seite ergeben: Wenn etwa ein Unternehmen nur einen kleinen Marktanteil und eine kleine Finanzkraft aufweist, dann hat es sicher keine überragende Marktstellung. Wenn es hingegen einen großen Marktanteil und sogar eine sehr große Finanzkraft aufweist, dann weist es große ÜM auf. Schwieriger sind die Regeln für Fälle zu definieren, in denen ein Merkmal eher gering, das andere jedoch eher stark ausgeprägt ist. Was, wenn ein Unternehmen nur über einen mittelgroßen Marktanteil verfügt, dafür jedoch über eine sehr große Finanzkraft? Zur Beantwortung dieser Frage müssen verschiedene Gesichtspunkte zueinander in Bezug gesetzt und gegeneinander abgewogen werden, also etwa die Intensität des Wettbewerbs auf dem betreffenden Markt, die (rechtlich und sachlich begründete) Einfachheit oder Schwierigkeit der feindlichen Übernahme von Konkurrenten, also der Akkumulation von Marktmacht, die Strenge der Regelungsziele des Gesetzgebers (Vermeidung von Marktmachtkonzentration um jeden Preis oder großzügiges Gewährenlassen des „freien Spiels der Marktkräfte“) usw. Eine solche Regelbasis könnte, dargestellt als Matrix, beispielsweise folgendermaßen aussehen:
^
SKMA
KMA
MMA
GMA
SGMA
SKFK KFK
keine keine
keine keine
keine keine
gering gering
gering gering
MFK GFK
keine gering
keine gering
gering mittel
mittel mittel
mittel groß
SGFK
gering
gering
mittel
groß
groß
Hat man die Regelbasis aufgestellt, muss man in einem vierten Schritt ein Verfahren (auch genannt: „Logik“ oder „Inferenz-Methode“) definieren, mit dessen Hilfe sich aus den fuzzy Eingangswerten für die sprachlichen Werte von MA und FK fuzzy Ausgangswerte für die sprachlichen Werte von ÜM errechnen lassen, also zum Beispiel: Wenn FK sehr klein zu 0,1 und MA sehr klein zu 0,1, dann ÜM keine zu 0,1. Wenn FK sehr klein zu 0,1 und MA klein zu 0,3, dann ÜM keine zu . . . usw.
E. Fuzzy-Logik
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Bei der fuzzy-logischen Steuerung von technischen Prozessen würde man nun in einem fünften Schritt noch eine Methode der Defuzzifikation wählen, deren Anwendung auf das Ergebnis, das man durch Anwendung der Inferenz-Methode auf die fuzzy Eingangswerte erhalten hat, einen präzisen Stellwert für den Regler ergibt.65 Im Recht müsste man, um im Beispiel zu bleiben, eine Defuzzifikationsmethode wählen, welche die Wertverteilung für ÜM in eine Entscheidung der Rechtsfrage „Nimmt das Unternehmen U eine marktbeherrschende Stellung nach § 19 Abs. 2 Nr. 2 GWB ein?“ transformiert. Übrigens gilt auch für die Wahl der Defuzzifikationsmethode, dass es sich dabei nicht um ein fuzzy-logisches Problem handelt, sondern um eine Entscheidung, die im Hinblick auf Kapazitäten (einige Methoden erfordern hohen Rechenaufwand), Art des zu regelnden Prozesses beziehungsweise hier der Rechtsmaterie und Rechtsfrage usw. getroffen werden muss. Auch hier kann Fuzzy-Logik erst ins Spiel kommen, wenn man sich über diesen Punkt verständigt hat. 2. Kritik Wie man sieht, wird die auf Fuzzy-Logik gestützte Entscheidung eines Rechtsfalles desto aufwendiger, je mehr man das Verfahren der fuzzy-logischen Regelung von technischen Vorgängen annähert. Es wäre daher zu fragen, ob die Kosten für den Einsatz von Fuzzy-Logik im Recht in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erzielten Nutzen stehen. Die Antwort auf diese Frage wird auch davon abhängen, ob Fuzzy-Logik im Recht das hält, was sich die Befürworter ihrer Anwendung davon versprechen. Dass sich mit fuzzy-logischen Mitteln das Sorites-Paradoxon lösen beziehungsweise seine Entstehung verhindern lässt, kann man zugestehen. (Die fuzzylogische Lösung von Sorites enthält zugleich den Grund dafür, warum Soritesförmige Argumente im Recht problematisch sind: Da mindestens eine der Prämissen einen Wahrheitswert < 1 haben wird – abhängig davon, wo in der SoritesReihe man beginnt –, wird auch die Konklusion einen Wahrheitswert < 1 haben.) Wie steht es mit der fuzzy-logischen Entscheidung von Grenzfällen für vage Prädikate? Es hat sich gezeigt, dass die eigentliche Arbeit bei der Operationalisierung von unbestimmten (vagen) Rechtsbegriffen rechtsdogmatischer, das heißt begrifflicher Natur ist, und geleistet werden muss, bevor Fuzzy-Logik zum Einsatz kommen kann. Das gilt mutatis mutandis für Rechtsanwendung insgesamt: Dass diese Norm für den jetzt zu entscheidenden Fall einschlägig ist und nicht jene, dass der vollständige Rechtssatz, mit dem der Fall zu entscheiden ist, nicht identisch mit beispielsweise der Bestimmung in § 212 Abs. 1 StGB (Totschlag), also einer Einzelnorm des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches ist, sondern 65
Vgl. zu diesen beiden Arbeitsschritten die Beispiele in Bothe (1995), Kap. 8.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
sich erst unter Einbeziehung von Vorschriften des Allgemeinen Teils etwa über Rechtswidrigkeit oder Vorsatz ergibt, dass Fallentscheidungen durch Analogieschlüsse im Zivilrecht zulässig sind (zumindest unter bestimmten Voraussetzungen), im Strafrecht hingegen nicht usw. – alle diese Selbstverständlichkeiten, von denen die Fallentscheidung maßgeblich abhängt, haben mit Fuzzy-Logik nichts zu tun. Nun könnten die Befürworter von Fuzzy-Logik im Recht sagen: „Richtig, aber das ist auch gar nicht nötig. Für die juristischen Details gibt es ja schließlich juristische Experten. Fuzzy-Logik soll nur als ein rationales Verfahren dienen, Grenzfälle begründet zu entscheiden, und zwar eben dadurch, dass man Graustufen einführt.“ Man muss jedoch fragen, ob gerade die Einführung von Graustufen im Recht möglich und zulässig ist: Der Clou an der fuzzy-logischen Modellierung von Grenzfällen besteht darin, dass diese Fälle genauso behandelt werden können wie (mehr oder weniger) klare Fälle. Wenn a ein Grenzfall für das vage Prädikat „F“ ist, dann markiert „a ist F“ nicht etwa eine semantische oder epistemische Unbestimmtheitsstelle. Stattdessen bekommt diese Proposition genauso einen Wahrheitswert wie Propositionen bezüglich klarer Fälle, nur ist dieser Wahrheitswert kleiner als bei klaren F-Fällen (und größer als bei klaren Nicht-FFällen). Das Problem mit diesen Wahrheitswerten besteht aber nun darin, dass sie willkürlich sind: Auf unsere sprachlichen Intuitionen können wir für die Zuweisung von fuzzy Wahrheitswerten nicht rekurrieren, denn, wie Pinkal ausgeführt hat, es ist gerade die Hyper-Präzision dieser Wahrheitswerte, die ihre Zuweisung für kompetente Sprecher intuitiv unhaltbar macht. In technischen Zusammenhängen kann dieser Umstand übergangen werden. Dort verfügt man (1) über Messverfahren, die es erlauben, Zustände der physikalischen Basis (Luftdruck, Temperatur der Schmelze etc.) auf einer Skala (926 hpa, 2.000 ëC) abzubilden, und man verfügt (2) über Zuordnungsfunktionen, welche diesen Skalenwerten fuzzy Zugehörigkeitsgrade zu den sprachlichen Variablen („niedrig“, „mittel“, „hoch“, „sehr hoch“ o. Ä.) zuweisen. Auf die Frage „Warum ist der Luftdruck gerade zu 0,745 niedrig, und nicht zu 0,744 oder 0,746?“ kann man dann folgendermaßen antworten: „Weil das der Zugehörigkeitsgrad ist, den wir erhalten, wenn wir den Messwert in die Zugehörigkeitsfunktion einspeisen, und den Messwert haben wir durch Anwendung der zuvor definierten Messverfahren erhalten“. Im Recht kann man diese Antwort jedoch nicht geben, zumindest in vielen Fällen nicht, denn es gibt für viele unbestimmte Rechtsbegriffe – vermutlich für die meisten der kombinatorisch vagen Rechtsbegriffe – wie etwa „sittenwidriges Rechtsgeschäft“ keine physikalische Basis analog zu Temperatur, Helligkeit, elektrischer Spannung oder auch Jahresumsatz, zu der man eine Skala aufstellen könnte.66 Genauer gesagt sind im Recht für einige sprachliche Variablen hx, T(x), U, G, Ãi 66 Dies gilt natürlich nicht für „erheblicher Vermögensschaden“ und ähnliche, quantitativ vage Rechtsbegriffe.
E. Fuzzy-Logik
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die Elemente des Diskursuniversums U§ derart, dass sich keine Skala angeben ließe, so dass man vermittels Messung einem Element aus U§ eine Stelle auf dieser Skala und damit einen Zahlenwert zuordnen könnte, der dann durch Zugehörigkeitsfunktionen m1, . . ., mn in das Intervall [0, 1] abgebildet würde – also in die Menge der Zugehörigkeitsgrade zu den Elementen des term set T(x), der Menge der sprachlichen Werte von x: Die Eigenschaften, welche die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäftes konstituieren, sind nun einmal keine physikalischen Eigenschaften, für die es ein Messverfahren gäbe.67 Operiert man trotzdem mit fuzzy Zugehörigkeitsgraden, so muss man sich darüber im Klaren sein, dass man es hier nicht mit absoluten Zahlen zu tun hat, sondern – überspitzt gesagt – mit dem Ausdruck von Bauchgefühl oder mit Über-den-Daumen-Peilen. Diese Zahlen sind willkürlich, insofern man keinen zureichenden Grund angeben kann, warum man den Wert 0,7 zugewiesen hat – und nicht etwa 0,69 oder 0,71. Deshalb wäre eine mit fuzzy Graden operierende Rechtsanwendung wenig mehr als mathematisch verbrämte Willkür-Justiz. Nun ist nicht ausgeschlossen, so könnte man denken, dass sich, zumindest für einige Rechtsbegriffe, Messverfahren, Skalen und Zugehörigkeitsfunktionen definieren ließen, nachdem man die rechtsdogmatische Aufgabe erledigt, den unbestimmten Rechtsbegriff expliziert und die Explikate durch geeignete sprachliche Werte strukturiert hat. Vielleicht, so der Gedanke, ließen sich dann Rechtsfälle fuzzy-logisch entscheiden. Die Schwierigkeiten bei der Verwendung von FuzzyLogik im Recht wären dann nur vorläufig. Diese Überlegung übersähe jedoch zweierlei: Zum einen ist zu bedenken, dass im Recht nicht nur irgendwie, sondern nach Gesetz (und Recht) entschieden werden muss. Es muss eine gesetzliche Grundlage für die verwendeten Skalen, Funktionen etc. geben, und eine solche fehlt bislang völlig. (Entsprechendes gilt übrigens für die Aufstellung der Regelbasis, die Festlegung eines Wertes als Subsumtionsschwelle und die Wahl beziehungsweise Bestimmung der Inferenz- und Defuzzifikationsmethode.) Der Gesetzgeber hat bislang keine Skala für Sittenwidrigkeit aufgestellt und auch keine Zugehörigkeitsfunktion definiert. Solange dies aber nicht geschehen ist, wäre eine Entscheidung von Rechtsfällen durch Fuzzy-Logik ein Verstoß gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, nämlich ein Verstoß gegen die Grundsätze der Gesetzesbindung der Rechtsprechung und der nichtwillkürlichen, begründeten Entscheidung. Vielleicht kann eine fuzzy-logische Skizze beziehungsweise Veranschaulichung dem Richter in manchen Fällen eine Hilfe bei der Bewertung von Merkmalen des Sachverhaltes oder der Ge67 Ausnahmen bilden vielleicht wucherische Kredit- oder Mietverträge, weil es hier u. a. auf das „auffällige Missverhältnis zwischen Vermögensvorteilen und Leistung“ ankommt, das man als Zahlenwert ausdrücken kann. Allerdings kommen nach § 138 Abs. 2 BGB noch weitere Voraussetzungen hinzu, nämlich die „Ausbeutung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen“.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
wichtung von rechtlichen Gesichtspunkten und damit eine Entscheidungshilfe sein. Eine Entscheidungshilfe liefert jedoch noch kein rechtlich akzeptables Entscheidungsverfahren, und erst recht keine rechtlich akzeptable Begründung für die Entscheidung. Zum anderen scheint sich das Unbehagen, das manche Befürworter der Verwendung von Fuzzy-Logik im Recht überkommt, wenn sie sich eine fuzzy-logisch operierende Justiz neuen Typs ausmalen, nicht oder doch nicht nur dem Umstand zu verdanken, dass auf dem Weg dorthin enorme praktische Schwierigkeiten zu überwinden sind. Die Gründe für dieses Unbehagen sind, wie bei Krimphove deutlich wird, prinzipieller Natur. Er weist zu Recht darauf hin, dass es in der juristischen und vor allem gerichtlichen Behandlung und Entscheidung von Fällen auf Argument und Diskussion ankommt, auf die Auseinandersetzung mit und die Einbeziehung von anderen Interpretationen und Standpunkten, auf die Bewertung von Handlungen, die Zuweisung von Verantwortung und die Gewichtung von Gründen – nicht auf Berechnung, sondern auf Rechtfertigung.68 Es kommt darauf an, könnte man ergänzen, weil nur dann, wenn die Justiz einen Raum der Gründe eröffnet, gewährleistet ist, dass das Recht dem fundamentalen Anliegen gerecht wird, seine Adressaten als Vernünftige und Freie Ernst zu nehmen, für die und über die Recht gesprochen wird – was etwas anderes ist als Recht bloß „mechanisch“ auf sie anzuwenden. Die Frage, wie unsere Justiz verfahren soll, ist keine der bloßen Zweckmäßigkeit oder Machbarkeit. Es ist eine Prinzipien-Frage. Es geht nicht darum, dass das komplexe Netz aus Prinzipien und Normen, das wir Recht nennen, und das den prima facie harmlosesten Fall zu einem vertrackten hard case machen kann, fuzzy-logisch nicht abgebildet werden könnte. Nicht, ob wir eine fuzzy-logisch arbeitende Justiz konstruieren können, ist die eigentliche Frage, sondern ob dies wünschenswert und moralisch akzeptabel wäre. Oder anders gefragt: Wo ist unser Anliegen besser aufgehoben – bei einer Justiz, die sich um das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen herum aufbaut, oder bei einem fuzzy-logischen Subsumtionsautomaten? Nun kann man der Fuzzy-Logik nicht vorwerfen, dass sie keinen Ort für das hat, worauf wir in der Justiz Wert legen. Die Fuzzy-Logik ist eben eine Logik, die sich für bestimmte Zwecke hervorragend bewährt hat, und keine Theorie der Rechtsanwendung. Wenn dem aber so ist, dann soll man sie auch in ihrer ökologischen Nische belassen und sie nicht in Gebiete einführen, wo sie vermutlich nicht nützt und vielleicht sogar schadet. Wir können diese Überlegungen abschließend so zusammenfassen: Sorites und Sorites-förmige Argumente sind gültig, aber nicht schlüssig. Das Entscheidungssowie das Abgrenzungsproblem lassen sich fuzzy-logisch auflösen, allerdings zu dem Preis, dass das Begründungsproblem bestehen bleibt. 68
Vgl. Krimphove (1999), S. 571.
F. Supervaluationismus
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F. Supervaluationismus I. Das Konzept Der Supervaluationismus zeichnet sich nach Ansicht seiner Befürworter durch drei attraktive Merkmale aus, die den konkurrierenden Ansätzen fehlen:69 Erstens trägt er der Intuition Rechnung, dass Aussagen über das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen von vagem „F“ auf Grenzfälle zwar weder wahr noch falsch zu sein scheinen, jedoch auch keinen dritten (oder irgendeinen anderen numerischen) Wahrheitswert annehmen. Zweitens beinhaltet er keine Festlegung auf die problematische These, dass vage Prädikate allem Augenschein zum Trotz scharfe Grenzen ziehen. Supervaluationisten sind also nicht darauf festgelegt zu behaupten, dass es etwas in unserer Sprache, ihrem Gebrauch oder der Welt gibt, das solche scharfen Prädikatgrenzen festlegen und Prädikationen auch in Grenzfällen wahr oder falsch machen würde. Drittens erlaubt es der Supervaluationismus, große Teile der klassischen Logik beizubehalten, das heißt einer Logik, die sich wie keine andere im Alltag ebenso wie für wissenschaftliche Zwecke bewährt hat.70 Der Supervaluationismus nimmt Grenzfall-Vagheit als ein semantisches Phänomen ernst. Die Prädikation von vagem „F“ in einem Grenzfall liefert einen Satz, der keinen der zwei klassischen Wahrheitswerte wahr oder falsch annimmt (und auch keinen dritten Wahrheitswert), sondern eine Wahrheitswertlücke aufweist.71 Diese Lücke lässt sich jedoch beheben, wenn man „F“ entsprechend modifiziert. Man nehme beispielsweise das Prädikat „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ in § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB. Trifft es zu, so hat man es strafrechtlich mit einem besonders schweren Fall von Betrug zu tun, für den das Strafmaß höher ist. Dieses Prädikat trifft auf Vermögensschäden in Höhe von 1 Euro sicher nicht zu, auf Vermögensschäden von 10 Mio. Euro jedoch sicher schon. Was aber ist mit Vermögensschäden von 100, 1.000 oder 10.000 Euro? Würden wir unsere Einschätzung ändern, wenn der Geschädigte Sozialhilfe bezieht? Wenn es sich bei ihm um einen Multimillionär oder einen transnationalen Konzern handelt? Wenn wir zugestehen, dass das Prädikat „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ Grenzfälle zulässt, dann, so würden Supervaluationisten sagen, ist es nicht präzise. Allerdings kann man es „schärfen“, „präzisieren“, und zwar auf verschie-
69 Der locus classicus für den Supervaluationismus ist zwar Fine (1975). Entwickelt wurde er allerdings in den 60er Jahren von van Fraassen (wenn auch nicht für die Modellierung von Vagheit). Ein nicht formalisierter supervaluationistischer Ansatz findet sich bereits einige Jahre früher bei Mehlberg (1958). Nachweise bei Keefe (2000), 165 f. Die folgende Darstellung des Supervaluationismus orientiert sich an Keefe (2000), Kap. 7 u. 8. 70 Vgl. Keefe (2000), S. 153. 71 Man kann hier nicht von „Proposition“ sprechen. Dazu gleich mehr. Supervaluationisten verwenden „sentence“ oder „statement“.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
dene Weise: Man könnte etwa stipulieren, dass aus strafrechtlicher Sicht genau dann ein Vermögensverlust großen Ausmaßes vorliegt, wenn der Verlust mindestens 50.000 Euro beträgt. So ist der BGH verfahren.72 Oder man könnte sagen, dass ein Vermögensverlust großen Ausmaßes genau dann vorliegt, wenn der Schaden mindestens n % des jährlichen Netto-Einkommens des Geschädigten beträgt. Oder genau dann, wenn der Schaden mindestens m % des gesamten Vermögens des Geschädigten zum Tatzeitpunkt beträgt usw. Hier wird deutlich, warum Supervaluationisten nicht von „Propositionen“ reden, sondern von „Sätzen“: „A ist F“ drückt ja eine andere Proposition aus als die mithilfe präzisierter Prädikate „F*“, „F**“ gebildeten Statements „a ist F*“ oder „a ist F**“. „A ist F“ ist für Supervaluationisten sozusagen ein hochgradig ambiger Satz. Je nachdem wie „F“ verstanden (präzisiert) wird, drückt er ganz verschiedene Propositionen aus. Es wäre also verfehlt zu sagen, die Proposition F(a) sei unter verschiedenen Präzisierungen von „F“ einmal wahr, ein anderes Mal falsch. Wahrheitswertträger sind im Supervaluationismus nicht Propositionen sondern Sätze. Nicht alle Präzisierungen eines vagen Prädikats „F“ sind aus supervaluationistischer Sicht zulässig: Erstens muss eine Präzisierung, wie auch immer sie ausfällt, den Bereich der Grenzfälle von „F“ vollständig zum Verschwinden bringen. Zweitens sollte eine Präzisierung den Bereich der klaren Fälle intakt lassen, also alle klaren F-Fälle und alle klaren Nicht-F-Fälle erhalten. Eine Präzisierung von „ist schlank“ beispielsweise, die klarerweise fettleibige Menschen als schlank* klassifiziert, ist inakzeptabel. Drittens sollten bestimmte Zusammenhänge – Fine nennt sie „penumbral connections“ – zwischen Sätzen, die weder wahr noch falsch sind, durch die Präzisierung unangetastet bleiben:73 Die konträren Prädikate „ist rot“ und „ist rosa“ sind vage. Die Sätze „Dieser Fleck ist rot“ und „Dieser Fleck ist rosa“ sind weder wahr noch falsch, wenn der Fleck an der Grenze zwischen rot und rosa liegt. Gleichwohl ist der Satz „Dieser Fleck ist rot und rosa“ falsch; der Fleck ist entweder das eine oder das andere, aber nicht beides. Die Präzisierung von „ist rot“ und „ist rosa“ darf nicht so ausfallen, dass „Dieser Fleck ist rot* und rosa*“ wahr ist. Ein anderes Beispiel: Wenn Tim einen Grenzfall von Schlankheit darstellt, und Tom einen kleineren Hüftumfang als Tim hat, dann darf das Ergebnis der Präzisierung nicht sein, dass „ist schlank*“ zwar auf Tim zutrifft, nicht aber auf Tom. Nach jeder Präzisierung eines vagen Prädikates „F“ zu „F*“ lässt sich eine klassische Bewertung von Sätzen „a ist F“, das heißt eine Bewertung mit einem der zwei Wahrheitswerte wahr oder falsch, vornehmen: Da durch die Präzisierung der Bereich der Grenzfälle auf Extension und Antiextension des nunmehr
72 73
BGH NJW 2004, 169 (171). Fine (1975), S. 270, 276 et passim.
F. Supervaluationismus
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präzisen Prädikates aufgeteilt wurde, nimmt jeder Satz dieser Form genau einen der zwei klassischen Wahrheitswerte an. Nun gibt es verschiedene gleich gute zulässige Präzisierungen von „F“. Angenommen, g war ein Grenzfall für das (noch nicht präzisierte) Prädikat „F“ und wir haben nun eine Reihe von unterschiedlichen zulässigen Präzisierungen von „ist F“. Dann gilt zum Beispiel Folgendes: Auf g trifft „ist F*“ zu, „ist F**“ hingegen nicht, „ist F***“ schon, . . . . „G ist F*“ ist also wahr, „g ist F**“ ist falsch, „g ist F***“ ist wahr, . . . Angenommen hingegen, +a war ein klarer Fall von „F“, dann wird sein Status als klarer Fall von keiner zulässigen Präzisierung von „F“ angetastet und „+a ist F*“, „+a ist F**“, „+a ist F***“, . . . sind wahr. War –a ein klarer Fall von „ist nicht F“, dann gilt Entsprechendes: „–a ist F*“, „–a ist F**“, „–a ist F***“, . . . sind falsch. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Sprache, die vage Prädikate enthält, zu präzisieren. Zur Bezeichnung dieser Möglichkeiten hat Fine den Begriff des Spezifikationspunktes eingeführt:74 Jeder Spezifikationspunkt entspricht einer Möglichkeit, mindestens ein Prädikat der Sprache zulässig zu präzisieren, so dass Sätze, die vor der Präzisierung unbestimmt waren, nun klassisch mit wahr oder falsch bewertet werden können. Ein vollständiger Spezifikationspunkt entspricht einer Möglichkeit, alle Prädikate der Sprache zulässig zu präzisieren. Ein nicht vollständiger Spezifikationspunkt ist ein partieller Spezifikationspunkt. Eine Menge von Spezifikationspunkten bildet einen Spezifikationsraum. Jeder dieser Räume hat einen Basispunkt, der den Zustand der Sprache vor aller Präzisierung bezeichnet. Der Begriff des Spezifikationspunktes wird bei der Behandlung der Frage eine Rolle spielen, ob beziehungsweise inwieweit die supervaluationistische Logik klassisch ist. Die Pointe am Supervaluationismus besteht nun darin, keinen dieser möglichen Spezifikationspunkte zu privilegieren (was willkürlich wäre), sondern sie alle gleichermaßen zu berücksichtigen, und für die Beantwortung der Frage, ob ein Satz wahr ist, alle klassischen Bewertungen zugrunde zu legen: Eine Supervaluation75 weist „a ist F“ genau dann den Wert wahrspv zu, wenn der Satz unter allen klassischen Bewertungen nach zulässiger Präzisierung von „F“ den Wert wahr erhält; sie weist „a ist F“ genau dann den Wert falschspv zu, wenn der Satz unter allen klassischen Bewertungen nach zulässiger Präzisierung von „F“ den Wert falsch erhält; und sie weist „a ist F“ in allen anderen Fällen weder den Wert 74 Fine (1975), S 271 f. Vgl. Keefe (2000), S. 166. Ich berücksichtige hier nur zulässige Präzisierungen von Prädikaten und verstehe „Spezifikationspunkt“ entsprechend. Präzisierungen sind nämlich nach Keefe auch bei anderen Arten von Ausdrücken denkbar, etwa bei Eigennamen: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Individuationsvagheit eines Eigennamens wie „München“ zu eliminieren. 75 Neben Fine (1975) vgl. für eine detaillierte Darstellung, die allerdings nicht auf die Behandlung semantischer Vagheit bezogen ist, van Fraassen (1966), (1968); ferner Keefe (2000), Kap. 7 u. 8.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
wahrspv noch den Wert falschspv zu. Wahrheit simpliciter ist supervaluationistisch also Wahrheit an allen Spezifikationspunkten eines Spezifikationsraumes, das heißt Superwahrheit. „+A ist F“ wäre demnach superwahr, „–a ist F“ wäre superfalsch und „g ist F“ wäre weder das eine noch das andere. Der Supervaluationismus akzeptiert also, dass es sinnvolle Sätze gibt, die weder wahr noch falsch sind, und verneint damit die Geltung des semantischen Prinzips der Bivalenz. Der logische Satz vom ausgeschlossenen Dritten, dass also gilt: P _ :P, ist jedoch supervaluationistisch gültig, denn gleichgültig wie man die involvierten Prädikate präzisiert, das heißt gleichgültig wie man den Bereich der Grenzfälle zum Verschwinden bringt: Nach jeder zulässigen Präzisierung von „F“ ist entweder „a ist F“ wahr oder „a ist nicht F“ wahr. Hier zeigt sich eine erste Abweichung der supervaluationistischen Logik von der klassischen Logik: „F(a) _ :F(a)“ ist superwahr, und zwar auch dann, wenn keines der Disjunktionsglieder superwahr ist. Der Supervaluationismus ist also nicht wahrheitsfunktional. Der Supervaluationismus lockt mit zwei attraktiven Angeboten, einer eleganten Lösung des Sorites-Paradoxons und der Beibehaltung – oder, wie sich gleich zeigen wird, zumindest weitgehenden Beibehaltung – der klassischen Logik: Man betrachte die beiden oben unterschiedenen Varianten von Sorites. Die induktive Form lautete: (1) f(a2) (I) 8n: f(an) ! f(an+1) (2) 8n: f(an) ..
Die konditionale Form lautete folgendermaßen: (1) f(a2) (K1) f(a2) ! f(a3) ... (Ki) f(ai-1) ! f(ai) (3) f(ai) ..
Die Argumente sind gültig.76 Wären (1) und (I) superwahr, dann wäre auch (2) superwahr. (I) ist allerdings superfalsch, denn unter jeder zulässigen Präzisierung von „“ gibt es ein ai, so dass zwar noch „(ai)“, nicht jedoch „(ai+1)“ wahr ist. Auch die konditionale Form von Sorites ist zwar gültig. Unter jeder zulässigen Präzisierung von „“ ist aber eine Prämisse aus (K1), . . ., (Ki) nicht wahr. Einige der Prämissen sind also nicht superwahr (was nicht bedeutet, dass sie superfalsch sind). Damit ist auch (3) nicht superwahr. Sorites ist also zwar gültig, aber nicht schlüssig.
76
Gültigkeit verstanden als Erhaltung von Superwahrheit.
F. Supervaluationismus
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Das zweite interessante Merkmal des Supervaluationismus besteht darin, dass er trotz seiner nicht-klassischen Semantik die klassische Logik zu bewahren scheint. Die supervaluationistische Logik ist genau dann klassisch, wenn ihre Folgerungsbeziehung j= spv klassisch ist, wenn also ein Argument von A nach B genau dann klassisch valide ist, wenn es auch supervaluationistisch valide ist. Keefe hat für „Wenn A j= cl B dann A j= spv B“ folgendermaßen argumentiert:77 Angenommen, es gelte, dass A j= cl B, dann ist unter jeder klassischen Bewertung, unter der alle Prämissen in A wahr sind, auch B wahr. Jede klassische Bewertung der Prämissen aus A, bei der B wahr ist, wenn alle Prämissen aus A wahr sind, ist aber eine Bewertung an einem vollständigen Spezifikationspunkt, an dem B wahr ist, wenn alle Prämissen aus A wahr sind, denn an einem solchen Punkt wurden alle Grenzfälle eliminiert und jeder Satz wird mit wahr oder falsch bewertet. Jede klassische Bewertung, unter der gilt, dass A j= B, ist also auch eine supervaluationistische Bewertung an einem vollständigen Spezifikationspunkt, unter der gilt, dass A j= B. Also gilt, dass, wenn A j= cl B, dann A j= spv B. Keefes Argument für „Wenn A j= spv B dann A j= cl B“ lautet so:78 Wenn gilt, dass A j= spv B, dann ist in jedem Spezifikationsraum, in dem alle Prämissen aus A wahr sind, auch B wahr. Jedes klassische Model ist aber nur ein Sonderfall eines supervaluationistischen Spezifikationsraumes, nämlich einer, in dem es nur einen – und zwar vollständigen – Spezifikationspunkt gibt. Also gilt auch in diesem Sonderfall eines Spezifikationsraumes, dass B wahr ist, wenn alle Prämissen aus A wahr sind. Also gilt, dass, wenn A j= spv B, dann auch A j= cl B. II. Probleme Auf den ersten Blick scheint die Strategie des Supervaluationismus aufzugehen: Die klassische Semantik wird geopfert; dafür wird die klassische Logik bewahrt und überdies das Sorites-Paradoxon aus der Welt geschafft. Bei näherer Betrachtung trübt sich das Bild jedoch ein: Erstens ist die Bestimmung von Sätzen anstelle von Propositionen als Wahrheitswertträgern problematisch. Zweitens unterscheidet sich die supervaluationistische Logik von der klassischen Logik, die sie eigentlich bewahren möchte. Drittens scheint sich der Supervaluationismus auf die Annahme scharfer Grenzen in einer Sorites-Reihe festzulegen. Viertens kann Wahrheit simpliciter nicht Superwahrheit sein. Sätze sind Wahrheitswertträger: Nehmen wir folgende induktive Prämisse aus einem Sorites-Argument: (I) „Wenn n Körner keinen Haufen ergeben, dann auch nicht n+1 Körner“. Diese Prämisse ist aus supervaluationistischer Sicht super77 Keefe (2000), S. 175. Für Williamsons Argumente für beide Theoreme vgl. sein (1994), S. 148 f. 78 Keefe (2000), S. 176.
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falsch, denn unter jeder Präzisierung von „Haufen“ ist die Prämisse für ein i falsch. Nun ist (I) für Supervaluationisten hochgradig ambig. Abhängig davon, wie man „Haufen“ präzisiert, erhält man ganz unterschiedliche Propositionen. Für gewöhnlich sagt man aber, dass eine ambige sprachliche Äußerung zuerst disambiguiert werden muss, bevor man die Resultate mit Wahrheitswerten belegen kann.79 Schärfer formuliert: Bevor man eine sprachliche Äußerung nicht disambiguiert hat, liegt überhaupt kein Gebilde vor, das wahr oder falsch sein kann.80 Wie sollte also die noch ambige, da nicht präzisierte Prämisse (I) einen Wahrheitswert haben beziehungsweise einen Wahrheitswert haben können?81 Hier rächt es sich, dass Supervaluationisten Sätze anstelle von Propositionen zu Wahrheitswertträgern machen. Ambiguität ist nämlich ein sprachliches Phänomen, das genau davon abrät. Die supervaluationistische Logik unterscheidet sich von der klassischen Logik: Williamson hat gezeigt82, dass die Gleichwertigkeit von klassischer und supervaluationistischer Validität nur solange gewahrt ist, wie nicht ein Operator „D“ („definitely“) eingeführt wird. „DA“ ist wahr genau dann, wenn „A“ superwahr ist. „DA“ ist also unter einer zulässigen Präzisierung wahr genau dann, wenn „A“ unter allen zulässigen Präzisierungen wahr ist. Wenn „A“ unter allen zulässigen Präzisierungen wahr ist, dann ist auch „DA“ unter allen zulässigen Präzisierungen wahr. „DA“ ist also superwahr genau dann, wenn „A“ superwahr ist. Über den Operator „D“ zu verfügen ist wünschenswert, wenn man ausdrücken können möchte, dass a ein Grenzfall für „F“ und „a ist F“ somit weder superwahr noch superfalsch ist. Wenn „a ist F“ weder superwahr noch superfalsch ist, dann ist auch weder „D: a ist F“ noch „D: a ist nicht F“ superwahr. Wird „D“ jedoch verwendet, dann sind, wie Williamson gezeigt hat, bestimmte für die klassische Logik zentrale Argumentformen nicht mehr gültig, nämlich Kontraposition, Deduktionstheorem, Oder-Beseitigung und reductio ad absurdum.83 Keefe hat zwar supervaluationistische Ersatztheoreme vorgeschlagen.84 Das bestätigt jedoch nur den Verdacht, dass die Revision der klassischen Logik durch den Supervaluatio-
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Vgl. Sorensen (2012). Keil (2011), § 10. 81 Das scheint mir der Kern des Einwandes von Tye (1989), S. 143, zu sein: „More generally, it seems to me that the fact that an ambiguous sentence would be true were it to come out true under all of its permissible disambiguations is not good reason to hold that the sentence is, in fact, true prior to disambiguation.“ Vgl. auch den Einwand von Sanford (1976), S. 206: „Everyone who finds sorites arguments paradoxical acknowledges that there would be no paradox if all the predicates involved were completely precise. Why then should their puzzlement disappear once it is pointed out that the crucial second premise would be false if all the predicates involved were made completely precise?“ 82 Williamson (1994), S. 151 f. 83 Ebd. 84 Keefe (2000), S. 179 ff. 80
F. Supervaluationismus
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nismus weit drastischer ausfällt als für die Attraktivität dieser Logik – gemessen an ihrem Versprechen, die klassische Logik nahezu unversehrt zu erhalten – gut wäre. Der Supervaluationismus ist auf scharfe Grenzen festgelegt: Es scheint, dass der Supervaluationismus Sorites-Vagheit als ein semantisches Phänomen nicht ernst nehmen kann.85 Die induktive Prämisse von Sorites (I) 8n: (an) ! (an+1)
soll superfalsch sein. Ihre Negation ist jedoch äquivalent mit: (:I) 9n: (an) ^ :(an+1)
Das ist nichts anderes als die These, dass es einen scharfen Schnittpunkt zwischen Extension und Antiextension von „F“ gibt – ein letztes Korn, dessen Wegnahme einen Haufen zu einer bloßen Körneransammlung macht, oder ein letztes Haar, ohne das jemand die Gruppe der Kahlköpfigen nicht verlassen kann. Nun gehört zur Sorites-Vagheit von Prädikaten aber, dass sie solche Grenzen gerade nicht ziehen (oder zumindest nicht zu ziehen scheinen). Es entsteht deshalb der Eindruck, dass der Supervaluationismus mit dem Sorites-Paradoxon gleich das Phänomen der Sorites-Vagheit eliminiert hat – oder sich zumindest darauf festlegt, sie als bloßes Oberflächenphänomen zu betrachten. Die Reaktion von Supervaluationisten wie Keefe auf diesen Kritikpunkt besteht darin, am Verständnis des Existenzquantors zu manipulieren: Es gibt zwar unter jeder zulässigen Präzisierung einen solchen Schnittpunkt, aber es gibt keinen Punkt, der diesen Schnittpunkt unter allen zulässigen Präzisierungen instanziiert. Auf die Details der Diskussion braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden.86 Es genügt festzuhalten, dass der Supervaluationismus aus Sicht seiner Kritiker vor dem Dilemma steht, entweder Sorites-Vagheit nicht ernst nehmen zu können oder aber die klassische Logik in einem weiteren Punkt modifizieren zu müssen. Für eine Theorie, die beansprucht, ersteres zu können und auf letzteres nicht angewiesen zu sein, wäre dies ausgesprochen misslich. Man braucht sich aber nicht auf die technische Debatte um das korrekte Verständnis des Existenzquantors einzulassen um zu sehen, dass der Supervaluationismus auf die Annahme scharfer Grenzen in einer Sorites-Reihe festgelegt ist. Man betrachte eine Sorites-Reihe von klaren F- zu klaren Nicht-F-Fällen. Wir beginnen mit dem ersten Element der Reihe, a1, das ein klarer Fall von „F“ ist, und fragen, ob „a1 ist F“ superwahr ist. Allein schon aufgrund des Prinzips, dass klare Fälle durch Präzisierungen von „F“ nicht angetastet werden dürfen, ist „a1 ist F“ superwahr. Wir gehen nun zu a2 über und stellen die Frage, ob „a2 ist F“ 85
Vgl. Hyde (2008), Kap. 4. Vgl. dazu Keefe (2000), S. 182 ff., sowie die Erwiderung von Hyde (2008), S. 81 ff. 86
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
superwahr ist, usw. für jedes a. Irgendwann werden wir auf ein erstes ai stoßen, für das „ai ist F“ nicht mehr wahr unter allen zulässigen Präzisierungen von „F“ ist. Dieses wäre dann das erste Element in der Sorites-Reihe, das nicht unter jeder zulässigen Präzisierung F ist, für das also gilt, dass „ai ist F“ nicht superwahr ist. Gleiches gilt mutatis mutandis für das erste am , das unter keiner zulässigen Präzisierung von „F“ F ist, für das „am ist F“ also superfalsch ist. Wir erhielten also zwei scharfe Schnitte in der Sorites-Reihe, nämlich zwischen dem letzten a, das noch unter allen zulässigen Präzisierungen F ist, und allen nachfolgenden Elementen der Reihe, sowie zwischen dem ersten a, das unter keiner zulässigen Präzisierung F ist, und den vorangegangenen Elementen der Reihe. Das aber bedeutet: In der Sorites-Reihe sind F-Fälle scharf von Grenzfällen, und Grenzfälle scharf von Nicht-F-Fällen abgegrenzt. Das aber widerspricht unserer Intuition, dass es in einer Sorites-Reihe eine solche scharfe Abgrenzung der Bereiche nicht gibt. Nun könnten Supervaluationisten im Anschluss an Keefe einwenden, hier sei der Umstand übersehen worden, dass „zulässige Präzisierung“ selbst vage sei, dass es demnach Grenzfälle von zulässigen Präzisierungen gebe, also Präzisierungen, bei denen man nicht angeben könne, ob sie bei der Supervaluation berücksichtigt werden dürfen.87 Angenommen, für ak sei der Satz „ak ist F“ wahr unter allen eindeutig zulässigen Präzisierungen, jedoch falsch unter mindestens einer Präzisierung, deren Zulässigkeit umstritten ist, die also einen Grenzfall für „zulässige Präzisierung“ darstellt. Da unklar ist, ob diese Präzisierung bei der Supervaluation berücksichtigt werden darf, ist unklar, ob „ak ist F“ unter allen Präzisierungen wahr und damit superwahr ist – oder eben unter einer Präzisierung falsch und damit nicht superwahr. Das bedeutet nichts anderes als: Es ist unklar, ob ak zu den klaren F-Fällen gehört oder zu den Grenzfällen; ak ist also dann der Grenzfall eines Grenzfalles, und die Grenze zwischen F-Fällen und Nicht-F-Fällen daher nicht scharf. Dieses Manöver läuft aber ins Leere: Man vermeidet mit ihm lediglich zwei scharfe Grenzen in der Sorites-Reihe zu dem Preis, sie durch vier scharfe Grenzen zu ersetzen. Irgendwo in der Reihe wird ein Paar haj, aki auftreten, so dass gilt: Bezüglich aj ist „aj ist F“ wahr unter allen eindeutig zulässigen Präzisierungen und wahr unter allen Präzisierungen, deren Zulässigkeit zweifelhaft ist; „aj ist F“ ist demnach superwahr und aj ein klarer F-Fall. Bezüglich ak hingegen ist „ak ist F“ zwar wahr unter allen eindeutig zulässigen Präzisierungen, aber falsch unter zumindest einer Präzisierung, deren Zulässigkeit umstritten ist. Das bedeutet: aj wäre der letzte klare F-Fall und ak der erste Grenzfall höherer Stufe. Die Bereichsgrenze zwischen F-Fällen und Grenzfällen höherer Stufe wäre demnach scharf. (Mutatis mutandis gilt dies auch für das Nicht-F-Ende der Sorites-Reihe. Auch dort ist die Grenze zwischen denjenigen Fällen, bei denen unklar ist, ob sie 87
Vgl. Keefe (2000), S. 202 f.
F. Supervaluationismus
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Grenzfälle sind oder Nicht-F-Fälle, offenbar scharf.) Scharf wäre aber ferner auch die Grenze zwischen den Grenzfällen höherer Stufe und den „eindeutigen“ Grenzfällen: Der erste eindeutige Grenzfall in der Sorites-Reihe ist dasjenige al, für das „al ist F“ falsch unter einer der eindeutig zulässigen Präzisierungen ist. (Und so mutatis mutandis auch für die Grenze zwischen eindeutigen Grenzfällen und Grenzfällen höherer Stufe am Nicht-F-Ende der Sorites-Reihe.) Der Supervaluationismus ist also, wie es scheint, auf die Annahme scharfer Bereichsgrenzen in einer Sorites-Reihe festgelegt. Wahrheit simpliciter kann nicht Superwahrheit sein:88 Superwahrheit kann nicht Wahrheit simpliciter sein, da sie nicht mithilfe des Tarski-Schemas charakterisierbar ist. Bekanntlich lässt sich „Wahrheit von p“ folgendermaßen erläutern: (T) „p“ ist wahr genau dann, wenn p
Supervaluationisten müssen (T) zurückweisen, weil sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten beibehalten möchten, das Bivalenzprinzip jedoch ablehnen wollen, um die Intuition einzufangen, dass „a ist F“ weder wahr noch falsch ist, wenn es sich bei a um einen Grenzfall für das vage Prädikat „F“ handelt.89 Aus (T) und tertium non datur lässt sich jedoch das Bivalenzprinzip ableiten:90 (TND) p _ :p
Aus (T) kann man zwei Varianten gewinnen: (T+) „p“ ist wahr genau dann, wenn p (T–) „:p“ ist wahr genau dann, wenn :p
Wenn man nun das erste Disjunktionsglied von (TND) durch die linke Seite von (T+) und das zweite Disjunktionsglied von (TND) durch die linke Seite von (T–) ersetzt, so erhält man das Bivalenzprinzip: (BP) „p“ ist wahr oder „:p“ ist wahr
Hinzu kommt, dass Supervaluationisten (T) schon deswegen nicht akzeptieren können, da (T) nicht superwahr ist. Das Konditional von Rechts nach Links bereitet nämlich Probleme: (TRL) Wenn p, dann ist „p“ wahr
Das Konsequens „,p‘ ist wahr“ ist nämlich äquivalent mit „Dp“ („definitely p“). (TRL) ist also äquivalent mit (TDp) Wenn p, dann Dp
88 Die folgenden Ausführungen fassen die Erörterung in Kap. 8 von Keefe (2000) zusammen. 89 Vgl. hierzu Keefe (2000), S. 214; Machina (1976), S. 51–53; Williamson/Simons (1992), S. 145 f. 90 Williamson (1994), S. 187 ff.
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
Wie Williamson aber gezeigt hat, ist (TDp) nicht superwahr: Wenn „p“ nur unter einigen Präzisierungen wahr ist, dann ist „Dp“ falsch, da es nur dann wahr ist, wenn „p“ unter allen Totalpräzisierungen wahr ist. In den Fällen, in denen „p“ wahr ist, hätte (TDp) ein wahres Antezedens und ein falsches Konsequens. Die Ablehnung von (T) stellt Supervaluationisten kurz gesagt vor folgendes Problem: Wahrheit lässt sich mithilfe von (T) charakterisieren, Superwahrheit jedoch nicht. Wahrheit simpliciter kann also nicht Superwahrheit sein. Der Supervaluationismus beansprucht, unserer Intuition Rechnung zu tragen, dass Aussagen über Grenzfälle weder wahr noch falsch sind: Wenn g ein Grenzfall für „F“ ist, dann ist „g ist F“ weder superwahr noch superfalsch, ohne einen dritten Wahrheitswert anzunehmen. Aussagen über Grenzfälle stellen Wahrheitswertlücken dar. War vor der Supervaluation unklar, ob „g ist F“ wahr oder falsch ist, so ist nach der Supervaluation (im Idealfall91) klar, dass „g ist F“ weder superwahr noch superfalsch ist. Man könnte auch sagen, dass Grenzfälle unter diesem Gesichtspunkt hartnäckig oder persistent sind. Das hat Konsequenzen für alle diejenigen Bereiche, in denen wir Grenzfälle auflösen müssen – wie zum Beispiel das Recht. III. Anwendung im Recht Zumindest bei zweien der drei Vorzüge, die dem Supervaluationismus nach Keefe zukommen, ist fraglich, ob der Supervaluationismus sie wirklich für sich in Anspruch nehmen kann: Die bivalente Semantik wird über Bord geworfen, ohne dass der Erhalt der klassischen Logik, oder zumindest der weitgehende Erhalt ihrer Substanz, gesichert wäre, und eventuell wird noch nicht einmal unsere Intuition eingefangen, dass vage Prädikate keine scharfen Grenzen ziehen. Immerhin kann man zugeben, dass den Supervaluationisten ein schlagkräftiger Einwand gegen das Sorites-Paradoxon zur Verfügung steht, der ihre Vagheitstheorie auch für das Recht interessant macht: Er besteht darin zu zeigen, dass unter Zugrundelegung aller zulässigen Präzisierungen eines Sorites-vagen Prädikates die induktive Variante von Sorites eine superfalsche Prämisse verwendet, nämlich die allquantifizierte induktive Prämisse; beziehungsweise dass in der konditionalen Variante von Sorites einige Prämissen verwendet werden, die nicht superwahr sind. Sorites ist also zwar gültig, aber nicht schlüssig. Mit ihrem theoretischen Instrumentarium können Supervaluationisten auch angeben, warum man im Recht – wie auch sonst – auf Sorites-förmige Argumente verzichten sollte: Diese sind deshalb bedenklich, weil sich erst nach der Supervaluation zeigt, ob ihre Prämissen superwahr und die Argumente selbst nicht nur gültig,
91 Nämlich dann, wenn für keine Präzisierung unklar ist, ob sie unter „zulässige Präzisierung“ fällt.
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sondern auch schlüssig sind. Es könnte ja sein, dass „ai ist F“ noch unter allen Präzisierungen wahr ist, „ai+1 ist F“ hingegen unter mindestens einer nicht – beziehungsweise dass „ai+1 ist F“ zwar unter allen zulässigen Präzisierungen wahr ist, unter mindestens einer Präzisierung, deren Zulässigkeit umstritten ist, jedoch nicht. Dann wäre zwar die Prämisse „ai ist F“ superwahr, nicht jedoch die Prämisse „Wenn ai F ist, dann ist auch ai+1 F“. Um die supervaluationistische Strategie für das Recht fruchtbar zu machen, könnte man damit beginnen, das System aller zu einer Zeit gültigen Rechtsnormen als sozusagen hochgradig ambige anzusehen:92 Wie semantische Vagheit, aber auch Normenwidersprüche und Gesetzeslücken zeigen, haben wir es versäumt, unser Normenkorpus so zu präzisieren, dass es für jeden Fall genau eine normative Lösung anbietet. Es liegt daher nahe, für Zwecke der Supervaluation im Recht einen Spezifikationsraum zugrundezulegen, dessen Spezifikationspunkte verschiedene Totalpräzisierungen des Normenkorpus ausdrücken.93 Jede dieser Totalpräzisierungen hat alle vagen Prädikate, die in dem Normenkorpus verwendet werden, zulässig präzisiert, hat alle Normwidersprüche aufgelöst und alle Gesetzeslücken gefüllt. Jede Rechtsfrage erhält in diesem so präzisierten Normensystem genau eine korrekte Antwort. Man könnte ein solcherart präzisiertes Normensystem „ideales Normensystem“ nennen. Ideale Normensysteme müssen neben den gewöhnlichen Kriterien für zulässige Präzisierungen (Erhalt der klaren Fälle, Beachtung von „penumbral connections“ etc.) noch weiteren Anforderungen genügen, die spezifisch rechtlicher beziehungsweise rechtsstaatlicher Natur sind. Drei wurden bereits genannt:94 Präzision – alle vagen Prädikate des Normenkorpus sind präzisiert worden; der Bereich der Grenzfälle wurde vollständig eliminiert. Vollständigkeit – für jeden Rechtsfall gibt es eine Lösung. Konsistenz – für jeden Rechtsfall gibt es nicht mehr als eine Lösung. Die sich hier geltend machenden rechtsstaatlichen Grundsätze sind das Gebot der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit (Präzision, Konsistenz), das Verbot der Rechtsverweigerung (Vollständigkeit) und der Gesetzesbindung. In Rechtsstaaten, die, wie im atlantischen Raum üblich, Grundrechtsschutz kennen, werden überdies noch Anforderungen zu erfüllen sein, die mit grundrechtsfreundlicher Präzisierung zu tun haben, sowie ganz allgemein damit, dass fundamentale Prinzipien der Rechtsordnung durch die Präzisierung des Normensystems nicht angegriffen werden. „Juridische Aussage“ sei erläutert als Aussage darüber, wie ein Sachverhalt rechtlich zu bewerten ist – „T hat sich des Diebstahls schuldig gemacht“; „Kläger kann vom Beklagten die Herausgabe der Sache verlangen“, „Die Behörde hat die Baugenehmigung zu Unrecht versagt“ etc. Eine Supervaluation im Recht legt 92 93 94
Ich folge hier Moreso (2013). Vgl. Moreso (2013), S. 10 ff. Moreso (2013).
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Teil II: Vagheitstheorien und Vagheit im Recht
dann für die Zuweisung von Wahrheitswerten superwahr und superfalsch zu juridischen Aussagen alle idealen Normensysteme zugrunde. Eine juridische Aussage ist genau dann superwahr, wenn sie in allen idealen Normensystemen wahr ist, superfalsch genau dann, wenn sie in allen idealen Normensystemen falsch ist, und weder superwahr noch superfalsch in allen anderen Fällen. Sodann müssen die Resultate der Supervaluation in Entscheidungen über die Anordnung von Rechtsfolgen übersetzt werden. Folgende Entscheidungsregeln legen sich nahe: Ist eine juridische Aussage superwahr, dann wird diejenige Rechtsfolge angeordnet, die von dem einschlägigen Rechtssatz spezifiziert wurde; ist sie superfalsch, dann nicht. Klare Fälle bleiben auch supervaluationistisch klare Fällen. Wie wäre aber nun zu verfahren, wenn die juridische Aussage weder superwahr noch superfalsch ist, weil man es mit einem Grenzfall zu tun hat? Hier wird der Supervaluationismus von seiner Preisgabe der Bivalenz eingeholt. Zwar gelingt es ihm auf diese Weise, unserer Intuition Rechnung zu tragen, dass Aussagen über Grenzfälle weder wahr noch falsch sind. Der dafür zu entrichtende Preis ist jedoch hoch. Grenzfälle bleiben erhalten, und zwar in Gestalt von Aussagen, die weder superwahr noch superfalsch sind. Einer Praxis, für die Bivalenz keine Option ist, sondern, wie im Falle des Rechts, eine unerlässliche (rechtsstaatliche) Anforderung, ist damit nicht geholfen. Hier wird deutlich, dass sich Supervaluationisten rechtspraktisch interessanterweise in einer ähnlich misslichen Lage befinden wie Epistemizisten: Wenn der rechtlich zu beurteilende Sachverhalt a ein Grenzfall für „F“ ist, dann ist aus Sicht der epistemischen Theorie „a ist F“ zwar wahr oder falsch, allerdings auf für uns unerkennbare Weise. Wir wissen daher nicht, wie wir den Fall entscheiden sollen. Wenn der rechtlich zu beurteilende Sachverhalt a ein Grenzfall für „F“ ist, dann ist aus Sicht des Supervaluationismus „a ist F“ weder superwahr noch superfalsch. Es ist dann unklar, wie der betreffende Fall zu entscheiden wäre. Nun stand Epistemizisten immerhin das Manöver zu Gebote, von Wahrheit auf Wahrscheinlichkeit auszuweichen, also zu fragen, ob der Fall a anderen Fällen, die F waren, ähnlicher ist als solchen Fällen, die nicht F waren – und „a ist F“ also wahrscheinlich wahr ist. Supervaluationisten können diese Strategie nicht übernehmen, denn „a ist F“ ist eben weder superwahr noch superfalsch. Es wäre deshalb absurd zu fragen, ob der Satz „a ist F“ denn zumindest wahrscheinlich superwahr ist. Wenn sich supervaluationistisch verfahrende Richter angesichts von Grenzfällen nach der Supervaluation nicht in der gleichen Lage wiederfinden sollen wie vor Anwendung des supervaluationistischen Apparates, bedarf es eines Verfahrens, mit dessen Hilfe sich juridische Aussagen, die weder superwahr noch superfalsch sind, in Entscheidungen übersetzen lassen. Denkbar sind zwei Optionen: Man definiert generelle Entscheidungsregeln, oder man autorisiert den Richter, den jeweiligen Fall so zu entscheiden, wie es ihm richtig dünkt.
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Wählt man erstere Option (Entscheidungsregeln), dann liegt es nahe, nach Rechtsgebieten zu differenzieren. So würde man vermutlich sagen, dass im Strafrecht Grenzfälle wie Nicht-F-Fälle behandelt werden sollen, weil in diesem Rechtsgebiet besondere Prinzipien gelten – vor allem der Grundsatz, dass eine Tat nur bestraft werden darf, wenn ihre Strafbarkeit vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt war, was ein Verbot der Rechtsfortbildung ebenso begründet wie das Gebot, eng auszulegen. In einem Grenzfall war eben die Strafbarkeit nicht bestimmt. Wie aber soll es sich im Zivilrecht oder im Öffentlichen Recht verhalten? Es gibt nun, wie im Strafrecht, auch in den beiden anderen Rechtsgebieten gewisse Orientierungspunkte für die Suche nach generellen Regeln: So kennt etwa das Zivilrecht den Grundsatz, dass, wer einen Anspruch erhebt, den Nachweis für alles, was diesem Anspruch günstig ist, erbringen muss. Man könnte diesen Gedanken dann etwas weiter treiben und sagen, dass nicht nur die Sachlage, sondern auch die Semantik dem Anspruch günstig sein muss. Wenn beispielsweise ein Darlehensvertrag D einen Grenzfall von „sittenwidrig“ nach § 138 Abs. 1 BGB darstellt, und eine Partei D für nichtig erklären lassen möchte, dann – so der Gedanke – kann dem nicht entsprochen werden, weil die betreffende juridische Aussage „D ist sittenwidrig und damit nichtig“ weder superwahr noch superfalsch ist. Die Kunst bestünde jedenfalls darin, diejenigen Entscheidungsregeln aufzustellen, die nach Ansicht kompetenter, über Judiz verfügender Juristen die „richtigen“ Resultate liefern. Die zweite Option (Entscheidung nach Gutdünken) versteht sich von selbst: Der Richter muss sich – vor dem Hintergrund aller relevanten Einzelheiten des Falles und im Lichte aller rechtlich relevanten Faktoren – ein möglichst gut begründetes Urteil darüber bilden, wie der vorgelegte Grenzfall am besten zu entscheiden wäre. Der Richter täte in diesem Falle nichts anderes als was er auch schon vor Anwendung des Supervaluationismus tat. Das Problem mit beiden Optionen ist offenkundig dieses, dass sie mit dem Supervaluationismus nichts zu tun haben – und auch ohne ihn zu haben wären, verbunden mit den bekannten Schwierigkeiten: Solange keine Entscheidungsregeln gesetzlich bestimmt sind, ist es unter Gesichtspunkten der richterlichen Gesetzesbindung unzulässig, sie trotzdem zugrundezulegen. Solange man die Entscheidung in Grenzfällen vom Judiz des Richters abhängig macht, ist es fraglich, ob dessen Entscheidung aufgrund von „Gesetz und Recht“ ergeht – und wie sie als gesetzesgemäß ausgewiesen werden soll. Wenn man diese problematischen Lösungen auch ohne den mühsamen Umweg über das Terrain einer nichtklassischen Logik haben kann, warum sollte man sich dann den Mehraufwand nicht einfach ersparen und gleich bei der „hemdsärmeligen“ Lösung bleiben? „Weil man mithilfe des Supervaluationismus das Sorites-Problem in den Griff bekommt.“ Das trifft gewiss zu. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass alle mit Vagheit im Recht verbundenen Probleme bestehen bleiben: Das Entscheidungsproblem wird ebenso wenig wie das Begründungsproblem gelöst, weil
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Grenzfälle persistent in dem Sinne sind, dass juridische Aussagen in Grenzfällen keine supervaluationistischen Wahrheitswerte annehmen. Das Abgrenzungsproblem bezüglich der Grenze zwischen F- und Nicht-F-Fällen in einer SoritesReihe bleibt ebenfalls erhalten, weil es in einer Sorites-Reihe keinen Schnittpunkt gibt, der die Grenze zwischen F und Nicht-F markiert. Für die Beseitigung von Sorites bezahlt man mit der Preisgabe der klassischen Logik, was auch das juristische Denken und Argumentieren zur Anpassung zwingt. Viel Aufwand für wenig Ertrag, wie es scheint.
G. Kontextualismus I. Das Konzept Das, was den Mitgliedern der kontextualistischen Theoriefamilie gemeinsam ist, lässt sich mit einer Bemerkung von Delia Graff-Fara über ihre eigene Theorie semantischer Vagheit auf den Punkt bringen: „[I]f we pay more careful attention to the way we actually use vague expression, there proves to be more room than is commonly thought within the space of classical logic and semantics to account for the many phenomena of vagueness“.95 Oder mit den Worten von Åkerman & Greenough: „Contextualism about vagueness [. . .] is the view that vagueness consists in a particular species of context-sensitivity and that properly accomodating this fact into our semantic theory will yield a plausible solution to the sorites paradox.“ 96 Was andere Vagheitstheorien aus kontextualistischer Sicht nicht genügend berücksichtigen und was in Sorites-Argumenten verschleiert beziehungsweise unterschlagen wird, ist der Umstand, dass wir Ausdrücke immer in bestimmten Kontexten verwenden, wobei dieser Verwendungskontext konstitutiv für die Bedeutung des verwendeten Ausdrucks in der jeweiligen Kommunikationssituation ist. Dass nun die Bedeutung mancher Ausdrücke vom Verwendungskontext abhängt, stellt keine neue Idee dar: Die Bedeutung indexikalischer Ausdrücke wie „ich“, „hier“, „jetzt“ beispielsweise lässt sich nicht ohne Bezug auf Sprecher, Ort und Zeit angeben. Was jedoch bei indexikalischen Ausdrücken trivial erscheint, gestaltet sich bei anderen Klassen von Ausdrücken schon etwas schwieriger: Im Operationssaal gibt der Chirurg ein Skalpell an seinen Assistenten mit der Bemerkung „Stumpf!“ zurück. Dieser reicht es mit der Warnung „Vorsicht, scharf!“ an eine OP-Schwester weiter.97 Es wäre offenbar unsinnig, in der Beschreibung 95 Graff-Fara (2000), S. 77; Stanley (2005), S. 159, sieht Graff-Faras Theorie übrigens nicht als Kontextualismus an, sondern lediglich als einen Verwandten dieser Theoriefamilie, da bei Graff-Fara die Kontextisensitivität vager Prädikate anders konzipiert sei. 96 Åkerman/Greenough (2010), S. 275. 97 Beispiel bei Wright (2006), S. 53.
G. Kontextualismus
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des Skalpells einmal als stumpf und wenige Sekunden später als scharf einen Widerspruch zu sehen. Stattdessen ist uns intuitiv klar, dass der Chirurg bei seiner Bemerkung etwas anderes im Auge hat als sein Assistent, dass der Chirurg das Skalpell „in einem anderen Kontext“ mit dem Ausdruck „stumpf“ belegt als sein Assistent mit dem Ausdruck „scharf“. Was genau bedeutet aber nun „Kontext“ in derartigen Fällen? Und was soll die Berücksichtigung dieses Verwendungskontextes gegen Sorites ausrichten? Die Frage, was den Kontext bildet, der bei der Ermittlung von Bedeutung zu berücksichtigen ist, haben Kontextualisten recht verschieden beantwortet: GraffFara hat einen Ansatz entwickelt, demzufolge die Semantik vager Ausdrücke „renders the truth conditions of utterances containing them sensitive to our interests, with the result that vagueness in language has a traceable source in the vagueness of our interests“, wobei sie unter „interests“ unsere „purposes and desires“ versteht, die für die Verwendung eines vagen Ausdruckes relevant sind.98 Die Idee ist, dass unsere vagen Prädikate zwar eine Bedeutung haben, welche über verschiedene Kontexte gleich bleibt, dass sich jedoch die Extensionen dieser Prädikate in Abhängigkeit von den Interessen der Sprecher verändern. Diana Raffman99 unterscheidet zwischen einem externen Kontext, in dem ein Ausdruck verwendet wird, und einem internen, psychischen Kontext des Sprechers, das heißt einem psychischen Zustand, in dem er disponiert ist, einige a als F zu beurteilen, einige a als nicht-F, und den Status einiger a offen zu lassen – die er jedoch, wenn sich sein innerer Zustand verändert hat und seine Verwendung von „ist F“ so in einen anderen inneren Kontext eingelassen wird, als F beziehungsweise nicht-F beurteilen würde. Raffman erläutert den Zustandswechsel am Beispiel einer Sorites-Reihe von Rot nach Orange: Je mehr sich die Farbmuster vom roten Prototypen, dem klaren Fall von „ist rot“ am Anfang der Reihe, entfernen beziehungsweise unterscheiden, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten eines „Gestalt-shift“: Im Bereich der Grenzfälle, die für den Betrachter sowohl rot als auch orange erscheinen können, kann ein solcher Wandel plötzlich auftreten – wie bei Kippbildern, die in einem Moment einen Hasen und im nächsten eine Ente darzustellen scheinen, oder erst ein junges Mädchen mit zur Seite gedrehtem Kopf und plötzlich eine alte Hexe mit übergroßer Nase. Ein zunächst unklarer Fall wird dann für den Betrachter schlagartig zu einem Fall von Rot beziehungsweise Orange. Durchläuft der Betrachter die Sorites-Reihe rückwärts, so macht sich der jeweilige farbliche Prototyp am Ende der Reihe stärker und stärker bemerkbar, bis der Betrachter den Punkt erreicht, an welchem ihm – in einem erneuten „shift“ – die Grenze zur anderen Farbe überschritten zu sein 98
Graff-Fara (2000), S. 49. Vgl. dazu Raffman (1996). Zuerst präsentiert hat Raffman ihren Ansatz in Raffman (1994). Man sollte hinzufügen, dass sie ihren Kontextualismus inzwischen aufgegeben hat, vgl. Raffman (2005), S. 248. 99
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scheint usw. In jeder Sorites-Reihe gibt es also einen Schnittpunkt, der F- von nicht-F-Fällen scheidet, auch wenn dieser Punkt möglicherweise bei jedem Durchlauf anders lokalisiert ist. An beiden Varianten des Kontextualismus fällt auf, dass die Semantik von Ausdrücken nicht nur mit Sprachpragmatik verwoben ist, sondern auch mit der Psychologie der Sprecher (worauf beide Philosophinnen ausdrücklich hinweisen). Dies gilt, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls für die von Soames entwickelte Variante. Dass in diesem Abschnitt nur seine Konzeption untersucht werden soll, hat folgenden Grund: Soames hat in mehreren Arbeiten versucht, seinen Kontextualismus für die Behandlung von semantischer Vagheit im Recht fruchtbar zu machen, was für den Kontextualismus von Graff-Fara und Raffman (bislang noch) nicht gilt.100 Soames’ Ansatz lässt sich grob durch zwei Thesen kennzeichnen: (1) Vage Prädikate sind partiell definiert. (2) Die Grenzen zwischen ihrer Extension und dem Bereich der unklaren Fälle sowie zwischen den unklaren Fällen und der Antiextension sind dynamisch, da Sprecher die Befugnis haben, den Grenzverlauf in Abhängigkeit von ihren Konversationszielen anzupassen. Für ein Sorites-Kontinuum bedeutet dies, dass sich zwar kein scharfer Schnittpunkt zwischen den Bereichen findet, dass Sprecher einen solchen Schnitt jedoch vornehmen können. Ad (1):101 Vage Prädikate sind nur partiell definiert. Das bedeutet: Es gibt Fälle, in denen nicht-sprachliche Tatsachen und die Gebrauchsregeln der Prädikate festlegen, dass das Prädikat zutrifft; diese Fälle bilden die eindeutige Extension („determinate extension“) des Prädikates. Es gibt Fälle, in denen nichtsprachliche Tatsachen und die Gebrauchsregeln der Prädikate festlegen, dass das Prädikat nicht zutrifft; diese Fälle bilden seine eindeutige Antiextension („determinate antiextension“). Eindeutige Extension und eindeutige Antiextension erschöpfen zusammen jedoch nicht den Bereich der sinnvollen Anwendbarkeit des betreffenden Prädikates, denn es gibt Fälle, für welche die Gebrauchsregeln zusammen mit den relevanten nicht-sprachlichen Tatsachen nicht festlegen, dass der jeweilige Fall in die Standard-Extension oder in die Standard-Antiextension des Prädikates einzusortieren wäre. Diese Fälle bilden die Grenzfälle für die Anwendung des betreffenden Prädikates. Akzeptiert man (1), so bekommt man ein wirksames Mittel gegen Sorites an die Hand: Wenn „F“ für einige Objekte in einer Sorites-Reihe undefiniert ist, dann ist bezüglich dieser Objekte unklar, ob „a ist F“ wahr oder falsch ist. Folglich ist dann für einige Instanzen der generalisierten Prämisse (I) 8x: F(xi) ! F(xi+1) 100 Soames (2012), im Folgenden abgekürzt mit „VaL“; vgl. ferner Soames (2011– 12), im Folgenden abgekürzt mit „TLI“. 101 Vgl. Soames (1999), S. 206–208, im Folgenden abgekürzt mit „UT“.
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die in der induktiven Variante des Paradoxons verwendet wird, ebenfalls unklar, welcher Wahrheitswert ihnen zukommt. Deshalb dürfen wir (I) nicht als wahr annehmen. Dadurch legen wir uns allerdings nicht darauf fest, die Negation, also das kontradiktorische Gegenteil von (I), das heißt den Satz zu akzeptieren, dass es mindestens ein ai gibt, so dass „F“ auf ai zutrifft, nicht aber auf seinen Nachfolger ai+1. (Dieser Satz besagt, dass es einen scharfen Schnittpunkt zwischen F und nicht-F gibt.) Wir sind darauf nicht festgelegt, weil wir uns im Rahmen eines Soames’schen Kontextualismus nicht mehr auf klassisch-bivalentem Terrain bewegen: Wenn jeder (sinnvolle) Satz entweder wahr oder falsch ist und man einen (sinnvollen) Satz als nicht wahr zurückweist, dann muss man klassisch-bivalent sagen, er sei falsch und sein kontradiktorisches Gegenteil sei wahr. Andernfalls müsste man eine Wahrheitswertlücke behaupten, die aber ausgeschlossen ist, oder man müsste sich selbst widersprechen: Zu sagen „,P‘ ist nicht wahr, aber auch ,:P‘ ist nicht wahr“ ist ja klassisch äquivalent zu „,:P‘ ist wahr und ,:P‘ ist nicht wahr“. Wenn wir uns jedoch auf dem Boden von Soames’ Kontextualismus bewegen, dann legen wir uns mit der Zurückweisung von „P“ als nicht wahr nur darauf fest zu sagen, „P“ sei falsch oder unbestimmt, nicht jedoch auf die Behauptung, „P“ sei falsch (und „:P“ also wahr). Dadurch also, dass wir die generalisierte Prämisse als undefiniert (weder wahr noch falsch) zurückweisen, vermeiden wir die inakzeptable Konklusion des Sorites-Argumentes ebenso wie die inakzeptable Behauptung eines scharfen Schnittpunktes.102 Diese Analyse ist zwar effektiv aber, nach Soames, aus zwei Gründen unbefriedigend:103 Wären vage Prädikate bloß partiell definiert, dann hätten wir keine Wahl, Objekte aus dem Unbestimmtheitsbereich auch als unbestimmt hinsichtlich F-sein zu charakterisieren. Wir müssten sowohl die Behauptung „ai ist F“ als auch die Behauptung „ai ist nicht F“ zurückweisen. Tatsächlich verfahren wir so bei vagen Prädikaten wie „reich“, „grün“ oder „großgewachsen“ aber nicht. Stattdessen können wir uns mühelos Konversationssituationen denken, in denen wir etwa die Charakterisierung eines gelbgrünen Farbmusters aus dem Grenzbereich von „grün“ als grün akzeptieren würden (sowie andere Kontexte, in denen wir dazu nicht bereit wären). Der zweite Grund ist folgender: Man stelle sich eine Sorites-Reihe vor, etwa bestehend aus Farbmustern von Grün nach Gelb. Wenn aufgrund der Vagheit von „grün“ (beziehungsweise „gelb“) bei einigen Mustern mi unbestimmt wäre, ob das Prädikat „grün“ zutrifft, dann müsste es ein Paar aufeinanderfolgender und hinsichtlich ihrer Farbe kaum oder gar nicht unterscheidbarer Muster hmi, mi+1i geben, so dass wir die Behauptung „mi ist grün“ akzeptieren, die Behauptung „mi+1 ist grün“ jedoch zurückweisen würden. Für gewöhnlich sind wir aber nicht bereit, eine solche unterschiedliche Einordnung vorzunehmen. Daraus schöpft 102 103
Vgl. UT, S. 207. Vgl. UT, S. 207 f.
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Sorites ja gerade seine Verführungskraft, und von einer Theorie semantischer Vagheit darf man erwarten, dass sie uns eine Erklärung für diesen Befund liefert. Der Verweis auf die partielle Definition vager Prädikate allein reicht dazu jedoch nicht aus. Ad (2): Die Lösung für diese beiden Schwierigkeiten liegt nach Soames in der Kontextsensitivität vager Prädikate. Um zu erläutern, was damit gemeint ist, müssen wir auf zweierlei näher eingehen: zum einen auf die Kontextsensitivität von Prädikatgrenzen, zum anderen auf die Kontextsensitivität von Standards der Genauigkeit, die für die Anwendung von „F“ gelten. Zuvor aber ist es sinnvoll zu sagen, was „Kontextsensitivität eines Prädikates“ bei Soames nicht bedeutet: Wir verwenden Prädikate bisweilen in Relation zu einer stillschweigend vorausgesetzten Kontrastklasse, etwa wenn wir sagen „Obama ist jung [für einen US-Präsidenten]“ oder „Muggsy Bogues war klein [für einen NBA-Spieler]“. Dieser Typ von Kontextsensitivität (oder besser Kontextrelativität) ist für ein kontextualistisches Modell vager Prädikate allein schon deshalb nicht interessant, weil er sich auch bei präzisen Prädikaten findet: „X hat mehr Kinder als der Durchschnitt“ kann in einem Fall bedeuten „X hat mehr Kinder als der Durchschnittsdeutsche“, und in einem anderen Fall „X hat mehr Kinder als der durchschnittliche Philosoph“.104 Dass vage Prädikate kontextsensitiv sind bedeutet bei Soames, dass es im Ermessen („discretion“) von Sprechern liegt, Extension und Antiextension eines solchen Prädikates zu modifizieren, indem sie Objekte, für die zuvor unklar war, ob das betreffende Prädikat auf sie zutrifft oder nicht, in die kontextrelative Extension beziehungsweise Antiextension des Prädikates aufnehmen. Wir hatten bereits den Begriff der eindeutigen Extension (EE) und der eindeutigen Antiextension (EA) eines Prädikates „F“ eingeführt. EE von „F“ umfasst alle diejenigen Fälle, für welche die Gebrauchsregeln von „F“ und nicht-sprachliche Tatsachen (wie etwa die Eigenschaften des Prädikationsgegenstandes) festlegen, dass „F“ auf sie zutrifft. Entsprechendes gilt mutatis mutandis für EA. EE und EA zusammen erschöpfen jedoch nicht den Bereich der sinnvollen Anwendbarkeit von „F“. Die Fälle, für die weder Zugehörigkeit zu EE noch zu EA festgelegt ist, bilden den Bereich der unbestimmten Fälle. EE und EA bilden nach Soames aber zugleich auch die standard EE (SEE, „default determinate-extension“) und standard EA (SEA, „default determinate-antiextension“) des kontextsensitiven Prädikates „F“:105 „[I]f the predicate looks green is context sensitive, then it has a context-invariant meaning that constrains the properties it semantically expresses in different contexts. There is little alternative but to take these constraints as involving what I call the 104
Vgl. Robertson (2000), S. 329. Soames hat diese in UT nur eingeführte Unterscheidung in späteren Arbeiten expliziert, und zwar insbesondere in Soames (2010) (im Folgenden abgekürzt mit „PPD“). Erläuterungen finden sich ferner auch in seinen Erwiderungen auf Williamson, Soames (2002) (im Folgenden abgekürzt mit „R“). 105
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predicate’s default determinate-extension and default determinate-antiextension – these being, respectively, the set of things that the communitywide rules of the language (plus relevant nonlinguistic facts) determine that the predicate applies to, and the set of things that the communitywide rules of the language (plus the relevant nonlinguistic facts) determine that the predicate does not apply to (in any context in which the predicate is successfully used with its normal literal meaning) [Letzte Hervorhebung D. G.].“ 106
SEE und SEA haben eine wichtige Funktion: Sie unterscheiden Fälle, in denen ein Sprecher etwas eindeutig Wahres oder Falsches sagt, von solchen Fällen, in denen die Aussage des Sprechers wahr oder falsch kraft Stipulation ist. Es steht – und das ist der Kern von Soames’ Kontextualismus – Sprechern nämlich frei, in Abhängigkeit von dem Kontext ihrer Konversation im Allgemeinen und ihren jeweiligen Konversationszielen im Besonderen ein a aus dem Unbestimmtheitsbereich von „F“ zu einem F-Fall (beziehungsweise Nicht-F-Fall) zu machen, indem sie a im Rahmen der Konversation ausdrücklich als F (beziehungsweise :F) charakterisieren.107 Wenn die anderen Konversationsteilnehmer diesen Zug akzeptieren und ihr sprachliches Verhalten entsprechend anpassen, dann haben sich die Prädikatgrenzen von „F“ verschoben und die zuvor unbestimmte Proposition „a ist (:)F“ ist nun wahr durch Stipulation. Die Grenze zwischen Wahrheit (Falschheit) kraft normaler Bedeutung und Wahrheit (Falschheit) kraft Stipulation wird durch SEE und SEA markiert:108 „[SEE and SEA] are used to distinguish cases in which the speaker asserts something that is definitely false (untrue) from cases in which the speaker’s remark is properly regarded as true due to the legitimate exercise of discretion in setting the contextsensitive standards governing the predicate. For example, when the speaker explicitly characterizes an object o of a certain sort as ,looking green‘, or as ,not looking green‘, he may, depending on other relevant features of the conversation, succeed in adjusting the boundaries of the predicate so as to make his remark true. However, if o falls outside a certain range, the speaker’s remark can only be regarded as false (provided that he is using the predicate with its normal literal meaning). The default determinate-extension and the default determinate-antiextension determine this range.“ 109 106
R, S. 445. Welche Faktoren genau den Konversationskontext bilden, bleibt in UT fast vollständig unklar, und auch in späteren Arbeiten finden sich dazu nur Andeutungen, so etwa in PPD, S. 57, der Verweis auf (die aus der klassischen Rhetorik bekannten Parameter) „audience, subject, and time“. 108 Vgl. beispielsweise PPD, S. 46, UT, S. 210 f. et passim. 109 R, S. 406 f. Soames behandelt hier nur den Fall, dass ein a aus dem Grenzbereich zwischen Unbestimmtheitszone und Antiextension kraft Stipulation der Extension von „F“ zugeschlagen wird. Diese Beschränkung scheint mir aber kontingent zu sein, da Soames in seinen rechtstheoretischen Schriften, insbesondere in VaL, auch die Umkehrung in Betracht zieht, nämlich den Fall, dass ein a aus dem Grenzbereich zwischen Extension und Unbestimmtheitszone durch maximale Ausnutzung des Sprecher-Ermessens kraft Stipulation der Antiextension zugeschlagen wird. 107
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Betrachten wir zur Verdeutlichung ein – zugegebenermaßen etwas konstruiertes – Beispiel im Anschluss an Soames:110 Angenommen, die Gebrauchsregeln für die Prädikate „reich“ und „nicht reich“ seien derart, dass jemand als reich gilt, wenn er über mindestens 100.000 Euro Jahreseinkommen verfügt, und als nicht reich, wenn er höchstens 70.000 Euro Jahreseinkommen bezieht.111 In einem Stadtteil, der nicht gerade zu den wohlhabenden Vierteln gehört, soll ein Jugendtreff, der bislang aus kommunalen Mitteln finanziert wurde, im Zuge von Etatkürzungen geschlossen werden. Die Mitglieder einer Bürgerinitiative wollen die Einrichtung übernehmen und überlegen, wie sie ihr Projekt finanzieren. Jemand schlägt vor, man könne doch versuchen, die „reichen“ Nachbarn im Viertel für einen Freundeskreis des Jugendtreffs zu gewinnen, wobei die Idee wäre, als Mitglied eines solchen Freundeskreises regelmäßig für den Unterhalt des Jugendtreffs zu spenden. Der Vorschlag wird angenommen und man beginnt, eine Liste mit potentiellen „reichen“ Spendern zu erstellen. Da man mit Großverdienern im Viertel nicht gerade gesegnet ist, bleibt die Liste kurz. Zu kurz. Daraufhin fragt jemand, warum man denn nicht Frau X auf eine Mitgliedschaft anspreche. Er wisse aus zuverlässiger Quelle, dass Frau X gut 80.000 Euro im Jahr verdiene und „damit doch wohl“ eindeutig zu den reichen Leuten im Viertel zählen würde. Frau X hätte „jedenfalls“ so viel Geld, dass sie einen kleinen monatlichen Beitrag zur Erhaltung einer sozialen Einrichtung mühelos verkraften könne usw. Weitere Vorschläge machen die Runde. Am Ende steht nicht nur Frau X auf der Liste der „reichen“ potentiellen Spender, sondern auch der eine oder andere Name von anderen „reichen“ Nachbarn, deren Jahreseinkünfte teilweise um einige tausend Euro niedriger ausfallen als die von Frau X. Zwei Dinge sind hier bemerkenswert: Zum einen wurden die Prädikatgrenzen von „reich“ im Hinblick auf das Konversationsziel – Identifikation potentieller Geldgeber für Spendenanfragen – und die Lage vor Ort so verändert, dass jetzt auch Personen als reich gelten, für die das Prädikat zuvor nicht definiert war. Diese Anpassung erfolgte, so Soames, in dem Moment als die anderen Konversationsteilnehmer den Vorschlag über die Aufnahme von Frau X in die Liste der „reichen“ Nachbarn akzeptierten und ihr sprachliches Verhalten daran anpassten, also Vorschläge für andere Kandidaten machten, deren Einkommen diese Personen vor der Grenzverschiebung nicht als reich qualifiziert hätte. Zum anderen war der Standard dafür, Frau X in relevanter Hinsicht ähnlich zu sein und damit ebenfalls als reich zu gelten, offenbar recht lax, denn eine Differenz von einigen tausend Euro zum Jahreseinkommen von Frau X machte für die Klassifikation von Herrn Y und Frau Z als gleichfalls reich keinen Unterschied. Dieser Standard hätte aber ohne Weiteres strenger ausfallen können, etwa dann, 110 Ich greife sein Beispiel zur Erörterung der kontextabhängigen Modifikation von „rich“ in UT, S. 211 auf. 111 Dass jemand nicht reich ist, impliziert natürlich nicht, dass er arm ist.
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wenn die Konversationsteilnehmer den Vorschlag, Herrn und Frau W, die nur ein paar Euro weniger Einkommen beziehen als Frau X, auf die Liste zu setzen, mit der Begründung abgelehnt hätten, irgendwo müsse man auch einmal „eine Grenze ziehen“, und Nachbarn, die weniger verdienten als Frau X, wolle man nun wirklich nicht fragen, wo solle das denn sonst auch enden usw. Man sieht also: Nicht nur die Ziehung der Prädikatgrenzen kann variabel ausfallen, sondern auch der Standard, den man für die Entscheidung der Frage zugrundelegt, ob ein y in relevanter Hinsicht ähnlich zu dem x ist, das man gerade aus dem Bereich der unbestimmten Fälle in die Extension geholt hat, so dass es gerechtfertigt (beziehungsweise man dazu verpflichtet) wäre, auch y in die Extension des Prädikates einzubeziehen. Nicht nur die Prädikatgrenzen können in Abhängigkeit vom jeweiligen Konversationskontext variieren, sondern auch die Maßstäbe für „in relevanter Hinsicht ähnlich“. Das ist mit „Kontextsensitivität der Prädikatgrenzen“ und „Kontextsensitivität des Standards“ gemeint. Wann dabei x und y als in relevanter Hinsicht ähnlich eingestuft werden, das heißt R(x, y) gilt, hängt nicht nur vom Konversationskontext, sondern auch von dem jeweiligen Prädikat ab. Bei „kahlköpfig“ etwa könnten x und y als ähnlich beurteilt werden, wenn sie sich hinsichtlich ihres Haarschopfes nicht wahrnehmbar unterscheiden; bei „reich“, wenn sie „in etwa“ gleich viel verdienen usw. Wenn sich die Konversationsteilnehmer jedoch in einem Konversationskontext K auf Standard S verständigt haben, dann sind sie darauf festgelegt, auch y als kahlköpfig, reich, F anzusehen, wenn sie x als kahlköpfig, reich, F ansehen, und R(x, y) gilt. Dies ist nach Soames eine Anwendungsregel für vage Prädikate bezüglich neuer Fälle. Für Individuen aus dem Unbestimmtheitsbereich gilt dann: Wenn in K die Prädikatgrenzen von „F“ modifiziert, Individuen aus dem Unbestimmtheitsbereich entnommen werden, dann gelten für Extension und Antiextension von „F“ folgende Modifikationsregeln:112 Extension von „F“: Wenn in K ein x, das noch nicht zur Extension von „F“ gehört, ausdrücklich als F charakterisiert wird, dann wird alles, was in der Relation RE zu x steht, der Extension von „F“ hinzugefügt und so als F betrachtet. Antiextension von „F“: Wenn in K ein x, das noch nicht zur Antiextension von „F“ gehört, ausdrücklich als :F charakterisiert wird, dann wird alles, was in der Relation RA zu x steht, der Antiextension von „F“ hinzugefügt und so als :F betrachtet.
Bevor wir Soames’ kontextualistische Behandlung von Sorites näher betrachten, ist eine Anmerkung zu seiner laxen Redeweise von „Standard“ sinnvoll. Soames verwendet diesen Ausdruck nämlich, um drei zusammenhängende aber unterscheidbare Dinge zu bezeichnen, die man am besten anhand der Rede von „in relevanter Hinsicht ähnlich zu“ voneinander abhebt: Wem muss y in relevanter Hinsicht ähnlich sein (Standard1)? Worin muss y seinem Vergleichsgegenstand 112
Vgl. UT, S. 211, 212.
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ähnlich sein, um diesem in relevanter Hinsicht ähnlich zu sein (Standard2)? Wie stark muss y seinem Vergleichsgegenstand in dieser Hinsicht ähnlich sein, um diesem in relevanter Hinsicht ähnlich zu sein (Standard3)? In einer Sorites-Reihe von Grün nach Gelb kann der Vergleichsgegenstand zum Beispiel das prototypisch grüne Farbmuster x am Beginn der Reihe sein, das Tertium des Vergleichs bestünde in den visuellen Eigenschaften des Musters, also Farbqualität, Sättigung und Helligkeit, und die Stärke der Ähnlichkeit ließe sich nach der perzeptuellen Unterscheidbarkeit beziehungsweise Ununterscheidbarkeit der Muster bestimmen, wobei die Messlatte je nach Konversationskontext höher oder tiefer gehängt werden kann. Diese Unterscheidung wird von Soames zwar verwendet, jedoch nicht explizit eingeführt beziehungsweise terminologisch markiert. Sehen wir uns nun Soames’ kontextualistischen Therapievorschlag für Sorites genauer an:113 Man betrachte eine Sorites-Reihe von Grün nach Nicht-Grün: Sie beginnt mit einem klarerweise grünen Farbmuster x1 und endet mit einem klarerweise nicht grünen Farbmuster xn. Angrenzende Farbmuster sind perzeptuell ununterscheidbar. Wir beginnen den Durchlauf bei x1, legen unseren Versuchspersonen nacheinander die in der Reihe aufeinanderfolgenden Farbmuster vor und bitten sie, diese Muster farblich zu charakterisieren. (Soames nennt diese Version des Sorites „dynamic“.) Da sie x1 als grün charakterisiert haben und sich x2 von seinem Vorgänger (Standard1) in seiner Färbung (Standard2) nicht wahrnehmbar unterscheidet (Standard3) werden sie es nur natürlich finden, auch x2 als grün zu charakterisieren. Da sich das nächste Muster x3 von seinem Vorgänger in seiner Färbung nicht wahrnehmbar unterscheidet . . . usw. „Since all the subject is being asked to do is explicitly to characterize something as looking green that already counts as looking green by previously accepted standards, fidelity to those standards dictates that the subject agree that x2 looks green. But once the subject has perceived x2 and explicitly characterized it as looking green, the rule for the application of the predicate to new cases will classify x3 as looking green. Thus when we remove x1, keep x2 in sight, and present x3, the dynamic of the situation will be just as before.“ 114
Irgendwann brechen wir den Durchlauf ab und beginnen die Reihe erneut, dieses Mal jedoch am anderen Ende mit dem nicht-günen Muster xn. Wir durchlaufen die Reihe mit den Versuchspersonen – und stellen fest, dass sie einige Muster xi, die sie im vorangegangenen Durchlauf als grün charakterisiert hatten, dieses Mal als „nicht grün“ bezeichnen. Liegt darin ein Widerspruch? „The answer, in our analysis, is that there is no contradiction here at all. According to the analysis, when xi is initially characterized as looking green, this is done with respect to a certain set of standards, S. Later, when it is characterized as not looking green, this is done with a new set of standards S*. But there is no contradiction in
113 114
Vgl. UT, S. 212–214. UT, S. 212.
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the observation that something may look green with respect to one set of standards and not look green with respect to a different set of standards.“ 115
Auf diese Weise kann Soames’ Kontextualismus zwar einem logischen Widerspruch vorbeugen, aber ein wichtiger Aspekt von Sorites wird dadurch nicht aufgeklärt: Warum erscheint uns der Fortgang durch die Reihe zunächst als so verführerisch natürlich – und der Wechsel von „xi ist F“ zu „xi+1 ist nicht F“ selbst dann noch als misslich, wenn wir angesichts der am Horizont bereits aufgetauchten Nicht-F-Fälle einsehen, dass wir eher früher als später die Notbremse ziehen müssen? Soames’ Anwort ist folgende:116 Wenn wir uns in Kontext K auf Standard S eingelassen haben, dann sind wir damit bezüglich der Anwendung des betreffenden Prädikates, beispielsweise „grün“, bestimmte Verpflichtungen eingegangen, denen wir Folge leisten, wenn wir y dann als grün charakterisieren, wenn wir auch seinen kaum unterscheidbaren oder ununterscheidbaren Vorgänger x als grün charakterisiert haben. Dieses Vorgehen, das uns Probleme bereiten wird, je weiter wir in der Sorites-Reihe voranschreiten, entspricht nicht nur unseren eingegangenen Verpflichtungen, sondern ist auch viel weniger invasiv als der – jederzeit mögliche – drastische Schritt, einfach die Standards zu wechseln und so einen scharfen Schnitt zu setzen. Damit haben wir einen starken Grund, in der Sorites-Reihe Schritt um Schritt einfach immer weiter zu gehen. Diese Art von Loyalität lässt sich jedoch angesichts der Tatsache nicht unbegrenzt aufrecht erhalten, dass die Farbmuster, mit denen wir es früher oder später zu tun bekommen, sich von den ursprünglichen Mustern merklich unterscheiden. Irgendwann werden wir uns genötigt sehen, die Charakterisierung von y als F zu verweigern. Wann dies geschieht, ist dabei keine semantische sondern eine psychologische Frage. Sobald wir dies aber getan, also die Standards ausgetauscht haben, sind wir darauf festgelegt, zu y in relevanter Hinsicht ähnliche Muster ebenfalls als „nicht F“ zu charakterisieren – was bedeutet, die Einordnung von einigen Mustern, die wir gerade eben noch als F bezeichnet hatten, zu revidieren. Mit einem Wort: Wir empfinden unsere Lage als misslich, weil wir, erstens, bestimmte Verpflichtungen eingegangen sind, denen wir treu bleiben möchten, und weil wir, zweitens, im Sorites-Kontinuum keine scharfe Grenze wahrnehmen, auf die wir uns berufen könnten, wenn wir durch unser verändertes sprachliches Verhalten erklären, dass wir unseren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Was wir aber nach Soames dabei übersehen, wodurch uns der Bruch viel drastischer erscheint, als er sich in Wahrheit gestaltet, ist der Umstand, dass wir im Durchgang durch die Sorites-Reihe fortwährend die Standards für F-sein stillschweigend modifizieren. Das wird dann deutlich, wenn wir xk nicht mit seinem Vorgänger xk-1, sondern mit x1 vergleichen und feststellen, dass xk sich merklich von x1 unterscheidet. Nach Soames haben wir in dem Maße, wie wir immer mehr xi in die 115 UT, S. 213. Worin unterscheiden sich S und S*? Sie unterscheiden sich bezüglich des Vergleichsgegenstandes (Standard1) und bezüglich des Tertiums (Standard2). 116 Vgl. UT, S. 213 f.
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Extension von „grün“ aufnahmen, an Standard1 und Standard2 manipuliert und damit S Zug um Zug zu S’, S’’, . . . verschoben. Wie das? Indem wir immer mehr x ausdrücklich als grün bezeichnet und uns so gemäß den Modifikationsregeln darauf festgelegt haben, auch in relevanter Hinsicht ähnliche x als grün gelten zu lassen. In der permanenten – wenn auch zumeist unmerklichen – Veränderung der Standards liegt der dritte Grund dafür, warum wir unsere Lage als misslich empfinden: Mit den Standards ändern sich nämlich auch fortwährend die Prädikatgrenzen. Oder anders gesagt: Die Grenzen vager Prädikate sind inhärent instabil! „Although this inherent instability is not a practical problem for speakers in ordinary situations and although it does not represent any theoretical incoherence in the semantics of the relevant vague terms, it does explain the discomfort one feels when presented with the dynamic version of the paradox. We are uncomfortable because we feel pressured into doing something that cannot be done – namely, establishing a stable boundary line for the application of the predicate. The solution to this paradox is to recognize that there is no such boundary line and no requirement for there to be one.“ 117
Wie sieht nun die kontextualistische Lösung des Paradoxons aus? Dazu müssen wir bedenken, dass x nicht einfach F ist, sondern in einem Konversationskontext in Abhängigkeit von einer Menge von Standards S. Deshalb sind in der konditionalen Form von Sorites (1) F(a1) (2) :F(an) (3) F(a1) ! F(a2) (4) F(a2) ! F(a3) ... (n) F(an–1) ! F(an) (n+1) F(an) (n+2) F(an) ^ :F(an)
die Konditionale (3)–(n) auch nicht einfach wahr oder falsch, sondern wahr oder falsch unter Anlegung von S in K. Nur im Rahmen eines Kontexts und unter Zugrundelegung des jeweiligen Standards gilt, dass ai+1 als F zu charakterisieren ist, wenn ai als F charakterisiert wurde. Da früher oder später der Punkt in der Sorites-Reihe erreicht ist, an der sich Sprecher weigern werden, in der Reihe voranzuschreiten, also auch ak+1 als F zu bezeichnen, nachdem sie zuvor ak als F charakterisiert hatten, wird früher oder später auch S durch einen anderen Standard S* ausgetauscht. Tatsächlich finden nach Soames wie gesagt fortwährend stillschweigende Modifikationen des relevanten Standards von S nach S’, S’’, . . . 117
UT, S. 214.
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statt. Zu jeder Prämisse lässt sich also zwar ein Konversationskontext denken, relativ zu dem die Prämisse als wahr beurteilt wird. In keinem Kontext beziehungsweise unter keinem Standard sind jedoch alle Konditionale wahr.118 Für die induktive Form des Paradoxons bedeutet das, dass die Prämisse (I) in keinem Konversationskontext (und relativ zum betreffenden Standard) wahr ist. Kurz gesagt gilt also: Relativ zu einem Konversationskontext und den relevanten Standards ist Sorites zwar logisch gültig aber nicht schlüssig, da nicht alle Prämissen wahr sind. Darin liegt auch der Grund dafür, warum Sorites-förmige Argumente nur dann akzeptabel sind, wenn man sie als Abkürzung für das folgende korrekte Argument liest: „Wir hatten ai in Kontext K als F charakterisiert und uns damit auf einen Standard S festgelegt, gemäß dem wir alle x, die ai in relevanter Hinsicht ähnlich sind (in der Relation RE zu ai stehen), ebenfalls als F zu charakterisieren haben. Der hier zu entscheidende Fall ai+1 ist ein Fall dieser Art. Also haben wir auch ai+1 als F zu charakterisieren.“ Nur unter Bezug auf Kontext und relevante Standards ist die Verwendung eines Arguments vom Typ Sorites akzeptabel, weil nur dann gewährleistet ist, dass es sich nicht unter unseren Händen zu einem vollentwickelten Sorites-Exemplar auswächst, und weil nur dann überprüfbar ist, ob man es als nicht nur gültig, sondern auch als schlüssig ansehen darf. Aus kontextualistischer Sicht trägt also derjenige, der im Gerichtssaal ein Sorites-förmiges Argument verwendet, eine zusätzliche Argumentationslast, nämlich die, zum einen auszubuchstabieren, auf was für S genau wir uns in K festgelegt haben, und zum anderen, darzulegen, dass ai+1 tatsächlich in der Relation RE zu ai steht. Damit hat Soames zwar den Fehler an Sorites-Argumenten identifiziert, allerdings noch nicht erklärt, warum wir so hartnäckig versucht sind, ihn zu begehen: Warum erscheint (I) uns als harmlos und geradezu unwiderstehlich plausibel? Soames’ Antwort: Weil wir (I) mit einem sehr ähnlichen metasprachlichen Prinzip (I)* verwechseln, das sich von (I) dadurch unterscheidet, dass es der Kontextsensitivität vager Prädikate Rechnung trägt: (I)* Für beliebige xi und xi+1 in einer Sorites-Reihe: Wenn wir in einem Konversationskontext xi als F charakterisieren, dann legen wir uns damit auf einen Standard fest, demzufolge auch xi+1 als F zählt.119
Mit (I)* lässt sich das Paradoxon offenkundig nicht konstruieren, da die Behauptung von (I)* mit einem Wechsel von Kontext und Standard, und damit der Weigerung, in der Reihe immer weiter fortzuschreiten, durchaus vereinbar ist. Das Tückische an Sorites besteht darin, dass sich das Paradoxon zwar die Kontextsensitivität vager Prädikate zunutze macht, sie aber zugleich verschleiert. Warum aber sind wir geneigt, (I) mit (I)* zu verwechseln? Nach Soames deshalb, 118 119
Vgl. UT, S. 213. Vgl. UT, S. 215.
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weil wir uns auf ein Räsonnement stützen, das zwar intuitiv plausibel, jedoch irrig ist:120 (1) Wenn (I) falsch wäre, dann gäbe es ein xi, das F wäre, dessen von xi ununterscheidbarer Nachfolger xi+1 hingegen nicht. (2) Wenn also jemand von xi sagte, es sei F, und von xi+1, es sei nicht F, dann hätte er etwas Wahres gesagt. (3) (I)* sagt uns aber, dass das nicht sein kann, denn jede Charakterisierung von xi als F impliziert die Charakterisierung von xi+1 als F. (4) Also kann (I) nicht falsch sein und ist daher wahr.
Nach Soames ist diese Überlegung an zwei Stellen fehlerhaft. Der erste (kleinere) Fehler liegt in (4): Auch wenn (I) nicht falsch ist, muss (I) deshalb noch nicht wahr sein. Es wäre ja möglich, dass (I) unbestimmt ist, was nach Soames auch für die allermeisten Kontexte zu erwarten steht. Der größere Fehler ist dieser: (2) folgt nicht aus (1). Die Wahrheit von (I)* schließt die Möglichkeit nicht aus, dass (I) falsch ist. Um sich dies zu verdeutlichen, stelle man sich eine Sorites-Reihe vor, aus der einer Versuchsperson vier Elemente, xi-1, xi, xi+1, xi+2, präsentiert werden, deren Färbung sich kaum merklich voneinander unterscheidet. (Die Versuchsperson bekommt keine weiteren Elemente aus der Reihe zu sehen.) (I)* lässt zu, dass die Versuchsperson xi-1 als grün charakterisiert, xi+2 hingegen als nicht grün. Damit würde sie sich auf einen Standard festlegen, der sie nötigt, auch xi als grün und xi+1 als nicht grün zu bestimmen. In diesem Kontext würden angrenzende Muster unterschiedlich charakterisiert, wenn auch implizit (es könnte ja sein, dass die Versuchsperson gar nicht zu ihrer Meinung hinsichtlich xi, xi+1 befragt wird): In diesem Kontext würde der Standard eine unterschiedliche Einordnung von angrenzenden und kaum merklich voneinander verschiedenen Mustern bedingen, womit (I) falsifiziert wäre. Gleichwohl würde jeder Versuch, die Lage dieses Schnittpunktes ausdrücklich zu bestimmen, nach Soames zu einer Modifikation des Standards führen: (I)* würde sich auch hier geltend machen und die Versuchsperson wäre darauf festgelegt, angrenzende Muster gleich zu klassifizieren. „Failure to notice this extremely subtle and unusual possibility encourages us to confuse [(I)] with [(I)*] and helps generate an air of paradox.“ 121 Man sieht, wie sich mithilfe der Kontextsensitivität vager Prädikate die beiden zu anfangs genannten Bedenken aus der Welt schaffen lassen, die unter bloßen Rekurs auf partielle Definition nicht auszuräumen waren – dass es Fälle gibt, in denen es korrekt ist, einen Grenzfall als F zu bezeichnen, und dass es, wenn partielle Definition alles wäre, was man zur Vagheit von Prädikaten sagen könnte, Objekte xi, xi+1 geben müsste, so dass xi noch F ist, sein Nachfolger hingegen nicht mehr. Da vage Prädikate kontextsensitiv sind, haben Sprecher die Befugnis, 120 121
Vgl. hierzu und im Folgenden UT, S. 215 f. UT, S. 216.
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die Prädikatgrenzen mit Blick auf den Konversationskontext nach ihrem Ermessen anzupassen, und deshalb können wir uns Situationen denken, in denen es korrekt wäre, einen Grenzfall als F zu bezeichnen. Ferner legt jede Kennzeichnung eines x als F darauf fest, auch alle in relevanter Hinsicht ähnlichen x als F anzusehen. Deshalb finden wir nie ein Paar in einer Sorites-Reihe angrenzender, kaum oder gar nicht unterscheidbarer Muster, so dass das eine F wäre, das andere hingegen nicht, denn dazu müssten diese Objekte einander in relevanter Hinsicht unähnlich sein; dann aber würden sie in der Sorites-Reihe nicht aneinandergrenzen (oder zumindest nicht nahe beieinander liegen). II. Probleme Die kontextualistische Strategie gegen Vagheit scheint ebenso elegant wie wirkungsvoll zu sein: Das Sorites-Paradoxon wird zahnlos, sobald wir die Kontextabhängigkeit des betreffenden Prädikates im Blick behalten. Grenzfälle sind nur vorläufig, weil wir die Befugnis haben, die Semantik unserer Prädikate so zu modifizieren, dass „borderline cases“ zu klaren Fällen werden; unsere Sprache ist kein mysteriöses Artefakt voller semantischer Geheimnisse, sondern ein Werkzeug, das für manche Zwecke, die wir als Sprecher verfolgen, auch dort zum Einsatz kommen muss und kommen kann, wo wir uns auf neuem Terrain bewegen – sei es, dass wir mit bislang nicht dagewesenen Fällen konfrontiert werden, oder dass es uns aus pragmatischen Gründen auf einen außergewöhnlich feinen Auflösungsgrad ankommt, der die Unterscheidung nach einzelnen Haupthaaren erlaubt oder die Abbildung von Einkommensunterschieden auf einen Cent genau. Die These, Kontextabhängigkeit sei der Schlüssel zur Lösung, ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Da die Mitglieder der kontextualistischen Theoriefamilie recht unterschiedlich sind, fällt die philosophische Kritik oft sehr spezifisch aus.122 Stanley und Keefe haben jedoch zwei generelle Einwände gegen die kontextualistische Strategie vorgebracht: Das kontextualistische Modell versteht, so Stanley, vage Prädikate analog zu indexikalischen Ausdrücken wie „ich“, „hier“, „jetzt“.123 Man betrachte folgende Sätze: (S) Tim wohnt hier und Tom wohnt hier. (S’) Tim wohnt hier und Tom auch.
(S) lässt sich ohne Bedeutungsverlust oder Bedeutungswandel durch (S’) ersetzen, wobei sich (S’) dadurch aus (S) ergibt, dass man die Verbalphrase des zweiten Teilsatzes elidiert (VP-Ellipse). Generell, so Stanley, gilt für indexikalische
122 Wichtige Kritik an Soames’ Ansatz stammt beispielsweise von Williamson (2002) und Robertson (2000). Für Soames Erwiderung vgl. sein (2002), im Folgenden abgekürzt mit „R“. 123 Einwand in Stanley (2005), Kap. 8.
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Ausdrücke: „Indexicals have invariant interpretations in verb-phrase ellipsis [. . .].“ 124 Genau daraus erwächst Kontextualisten nach Stanley aber ein Problem: Man betrachte eine Sorites-Reihe aus Körneransammlungen, die mit klaren Fällen von Haufen beginnt und mit klaren Fällen von Nicht-Haufen endet. Wir beginnen nun am Haufen-Ende der Reihe mit Körneransammlung 1, zeigen auf sie und sagen (wobei „dasi“ demonstrativ gebraucht wird, um auf die i-te Ansammlung zu deuten): (D) Das1 ist ein Haufen, und das2 auch, und das3 auch, . . . und dasn auch. (K) Wenn das1 ein Haufen ist, dann das2 auch, und wenn das2, dann das3 auch, . . . und wenn dasn –1, dann dasn auch.
Kontextualisten zufolge finden wir (D) und (K) so plausibel, weil wir im Durchgang durch die Reihe fortwährend aber unbemerkt die Bedeutung von „Haufen“ modifizieren: Wir verändern fortlaufend den Standard dafür, ein Haufen zu sein, damit wir auch xi als Haufen bezeichnen können, wenn wir xi-1 als Haufen bezeichnet haben. Die Standard-Veränderung bringt also fortlaufend einen unbemerkt bleibenden Kontext-Wechsel mit sich. Wenn nun jedoch das Prädikat „Haufen“ analog zu indexikalischen Ausdrücken funktioniert, dann verändert es bei VP-Ellipse – wie in (D) und (K) – seine Bedeutung aber gerade nicht; stattdessen drückt es immer dieselbe Eigenschaft aus. „If the word ,heap‘ is an indexical, then it does not shift its denotation in any of the different conjuncts in [(D)] or any of the different conditionals in [(K)]. Since no context shifts are possible in these cases, the contextualist’s semantic account fails to explain why we find each step in [(D)] and [(K)] so compelling.“ 125
(D) und (K) erscheinen uns also auch dann noch plausibel, wenn KontextWechsel, die wir übersehen könnten, gar nicht vorkommen. Das bedeutet: Es gibt Fälle von Sorites, in denen die Erklärung des Kontextualismus dafür versagt, warum wir geneigt sind, das Spiel mitzumachen. Keefe wiederum hat gegen kontextualistische Ansätze eingewendet, sie würden mit unannehmbaren Kollateralschäden für unser „everyday reasoning“ einhergehen:126 Kontextualisten beantworten die Frage, warum wir so geneigt sind, die Major-Prämisse von Sorites zu akzeptieren, mit unserem Unvermögen, in einer Sorites-Reihe eine scharfe Grenze auszumachen. Dieses Unvermögen rührt daher, dass wir immer dann, wenn wir in der Sorites-Reihe irgendein Paar aneinandergrenzender oder zumindest in relevanter Hinsicht ähnlicher xi, xi+1 fokussieren, eine Standard-Veränderung bzw. einen Kontext-Wechsel induzieren. Diesen Wechsel können wir, wie Kontextualisten Keefe zufolge behaupten, auch gar nicht vermeiden: Wir sind nicht imstande, den Kontext fixiert zu halten, selbst 124 125 126
Stanley (2005), S. 160. Stanley (2005), S. 163. Keefe (2007).
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wenn wir dies wollten. Da wir nun nie ein Paar finden, bei denen das eine Glied F wäre, das andere hingegen nicht, wir also nur auf Paare stoßen, bei denen das eine Glied F ist, wenn es auch das andere ist, so gehen wir ganz natürlich zu der Generalisierung über, dass für beliebige xi, xi+1 gilt: Wenn xi F ist, dann ist auch xi+1 F. Damit haben wir aber die Major von Sorites akzeptiert, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Aus kontextualistischer Sicht, so Keefe, beruht diese Generalisierung jedoch auf einem Fehlschluss, nämlich auf einer Art von Äquivokation: „But it turns out, on the contextualist account, that the instances whose truth we grasp are not instances of the same thing: the predicate in question has a different extension in relation to different instances. We are not warranted in generalizing, for to do so would be to commit something akin to a fallacy of equivocation. ,For all i, if Fxi then Fxi+1‘ does not follow from the truth of something of the form ,If Fxi then Fxi+1‘ for every i, if it takes something different to count as ,F‘ in relation to different instances.“ 127
Kontextualisten würden genau das auch behaupten: Wir begehen eben einen Fehler, wenn wir in Gegenwart von vagem „F“ generalisieren. Das Problem ist nun aber, so Keefe, dass wir diesen Fehler dann in vielen anderen, anscheinend unproblematischen Fällen von induktivem Schließen, in denen vage Prädikate im Spiel sind, ebenfalls begehen. Da nahezu alle Ausdrücke natürlicher Sprachen vage sind, und wir in alltäglichen Zusammenhängen oft induktiv beziehungsweise mithilfe von Generalisierungen argumentieren, ist dieser Fehler in unserem „everyday reasoning“ beinahe allgegenwärtig: „In short, the contextualist is committed to convicting most of our attempts at reasoning by universal generalization of the fallacy of equivocation. And the same will apply to most everyday inductive arguments. Whatever the explanation of our belief in the sorites premiss, these verdicts on forms of reasoning are unavoidable for the contextualist, yet, surely, highly undesirable.“ 128
Der einfachste, aber, wie es scheint, auch schlagkräftigste Einwand gegen den kontextualistischen Lösungsvorschlag ist jedoch dieser: Dass Sorites in einem Kontext durch die Ziehung einer Grenze de facto blockiert wird, ist zwar richtig, beantwortet aber die falsche Frage. Diese drehte sich nicht darum, dass man keine scharfe Grenze ziehen und irgendwo anhalten, sondern dass man die Ziehung der Grenze genau an dieser Stelle in der Sorites-Reihe in vielen Fällen nicht begründen kann, obwohl man den Kontext berücksichtigt: Kontextrelativität schließt die rationale Unterbestimmtheit von Grenzziehungen nicht aus. Es sind Kontexte denkbar, in denen die Versuchsperson im Durchgang durch die Reihe der grünen Farbmuster auch ein Muster links oder rechts von ihrem tatsächlichen Haltepunkt hätte stehenbleiben können, ohne dass sie relativ zu diesen Kontexten und vor dem Hintergrund der relevanten Standards einen Fehler begangen hätte; 127 128
Keefe (2007), S. 285. Keefe (2007), S. 286.
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für die Zwecke der Spendensammler aus obigem Beispiel hätte die Ziehung der Grenze des (präzisierten) Prädikates „reich“ zum Beispiel bei n 1 Cent keinen Unterschied gemacht. Oder anders gesagt: Manchmal legen Kontexte eben nur eine unscharfe Grenze fest. Das bedeutet: Auch wenn wir den Kontext berücksichtigen, so gelingt es uns in vielen Fällen nicht, die Sorites-auflösende Grenze zu ziehen, anstatt nur eine Sorites-auflösende Grenze zu ziehen. Genau darin bestand aber doch das Problem – nicht einfach anzuhalten, sondern unter Angabe eines zureichenden Grundes anzuhalten.129 Dieser Einwand trifft nicht nur Kontextualisten, sondern konventionelle Rechtsauslegung und -anwendung insgesamt. Um etwa zu der Überzeugung zu gelangen, dass bei dem Tatbestandsmerkmal des „Vermögensverlustes großen Ausmaßes“ (§ 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB) an „große“ Schadensbeträge gedacht war, dazu muss man nicht erst das Arsenal der Rechtshermeneutik bemühen. Dass jedoch der kleinste dieser „Vermögensverluste großen Ausmaßes“ exakt 50.000,00 Euro beträgt, so dass zwischen einem einfachen und einem schweren Fall von Betrug tatsächlich ein einziger Cent stehen kann, dieses Ergebnis wird sich auch bei Aufbietung aller Auslegungsmittel, welche die Jurisprudenz entwickelt hat, nicht aus dem Gesetzestext gewinnen lassen. Das wirft die Frage auf, ob derartige Grenzziehungen überhaupt gerechtfertigt werden können. Dieser Einwand ist, wie gesagt, nicht kontextualismusspezifisch, weshalb ich ihn hier nicht weiter verfolgen möchte; wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung soll er jedoch in Kapitel G. eingehender behandelt werden. III. Anwendung im Recht 1. Anwendung Trotz dieser Probleme ist Soames’ Analyse von semantischer Vagheit aus rechtsphilosophischer und juristischer Sicht interessant, weil er in einer Reihe von Arbeiten aus den letzten Jahren Elemente einer Theorie der juristischen Interpretation vorgelegt hat, die zur Entschärfung von Vagheit im Recht auf das Modell von vagen Prädikaten als partiell definiert und kontextsensitiv zurückgreifen. Interessanterweise hat sich Soames dabei überhaupt nicht mit soritesförmigen Argumentationen und der rationalen Begründung (beziehungsweise Begründbarkeit) scharfer Schnitte in kontinuierlichen Übergängen beschäftigt. Über seine Beweggründe dafür können wir nur spekulieren, da er selbst sich dazu nicht 129 Bei diesem Einwand handelt es sich um eine abgeschwächte Version des bekannten anti-kontextualistischen Diktums „Hold the context fixed, vagueness still remains“; „abgeschwächt“, weil diese Version lediglich behauptet, dass das Problem unscharfer Grenzen vielleicht zwar nicht in allen, wohl aber in einigen Fällen trotz Fixierung des Kontextes fortbesteht. Auf diesen Einwand bin ich durch einen Vortrag von Nikola Kompa vor dem Workshop „Vagueness in Context“ (HU Berlin, 05. Juli 2012) aufmerksam geworden.
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geäußert hat. Vielleicht erschien ihm die Behandlung von Sorites als überflüssig, weil eine Sorites-Argumentation aus Sicht des Soames’schen Kontextualisten stets fehlerhaft ist, gleichgültig, ob sie innerhalb oder außerhalb des Gerichtssaales auftritt. Korrekt rekonstruiert lautet sie für rechtliche Zusammenhänge: „Sachverhalt y soll rechtlich als F behandelt werden, weil (1) Sachverhalt x (Standard1) rechtlich als F beurteilt wurde, (2) wir uns damit darauf festgelegt haben, alle in relevanter Hinsicht zu x ähnlichen (Standard2, Standard3) Fälle ebenfalls als F zu zählen, und (3) y zu x in relevanter Hinsicht ähnlich ist.“ Die korrekte Rekonstruktion übersetzt sich für das Gericht damit in die Aufgabe zu prüfen, ob y zu x, gemessen an Standard2 und Standard3, ähnlich ist. Diese Aufgabe ist keine logisch-semantische mehr, sondern eine der juristischen Kasuistik.130 Betrachten wir das von Soames entwickelte Instrumentarium etwas genauer: Der Schlüsselbegriff in Soames’ Entwurf ist „Gesetzesauslegung“, „legal interpretation“.131 Darunter versteht Soames die rechtlich verbindliche Beantwortung von Fragen hinsichtlich dessen, was das Gesetz für einen konkreten Fall verlangt, wobei diese Antwort durch Amtsträger gegeben wird, die dazu rechtlich autorisiert sind und die zu ihrer Antwort dadurch kommen, dass sie Rechtstexte auslegen.132 Gesetzesauslegung hat bei Soames eine epistemische und eine konstruktive Aufgabe: Die epistemische Aufgabe besteht darin, den Gehalt von Rechtsnormen zu ermitteln; die konstruktive Aufgabe besteht darin, ein rechtlich bindendes Urteil zu sprechen, das wiederum selbst eine Rolle für die Ermittlung dessen spielt, was das Gesetz für einen partikularen Fall anordnet, wobei ein solches Urteil bisweilen den Gehalt des Rechts verändert133 – man denke etwa an höchstrichterliche Rechtsprechung oder die Entscheidung eines „case of first impression“, also eines Präzedenzfalles in einer auf dem Common Law basierenden Rechtsordnung, dessen Entscheidung gemäß dem Prinzip „Stare decisis“ Bindungswirkung für vergleichbare Fälle entfaltet. Was als korrekte oder inkorrekte Gesetzesauslegung gilt, hängt dabei von der Rolle der Rechtsprechung im Gewaltengefüge der jeweiligen staatlichen Ordnung ab und kann daher variieren. Für das Rechtssystem der USA – und, darf man hinzufügen, wohl für alle rechtsstaatlichen Rechtsordnungen des atlantischen Raumes – gilt nach Soames die Norm 130 Hier wird sich eventuell das gerade behandelte Problem bemerkbar machen, dass in manchen Kontexten der Standard dafür, F zu sein, nicht strikt genug ist, um eine scharfe Grenze festzulegen. 131 Soames spricht nur von „legal interpretation“. Gleichwohl umfasst sein Entwurf weit mehr als nur eine juristische Hermeneutik, nämlich auch detailliert ausgearbeitete Elemente einer Theorie der Rechtsanwendung durch Gerichte („theory of adjudication“). 132 „By ,legal interpretation‘ I mean the legally authoritative resolution of questions about what the content of the law is in its application to particular cases. It is the interpretation of legal texts by legally authoritative actors.“ TLI, S. 231. 133 Vgl. ebd.
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RJ, welche die Kompetenzen und Aufgaben der Rechtsprechung im Verhältnis zu den Vorrechten der Legislative umreißt und Gesetzesauslegung und -anwendung leitet, gleich ob als kodifizierte Rechtsnorm oder lediglich als bindende Konvention der Justiz: „[RJ] Courts are not to legislate, but are to apply the laws adopted by legislative authorities to the facts of particular cases. When the content of the laws fails to provide reliable guidance in determining a unique acceptable legal outcome – either because it leads to inconsistent outcomes, or because it fails to lead to any outcome, or because it leads to an outcome that is both patently absurd and unforeseen (in cases in which a single, definite, and otherwise acceptable outcome is needed) – the task of the judicial authority is (i) to discern the predominant legislative rationales of the lawmaking bodies in adopting the laws or legal provisions, and (ii) to fashion the minimal modification of existing legal content that removes the deficiency and allows a decision to be reached, while maximizing the fulfillment of the discernable legislative rationales of the relevant laws or legal provisions.“ 134
RJ stellt das Herzstück von Soames’ „theory of legal interpretation and adjudication“ dar. Für ein Verständnis von Soames’ Theorie müssen wir uns deshalb zunächst Klarheit darüber verschaffen, was mit „lawmakers“ (beziehungsweise „legislative authorities“), „content of the laws“ und mit „legislative rationale“ gemeint ist. Beginnen wir mit „lawmakers“:135 Gesetzgeber sind bei Soames alle diejenigen, „whose official actions and linguistic performances are constitutive of the contents of the law“.136 Das schließt Verfassungsväter und -mütter ebenso ein wie Abgeordnete eines Parlamentes oder Amtsträger der Exekutive; die Wähler bei Plebisziten und Richter, deren Urteile Bindungswirkung für spätere Entscheidungen entfalten, also Richter an Obersten Gerichten oder Richter, die einen Präzedenzfall entscheiden; ferner auch Parteien eines zivilrechtlichen Vertrages, Schiedsgerichte beziehungsweise Schlichter etwa für Streitfälle zwischen den Parteien, sowie alle diejenigen, die zur rechtsverbindlichen Auslegung von Rechtsnormen ermächtigt sind.137 Dieser weite Begriff von „lawmaker“ bringt, wie man sieht, einen weiten Begriff von „law“ mit sich: „Law“ beschränkt sich nicht auf förmliche (einfache) Gesetze, sondern begreift auch Verfassungsbestimmungen, Verwaltungsakte, bindende Vereinbarungen in privatrechtlichen Ver134
TLI, S. 233. Es ist im Deutschen unüblich, von Gesetzgebern im Plural zu sprechen. Gleichwohl soll dies im Folgenden geschehen, um Soames’ Rede von „lawmakers“ wiederzugeben. 136 TLI, S. 232. 137 „They [sc. lawmakers] include legislators enacting statutes, administrative bodies issuing rules implementing them, ratifiers of constitutions, voters on ballot initiatives, and judges issuing precedent-setting opinions. In the sphere of ,private law,‘ lawmakers include the parties to a contract, and judges as well as other official bodies adjudicating contractual disputes. Crucially, legally authoritative interpreters of the law are included among lawmakers the actions of which are subject to further interpreters.“ Ebd. 135
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trägen sowie verbindliche Auslegungen von Rechtsnormen unter sich, umfasst also alle für die Beantwortung einer Rechtsfrage einschlägigen Rechtsnormen beliebiger Rangstufe sowie rechtlich verbindliche Aussagen darüber, wie diese Normen zu verstehen sind.138 Die Aufgabe von Rechtsanwendern besteht nun (zunächst) darin, den Gehalt derjenigen Rechtsnormen zu ermitteln, die für die Entscheidung eines Falles relevant sind. Was aber ist unter diesem „content of the law“ zu verstehen? „Existing legal content is, I think, neither original intent nor original meaning; rather, it is the content originally asserted or stipulated by lawmakers in adopting the text. Contemporary philosophy of language and theoretical linguistics distinguish the meaning of a sentence S from its semantic content relative to a context, both of which are distinguished from (the content of) what is said, asserted or stipulated by an utterance of S. Although in some cases the three types of content coincide, while in still others the final two do, there are many cases in which the third differs from the other two. In every legal case in which there is such a difference, it is the third – asserted or stipulated – content that is required by any defensible form of textualism.“ 139
In Anlehnung an J. L. Austins Unterscheidung zwischen illokutionären und perlokutionären Akten unterscheidet Soames illokutionäre und perlokutionäre Intentionen des Gesetzgebers.140 Die Gesetzgeber intendieren, dass ihre sprachliche Performance von ihren Adressaten auf eine bestimmte Weise verstanden wird und eine bestimmte Wirkung zeitigt. Intentionen der ersten Art sind illokutionäre, die der zweiten Art sind perlokutionäre Intentionen. Soames erläutert diese Unterscheidung anhand einer fiktiven kommunalen Verordnung, die es Schulkindern verbietet, sich auf dem Schulweg von Fremden in deren Auto mitnehmen zu lassen. Die illokutionäre Intention der Gemeinderäte, die diese Verordnung verabschiedet haben, besteht darin, „that their linguistic performance be recognized as asserting or stipulating that, henceforth, accepting such rides to and from school shall be a misdemeanor“.141 Die Gemeinderäte verfolgen mit dem Erlass der Verordnung aber ein ganz bestimmtes Ziel, nämlich das Risiko von sexuellen Übergriffen auf Schulkinder dadurch zu verringern, dass sie ihnen verbieten, sich zu unbekannten Personen ins Auto zu setzen. Die auf dieses Ziel gerichteten Intentionen des Gemeinderates machen seine perlokutionären Intentionen aus. In dem Ziel, sexuelle Übergriffe auf Schulkinder zu vermeiden, besteht der Zweck der Verordnung, mit dem ihr Erlass auch vor der Gemeinde gerechtfertigt wird. Diese Gründe wiederum, mit denen die Setzung einer Rechtsnorm öffentlich gerechtfertigt wird, bilden „the lawmakers’ legislative rationale“, oder, mit einem 138 Wenn im Folgenden von „Gesetz“ die Rede ist, dann ist dieser Ausdruck in derselben Breite wie Soames’ „law“ zu verstehen. 139 TLI, S. 236 f. 140 Vgl. TLI, S. 242 ff. 141 TLI, S. 242.
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älteren Terminus, die Ratio Legis. Nach dieser zu fragen bedeutet also, nach Rechtfertigungsgründen zu fragen, und nicht etwa nach kausal wirksamen Faktoren wie Druck der Parteiführung, Rücksicht auf die Stimmung im Wahlkreis, wirtschaftliche Interessen großzügiger Wahlkampfspender usw., welche die erforderliche Anzahl von Abgeordneten dazu motivierten, ein Gesetz zu verabschieden.142 Da die illokutionären Intentionen der Sprecher zusammen mit den Bedeutungen („linguistic meanings“) der von ihnen verwendeten Wörter eine wichtige Rolle bei der Festlegung dessen spielen, was die Sprecher sagen, sind illokutionäre Intentionen der Gesetzgeber auch relevant für die Frage, was der Gehalt einer von ihnen erlassenen Rechtsnorm ist.143 Diese Intentionen zu eruieren ist daher ein zentraler Bestandteil der epistemischen Seite von Gesetzesauslegung, also der Ermittlung des Gehaltes von Rechtsnormen.144 Was aber ist mit den perlokutionären Intentionen der Gesetzgeber? Soames’ Antwort: „Once the epistemological task of identifying the asserted or stipulated content is complete, legal interpreters may ignore the lawmakers’ perlocutionary intentions [. . .].“ 145 Die perlokutionären Intentionen brauchen nach Soames nur dann berücksichtigt zu werden, wenn einer von drei Fällen vorliegt: (i) Vagheit: Der Gehalt einer Rechtsnorm ist vage und die für die Entscheidung eines Falles relevanten Fakten fallen in diesen Vagheitsbereich. In derartigen Fällen legen Sachverhalt und Gehalt der relevanten Rechtsnormen keine eindeutige Lösung des Falles fest.146 (ii) Normenwiderspruch: Mehrere gleichrangige Rechtsnormen legen zusammen mit dem betreffenden Sachverhalt verschiedene, miteinander unverträgliche Fallentscheidungen fest.147 (iii) Zweckwidrigkeit: Der Gehalt einer Rechtsnorm legt zusammen mit den Eigenschaften eines zu beurteilenden Sachverhaltes überraschenderweise eine Entscheidung fest, die in einem deutlichen Widerspruch zu den offenkundigen Regelungszwecken dieser oder anderer Rechtsnormen steht, so dass das Ergebnis zwar korrekt aber inakzeptabel ist.148 142
TLI, S. 250. TLI, S. 241. 144 TLI, S. 242. 145 TLI, S. 243. 146 Vgl. TLI, S. 243. 147 Vgl. ebd. 148 Vgl. TLI, S. 244. Die Beschränkung auf einen Widerspruch zwischen Ergebnis und Regelungszwecken stellt eine künstliche Verengung dar. Nicht jedes offensichtlich inakzeptable Urteil muss mit Zweckwidrigkeit zu tun haben. Es sind Fälle des Typs (iii) denkbar, in denen das Problem mit dem erhaltenen Ergebnis darin besteht, dass es zwar rechtlich korrekt ist, jedoch dem Rechtsempfinden beziehungsweise Gerechtigkeitsgefühl aller Beteiligten widerspricht. Da Soames’ Interpretationstheorie aber moderat 143
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In allen diesen Fällen ist es Aufgabe der Rechtsanwender, „to make the minimal modification of the content of an existing law, while maximizing the fulfillment of discernable legislative purposes“.149 Für Fälle des Typs (i), auf die wir uns hier beschränken, bedeutet dies, dass der vage Gehalt der relevanten Rechtsnorm partiell präzisiert werden muss, um ein Ergebnis zu erreichen, das soweit wie möglich der Ratio Legis des betreffenden Gesetzes entspricht. Hier ist die konstruktive Rolle von Gesetzesauslegung gefragt, und nur dann, wenn sie unverzichtbar ist, man also mit den ermittelten illokutionären Intentionen nicht weiter kommt, ist nach Soames der Rekurs auf die perlokutionären Intentionen der Gesetzgeber gerechtfertigt. Betrachten wir dazu noch einmal Soames’ Beispiel von der fiktiven Verordnung, das er folgendermaßen weiterführt: Die siebzehnjährige Gymnasiastin Tina hat sich nach dem Nachmittagsunterricht noch mit Freunden unterhalten und sich dadurch zu spät auf den Weg zu dem Supermarkt gemacht, in dem sie seit einiger Zeit nach der Schule aushilfsweise arbeitet, um sich etwas zusätzliches Taschengeld zu verdienen. Auf dem Weg dorthin wird sie von einer freundlichen und in jeder Hinsicht harmlosen älteren Dame, die in der Schulcafeteria arbeitet und mit der Tina nicht näher bekannt ist, mit der sie allerdings schon das eine oder andere Mal ein „Guten Tag“ gewechselt hat, gefragt, ob sie sie nicht Richtung Supermarkt mitnehmen könne. (Die Dame wohnt, wie sie hinzufügt, auf der gegenüberliegenden Straßenseite.) Tina akzeptiert und erscheint dadurch pünktlich zur Arbeit. Allerdings beobachtet ein Polizist den Vorgang und bringt ihn zur Anzeige. Ist Tina wegen Verstoßes gegen die Gemeindeverordnung zu verurteilen? Die illokutionären Intentionen des Gemeinderates sind bekannt, helfen hier aber nicht weiter, da die freundliche alte Dame einen Grenzfall für „Fremder“, Tina selbst – angesichts des Fehlens einer Altersregelung beziehungsweise einer näheren Bestimmung in der Verordnung – einen Grenzfall für „Schulkind“ darstellt. In einem solchen Fall ist, nach Soames, der Rekurs auf die perlokutionären Intentionen der Gesetzgeber gerechtfertigt (und zur begründeten Fallentscheidung auch notwendig). Vor deren Hintergrund wäre es ungerechtfertigt, Tina zu verurteilen: Ältere Damen gehören in aller Regel nicht zu demjenigen Personenkreis, in dem sich pädophile Gewalttäter finden. Außerdem kann man nicht wirklich sagen, Tina sei zu einer „Fremden“ ins Auto gestiegen. Und schließlich fällt Tina als junge Erwachsene auch nicht in die Kategorie von Schülern, die in der Verrechtspositivistisch ist, insofern außerrechtliche moralische Maßstäbe in der Auslegung und Anwendung von Recht keine Rolle spielen, ist die Beschränkung von Typ-(iii)-Fällen auf Zweckwidrigkeit gleichwohl verständlich. Soames (2009b), S. 403, hat Typ-(iii)Fälle übrigens abweichend charakterisiert, nämlich als Fälle, „in which the texts yield a single result, which is, paradoxically, legally incorrect“. Diese Bestimmung ist zwar weiter, da die Beschränkung auf Zwecke fehlt, jedoch auch ungenauer, da das Problem in Fällen des Typs (iii) nicht durch Texte hervorgerufen wird, sondern durch ihren Gehalt, und das Ergebnis auch nicht inkorrekt ist, sondern inakzeptabel. 149 TLI, S. 244 et passim.
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gangenheit Opfer von Übergriffen wurden (und zu deren Schutz die Verordnung erlassen worden ist).150 2. Probleme Soames’ Entwurf einer „theory of adjudication“ weist mehrere Stärken auf: Zum einen lehnt er sich sehr eng an die Praxis der Gesetzesauslegung und -anwendung an, wie sie faktisch in westliche Rechtssystemen etabliert ist; er fordert keine oder zumindest keine sehr tiefgreifende Änderung dessen, was Juristen in diesen Rechtsordnungen bereits tun und was zu tun von ihnen auch erwartet wird. Zum anderen entspricht Soames’ Theorie problemlos den Anforderungen an rechtsstaatliche Rechtsanwendung, das heißt den Geboten der Justizgewähr, der Gesetzesbindung und der Entscheidungsbegründung. Wie sich in den vorausgegangenen Abschnitten gezeigt hat, ist dies keine Selbstverständlichkeit. Die von Soames’ Theorie bereitgestellten, sprachphilosophisch reflektierten und vertieften Werkzeuge sind für klare Fälle instruktiv und für Grenzfälle praktisch fruchtbar: In klaren, also unproblematischen Fällen sagt uns seine „theory of adjudication“, inwiefern das, was Juristen bei der Gesetzesauslegung zwecks Fallentscheidung tun, sachlich angemessen und also vernünftig ist. In Grenzfällen sagt sie uns, was wir vernünftigerweise tun sollten, um den Fall in Übereinstimmung mit den Grundsätzen rechtsstaatlicher Rechtsanwendung zu entscheiden – nämlich die Semantik der involvierten Prädikate unter Rekurs auf die Ratio Legis (also auf bestimmte Intentionen des Gesetzgebers) so nachzujustieren, dass der jeweilige Fall zu einem klaren F- beziehungsweise Nicht-F-Fall wird. Für Sorites-Kontinuen gilt Entsprechendes. Man könnte sagen, dass Soames’ Theorie die Ratio Legis als hermeneutische und argumentative Ressource verwendet, insofern die perlokutionären Intentionen des Gesetzgebers (beziehungsweise begründete Annahmen darüber) einerseits dazu dienen, die Frage zu beantworten, was der Gehalt der relevanten Rechtsnormen im Hinblick auf den hier zu entscheidenden Fall ist, und andererseits in Grenzfällen Gründe für die Rechtfertigung der durchgeführten semantischen Modifikation an die Hand geben: Man hat die betreffenden Prädikate so und so präzisiert, weil dies die Ratio Legis maximal zur Geltung brachte. Damit gelingt Soames das, woran die anderen hier behandelten Theorien gescheitert sind, nämlich das Entscheidungs- und Abgrenzungsproblem grundsätzlich zu lösen, ohne vor dem Begründungsproblem zu kapitulieren. Obwohl (oder gerade weil) Soames’ Entwurf in weiten Teilen den klassischen Modellen der Gesetzesauslegung und -anwendung folgt, wirft sie einige recht grundlegende Fragen auf. Soames sagt, dass es bei Gesetzesauslegung primär
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darauf ankomme, was die Gesetzgeber mit ihrer Norm „sagen wollten“, was also ihre illokutionären Intentionen gewesen seien, und dass der Rekurs auf perlokutionäre Intentionen nur in Fällen erforderlich und zulässig sei, in denen man mit illokutionären Intentionen nicht weiterkomme. Diese These wird von Soames nicht begründet, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Warum sollten Rechtsanwender gehalten sein, nach Äußerungsbedeutung zu fragen, und nicht etwa nach dem „möglichen Wortsinn“ des Normtextes? Die Antwort darauf kann keine semantische sein, denn die Frage dreht sich darum, was das Ziel von Gesetzesauslegung und -anwendung ist, welche Art von Bedeutung also die rechtlich relevante ist. Ferner stellt sich die Frage, warum die Ratio Legis nur bei der Entscheidung von Grenzfällen Berücksichtigung finden soll und nicht vielmehr in jedem Fall, das heißt als Korrektiv für Hypothesen über die illokutionären Intentionen des Gesetzgebers?151 Schließlich kann das, was man sagen beziehungsweise zu verstehen geben wollte, dem, was man bewirken wollte, inadäquat sein. Es bleibt ja immer möglich, dass sich jemand, salopp gesagt, unglücklich ausdrückt. Die ausschließliche Fixierung auf illokutionäre Intentionen kann sogar zu rechtlichen Beurteilungen führen, die als Fehlurteile empfunden werden. Interessanterweise lässt sich zur Demonstration ein Beispiel anführen, das Soames selbst ausführlich behandelt hat, nämlich Smith v. United States:152 Titel 18 U.S.C. 924(c)(1) bestimmt: „[A]ny person who, during and in relation to any crime of violence or drug trafficking crime [. . .] for which the person may be prosecuted in a court of the United States, uses or carries a firearm, or who, in furtherance of any such crime, possesses a firearm, shall, in addition to the punishment provided for such crime of violence or drug trafficking crime – (i) be sentenced to a term of imprisonment of not less than 5 years.“
Smith hatte versucht, eine automatische Waffe gegen Kokain einzutauschen. (Der vermeintliche Drogen-Händler entpuppte sich jedoch als verdeckter Ermittler.) Ein Gericht verurteilte ihn wegen „use“ einer Schusswaffe zu der unter (i) angeordneten zusätzlichen Haftstrafe. Smith wandte sich an den Supreme Court. Dieser befand das Urteil der untergeordneten Instanz mit folgender Begründung für rechtens: „924(c)(1)’s plain language imposes no requirement that a firearm be ,use[d]‘ as a weapon, but applies to any use of a gun that facilitates in any
151 Natürlich gibt es Sonderregelungen, die manchmal eine strikt am „Wortsinn“ orientierte Auslegung verlangen, so etwa im Strafrecht (nullum crimen, nulla poena sine lege, Art. 103 Abs. 2 GG) oder bei der Auslegung von Ermächtigungsgrundlagen für Eingriffe in Grundrechte (Art. 19 Abs. 1 GG). Eine analoge Anwendung etwa von Strafnormen, gestützt auf Reflexionen über Absichten des Gesetzgebers u. dgl. m., ist ausnahmslos unzulässig. Die geforderte Orientierung an der sogenannten „Wortlautgrenze“ hat hier die Funktion, verfassungskonforme von verfassungswidriger Auslegung beziehungsweise zulässige Rechtsanwendung von unzulässiger Rechtsfortbildung zu unterscheiden. Vgl. dazu Klatt (2004). 152 508 U.S. 223 (1993). Vgl. Soames (2009b), S. 412–415.
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manner the commission of a drug offense.“ 153 Eine Schusswaffe gegen Drogen einzutauschen ist sicherlich eine Art, sie zu „verwenden“. Die illokutionären Intentionen sind klar. Allerdings wäre die Frage, ob der Kongress wirklich auch derartige Verwendungen einer Waffe als besonders verwerflich werten und daher mit einer zusätzlichen Strafe versehen wollte – oder ob er nicht stattdessen besonders schwere Fälle von Drogenkriminalität im Auge hatte, in der von Schusswaffen als Schusswaffen Gebrauch gemacht wird, so dass eine Gefährdung weiterer Rechtsgüter, eventuell auch von Dritten, ins Spiel kommt. Jedenfalls darf man annehmen, dass bei der Berücksichtigung perlokutionärer Intentionen beziehungsweise der Ratio Legis ein anderes Urteil gesprochen worden wäre. Die ausschließliche Betrachtung von illokutionären Intentionen macht Smith v. United States zu einem Fall, in dem sozusagen der Buchstabe den Geist getötet hat. Übrigens ist es nicht nötig, für die Illustration der These, ausschließliche Betrachtung von illokutionären Intentionen sei rechtlich problematisch, auf derart spektakuläre Fälle wie Smith v. United States zurückzugreifen. Jeder triviale Fall aus dem Zivilrecht, in dem der Anwendungsbereich einer Norm gegen ihren Wortlaut teleologisch extendiert oder reduziert werden muss, würde genügen. Nun könnte Soames erwidern: „Richtig, aber sowohl Smith v. United States als auch die trivialen Fälle, in denen teleologische Extension und Reduktion zum Einsatz kommen, sind Fälle, die dem dritten der oben von mir unterschiedenen Falltypen – Zweckwidrigkeit – zugehören, und in Fällen dieses Typs fordere ich doch gerade die Einbeziehung der perlokutionären Intentionen!“ Gewiss. Nur gab uns Soames folgende Arbeitsanweisung: Frage immer zuerst nach den illokutionären Intentionen und entscheide den Fall diesen gemäß. Sind die illokutionären Intentionen unklar, etwa aufgrund von Vagheit und Normenkonflikt, oder wäre die Entscheidung normzweckwidrig, dann berücksichtige die perlokutionären Intentionen! Diese Anweisung läuft jedoch offenkundig darauf hinaus, dass wir immer nach der Ratio Legis fragen, immer auch prüfen müssen, ob unsere Entscheidung aufgrund der illokutionären Intentionen der Gesetzgeber auch ihren perlokutionären Intentionen angemessen wäre. Ein Fall wird demnach nie nur durch Rekurs auf die illokutionären Intentionen der Gesetzgeber gelöst, zumindest nicht auf methodisch korrekte Weise. Soames suggeriert jedoch etwas anderes: Er sagt ausdrücklich, dass es in vielen Fällen genügt, bloß nach den illokutionären Intentionen zu fragen. Diese methodologische Behauptung steht jedoch im Widerspruch zu der von ihm gegebenen Arbeitsanweisung, Normzweckwidrigkeit zu vermeiden. Soames steht also vor zwei Schwierigkeiten. Erstens muss er eine rechtstheoretische oder besser: staatstheoretische Begründung dafür nachliefern, dass die-
153 Zitat aus der Kurzbeschreibung des Falles unter: http://www.law.cornell.edu/ supct/html/91-8674.ZS.html.
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ser und jener Art von Intentionen beziehungsweise Bedeutung bei der Rechtsauslegung der Vorrang gebührt. Zweitens widerspricht seine Methodologie der von ihm selbst gegebenen Erläuterung. Das Beispiel Smith v. United States deutet jedoch noch auf ein anderes und grundlegenderes Defizit der Soames’schen „theory of adjudication“ hin: Seine Konzeption ist zu eng, was vermutlich auch daher rührt, dass Soames die staatstheoretischen Fragen beziehungsweise Voraussetzungen korrekter Rechtsanwendung nicht scharf von den damit verbundenen semantischen Problemen unterscheidet. Die Frage, was bei der Gesetzesauslegung und -anwendung zu berücksichtigen ist und was dabei welches Gewicht erhalten soll, ist, wie schon mehrfach gesagt, keine semantische Frage. Um sie (richtig) zu beantworten muss man über eine Theorie darüber verfügen, was genau etwas zum allgemeinverbindlichen Gesetz beziehungsweise zu „Recht“ macht, welche Rolle der Justiz im Gewaltengefüge zukommt, gerade auch im Hinblick auf Rang und Vorrechte des Gesetzgebers usw. Soames Konzeption ist zum einen rein rechtspraktisch für die Bewältigung vieler Fälle zu dürftig: Es gibt ja, wie der juristische Alltag zeigt, Fälle, in denen nicht oder nicht mehr zu ermitteln ist, welche Zwecke mit dem Erlass einer Norm verfolgt wurden, beziehungsweise in denen unklar bleibt, welche Entscheidung von der Ratio Legis, soweit sie rekonstruiert werden konnte, hier und heute verlangt wird. Das bedeutet, dass gerade auch Grenzfälle denkbar sind, in denen im Rahmen von Soames’ Konzeption die erforderlichen Ressourcen zur Präzisierung der betreffenden (partiell definierten) vagen Prädikate nicht ausreichen oder ganz fehlen – obwohl die faktisch etablierte Rechtspraxis in solchen Fällen noch auf andere Geschütze aus ihrem Methoden-Arsenal zurückgreifen kann. Diese methodologische Dürftigkeit zeigt aber ein prinzipielles Problem bei Soames an: Bei ihm werden weitere argumentative Ressourcen, auf die man zur Rechtfertigung einer Präzisierung vager Prädikate zurückgreifen könnte, also etwa Vorgaben höchstrichterlicher Rechtsprechung, Verfassungsprinzipien, Grundrechte, Konsistenzerwägungen im Hinblick auf höherrangiges Recht (Verfassungs- und Europarecht), Gerechtigkeits- und Billigkeitserwägungen etc. vollständig ausgeblendet. Dass es sich dabei, gemessen an der Komplexität westlicher Rechtssysteme, um ein erhebliches Defizit handelt, und zwar nicht zuletzt aus rechtlicher Perspektive, versteht sich von selbst, ist aber nicht die Hauptsache. Das Problem mit dieser Verengung besteht darin, dass sie dem, was wir unter „Recht“ verstehen, nicht gerecht werden kann, weil sie die prinzipielle Bedeutung etwa von Verfassungsbestimmungen oder Grundrechten für die Ermittlung dessen, was Recht ist, verkennt. Zu Bedenken, dass diese oder jene Interpretation einer Norm mit Blick auf die Grundrechte der Betroffenen bedenklich ist, eine andere ebenfalls mögliche Interpretation hingegen nicht, ist ja nicht einfach nur unter Gesichtspunkten der Entscheidung von Fällen beziehungsweise ihrer Begründung nützlich. Ob die Konformität der gewählten Interpretation zur Verfassung und/oder ihre Berücksichtigung von grundrechtlich geschützten Posi-
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tionen geprüft und gewährleistet wurde, ist ein Kriterium für die Beurteilung der Entscheidung als rechtlich richtig.
H. Auswertung Fassen wir die Ergebnisse dieses Teils in aller Kürze zusammen. Die Frage war, ob sich auf Grundlage der jeweils betrachteten Vagheitstheorie die mit Sorites- und Grenzfall-Vagheit im Recht verbundenen Entscheidungs-, Abgrenzungsund Begründungsprobleme lösen oder zumindest entschärfen lassen. Die daran gemessene Leistung der untersuchten Theorien fiel recht unterschiedlich aus. Epistemizismus und Supervaluationismus haben zwar wirksame Strategien gegen Sorites vorzuweisen, stehen aber beide vor dem Dilemma, zur Behandlung von Grenzfällen entweder nichts beitragen zu können oder auf einen methodologischen Notbehelf zurückgreifen zu müssen, der nicht nur eine unschöne Verengung des juristischen Instrumentariums zur Folge hat, sondern sich dadurch auch dem Verdacht aussetzt, ein Verständnis von Recht und Rechtsanwendung vorauszusetzen, welches quer zu demjenigen steht, das unserer – und vermutlich jeder rechtsstaatlichen – Rechtsordnung zugrunde liegt. Im Recht sind Methodenfragen eben Verfassungs- beziehungsweise Prinzipienfragen. Nun braucht etwa ein Epistemizist deswegen noch nicht an seiner Theorie irre werden. Er könnte ja entgegnen, dass der Epistemizismus lediglich als theoretisches Modell gedacht gewesen sei, und nicht als Hilfestellung für Rechtsanwender. Seine Fruchtlosigkeit im Recht zeige nicht, dass die epistemische Vagheitstheorie etwas Falsches über Grenzfälle oder die Unerkennbarkeit von Prädikatgrenzen sage, sondern lediglich, dass einer Praxis, die darauf angewiesen ist, Prädikatgrenzen zu ermitteln (oder zumindest begründet zu ziehen), mit dem epistemizistischen Modell allein erwartungsgemäß nicht gedient sei. Dieser Erwiderung ist dahingehend zuzustimmen, dass das Versagen des Epistemizismus im Recht keiner Falsifikation seiner Thesen über die Natur von Vagheit gleichkommt. Das Problem für den Epistemizisten besteht jedoch darin, dass er nicht nur auf eine Reihe von hochgradig kontroversen und, aus Sicht vieler Philosophen, unplausiblen Thesen festgelegt ist, sondern außerdem überall dort, wo es auf Grenzziehungen ankommt – übrigens nicht nur im Recht, sondern beispielsweise auch bei Diagnosen in der Medizin – nichts beizutragen hat. Williamsons Epistemizismus ist also als Theorie nicht nur steil, sondern auch noch praktisch steril. Supervaluationisten wiederum sollten obigen Befund zum Anlass nehmen, ihre Theorie in einem Punkt zu überdenken: Es ist – gerade gegen den Epistemizismus gesprochen – richtig und verdienstvoll, die Intuition einfangen zu wollen, dass Grenzfälle eben Fälle sind, in denen es nicht bloß für uns und unsere beschränkten epistemischen Fähigkeiten aufgrund der semantischen Geheimnisse unserer Sprache unklar ist, ob „F“ zutrifft oder nicht, sondern Fälle, in denen die
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Wahrheit von „a ist F“ selbst für ein epistemisch unbeschränktes Wesen unwissbar ist, weil „a ist F“ eben weder wahr noch falsch ist.154 Grenzfälle vager Prädikate sind nicht bloß vorläufig oder scheinbar. Gleichwohl ist das aber nicht die ganze Wahrheit. Unsere Sprachpraxis zeigt ja, dass wir Grenzfälle in klare Fälle transformieren können, und zwar einfach dadurch, dass wir die Semantik unserer Sprache nachbessern, also das Werkzeug unserer Sprache neu justieren, um damit die Dinge tun zu können, die wir tun möchten. Für diese Intuition hat die supervaluationistische Konzeption derzeit keinen Platz – und genau daran scheitert sie im Recht. Die Fuzzy-Logik schneidet etwas besser ab: Sie kann tatsächlich eine gewisse Entscheidungshilfe abgeben, da man mit ihr ein Mehr oder Minder des Zutreffens auszudrücken vermag. Grade des Zutreffens beziehungsweise Wahrheitsgrade erlauben dem Rechtsanwender unter Umständen eine differenziertere Analyse und Bewertung von schwierigen Sachverhalten als ein Alles-oder-Nichts. Die – aus rechtspraktischer Sicht – große Schwäche der Fuzzy-Logik besteht jedoch darin, dass sie im Recht erst dann zum Einsatz kommen kann, wenn die rechtsdogmatische Arbeit am Begriff getan und weitere Vorarbeiten vom Gesetzgeber erledigt wurden, etwa die Festlegung einer Subsumtionsschwelle oder die Definition einer Zuordnungsfunktion. Ohne diese lässt sich weder begründen, warum man diesem Sachverhalt genau diesen Zugehörigkeitsgrad zugewiesen hat, noch warum der resultierende Grad der Gesamtzugehörigkeit (< 1) ausreichen soll, den Fall als unter den relevanten Rechtssatz fallend aufzufassen und die betreffende Rechtsfolge anzuordnen. Die Definition einer Zuordnungsfunktion ist nun in der Praxis vermutlich schwierig oder sogar unmöglich – etwa in Fällen kombinatorischer Vagheit, deren Dimensionen sich nicht quantifizieren lassen beziehungsweise auf Eigenschaften bezogen sind, die man nicht messen kann („Verstoß gegen die guten Sitten“, „gefährliches Werkzeug“). Aber selbst, wenn man von dieser Schwierigkeit absieht: Solange der Gesetzgeber hier nicht tätig geworden ist, würde der Versuch, durch Vagheit bedingte schwierige Fälle mithilfe der Fuzzy-Logik zu entscheiden, sowohl zu Konflikten mit dem Grundsatz der Gesetzesbindung als auch mit dem der Entscheidungsbegründung führen. Ersteres, weil Gerichte nicht nach irgendwelchen Formeln und Funktionen Recht sprechen sollen, die ihnen angemessen dünken, sondern gemäß den Vorgaben, die der Gesetzgeber erlassen hat. Letzteres, weil der Nachweis, hier sei ein Urteil auf dem Boden des Gesetzes gesprochen worden, nicht geführt werden kann.
154 Diese Bemerkung bezieht sich nur auf Williamsons Epistemizismus. Nach Sorensen (persönliche Mitteilung) könnte selbst Gott in Grenzfällen kein Wissen darüber haben, ob „a ist F“ wahr oder falsch ist. Sorensen hat daraus sogar ein Argument zugunsten des Atheismus gewonnen (ebenfalls persönliche Mitteilung): „Gott“ wird gemeinhin definiert als „allwissendes Wesen“. Da niemand in Grenzfällen wissen kann, ob „a ist F“ wahr oder falsch ist – obwohl „a ist F“ wahr oder falsch ist –, kann kein Wesen allwissend sein. Es gibt also kein allwissendes Wesen. Folglich existiert Gott nicht.
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Als Favorit geht aus dem Vergleich Soames’ Kontextualismus hervor. Nicht nur bietet er eine intuitiv einleuchtende Lösung für Sorites- und Grenzfall-Probleme an; er lässt sich überdies, wie Soames demonstriert hat, zu einer „theory of adjudication“ ausbauen, die sich eng an klassische Modelle der Gesetzesauslegung anlehnt und den Anforderungen an rechtsstaatliche Rechtsanwendung genügt. Auch vagheitsbedingt schwierige Fälle sind für den Kontextualisten in der Richterrobe entscheidbar, wenn er sich die partielle Definition vager Prädikate zunutze macht und sie – im Kontext des spezifisch rechtlichen Argumentationsund Entscheidungsraumes – zumindest soweit präzisiert, wie dies zur Erledigung des betreffenden Grenzfalles erforderlich ist. Soames’ Kontextualismus fügt sich so nahtlos in die etablierten Theorien der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung ein, dass man bei oberflächlicher Betrachtung das kontextualistische Fundament der Soames’schen „theory of adjudication“ leicht übersieht. Gehen Fuzzy-Logik und Supervaluationismus das Problem von Grenzfällen und fließenden Übergängen durch den Austausch der klassischen zweiwertigen Semantik gegen eine nicht-klassische an, so besteht die Strategie des Kontextualismus in einer Art von pragmatischer (und zielführender) Flickschusterei: Wo es uns darauf ankommt, schließen wir die semantische Lücke, indem wir Grenzfälle für „F“ – „abhängig vom Kontext“ – als klare Fälle verbuchen beziehungsweise die partielle Definition von „F“ ein Stück weit ergänzen. Wir können dazu bei den Grenzfällen ansetzen und sie, etwa mit Blick auf bestimmte praktische Absichten, als klare Fälle zählen, wodurch sich dann auch die Definition von „F“ ändert, zumindest in diesem Verwendungszusammenhang. Oder wir setzen bei der partiellen Definition von „F“ an und beseitigen durch Präzisierung die Möglichkeit von Grenzfällen. Entscheidend ist, dass wir überall dort, wo dazu die Notwendigkeit besteht, Bivalenz erhalten können, und zwar durch die Schließung von semantischen Lücken vermittels des Rekurses auf Konversationsziele, Interessen, Erfordernisse einer Praxis – beispielsweise der bei uns eingespielten Rechtspraxis. Dadurch hat der Kontextualismus Raum etwa für die etablierten Auslegungsmethoden der Jurisprudenz. Er kann die semantische Lücke durch Einbeziehung von Verfahrensrationalität schließen, wie sie sich im jeweiligen Handlungsfeld etabliert hat, wohingegen Epistemizismus, Fuzzy-Logik und Supervaluationismus dafür keinen Platz haben. Man könnte auch sagen, dass diese drei Vagheitstheorien Grenzfall- und Sorites-Vagheit als epistemische beziehungsweise semantische Probleme angehen, während der Kontextualismus sie als pragmatische Probleme konfrontiert (beziehungsweise konfrontieren kann). Das bedingt seine Anpassungsfähigkeit an diverse „Kontexte“, das heißt hier: Handlungsfelder – und auf Seiten von Epistemizismus, Fuzzy-Logik und Supervaluationismus das Gegenteil. An dieser Stelle empfiehlt es sich, etwas weiter auszuholen: Klassische Theorien der Rechtsauslegung kennen eine Fülle von Gesichtspunkten, unter denen eine unbestimmte Norm betrachtet werden kann, um eine Interpretation zu ge-
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winnen, auf deren Grundlage sich der jeweilige Fall, oder auch eine ganze Klasse von Fällen, begründet entscheiden lässt. Zu diesen Gesichtspunkten gehören natürlich die klassischen Auslegungskanones, wie sie sich hierzulande nach F.-C. von Savigny in der juristischen Methodenlehre etabliert haben: Man kann nach dem möglichen Wortsinn fragen (grammatische Auslegung), die systematische Stellung der unklaren Norm – im betreffenden Gesetz oder auch im ganzen Rechtsgebiet – heranziehen (systematische Auslegung), den Entstehungskontext einer Norm bedenken, also die rechtliche (auch rechtswissenschaftliche), gesellschaftliche und politische Lage, in der das Bedürfnis nach der fraglichen Regelung formuliert, die Regelung entworfen, beraten und verabschiedet wurde (historische Auslegung), und man kann schließlich auf den Normzweck, das Telos der Norm rekurrieren, sei es, dass man nach den Regelungsabsichten des Gesetzgebers fragt (subjektive teleologische Auslegung), oder dass man sich zu vergegenwärtigen versucht, worin, bei vernünftiger Betrachtung, der Normzweck hier und heute bestehen könnte (objektive teleologische Auslegung). Man kann die verschiedenen so ermittelten Interpretationen ferner unter Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit betrachten, etwa im Strafrecht unter dem Aspekt der kriminalpolitischen Zweckmäßigkeit; man kann fragen, wie sich diese oder jene Lesart in das Normenkorpus unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz einfügen würde, oder wie sie im Hinblick auf Erwägungen der Gerechtigkeit oder auch grundrechtlich geschützter Rechtspositionen zu bewerten wäre.155 Diese Aufzählung ist nicht abschließend gemeint. In anderen Rechtstraditionen sind andere Auslegungsgesichtspunkte anerkannt156 – und auch in ein- und derselben Rechtskultur können im Laufe der Zeit neue Gesichtspunkte hinzutreten oder alte aufgegeben werden.157 Auf jeden Fall kommt diesen Gesichtspunkten eine doppelte Rolle zu: Sie sind zum einen hermeneutische beziehungsweise genauer: heuristische Mittel zur Findung von möglichen Lesarten einer Norm, das heißt Topoi im Sinne der klassischen Rhetorik; und sie bilden zugleich argumentative Ressourcen, derer man sich – gegebenenfalls mit weiteren Annahmen, etwa über die Rangfolge der Auslegungsmittel – bedienen kann, um die Subsumtion eines Falles unter eine so und so verstandene Norm zu begründen. Man denke an den oben erwähnten Fall Smith v. United States. Die Entscheidung des Falles hing, was den Normtext angeht, am Verständnis von „to use a firearm“, also an der Frage, was der Ausdruck im Sinne des Gesetzes besagt. Grammatisch ausgelegt umfasste dieser Ausdruck sicherlich den Eintausch einer 155 Vgl. für die zuletzt genannten Aspekte (mit Ausnahme der Grundrechte) Eike von Savigny (1971). 156 Für das US-amerikanische Recht vgl. dazu etwa Patterson (2005), S. 693. 157 Im deutschsprachigen Raum trat etwa im Zuge der europäischen Einigung der Gesichtspunkt der europarechtskonformen Auslegung hinzu, während das von F.-C. von Savigny geschätzte „logische“ Element außer Gebrauch kam oder zumindest nicht mehr den Status einer selbständigen Methode der Gesetzesinterpretation genießt.
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Maschinenpistole gegen Drogen, denn eine Schusswaffe gegen etwas anderes einzutauschen ist eine Art, sie zu verwenden (auch wenn sich das Sprachempfinden, zumindest im Deutschen, sträubt, dies als Fall von „eine Schusswaffe gebrauchen“ anzusehen). Unter Zugrundelegung der grammatischen Auslegung fiele Smiths Fall unter die strafverschärfende Bestimmung des Gesetzes. Legt man die Stelle hingegen teleologisch aus, und zwar im Hinblick auf die (gewisse oder vermutete) Absicht des Gesetzgebers, die Gefährdung von weiteren Rechtsgütern durch den Einsatz einer Schusswaffe als Waffe als besonders verwerflich zu werten und daher zusätzlich zu bestrafen, so fiele Smiths Fall nicht unter diese Norm. Optiert man nun für Letzteres, so kann man die Entscheidung, Smith von dem strafrechtlichen Vorwurf, über seine Beteiligung an einem Drogengeschäft hinaus auch noch im Sinne des Gesetzes eine Schusswaffe gebraucht zu haben, freizusprechen, unter Rekurs auf den Gesetzeszweck begründen, wobei man zusätzlich Gründe dafür anführen muss, warum man dieses und jenes als Zweck der Norm angesehen hat – falls dieser Punkt etwa aus juristischer Sicht strittig ist – und warum sich die Ratio Legis gegenüber dem möglichen Wortsinn durchsetzen soll – falls auch dieser Punkt strittig sein, eine akzeptierte Hierarchie von Auslegungsgesichtspunkten nicht bestehen sollte. (Daran sieht man, dass sich die Frage, welche Gründe angeführt werden müssen, damit eine Entscheidung als begründet gilt, nicht pauschal, sondern nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Rechtsordnung und im Hinblick auf die jeweilige dialektische Situation beantworten lässt.) Man kann die Rechtfertigungsfunktion der Auslegungsmittel noch etwas genauer fassen. In Smith v. U.S. könnte der Rechtssatz, dessen Anwendung auf den Sachverhalt in Frage steht, (vereinfacht) etwa folgendermaßen lauten: (RS) Jemand wird gemäß Titel 18 U.S.C. 924(c)(1) genau dann mit einer zusätzlichen Haftstrafe bestraft, wenn er im Zusammenhang mit einem Drogengeschäft eine Schusswaffe gebraucht.158
Der zu beurteilende Sachverhalt ließe sich folgendermaßen beschreiben: (SV) Smith hat eine Maschinenpistole gegen Drogen eingetauscht.
Die Rechtsfrage lautet nun, ob eine Maschinenpistole gegen Drogen einzutauschen als Gebrauch einer Schusswaffe im Sinne von Titel 18 U.S.C. 924(c)(1) zu 158 Ich rekonstruiere die gesetzliche Bestimmung bewusst als Bikonditional. Für gewöhnlich legt man zwar die logische Form eines Konditionals zugrunde. Das aber hat den Nachteil, dass man für die Ableitung der gegenteiligen Rechtsfolge einen eigenen Rechtssatz aufstellen muss, was mir eine unnötige Verkomplizierung zu sein scheint. Man verwendet das Konditional, weil man dem Umstand Rechnung tragen möchte, dass etwa das Strafrecht zum Beispiel eine zusätzliche Haftstrafe ja keineswegs dann und nur dann anordnet, wenn p, sondern auch dann, wenn q, r oder s. Man kann diesem Anliegen aber auch dadurch entsprechen, dass man in den als Bikonditional verstandenen Rechtssatz einen Verweis auf die zugrundegelegte Norm § einfügt: Eine zusätzliche Haftstrafe ist gemäß § genau dann anzuordnen, wenn p.
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werten und der Sachverhalt damit unter (RS) zu subsumieren, die in (RS) spezifizierte Rechtsfolge anzuordnen und Smith also zu einer zusätzlichen Haftstrafe zu verurteilen ist. Logisch lautet die Frage, ob man den Satz (RF) „Smith ist zu einer zusätzlichen Haftstrafe zu verurteilen“ aus (RS) und (SV) ableiten kann.159 Auf diese Frage(n) gibt es genau zwei zulässige Antworten: Ja oder Nein. Welche Antwort man gibt, hängt davon ab, welche weiteren Sätze man akzeptiert, denn dass sich (RF) ohne weitere Annahmen nicht aus (RS) und (SV) ableiten lässt, ist offenkundig. Im Falle von Smith bieten sich nun zwei Sätze an, um die logische Lücke zwischen (RS) und (SV) zu überbrücken: (I1) Wer eine Maschinenpistole gegen Drogen eingetauscht hat, der hat im Zusammenhang mit einem Drogengeschäft eine Schusswaffe im Sinne von Titel 18 U.S.C. 924(c)(1) gebraucht. (I2) Wer eine Maschinenpistole gegen Drogen eingetauscht hat, der hat im Zusammenhang mit einem Drogengeschäft keinen Gebrauch von einer Schusswaffe im Sinne von Titel 18 U.S.C. 924(c)(1) gemacht.160
Offenbar kann man nur einen der beiden Sätze akzeptieren. Akzeptiert man (I1) dann lässt sich zusammen mit (RS) und (SV) der Satz (RF) ableiten und Smith ist zu einer zusätzlichen Haftstrafe zu verurteilen. Akzeptiert man hingegen (I2) dann lässt sich zusammen mit (RS) und (SV) nicht (RF), sondern nur dessen Negation ableiten, dass Smith nicht zu einer zusätzlichen Haftstrafe zu verurteilen ist. Die Funktion der Auslegungsgesichtspunkte ist es nun, Gründe für das Akzeptieren (oder auch Zurückweisen) von intermediären Sätzen des Typs (I) an die Hand zu geben.161 Wer, um im Beispiel zu bleiben, grammatisch auslegt und diese Auslegung für vorrangig hält, der wird damit begründen, warum er (I1) akzeptiert. Wer hingegen der Ratio Legis den Vorrang einräumt, der wird durch Rekurs auf Normzweck, den Vorrang der Intentionen des Gesetzgebers etc. (I1) als verfehlt zurückweisen und (I2) akzeptieren. (Wie man sieht, schließen sich, anders als die Diskussion in der Rechtstheorie vermuten lässt, deduktive Entscheidungsbegründung und topische Argumentation nicht aus; sie greifen ganz im Gegenteil ineinander, wobei die eigentliche dialektische Last von den Gründen getragen wird, die für das Akzeptieren von Typ-(I)-Sätzen angeführt werden. Diese Gründe aufzufinden ist das Geschäft der Topik, die deduktive Ableitung hingegen die der Logik. Es besteht also eine Art von Arbeitsteilung und
159 Aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichte ich auf verkomplizierende Schritte, wie etwa die Spezifikation von (RS) auf Smith, prädikatenlogische Rekonstruktionen der Aussagen etc. 160 Moore (1985), S. 283, nennt derartige Sätze „interpretive statements“. Im Anschluss an Koch/Rüßmann (1982) könnte man sie auch „intermediäre Sätze“ nennen. 161 Dieser Gedanke spielt eine zentrale Rolle in der Begründungslehre von Koch/ Rüßmann, geht aber, wenn ich richtig sehe, auf Arbeiten Eike von Savignys aus den 70er Jahren zurück.
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kein Konkurrenzverhältnis zwischen Topik und Logik, worauf Ota Weinberger und Eike von Savigny bereits in den 70er Jahren hingewiesen haben.162) Der Vorzug des Kontextualismus Soames’scher Provenienz besteht nun in dem Umstand, dass er diese komplexe Dialektik rechtlichen Argumentierens und Entscheidens mühelos integrieren kann163, denn das, was hier am Beispiel von „to use a firearm“ durchexerziert wurde, lässt sich für unbestimmte Rechtsbegriffe (vage Prädikate) generell durchführen. Soames hat dies, Bezug nehmend auf das berühmte Beispiel der No-Vehicles-in-the-park-Verordnung aus der Debatte zwischen L. Fuller und H. L. A. Hart, für das vage Prädikat „is a vehicle“ ja selbst getan.164 Den Soames’schen Kontextualismus an das Sprachspiel Recht zu adaptieren beinhaltet zweierlei: Zum einen modifizieren wir die Palette argumentativer Ressourcen, auf die wir zurückgreifen können – oder vielleicht auch müssen, man denke etwa an Verfassungs- und Grundrechtskonformität – um die Präzisierung partiell definierter vager Prädikate zu begründen. Zum anderen unterwerfen wir das Verfahren der Präzisierung bestimmten Vorgaben rechtswissenschaftlicher und rechtlicher Art, wie zum Beispiel den Maßstäben kunstgerechten juristischen Auslegens; den Regularien der jeweiligen Prozessordnung etwa bezüglich Art und Umfang dessen, was die Urteilsbegründung enthalten muss; eventuellen Restriktionen, die sich aus Grundsatzurteilen ergeben; eventuellen Vorgaben aus höchstrichterlicher Rechtsprechung usw. Die Grundstruktur bleibt jedoch immer die selbe: Vage Prädikate werden von den Sprachverwendern in Abhängigkeit vom Kontext präzisiert. Nur sind die den Kontext bildenden Faktoren im Recht andere (und wohl komplexere) als etwa in einer Konversation über die Identifizierung potentieller wohltätiger Spender für ein ehrenamtliches Projekt – und zwar so spezifisch andere, dass es gerechtfertigt ist, von einem spezifisch rechtlichen Argumentations- und Entscheidungsraum zu sprechen. Der Kontextualismus kann diesen Raum integrieren. Für die Fuzzy-Logik hingegen gehört er zu den Dingen, die außerhalb ihres Bezirks liegen, das heißt zu den Dingen, deren Klärung dem Einsatz des fuzzy-logischen Apparats vorausgehen muss, welche die fuzzy-logische Theorie aber im Grunde nichts angehen. Der Supervaluationismus wiederum kann aufgrund seiner Fixierung auf Semantik mit derartigen außersemantischen Faktoren nichts anfangen. Nun wurde bei der Behandlung des Kontextualismus ein Einwand angeführt, der ebenso simpel wie durchschlagend zu sein schien: In vielen Fällen gelingt es uns auch dann nicht, eine Sorites-blockierende Grenze zu ziehen, wenn wir den Kontext berücksichtigen, in welchem wir ein vages Prädikat verwenden. Dieser Einwand berührt das Herzstück der kontextualistischen Lösung von Sorites. Man 162
Vgl. Eike von Savigny (1973), Weinberger (1973). Um einen Eindruck davon zu erhalten, wie komplex die Dinge bisweilen stehen, betrachte man die Beispiele bei Eike von Savigny (1971). 164 Nämlich in VaL. 163
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könnte sich deshalb fragen, ob dieser Einwand nicht Anlass geben sollte, die Bewertung des Kontextualismus, gerade im Vergleich mit Fuzzy-Logik und insbesondere Supervaluationismus, um einige Notenstufen herabzusetzen. Betrachten wir dazu den genannten Einwand genauer. Seine saloppe Fassung lautete: Es gelingt uns nicht, die Sorites-auflösende Grenze zu ziehen. Wenn ich richtig sehe, lässt sich dieser Einwand auf dreierlei Art lesen: (l1) In vielen Fällen gelingt es uns nicht, in der Sorites-Reihe von F nach nicht-F eine scharfe Prädikatgrenze von „F“ dergestalt einzuzeichnen, dass „F“ noch auf ai zutrifft, jedoch nicht mehr auf ai+1, und also die allquantifizierte Prämisse (induktive Variante) von Sorites beziehungsweise eine der konditionalen Prämissen (konditionale Variante) von Sorites falsch ist. (l2) In vielen Fällen sind die Standards, auf die wir uns in einem Kontext verpflichtet haben, nicht strikt genug, um eine scharfe Prädikatgrenze von „F“ dergestalt zu determinieren, dass „F“ noch auf ai zutrifft, jedoch nicht mehr auf ai+1, und also die allquantifizierte Prämisse (induktive Variante) von Sorites beziehungsweise eine der konditionalen Prämissen (konditionale Variante) von Sorites falsch wäre. (l3) Wenn es uns gelingt, in der Sorites-Reihe von F nach nicht-F eine scharfe Prädikatgrenze von „F“ einzuzeichnen, dann ist diese Grenze begründungsmäßig unterbestimmt, insofern es keinen zureichenden Grund dafür gibt, die Grenze gerade zwischen ai und ai+1 eingetragen zu haben, anstatt zwischen ai-1 und ai oder zwischen ai+1 und ai+2.
(l1) ist offenkundig falsch, denn wir haben immer die Möglichkeit, eine Grenze zu ziehen, und zwar durch ein nacktes Fiat. Nun wird man sagen: Aber die ist willkürlich! Das mag und wird in sehr vielen Fällen zutreffen, aber wem es um die begründungsmäßige Unterbestimmtheit der Grenzziehung geht statt um das, was wir de facto tun können und auch tun, der sollte lieber (l3) behaupten. (l2) ist sicher richtig, aber unproblematisch, zumindest für Kontextualisten, denn wenn es uns darauf ankommt, dann können wir Sorites jederzeit dadurch blockieren, dass wir die Standards solange nachjustieren, bis der erforderliche Grad an Strenge erreicht wird, der die Ziehung einer scharfen Prädikatgrenze erlaubt. Auch hier könnte man nun wieder den Mangel eines zureichenden Grundes für die Ziehung der Grenze gerade an dieser Stelle monieren. Dem wäre allerdings zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen könnten ja etwa unsere Konversationsziele durchaus von der Art sein, dass sie die Aufstellung hinreichend strikter Standards und damit die Ziehung einer scharfen Grenze genau an dieser Stelle rechtfertigen. Zum anderen könnte man, selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, (erneut) entgegnen, dass (l2) mit (l3) verwechselt wurde. Es hat also den Anschein, dass der Einwand nur dann schlagkräftig ist, wenn man ihn als auf die rationale Unterbestimmtheit von Grenzziehungen bezogen, das heißt als (l3) versteht. (Genau genommen müsste man sagen: „auf die rationale Unterbestimmtheit von einigen Grenzziehungen bezogen“, denn es besteht ja, wie gegen (l2) eingewandt, durchaus die Möglichkeit, dass unsere Konversationsziele spezifisch
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genug für strikte Standards und eine scharfe Prädikatgrenze sind.) Gibt (l3) aber wirklich Anlass, unsere Einschätzung des Kontextualismus zu überdenken? Dem scheint nicht so zu sein: Das von (l3) thematisierte Begründungsproblem bei Sorites-Vagheit hängt mit dem Abgrenzungsproblem zusammen, und zwar vermittels des Mangels an Merkmalen beziehungsweise Gesichtspunkten, auf die man für die Zwecke einer Grenzziehung sowie deren Rechtfertigung Bezug nehmen könnte: In der Sache, der Semantik eines vagen Prädikates „F“ und oftmals auch in unseren Interessen, Zielen etc. gibt es nichts, das uns anleiten könnte, die Grenze genau hier einzuzeichnen. Nehmen wir eine Grenzziehung vor, so gibt es in der Sache, der Semantik von „F“ und oftmals auch in unseren Interessen, Zielen etc. nichts, auf das wir Bezug nehmen könnten, um diese Grenzziehung genau hier zu begründen. Die Frage war nun, ob der Umstand, dass sich auf kontextualistischer Basis diesem Mangel in manchen Fällen nicht abhelfen lässt, in der Bewertung des Kontextualismus als Malus verbucht werden sollte. Die Antwort lautet nein, weil dies unfair wäre; auch die anderen Theorien leiden nämlich an der gleichen Schwäche: Für Epistemizisten ist die scharfe Grenze zwar vorhanden aber unerkennbar. Nun kann man zwar durch den Vergleich von Grenzfällen mit klaren F- beziehungsweise Nicht-F-Fällen versuchen, das Gebiet einzugrenzen, in dem sie wahrscheinlich verläuft. Diese Methode versagt aber spätestens dann, wenn man es mit dem „harten Kern“ der Grenzfälle zu tun hat, also mit Grenzfällen, die F-Fällen nicht ähnlicher sind als Nicht-F-Fällen. Und hier in dem Bereich, in dem die epistemischen Nebel am dichtesten sind, wäre tatsächlich jede Privilegierung eines Schnittpunktes willkürlich, da zumindest seine unmittelbaren Nachbarn den gleichen Anspruch erheben könnten. Es gibt die Grenze, aber es kann keine Gründe geben, die stark und verlässlich genug sind, unsere eventuellen Überzeugungen über ihren Verlauf als Wissen durchgehen zu lassen – andernfalls wäre die Kernthese des Epistemizismus widerlegt. Heuristisch kann uns der Epistemizismus nur bedingt anleiten. Hilfe bei der Rechtfertigung eines scharfen Schnittes sollte man von ihm nicht erwarten. Der supervaluationistischen Orthodoxie zufolge gibt es in einer Sorites-Reihe keinen Punkt, der den Schnittpunkt markieren würde – daher ja die unorthodoxe Interpretation des Existenzquantors durch Supervaluationisten. Deshalb gibt es auch kein Verfahren, mit dem man ihn auffinden könnte, und sei es auch nur mit mehr oder weniger großer Sicherheit. Da nun ferner aus supervaluationistischer Perspektive kein anderer (Ersatz)Kandidat für einen begründeten scharfen Schnitt in Sicht ist, bleibt das Begründungsproblem für den Supervaluationisten unlösbar. Die Fuzzy-Logik schließlich wird zur Begründung der scharfen Grenze genau hier auf Messwerte, Zuordnungsfunktion, Defuzzifizierungsmethode und Schwellenwerte verweisen, damit aber die Begründungslast nur vor sich herschieben. Denn warum wir die Funktion so und so definiert, diese Defuzzifizierungsme-
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thode gewählt oder die Schwelle bei n angesetzt haben, anstatt bei n 1, diese Fragen sind nicht mehr fuzzy-logisch zu beantworten, sondern verlangen den Rekurs auf beispielsweise technische und sonstige Erfordernisse, Regelungsabsichten, unsere Interessen etc. Wenn aber nun unsere Interessen nicht so spezifisch sind, dass ihnen nur mit genau dieser Zuordnungsfunktion oder jener Schwelle gedient ist, sondern mit einem Spektrum an verschiedenen Funktionen, dann bleibt das Begründungsproblem bestehen. Was aber bedeutet dieser Befund für das Begründungsproblem? Man muss wohl einräumen, dass das Begründungsproblem in manchen Fällen unlösbar ist. Wenn der BGH höchstrichterlich festlegt, dass die Grenze für einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ bei 50.000 Euro liegt, dann ist es sicher richtig zu sagen, diese Stelle für den scharfen Schnitt sei weder von der Semantik des Rechtsbegriffes noch von der Sache her noch mit Blick auf die Regelungsabsichten des Gesetzgebers oder andere kontextuelle Faktoren vorgezeichnet gewesen. Die Frage wäre dann, wie dieser Umstand zu bewerten wäre. Mir scheint, er ist zwar ärgerlich, aber von untergeordneter Bedeutung. Es ist nämlich auch richtig zu sagen, dass die Justiz aus rechtsstaatlich fundamentalen Gründen entscheiden muss, und nicht nur das: Sie muss in begrenzter Zeit entscheiden, ihre Entscheidung muss die Rechtsfrage mit Ja oder Nein beantworten und sie muss für Rechtssicherheit sorgen – auch dort, wo das Gesetz schweigt und die Sache stumm bleibt. Das bedeutet: Es ist für ein rechtsstaatliches Rechtssystem eben bisweilen wichtiger, dass überhaupt entschieden wird als wie entschieden wird – und zwar um der Effektivität des staatlich gewährten Rechtsschutzes, der Akzeptabilität des Verbots der Selbstjustiz und ganz allgemein um der Funktionsfähigkeit des Rechts willen. Im Recht ist nicht jedes Fiat vom Übel und nicht jede Dezision „bloße Willkür“. Vielleicht kann man diesen Punkt noch zuspitzen: Das Begründungsproblem kann nur in einem Rechtssystem auftreten, in dem es auf die Vermeidung von Willkür prinzipiell ankommt – in dem Recht begründet angewendet wird, und zwar im Medium der natürlichen, an Vagheit, Mehrdeutigkeit, Generalität und anderen Unbestimmtheitsphänomenen so reichen Sprache der Rechtsadressaten. (Alle diese Punkte hängen, wie in Kapitel C. erörtert, mit Kernforderungen der Rule of Law zusammen, die wir nicht nur aus Effizienz- oder Klugheitsgründen realisiert sehen wollen, sondern aus dem prinzipiellen Grund, dass nur in einem solchen Rechtssystem gewährleistet ist, dass die Staatsgewalt ihre Adressaten als Vernünftige und Freie respektiert.) Nur in einer Rechtsordnung, die sich darum bemüht, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen, kann das Begründungsproblem überhaupt akut werden. Man könnte deshalb mit einigem Recht sagen: Das Begründungsproblem und seine Unlösbarkeit in manchen Fällen ist der Preis, den wir für unser rechtsstaatliches Rechtssystem zahlen müssen – und auch zu zahlen bereit sein sollten.
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Sachverzeichnis Abgrenzungsproblem 95, 122, 143, 158, 172, 194, 198, 206 Ambiguität 164 Aristotelische Kategoriale 70, 71 Ausdrücke, indexikalische 172, 185, 186
Grenzfall 15, 16, 17, 22, 23, 60, 61, 95, 96, 111, 112, 113, 117, 123, 126, 128, 139, 140, 141, 144, 155, 156, 159, 162, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 185, 194, 195, 197, 198, 199, 200, 206
Begriffsjurisprudenz 12 Begründungspflicht 95, 96, 103, 104, 122, 157, 194, 199 Begründungsproblem 95, 114, 122, 143, 158, 171, 194, 198, 206, 207 Bivalenz – juridische 98, 138 – semantische 132, 162, 170, 175, 200 Bivalenzprinzip 124, 125, 126, 131, 132, 134, 162, 167
Intention – illokutionäre 191, 192, 193, 195, 196 – perlokutionäre 191, 192, 193, 194, 195, 196 Kontextualismus 119, 120, 172, 174, 175, 177, 181, 185, 186, 200, 204, 205, 206 Legal Realism 13
Critical Legal Studies 13
Logik, klassische 34, 40, 123, 143, 145, 159, 162, 163, 164, 165, 168, 172
Determinismus, juristischer 11, 12, 13 Dezisionismus 11, 13
Porosität 22
Einzelfallgesetzgebung 21 Entscheidungsproblem 95, 114, 122, 143, 158, 171, 194, 198 Familienähnlichkeit 28 Freirechtsschule 11, 13 Fuzzy-Logik 119, 120, 144, 145, 147, 149, 151, 152, 155, 156, 157, 158, 199, 200, 204, 205, 206 Generalität 109 Gesetzesbindung 95, 96, 99, 100, 102, 103, 104, 122, 140, 157, 169, 171, 194, 199 Gradierbarkeit 143, 144
Praxis 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 78, 81 Ratio Legis 117, 142, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 202, 203 Rechtsanwendung 11, 13, 20, 95, 96, 122, 155, 158, 194, 200 Rechtsbegriff, unbestimmter 16, 17, 18, 19, 111, 120, 121, 139, 151, 155, 156 Rechtsstaat/Rule of Law 13, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 81, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 103, 105, 107, 108, 112, 113, 119, 169, 207 Rechtsunsicherheit 19 Rechtsverweigerungsverbot 95, 96, 97, 98, 122, 139, 169, 194
Sachverzeichnis Sorites 20, 23, 111, 114, 116, 118, 122, 123, 125, 129, 137, 143, 144, 145, 147, 149, 155, 158, 162, 163, 165, 168, 171, 172, 174, 175, 176, 181, 183, 185, 186, 187, 189, 194, 198, 200, 205 Sorites-förmiges Argument 122, 137, 143, 147, 155, 158, 168, 183, 188 Sorites-Reihe 41, 43, 44, 45, 61, 95, 96, 113, 116, 123, 126, 128, 129, 130, 137, 143, 147, 155, 163, 166, 167, 172, 173, 174, 175, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 205, 206 Subsumtionsautomat 11, 158 Supervaluationismus 119, 120, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 167, 168, 170, 171, 198, 200, 204, 205, 206 Teleologie 68, 69, 70, 72, 75, 78 Toleranz 123, 137
219
Toleranzprinzip 38, 117 Vagheit – der Anwendung 24, 25, 26, 27 – der Individuation 24, 25, 26 – extensionale 29 – graduelle 27 – höherstufige 17, 166 – intensionale 29 – kombinatorische 27, 28, 156, 199 – semantische 11, 14, 16, 19, 20, 61, 109, 110, 119, 120 Vagheitstheorie, epistemische 16, 22, 119, 120, 122, 124, 129, 137, 138, 139, 140, 143, 170, 198, 200, 206 Void for Vagueness 16 Willkür 113, 115, 117, 118, 119, 207