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German Pages 400 [398] Year 2019
Thomas Bräutigam Hispanistik im Dritten Reich
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik¡Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft/Lingtíí'íí/ca Serie C: Geschichte und Gesellschaft///i'ííona y Sociedad Serie D: Bibliographien/ßiW/ogra/i'ai Herausgegeben von¡Editado por: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann
A: Literaturgeschichte und -krhiidHistoria y Crítica de la Literatura, 13
Thomas Bräutigam
Hispanistik im Dritten Reich Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1997
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
[Iberoamericana / Editionen / A] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie A, Literaturgeschichte und -kritik = Historia y crítica de ia literatura. - Frankfurt am Main : Vervuert. Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 03 Reihe Editionen. Serie A zu: Iberoamericana NE: Iberoamericana / Ediciones / A; Editionen der Iberoamericana; Ediciones de Iberoamericana; HST 13. Bräutigam, Thomas: Hispanistik im Dritten Reich. - 1997
Bräutigam, Thomas: Hispanistik im Dritten Reich : eine wissenschaftsgeschichtliche Studie / T h o m a s Bräutigam. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1997 (Editionen der Iberoamericana : Serie A, Literaturgeschichte und -kritik ; 13) Zugl. : Berlin, Freie Univ., Diss., 1995 ISBN 3-89354-865-3 © Vervuert Verlag, Frankfurt / Main 1997 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in G e r m a n y
5
Inhalt
INHALT
0.
1.
EINLEITUNG
ENTWICKLUNGSTENDENZEN DER DEUTSCHSPRACHIGEN HISPANISTIK BIS 1933
1.1.
1.3.
15
V o n d e r E n t s t e h u n g s p h a s e bis z u m E n d e d e s Ersten Weltkriegs
1.2.
9
15
L e g i t i m i e r u n g d e r H i s p a n i s t i k in d e n z w a n z i g e r J a h r e n
23
1.2.1. Fritz Lejeune 1919
23
1.2.2. Karl Vossler 1922
26
1.2.3. Ernst Robert Curtius 1924/26
30
1.2.4. Eugen Lerch 1926
36
1.2.5. Victor Klemperer 1922/26
39
1.2.6. Adalbert Hämel 1927
43
1.2.7. Karl Vossler 1930
45
1.2.8. Zusammenfassung
48
H i s p a n i s t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k . K u r s o r i s c h e r Überblick
51
1.3.1. Hispanistik aus Hamburg
51
1.3.2. Hispanistik aus Bayern
55
1.3.3. Hispanistische Kulturkunde
60
1.3.4. Hispanistik in Deutschland 1918-1933. Versuch einer Bilanz
2.
66
LEGITIMATION DER NEUEREN FREMDSPRACHEN IM DRITTEN REICH
71
2.1.
Fremdsprachen allgemein
71
2.2.
Romanistik
80
6
2.3.
3.
3.1.
Thomas Bräutigam
Theorie der Hispanistik im Dritten Reich
86
2.3.1. Der Stellenwert des Spanischen
86
2.3.2. Schulreform und Spanischunterricht
92
HISPANISTIK IN DEUTSCHLAND 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . EINFÜHRENDER ÜBERBLICK
IoL
Institutionelle und personelle Ausstattung
101
3.1.1. Hispanistik als Teildisziplin der Romanischen Philologie
101
3.1.2. Spanien- und Lateinamerikaforschung in anderen Disziplinen
104
3.1.3. Hispanistik und Katholizismus: Die Görres-Gesellschaft
109
3.2.
Inhaltliche Aspekte der Publikationen
111
4.
DIE REAKTION AUF DEN SPANISCHEN BÜRGERKRIEG
121
5.
DIE FORTSETZUNG DER HAMBURGER UND BAYERISCHEN HISPANISTIK
131
5.1.
Die "Hamburger Schule"
131
5.2.
Ludwig Pfandl und seine Beziehung zum Unbewußten
138
5.3.
Karl Vossler im Dritten Reich
142
5.3.1. Die hispanistische Wendung
142
5.3.2. Zwischen Innerer Emigration, Verweigerung und Anpassung
146
6.
DIE LOPE-DE-VEGA-FORSCHUNG IM DRITTEN REICH
I 57
6.1.
Vorgeschichte: Die Rezeption Lope de Vegas und Calderons in Deutschland
157
Karl Vosslers Lope-de-Vega-Buch (1932)
162
6.2.
1
Inhalt
6.3.
Lope de Vega im Dritten Reich 6.3.1. Lope und der "neue Staat" 6.3.2. Lope de Vega und wir 6.3.3. Der "andere" Lope
171 171 177 180
6.4.
Die spanischen Klassiker im Dritten Reich. Bilanz
184
7.
D I E R E Z E P T I O N DER Z E I T G E N Ö S S I S C H E N L I T E R A T U R
189
7.1.
Spanische und portugiesische Literatur 7.1.1. Gegenwartsliteratur als neues Forschungsgebiet 7.1.2. Spanische und portugiesische Gegenwartsliteratur im Dritten Reich
189 189
7.2.
Lateinamerikanische Literatur 7.2.1. Die Pionierphase 7.2.2. Lateinamerikanische Literatur im Dritten Reich
206 206 209
8.
D I E SPANIEN- UND LATEINAMERIKA-HISTORIOGRAPHIE
194
IM D R I T T E N R E I C H
229
8.1.
Allgemeine Tendenzen
229
8.2.
Gesamtdarstellungen
233
8.3.
Schwerpunkt Kolonialreich
241
8.4.
Ludwig Pfandls Habsburger-Biographik
245
9.
B I L A N Z UND AUSBLICK
251
Verzeichnis der zitierten Literatur
259
Bibliographie der deutschsprachigen Literatur über Spanien, Portugal und Lateinamerika 1933-1945
285
Abkürzungsverzeichnis
397
0. Einleitung 0.
9
EINLEITUNG
Eine Untersuchung über Wissenschaft und Forschung während der Herrschaft des Nationalsozialismus bedarf heute keiner besonderen Begründung mehr. Die Zeit, in der die Meinung vorherrschte, der Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb sei lediglich als "Opfer" der NS-Gleichschaltungsmaßnahmen zu betrachten, habe aber sonst, abgesehen von den "ideologieanfälligen" Fächern, das Dritte Reich unbeschädigt überstanden, kann als überwunden betrachtet werden. Insbesondere Studien zu Disziplinen wie Soziologie und Psychologie, denen eine besondere Ferne zur herrschenden Ideologie unterstellt wurde, wirkten legendenzerstörend. Es zeigte sich, daß Kategorien wie Täter und Opfer, Ideologieferne und -nähe keine distinktionsföhigen Parameter für die Wissenschaftsgeschichtsschreibung dieser Periode sein können. Genausowenig kann dieser Zeitabschnitt als ein Ausnahmezustand ohne Bezug zum "Vorher" und "Nachher" angesehen werden. Die entscheidenden Fragen bleiben unbeantwortet, wenn die Wissenschaftsverhältnisse im NS-Staat nur als Reagieren von Fachvertretern auf ein vermeintlich externes, mit dem eigenen Tun nicht ursächlich verbundenes Ereignis verstanden werden. Der eigentlich interessante Kontext ist nicht der Zusammenhang mit den Maßnahmen der NS-Wissenschaftspolitik, sondern mit den eigenen Fachtraditionen, mit der "internen" Geschichte einer Disziplin. Im Aufdecken von solchen Zusammenhängen liegt der entscheidende Erkenntniswert wissenschaftsgeschichtlicher Studien über das Dritte Reich, denn die Unwiederholbarkeit der Jahre 1933 bis 1945 setzt eine Einsicht in übergreifende Zusammenhänge voraus. Der Beitrag, den die philologischen Disziplinen zu diesem Fragekomplex leisteten, war indessen bislang eher gering. Am ehesten motiviert war die Germanistik, weil deren direkte Funktionalisierung im NS-Staat als "Deutschkunde" unübersehbar war. Anglistik und Romanistik sahen hingegen keinen Handlungsbedarf, wohl weil die Beschäftigung mit fremden Kulturen einen Bezug zum deutschnationalen Aufbruch zunächst nicht erkennen ließ. Die ersten Annäherungen an das Thema waren ein Niederschlag der Studentenbewegung 1 und blieben isoliert, weil mit der Interpretationsschiene "Antikommunismus" die Fachgeschichte für zeitgenössische Polemik instrumentalisiert wurde. Die zweite Phase begann mit der verfolgten und exilierten Romanistik 2 , stellte also die Opfer in den Mittelpunkt und verschob damit die Auseinandersetzung mit dem romanistischen Alltag im Dritten Reich. Gleichwohl sind über diesen, trotz erst oberflächlicher Sichtung des Materials, bereits Feststellungen 1
Neriich 1972 und 1977.
2
Christmann/Hausmann 1989.
Thomas Bräutigam
10
getroffen worden wie die, daß "die deutsche Romanistik - gemessen an anderen Disziplinen - in der Nazizeit noch einmal glimpflich davongekommen ist" 3 . Dies aber ist eine unzulässige a-priori-Behauptung, die erst durch systematische Forschung verifiziert werden könnte. Im übrigen suggeriert das Verbum "davonkommen" eine pauschale Bedrohung, der "die" Romanistik - oder gar "die" Wissenschaft - nach 1933 ausgesetzt gewesen sei. Darüberhinaus indizieren solche Formulierungen die Annahme von zwei wesensverschiedenen Einheiten - hier "Romanistik", dort "Nationalsozialismus" - , die per se nichts miteinander zu tun haben, aber nach 1933 sich in irgendeiner Form zueinander "verhalten". Wenn sich dieses Verhältnis dann als ein "Einwirken der nationalsozialistischen Ideologie auf die romanistische Forschung" 4 realisiert, sind die Rollen von Subjekt (NS-Ideologie) und Objekt (Romanistik) bereits klar verteilt. Nicht weniger vereinfachend ist auf der anderen Seite eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung, die eine Disziplin vorrangig nach ihren "braunen" Elementen absucht, mit dem Ziel, eine spezifische "Nazi"-Romanistik bzw. -Hispanistik zu ermitteln. 3 Das Quellenmaterial gerinnt dabei zu einem beliebig verwendbaren Zitate-Steinbruch. Texte nicht mehr in ihrer Gesamtheit zu analysieren, sondern auf "Stellen" zu reduzieren und somit von ihrem Kontext zu isolieren, impliziert ein subjektiv-selektives Verfahren, das zu einer reinen Bestätigung des ohnehin Vermuteten verleitet. Die vorliegende Studie unterscheidet sich von ähnlichen wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten durch eine vorrangige Berücksichtigung der gedruckten Quellen. Die eigentliche Forschungstätigkeit von Philologen bzw. Geisteswissenschaftlern überhaupt liegt im Schreiben von Texten, so daß die Publikationen für Aussagen über ein Fach als primäre Quelle anzusehen sind. Eine Gesamtdarstellung der Hispanistik im Dritten Reich wäre durch anschließendes Erfassen von Archivmaterial sowie institutionsgeschichtliche und biographische Untersuchungen zu leisten. Für eine Pilotstudie wie diese ist es jedoch angemessen, sich zunächst auf den "zentralen Bereich" eines Fachgebiets zu konzentrieren, nämlich die Veröffentlichungen, auch weil diese das Fach nach außen darstellen und dadurch das Feld der Öffentlichkeit und der Rezeption markieren.
3 4 5
Hausmann 1989, S. 47, erneuert in: Hausmann 1993, S. VII. Kramer 1988, S. 66. Franzbach 1978 und 1992.
0. Einleitung
11
Einer willkürlichen Selektion dieser Publikationen ist eine systematische Erfassung entgegenzustellen. Nur der Überblick über das Ganze erlaubt eine Wahrnehmung der Schwerpunkte. Diesem Zweck dient die im Anhang unternommene Annäherung an eine vollständige Bibliographie der Publikationen über Spanien, Portugal und Lateinamerika im Dritten Reich. Desgleichen kann sich der zu analysierende Textkorpus nicht auf wissenschaftliche Literatur im engeren Sinne beschränken, sondern muß auch populär- und pseudowissenschaftliche Arbeiten einbeziehen, da diese sich in Themenstellung, Argumentation und Urteil eng an die traditionelle akademische Forschung anlehnen und nicht selten von den gleichen Personen verfaßt werden: Wenn ein Hochschullehrer einen Artikel für eine Tageszeitung schreibt, fließen wissenschaftlicher (der ohnehin nicht exakt definierbar ist) und populärer Diskurs ineinander. Auch scheidet eine Beschränkung auf rein sprach- und literaturwissenschaftliche Themen aus. Mit "Hispanistik" ist nicht nur "spanische Philologie" als Teilbereich der Romanistik gemeint, wenngleich hier ein gewisser Schwerpunkt gesetzt wird. Daß die Spanien- und Lateinamerika-Publizistik, wie sie sich seit dem Ersten Weltkrieg entwickelte, wesentlich interdisziplinär organisiert war, muß in Inhalt und Struktur dieser Studie seinen Niederschlag finden; eine ausschließliche Konzentrierung auf die philologische Hispanistik wäre eine Verfehlung des Themas. Die Spanien- und Lateinamerikaforschung verlief keineswegs innerhalb eng abgesteckter Einzeldisziplinen, sondern führte Vertreter verschiedener Fächer zusammen, die ihrerseits die Grenzen ihrer Herkunfts-Wissenschaft überschritten: Romanisten verfaßten historiographische Werke, Geographen kommentierten den Spanischen Bürgerkrieg, Völkerkundler schrieben über literaturhistorische Themen etc. Aber auch bezüglich der romanistischen Hispanistik erfordert der Status einer Teildisziplin die Berücksichtigung eines größeren Kontextes: nicht nur der Romanistik, sondern der neueren fremdsprachlichen Philologien generell. Methodisch steht die Textanalyse in Form von close reading im Mittelpunkt. Das rein inhaltsideologische Referieren der Publikationen kann die Prinzipien und Denkweisen, die mittels dieser Texte transferiert werden, nicht erfassen. Nicht nur das "Was" der Aussage ist entscheidend, sondern ebenso das "Wie" und "Wo". Erst die Untersuchung der Sprachebene, der rhetorischen Mittel, der Metaphorik etc. kann einen ambivalenten Diskurs erfassen. Je zahlreicher die Lektüren sind, die ein Text ermöglicht, um so höher ist sein Stellenwert für wissenschaftsgeschichtliche Aussagen. Die Quelleninterpretation durch "close reading" bedingt ein relativ ausführliches wörtliches Zitieren, weil die Paraphrase nur die Inhaltsebene erfaßt und den Text dadurch desambiguiert.
Thomas Bräutigam
12
Es kann nicht darum gehen, die persönlichen Verhaltensweisen von Hispanisten einer moralischen Bewertung zu unterziehen. Publikationen allein bieten hierfür keine ausreichende Grundlage, zudem ist eine moralisierende Kritik aus sicherer post-festum-Position heraus ohnehin wohlfeil und dient oft nur dazu, sich der eigenen Integrität zu versichern. Dennoch müssen Namen genannt werden, weil jeder Text seinen individuellen Verfasser sichtbar macht: "Die" Hispanistik setzt sich aus der Tätigkeit von verschiedenen Hispanisten zusammen. Hispanistik im Dritten Reich heißt auch: Hispanisten im Dritten Reich, wobei jedoch nicht deren äußeres Verhalten (z. B. Parteizugehörigkeit etc.) von Interesse ist, sondern ihr Umgang mit der fachspezifischen Materie im NS-Staat. Außerdem verfügte die Hispanistik im Untersuchungszeitraum mit Karl Vossler und Ludwig Pfandl über zwei markante Persönlichkeiten, die mit ihren Publikationen die Spanienforschung entscheidend profilierten, so daß auf eine personenbezogene Komponente nicht völlig verzichtet werden kann. Das gravierende Forschungsdefizit, das Fragestellung und Methodik dieser Studie prägt, beeinflußt auch ihren Aufbau. Mit dem Jahr 1933 zu beginnen, würde bedeuten, dieses Datum von vornherein zur Zäsur zu erklären und damit ein mögliches Forschungsergebnis als gegeben vorauszusetzen. Die Vorgeschichte ist schon deshalb unverzichtbar, weil die deutsche Spanien- und Lateinamerikaforschung erst durch den Ersten Weltkrieg einen entscheidenden Institutionalisierungsschub erfuhr, der die weitere Entwicklung nachhaltig bestimmte. Um das Entstehungsmilieu dieser "modernen" Hispanistik zu beschreiben, ist allerdings ein Rekurs auch auf das 19. Jahrhundert notwendig, einerseits um den Kontrast zu verdeutlichen, andererseits um festzustellen, ob und inwiefern die Leitideen aus der Etablierungsphase der philologischen Wissenschaften auch im 20. Jahrhundert tradiert werden. Für diese Zeiträume kann an bereits vorhandene Forschungsarbeiten 6 angeknüpft werden. Die entscheidenden Tendenzen kristallisieren sich in den zwanziger Jahren heraus, da hier eine veritable "Spaniendebatte" unter den Fachvertretern zu registrieren ist. Ziel dieser Debatte war es, der modernen Hispanistik eine Legitimationsgrundlage zu verschaffen. Die Analyse dieser Diskussionsphase ist insofern zwingend, als die Argumentationsstrategie der Protagonisten dieser Debatte die Ideen offenlegt, die das Fach bis 1945 entscheidend bestimmen. Im nächsten Schritt ist zu fragen, wie diese theoretische Konzeption der Hispanistik in Deutschland unter den veränderten politischen Bedingungen nach 1933 Korrekturen oder Verlagerungen der Relevanzkriterien erfahren hat. Dies kann nur im engen Zusammenhang mit den romanischen und neueren Fremdsprachen über-
6
Tietz 1989a, Settekorn 1990.
0. Einleitung
13
haupt geschehen, da es sich bei der Hispanistik nur um eine Teildisziplin handelt (d. h. in der Regel ohne eigene Lehrstuhle und Seminare) mit entsprechend eingeschränkter Autonomie bei der Bestimmung des Forschungsgegenstands und der Methodik. Nach dem Stellenwert der Fremdsprachen im Dritten Reich zu fragen, kann nicht heißen, entsprechende Äußerungen von Repräsentanten des NS-Regimes als Belege zu zitieren. Wegen der Beliebigkeit solcher Zitate ist deren Quellenwert als gering zu veranschlagen. Stattdessen ist zu fragen, wie die Fremdsprachler ihren Stellenwert im "neuen Staat" selbst einschätzten und welche Folgerungen sie daraus zogen. Erst wenn die theoretische Grundlegung der Hispanistik dieser Periode analysiert ist, kann die hispanistische Praxis angemessen beurteilt werden. Dies soll in mehreren Kapiteln geschehen, die die thematischen Schwerpunkte der Hispanistik im Dritten Reich markieren. An erster Stelle steht der Themenkomplex "Spanischer Bürgerkrieg", weil die Hispanisten mit einem Ereignis konfrontiert wurden, das ihr Bezugsland schlagartig in das Licht der Weltöffentlichkeit rückte und der eigenen Legitimation dadurch enormen Vorschub leistete. Statt ferner Barockliteratur war dem deutschen Publikum ein aktuelles Geschehen zu erläutern, das durch das politisch-ideologische Interesse der Nationalsozialisten an diesem Konflikt eine zusätzliche Brisanz erhielt. Auf dem eigentlichen literaturwissenschaftlichen Terrain der Hispanisten lassen sich zwei dominierende Themenfelder erkennen. Der sich bereits vor 1933 anbahnenden Aufwertung Lope de Vegas zum führenden spanischen Bühnenklassiker (zuungunsten Calderöns) folgt, verstärkt durch das 300. Todesjahr des Dichters 1935, eine Renaissance Lopes sowohl in den Publikationen als auch auf der Bühne. Die Art des Umgangs mit einem "Klassiker" in der Hochphase des Dritten Reiches ermöglicht Einsichten in das Fach, die über den konkreten Einzelfall hinausgehen. Ebenso aussagekräftig wie Verschiebungen im Klassiker-Kanon sind Rezeption und Bewertung der zeitgenössischen Literatur. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Kriterien, die für die Auswahl der Autoren maßgebend waren, sowie der Bezug, der zum deutschen Lesepublikum hergestellt wurde. Dieser letzte Punkt ist insofern von Bedeutung, als die Publikationen gerade bei diesem Thema sich an eine breite nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit wandten und sich oft an Übersetzungen orientierten. Besonders an der Aufnahme der lateinamerikanischen Literatur, die im Deutschland der dreißiger Jahre zu einem ersten kleinen "Boom" fuhrt, zeigt sich das Ineinanderfließen von Wissenschaft, Feuilleton und Belletristik.
Thomas Bräutigam
14
Dem bereits genannten interdisziplinären Aspekt der modernen Hispanistik trägt die exemplarische Analyse der Spanien- und Lateinamerika-Historiographie Rechnung. Damit ist kein anmaßender Eingriff in das Fachgebiet der Geschichtswissenschaft intendiert, denn die Geschichtsschreibung Uber Spanien und Lateinamerika fügte sich nicht nur in die Verschiebungen innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Paradigmen (z. B. Öffnung der National- zur Universalgeschichte) ein, sondern war auch und vor allem Teil des allgemeinen Hispanismus, der sich seinem Gegenstand identifizierend statt kritisierend näherte. Die Entwicklung einer (Teil-)Disziplin bzw. einer Forschungsrichtung anhand von Publikationen zu referieren, soll nicht nur spezifisch fachgeschichtliche Erkenntnisse vermitteln, sondern auch über das Spezielle hinausweisen. Gerade ein - gemessen an den Interessenprioritäten des NS-Regimes - relativ abgelegener Bereich ermöglicht dann generelle Einsichten in den Komplex "Wissenschaft im Dritten Reich", wenn nicht nur diese Wissensproduktion erfaßt wird, sondern auch die mentalen Bedingungen und erkenntnistheoretischen Zusammenhänge, die diese Produktion bestimmen, berücksichtigt werden. Das besagt, wie es ein ganz Großer der Romanistik formuliert hat, "daß zur Bilanz der Philologie in einem Lande nicht bloß das Zusammenzählen des gedruckten Guten, sondern die Prüfung des Geistes, in dem diese Forschung unternommen wird, notwendig ist"7.
Als ein Baustein hierfür gelesen zu werden, ist die Absicht dieser Studie.
7
Spitzer 1946, S. 578.
1. Hispanistik bis 1933 1.
15
ENTWICKLUNGSTENDENZEN DER DEUTSCHSPRACHIGEN H I S P A NISTIK BIS 1 9 3 3
1.1. Von der Entstehungsphase bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Es ist naheliegend, die Geschichte der wissenschaftlichen Hispanistik in Deutschland mit der Etablierung und Institutionalisierung der philologischen Wissenschaften an den Universitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beginnen. Ein solches Verfahren darf jedoch nicht dazu führen, die wissenschaftlich-kritische Hispanistik von der allgemeinen kulturell-literarischen Spanienbegeisterung, die von der romantischen Bewegung in Deutschland zu einem außerordentlichen Höhepunkt gefuhrt wurde, abzugrenzen, da der Entstehungsprozeß der neueren Philologien eng mit der Ideologie der Romantik verknüpft ist. Die Entdeckung der eigenen Vergangenheit und die der anderen Völker, die Sehnsucht nach dem Mittelalter und die damit verbundene Suche nach der "Volkspoesie" als einem vermeintlich authentischen Ausdruck der "Volksseele" waren die entscheidenden Verbindungslinien zwischen der Romantik und der entstehenden historisch-kritischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Daß Spanien das Land war, in dem die Interessen und Sehnsüchte der Romantiker wie in einem Brennspiegel konzentriert zu sein schienen, hatte für die Frühphase der Hispanistik - und darüber hinaus - weitreichende Folgen. Diese Hinwendung zu Spanien war insofern eine Abwendung von Frankreich, als das bislang bestimmende kulturelle Paradigma, die französische Klassik und Aufklärung (konsequenterweise verbunden mit der als leyenda negra apostrophierten Spanienverachtung) durch ein radikales Gegenmodell ersetzt wurde. Hispanophilie und Gallophobie laufen somit von Anfang an synchron. Auch die frühe Hispanistik verzichtete nicht darauf, die Motivierung ihrer Forschungsrichtung mit Spitzen gegen Frankreich anzureichern. 1
Der Wiener Bibliothekar Ferdinand Wolf, einer der bedeutendsten Pioniere der Hispanistik, der eine interessante Zwischenstellung zwischen Romantik und positivistischer Philologie einnimmt, schreibt anläßlich der spanischen Übersetzung der Literaturgeschichte Friedrich Bouterweks: "Auch hat das vorliegende Buch noch einen ganz eigenen Reiz für uns: es erscheint uns wie eine Erneuerung des geistigen Bündnisses zweier nicht bloss dem Stamme, sondern mehr noch ihrem innersten Wesen nach verbrüderter Nationen; wie eine Erneuerung des altherkömmlichen Grusses der Spanier an die Deutschen: 'Somos hermanos!' und wir erwidern herzlich den lang entbehrten Gruss. Möchten durch diese Einbürgerung des deutschen Werkes in Spanien die schädlichen Einflüsse, die jene engherzige, sogenannte französisch-classische Schule auf die spanische Poesie nur zu lange übte, völlig vernichtet werden, und die Spanier des Deutschen von jedem Schulzwange freie Ansichten, seine tiefe Auffassung ihres eigenthümlichen Geistes und richtige Würdigung ihrer Meisterwerke, die sie nur von einer geistesverwandten Nation erwarten durften, gänzlich von dem Irrwege zurück-
16
Thomas Bräutigam
Die Dominanz des romantischen Impetus in der Anfangsphase der Hispanistik zeigt sich auch in der Themenwahl. Die wissenschaftlichen Arbeiten folgen den ästhetischen Interessen der Romantiker und widmen sich vorwiegend Calderón als "Prototyp des romantischen Dichters neben Cervantes"2 - und den Romanzen als Produkt der "Volkspoesie". Während die Calderón-Philologie sich um textkritische Ausgaben bemüht3, ist es vorrangiges Ziel der Romanzenforschung, kommentierte Anthologien zu erstellen, weil besonders auf diesem Gebiet wissenschaftliche und poetische Rezeption Hand in Hand gehen. 4 So ist Nikolaus Böhl de Fabers Floresta de Rimas Antiguas Castellanas (Hamburg 1821-1825) als "Grundstein der deutschen Hispanistik"5 bezeichnet worden. Jacob Grimm, der Begründer der Germanistik, ediert 1815 in Wien eine Silva de romances viejos, Friedrich Diez, der Begründer der Romanistik, promoviert 1821 in Gießen mit einer Ausgabe Altspanischer Romanzen. Die großen literaturgeschichtlichen Synthesen wurden allerdings außerhalb der wissenschaftlichen Hispanistik im engeren Sinn geschaffen. Sie waren das Werk nicht von philologischen Experten, sondern von begeisterten Kritikern, Schriftstellern bzw. Vertretern anderer Disziplinen. So sind z. B. die Arbeiten von
2 3
4 5
bringen, auf dem sie durch den falschen Glanz einer nüchternen Glätte und einer schulgerechten Gefeiltheit ohne Gemüth und Tiefe so weit verfuhrt wurden, dass sie sich selbst missverstehen, und über dem einseitigen Spotte phantasiearmer Aristarchen an der Seine die üppigen, lebensfrischen Blüthen der heimischen Fluren am Manzanares und Guadalquivir als wucherndes Unkraut unbeachtet lassen konnten!" (Wolf 1859, S. 5 f.). Die semantischen Oppositionen, die diesen Text konstituieren Schulzwang/Nüchternheit/Phantasiearmut vs. Gemüt/Tiefe/Lebensfrische - bleiben für die Legitimation der deutschen Hispanistik fast hundert Jahre lang unverzichtbare Bestandteile. Neben der Konstruktion einer spanisch-deutschen Geistesverwandtschaft, die ebenfalls ein kurrentes Motiv für die Beschäftigung mit Spanien auch in späteren Phasen der Hispanistik abgibt, ist bemerkenswert, daß die deutsche Spanienforschung sich auch als eine Art missionarische Dienstleistung an den Spaniern selbst sieht: Die Therapie für die von Frankreich verschuldete spanische Identitätskrise kommt aus Deutschland! Von einem Minderwertigkeitskomplex war die frühe Hispanistik jedenfalls nicht geplagt: "Wir dürfen ohne Nationaleitelkeit behaupten, dass erst durch unsere Bemühungen die Franzosen und Engländer neuerdings auf die spanische Literatur aufmerksam gemacht wurden, und sie richtiger würdigen gelernt haben." (ib., S. 2, Anm. 1). Hoffmeister 1976, S. 130. Bedeutende Calderón-Ausgaben z. B. von Johann Georg Keil (1820-22), Franz Lorinser (1856 ff.) und Valentin Schmidt (1857); cf. Wentzlaff-Eggebert 1989. Briesemeister 1984, S. 111. Pabst 1967, S. 79.
I. Hispanistik
bis 1933
17
Friedrich Bouterwek und Adolf Graf von Schack 6 als die eigentlichen "Hauptwerke" der deutschen Hispanistik des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen, wobei insbesondere das Werk Schacks ganz von der Spanienbegeisterung der Romantik geprägt ist.7 In der zweiten Jahrhunderthälfte änderte sich das Spanienbild in der Öffentlichkeit. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte die romantische, kulturgeschichtlich orientierte Hinwendung zu Spanien durch den spanischen Aufstand gegen Napoleon eine aktuelle politische Ergänzung und damit Intensivierung erhalten, so daß Spanien auch für divergierende (z. B. katholisch-konservative vs. liberal-progressive) Interessen Identifikationsangebote bereithielt. Diese Hochphase der Spanienrezeption flaute in der sich etablierenden bürgerlichen Restaurationsgesellschaft 8 und vor dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung und Modernisierung in Deutschland ab. Dieser letztgenannte Aspekt führte zwar dazu, daß in katholischen und konservativen Kreisen Spanien als Modell für die moralische und geistige Erneuerung in einer von den Tendenzen der Moderne angekränkelten Welt weiterhin Bestand hatte 9 , ließ aber nun auch wieder ein negatives Spanienbild entstehen (Hort der Reaktion und Rückständigkeit). Die Zeit der großen Spanien-Enthusiasten war vorbei, und die wissenschaftliche Hispanistik beschränkte sich mehr und mehr auf die Universitäten. 10 Dort allerdings war die Spanienforschung eingebettet in die Romanische Philologie, die zudem auch noch lange nach ihrer Etablierungsphase ihre Lehrstühle mit der Altgermanistik oder Anglistik teilen mußte." Mit dem sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildenden positivistischen Wissenschaftsparadigma emanzipierten sich auch die Philologien weitgehend von wissenschaftsexternen Motivationen ihrer Beschäftigung. Wenn ein solcher ideal gedachter - positivistischer Romanist sich der spanischen Abteilung seiner Disziplin zuwandte, tat er dies nicht, weil Spanien katholisch oder antinapoleonisch und damit "gut" oder "schlecht", Vorbild oder Schreckbild war, sondern weil Spanisch eine romanische Sprache ist, die sich aus einem älteren Laut- und
6
Friedrich Bouterwek, Geschichte der spanischen Poesie und Beredsamkeit, Göttingen 1804; Adolf Friedrich Graf von Schack, Geschichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien, Berlin 1845-1846. Beide Werke wurden auch ins Spanische übersetzt (1829 bzw. 1885-1887).
7
"fruto madero del entusiasmo romäntico" (Briesemeister 1984, S. 114).
8
Tietz 1989b, S. 93 f.
9
Briesemeister 1984, S. 118.
10
Hinterhäuser 1984, S. 138.
11
An der Berliner Universität erhielt erst Adolf Tobler 1867 eine reine RomanistikProfessur, in Bonn erst Wendelin Förster 1876 als Nachfolger von Friedrich Diez.
18
Thomas Bräutigam
Formenstand entwickelt hatte, den es zu rekonstruieren und mit den anderen romanischen Sprachen bzw. dem Latein zu vergleichen galt. Eine Beschäftigung mit spanischer Sprache und Literatur brauchte nicht eigens legitimiert zu werden, sie ergab sich aus dem herrschenden Wissenschaftsverständnis. Wertende Intentionen und damit verbunden Legitimationsbedürfiiisse traten erst wieder auf, als das idealistische Paradigma der Sprachwissenschaft etwa ab 1900 das positivistische abzulösen begann. Gleichwohl kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, die Spanischstudien hätten innerhalb der Romanistik einen gleichrangigen Status neben dem Französischen erhalten. Vielmehr dominierte von Beginn an - trotz Spanieneuphorie in der Institutionalisierungsphase - die galloromanische Forschungsrichtung, ein Umstand, der allerdings durchaus mit außerwissenschaftlichen Faktoren zu erklären ist: Frankreich wurde neben Deutschland als die führende europäische Kulturmacht angesehen, Französisch war die Fremdsprache der gebildeten Oberschicht, und selbstverständlich war auch die geographische Nähe ausschlaggebend. Analog ist auch die Entwicklung der Anglistik nicht vom Aufstieg Englands zur Weltmacht und der damit verbundenen Einschätzung des Englischen als "Sprache des Zeitgeistes"12 zu trennen, auch wenn sich die meisten Vertreter der philologischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert gegen eine utilitaristischpraktische Anwendung ihrer Disziplin sperrten. Die Integrierung der wissenschaftlichen Spanienforschung in das Konzept der "Romanistik" - eine deutsche Spezialität - hatte für die weitere Entwicklung der deutschen Hispanistik eher negative Folgen und erwies sich als ein "hemmender Faktor"13. Der systematische Aufbau als eine selbständige Disziplin blieb ihr versagt, ihre daher nur sporadischen Entwicklungsimpulse verdankte sie - neben den Amateur-Enthusiasten - den Interessen einzelner Romanisten! Wichtigstes Forschungsgebiet der Romanistik und damit auch der Hispanistik wurde die historische Sprachwissenschaft, das eigentliche Terrain der philologischen Methode. Die herausragenden Arbeiten - wie z. B. Meyer-Lübkes Grammatik der romanischen Sprachen (1890 ff.) - betrafen zumeist die Romania in ihrer Gesamtheit. Die Literaturwissenschaft spielte demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle und beschränkte sich auf Detailstudien, wohl auch, weil sich die literaturgeschichtliche Darstellung weniger in ein dem zeitgenössischen Wissen-
12 13
Finkenstaedt 1983, S. 51. Siebenmann 1986, S. 1060.
1. Hispanistik
bis
1933
19
schaftsverständnis adäquates abstrakt-nüchternes Schema fassen ließ als die sprachgeschichtliche. 14 Die untergeordnete Stellung, die die Hispanistik im romanistischen Gesamtkonzept einnahm, dokumentiert die große Bestandsaufnahme der Romanistik des 19. Jahrhunderts, Gustav Gröbers Grundriß der romanischen Philologie (1888 ff.). Entgegen der Behauptung des Herausgebers, die spanische sei die "zur Zeit angesehenste romanische Litteratur" 15 , nimmt Gottfried Baists Darstellung derselben einen außerordentlich bescheidenen Raum ein: 814 Seiten französischer Literatur stehen 83 Seiten spanischer gegenüber. 16 Lateinamerika spielte sowohl in der Sprach- als auch in der Literaturwissenschaft so gut wie keine Rolle. Dies hing damit zusammen, daß die Beschäftigung mit Lateinamerika im 19. Jahrhundert sich auf ethnologische, geographische oder historische Themen konzentrierte, was den Zugang zu Sprache und Dichtung eher verstellte als förderte. 17 Gleichwohl war eine Thematisierung der lateinamerikanischen Literatur in der romantisch geprägten Frühphase der Hispanistik durchaus angelegt: Der bereits zitierte Ferdinand Wolf stellte im von Adolf Ebert herausgegebenen Jahrbuch für romanische und englische Literatur José Marmols Amalia dem deutschen Publikum vor 18 und brillierte schließlich gar mit einer französisch verfaßten Geschichte der brasilianischen Literatur (1863). Diese Anregungen wurden jedoch nicht weiter verfolgt und markieren die Ausnahme. Ebenso erlosch in der postromantischen Ära das Interesse für zeitgenössische Literatur. Indessen zeichnet sich zur Jahrhundertwende wiederum ein Wandel im neuphilologischen Wissenschaftsverständnis ab, so daß der Gröbersche Grundriß tatsäch-
14
In der Formulierung von Leo Spitzer: "C'est que la linguistique était considérée en ces temps-là comme plus objective, plus positive, plus scientifique que l'histoire littéraire, écrite en général par des imaginatifs, gens toujours un petit fou et un brin dangereux [...]. Les livres de M. Meyer-Lübke et de Morf sont comme des romans historiques sans héros où des forces obscures poussent les sons ou les genres à évoluer." (Spitzer 1932, S. 577).
15
Gröber 1888, S. 96. Gröber meint damit allerdings nicht seine Gegenwart, sondern die romantische Frühphase der Romanistik.
16
Ein absolutes Indiz für die Wertschätzung der einzelnen Literaturen sind solche Zahlen freilich nicht, auch wenn es sich bei dem Grundriß um ein einmaliges Prestigeunternehmen handelte. Sie deuten eher auf den Fleiß der einzelnen Autoren hin. So nimmt Carolina Michaëlis de Vasconcelos' Darstellung der portugiesischen Literatur 2 5 2 Seiten ein, und noch der rumänischen sind doppelt soviel Seiten gewidmet wie der spanischen!
17
Briesemeister 1991.
18
Wolf 1860; cf. auch Wolf 1862. wo er aktuelle Neuerscheinungen bespricht.
20
Thomas
Bräutigam
lieh einen Endpunkt der traditionellen historisch-vergleichenden Methode markiert. Wesentliche Impulse erhielt dieser Wandel von gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren: Industrialisierung, Modernisierung und die damit verbundene Internationalisierung des Handels schufen ein öffentliches Interesse an fremden Sprachen und Kulturen, das besonders auf Gegenwartsfragen ausgerichtet war. Die Institution, an der die neuen Kenntnisse vermittelt werden sollten, war die Schule. Die Lehrer jedoch erhielten ihre Ausbildung an Universitäten, die aufgrund ihrer traditionellen Mittelalter-Fixierung nicht auf diese Aufgaben vorbereitet waren. Nun war dieser Zeitraum aber genau die Phase, in der Romanistik und Anglistik einen enormen quantitativen Aufschwung an den Hochschulen erfuhren 19 , der zwangsläufig auch einen personellen Generationenwechsel mit sich brachte. Damit wurde eine Abkehr vom Mittelalter und eine Hinwendung zu gegenwartsnäheren Forschungsfeldern eingeleitet - Dialektologie, "Wörter und Sachen", "idealistische Neuphilologie" die somit indirekt auch Ausdruck der von "außen" an die Philologie herangetragenen Bedürfnisse waren. Diese Aufsprengung des tradierten philologischen Wissenschaftskonzepts durch das Einbeziehen allgemeiner kultureller Aspekte machte auch die Literaturgeschichte wieder interessant. Ihre Emanzipation von der Dominanz der Sprachwissenschaft war erreicht, als es Romanisten gab, die sich primär mit Literaturgeschichte beschäftigten unter Einbeziehung auch der Gegenwartsliteratur (z. B. Heinrich Morf und Philipp August Becker). Das Ende der positivistischen und pseudo-naturwissenschaftlichen Herangehensweise an sprachliche und literarische Phänomene führte, beeinflußt von politischökonomischen Faktoren 20 , zu Methoden, die die nüchtern-objektive Analyse des Faktenmaterials zugunsten klarer Wertvorstellungen aufgaben und Fragen nach "Nationalcharakter", "Völkerpsychologie" und "Wesenskunde" in den Vordergrund stellten. Aus dem "Geist" einer Sprache wurde der "Geist" einer Nation abgeleitet. Nicht mehr das Einzelphänomen stand im Mittelpunkt, sondern Sprache und Dichtung als lebendiges Ganzes, als Ausdruck einer "Idee". Der Erste Weltkrieg markiert in der Geschichte der Romanistik nicht zuletzt deshalb einen tiefen Einschnitt, weil die durch ihn ausgelösten politisch-nationalistischen Emotionen mit dem neuen "Weltanschauungsverlangen" 21 korrelierten. Die bisherige Gelehrtenstuben-Philologie sah sich mit einer Konstellation kon-
19
Settekorn/Lütjen 1984, S. 45.
20
"Die Frage nach dem Französischen (geriet) zusehends in die Spannung [...] zwischen wirtschaftlichen Interessen, die Sprachkenntnisse erforderten, Anerkennung der kulturellen Leistungen der Franzosen [...] und nationalen Bedenken, die gegen aufklärerische und revolutionäre Tendenzen in Frankreich gerichtet waren." (ib., S. 47). Hermand 1968, S. 31.
21
I. Hispanistik bis ¡933
21
frontiert, die eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Realität unumgänglich machte. Die zwingende Folge war das neuartige Bedürfnis nach Selbstdefinition, Standortbestimmung und Legitimierung der Disziplin. 22 In genau dieser Phase, in der die Romanisten sich gedrängt sahen, ihren Elfenbeinturm zu verlassen, um nach neuen Positionen zu suchen, entstand neuerlich ein Interesse für Spanien. Die sich nun herausbildende "moderne" Hispanistik entwickelte sich allerdings zunächst außerhalb des eigentlichen romanistischen Forschungsbereichs. Diese relative Isolierung kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß das neue Interesse für Spanien - und nun auch Lateinamerika - sich geographisch exakt lokalisieren läßt: Das Zentrum dieser ibero-romanischen Forschungsrichtung war Hamburg. 23 Die Besonderheiten beginnen damit, daß die Institutionalisierung außerhalb der Universität stattfindet. 1911 gründet der Romanist Bernhard Schädel am Hamburger Kolonialinstitut ein "Seminar für romanische Sprachen und Kultur", das von Beginn an einen iberischen Schwerpunkt erhält unter ausdrücklicher Einbeziehung der überseeischen Gebiete. Die zweite Neuerung liegt in einer methodischen Innovation, die bereits die Institutsbezeichnung indiziert: "... Sprachen und Kultur". Der sprach- und literaturwissenschaftlichen Ausrichtung der traditionellen Philologie setzt die Hamburger Richtung ein kultur- bzw. auslandskundliches Konzept entgegen, das die Bezugsländer in einem interdisziplinären, also auch ökonomische, soziologische und politische Aspekte umfassenden Rahmen untersucht. Diese Zielsetzung führt zu einem "modernen, praxisbezogenen Einschlag", der mit den "Handelsinteressen der Hamburger Kaufmannschaft" 24 im Einklang steht. Diese direkte Bindung an eine Klientel ist die dritte und markanteste Differenz zur traditionellen Romanistik. Der Nexus von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft wird unterstrichen durch weitere flankierende Institutsgründungen: 1916 konstituiert sich der "Hamburgische Ibero-Amerikanische Verein" mit der Zielsetzung einer "kulturelle(n) und intellektuelle(n) Fundierung der auswärtigen Wirtschaftspolitik" 25 . Dieser Verein wiederum gründet 1917 das "Iberoamerikanische Institut", wobei Schädel in Personalunion als Direktor von Seminar, Verein und Institut fungiert. 1916 erfolgt die Einrichtung eines "Iberoamerikanischen Nachrichten- und Archivdienstes", der in Form von sogenannten "Ibero-Berichten" das Auswärtige Amt mit Informationen über Lateinamerika
22 23
24 25
Zur Romanistik im Ersten Weltkrieg cf. Bott 1982, S. 30 ff. Die Entstehungsphase der Hamburger Iberoromanistik ist bereits relativ gut erforscht, cf. Settekorn/Lütjen 1984 und Settekorn 1990. Settekorn/Lütjen 1984, S. 57. Zit. n. Settekorn 1990, S. 60.
22
Thomas
Bräutigam
versorgt. 26 Finanziert wurden diese Einrichtungen durch eine Mischung aus privaten und staatlichen Quellen. 27 Diese Institutionen gaben während des Krieges auch mehrere Zeitschriften heraus, die sich, den Hamburger Intentionen entsprechend, nicht an ein romanistisches Fachpublikum richteten, sondern die politische und kaufmännische Klientel bedienten bzw. die deutsche Kulturpropaganda im Ausland fordern wollten: Ibero-amerikanische Mitteilungen, Mitteilungen aus Spanien, La Cultura latinoamericana, Heraldo de Hamburgo. Alle diese Aktivitäten fanden außerhalb der Universität statt, die in Hamburg j a erst 1919 gegründet werden sollte. Es war nur konsequent, daß Schädel zu den Gegnern dieser Universitätsgründung zählte, da er seine "Dienstleistungs"Hispanistik nur als eine eigenständige, halbprivate, stark aktualitäts- und praxisbezogene auslands- und kulturkundliche Einrichtung betreiben konnte, die ihm eine "Verbindung zu einflußreichen außeruniversitären gesellschaftlichen und politischen Kreisen" ermöglichte. 28 So kennzeichnet die Hamburger Iberoromanistik eine "Praxis des halböffentlichen oder geheimen, nach außen oft anonymen Handelns" 29 . Andererseits wandte sich Schädel auch an die breitere Öffentlichkeit (nicht jedoch an Romanisten im engeren Sinn), um für ein größeres Interesse an Spanien und Lateinamerika zu werben. 1916 formulierte er folgendes, seine Intentionen zusammenfassende Desiderat: "Für unseren Welthandel aber und unsere Industrie und in derselben Weise für die Sicherung und den Ausbau unseres geistigen und kulturellen Einflusses in dem großen Absatzgebiet für materielle und intellektuelle Werte aus Europa, das die schnell aufstrebenden Republiken Süd- und Mittelamerikas darstellen, ist eine nicht bloß oberflächliche Kenntnis des Spanischen und Portugiesischen und darüber hinaus eine zuverlässige Vorstellung von der kulturellen Entwicklung und den heutigen Verhältnissen in dem riesigen Gebiet, das diese Sprachen anfüllen, in einer breiten akademischen und gebildeten Schicht Deutschlands eine Forderung, die ebenso dringend als unerfüllt ist." 30
Den kulturpolitischen Aspekt stellt Schädel besonders heraus, wenn er am Schluß des Artikels das "Interesse unserer nach dem Kriege dort [sc. Südamerika] neu und rationeller zu befestigenden und zu verbreitenden kulturellen Weltgeltung" 31 betont.
26
Ib., S. 70 ff.
27
Ib., S. 71.
28
Ib., S. 89.
29
Ib., S. 91.
30
Schädel 1916, Sp. 308.
31
Ib., Sp. 328.
I. Hispanistik bis 1933
23
Dieser Diskurs belegt, daß diese Hamburger Hispanistik sich von der traditionellen Romanistik abgekoppelt hat. Hier wird mit völlig anderen Kategorien und Wertvorstellungen argumentiert, wenn die Bezugsländer als "Absatzgebiet" aufgefaßt, Sprachen vorrangig als Kommunikationsmedium und damit als Mittel zum handelspolitischen Zweck betrachtet und die intellektuellen Werte den materiellen gleich- oder gar untergeordnet werden. Die Konzeption einer Iberoromanistik als praktische deutsche Kulturpropaganda macht den Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und damit dem deutschen Weltmachtstreben evident. Die Niederlage änderte an dieser Konstellation nichts, vielmehr forcierten die politische und ökonomische Isolation, der als Demütigung empfundene Versailler Vertrag und das Schreckgespenst der Revolution eine Hinwendung zur iberischen Welt. Diese Suche nach neuen "Freunden" in einer Welt von "Feinden" ließ nun allerdings wieder kulturelle, geistige bzw. idealistische Motive in den Vordergrund treten, die dem oben skizzierten Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften entsprachen. Neben der Hamburger Richtung bewegte sich daher auch die traditionelle, konservative Hochschul-Romanistik wieder auf Spanien zu, bezog die Legitimierung dieser Hinwendung jedoch aus dem ihr eigenen Argumentationsarsenal. 32 Wie diese Strategie aussah, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, der der Analyse von Aufsätzen gewidmet ist, in denen deutsche Romanisten in den zwanziger Jahren den Stellenwert der Hispanistik - innerhalb ihrer Disziplin und darüber hinaus - zu situieren versuchten.
1.2.
Legitimierung der Hispanistik in den zwanziger Jahren
1.2.1. Fritz Lejeune 1919 Der erste Aufsatz in einer romanistischen Fachzeitschrift, der sich offensiv für eine Hinwendung zu Spanien und Lateinamerika einsetzte, erschien 1919 in der Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht und versuchte eine ganz konkrete Frage zu beantworten: "Was sind uns die spanisch redenden Länder nach dem Kriege?" Der Text selbst ist jedoch nur bedingt als "romanistisch" im engeren Sinn einzustufen. Sein Verfasser, Dr. phil. et med. Fritz Lejeune war zwar mit einer einschlägigen Dissertation hervorgetreten (Die deutsch-spanischen Freundschaftsbestrebungen von Johannes Fastenrath, 1916). Als er den Artikel verfaßte, war er jedoch praktizierender Arzt in Greifswald. 33 Dieser Arti-
32
Cf. Settekorn 1990, S. 91.
33
Lejeune (1892-1966) habilitierte sich 1922 in Greifswald für Geschichte der Medizin, ging 1925 als Privatdozent nach Köln und 1939 nach Wien, w o er (laut Kürschners Gelehrtenkalender 1940/41) für "Geschichte der spanischen und portugiesischen Medizin und der Naturwissenschaften dieser Länder" zuständig war. Über den Status ei-
24
Thomas
Bräutigam
kel ist hinsichtlich seiner Argumentation weder philologisch noch medizinisch, sondern entspricht eher dem kämpferischen Kommentar im Wirtschaftsteil einer Tageszeitung. Zwar partizipierte Lejeune weder biographisch noch wissenschaftlich an der Hamburger Iberoromanistik, doch fugt sich sein Text exakt in deren handelspolitische Intentionen ein und markiert die Nachkriegsposition dieser Richtung. Erstes Indiz ist die Argumentation des Verfassers ausschließlich aus deutscher Perspektive, wobei für das deutsche Interesse an Spanien nur die Gründe entscheidend sind, die die Situation Deutschlands verbessern. Die Intention besteht nicht darin, daß sich die Deutschen an spanischer Kultur erbauen sollen, sondern Spanien ist ftir Lejeune der Freund und Retter aus deutscher Not, das Spanische eine Art "Kampfmittel" im "Daseinskampf gegen eine Welt von Hass", eine "Waffe", die "unseren Weg in die Zukunft des deutschen Handels in der Welt erschliessen muss" 34 . Lejeunes Position ist somit nicht hispanophil im geistigkulturellen Sinn, sondern utilitaristisch im politisch-wirtschaftlichen Sinn und deckt sich damit mit den zitierten Ausführungen Schädels: Die deutsche Kulturpropaganda kann in der Hinwendung zu Spanien "Nutzen ziehen" 35 . Lejeune konstatiert zunächst die veränderte Stellung Deutschlands zu Spanien nach dem Krieg. Heute sei aus einem "mächtigen" Volk ein "geschlagenes, geknechtetes" geworden, aus einem "Geber" ein "Nehmer" 36 . Es gelte, die Sympathie in Spanien und Südamerika, die durch die feindliche Propaganda zerstört worden sei, wieder aufzubauen. Zunächst müßten die Lügen, die von dieser Propaganda gestreut wurden, korrigiert und über das wahre Deutschland aufgeklärt werden: "Was weiss denn der Spanier bis heute von unseren völkischen Grosstaten, was von unserer bittersten Not? So gut wie nichts, und was er weiss, das kennt er aus englischen und nordamerikanischen Quellen. Das muss anders werden; schnelle Arbeit muss geleistet werden, feinsinnige und geschmackvolle Uebersetzerarbeit, Pionierarbeit, die dem ganzen deutschen Volke einen Boden schaffen kann, auf dem es weiterbauen mag."37
Diese positive deutsche Kulturpropaganda ist für Lejeune jedoch nicht Selbstzweck, sondern nur die Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit von deutschem Handel und deutscher Industrie, welche allein das Ansehen Deutschlands im
34 35 36 37
nes Extraordinarius kam er jedoch nicht hinaus. Zu Einzelheiten über Lejeunes zwischen Kollaboration und Widerstand lavierendem Verhalten im Dritten Reich cf. Golczewski 1988, S. 234 ff. Lejeune 1919, S. 227. Ib., S. 224. Ib. Ib.
1. Hispanistik bis 1933
25
Ausland wieder verbessern könnten: "Deshalb bereite die Feder, die Presse dem Kaufmann und dem Techniker den Weg!" 38 Diese Kaufleute und Techniker, die den herkömmlichen Diplomaten ersetzen sollen, müssen sprachgewandt sein, deshalb soll das Spanische an Schule und Hochschule eingeführt werden. Lejeune wendet sich jedoch entschieden gegen eine konventionelle philologische Ausbildung - Vorlesungen, in denen "philologische Vergleiche zu anderen romanischen Sprachen im Vordergrund stehen oder solche, in denen ein Kapitel des Don Quijote im Verlaufe eines Semesters mühsam und haarspalterisch zerpflückt wird" 39 - , sondern propagiert das Spanische als "Verkehrs- und Umgangssprache" und markiert damit die Opposition zur bisherigen Praxis der romanistischen Hispanistik. Höhepunkt von Leujeunes deutschnationaler Argumentation ist die Aufforderung, statt nach Nord- nach Südamerika auszuwandern, da die Emigration in die USA gravierende Nachteile mit sich bringe: "Unsere eigenen Volksgenossen dienen dazu, die Volkskraft unserer grössten Feinde und Handelsrivalen zu stärken. Könnten die Auswanderer jedoch ein wenig spanisch, so würde sich manch' einer überlegen, ob er nicht lieber nach Süd-, statt nach Nordamerika auswanderte. Und bekanntermassen verlieren die Deutschen in Südamerika des grösseren Rassenunterschiedes wegen ihre völkischen Eigenschaften nur in geringem Masse, während in Nordamerika schon bei den Kindern der Einwanderer eine völlige Yankeesierung eintritt."40
Lejeune konstatiert hier zwar einen "Rassenunterschied", erblickt aber in einem zweiten Text in der gleichen Zeitschrift - zu einem Zeitpunkt, als die deutschspanische Annäherung schon in Gang gebracht war - auch eine "Wesensverwandtschaft" von Deutschland und Spanien, die der Freundschaft der beiden Völker gleichsam eine organische Grundlage verschafft: "Man sieht, dass die Fühlungnahme mit Spanien und seinen Tochterländern bereits hergestellt ist und dass das deutsche Volk bei diesem Hinneigen einem inneren Drange folgt, der wie jedes Menschen Herz sich auch im Pulsschlage eines Volkes lebendig zeigt, dem Drange nach wesensverwandter Freundschaft, die bereit ist, zu geben und nicht zu stolz, in der Not auch zu nehmen. Gebe ein freundliches Geschick, dass das deutsche Volk endlich eine Freundschaft knüpft, die seiner Natur entspricht und dass ihm Spanien, dessen Geschick in der Weltgeschichte dem unseren so ähnlich ist, das sein und bleiben möge, was wir von ihm hoffen." 41
38 39 40 41
Ib., S. 225. Ib., S. 226. Ib., S. 226 f. Lejeune 1921, S. 30.
26
Thomas
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Mit einer solchen Argumentation sind die zunächst rein kaufmännisch-politischen Interessen auf eine biologische Ebene gehoben ("Herz", "innerer Drang", "Pulsschlag", "Natur"). In einem solcherart emphatischen Diskurs vermischen sich schließlich behauptete historische Parallelen mit der Suggestion einer Naturnotwendigkeit. Jedem potentiellen kritischen Einwand wird damit von vornherein der Vorwurf der Widernatürlichkeit gemacht, eine Methode, die im emotionalen Völker- bzw. Nationenvergleich zu den beliebten rhetorischen Versatzstücken gehört. Insbesondere eine unterstellte "Schicksalsgemeinschaft" zwischen Deutschland und Spanien rekurriert in den einschlägigen Texten als gängiger Topos. Hier kündigt sich bereits eine Verschiebung der Argumentationsstrategie an, wie sie in den nachfolgenden Aufsätzen, die alle von professionellen Romanisten verfaßt sind, manifest wird. Die Legitimierung der hispanistischen Teildisziplin läuft nun nicht mehr vorrangig über wirtschaftliche und politische Machtinteressen, sondern bezieht ihre Motivation aus ideellen, geistig-kulturellen Zusammenhängen. Geschichte, Sprache, Kultur und vor allem "Geist" werden nun zu den Instanzen, die der Annäherung an Spanien mehr Tiefe verleihen sollen. Der zunächst relativ nüchtern-rationale Diskurs über Exportmöglichkeiten, Kulturpropaganda und deutsche Weltgeltung nimmt durch das Eingreifen der Romanisten und deren idealistisch-geistesgeschichtliche Argumentation zunehmend irrationale Züge an und läßt damit die rein pragmatische Ebene hinter sich.
1.2.2. Karl Vossler 1922 Von den bedeutenden deutschen Romanisten war Vossler derjenige, der sich in den zwanziger Jahren am entschiedensten und dauerhaftesten der spanischen Kultur zuwandte. Dies ist schon daraus ersichtlich, daß er vor 1924 keinen einzigen hispanistischen Text verfaßte, aber etwa ab 1930 sich fast ausschließlich der spanischen Literatur widmete (siehe unten, Kap. 5.3.1.). Die wissenschaftshistorische Relevanz Vosslers liegt zweifellos in seiner Konzeption einer "idealistischen" Sprachwissenschaft und der damit verbundenen Kampfansage an den Positivismus. Der dadurch ausgelöste Streit bestimmte den theoretischen und methodologischen Diskurs der Romanistik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts maßgeblich und ist nicht nur insofern zugunsten der Vosslerschen Richtung entschieden worden, als der Terminus "Positivismus" zunehmend eine pejorative Konnotation erhielt: "Er bedeutete etwas, was viele von sich abzuschütteln suchten" 42 . Darüber hinaus wurden die die Theorie Vosslers
42
Iordan 1962, S. 126.
1. Hispanistik bis 1933
27
konstituierenden Determinanten - Geist, Intuition, Betonung des Schöpferischen in der Sprachentwicklung, Sprache als ästhetisches Phänomen, Einbeziehen der Kulturgeschichte - zu zentralen Kategorien der sprach- und literaturwissenschaftlichen Produktion. Dieses Faktum ist jedoch weder das alleinige Verdienst Vosslers noch ein auf die Romanistik beschränkter Vorgang. Allenthalben setzte sich in der Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung die "geistesgeschichtliche Methode" durch, die sich aus mehreren philosophischen (z. B. Lebensphilosophie) und wissenschaftstheoretischen Quellen (z. B. Dilthey) speiste. Für unseren Kontext, der Legitimierungsphase der Hispanistik nach dem Ersten Weltkrieg, ist bedeutsam, daß mit Vossler ein Begründungszusammenhang hergestellt wird, der sich von dem in Hamburg oder von Lejeune vertretenen unterscheidet und in der Romanistik zum allein dominierenden wird. Die Vertreter der traditionellen Hochschul-Romanistik "argumentieren in den Nachkriegsjahren gerade nicht ökonomisch, sondern mit vorwiegend ideellen und ideologischen Argumenten aus der symbolisch hochbewerteten Position der Universitätsprofessoren heraus"43.
Ein gemeinsamer Nenner von beiden Richtungen war allerdings - zumindest in der unmittelbaren Nachkriegszeit - die Kombination von Pro-Spanien- mit AntiFrankreich-Argumenten. Die Romanistik sah sich nach dem Krieg wegen ihres traditionellen Forschungsschwerpunktes Frankreich als Wissenschaft vom "Erbfeind" denunziert und stand unter Rechtfertigungsdruck. Die hispanistische Abteilung der Disziplin konnte gewissermaßen die Funktion einer "Ersatzlösung" übernehmen. Bei Vosslers Text von 1922 handelt es sich um einen Vortrag über den "Bildungswert der romanischen Sprachen" auf dem 18. Neuphilologentag in Nürnberg. Er richtet sich an sogenannte "Schulmänner", bezieht sein Thema also auf einen pädagogisch-didaktischen Kontext und ist sprachlich von einer typischen Vortrags-Rhetorik geprägt (z. B. rhetorisch gemeinte und damit suggestiv wirkende Fragen). Der Text enthält eine eindeutige Botschaft: Vossler spricht sich für die Verbannung des Französisch-Unterrichts von den Schulen und dessen Ersatz durch das Spanische aus und artikuliert damit eine zwar nicht untypische, aber nur vorübergehende Nachkriegsposition. Auch Vossler nahm später, in der Konsolidierungsphase der Weimarer Republik, wieder eine versöhnlichere Haltung ein und hielt diese Forderung nicht aufrecht. Vosslers antipositivistisches Credo jedoch, das auch diesen Text einleitet und beschließt, blieb das gleiche: der Kampf gegen die "Vernunftfetischisten", die 43
Settekorn 1990, S. 91.
Thomas Bräutigam
28
Sprachen und Kulturen nach rein utilitaristisch-zweckmäßigen Motiven betrachten. Dabei gesteht er jedoch zu, daß auch "Sprachen ihren vernünftigen Zweck" haben, nämlich den "Gedankenverkehr" 44 . Reduzierte man den Wert der Sprachen auf den reinen Verständigungszweck, könnte man gleich zur künstlichen Weltsprache schreiten, hinter dieser jedoch stehe die Gesinnung des "Bolschewismus" 45 und damit das materialistische Denken. Vossler geht es - im Unterschied zu den ökonomisch argumentierenden Hispanophilen - nicht um einen äußeren Zweckcharakter, sondern um den "inneren Bildungswert" der Sprachen im Einklang mit seiner idealistischen Sprachbetrachtung, nach der die Sprachen Ausdruck der jeweils zugrundeliegenden "Denkweise und Geistesart" 46 sind: "Worauf es ankommt, ist, daß vom Französischen nicht bloß die Formen, nicht bloß die Sachen, nicht bloß Molière oder Rousseau, sondern der französische Geist vermittelt werde. Dies ist keine quantitative, das ist eine qualitative Forderung. Und dasselbe gilt für alle andern Sprachen." 47
Konkret will Vossler mit seinem Vortrag folgende Frage beantworten: "Welche der drei romanischen Welten ist für die heutige deutsche Jugend [...] die nützlichste?" 48 Die Antwort Vosslers ist klar und eindeutig: die spanische. Zwar fuhrt auch er zunächst die aktuell-praktischen Gründe an - Handel, Verkehr, Wirtschaft - , und dem Spanischen gehöre unter diesen Aspekten die Zukunft. Doch Vossler sieht den "Nutzen" der Sprache in den "inneren Werten", und diese werden nicht vom Wirtschaftsfaktor, sondern vom "spanischen Geist" bestimmt: "Denn der spanische Geist, der eine überseeische Welt erobert hat, ist derselbe, der im Mittelalter die schwersten, zähesten Glaubenskriege bestand und der im Zeitalter der großen individualistischen Erhebungen der Renaissance und der Reformation die strenge Zucht, den Gehorsam und die Unterordnung in Europa vertrat. Er trägt, wie kein anderer in der Romania, die Kennzeichen der Mannhaftigkeit. Die Ehre, der Dienst, der Gehorsam, die Kühnheit, die unbedingte, schmelzende zarte und heftigste Hingabe an eine Idee, der düstere Ernst und dessen echter Bruder, ein goldener, tiefer, harmloser Humor, das alles findet sich in der spanischen Geschichte und Dichtung mit einer Gewalt und Größe ausgedrückt, wie man es in Italien und Frankreich nicht 49
wieder findet."
44
Vossler 1922, S. 226.
45
Ib., S. 228.
46
Ib., S. 229.
47
Ib., S. 230.
48
Ib., S. 231.
49
Ib.
1. Hispanistik bis 1933
29
Hier wird zunächst eine überzeitliche, epochenübergreifende Kontinuität behauptet ("derselbe") und verschiedenen historischen Vorgängen (Reconquista, Conquista, Gegenreformation) ein gemeinsames Movens unterstellt, das als "spanischer Geist" in Erscheinung tritt, um schließlich in einer Positiv-NegativOpposition näher bestimmt zu werden: Zucht/Gehorsam/Unterordnung vs. individualistische Erhebung. Während hier das Negativum benannt ist (Renaissance/ Reformation) und damit die behauptete Eigenschaft zumindest andeutungsweise konkretisiert wird, besteht die folgende Aufzählung der Komponenten, aus denen sich der "spanische Geist" zusammensetzt, aus reinen Abstrakta ohne jede Exemplifizierung und entzieht sich somit einer kritischen Nachprüfung. Der angeblich "harmlose" Humor z. B. könnte schon mit dem Hinweis auf die novela picaresca oder Quevedo falsifiziert werden. Ziel Vosslers ist es aber auch nicht, die behaupteten Eigenschaften an kulturellen oder geschichtlichen Fakten zu belegen, sondern er will die Wertvorstellungen hervorheben und propagieren, die der Jugend im Nachkriegsdeutschland frommen und die ihr via spanische Sprache und Kultur vermittelt werden sollen: Zucht, Ordnung und Gehorsam. Unter diesem Aspekt ist auch seine Ablehnung des Französischen zu sehen: "Am spätesten schließlich, zögernd zumeist und widerstrebend, erschließen sich erfahrungsgemäß unsere Schüler dem französischen Wesen. Wieviel leichter ist es z. B., einem 15 oder 16jährigen die Mocedades del Cid des De Castro schmackhaft zu machen als den Corneilleschen Cid. Ja sogar für Dante will ich ihm noch eher das Verständnis eröffnen als für den dichterischen Wert der angeblich so leichten Kinderfabeln des L a Fontaine. Die neufranzösische Literatur ist mit Reflexion, Esprit, mit Bon goüt und feinen Nuancen so allseitig durchsetzt, hat ein so wenig unmittelbares und ein so vielfach gespiegeltes Gefühlsleben, daß in der Regel erst der reife Mann das richtige Verständnis und tiefere Interesse dafür gewinnt. Am liebsten möchte ich das Französische in die zwei spätesten Klassen oder gar an die Hochschule allein verweisen.
„50
Wieder die gleiche rhetorische Methode: Behauptungen werden nicht begründet, allenfalls suggestiv aufgewertet ("erfahrungsgemäß"). Was De Castros Cid demjenigen Corneilles voraus hat und inwiefern der "dichterische Wert" Dantes höher als der La Fontaines ist, bleibt dem Leser bzw. Zuhörer verschlossen. Wird hier das Französische zwar als nicht jugendfrei abqualifiziert, aber ein gewisser Bildungswert für den "reifen Mann" ihm nicht abgesprochen - von der Frau ist gar nicht erst die Rede - , so vereinigt Vossler am Schluß seines Vortrags die Position des Schulmeisters mit der des deutschnationalen Vaterlandsverteidigers, eine Position, in der dem Französischen vollends der Garaus gemacht wird:
50
Ib., S. 2 3 2 .
30
Thomas
Bräutigam
"Welches Interesse haben denn wir Deutschen, daß das Französische als internationale Umgangssprache erhalten bleibe? Wir haben alles Interesse, daß es aus dieser Rolle verschwindet. Wenn sich ihm zweimal 70 Millionen Ohren im Herzen Europas verschließen, und wenn wir nein sagen zu dem Ansinnen: 'parlez-vous français?' so ist es ein Gewinn für die Sache unseres gequälten Vaterlandes. [...] Laßt uns doch lieber slawisch sprechen mit den Slawen, oder meinethalb Esperanto, oder noch besser Deutsch, auf keinen Fall und nie wieder aber Französisch." 51
Es ist der wohl einmalige Vorfall zu konstatieren, daß ein führender Romanist (zudem vor einem Publikum, daß vorwiegend aus Französischlehrern bestand) für das "Verschwinden" des Französischen plädiert. An solchen Stellen zeigt sich, wie tief das Trauma des verlorenen Krieges saß, auch und gerade bei der geistigen Elite. Ferner dokumentiert dieser Text, daß nicht nur die handelspolitische, sondern auch die ideologische Aufwertung des Spanischen sich wesentlich aus der als geistige und moralische Katastrophe erfahrenen Wende von 1918 speist. Vossler hat die Forderung nach Verbannung des Französischen nicht weiter aufrechterhalten, wohl aber seine publizistische Arbeit zur Aufwertung der spanischen Kultur fortgesetzt (siehe unten, Kap. 1.2.7.).
1.2.3. Ernst Robert Curtius 1924/26 Auch bei Ernst Robert Curtius zeichnet sich in den zwanziger Jahren eine Hinwendung zu Spanien ab. Dies überrascht zunächst, denn Curtius gehörte zu den Intellektuellen, die die allgemeine kriegsbedingte Abkehr von Frankreich nicht mitmachten, vielmehr im Gegenteil: In seinem 1919 veröffentlichten und in den zwanziger Jahren vieldiskutierten Buch Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich konstatierte er anhand einiger zeitgenössischer französischer Schriftsteller einen die vermeintliche Dekadenz Frankreichs überwindenden geistigen Aufbruch hin zu Europa, dem aus deutscher Sicht eine Vorbildfunktion zukommt, schon allein deshalb, weil diese Bewegung einem Durchbruch bisher unterdrückter "germanischer" Elemente im französischen Wesen zu verdanken sei: Idealismus, Vitalismus, Individualismus, Intuition, Anti-Intellektualismus etc. 52 Curtius erblickte somit in dieser Generation eine geistige Verwandtschaft, er sah in Frankreich "eine rein geistbezogene, antidemokratische Eliteminderheit am Werk, die in gleicher Weise wie das junge Deutschland gegen den 'modernen Zeitgeist' kämpfte" 53 .
51 52 53
Ib., S. 233. Cf. Bott 1982, S. 133 f. Jehn 1977, S. 111.
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31
Indessen beurteilte Curtius die Hoffnung auf eine Erneuerung Europas durch eine Besinnung Frankreichs auf den "deutschen Geist" zunehmend skeptisch.54 So geriet auf der Suche nach anderen Ländern, die dem deutschen Geist vielleicht aufgeschlossener gegenüberstünden, Spanien in sein Blickfeld. Auch dort machte Curtius "Wegbereiter" ausfindig. Für Curtius steht daher ebenfalls die Frage, warum Spanien gerade für Deutschland interessant ist, im Mittelpunkt, wenngleich er die Beantwortung dieser Frage in einem supranational-europäischen Kontext sucht. Bei der Analyse von Curtius-Aufsätzen der zwanziger Jahre ist zu berücksichtigen, daß sie meist nicht in einer romanistischen Fachzeitschrift erschienen, sondern in Blättern, die sich an ein breiteres intellektuelles Publikum richteten, in der renommierten Neuen Rundschau, dem Neuen Merkur, aber auch in Hochland, dem von Carl Muth herausgegebenen Organ des liberalen Flügels des Katholizismus.55 Der uns hier interessierende Hochland-Artikel beginnt mit der Feststellung, daß Spanien Mode geworden ist. Damit besteht nach Meinung des Autors die Gefahr, daß an Spanien nur aktuelle Tagesfragen herangetragen werden ("das trügerische Lampenlicht der Aktualität"), nicht aber nach den tieferen Schichten, dem "geistigen Wertsystem"56 gefragt wird. Dieser Gefahr würden besonders die deutschen Auslandsstudien unterliegen, weil ihre Herangehensweise eine wissenschaftliche sei. Curtius kritisiert - ähnlich wie Vossler - diese rein positivistische Einstellung dem Ausland gegenüber, weil sie für ein tieferes Verständnis zu kurz greift. Statt einer Sachkunde fordert er "Seelenkunde": "Dies ist mit bloßem Wissen nicht möglich; es muß Sympathie und Einfühlung dazukommen. Auf Spanien angewendet, besagt das: Wir brauchen nicht nur Hispanisten, wir brauchen vor allem Hispanophilen"57.
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55
56 57
"Wir werden warten und wir müssen warten [...] bis die öffentliche Meinung des geistigen Frankreich die innere Freiheit wiedergefunden hat für die volle Anerkennung und Würdigung dessen, was der deutsche Geist in Vergangenheit und Gegenwart der europäischen Kulturgemeinschaft bedeutet." (Curtius 1921, S. 154). Curtius' Streben nach der Erneuerung Europas hatte eine stark metaphysisch-religiöse Dimension. Der in der vorhergehenden Anmerkung zitierte Satz geht wie folgt weiter: "Aber selbst wenn der Sinn fiir diese Gemeinschaft [sc. Deutschland-Frankreich] wieder erstarkte, bliebe der Zweifel immer noch berechtigt, ob er ohne Hinzutreten tieferer religiöser Mächte genügen wurde, um das sittliche und geistige Chaos Europas neu zu gestalten." (ib.) Zum gesamten Problem der Situierung von Curtius innerhalb der intellektuellen Landschaft der zwanziger Jahre cf. Bock 1990. Curtius 1926, S. 678. Ib.
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Thomas
Bräutigam
In einem mit "Spanische Perspektiven" betitelten Aufsatz in der Neuen Rundschau richtet sich Curtius' Kritik dagegen, daß die spanischen Studien "bisher fast ausschließlich eine Angelegenheit der Fachleute und der wirtschaftlichen Interessenten geblieben" 58 sind. Er hingegen konstatiert eine "geistige Expansion Spaniens" 59 , die gerade deshalb von allgemeinem Interesse sein sollte, weil sie so Curtius - in einen gegenwärtig ablaufenden übernationalen Prozeß der "Totalisierung (nicht Nivellierung!) des europäischen Geistes" nicht nur eingebettet ist, sondern eines der "Kraftzentren" darstellt. Dieser Vorgang schlägt sich in einem gegenseitigen Kulturausgleich nieder und findet "in dem kosmopolitischen Wesen des deutschen Geistes einen vorbestimmten Träger" 60 . Mit dieser Volte gelingt es Curtius, den "deutschen Geist", den er ohne eine Beweisführung anzutreten als "kosmopolitisch" definiert, in eine übernationale und interkulturelle Perspektive einzuordnen, in der ihm gleichwohl eine dominierende Rolle ("vorbestimmter Träger") zugedacht ist. Der "deutsche Geist" als Vorreiter des "europäischen Geistes" war bereits die Generalthese des "Wegbereiter"-Buches von 1919. Diese These findet nun ihre Anwendung auf Spanien. Curtius geht es jedoch zunächst nicht primär um die eingangs suggerierte Frage nach der Rolle Spaniens innerhalb des "Kräftespiel(s) des europäischen Geistes" 61 , vielmehr steht für ihn das deutsche Interesse an dem gegenwärtigen intellektuellen Aufbruch Spaniens im Vordergrund. Konsequenterweise dominiert im folgenden Passus die erste Person Plural: "Wir brauchen die Berührung mit romanischem Wesen", wobei der spanische "mediterrane Geist und Kulturwillen [...] uns in manchem vielleicht verwandter ist als französische oder italienische Art"62.
Diese Verwandtschaft von Deutschland und Spanien manifestiert sich für Curtius beispielsweise in einer "Analogie historischen Schicksals", die sich etwa in der Auseinandersetzung beider Länder mit Frankreich zeigt, aber vor allem in der gegenwärtigen Lage zum Ausdruck kommt: "Was uns heute beansprucht: volkliche und geistige Erneuerung nach äußerem Zusammenbruch, das hat, wenn auch in viel kleinerem Maßstäbe und auf Grund einer ganz anderen Vorgeschichte, das Lebensproblem Spaniens seit einem Vierteljahrhundert gebildet." 63
58
Curtius 1924, S. 1229.
59
Ib.
60
Ib.
61
lb.
62
Ib.
63
Ib., S. 1230.
1. Hispanistik bis 1933
33
Damit ist nun der Kern von Curtius' Intention markiert: Spanien ist für Deutschland deshalb von Interesse, weil "wir" lernen können, wie aus einer Situation des Niedergangs wieder der Aufstieg bewerkstelligt werden kann. Den spanischen Intellektuellen der Generation von 1898 kommt insofern eine Vorbildfunktion zu, als sie eine Elite darstellen, in der der Verfallsprozeß "neue Energien" 64 ausgelöst hat. Die Zielsetzung dieser Generation, die "kulturelle Erneuerung" des Landes mittels Ergründung des spanischen "Schicksals" und des "Wesen(s) der spanischen Seele", versucht Curtius der deutschen Öffentlichkeit schmackhaft zu machen, nicht zuletzt deshalb, weil sich an diesem Punkt gleich eine weitere deutsch-spanische Parallele auftut: "Man sagt oft von uns Deutschen, wir seien das einzige Volk, das stets auf der Suche nach seiner Definition sei. Genau dasselbe gilt aber von jener Generation der 'regeneradores'."65
Im Hochland-Ar\\kt\ weitet Curtius diesen Punkt noch aus und behauptet, daß der Drang zur Selbsterforschung generell eine "charakteristisch ausgeprägte Nationalidee" 66 Spaniens darstelle. Curtius setzt das "Volk" mit einem Einzelmenschen gleich - und verleiht damit der Idee vom organischen Volkskörper Ausdruck - , der dann Anlaß zur Selbstanalyse sieht, wenn eine seelische "Erschütterung" eingetreten ist. Diese Erschütterung ist für Spanien das Jahr 1898 (für Deutschland, so läßt sich schlußfolgern, das Jahr 1918), da die Niederlage der "Anlaß zu einer fruchtbaren Selbstbesinnung und ehrlichen Selbstprüfung" wurde als Voraussetzung für die "Aufgabe der nationalen Erneuerung" 67 . Somit postuliert Curtius Selbstbesinnung und nationale Erneuerung als Desiderat für Deutschland. Im weiteren Verlauf der "Spanischen Perspektiven" stellt Curtius den für ihn herausragenden Vertreter der spanischen "regeneradores" mit einem zentralen Text vor, Ortega y Gasset und España invertebrada. Curtius referiert Ortegas Thesen nun allerdings so, daß die Meinungen von Autor und Interpret undifferenziert ineinanderfließen. Die Ausführungen Ortegas werden nicht kritisiert, sondern nur in indikativischer Form referiert, so daß von einer Gleichsetzung Ortega = Curtius auszugehen ist. Dieses Fehlen einer kritischen Distanz ist ein grundsätzliches Kennzeichen der Ortega- und Unamuno-Rezeption durch CurtlUS.
68
64
Ib.
65
Ib.
66
Curtius 1926, S. 680.
67
Ib., S. 681.
68
Curtius betrachtete "Ortega und Unamuno nicht kritisch, philosophisch und soziologisch [...], wie die Schriften dieser großen Spanier es erforderten, sondern als literari-
Thomas
34
Bräutigam
Die Quintessenz von Ortegas/Curtius 1 Diagnose der spanischen Malaise liegt negativ gesehen - in der behaupteten Elitefeindlichkeit, der "Aristophobie" Spaniens. Als Positivum wird interessanterweise gerade die bäuerliche Stagnation registriert, denn die von Spanien vertretenen anti-modernen, rationalismusfeindlichen und anti-mechanistischen Aspekte würden in der nun bevorstehenden postmodernen Epoche eine Renaissance erleben: "Dieselben Erscheinungen des spanischen Lebens, die man bisher als Krankheitssymptome deutete, müßten also eine optimistische Perspektive begründen" 69 . Damit ist ein Punkt angesprochen, der in Texten, die die Motivation des Spanieninteresses zum Gegenstand haben, häufig rekurriert: Spanien wird zu den Ländern gerechnet, die die Werte verkörpern, die in der nun anbrechenden Epoche für bestimmend gehalten werden, einer Epoche, die charakterisiert wird durch die Abkehr von den Prinzipien, die Länder wie Frankreich und England hervorgebracht haben: Demokratie, Rationalismus, Industrialisierung und Mechanisierung. Die fortschrittsfeindlichen Tendenzen Spaniens werden gleichsam als Fanal für die nahe Zukunft Deutschlands bzw. Europas interpretiert, zumindest aber "ringt Spanien von seinen speziellen Voraussetzungen aus mit dem Problem, das uns alle beschäftigt: Mechanisierung und Seele" 70 . Großen Wert legt Curtius vor allem auch darauf, Stil und Methode Ortegas hervorzuheben und gerade dessen Essayismus - d. h. die den Spezialismus überwindende Synthese - dem deutschen Publikum als Vorbild zu demonstrieren. Was Deutschland in der gegenwärtigen Lage nottut, sei eine die Fachgrenzen überschreitende nationale Analyse, wie sie Ortega für Spanien praktiziert, denn: "Es ist unglaublich aber wahr, daß Deutschland heute in seiner schwersten geschichtlichen Krise keine nationale Ideologie besitzt, welche die führende Elite einigen könnte. Natürlich ist daran nicht nur der Spezialismus schuld, sondern ebenso der wildwuchernde Individualismus des deutschen Menschen, der Partikularismus der Stämme, der Konfessionen, der Bildungsschichten und der weltanschaulich festgelegten 'Kreise'. Aber diese Gründe sind keine Entschuldigung. Das spanische Beispiel sollte uns zu denken geben." 71
Curtius' Argumentationsstrategie verläuft somit auf verschiedenen Ebenen. Zunächst behauptet er eine aus der Geschichte herleitbare Verwandtschaft zwischen Deutschland und Spanien und zieht dann vor allem aktuelle Parallelen, aus denen eine Vorbildfunktion Spaniens insofern ableitbar ist, als dort der politische Niesche Aktualität, als Beweis dafür, daß es in Spanien nach der vermeintlichen Unfruchtbarkeit des 18. und 19. Jahrhunderts große Autoren von europäischem Format wieder gab." (Gutiérrez Girardot 1990, S. 224 f.). 69
Curtius 1924, S. 1239.
70
Curtius 1926, S. 688.
71
Curtius 1924, S. 1240.
1. Hispanistik bis 1933
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dergang zu einer neue Kräfte freisetzenden Selbstanalyse genutzt wird. Eine solche "Erneuerung" habe gerade Deutschland besonders nötig, dessen in verschiedene Ideologien zersplitterte Elite nicht zu der für eine Regeneration unverzichtbaren Synthese fähig sei. Zu diesen Argumenten, die ein Interesse an Spanien aus deutscher Sicht begründen, gesellt sich eine europäische Sichtweise, in der Curtius in Einklang mit Ortega den von Spanien verkörperten fortschritts- und zivilisationsfeindlichen Wertvorstellungen eine neue Aktualität beimißt. Sein Aufsatz in der Neuen Rundschau schließt unter Hinweis auf Ortegas in El tema de nuestro tiempo entwickelten "Perspektivismus" (der Titel von Curtius' Aufsatz erhält damit einen Doppelsinn) mit einem weiteren europäischen Aspekt: "Spanien ist geographisch und geistig das exzentrische Land. Es ist ein vorzüglicher Beobachtungsposten für einen Betrachter Europas. Ungetrübt durch Rivalität, durch Haß oder durch Egozentrismus wird er die Bewegung der verschiedenen Volksgeister klarer erfassen, als sie es selbst vermögen. Dabei aber wird er immer das Bewußtsein seiner Sonderart haben. Er gehört einer Rasse an, deren künstlerische Begabung ihr Höchstes in der Schilderung des konkreten Menschen erreicht, im psychologischen Realismus des Porträts."72
Gerade der Sonderstatus innerhalb Europas, der Spanien zugesprochen wird, verleiht dem Land Attraktivität. Bei einer solchen Argumentation wird gerne von Curtius und anderen - von der geographischen auf die geistige Situation geschlossen, die durch diesen Vergleich den Anschein der Natürlichkeit verliehen bekommt. Diese Rolle Spaniens als neutraler Beobachtungsposten der europäischen Vorgänge erweitert Curtius noch zu der Behauptung, daß das "Spanische" zugleich auch das "Überspanische" impliziert. Die Gegensätze, die in Spanien zusammenprallen (z. B. Nationaltradition und Europäismus, Mittelmeerkultur und Germanentum) inkarnieren bzw. verdichten gleichsam die europäischen Vorgänge: "Diese innerspanische Spannung ist [...] zugleich eine gesamteuropäische. In den Lebensvorgängen des spanischen Mikrokosmos spiegeln sich die unseres europäischen Makrokosmos."73
Auch wenn sich dadurch das behauptete Spain is different wieder relativiert, so bleibt festzustellen, daß sich Curtius nicht an die germanozentrische Sichtweise klammert. Die Perspektive in seinen Spanien-Aufsätzen bewegt sich vielmehr von Deutschland über Spanien zu Europa, einem Europa allerdings, in dem, wie zitiert, der "deutsche Geist" dominiert.
72 73
Ib., S. 1247. Curtius 1926, S. 687.
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Thomas
Bräutigam
1.2.4. Eugen Lerch 1926 Während Vossler seine Pro-Spanien-Argumentation aus einer scharfen Antithese zu Frankreich bezog und Curtius die Stellung des zeitgenössischen Spanien im europäischen Rahmen visierte, dominiert in den nachfolgenden Texten eine historische und vor allem kulturhistorische Betrachtungsweise. Eugen Lerchs Beitrag über die "Bedeutung der spanischen Studien", der 1926 in den Neuen Jahrbüchern für Wissenschaft und Jugendbildung erschien 74 , ist vor dem Hintergrund der Kulturkunde-Diskussion zu sehen. Die Kulturkunde, die nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere in der Fremdsprachendidaktik zum dominierenden neusprachlichen Paradigma wurde, stellte unter dem Einfluß auf "Ganzheit" und "Synthese" ausgerichteter Philosophien (z. B. Dilthey, Spranger) das "Ganze" einer Kultur in den Mittelpunkt. Die kulturellen und gesellschaftlichen Einzelphänomene wurden nur noch als Ausdruck eines übergreifenden Zusammenhangs - der "Geist" oder die "Seele" einer Epoche oder eines Volkes betrachtet. Dies impliziert insofern einen interdisziplinären Ansatz, als nach dieser Theorie wirtschaftliche oder politische Fakten den gleichen Stellenwert erhielten wie z. B. ein literarisches Werk. 75 Gegen diese "Politisierung" der traditionellen Philologie bzw. ihre Vermischung mit nicht-philologischen Themen - nicht jedoch gegen die Ganzheits- und Volksseelen-Theorie an sich - gab es insbesondere von romanistischer Seite zahlreiche Proteste. Gerade die Romanisten, die sich der hispanistischen Teildisziplin ihres Faches zuwenden wollten, waren bestrebt, die wirtschaftliche und politische Dominante in der Beschäftigung mit Spanien durch die Aufwertung der kulturellen und geistigen Faktoren zu verdrängen.
74
Da die Legitimierungsdebatte der Hispanistik überwiegend außerhalb der eigentlichen Fachzeitschriften stattfand und somit einen größeren Adressatenkreis suchte, ist auch der Publikationsort dieser Texte für Aussagen über die Legitimierungsstrategie relevant. Die Neuen Jahrbücher - die uns noch öfter begegnen werden - sahen sich als ein Verbindungsorgan zwischen Ober- und Hochschule mit dem Ziel, "die wissenschaftliche Grundlegung der Bildungsarbeit der höheren Schule sichern und fördern zu helfen." Die Zeitschrift bezweckte u. a. "die Auswertung der Ergebnisse der verschiedenen Fachwissenschaften für die Gestaltung einer im Grunde einheitlichen Bildung, wie die Zusammenfassung der verschiedenen Bildungsfacher zu einer Einheit" (Verlagsmitteilung in: NJWJ 6, 1930, S. 1). Dies verweist zum einen auf das allgegenwärtige Ganzheits- und Synthesedenken in der Bildungsarbeit, zum anderen indiziert der schulische Kontext, daß die Hispanistik-Debatte von Anfang an mit der Forderung nach Spanisch-Unterricht an den Schulen gekoppelt war.
75
Die Auswirkungen der Kulturkunde auf die Hispanistik werden weiter unten dargestellt (Kap. 1.3.3.).
I. Hispanistik
bis 1933
37
Auch Eugen Lerch, ein Schüler Karl Vosslers 76 , wendet sich in seinen ausführlichen Präliminarien gegen die Politik- und Aktualitätslastigkeit der gegenwärtigen, von der kulturkundlichen Bewegung initiierten Auslandsstudien. Lerch plädiert dagegen für das "Primat des Kulturellen vor dem Politischen" 77 , da nur die Kultur die bleibenden Werte verkörpere, Politik und Wirtschaft hingegen würden nur vorübergehende und vergängliche Größen darstellen. Dies exemplifiziert Lerch am aktuellen Beispiel: Frankreich sei nicht gleichzusetzen mit der gegenwärtigen französischen Politik (Rheinlandbesetzung), die französische "Tyrannei" sei etwas Vorübergehendes, und da Politik und Kultur als getrennte Gebiete verstanden werden sollten, müsse das eigentlich Entscheidende in den dauernden Werten der französischen Kultur liegen. Der Bezug zwischen diesen Vorbemerkungen und der Bedeutung der spanischen Studien besteht darin, daß "gerade das spanische Volk von jeher darunter gelitten hat und darunter leidet, daß man es mit politischen Maßen mißt und die großen Kulturwerte, die es der Menschheit geschenkt hat [...] nicht genügend in Anschlag bringt"78.
Nun folgt eine vehemente Attacke auf die Spanienkritik der französischen Aufklärung, denn ihr sei diese reduzierte, rein politische Betrachtung Spaniens zu verdanken, eine Reduzierung auf Jesuitismus, Gegenreformation und Inquisition, aber keine Würdigung der kulturellen Werte. Die eigentliche Intention Lerchs in diesem Aufsatz kann als die Verteidigung Spaniens gegen die Anklagepunkte: Rückständigkeit, Zerstörerin der Renaissance, Katholizismus bezeichnet werden. So sei nicht Spanien für den Untergang der Renaissance verantwortlich, diese habe sich vielmehr selbst überlebt aufgrund eines "höheren Gesetzes" 79 . Im übrigen mußte Spanien den Individualismus und Ästhetizismus der Renaissance aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrungen in der Reconquista ablehnen. Während die Aufklärung behauptete, Kunst könne nur im Einklang mit politischer Freiheit gedeihen, beweise die spanische Kultur das Gegenteil. Umgekehrt jedoch sieht Lerch die von den Bourbonen nach
76
Lerch trieb mit seinem Buch über das "Heischefuturum" ("Die Verwendung des romanischen Futurums als Ausdruck eines sittlichen Sollens", 1919) die idealistische Neuphilologie seines Lehrers auf die Spitze, indem er behauptete, das imperativische Futur im Französischen sei Ausdruck des impulsiven bzw. tyrannischen Charakters der Franzosen. Auch im vorliegenden Aufsatz plädiert er für die "Betrachtung des Spanischen als Ausdruck des spanischen Nationalcharakters" (Lerch 1926, S. 343).
77
Lerch 1926, S. 317.
78
Ib., S. 318.
79
Ib., S. 326.
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Bräutigam
Spanien transportierte Aufklärung als Schuldige für den Niedergang der spanischen Kultur an. Lerch konstatiert zwar mit Bedauern den großen Nachhall, den die Spanienkritik hatte und immer noch hat - "Wir sehen Spanien immer noch mit den Augen der französischen Aufklärung" 80 glaubt aber zugleich, daß diese Epoche der Vorherrschaft des aufklärerischen Denkens nun an ein Ende gekommen ist: "Und wenn in den letzten Jahren bei uns ein so starker Aufschwung der spanischen Studien zu beobachten ist, so ist das nicht nur darauf zurückzufuhren, daß die spanische Nation in ihrer sprichwörtlichen Ritterlichkeit es während des Krieges verschmäht hat, sich der Übermacht anzuschließen, sondern auch darauf, daß die heutige Generation ein anderes Verhältnis zu den religiösen Dingen hat als die Aufklärung und die eben abklingende Epoche des Materialismus, des Determinismus, der 'natur81 wissenschaftlichen Weltanschauung'."
Vor allem zwei Punkte sind bei diesen Gedankengängen bemerkenswert. Wie in anderen Texten geht auch bei Lerch die Intention der Aufwertung der spanischen Kultur einher mit einer scharfen Kritik an der französischen Aufklärung, nicht nur an ihrem negativen Spanienbild, sondern an den von ihr verkörperten Werten generell. Zum anderen aber - und auch dieser Punkt rekurriert in den einschlägigen Texten (cf. Curtius) - wird das Ende der von Aufklärung, Rationalismus und Materialismus bestimmten Epoche verkündet und daraus ein zunehmendes Interesse für die Werte, die die spanische Kultur verkörpert, abgeleitet. Diese Werte werden weniger in der spanischen Literatur und Kunst der Gegenwart gesucht - Curtius ist mit seiner Unamuno- und Ortega-Rezeption hier eigentlich die Ausnahme - , sondern vornehmlich in der Barock-Kultur des 17. Jahrhunderts. Diese "Entdeckung" des Barockzeitalters war keine hispanistische Besonderheit, sondern eine allgemeine Tendenz der Literatur- und Kunstwissenschaft der zwanziger Jahre, die im Zusammenhang mit dem Paradigmawechsel vom Positivismus zur geistesgeschichtlichen Methode zu sehen ist. Nachdem die Kunstgeschichte (Wölfflin) den Impuls für die Aufwertung des im 19. Jahrhundert noch als Verfall der Renaissance pejorativ gedeuteten Barockzeitalters gegeben hatte, konstruierten die Literaturwissenschaftler - insbesondere Germanisten - nach dem Ersten Weltkrieg ein verwandtes Daseinsgefuhl zwischen Gegenwart und Barock. Dieses Gefühl speiste sich aus dem niederschmetternden Erlebnis des Weltkriegs und seiner Folgen (wobei die germanistische Barockforschung im Dreißigjährigen Krieg eine Parallele fand), was sich unter anderem in dem Drang nach irrational-religiösen Denksystemen und der Suche nach entspre-
80 81
Ib., S. 318. Ib., S. 320 f.
39
1. Hispanistik bis 1933
chenden Vorbildern äußerte. 82 Von dieser allgemeinen Tendenz konnte die Hispanistik in ihrer Legitimierungsphase entscheidend profitieren, da sie als Forschungsgegenstand ein Land präsentieren konnte, dessen kunst- und literaturhistorische Entwicklung gerade im Barock ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Aktualität Spaniens beruhte somit nicht nur auf politischen und ökonomischen Faktoren, sondern konnte auch mit dem kulturhistorischen Werdegang begründet werden. Die entsprechenden, jede historische Distanz ignorierenden Parallelisierungen funktionieren bei Lerch so: "Eine aufgewühlte Zeit wie die unsere ist für die klassische Schönheit Italiens weniger empfänglich als für die formsprengende Ekstase eines Greco oder für die leidenschaftliche Religiosität eines Calderón."
83
Aufgewühltheit/Ekstase/Leidenschaft fungiert hier als tertium comparationis der Opposition Barock vs. Renaissance/Klassik, die ihre semantische Besetzung durch den Bezug zu "unserer Zeit" erhält. Kunst- bzw. kulturhistorische Epochen werden nicht um ihrer selbst willen beurteilt, sondern nach ihrer Funktion bzw. ihrem Aussagewert für die Gegenwart befragt und für gut oder schlecht befunden. Oder andersherum: Die eigene emotionale Befindlichkeit ("aufgewühlt") wird "ahistorisch in die Vergangenheit projiziert" 84 . Dieser Befund ist für die Texte, die die Hinwendung zu Spanien kulturhistorisch begründen, insgesamt charakteristisch, freilich funktionierte auch schon die Spanienbegeisterung der Romantiker ähnlich. Wie mannigfaltig die Wertvorstellungen waren, die mit dem Verweis auf Spanien propagiert werden konnten, zeigt der Vergleich mit Vosslers Text von 1922. Dort waren es Zucht, Gehorsam, Dienst und Unterordnung, derer das zeitgenössische Publikum durch die Beschäftigung mit Spanien teilhaftig werden sollte. Zur Vosslerschen Zucht gesellte sich nun die Lerchsche Ekstase.
1.2.5. Victor Klemperer 1922/26 Die Bestrebungen, den iberischen Teil der Romanía aufzuwerten, sind nicht unwidersprochen geblieben. In Victor Klemperer hatte die Spanien-Bewegung ihren schärfsten Kritiker. Sein Aufsatz von 1922 ist insofern besonders aufschlußreich, als er ziemlich genau zum Ausdruck bringt, aus welchen Motiven heraus und in welchem geistigen Umfeld nach dem Ersten Weltkrieg die Fühler nach Spanien ausgestreckt wurden. Für Klemperer selbst schien der Text so wichtig, daß er ihn 1926 in seine Sammlung Romanische Sonderart aufnahm, mit der Begründung, 82
Müller 1973, bes. S. 164.
83
Lerch 1926, S. 337.
84
Kiesant 1993, S. 81.
Thomas Bräutigam
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daß sich die Tendenzen, die damals (1922) das Studium des Spanischen förderten, seitdem noch verstärkt hätten. Die Aufnahme des Aufsatzes in diese Sammlung ist um so bemerkenswerter, als Romanische Sonderart eine Art Hommage Klemperers für seinen Lehrer Karl Vossler darstellt (der erste Text, Klemperers Dresdener Antrittsrede, ist explizit "Karl Vossler zugeeignet", der Band schließt mit der Besprechung dreier Bücher Vosslers), Klemperers Spanien-Aufsatz jedoch den Thesen Vosslers (cf. die Rede von 1922) diametral entgegengesetzt ist. Klemperers Stellungnahme ist die eines Philologen. Auch seine Kritik - gewissermaßen das Leitmotiv der hier vorzustellenden Texte aus romanistischer Feder - richtet sich daher zunächst gegen die ausschließlich politisch-wirtschaftliche und damit rein praxisorientierte Stoßrichtung des Spanieninteresses. Die Bildung sei nur "im Schlepptau des Praktischen" 85 zu finden bzw. sei nur das "Mäntelchen" für die praktisch-nüchternen Interessen. Klemperer mißfällt, daß die Philologie diesen literatur- und kulturexternen Motiven hinterherhinken muß. Die Vorliebe für Spanien sei nicht aus einer Wertschätzung der spanischen Literatur und Kultur heraus entstanden (wie etwa in der Romantik), sondern aus der aktuellen politischen Situation heraus: der Niederlage im Krieg, der desolaten wirtschaftlichen Lage, dem Umringtsein von Feinden und der daraus resultierenden psychischen Depression bzw., wie Klemperer formuliert, der "leidenschaftlichen Verbitterung". "Man lobte Spanien, um implicite Französisches herabzuwürdigen" 86 . Die Hispanophilie hatte also innenpolitische Gründe. In einer Fußnote verweist Klemperer (zu Recht) auf Pfandls Buch Spanische Kultur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts (1924), in der diese politischen Strömungen sich in einer Hinwendung der zeitgenössischen Hispanistik zum Spanien der Gegenreformation und der Inquisition niederschlagen. Für Klemperer sind solche "Notwendigkeiten", "Nützlichkeiten", "Gefühlswallungen" 87 ein zu schwaches Fundament, um darauf eine Renaissance der spanischen Kultur zu gründen. Gefragt werden müsse vielmehr nach dem spanischen Beitrag zu dem, was Klemperer "Weltgeistigkeit" 88 nennt, der "Gesamtsumme geistigen Menschheitsbesitzes" 89 . Hier fällt die Antwort eindeutig negativ aus. Klemperer beschwert seine negative Antwort obendrein mit der Behauptung,
85
Klemperer 1926, S. 403. Zuvor in: Bücherei und Bildungspflege 2, 1922, S. 108-122.
86
Klemperer 1926, S. 404.
87
Ib., S. 405.
88
Ib.
89
Ib., S. 408.
1. Hispanistik bis 1933
41
seine Aussagen seien nicht sein "subjektives Werturteil", sondern "objektive Gewißheit" 90 , um so jeden potentiellen Einwand von vornherein abzuschmettern. Klemperer stellt eine eindeutige Hierarchie der romanischen Sprachen und Kulturen auf, eine Hierarchie, die man seiner Meinung nach nicht aufstellen "darf 1 , sondern "muß": 1. Frankreich, 2. Italien, 3. Spanien. Frankreich sei der literarische Erbe der Römer, habe die "Führung auf literarischem Gebiet" 91 in der Romania nur ein einziges Mal an Italien abgegeben, Spanien hingegen habe diese Führung nie innegehabt. Diese Führungsrolle könne nur "verzerrender politischer Haß" 92 bestreiten - eine nochmalige explizite Kritik der zeitgenössischen Stimmungen. Spanien sei immer von Frankreich und Italien abhängig gewesen, strahlte zwar Wirkungen aus, besitze aber keine Führerschaft. Gerade für Deutschland gelte: "romanische geistige Einwirkungen sind uns aus Frankreich immer, aus Italien mehrfach, aus Spanien höchst selten unmittelbar gekommen" 9 3 . Klemperer bezeichnet seine Hierarchie abschließend als "tatsächliche geistige Ordnung" 9 4 und suggeriert damit nochmals die Unwidersprechbarkeit seiner Behauptungen. 9 5 Während die Spanien-Befürworter unter den Romanisten sich den Aufwind der politischen und wirtschaftlichen Umstände zunutze machten ("Schlepptau" bei Klemperer!), um die spanische Kultur und in ihr erblickte Wertvorstellungen zu propagieren, ging Klemperer den umgekehrten Weg, indem er behauptete, daß die Bedeutung Spaniens über den augenblicklichen utilitaristischen Zweck nicht hinausginge und andere Bestrebungen gar als eine "Umkehrung der tatsächlichen geistigen Ordnung" 9 6 denunzierte. Die Stoßrichtung gegen Vossler ist evident. Gerade Vossler war es ja, der - ebenfalls 1922! - eine genau entgegengesetzte Hierarchie aufgestellt (1. Spanien, 2. Italien, 3. Frankreich) und für eine Abschaffung des Französisch-Unterrichts an den Schulen plädiert hatte. Für solche Tendenzen fand Klemperer deutliche Worte: "Es gibt heute allerhand Heißsporne,
"
Ib.
92
Ib.
93
Ib., S. 410.
94
Ib., S. 411.
95
96
Klemperers Rangordnung ist später von Walter Pabst als "einer der beklagenswertesten Zwischenfälle der deutschen Romanistik in unserem Jahrhundert" bezeichnet worden (Pabst 1967, S. 129). Zu einer solchen Einschätzung gelangt man indes nur, wenn man die "Zwischenfalle", die sich in der Romanistik zwischen 1933 und 194S ereigneten, ignoriert. Selbst Vosslers Affront gegenüber dem Französischen von 1922 ist nicht minder "beklagenswert". Klemperer 1926, S. 411.
Thomas Bräutigam
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die das Französische glattweg aus den Schulen ausgeschlossen und durch das Spanische ersetzt wissen wollen", ein "Extrem", das "allen Fachkundigen als Unfug" 9 7 erscheine. Auf diese Frage des Spanisch-Unterrichts kam Klemperer später an anderer Stelle - in zwei Beiträgen der fuhrenden pädagogischen Zeitschrift Die Erziehung - nochmals zurück. Während ihm 1922/26 vor allem die mangelnden "Führerqualitäten" der spanischen Kultur als zentraler Kritikpunkt dienten, stellte er nun ihre "Fremdheit" in den Mittelpunkt seiner Ablehnung des SpanischUnterrichts. Er stellte fest, daß das spanische Siglo de Oro "ein ebenso ungemein fremdes als großes Gebilde darstellt. In ihrer gewollten Eigenart liegt diese spanische Geistigkeit vor den Toren Europas wie vor den Toren der Neuzeit. Selbst wenn das Wissen über sie schon schulreif wäre, würde es doch nicht und keineswegs in den Lehrplan der höheren Schulen gehören, weil es hier als ein 98
unassimilierbarer Fremdkörper wirken müßte" .
Und noch 1933 kommt er zu der kategorischen Feststellung, daß "das Spanische als Bildungsgegenstand auf unserer höheren Schule seines allzu fremden Wesens halber nichts zu suchen hat" 99 , konnte gleichzeitig aber auch Entwarnung geben: "Aber das Verlangen nach seiner vollen Aufnahme in den Unterricht, wogegen im vorigen Jahr noch Einspruch erhoben werden mußte, scheint nun doch im wesentlichen verstummt zu sein." 100
Alle diese Ausfuhrungen lassen den Schluß zu, daß der Romanist Klemperer mit der Spanien-Abteilung seiner Disziplin schlicht nichts anzufangen wußte. Am deutlichsten brachte er sein ganzes Unbehagen und auch seine Hilflosigkeit an prominenter Stelle, nämlich in Oskar Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft zum Ausdruck: "Aber immer ist eine nationale Umgrenztheit und Eigenart zu spüren, die in ihrer Stärke befremdend wirkt, die das Spanische irgendwie abtrennt, ich weiß nicht, soll ich sagen: von der Menschheit, von Europa oder von der Neuzeit." 101
Anstatt das Befremdende und diese merkwürdige "Eigenart" erst recht als Ansporn für intensive Spanien-Forschung zu betrachten, verglich Klemperer Spanien mit den von Frankreich und Italien aufgestellten Maßstäben - "Renaissance"
97
Ib., S. 404.
98
Klemperer 1931, S. 450.
99
Klemperer 1933, S. 654.
100
Ib.
101
Klemperer 1924, S. 16. Dieses enzyklopädische Handbuch war das renommierteste Projekt der deutschen Literaturwissenschaft in der Weimarer Republik. Hier getroffenen Aussagen ist ein wesentlich größeres Gewicht beizumessen als solchen in verstreuten Aufsätzen. Helmut Hatzfelds Darstellung der spanischen Literatur in diesem Band konnte unter dem Druck einer solchen Einleitung kaum als Korrektiv wirken.
1. Hispanistik
bis 1933
43
als zentrale Vergleichskategorie 102 - , um es sodann als Fremdkörper innerhalb der romanischen Kulturen zu identifizieren und auszugrenzen. Die Spanienbefürworter hingegen empfanden die von Klemperer als fremd und rückständig denunzierten Aspekte (Mittelalter, Dogmatismus, Irrationalismus, Anti-Moderne etc.) gerade umgekehrt als ausgesprochen aktuell und vertraut. Die standardisierten Interpretationsraster der Hispanophilen, zu denen die Negierung einer spanischen Renaissance und die Behauptung einer bruchlos tradierten MittelalterGesinnung gehörten, wurden auch von den Gegnern nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt.
1.2.6. Adalbert Hämel 1927 Auch Adalbert Hämel stellt die Frage nach der Bedeutung der romanischen Kulturen aus einem spezifisch deutschen Blickwinkel: Erkenntnis des eigenen Wesens und der Größe der eigenen Kulturgüter durch Kenntnis der fremden und insbesondere der "wesensfremden" (also: nicht-germanischen) romanischen Kulturen. Damit ist das Prinzip der kulturkundlichen Bewegung schlechthin formuliert: Die Konfrontation mit dem Fremden, dem Anderssein fuhrt zu einem "Zurückfallen aus der Fremdheit auf die eigene Nationalität" 103 . Das fremde Volk wird als "Folie" 104 für das eigene Volkstum begriffen. Hämel arbeitet zwar in seiner vergleichenden Kulturkunde mit den üblich gewordenen Kategorien ("Volkscharakter", "nationale Geistigkeit", "Volksseele"), jedoch warnt er davor, einzelne Kulturen bzw. Völker gegeneinander auszuspielen und entsprechende Hierarchien zu schaffen. Nicht Werturteile seien abzugeben, sondern es sei "für die gegenseitige Achtung der Überzeugung anderer einzutreten" 105 . Eine Kultumation könne auch nicht mehr durch die andere vedrängt oder unterdrückt werden, da alle zu sehr in den "Strom des allgemeinen menschlichen Erlebens gelangt" 106 seien. Vor diesem Hintergrund sieht Hämel die Grundlagen der romanischen Kulturen in ihrem Verhältnis zur Antike, zum antiken Staatsverständnis und zum Christentum. Das lateinische Erbe manifestiere sich in der "nationalen Idee" und im
102
103
In dem Aufsatz "Gibt es eine spanische Renaissance?", in: Logos 1927, verneint Klemperer die Titelfrage glattweg. Rülcker 1969, S. 58.
104
Ein Begriff des anglistischen Kulturkundlers Walter Hübner (zitiert nach: Rülcker 1969, S. 59).
105
Hämel 1927, S. 576.
106
Ib., S. 575.
44
Thomas
Bräutigam
Staatsgedanken, der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Diese Aspekte markieren gewissermaßen die Positiva der romanischen Kulturen. In Spanien erweisen sich nach Hämels Völkercharakteristik die nationale Idee und der Staatsgedanke als am deutlichsten ausgeprägt, allerdings so deutlich, daß dies wiederum ins Extrem umschlägt: "Spanien ist ein warnendes Beispiel, wie ein Staat, der glaubt, sich ganz allein auf sich selbst stellen zu können, und jeden Andersdenkenden verachtet und verstößt, seinen eigenen Verfall vorbereitet und dadurch erst recht zum Spielball fremder Völker und Launen wird." 107
Diese durchaus kritische Perspektive relativiert Hämel allerdings mit dem Hinweis, daß in der Stärke des Nationalgedankens auch die Kraft für den Wiederaufstieg gelegen habe: "Durch den nationalen Gedanken belebt, speicherte das Land in stiller, entsagungsvoller Arbeit wenigstens so viel Energie auf, daß es aus dem Ringen der großen abendländischen Völker im Weltkrieg Nutzen ziehen und seine Aufwärtsentwicklung mächtig fördern konnte." 108
Hämels Text ist insofern eindimensional, als der Wert der romanischen Kulturen ausschließlich nach ihrem "antiken Erbe" bemessen wird, gleichsam als ewig klingender Resonanzboden der Geschichte. Der selbstauferlegte Zwang, permanent nach identitätsstiftenden Kategorien suchen zu müssen ("Staatsgedanke", "nationale Idee"), fuhrt zur unhistorischen Konstruktion von bruchlos verlaufenden Leitlinien einer Nation oder Kultur (vom Cid bis 1898). In Texten, die wie dieser (wiederum in den Neuen Jahrbüchern für Wissenschaft und Jugendbildung) sich an ein breiteres Publikum wenden, ist die Neigung groß, sich vertrauter und positiv konnotierter Begriffe zu bedienen - "Nationalgefühl", "Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze" die gerade beim deutschen Leser eine Art Wiedererkennungs- oder Selbstbespiegelungseffekt auslösen sollen (z. B. Ringen um nationale Einheit, Niedergang und Wiederaufstieg einer Nation bzw. Geschichte als Wellenberg und Wellental). Die dergestalt suggerierten Parallelen zwischen spanischer und deutscher Geschichte haben meist einen eindeutigen Appellcharakter: durch Besinnung auf nationale Werte und Traditionen den Wiederaufstieg zu erreichen. Die als nationale Katastrophe empfundene Nachkriegssituation, der Verlust des nationalen Zusammenhangs und der Glaube, in einer Epoche des politischen und kulturellen Verfalls zu leben109, lösten eine
107
Ib., S. 572.
108
Ib., S. 573.
109
Daß gerade im Deutschland der zwanziger Jahre ein kultureller Aufbruch sondergleichen stattfand, ist von einem großen Teil der Intelligenz offenkundig ignoriert worden. Oder anders formuliert: Der radikale Durchbruch der Moderne förderte noch das
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Suche nach kulturellen Vorbildern und historischen Parallelen aus, mit denen dieser Verlust kompensiert werden konnte. In Spanien und der Geschichte der spanischen Literatur - bzw. dem Bild, das man sich davon machte - glaubte man ein geeignetes Projektionsfeld für diese Sehnsüchte ausgemacht zu haben: "Der Traditionalismus ist es, der die Einheit der spanischen Literatur verbürgt, der ein Zeichen ist für den unerschöpflichen Born, der aus der vaterländischen Erde fließt und die Dichter des Mittelalters mit denen der Neuzeit verbindet, und der zum Symbol der wunderbaren Harmonie wird, die zwischen Dichter und Publikum in Spanien immer in den Zeiten künstlerischer Hochblüte bestanden hat. Diese Einheit steht in der Geschichte der Literatur einzig da." 110
Tradition, Einheit, Harmonie, Vaterland, Egalität diese als Desiderat empfundenen Aspekte wurden findig gemacht, nämlich der spanischen. An der bruchlosen Verlauf vom Mittelalter zur Neuzeit nach Ganzheit" (Peter Gay) stillen zu können:
von Dichter und Volk: Alle in einer Nationalliteratur ausvermeintlichen Einheit, dem glaubte man seinen "Hunger
"So liegt in der völkischen Geschlossenheit, die uns der 'Romancero' bietet, etwas Großes, Vorbildliches: der Ausdruck einer demokratischen Gesinnung, die Hoch und Nieder, Arm und Reich in gleicher Weise umspannt, die immer im Menschen den Menschen achtet, die nie verletzt und vergewaltigt, die niemand erniedrigt und sich selbst nicht erhöht."111
Die gleichsam paradiesische Idylle, die hier evoziert wird, entbehrt einer progressiven Perspektive, denn "demokratisch" ist hier nicht als politischer Begriff gemeint, sondern im Sinne von "volkstümlich", wobei "Volk" als eine konfliktfreie und vor allem von jedem Klassengegensatz emanzipierte Einheit verstanden wird. Das volkstümliche, anti-elitäre, bodenständige und die Klassengegensätze aufhebende Element der spanischen Literatur konnte auch nach 1933 seinen hohen Argumentationswert in der Legitimationsstrategie der Hispanistik beibehalten.
1.2.7. Karl Vossler 1930 Aus den bislang zitierten Texten ist bereits deutlich geworden, daß der sich seit der Jahrhundertwende vollziehende Paradigmenwechsel vom Positivismus zum Idealismus die entscheidende Voraussetzung für die Hinwendung zu Spanien war. Die nach dem Ersten Weltkrieg ausbrechende Hispanophilie hatte ihren Nährboden nicht nur in der Feindschaft zu Frankreich, sondern vor allem in der
Gefühl der Irritation und Kontingenz. Döblin, Schönberg oder Gropius wurden als identifikationsstiftende Vorbilder nicht in Betracht gezogen. 110
Hämel 1932, S. 208.
111
Ib., S. 221 f. Hervorhebung im Original.
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allenthalben in den Geisteswissenschaften vollzogenen Abkehr von Rationalismus, Positivismus, Determinismus und Technizismus. Sowohl der Wechsel von der positivistischen zur idealistischen und geistesgeschichtlichen Methode als auch die Hinwendung zu Spanien waren Ausdruck des gleichen Bewußtseins einer Kulturkrise, die durch das allgemeine Unbehagen an der Moderne, das Gefühl des Verlusts einer übergreifenden Synthese und die Sehnsucht nach einer ganzheitlichen, Uberindividuellen Sichtweise, die der positivistische Faktizismus weder leisten konnte noch wollte, gekennzeichnet ist." 2 Der angestrebte "Wiedereintritt der spanischen Welt in das moderne Leben und Bewußtsein" 113 konnte sich deshalb vor diesem Hintergrund vollziehen, weil mit Spanien ein Land wiederentdeckt wurde, in dem man die Werte glaubte ausfindig machen zu können, die in dem gegenwärtigen Krisenbewußtsein sehnlichst vermißt wurden. Diesen Zusammenhang zwischen Spanienkult und Kulturpessimismus der zwanziger Jahre brachte Karl Vossler 1930 in einem Aufsatz zum Ausdruck, der etwas ausführlicher und auf höherem Niveau argumentierte als sein emotionaler Kurzschluß von 1922. Auch wandelte sich die deutschnationale Perspektive nun zur europäischen. Die Grundlagen der Vosslerschen Argumentation blieben gleichwohl konstant. Wiederum sind das Heroische, Herrschaftliche, Aristokratische und die Gesinnung der Ehre die Wertvorstellungen, die Spanien aus Mittelalter und Gegenreformation ungebrochen in die Gegenwart hinübertransportiert und die von uns d. h. hier: dem zeitgenössischen Europäer - aufgenommen werden wollen. Gerade das Homogene, Einheitliche und Unverfälschte ist es, was das Spanien des 16. und 17. Jahrhunderts uns heute noch zu sagen hat. "Das ererbte und erkämpfte Einverständnis aller Spanier untereinander, diese süße Gewohnheit des seelischen Zusammenlebens" 1 1 4 ist die Botschaft, auf die das gegenwärtige heterogene, zersplitterte und kontingente Zeitalter hören soll. Spanien stellte in seiner glorreichen Epoche dem von Partikularismus und Schisma geprägten Europa die Losung "e i n Gott, e i n Glaube, e i n Reich" 115 entgegen. Spanien hielt eine "in allen Fugen krachende Welt" 116 zusammen, verfügte über eine "innere Eintracht", die uns heute, in der von Individualismus und Egoismus geprägten Epoche, Vorbild sein sollte: "Der schwungvoll über die Eigensucht des Individuums hin-
112
113
114 115 116
Zu diesem Krisenbewußtsein und der Bewegung zur Synthese cf. Ringer 1987, S. 344 ff. Vossler 1930, S. 415. Ib., S. 43. Ib., S. 58. Ib., S.43.
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ausbrechende PersönlichkeitsbegrifF' 117 ist der ideelle Kern von Vosslers Spanienlob. Seine Parallelisierungen funktionieren auch, wenn es um den religiösen Aspekt geht. So sei der spanische Jesuitismus (Loyola) und seine "geistige Zucht" 118 auch heute wichtig angesichts der Konfrontation des Christentums mit der "Genußsucht der Massen und der Bequemlichkeit und träge(n) Stumpfheit der Bürger" 119 . Nicht nur in der Geschichte haben diese Gesinnungen ihren Niederschlag gefunden, sondern auch bei den modernen spanischen Intellektuellen sieht Vossler (ähnlich Curtius) die richtigen Wertvorstellungen zum Ausdruck gebracht - etwa bei Ganivet, "der einen mystischen Haß gegen alles Nützliche, Technische, Amerikanische hegt und den unendlichen Wert der Seele, trotz ihrer Sterblichkeit, ja in ihrer Vergänglichkeit selbst verherrlicht"120
oder bei Ortega, "dessen aristokratische Lebensphilosophie den mechanisierenden Geist der Bourgeoisie und Demokratie bekämpft als eine Entwürdigung und Verflachung des menschlichen Zusammenseins, und der seinem Volk den 'Imperativo de Selección', das Gebot der geistigen Zuchtwahl, das Recht der Persönlichkeit über die Masse einschärft und den lebenszerstörenden Trübsinn der Gleichmacherei, die 'Desvitalización' verabscheuen lehrt."121
Vossler ist sich allerdings bewußt, daß jene Werte, die er als zeitgemäße Symptome an der spanischen Kulturwelt schätzt - Aristokratismus, Mystizismus, Vitalismus, Irrationalismus etc. - im übrigen Europa von der politischen und kulturellen Reaktion vertreten werden: "Was jenseits der Pyrenäen erzieherisch gemeint ist und aufbauend wirkt, ist diesseits leider schon vielfach entwertet und dient dem Volksbetrug und jener hochfahrenden Demagogie, die wir als Faszismus nicht nur in Italien kennen."122
Damit gelangt Vossler zu der Erkenntnis, daß die von der bürgerlichen Intelligenz positiv konnotierten und propagierten Wertvorstellungen, die die Faschisten und Nationalsozialisten ebenfalls auf ihre Fahnen geschrieben hatten, bei diesen einen reinen Propagandazweck erfüllten und nicht mehr "echt" waren. Er sah sein antirationales, auf Ganzheit und Gemeinschaft ausgerichtetes Weltbild von fremden Interessen bedroht, die die von ihm vertretenen ethischen Werte für ihre
117 118 119 120 121 122
Ib., Ib., Ib. Ib., Ib., Ib.
S. 415. S. 47. S. 415. S. 416.
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niedrigen Zwecke besetzten. Allein das Bewußtsein dieser Differenz ist zwar bemerkenswert, doch fiihrte es Vossler nicht zu einer kritischen Revision seiner Theorien. Stattdessen verteidigte er seinen Anti-Rationalismus gegen diese Besetzung durch "Betrüger" und "Demagogen". Das Ergebnis war eine äußerst schmale Gratwanderung, die Vossler auch nach 1933 fortzusetzen versuchte (siehe unten, Kap. 5.3.2. und 6.3.2.). Doch bereits hier wird die Problematik einer solchen Haltung evident, wenn Vossler am Schluß seines Aufsatzes in Anlehnung an Hugo von Hofmannsthal für eine "konservative Revolution" plädiert, "d. h., daß wir die Gegensätze zwischen Herr und Bettler nicht nach bolschewistischer Art verwischen, sondern aussöhnen sollen, so wie es spanische Herrscher, Heilige und Dichter im Gedanken an die ewige Verbundenheit aller Geschöpfe geträumt, versucht 123 und vollbracht haben. Das ist es, was Spanien uns immer noch zu sagen hat."
Vossler sah ganz genau, daß diese Sehnsucht nach - weder politisch noch soziologisch verstandener - Ganzheit und Egalität nur dann ihren rein geistigen und überzeitlichen Charakter bewahrt, wenn sie von den politischen Richtungen nach rechts und links scharf abgegrenzt wird. Es war unter anderem diese Illusion, die geistig-kulturellen Werte vom politischen Handeln trennen zu können, die bei einem großen Teil der Intelligenz ein kritisches Potential gegenüber dem Nationalsozialismus verhinderte und stattdessen eine lähmende Hilflosigkeit zur Folge hatte.
1.2.8. Zusammenfassung Zentrales Ereignis für das Entstehen eines neuen Spanieninteresses in Deutschland war der Erste Weltkrieg. Dies trifft sowohl für die Bestrebungen zu, die Spanien und Lateinamerika aufgrund der politischen und ökonomischen Isolation als neue Absatzmärkte für die deutsche Industrie propagierten und Spanienforschung in diesem Sinn forderten, als auch für die traditionelle Romanistik, deren bisheriger Forschungsschwerpunkt Frankreich unter Rechtfertigungsdruck geriet. Neben diese rein praktischen Gründe traten ideelle. Die Niederlage im Weltkrieg wurde nicht so sehr als militärische, sondern als moralische Katastrophe empfunden. Das bisherige, sich auf deutscher Überlegenheit gründende Weltbild war korrumpiert und forcierte dadurch das bereits vorhandene Krisenbewußtsein, dem ein allgemeines Unbehagen an der durch Fortschritt, Technik, Industrie gekennzeichneten Moderne zugrundelag. Die übergreifenden Zusammenhänge und allgemeinverbindlichen Werte schienen sich im Relativen und Kontingenten verloren zu haben.
123
Ib., S. 417.
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Dieser Krisenerfahrung in der modernen Massengesellschaft waren alle ausgesetzt, entscheidend ist jedoch, wie auf diese Erfahrung reagiert wurde. Der Rückforderung der alten Wertordnung stand der produktive Umgang mit den neuen Phänomenen gegenüber, wie er sich etwa in der modernen Kunst niederschlug und in den zwanziger Jahren sogar zur dominierenden Strömung wurde. Dennoch ist die kulturelle Hochblüte der Weimarer Republik von einer relativ kleinen Schicht getragen und zu Recht als "Republik der Außenseiter" 124 bezeichnet worden. Bei einem Großteil der Intelligenz - und bei den Geisteswissenschaftlern der überwiegenden Mehrheit - blockierte der beschriebene Gefühlszustand eine rationale Auseinandersetzung (z. B. mit den Ursachen des Krieges) und führte stattdessen zu einer Suche nach verloren geglaubten Kategorien wie Ganzheit, Totalität, Synthese. Der subjektiv empfundene "Verlust der Mitte" sollte mit dem Rekurs auf die alten Werte kompensiert oder sogar korrigiert werden. Vor diesem Hintergrund wurde die Hinwendung zu Spanien propagiert und kultiviert. Die Hispanistik profitierte von dem skizzierten Krisenbewußtsein insofern, als Spanien als Projektionsfeld für Wunschbilder und Sehnsüchte entdeckt wurde, als Ort der Kompensation für den konstatierten Verlust, zugespitzt formuliert als das "imaginäre Paradies" 125 . Viele der Romanisten, die in den zwanziger Jahren den Standort der Hispanistik zu bestimmen versuchten, erblickten in der spanischen Geschichte und Kultur genau den Gegenpol zu den negativ erfahrenen Werten, die ihrer Meinung nach die Gegenwart bestimmten. Somit steht das neuerliche hispanistische Interesse in einem ambivalenten Zusammenhang mit der während des Kaiserreichs vollzogenen rapiden und intensiven Industrialisierung und Technisierung der Gesellschaft und ihrer Begleiterscheinungen. Der erste Anstoß - die positive bzw. affirmative Reaktion - kam von den eigentlichen pragmatischen Protagonisten der Moderne, den Kaufleuten und Industriellen, die ein rein praktisches Interesse an Spanien- und Lateinamerika-Studien hatten, das sich während des Krieges politisch instrumentalisieren ließ (Kulturpropaganda). Die zweite Phase - die negative Reaktion - wurde von denjenigen bestritten, die den Tendenzen der Moderne ablehnend gegenüberstanden und Spanien gewissermaßen als Ort der Zuflucht offerierten. Sie argumentierten nicht praktisch-nüchtern, sondern, zum Teil im Rekurs auf die Romantik, idealistisch. Den aus dem vorherrschenden Krisenbewußtsein abgeleiteten Mythosbedarf glaubte man unter anderem durch die spanische Kultur stillen zu können. 126 Diese Richtung wurde nach dem Ersten Weltkrieg die allein domi124
Gay 1970.
125
Gutiérrez Girardot 1990, S. 223.
126
Ein analoges Projektionsfeld war z. B. die Suche nach der "russischen Seele", die in Deutschland schon vor dem Krieg zu einem beispiellosen Dostojewski-Kult geführt
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nierende, und selbst die Hamburger Hispanisten empfanden ihren profanen Utilitarismus zunehmend als Makel, den sie durch eine geistig-kulturelle Argumentation zu tilgen suchten. Die Kompensationsfunktion Spaniens wurde durch die aktuelle politische Konstellation um einen weiteren Aspekt bereichert: Der Verlust des einheitlichen deutschen Nationalstaates (der obendrein nur wenige Jahrzehnte bestanden hatte) durch den Versailler Vertrag lenkte den Blick auf einen Staat, in dem scheinbar bruchlos durch die Jahrhunderte hindurch der "nationale Gedanke" als identitätsstiftende Instanz fungierte. In diesem Zusammenhang wurden auch ganz konkrete Parallelen gezogen, etwa wenn dem spanischen Desaster von 1898 und dem daraus entstehenden intellektuellen Aufbruch Vorbildcharakter für die geistige Situation Deutschlands nach 1918 zugesprochen wurde. Diese Parallele konnte tatsächlich insofern funktionieren, als die spanische Generation von 1898 ihre Analysen größtenteils nicht mit einem aufklärerisch-rationalen, sondern einem ebenfalls mythenproduzierenden Diskurs durchführte. Das mit einer ArkadienSehnsucht verbundene anti-moderne und anti-industrielle Syndrom war in Spanien sogar noch wirksamer als in Deutschland. 127 Auch in der spanischen Hispanistik hat die deutsche kein Korrektiv erfahren, sondern, im Gegenteil, ihre Bestätigung: Das von Menendez y Pelayo inaugurierte Paradigma der Literaturgeschichtsschreibung basierte nämlich ebenfalls auf dem Prinzip der "Kompensation nationaler Traumata durch Rückgang auf die nationale Vergangenheit" 128 . Festzuhalten bleibt, daß das Spanienbild der deutschen Nachkriegshispanistik im wesentlichen mit irrationalen, mythischen Kategorien konstruiert war und in zahlreichen Aspekten an die Romantik erinnerte. Dazu gehörte auch die Vorstellung, in einer Epoche der Dekadenz zu leben, von der sich die (Kultur-)Geschichte Spaniens glanzvoll und mustergültig abhob. Die Beschäftigung mit Spanien war gekoppelt mit der Frage: Was hat Spanien uns (= den Deutschen) zu sagen? Diese Verknüpfung des Untersuchungsgegenstands mit der Befindlichkeit des Untersuchenden hatte zur Folge, daß die Hispanistik - und insbesondere die literaturgeschichtsschreibende - der kritischen Distanz zu ihrem Objekt weitgehend ermangelte. Sie wurde - nochmals zugespitzt - eine "apologetische Wissenschaft" 129 .
127 128 129
hatte. Auch diese russische Volksseele war Ausdruck eines die Klassengegensätze verdeckenden Gemeinschaftsmythos'; cf. Löwenthal 1934 und Stern 1986. Cf. Litvak 1975. Gumbrecht/Sánchez 1983, S. 354. Gutiérrez Girardot 1990, S. 222.
I. Hispanistik
1.3.
bis
1933
51
Hispanistik in der Weimarer Republik. Kursorischer Überblick
1.3.1. Hispanistik aus Hamburg Das neue Interesse an Spanien und Lateinamerika verdankte, wie gesehen, seine Entstehung einer Kombination aus praktischen und ideellen Motiven. Diese beiden Motivstränge beeinflußten sowohl die Organisierung und Institutionalisierung als auch die Forschungsschwerpunkte der iberoromanischen Studien in der Weimarer Republik. Während die philologisch ausgerichtete Sprach- und Literaturforschung im Rahmen der traditionellen Universitätsdisziplin "Romanische Philologie" betrieben wurde, entwickelte die politisch-ökonomisch interessierte Fraktion eine eigene Institutionalisierungspraxis. Was bisher vereinfachend als "Hamburger Richtung" bezeichnet wurde, war indessen nicht auf Hamburg beschränkt. An Beziehungen zu Lateinamerika war nicht nur die Hamburger Kaufmannschaft, sondern auch die rheinische Schwerindustrie interessiert. Noch vor dem Hamburger "Ibero-amerikanischen Institut" (1917) wurde 1912 von Paul Gast ein "Deutsch-Südamerikanisches Institut" in Aachen gegründet. Es fungierte als eine "gemeinsame Einrichtung der in der rheinischen Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung zusammengefaßten Hochschullehrer von Bonn, Aachen und Köln, und rheinisch-westfälischen Industriellen" 130 . Auch dieses Institut verfolgte eine rege Publikationstätigkeit 131 , geriet während des Krieges jedoch in Finanznot, wurde 1917 nach Köln verlegt und 1921 ganz aufgelöst. 1923 gründete der Geograph Otto Quelle in Privatinitiative ein "Ibero-amerikanisches Forschungsinstitut" in Bonn, das 1925 der Universität Bonn angeschlossen wurde. Quelle rief in diesem Zusammenhang auch eine der wichtigsten Zeitschriften ins Leben, das Ibero-amerikanische Archiv (1924). Mit Hilfe von Spenden und Stiftungen konnte eine umfassende Lateinamerika-Bibliothek aufgebaut werden. Institut, Bibliothek und "Archiv" wurden 1930 aufgelöst und
130
131
Gast 1930, S. 3. Die Initiative für die Gründung solcher Institute ging im übrigen von den in Südamerika bereits zahlreich vertretenen deutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren aus. Diese waren dort in Vereinen und Verbänden organisiert, denen eine Vermittlerrolle zwischen einheimischem Publikum und industriell-wissenschaftlichen Kreisen in Deutschland zukam (ib., S. 2). So war z. B. Paul Gast ( 1 8 7 6 - 1 9 4 1 ) als Geodät Abteilungschef im argentinischen Militärgeographischen Institut und ab 1922 Lehrer an der argentinischen Kriegsakademie. Darunter die spanischsprachige Zeitschrift El mensajero de ultramar und ihr portugiesischsprachiges Pendant O Transatlántico.
52
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gingen in dem neugegründeten "Ibero-amerikanischen Institut" Berlin auf, dessen wichtigster Grundstock wiederum die Bibliothek des argentinischen Gelehrten Ernesto Quesada war. Die Institute in Hamburg und Berlin waren damit die beiden Eckpfeiler der lateinamerikanistischen Forschung in Deutschland. Während das Berliner Institut keine organisatorische Verbindung zur Universität unterhielt 132 , kennzeichnete die Hamburger Iberoromanistik eine enge Verbindung des Ibero-amerikanischen Instituts mit dem Romanischen Seminar der 1919 gegründeten Universität Hamburg: Bernhard Schädel war in Personalunion Direktor beider Einrichtungen. 133 Durch diese Verzahnung erhielt auch die Hamburger Hochschul-Romanistik einen Sonderstatus, den neben der iberoromanistischen Schwerpunktbildung vor allem eine deutlich gegenwartsorientierte Forschung und Lehre markiert. Dieser zeitnahe Aspekt konkretisierte sich in einem Paradigma, das sich mit den Schlagworten "Volkskunde", "Sprachgeographie", "Dialektforschung", "Wörter und Sachen" skizzieren läßt und anstelle von Altfranzösisch (bzw. -spanisch) die gesprochene Umgangssprache favorisierte. Die Intention der Erforschung des romanischen - und insbesondere iberoromanischen - Volkstums war zwar einerseits gekoppelt mit innovativen empirischen Methoden - Datenerhebung in pleinair-Forschung vor Ort, z. B. Aufzeichnung dialektaler Sprachformen oder Beschreibung der materiellen Kultur 134 - , doch offenbarte andererseits gerade die volkskundliche Zielsetzung mit ihrer Anlehnung an den organischen VolksBegriff eine ausgesprochen konservative Tendenz (siehe unten, Kap. 5.1.). Eine spezielle Bündelung und Organisierung erhielt diese Forschungsrichtung durch eine eigene, vom Hamburger Seminar herausgegebene Zeitschrift Volkstum und Kultur der Romanen. Sprache, Dichtung, Sitte.135
132
Bock 1962, S. 331.
133
Settekorn/Lütjen 1984, S. 57. Zwar wurde nach Schädels Tod 1926 diese Personalunion auf Direktorenebene aufgehoben - sein Nachfolger als o. Prof. im Romanischen Seminar wurde Walther Küchler, Direktor des Ibero-amerikanischen Instituts der Privatdozent Rudolf Großmann - und 1929 eine generelle Entflechtung des Personals von Institut und Seminar betrieben, doch blieb die Verquickung von wissenschaftlichen Aufgaben (Seminar) mit kulturpolitischen (Institut) das Kennzeichen der Hamburger Romanistik - auch nach 1933 (Settekorn 1991, S. 759). Diese Methoden waren selbstverständlich keine Hamburger Erfindung, sondern wurden auch von anderen Romanisten praktiziert (z. B. von Gerhard Rohlfs oder Max Leopold Wagner). Spezifisch für Hamburg war aber die konsequente Ausrichtung des ganzen Seminars auf diese Feldforschung. Das Editorial der ersten Nummer von 1928 formuliert die Zielsetzung so: "Der Titel unserer Zeitschrift soll besagen, daß wir Sprache, Dichtung, Sitte der romanischen Völker, d. h. alles sprachliche Leben, jede sprachschöpferische Leistung, jedes dich-
134
135
53
1. Hispanistik bis 1933
Diese Volkstumsforschung implizierte insofern eine Aufhebung der traditionellen Philologie, als der materiellen Kultur der gleiche Stellenwert beigemessen wurde wie sprachlichen oder literarischen Äußerungen. Die Beschreibung eines bäuerlichen Arbeitsgeräts war genauso ein Baustein zur Erforschung des romanischen Volkstums wie die eines sprachlichen Phänomens oder eines
literarischen
Werks. 1 3 6 Während das Romanische Seminar sich mit dieser volkskundlichen Feldforschung auf die Iberische Halbinsel beschränkte - ähnliche Aktivitäten auch in Übersee wären schon aus finanziellen Gründen gescheitert - , bezog sich das Ibero-amerikanische Institut auf Spanien, Portugal und Lateinamerika. Die Tätigkeiten beider Einrichtungen subsumierten sich unter dem nicht exakt zu definierenden Schlagwort "Auslandskunde", einer Richtung, die an der Hamburger Universität (der Nachfolgerin des 1908 gegründeten Kolonialinstituts)
ihren
Schwerpunkt hatte und nach dem Ersten Weltkrieg allgemein einen politisch motivierten Aufschwung erlebte. 137 Diese "Auslandskunde" oder auch "Aus-
terische Werk, sowie Gebräuche, Anschauungen, Lebensformen des Volkes, alles was persönliche Leistung des Genies, was Gewöhnung der Vielen im Anschluß an alte Überlieferung ist, als irgendwie sichtbaren Ausdruck romanischen Volkstums betrachten wollen. Dabei soll die eigentliche Volkskunde, die in deutschen Zeitschriften kaum zu Worte kommt, in besonderem Maße berücksichtigt werden. Jedes Volkstum bedeutet uns eine geschichtlich gewordene Einheit, die auf Grund ihrer besonderen örtlichen Gegebenheiten (Herkunft, Boden, Bildung) ihre von anderen Völkern deutlich sich abhebende völkische Eigenart und Eigenbedeutung hat" (VKR 1,1928, S. 1). Das volkskundliche Paradigma, das hier mittels einer spezialisierten Fachzeitschrift in die Forschung eingeführt wird, lehnte sich stark an die deutsche Volkskunde an, die in den zwanziger und dreißiger Jahren einen ideologisch motivierten Boom erlebte. Die romanistische Filiale dieser Volkskunde, wie sie sich hier präsentiert, stand damit von Anfang an in einem brisanten Kontext. 136
137
Typische Hamburger Arbeiten waren z. B.: Wilhelm Giese, Waffen nach der spanischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts (1924); Fritz Krüger, Die Gegenstandskultur Sanabrias und seiner Nachbargebiete (1925); H. Urtel, Beiträge zur portugiesischen Volkskunde (1928); O. Fink, Studien über die Mundarten der Sierra de Gata (1929); Wilhelm Kolbe, Studie über den Einfluß der 'corrida de toros' auf die spanische Umgangssprache (1931); W. Hartnack, Madeira. Länderkunde einer Insel (1930); Wilhelm Bierhenke, Ländliches Gewerbe der Sierra de Gata (1932). Diese Motive speisten sich aus der Erkenntnis, daß der Wiederaufstieg Deutschlands in einer interdependent gewordenen Welt nur durch die genaue Kenntnis der anderen Völker möglich sei. Bernhard Schädel formulierte dies 1921 als Desiderat: "Die Erkenntnis, daß das politisch ohnmächtige Deutschland nur durch intensive wirtschaftliche, aber ebenso intensive geistig-kulturelle Arbeit in erster Linie in Verbindung mit den uns freundlich gebliebenen Kulturvölkern wieder emporgehoben werden kann, und daß das vertiefte und verbesserte Studium des Auslandes hierfür die wichtigste
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landswissenschaft" verstand sich nicht als Fremdsprachenphilologie, sondern intendierte die Erforschung eines fremden Kulturkreises als "Totalität" unter gleichwertiger Einbeziehung von Geschichte, Politik, Wirtschaft, Geographie, Kunst und Kultur. 138 Ihre Anwendung auf iberoromanischem Gebiet läßt sich exemplarisch an Zeitschriften ablesen, die vom Ibero-amerikanischen Institut herausgegeben wurden: Spanien. Zeitschrift für Auslandskunde (1919-1921) und als Fortsetzung Iberica. Zeitschrift für spanische und portugiesische Auslandskunde (1924-1927). Diese Organe richteten sich nicht primär an Fachleute, sondern an die kaufmännische Klientel und an die interessierte Öffentlichkeit mit dem Ziel, Informationen aus den verschiedensten Gebieten über die Bezugsländer zu liefern. 139 Waren die Artikel in Spanien noch aufgeteilt in kulturelle Aufsätze und aktuelle Nachrichten ("Mitteilungen aus dem Wirtschaftsleben"), so bot Iberica ein veritables Mixtum compositum, in dem in unmittelbarer Nachbarschaft Artikel wie diese zu finden waren: "Die argentinische Gefrierfleischindustrie der Gegenwart", "Die spanische Literatur im 20. Jahrhundert", "Die deutsche Auswanderung nach Südamerika seit Kriegsschluß", "Gab es in Brasilien eine Volkspoesie vor Ankunft der Portugiesen?", "Die jüngste südamerikanische Notenbank", "Moderne katalanische Malerei", "Brasiliens Kautschukwirtschaft", "Beiträge zur paraguayischen Literaturgeschichte". Literaturgeschichtliche Aufsätze wurden auch von Vertretern der traditionellen Romanistik beigesteuert, so daß eine scharfe Trennung zwischen der Hamburger Richtung und der restlichen romanistischen Forschung nicht durchfuhrbar ist, da auch das alte historisch-philologische Paradigma insofern starke Erosionserscheinungen aufwies, als nach dem Ersten Weltkrieg an die Disziplinen, die sich
138
139
Voraussetzung bildet, hat sich praktisch noch keineswegs allenthalben durchgesetzt" (Schädel 1921, S. 197). Cf. Briesemeister 1976a. Unter Erweiterung auf das Gesamtgebiet der Länder spanischer und portugiesischer Zunge will sie [sc. die Zeitschrift Iberica] wie jene [sc. die Zeitschrift Spanien] nicht nur in den Kreisen der Gelehrten, sondern überhaupt und insbesondere unter den Gebildeten unseres Vaterlandes die Kenntnis der iberoamerikanischen Länder verbreiten und vertiefen. Es ist die besondere Aufgabe der Zeitschrift, auf Grund einer objektiven und wissenschaftlichen Auslandsinformation, jedoch in gemeinverständlicher Weise, die Kenntnis des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der Länder spanischer und portugiesischer Zunge unter Betonung der Gegenwartsfragen und Berücksichtigung der Probleme und Aufgaben der Zukunft zu fördern, das Interesse und Verständnis für deren Sprache, Geschichte, Landeskunde, Wirtschaft, Literatur, Kunst und Volkstum zu beleben und auf diese Weise dem deutschen Leser die Möglichkeit einer gründlichen Bildung auf diesem für unsere künftigen Auslandsbeziehungen so wichtigen Gebiete zu geben." (Editorial-Beilage in: Iberica 1, 1924).
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mit fremden Kulturen beschäftigten, neue Forderungen herangetragen wurden, die die starre Fixierung auf Sprache und Literatur durchbrachen (z. B. neue didaktische Konzepte wie die Kulturkunde). Dies gilt für die Hispanistik in besonderem Maße, da ihr Aufstieg überhaupt erst in diesem Rahmen neuer Motive und Fragestellungen möglich war und daher nicht nur von der politisch-ökonomischen Situation, sondern auch von dem veränderten geistigen Klima der Nachkriegszeit abhing. Die aus den oben analysierten theoretischen Texten ermittelte Kompensationsfunktion, die Spanien zugesprochen wurde, findet sich in der wissenschaftlichen Praxis der Hispanistik wieder, z. B. in der Vorliebe der Hamburger Sprach- und Sachforscher für bäuerlich-archaische Kulturzustände als Ausdruck autochthonen Volkstums. Die explizit apologetische Hispanistik kam jedoch - geographisch gesehen - aus der entgegengesetzten Richtung.
1.3.2. Hispanistik aus Bayern In jeder historiographischen Darstellung der deutschen Hispanistik dieses Jahrhunderts beansprucht zumindest eine Person eine exklusive Behandlung. Dieser exponierte Status kommt Ludwig Pfandl aus mehreren Gründen zu. Er war der einzige, der sich mit spanischer Literatur nicht als Romanist, der ein Teilgebiet seiner Disziplin pflegt, beschäftigte, sondern der ausschließlich als Hispanist tätig war und letztlich sein ganzes Leben auf die cosas de España 140
konzentrierte. 140
Diese Sonderstellung rechtfertigt einen kleinen biographischen Exkurs: Ludwig Pfandl wurde 1881 in Rosenheim geboren und wuchs dort in bescheidenen Verhältnissen auf (sein Vater war Tischler). 1901-1907 studierte er englische und romanische Philologie in München bei Hermann Breymann. Bei Breymann, der auch als Calderön-Forscher hervortrat, erhielt Pfandl eine hispanistische Ausbildung. 1908 promovierte er mit einer Arbeit über Hippolyte Lucas, einen französischen Hispanisten des 19. Jhdts. Studien für diese Dissertation führten Pfandl auch in die Pariser Bibliothèque Nationale (sein einziger Auslandsaufenthalt überhaupt), wo er FoulchéDelbosc kennenlernte, den Herausgeber der Revue Hispanique, seinerzeit die bedeutendste hispanistische Fachzeitschrift. Die Bekanntschaft mit Foulché-Delbosc war ein entscheidender Anstoß fur Pfandls hispanistische Arbeiten, die zunächst aber noch einen komparatistischen Akzent hatten. Nachdem er eine Anstellung an der Bayerischen Staatsbibliothek München angenommen hatte, wollte er sich mit der Arbeit Robert Southey und Spanien (1913) habilitieren. Dies scheiterte jedoch, da Pfandl nicht bereit war, sich an die Universitäts-Romanistik anzupassen und auch - oder gar vorwiegend - französische Sprachwissenschaft zu betreiben. Dieser erzwungene Verzicht auf die akademische Laufbahn gab den endgültigen Ausschlag fur Pfandl, sich exklusiv der Hispanistik zu widmen. Als Brotberuf wählte er den Schuldienst und unterrichtete Englisch und Französisch zunächst an der Oberrealschule Bayreuth, nach dem Krieg (in dem er 1917/18 als Dolmetscher im Hauptquartier tätig war) in München.
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Seine Stellung als Privatgelehrter erlaubte es ihm, sich ohne Rücksichten mit seinen individuellen Neigungen zu beschäftigen, was sich in seinen Publikationen in einem außergewöhnlich persönlichen Stil niederschlug. Er machte nie einen Hehl daraus, daß sein Standpunkt nicht die objektive Distanz, sondern die subjektive Zuneigung zu seinem Gegenstand war. 141 Dies ergab eine Literaturgeschichtsschreibung, die vorrangig dem ideologischen Programm ihres Verfassers gehorchte und aus diesen Hauptkomponenten bestand: orthodoxer, intransigenter Katholizismus, Rehabilitierung der Inquisition, Widerlegung der leyenda
negra,
Lobpreis des "echt Spanischen". Wenn man das Verfassen einer Literaturgeschichte als entscheidendes Kriterium für die Etablierung einer philologischen Disziplin annimmt, dann kommt Ludwig Pfandl das Verdienst zu, dies für die Hispanistik geleistet zu haben. Seine Geschichte
der spanischen
Nationalliteratur
in ihrer
Blütezeit
(ersch. 1929 bei
Herder in Freiburg) markiert die endgültige Legitimierung der Hispanistik als eigenständiges und anerkanntes Forschungsgebiet. Daß ein solches - obendrein von einem Outsider der scientific
Community verfaßtes - Werk erst jetzt erschien,
kann als spätes Indiz für die Marginalisierung der Hispanistik in dem Zeitraum zwischen 1850 und 1914 gewertet werden, jener Epoche, in der Literaturgeschichten zur dominierenden wissenschaftlichen Textgattung gehörten. 142 Schon
1922 quittierte er den ungeliebten Lehrerberuf aus gesundheitlichen Gründen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich schon durch über 30 hispanistische Arbeiten einen Namen gemacht, so daß er sich entschloß, nur noch vom Ertrag seiner Publikationen zu leben. Dies gelang ihm mehr schlecht als recht, vor allem nachdem die Inflation ihn materiell ruiniert hatte. Seine Studien führte er ausschließlich in der Münchner Staatsbibliothek durch, nach Spanien reiste er nie, obwohl er durch Übersetzungen seiner Werke dort - vor allem in orthodoxen Kreisen - hochgeschätzt war und zahlreiche Einladungen erhielt. In seinem letzten Lebensjahrzehnt konzentrierte er sich auf Biographien der spanischen Habsburger, wohl auch der größeren Publikumswirksamkeit wegen. Tatsächlich gelang ihm 1938 mit der Biographie Philipps II. ein kleiner Bestseller. Vom Münchner Callwey-Verlag erhielt Pfandl daraufhin eine fiir ihn lebensnotwendige finanzielle Unterstützung. Er starb 1942 in einem Sanatorium in Kaufbeuren, nachdem er in München ausgebombt worden war. Cf. Haack 1943, Hämel 1951, Rheinfelder 1952, Stalla 1981. 141
"Ich habe denn auch das spanische Volk und seine Literatur, ohne viel nach links oder rechts zu schauen, einfach so geschildert wie i c h sie sehe. Denn darüber wird man sich vor allem klar sein müssen: die Beurteilung alles dessen, was mit Spaniens Land, und Volk und Charakter und Schrifttum zusammenhängt, ist immer etwas ausgesprochen Persönliches gewesen" (Pfandl 1923, Vorwort, S. III). "Über Spanien kann [...] überhaupt nur mit Liebe oder mit Haß geschrieben werden. Ich für meinen Teil habe es mit redlicher Liebe getan" (Pfandl 1924a, S. XV).
142
Gesamtdarstellungen vor Pfandl waren nur kleinere Übersichten zu Studienzwecken: Rudolf Beer, Spanische Literaturgeschichte (1903); Philipp August Becker, Geschieh-
1. Hispanistik bis 1933
57
die Begriffe "Nationalliteratur" und "Blütezeit" verweisen auf die Tradition des 19. Jahrhunderts. Sie implizieren die Annahme von typischen Charaktereigenschaften einer "Nation" (verstanden als eine durch die gemeinsame Sprache konstituierte Einheit, die Pfandl allerdings nur für das kastilischsprachige Spanien gelten läßt), die sich an den "Höhepunkten" der literarischen Entwicklung ablesen lassen, die im Rekurs auf ein organologisches Epochenmodell (Aufstieg - Blüte - Verfall) als "Blütezeit" zusammengefaßt werden. Wenn die literaturgeschichtlichen Standardwerke des 19. Jahrhunderts auch nicht "Objektivität" vermittelten, so strahlten sie doch ein großes Maß nüchterner Sachlichkeit aus. A u f die Literaturgeschichtsschreibung in der Epoche des Idealismus, zumal wenn sie von einem Individualisten wie Pfandl betrieben wird, trifft dies nicht zu. Das oben skizzierte "ideologische Programm" des Autors und insbesondere sein ausgeprägter Katholizismus bewirkten eine eigenwillige Proportionierung der behandelten Themen, Autoren und Werke. Allem, was sich mit einer religiösen Aura umgeben läßt, wird breiter Raum gewidmet, es wird mit einer bildhaften Prosa zelebriert, die zuweilen die Kitschgrenze erreicht 143 und polemisch gegen Kritiker verteidigt. Autoren und Werke, die Pfandls Gefallen nicht finden, erhalten meist das Etikett "unspanisch" und erweisen sich als von ausländischen Einflüssen angekränkelt. Im Kampf gegen die Kritiker von Reconquista und Inquisition war Pfandl jedes Mittel recht; so schreckte er auch nicht
143
te der spanischen Literatur (1904); Theodor Heinermann. Geschichte der spanischen Literatur (1923). Probe: "Die spanischen Mystiker aber haben diese Ideen auf dem Fundament der christlichen Gnadenlehre zu einem aktivistisch durchpulsten System irdischen Glücks und menschlicher Vollkommenheit ausgebaut, dessen oberstes, alle Teile und Einzelzüge beherrschendes Gesetz die Liebe ist, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu Gott. Nie wieder hat die heilige Flamme weißer und edler geglüht, nie wieder hat sich ein solches Meer von Lauterkeit, Schönheit und Vergeistigung über allen Erdenschmutz ergossen, nie wieder ward den Menschen in solchem Ausmaße die Möglichkeit geboten, durch die Gewalt der Liebe den Preis alles sittlichen Strebens, das letzte und wahrhafte Ziel aller Lebensweisheit zu erringen. [...] Die Wucht des religiösen Gedankens aber, die der mystischen Verinnerlichung Schwung nach oben und Tiefe nach unten gibt, die der spanischen Mystikerliebe ihre glühende Innigkeit und schmerzlich-süße Empfindsamkeit verleiht, ist ein Ausfluß der spanischen Vergangenheit, eine Wirkung des kindlich-hochgemuten Verhältnisses dieses Volkes zum Jenseits [...]." An dieser Stelle fiigt Pfandl eine höchst bezeichnende Anmerkung ein: "Man vergesse nie, daß hier immer nur die Rede ist von den Spaniern des 16. Jahrhunderts, nicht aber von ihren gegenwärtigen Epigonen" (Pfandl 1929, S. 51 f.). Diese Bemerkung ist ein Indiz dafür, warum sich Pfandl zeitlebens geweigert hat, spanischen Boden zu betreten. Sein Bild vom heroischen spanischen Volk, das er sich durch die Literatur der Blütezeit aneignete, hätte durch den Kontakt mit der zeitgenössischen Realität Schaden gelitten.
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Thomas Bräutigam
davor zurück, die Verfolgung der Morisken mit dem Hinweis auf das Parteiprogramm der N S D A P zu legitimieren. 144 Literaturgeschichte als Apotheose: so lassen sich Pfandls Werke zusammenfassend charakterisieren. Mit seiner Attitüde des defensor Hispaniae sah er sich als deutscher Nachfolger von Menendez y Pelayo, dem er auch seine Literaturgeschichte widmete. Der Extremismus, mit dem Pfandl seine Thesen verfocht, machte seine Arbeiten zwar leicht zum Opfer seriöser Kritik 145 , verlieh ihnen aber andererseits eine Individualität und Originalität, die sich mit der akademischen Romanistik nur schwer hätten vereinbaren lassen. Originell war z. B. die Grundidee seines Buches Spanische Kultur und Sitte des 16. und 17. Jahrhunderts (1924) durch die Berücksichtigung nicht nur der Hoch-, sondern auch der Alltagskultur (worin eine Verbindungslinie zur Hamburger Richtung erkennbar ist). Originell waren auch die psychoanalytischen Deutungsversuche (siehe unten, Kap. 5.2.), vor allem in seinen biographischen Werken (siehe unten, Kap. 8.4.). Ebenso typisch für Pfandl waren gallige Rezensionen und schroffe Abkanzelungen von Autoritäten, wenn deren Auffassungen nicht in sein Konzept paßten. 146 Wenn hier von "Hispanistik aus Bayern" die Rede ist, so ist dies in erster Linie geographisch gemeint. Wohl gab es in Bayern eine große Tradition der Beschäftigung mit Spanien, die mit den Beziehungen der Wittelsbacher zu den spanischen Habsburgern begann - in jener Zeit gründen auch die reichhaltigen Hispanistica der Bayerischen Staatsbibliothek, aus denen Pfandl schöpfte - und im Münchner Dichterkreis der Geibel, Heyse und Schack ihren Höhepunkt hatte. Doch auch wenn Pfandl eine typische süddeutsch-barocke Filiation der deutschen Hispanistik verkörpert, ist seine Tätigkeit nicht als Fortsetzung dieser Tradition
144
145
146
"Über sie [sc. die Moriskenvertreibung] wird man kaum mehr so abfällig zu urteilen wagen wie bisher, wenn man bedenkt, daß heute viele Tausende von Deutschen sich zu einer politischen Partei bekennen, die, wenn sie zu entsprechender Macht käme, mit den Juden nicht viel besser verfahren würde" (Pfandl 1929, S. 212). Die zeitgenössischen Rezensenten seiner Literaturgeschichte waren freilich überwiegend wohlwollend, schon allein deshalb, weil nun endlich ein einschlägiges Opus magnum vorlag, das zu schreiben die akademischen Vertreter der Zunft bislang nicht im Stande gewesen waren. Der schärfste Verriß stammt von Americo Castro (RFE 21, 1934, S. 66-77). Von Carl Justi z. B. glaubte Pfandl zu wissen, wie wenig dieser "nach Abstammung, Erziehung und Persönlichkeit fähig und geeignet war, sich in das Wesen des spanischen Volkes [...] einzufühlen" (Pfandl 1924a, S. 219, Anm. 1). Hugo Kehrers Bücher bezeichnete er als "jämmerlich" und "Kunstgeschreibsel" (Pfandl 1929, S. 67, Anm. lund S. 215, Anm. 3).
1. Hispanistik bis 1933
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zu werten, sondern vor dem Hintergrund seiner Zeit, also der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Zur "Hispanistik aus Bayern" muß natürlich auch Karl Vossler gerechnet werden (der zwar aus Schwaben stammte, aber seit 1911 in München lehrte), dessen weiter geistiger Horizont und intellektueller Habitus sich markant von der monokulturellen Begrenztheit Pfandls abheben. In Vosslers romanistischer Tätigkeit ist in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine deutliche Abkehr von seinem bisherigen italianistischen Schwerpunkt und eine dominante Beschäftigung mit spanischen Themen festzustellen, ein Vorgang, der vom Nachfolger auf seinem Münchner Lehrstuhl sogar als "radikale Wandlung in Vosslers wissenschaftlicher Orientierung" 147 bezeichnet wurde. Ein Zusammenhang mit der Etablierung des Faschismus in Italien, den er 1930 als "hochfahrende Demagogie" charakterisierte (siehe oben, S. 47), ist nicht auszuschließen. Die authentische Motivation liegt jedoch eher in der bereits konstatierten Traditionssehnsucht 148 und jenen Wertvorstellungen, die Vossler und andere als spanischen "Geist" und spanische "Gesinnung" aus den Kulturerscheinungen herausfilterten und als Antwort auf zeitgenössische Krisenerscheinungen propagierten (siehe unten, Kap. 5.3.1.). Als dritter unter den bayerischen Hispanisten ist der schon zitierte Adalbert Hämel zu nennen (geb. 1885 in Straubing, Prof. in Würzburg), ein von seinem wissenschaftlichen Profil her eher biederer Romanist, der gleichwohl zu den ersten seiner Generation gehörte, die mit einem hispanistischen Thema promovierten, zu einer Zeit, als Altfranzösisch noch die Conditio sine qua non für den Eintritt in die wissenschaftliche Laufbahn war. 149 Das Spanieninteresse Hämels, der bereits als Straubinger Gymnasiast mit dem Spanischen vertraut gewesen sein soll 150 , setzt sich aus einer katholischen (er studierte einige Semester Theologie) und einer pädagogischen Komponente zusammen (wie Pfandl war er mehrere Jahre
147
148
Rohlfs 1950, S. 461.
Dieser Aspekt der Hispanophilie steht in einem größeren Zusammenhang, der auch in der Literatur manifest wird. Hugo von Hofmannsthal, zu dessen Freundeskreis Vossler gehörte, unternimmt seinen Rekurs auf spanische Literatur und besonders Calderón aus ähnlichen Motiven: "In einer Epoche, in der die soziale und moralische Ordnung der Habsburger Herrschaft zerfiel, die also mit den Auflösungserscheinungen des spanischen Weltreiches manches gemeinsam hatte, strebte Hofmannsthal eine Renaissance des geistigen Lebens an, die er nur aus einer Hinwendung zur Tradition möglich sah" (Hoffmeister 1976, S. 155). Es ist kein Zufall, daß Vosslers erste hispanistische Publikation, ein "Spanischer Brief', in der Festschrift für Hugo von Hof149 mannsthal erschien (1924). Der Cid im spanischen Drama des 16. u. 17. Jhdts. Hämel war der erste und einzige Doktorand Vosslers in dessen Würzburger Zeit (1908-1910). 150 Kellermann 1966.
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Thomas Bräutigam
Gymnasiallehrer). Größere Monographien zur spanischen Literatur verfaßte Hämel nicht, sein Beitrag bestand vor allem in kommentierten Textausgaben und Unterrichtslehrwerken. Mit diesem Interesse für den Schulunterricht partizipierte er an dem didaktischen Paradigma seiner Zeit, das auch für den aufstrebenden Spanischunterricht relevant wurde: die Kulturkunde.
1.3.3. Hispanistische Kulturkunde Das neue Interesse an Spanien und Lateinamerika war von Anfang an verknüpft mit der Forderung nach Einfuhrung von Spanischunterricht an den höheren Schulen. Dies wurde als essentielle Basis für alle weiteren Bestrebungen gesehen und war auf fast allen Tagungen der Fremdsprachler nach dem Krieg einer der zentralen Diskussionspunkte. Der entscheidende Anstoß ging wiederum von Hamburg aus und ist abzulesen an den auf dem Neuphilologentag 1920 in Halle eingebrachten "Hamburger Leitsätzen", die das Ziel hatten, neben dem Englischen und Französischen auch das Spanische zur Pflichtsprache zu erheben. Um diese Forderung konsensfahig zu machen, wurde nicht nur praktisch-ökonomisch argumentiert, sondern besonders auf die geistigen Werte verwiesen, die über den spanischen Kulturkreis vermittelt werden könnten. 151 Zwar wurden die Hamburger Leitsätze auf dieser Tagung nicht angenommen, doch bildeten sie die Grundlage für die weitere Diskussion. Im übrigen machte der Spanischunterricht unabhängig davon Fortschritte, wie immer er an den einzelnen Schulen realisiert wurde (meist war er nur fakultativ). Oft war ein regionales Interesse am Spanischen maßgebend, was zu einer Konzentrierung auf die Handels- und Industriegebiete führte (Hamburg, Rheinland, Berlin, Sachsen). Der große Durchbruch im gesamten Reich gelang jedoch nicht - und die von einigen befürwortete Verdrängung des Französischen schon gar nicht - , so daß es gegen Ende der zwanziger Jahre zu einer Stagnation kam. Die Kultusbehörden waren nicht bereit, Spanisch als obligatorisches Fach einzuführen. Da dies nur auf Kosten des Französischen möglich gewesen wäre, war die Tradition stärker als die neuen Interessen. Insbesondere Preußen, das als größtes Land die Vorreiterrolle hätte übernehmen müssen, verhielt sich ablehnend, was auch mit dem Wechsel im Kultusministerium von Boelitz zu Becker (1925) zusammenhing. Daß der Spanienunterricht sich nicht auf die Vermittlung von Wortschatz und Grammatik beschränken, sondern im Rahmen der kulturkundlichen Prinzipien als
151
Cf. Settekorn 1990, wo diese Hamburger "Mehrfachstrategie" ausführlich dargestellt ist.
1. Hispanistik
bis 1933
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"Spanienkunde" realisiert werden sollte, war unter den Fachdidaktikern (im Gegensatz zur Hochschullehrerschaft) unumstritten, da der Aufstieg des Spanienunterrichts mit der Hochphase der kulturkundlichen Bewegung zusammenfiel. Auch die Kulturkunde ist als Ausdruck der antipositivistischen und antirationalistischen Geisteshaltung zu verstehen. Im Gegensatz zur positivistischen "Realienkunde", die eine reine Faktensammlung aus den verschiedensten Gebieten eines Kulturkreises anstrebte, trachteten die Kulturkundler danach, "eine verstärkt idealistische, auf das sogenannte rein Geistige oder Seelische gerichtete Tendenz" 152 in den Unterricht hineinzutragen. Ihr Kulturbegriff war nationalistisch verengt und setzte Kultur mit Nationalkultur gleich, die als "Ganzes", also nicht nur in ihrer je historisch-künstlerisch-literarischen Ausformung betrachtet werden sollte. Gemäß dieser Ganzheitsvorstellung suchte man den Träger einer Nationalkultur mit überindividuellen Kategorien zu erfassen: "Geist" und "Seele" einer Nation bzw. eines Volkes waren Gegenstand der Kulturkunde. 153 Sprachliche Phänomene, literarische oder künstlerische Werke wurden nicht mehr autonom betrachtet, sondern als Parameter für die Konkretisierung der "Volksseele", des "Nationalcharakters" etc. begriffen. "Zeige in der Struktur der Sprache die Struktur der fremden Volksseele" lautete die Aufforderung des führenden Kulturkundlers Eduard Schön. 154 Letztes Ziel dieser Methode, die die Richertsche Reform (1925/26) in Preußen offiziell in der Bildungspolitik verankerte, war allerdings nicht das SichAneignen der fremden Kultur zum Zweck intellektueller Bereicherung oder gar der Völkerversöhnung, sondern - im Gegenteil - die Erkenntnis des deutschen Wesens, wofür das fremde Wesen lediglich als "Folie" nutzbar gemacht werden sollte. Dieser Zielsetzung entsprechend waren "Frankreichkunde" und "Englandkunde" im wesentlichen antithetisch konzipiert (Verschiedenheit des deutschen Geistes vom französischen bzw. englischen, bei letzterem freilich auch Würdigung der "germanischen" Gemeinsamkeiten), wohingegen die "Spanienkunde" vornehmlich einer deutsch-spanischen Geistesverwandtschaft habhaft zu werden trachtete und etwaige nationalcharakterologische Differenzen nicht als Abgrenzung, sondern aus deutscher Sicht als Desiderat postulierte. 155 Die eindeutig
152
Apelt 1967, S. 47.
153
Rülckerl969, S. 54.
154
Zitiert nach: Bott 1982, S. 95.
155
"Uns steht die spanische Kultur in ihrer Vornehmheit und Reinheit, die ritterliche, hochanständige, edle Denkweise der ganzen Rasse im Vordergrund bei unserer Beschäftigung mit der spanischen Sprache in unseren höheren Schulen, in sie wollen wir uns vertiefen und die spanische Seele suchen, die kein problematischer Schemen ist, sondern eine echte, greifbare, charaktervolle Realität" (Greif 1924, S. 26). Ausgehend
62
Thomas Bräutigam
chauvinistisch motivierte Folientheorie und die darin implizierte Abgrenzungsstrategie waren typische Reaktionsweisen der Nachkriegszeit, wenngleich der berüchtigte Höhepunkt mit Eduard Wechsslers Buch Esprit und Geist einer Wesenskunde
des Deutschen
und des Franzosen
Versuch
erst 1927 markiert wurde.
Gegen Ende der zwanziger Jahre trat aber eine Beruhigungsphase ein, in der versucht wurde, den nationalen Gedanken im Rahmen einer europäischen Perspektive zu pflegen. In dieser gemäßigten Periode erschienen bei Moritz Diesterweg die von Paul Hartig und Wilhelm Schellberg herausgegebenen cher der Auslandskunde,
Praxis umzusetzen versuchten: Handbuch buch
der Frankreichkunde
Handbuch
Handbü-
die die kulturkundlichen Prinzipien am reinsten in die
der Spanienkunde
der Englandkunde
(1928/30), Handbuch
(1928/29),
der Amerikakunde
Hand(1931),
(1932). 1 5 6 Diese Werke bestehen aus einzelnen,
von Fachleuten verfaßten Aufsätzen, die j e einen Aspekt der betreffenden "Nationalkultur" in einer Art Gesamtschau vorstellen, jedoch nicht in Form eines sachlich-nüchternen Kompendiums, vielmehr soll sich aus der Gesamtheit dieser "Teilsynthesen" die Ubergreifende Synthese ergeben, in der sich das Wesen der
156
vom Unterschied zwischen "ser" und "estar" konkretisierte sich diese Forderung in der Sprachbetrachtung so: "Von Kindheit auf ist der spanische Mensch gezwungen, ständig zu unterscheiden, was bei allen andern Völkern und Sprachen vereint bleibt und erst der reife Mensch durch philosophische Systeme trennen lernt: die Einheit in der Vielheit, nach Plato das Grundproblem der Philosophie. Welche Seh- und Gedankenschärfe, Ausdrucksklarheit und welche ausgezeichnete geistige Erziehung wird da dauernd verlangt! [...] [Der Spanier] arbeitet visuell, mit dem Auge, wir Deutschen meditativ mit Begriffen. Die Philosophie des Spaniers liegt im schnellen, klaren, unmittelbaren Sehen, unsere in der Arbeit des inneren Auges, im Erkennen. [...] Wir Deutschen sollten vom Spanier das schärfere Sehen lernen" (Schulz 1924, S. 29). Verwandtschaft und Differenz gehen schließlich in folgender Behauptung auf: "So dienen wir zugleich der großen vaterländischen Aufgabe, uns durch die Auseinandersetzung mit fremder Art auf die eigene zu besinnen. Kein Volk Europas ist dem deutschen so verwandt wie das spanische und zugleich von ihm so wesensverschieden. Dieser paradox klingende Satz wird jedem Kenner spanischen Wesens verständlich sein" (Wacker 1926, S. 47). Von der Kulturkunde chauvinistischer Prägung suchte man sich explizit zu distanzieren: "Für uns erscheinen heute Deutschtum, Franzosentum und Engländertum nicht mehr durch unüberbrückbare Klüfte voneinander getrennt, sondern als verschiedene Offenbarungsformen abendländischen Menschentums, als Erscheinungsformen von Völkern, die aus gleicher Not heraus, sich vor gleiche Aufgaben gestellt sehen, die zu lösen jedes nach seiner Art sich müht" (Handbuch der Frankreichkunde, Bd. 2, Frankfurt/M. 1930, S. 538). An der Kategorie "nationale Eigenart" stießen die Gemeinsamkeiten an ihre Grenze, denn sie war das entscheidende kulturkundliche Differenzkriterium.
1. Hispartistik bis 1933
63
Nationalkultur offenbart: "Vom einzelnen Sachgebiet aus zu dem Geheimnis der 'Volksseele' vorzudringen" 157 , war die Intention der Herausgeber. Demgemäß gliedert sich die Spanienkunde in die folgenden Kapitel: -
Wolfgang Panzer, Spanien, das Land und die geographischen Grundlagen seiner Kultur (S. 1-26); Gertrud Wacker, Staat und Gesellschaft in Spanien (S. 27-72); Othmar Fessler, Die spanische Volkswirtschaft (S-. 73-106); F. W. v. Rauchhaupt, Das Recht in Spanien (S. 107-120); Adolf Rohlfing, Das spanische Bildungswesen (S. 121-146); Eugen Lerch, Spanische Sprache und Wesensart (S. 147-200); Adalbert Hämel, Wesen und Werden der spanischen Literatur (S. 201-275); Heinrich Lützeler, Die spanische Kunst (S. 276-328); Otto Ursprung, Musikkultur in Spanien (S. 329-357); Alois Mager O.S.B., Spaniens Religion und Philosophie (S. 358-383); Gertrud Richert, Vom heutigen Spanien (S. 384-406).
Erstes auffallendes Merkmal dieser Autoren- und Themenliste ist das Fehlen der Hamburger Volkskunde, die, so ist man geneigt zu vermuten, der intendierten Suche nach der spanischen Volksseele doch entscheidende Impulse hätte geben können. Genau dies monierte denn auch der Hamburger Privatdozent Wilhelm Giese gekränkt in seiner Rezension: "Dieser Mangel ist um so mehr zu bedauern, als gerade in Spanien (und Portugal) die durch die Volkskunde erfaßbaren Äußerungen menschlichen Geistes viel lebendiger erhalten sind und in weit höherem Maße mit dem Gesamtleben verflochten sind, als dies in den übrigen Ländern der europäischen Romania der Fall ist. Gerade auch von Deutschland aus ist eine tatkräftige Erforschung der spanischen Volkskunde in die Wege geleitet worden, so daß es wohl an einem Bearbeiter dieses Teilgebietes innerhalb des Handbuches nicht gemangelt haben dürfte."158
Dieser kleine binnenhispanistische Disput ist für das Selbstverständnis der Spanienforschung insofern aufschlußreich, als er auf den allgemeinen Konsensus innerhalb der Hispanistik hinweist: Die Kategorien "Volk" und "Geist" werden nicht in Frage gestellt, Differenzierungen lassen sich lediglich in unterschiedlichen Ansätzen feststellen, die sich aber alle dem gleichen Ziel - Aussagen zu treffen über das Wirken des als organisch-naturhaft verstandenen spanischen Volkstums - unterordnen. Dieser Zielsetzung entsprechen die meisten Verfasser des Handbuchs, indem sie das jeweils "typisch Spanische" ihres Themas zu ermitteln suchen. Lützeler formuliert lakonisch: "Das Problem lautet also in Kürze: Wo wird in der Kunst 157 158
Handbuch 1932, Vorwort, S. VII. Giese 1934, S. 625.
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Thomas Bräutigam
Spaniens reines Spanisch gesprochen?" 159 . Dem lag, gewissermaßen als Axiom, die Überzeugung zugrunde, daß sich "das Spanische" als ein einheitlicher, geschlossener und vor allem immerwährender Kosmos offenbart, der von jedem historischen Kontext emanzipiert zu sein scheint, und von dem alles NichtSpanische klar und eindeutig abgrenzbar ist und zusätzlich einer qualitativen Abwertung anheimfällt. 160 Jeder fremde Einfluß, jede Alteritätserfahrung wird als Angriff auf die tradierten nationalen Eigenschaften verstanden und implizit nicht mehr zum Untersuchungsgegenstand gerechnet: "Die spanische Literatur [erreicht] ihren künstlerisch vollendetsten Ausdruck dann [...], wenn sie mit dem nationalen Herkommen eng verbunden bleibt. Gerät sie dagegen in sklavische Abhängigkeit vom Ausland, setzt sie in falscher Verehrung des Fremden das Neue, Ungewohnte, Ausländische an Stelle der überkommenen, traditionellen, angestammten, mit dem Volke groß gewordenen Ideale, dann wird sie farblos, unbedeutend und verliert ihre kraftvolle Eigenart."161
Die Bagatellisierung des arabisch-muslimischen Einflusses - zweifellos der prekärste Punkt in dieser Ausgrenzungsstrategie - gehört konsequenterweise zu den rekurrenten Topoi der einschlägigen Texte, ebenso wie der Verzicht auf eine regionale Differenzierung, um die vermeintliche Homogenität der Wesenszüge nicht zu erschüttern: Wie sich Katalanisches, Baskisches oder Galicisches zum Spanischen verhalten, bleibt in den meisten Artikeln unklar, wenn dieser Punkt überhaupt erwähnt wird. Der Intention entspricht auch die Praxis, erst die Elemente des spanischen Nationalcharakters aufzulisten - z. B. bei Lerch: Realismus, Impulsivität, Phantasie, Höflichkeit, Bescheidenheit, Stoizismus, bei Hämel zusätzlich: Traditionalismus, nationale Einstellung, Religiosität, Optimismus, Individualismus - , um sie dann an sprachlichen bzw. literarischen Erscheinungen zu exemplifizieren. Das als Dogma verstandene Erkenntnisziel der Kulturkunde, die Suche nach dem sich aus konstanten nationalen Wesenszügen zusammensetzenden Volksgeist, machte es der traditionellen Hochschulromanistik leicht, diese Bewegung zu 159
160
161
Handbuch 1932, S. 278. Ist dieses "reine Spanisch" dann gefunden, wird es in einem Stil präsentiert, der den Vergleich mit Pfandl nicht zu scheuen braucht: "Was Spanien gegeben ist, ist eine einzigartige dunkle Inbrunst; aus schweren umschatteten Untergründen schwingt es sich zu verschwenderischer Phantastik auf, ausschweifend im Erraffen von Wirklichkeit und in der Entwirklichung dieser Fülle zu Mustern. Ein Land, das sich ohne Ekstase kaum denken läßt - eine Ekstase, zu der es gehört, mit Stofflichkeit gesättigt zu sein: ein Land der dunklen Ekstase" (ib., S. 290). "Daß dies [sc. die dunkle Ekstase etc.] das Wesen der spanischen Gotik ist, bestätigt der Blick auf eine ihr gegensätzliche Erscheinung, die lediglich zur Gotik in Spanien gehört: die Kathedrale von León. In León vollzieht sich die architektonisch stärkste Annäherung Spaniens an französischen Geist" (ib.). Hämel 1932, S. 201.
1. Hispanistik bis 1933
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kritisieren. Ihr wurde der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und des Dilettantismus gemacht, da sie die historisch-kritische Methode zugunsten einer phänomenologischen Wesensschau aufgab und durch ihren interdisziplinären Ansatz eine Bedrohung für die eigentliche Philologie darstellte. Die nationalistische Argumentation in Verbindung mit dem pädagogischdidaktischen Impetus ist als unzulässige Politisierung der als zweckfrei verstandenen Wissenschaft empfunden worden. Von einer geschlossenen Front der Universitätsphilologie gegen die Kulturkunde kann jedoch nicht die Rede sein, da die Vertreter der alten positivistischen Methode Ende der zwanziger Jahre bereits in der Minderheit waren. 162 Führende Vertreter der Romanistik waren an der Kulturkunde beteiligt (z. B. Wechssler, Curtius, Klemperer), doch ist zum Teil versucht worden, die kulturkundlichen Prinzipien auf eine wissenschaftlichere Basis zu stellen, etwa durch eine Anreicherung mit Soziologie. 163 Ein Kritiker der Kulturkunde gestand interessanterweise gerade der Hispanistik einen Ausnahmestatus zu, da die Spanienkunde sich berechtigterweise zu einer "Sonderwissenschaft von den cosas de España" entwickelt habe. 164 Tatsächlich besteht eine gewisse Affinität der modernen Hispanistik zum interdisziplinären Ansatz der Kulturkunde durch ihre Genese im Zusammenhang mit den erwähnten Aktualitätserwägungen während des Ersten Weltkriegs. In der Romanistik blieb die "reine" Kulturkunde eine Domäne der Studienräte, die ihr Forum hauptsächlich in den Zeitschriften der Fremdsprachenpädagogik fand, wo sie sich nach 1933 ohne zusätzlichen Argumentationsaufwand in den Dienst des Nationalsozialismus stellte. Was sich für die gesamte Philologie als diskursrelevant erwies, waren vor allem Termini wie "Geist" und "Seele" sowie eine generelle Tendenz, Sprach- und Literaturwissenschaft unter nationalcharakterologischen Gesichtspunkten zu praktizieren.
162
163
164
Den entscheidenden Durchbruch erzielte die Kulturkunde in der Anglistik. Das kulturkundliche Opus magnum schlechthin stammt von einem der fuhrenden Anglisten der Zeit: Otto Dibelius, England, 2 Bde. (1923). Dibelius wurde 1925 Nachfolger von Alois Brandl auf dem Berliner Lehrstuhl. An dem Werk, das das Pendant zu Dibelius' England-Buch werden sollte (Bott 1982, S. 146), wurde ein Soziologe beteiligt: Ernst Robert Curtius/Arnold Bergsträsser, Frankreich, 2 Bde. (1930). Im übrigen sind auch die Autoren, die an den Handbüchern der Auslandskunde beteiligt waren, nicht alle als kulturkundliche Hardliner einzuordnen. So finden sich im Frankreich-Handbuch auch Aufsätze von Bernhard Groethuysen und Helmut Hatzfeld. Hatzfeld 1932, S. 445. Seine Begründung, ein Hispanist müsse sich schließlich auch mit Arabistik beschäftigen, wäre von einem Kulturkundler wohl scharf zurückgewiesen worden.
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Thomas
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1.3.4. Hispanistik in Deutschland 1918-1933. Versuch einer Bilanz Es ist gezeigt worden, daß der Grundstein fíir die neue Hispanistik im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und außerhalb der romanischen Philologie gelegt wurde. Nicht kulturelle - wie in der Romantik sondern politische und ökonomische Interessen motivierten die neuerliche Hinwendung zur Iberoromania. Dieser praktisch-materielle BegrUndungszusammenhang reichte jedoch nicht aus, um eine umfassende Erforschung des wiederentdeckten spanischsprachigen Raums in Deutschland zu legitimieren. Hierfür war ein Diskurs erforderlich, der eine primär ideelle Argumentation verfolgte, mit dem Ziel, den "Bildungswert" einer Beschäftigung mit Spanien dem deutschen Publikum plausibel zu machen. Dies funktionierte zum Teil im Rekurs auf die Romantik, vorrangig aber als Reflex der geistigen Situation der Nachkriegszeit. 165 Diese geistig-kulturelle Legitimationsarbeit übernahm die Romanistik, und zwar nicht als fachinterne Diskussion, sondern adressiert an die breite bildungsbürgerliche Öffentlichkeit (diese Öffnung der Wissenschaften nach außen war eine allgemeine, ebenfalls durch den Krieg begründete Tendenz). Die geisteswissenschaftliche Werbung für Spanien verlief so erfolgreich, daß beim Fachmann ein leises Unbehagen spürbar wurde: "Der gegenwärtige Spaniendusel lässt befürchten, dass die 'cosas de España1 mehr denn je zum Tummelplatz für Dilettantismus und Oberflächlichkeit werden" 166 . Eine sachliche Bilanz wird sich mit diesem Verdikt jedoch nicht begnügen können. Trotz der frankreichfeindlichen Emotionen dominierte in der Hochschuldisziplin "Romanische Philologie" der gallo-romanische Schwerpunkt in Forschung und Lehre auch nach 1918 nahezu uneingeschränkt. Die Erregung über den "Erbfeind" reichte nicht aus, die fixierte Fachtradition zu erschüttern. Allerdings ist gegenüber der Vorkriegszeit auffällig, daß zahlreiche Romanisten sich auch zum Teil sogar vorrangig - mit spanischer Sprache und Literatur beschäftigten. Insbesondere in der Generation der etwa zwischen 1890 und 1905 Geborenen, die in den zwanziger Jahren am Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn bzw. ihres Studiums standen, sind viele Romanisten mit einem signifikanten hispanistischen Forschungsanteil anzutreffen (Krüger, Heinermann, Hatzfeld, Großmann, Mulertt, Petriconi, Giese, Rheinfelder, Tiemann, Kuen, Moldenhauer, Krauss, Schramm, Schalk, Kuhn, Jeschke, Piel, Meier, Pabst).
165
166
Freilich war auch die Mittelalter- und damit Spanien-Sehnsucht der Romantik eine Reaktion auf moderne Zeiterscheinungen des 19. Jahrhunderts. Pfand1 1924b, Sp. 27.
1. Hispanistik bis ¡933
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Einer Statistik 167 ist der Anstieg der Lehrveranstaltungen an den deutschen Hochschulen zu entnehmen, die sich iberischen Themen widmeten (einschließlich Sprachkurse und Veranstaltungen anderer Fächer, z. B. Geographie, Kunstgeschichte etc.). Die Summe dieser Semesterwochenstunden aller 23 deutschen Universitäten belief sich im W S 1918/19 auf 50, im W S 1924/25 auf 172, im W S 1932/33 auf 236. Addiert man sämtliche Semesterwochenstunden aller Universitäten in diesem Zeitraum, kommt man auf 4592, wovon sich mehr als die Hälfte auf diese Universitäten verteilt: Hamburg (888), Berlin (703), Köln (351), Frankfurt (280), München (276) - eine geographische Verteilung, die aufgrund der bisherigen Ausführungen nicht überrascht. Das Themenspektrum der literaturwissenschaftlichen Hispanistik war nicht sehr weit gefächert, sondern umfaßte primär die spanischen "Klassiker" Cid, Cervantes, Lope de Vega, Calderón, wobei ab 1927 auch Reflexe der Góngora-Renaissance zu registrieren sind. Ausflüge in moderne Epochen waren eher sporadisch. Zwar wurde im Gegensatz zur älteren Philologie nun auch die Literatur der Gegenwart als forschungswürdig angesehen, doch beschränkte sich dieses Interesse im wesentlichen auf die Spanienproblematik der Generation von 1898, weil dieser Komplex für die Legitimierung der Hispanistik in Deutschland funktionalisierbar war (siehe unten, Kap. 7.1.1.). Den quantitativ größten Anteil an hispanistischen Arbeiten lieferten die Hamburger und bayerische Schiene. Die qualitativ herausragenden Arbeiten jedoch diejenigen, die auch heute noch zitierfähig sind - , verfaßten Romanisten, die nicht eindeutig diesen beiden "Schienen" zuzuordnen sind. Hermeneutisch gesehen standen die wissenschaftlich gewichtigsten Publikationen im Zeichen der werkimmanenten "Stilanalyse", als deren Meister auf romanistischem Gebiet Leo Spitzer mit seiner "kunsthandwerklichen Literaturwissenschaft" 1 6 8 anzusehen ist. Für Spitzer, der sich als Universalromanist verstand, war die Beschäftigung auch mit Spanien selbstverständlich, er bedurfte hierfür keiner externen Anstöße. Neben Spitzers Aufsätzen über Quevedo, Cervantes und Lope de Vega 1 6 9 war vor allem Helmut Hatzfelds ebenfalls der Stilforschung zuzuordnendes Buch Don Quijote als Wortkunstwerk (1927) das Modernste, was die Hispanistik der Weimarer Republik zu bieten hatte. Der besondere Wert dieser werkimmanenten Methode für die Hispanistik in diesem Zeitraum liegt darin, daß
167 168 169
IAR 1, 1935/36, S. 57. Pollmann 1973, S. 140. Zur Kunst Quevedos in seinem Buscón (Archivum romanicum 1927), Das Gefüge einer cervantinischen Novelle [El celoso extremeño] (ZrPh 1931), Die Literarisierung des Lebens in Lope's Dorotea (1932).
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Thomas Bräutigam
sie sich wohltuend - gleichsam oasenartig - von den sonst üblichen nationalapologetischen und typisierenden Tendenzen abhob. Die andere Alternative, der literatursoziologische Ansatz, kam in der Hispanistik jedenfalls nicht zur Anwendung und ist in der gesamten zeitgenössischen Romanistik allenfalls bei Erich Auerbach nachzuweisen. Die Sprachen und Literaturen Lateinamerikas spielten in der Forschung nach wie vor nur eine marginale Rolle. Der Parameter "Bildungswert", mit dem die Kultur der Pyrenäenhalbinsel erforscht wurde, konnte seine Relevanz auch für die Uberseeischen Gebiete nicht nachweisen. Die Beschäftigung mit Lateinamerika stand immer noch unter dem Primat wirtschaftspolitischer und tagesaktueller Interessen, und auch in der Hamburger Iberoromanistik war die Thematisierung linguistischer und literarischer Aspekte Amerikas nur sporadisch, ein darüber hinausgehender Kanon ist jedenfalls nicht erkennbar. Attraktiv war dieses Terrain nur für Außenseiter und Newcomer. Nicht zufällig stammt der erste Überblick über Die spanisch-amerikanische Literatur in ihren Hauptströmungen (1924) von dem Sprachwissenschaftler Max Leopold Wagner, einem Spezialisten für die Randgebiete der Romania. Hellmuth Petriconi, der 1922 mit einer Arbeit über Ricardo Palma die erste deutsche Dissertation über einen lateinamerikanischen Schriftsteller vorlegte, war der einzige Romanist, der sich kontinuierlich mit diesem Gebiet beschäftigte und in seinem Buch über die spanische Gegenwartsliteratur (1926) die spanisch-amerikanische wie selbstverständlich mit einbezog (siehe unten, Kap. 7.2.1.). Daß die qualitative Bilanz der Hispanistik in diesem Zeitraum - in Relation zum gestiegenen Interesse - eher bescheiden ausfällt, ist nicht überraschend - und zwar vor allem aus zwei Gründen: 1. Für große wissenschaftliche "Meisterwerke" fehlten der deutschen Hispanistik die Vorarbeiten. Dieses Defizit war Folge des Desinteresses an spanischen Themen im Zeitraum zwischen dem Ende der Romantik und dem Ersten Weltkrieg. Vor allem in der Ära des Positivismus, die ja als eine Hochphase der philologischen Wissensproduktion anzusehen ist, fand die Hispanistik keine Resonanz. Diese Ausfallzeit ließ sich nicht einfach nachholen. 2. Die Überlagerung der zunächst rein pragmatischen Motive für das wiedererwachte Spanieninteresse mit einem ideologischen Komplex, der sich aus einem Unbehagen an der zeitgenössischen Kultur speiste und Spanien als eine Art Fluchtpunkt idealisierte, erschwerte einen seriös-sachlichen Zugang der Forschung. Anders formuliert: Die Kombination von Spanien-Desinteresse in der positivistischen und Spanien-Interesse in der antipositivistischen Epoche war keine ideale Basis fiir eine kritische Hispanistik. An der Pfandischen Literaturgeschichte, die
I. Hispanistik bis 1933
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wissenschaftsgeschichtlich gesehen mit 50jähriger Verspätung erschien, läßt sich dies exemplarisch ablesen. Dieses Dilemma war einigen ernstzunehmenden zeitgenössischen Hispanisten durchaus bewußt. So konstatierte Leo Spitzer ein "vielleicht auch aus der 'spanischen Mode' in Deutschland erklärliche(s) Aus-derErde-Stampfen-Wollen einer wenig organischen Hispanistik, die sich doch nur - wie die großen Leistungen deutscher Gelehrter auf französischem Gebiet - auf einer fortgesetzten Tradition des Interesses für das betreffende Gebiet auftauen könnte. Der Romanist sollte sich die Zeitströmung zu gründlichen Studien zunutze machen, nicht sich von ihr alle seine Prinzipien wegschwemmen lassen. Der spanischen Maske darf nicht alles erlaubt werden!" 170 Diese Spannung zwischen äußerem Aufschwung und mangelhafter wissenschaftlicher Tradition kennzeichnet die Situation der Hispanistik in der Weimarer Republik. Der Makel, als eine zeitgeistverhaftete Modeerscheinung diskreditiert zu werden, ist auch von den damaligen Protagonisten empfunden worden. 1 7 1 Die
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Spitzer 1924, S. 376. Die in Anm. 166 zitierte Kritik Pfandls am "Spaniendusel" hatte allerdings eine Stoßrichtung, die mit seinem Sonderstatus innerhalb der Hispanisten-Zunft zusammenhing. Schon ein Jahr zuvor hatte er im gleichen Rezensionsblatt eine harsche Kritik am Spanischstudium, wie es gegenwärtig an den Universitäten praktiziert wird, geübt: "Welch ein Schauspiel bietet sich da! Mit Feuereifer werfen sich Hans und Grete auf das neu erschlossene Gebiet, die Zahl der Hörer eines spanischen Kollegs hat sich, wofern ich recht berichtet bin, im Vergleich zur Vorkriegszeit verfiinfundzwanzigfacht, man doktoriert und examiniert bereits in und aus Spanisch, als ob es immer schon so gewesen wäre [...], die spanischen Bestände unserer Bibliotheken kommen, aus hundertjährigem Schlafe aufgeschreckt, nimmer zur Ruhe [...]; mich selbst aber wandelt ein gelindes Gruseln an, wenn ich denke, dass die Zeit nicht mehr fern ist, wo wir uns an dieser Stelle hier über 'das Adverb im Cidgedicht', oder 'das schmückende Beiwort im Amadis', oder 'das Rufzeichen als Stilmittel bei Cervantes' unterhalten werden. Mit anderen Worten: ich meine, die Dozenten unserer Hochschulen, soweit sie Spanisch in ihr Arbeitsgebiet mit einbeziehen, würden sich und allen Beteiligten und nicht zuletzt auch dem Fache selbst einen Dienst erweisen, wenn sie den Übereifer unserer braven Studenten und die geschäftige Emsigkeit unserer betriebsamen Studentinnen, wofern sie sich um jeden Preis auf spanischem Gebiet betätigen wollen, um ein geringes dämpfen würden, wenn sie ihnen begreiflich machen möchten, dass durchaus nicht gerade im Spanischen noch mühelose Lorbeeren zu pflücken seien, dass man vielmehr auch hier, wie in anderen Disziplinen, von einer Dissertation eine Förderung unserer Kenntnisse, einen kleinen Fortschritt der Forschung zu verlangen berechtigt sei" (Pfandl 1924b, Sp. 50 f.). Pfandl kultivierte hier seinen Abstand zur universitären Forschung ("wofern ich recht berichtet bin"), von der er einen Rückfall in die positivistischen Detailstudien befürchtete und damit eine Bedrohung der idealistischen Hispanistik. wie er sie praktizierte und die er als die einzig legitime gelten ließ. Er jedenfalls sah sich nicht als Teilnehmer der gegenwärtigen Mode: "Alle diejenigen aber, die aus rein idealen Interessen sich mit Sprache und Kultur der iberischen Halbinsel beschäftigen, die haben
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Hispanophilie wäre wohl wirklich wieder abgeebbt, wenn die Wertvorstellungen, die mit ihrem Aufkommen verknüpft waren, in den Jahren ab 1933 nicht neuerlich an Aktualität gewonnen hätten.
es schon vor dem grossen Kriege getan, längst bevor die Allgemeinheit ihr Herz ftir das edle Spanien entdeckt hat" (ib., Sp. 50).
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten Reich
2.
LEGITIMATION DER NEUEREN FREMDSPRACHEN IM DRITTEN REICH
2.1.
Fremdsprachen allgemein
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Als 1933 in Deutschland die staatliche Gewalt an die Nationalsozialisten ausgeliefert wurde, mußte sich jeder bewußt sein, daß dieser Vorgang mehr bedeutete als einer der üblichen Regierungswechsel der vergangenen Jahre. Niemandem konnte verborgen geblieben sein, daß mit der NSDAP eine Partei an die Macht gelangt war mit dem erklärten Ziel, das Weimarer "System" abschaffen zu wollen, um eine Gesellschaft zu errichten, die sich von der parlamentarischen Demokratie radikal unterscheiden würde. Das Gefühl, vor einer Epoche tiefgreifender Umwälzungen zu stehen, ist in den Reaktionen auf dieses Ereignis allenthalben spürbar, zugleich aber auch die Unsicherheit über die eigene Rolle in diesem "neuen Staat". So entstand das Bedürfnis, diese Rolle zu definieren. Die Neusprachler reagierten auf die nationalsozialistische Machtübernahme schnell. Bereits im Mai-Heft der Neueren Sprachen findet sich ein entsprechender Aufsatz, verfaßt vom Mitherausgeber dieser Zeitschrift, Walther Küchler. Küchler, zu diesem Zeitpunkt (noch) Professor am Romanischen Seminar der Universität Hamburg und Dekan der Philosophischen Fakultät, unternimmt den Versuch, aus seiner Sicht neue Aufgabenfelder zu markieren, die den neuphilologischen Fächern unter den veränderten politischen Bedingungen zukommen sollen. Er beschreibt zunächst die Differenz zwischen "alter" und "neuer" Universität. Die alte, positivistisch ausgerichtete Universität sei von der Zersplitterung in einzelne Spezialgebiete geprägt gewesen und habe den Blick für das Ganze verloren. Nun jedoch fordere man "e i n Feld, e i n e Aufgabe, e i n Ziel für alle" 1 . Dieses Ziel bestehe darin, die Zersplitterung durch die Besinnung auf die volkhaften Kräfte, auf "Blut und Heimat" 2 zu überwinden. Küchler versucht nun im folgenden die Frage zu beantworten, wie die neueren Sprachen "bei der Verwirklichung dieses revolutionären Ideals von heute mitwirken" 3 können. Zusätzlich zu den bisherigen sprach- und literaturwissenschaftlichen und kulturkundlichen Aufgaben (hier betont er besonders die "Folientheorie", Erkenntnis des Eigenen durch das Fremde) sieht er vor allem zwei Felder, auf denen die Neusprachler sich betätigen können:
1 2
3
Küchler 1933, S. 194. Ib. iu
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1. Unterstützung der "um politische Freiheit unseres Volkes kämpfende(n) Außenpolitik der Regierung" 4 durch Aufklärung über das Ausland; 2. Kulturpropaganda: "die geistigen Leistungen unseres Volkes hinübertragen zu den anderen Völkern" 5 . Dies betrachtet Küchler als "tätige Anteilnahme vom Geistigen her an der Lösung der großen politischen Aufgaben" 6 . Interessant an diesem Artikel ist nicht nur diese Forderung nach Indienststellung der Neuphilologie als Hilfswissenschaft für die Außenpolitik, sondern vor allem wie diese Forderung erhoben wird. Der Küchlersche Text unterscheidet sich nämlich von den anderen, noch folgenden Legitimationstexten dieser Art durch einen merkwürdig emotionslosen, unaufgeregten, nüchtern-sachlichen Stil, der eher eine Beobachter- als eine Teilnehmerposition vermuten läßt. Die 1. Person Plural reserviert Küchler ausschließlich für "wir Neusprachler", von der "heutigen Revolution" und ihren Forderungen ist hingegen in der 3. Person die Rede. "Die deutsche Revolution will [sie!] endlich das deutsche Volk, die deutsche Nation entstehen lassen. Die deutsche Bildung soll [sie!] vollzogen werden aus den Kräften heraus, die das Volk auf seinem heimischen Boden wachsen ließen [...]. Die in Blut und Heimat gegebenen [...] Eigenschaften und Kräfte sollen [sie!] nunmehr durch einen klar erkannten politischen Willen zu höchster Wirksamkeit gesteigert werden. Das bisher in sich zersplitterte, seines ganzen Inhalts nicht voll bewußte, zerfließende und daher denn auch bedrohte deutsche Wesen soll [sie!] in einem geschlossenen, volkhaften Staat machtvollster Prägung zusammengebunden werden." 7
Diese Textpassage ist insofern ambivalent, als eine semantische Kategorie, nämlich die Modalität dieser Sätze, nicht genau zu bestimmen ist. Statt von "müssen" ist von "wollen" und "sollen" die Rede, dieses "sollen" jedoch kann mehrfache Bedeutung besitzen. Es bleibt offen, ob hier ein Wunsch, eine Absicht oder eine Aufforderung ausgedrückt werden oder ob der Sprecher eine Hypothese formuliert, weil er sich über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nicht sicher ist (dem Vernehmen nach/angeblich soll die deutsche Bildung vollzogen werden aus ...). Der Autor referiert in einer subjektiven Auswahl Ziele der nationalsozialistischen Politik, doch welche Stellung der Autor zu diesen konstatierten Zielen einnimmt, bleibt unklar. Der ganze Aufsatz stellt sich als ein Versuch dar, einen minimalen Konsensus zwischen diesen Zielen und der Neuphilologie herzustellen. Küchler macht ein Angebot an die neuen Herren - nicht mehr, aber auch nicht weniger - ,
4
Ib., S. 196.
5
Ib.
6
Ib., S. 196 f.
7
Ib., S. 194.
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten
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ist sich selbst aber gar nicht sicher, ob "eine solche Mitarbeit von uns überhaupt gewünscht oder verlangt wird" 8 . Die Differenzierung in "wir" (die Neusprachler) und "sie" (die deutsche Revolution) signalisiert zumindest insofern eine Distanz, als sie von zwei bislang voneinander unabhängigen Bereichen ausgeht, die nun aufeinandertreffen, so daß Schnittstellen zwischen diesen Bereichen entstehen, die zu markieren als die eigentliche Intention des Textes erscheint. Damit dokumentiert dieser Aufsatz eine typische Reaktionsweise auf den Nationalsozialismus an der Macht. Man ignorierte die radikalen Aspekte und griff sich statt dessen einzelne Punkte heraus, denen man guten Gewissens zuzustimmen können glaubte, ohne deren Propagandazweck zu erkennen: "Wenn [sie!] die gewollte Politisierung des deutschen Menschen und Volkes nicht nur zur Bildung der deutschen Nation führen soll [sie!], sondern wenn [sie!] diese Politisierung helfen soll [sie!], die großen außenpolitischen Ziele zu verwirklichen, um die es geht, nämlich die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Deutschlands in der Welt, dann fällt gerade den Neusprachlern in diesem Augenblick [sie! i. e. nicht grundsätzlich!] die wichtige historische Aufgabe zu, mitzuhelfen, die außenpolitische Bildung der Deutschen zu fördern und zu vertiefen." 9
Ein (vermeintliches) Segment der neuen Regierungspolitik, "die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Deutschlands in der Welt" - d. h. konkret: die Revision des Versailler Vertrags - , wird isoliert, die Zustimmung zu diesem Punkt und die Bereitschaft zur Mitarbeit aber werden in einen Konditionalsatz verpackt. Dies ergibt eine semantische Kontaminierung von distanzierter Position einerseits und potentieller Kollaboration andererseits, was auf eine tiefgehende Unsicherheit schließen läßt. Eben diese Unsicherheit, dieses vorsichtige konditionale Abwägen sind die Punkte, die diesen Text von den nachfolgenden Legitimationstexten der Neusprachler unterscheiden. Die tatsächliche Intention, die Küchler mit diesem Text verfolgte, läßt sich nur unter Einbeziehung seiner persönlichen Situation im Mai 1933 rekonstruieren. Die nationalsozialistische Studentenschaft machte wegen seiner pazifistischliberalen Gesinnung gegen ihn Front und versuchte, ihn aus dem Amt zu drängen. 10 Vor dem Hintergrund dieser bedrohlichen Lage liegt es nahe, diesen Aufsatz als ein opportunistisches Ausweichmanöver, als den Versuch, sich etwas Luft zu verschaffen, zu interpretieren. Dies würde auch den eigentümlichen quasi-neutralen Diskurs erklären, mit dem Küchler sich auf den kleinsten gemeinsa-
8
Ib., S. 197.
9
Ib., S. 196.
10
Cf. Settekorn 1991. Küchler wurde am 29.9.1933 unter Bezug auf das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7.4.1933 entlassen.
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men Nenner von Nationalsozialismus (wie er ihn verstand) und Neuphilologie zu beschränken versuchte. Küchler registrierte Überschneidungen mit dem NSProgramm und stellte diese heraus, ohne seine Überzeugung allzusehr strapazieren zu müssen: Außenpolitik, Wiederaufstieg Deutschlands, Kulturpropaganda. Mühelos konnte in diese Argumentation sogar ein Satz aus einer Hitler-Rede vom 17. Mai 1933 (die sogenannte "Friedens"-Rede, gleichzeitig ein Hinweis auf Küchlers Aktualität) eingebaut werden, der einen versöhnlichen Aspekt enthält: Die Neusprachler sollten "im Sinne des Reichskanzlers mithelfen die unausbleiblichen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern auch in kritischen Zeitläuften 'der Sphäre jeder Leidenschaftlichkeit zu entziehen'" 11 .
Dieser Befund - das politisch naive Herausstellen von Gemeinsamkeiten ohne Selbstverleugnung - verweist umgekehrt auf die Effizienz des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats, denn die Nationalsozialisten propagierten gerade nicht einen radikalen Umsturz, sondern knüpften an quer durch die Bevölkerungsschichten positiv konnotierte Wertvorstellungen an. Durch das Eingehen auf solche Identifikationsangebote - wie es auch von Küchler demonstriert wird konnten andere ideologische Bestandteile, wie der rassistische Antisemitismus, dessen Radikalität man nicht wahrnahm oder wahrnehmen wollte, ignoriert oder verdrängt werden. Während für Küchlers Text eine Lesart vorgeschlagen werden konnte, die die Unsicherheiten und Ambivalenzen in den Mittelpunkt stellt, ist dies bei den nachfolgenden Ortsbestimmungen der Neusprachler kaum noch möglich. Im nächsten Heft der Neueren Sprachen versucht Hermann Heuer, zu diesem Zeitpunkt 29jähriger Dozent für Anglistik in Gießen, die "nationalen Gegenwartsaufgaben der Neuphilologie" zu bestimmen. Schon das Adjektiv im Titel läßt eine beobachtende Distanz hinter sich. Heuer stellt gar nicht erst die Frage, ob eine Mitarbeit der Neusprachler am "neuen Staat" erwünscht wird, eine mögliche Alternative, die eine solche Frage implizieren würde, wird nicht erwogen. Die Modalität der Sätze wird eindeutig: "Die Hochschule darf sich dieser nationalen Erziehungsarbeit des neuen Staates nicht verschließen" 12 .
11
Küchler 1933, S. 196.
12
Heuer 1933, S. 257. Heuers Artikel wird von einer Anmerkung der Herausgeber (Walther Küchler und Theodor Zeiger) begleitet: "In diesem und den folgenden Heften veröffentlichen wir zur Klärung des neusprachlichen Unterrichts auf Schule und Universität einige z.T. auf unsere Anregung eingegangenen Beiträge und bemerken ausdrücklich, daß die Herren Verfasser in allen Fällen auf eigene Verantwortung sprechen" (ib.). Dieser Satz war der endgültig letzte Distanzierungsversuch in dieser Zeitschrift.
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten Reich
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Als Basis der neusprachlichen Arbeit sieht Heuer den "Dienst am Deutschtum": "So müssen [sie!] auch wir Neuphilologen eine Art Gewissenserforschung anstellen, worin wir unsere Aufgaben am Neuaufbau der deutschen Kultur erblicken" 13 . Bei einer so definierten Aufgabenstellung ergaben sich für den Neusprachler zwangsläufig größere Legitimationsprobleme als für den Germanisten. Die Neuphilologen glaubten, ihre Kollaboration mit dem NS-Regime mit einschlägigen, ihre Existenzberechtigung nachweisenden Texten flankieren zu müssen, da die Verbindung von deutschnationaler Gesinnung einerseits und der eigentlichen Aufgabe - Vermittlung fremder Sprachen und Kulturen - andererseits als veritables Dilemma empfunden wurde. Heuer selbst weist auf die "Gefahren der Auslandsmanie und Überwestung" 14 hin, denen der Fremdsprachler ausgesetzt sei, wenn er die "rechte Fachgesinnung" vermissen lasse. Lösungsmöglichkeiten aus diesem Dilemma offeriert Heuer, indem er einige Aufgabenfelder benennt, auf denen sich die Neuphilologen im "neuen Staat" nützlich machen und so ihre "rechte Fachgesinnung" demonstrieren können. Dazu gehört das "Studium der politischen Ideologien des Fremdvolkes", denn: "Es ist nützlich, daß wir uns bei den anderen großen Nationen umsehen, aus welcher Art von nationaler Ethik sie ihr nach außen wirkendes Kraftstreben nähren" 15 . "Indem er solche Einsicht vermittelt, vor guten wie schlechten Vorurteilen warnt, findet der Neuphilologe seinen Platz im geistigen Haushalte der Nation. Er ist Künder des Fremden, Brückenbauer und Vermittler, aber aus unverfälschtem Artempfinden und einer inneren Wehrhaftigkeit der deutschen Seele heraus. Das bedeutet nicht notwendig unfruchtbare Abwehrstellung, sondern Bereitschaft zur Auseinandersetzung, keineswegs Isolierung oder vertrotzte Enge, sondern eine Achtung des Fremden, die aus der Selbstachtung erwächst. Auf dieser Grundlage läßt sich unsere unerläßliche Berufsbegeisterung mit einem treudeutschen Gewissen in Einklang bringen, ohne daß uns von der einen Seite - nicht selten aus sehr schätzenswerten, berechtigten Motiven - der Vorwurf einer gelehrten Untermauerung des Chauvinismus und von der anderen der des intellektuellen Verrats gemacht werden kann."16
Dieser Textabschnitt bringt noch einmal den inneren Zwiespalt zum Ausdruck, in dem die Neuphilologen sich befanden, die Spannung zwischen "treudeutschem Gewissen" (das nicht zur Diskussion stand) und dem Berufsethos des "Brückenbauers" und "Vermittlers". Daß es als prekär empfunden wurde, beides
13 14
Ib., S. 258. Ib., S. 260. Heuer zitiert als abschreckendes Beispiel Leo Spitzers (ohne diesen beim Namen zu nennen) Forderung, ein richtiger Romanist müsse eine Art "Surrogatromane" sein. Ib., S. 261. Ib., S. 262.
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miteinander vereinbaren zu müssen, zeigt Heuer, indem er die potentiellen Einwände gleich mitliefert und sogar positiv würdigt. Entsprechend konstruiert wirken die weiteren Aufgaben, die Heuer unter den genannten Prämissen für die Neusprachler ausfindig macht. So ergänzt er die Brücken-Metapher durch eine Wächter-Metapher, wenn er behauptet, der Neuphilologe "muß als Wächter an den Toren des Kulturaustausches auf seinem Posten stehen" 17 , er soll "minderwertige Kulturware des Auslandes" 18 abwehren. Läßt man sich auf die Metaphorik ein, ist dies wohl so zu verstehen, daß der Neuphilologe auf den imaginären Brücken zwischen den Kulturen sein Amt als eine Art Zöllner versieht und nach seinem Ermessen den Schlagbaum bedient 19 und zwar nach beiden Richtungen, denn auch bei der deutschen Kulturpropaganda, dem Kampf gegen die Vorurteile des Auslands gegenüber Deutschland und die "böswillige Greuelpropaganda gegen die nationale Erneuerung des deutschen Volkes" 20 kann sich der Neusprachler nützlich erweisen: "Wir wollen unsere Sprachbeherrschung und Auslandskenntnis restlos in den Dienst einer geduldigen und zähen Gegenaktion stellen" 21 . Schon aus diesen beiden Texten, den ersten Reaktionen der universitären Neuphilologie auf die nationalsozialistische Machtübernahme, wird hinreichend deutlich, daß die Vertreter der Fremdsprachen im NS-Staat zunächst aus einer Verteidigungsposition heraus argumentierten. Auf den Neuphilologen lastete ein subjektiv empfundener Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck, der sich aus dem unklaren Stellenwert der Fremdsprachen im nationalsozialistischen Bildungskonzept speiste. Legitimationstexte dieser Art finden sich allerdings ausschließlich in den didaktischen Zeitschriften, nicht jedoch in den eigentlichen Forschungsorganen der Hochschul-Philologien (ZrPh, RF, GRM etc.). Zwar beteiligten sich auch Hochschullehrer (wie Küchler und Heuer) an diesem Diskurs - Schule und Hochschule waren ohnehin noch eng miteinander verknüpft - , doch wurde das "Problem" vor allem für die Fremdsprachenlehrer an den Schulen virulent, weil deren Arbeit eng an amtliche Regelungen gekoppelt war.
17
ig
19
20 21
Ib. Ib., S. 263. Als Beispiel für minderwertige Kulturware nennt er La Fontaines Contes. "Was ein gesundes deutsches Kulturempfinden ausgeschlossen wissen will, das soll nicht auf Schleichwegen pseudowissenschaftlichen Schmuggelverkehrs unserer Aufmerksamkeit und unserem Zugriff entrinnen" (ib., S. 262). Ib., S. 264. Ib.
2. Neuere Fremdsprachen
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Der Bildungs- und Erziehungssektor war das entscheidende Feld für die nationalsozialistische Machtdurchsetzung, doch lag der Primat bei den "ideologierelevanten" Fächern wie Deutsch, Geschichte oder Biologie. Während die administrativen Maßnahmen auf dem Schulsektor (Richtlinien, Lehrpläne etc.) sich auf diese Fächer konzentrierten (die ersten Richtlinien für den Deutsch- und Geschichtsunterricht wurden noch 1933 erlassen), herrschte den Fremdsprachen gegenüber eine betonte Indifferenz vor. Weder gab es konkrete Maßgaben für Unterrichtsinhalte, noch wurde die Sprachenfolge an den Oberschulen geklärt der erste entsprechende Erlaß datiert erst von 1936 (zur endgültigen Schulreform siehe unten, Kap. 2.3.2.). Diese Unsicherheit über Zukunft und Status der Fremdsprachen im "neuen Staat", die durch vernichtende Äußerungen Hitlers in Mein Kampf angereichert wurde (er erklärte das Sprachen lernen schlicht für überflüssig), bewog die Neusprachler, in Eigeninitiative eine publizistische Kampagne in ihren Fachzeitschriften zu starten, um die Relevanz ihrer Fächer im nationalsozialistischen Erziehungssystem nachzuweisen. Selbstgewählte Aufgabe der Fremdsprachendidaktiker war es, "gegen führende Nationalsozialisten, und d. h. zuallererst gegen Hitler selbst, die von diesen in Abrede gestellte politische Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts für das NS-System selbst erst (zu) begründen und (zu) legitimieren" 22 .
Diese angestrengten Bemühungen schlugen sich vor allem im Zeitraum von 1933 bis 1936, also im Vorfeld der erwarteten Schulreform, in einer Fülle von Artikeln nieder, deren gemeinsamer Nenner sich mit "Der Sinn der Fremdsprachen im neuen Staat" bezeichnen läßt. Noch 1935 hielt es die Zeitschrift Die Neueren Sprachen für notwendig, Vertreter nicht-philologischer Berufe (Ingenieure, Diplomaten, Journalisten, Kaufleute etc.) zu Wort kommen zu lassen, um aus deren Sicht die Notwendigkeit des Fremdsprachenlernens zu begründen. Da die nationalsozialistische Schulpolitik den Schwerpunkt auf die deutschkundlichen Fächer legte, bestand die Argumentationsstrategie der meisten Autoren darin, die Relevanz der Fremdsprachen in einer Art Hilfsfunktion für die Deutschkunde zu suchen. Conditio sine qua non dieser Auffassung war - dies erwies sich bereits als Tenor der Texte von Küchler und Heuer - , daß die Beschäftigung mit fremden Sprachen und Kulturen nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in Dualität mit der "Deutschheit" geschehen soll. Bei dieser Argumentation kristallisieren sich drei Kernpunkte heraus:
22
Lehberger 1986, S. 64.
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1. Negative Abgrenzung vom "Fremdvolk"'. Dies vollzog sich in erster Linie als Reaktualisierung der in den zwanziger Jahren entwickelten - und bereits zitierten - "Folientheorie" der Kulturkunde: Erkenntnis des Deutschseins durch Erkenntnis des Fremden. Der Bildungs- und Erziehungswert der fremden Sprachen und Kulturen wurde nicht in diesen selbst gesehen, sondern "an der Gegensätzlichkeit soll unser Wissen um das eigene Volks-Ich gefördert werden. Nur durch die Rückbeziehung auf Deutschland erhalten gerade die fremden Volkswesen und Rassen ihre Berechtigung in einer deutschen Schule behandelt zu werden"23.
2. Positive Betrachtung des "Fremdvolks ": Die deutschkundliehe Relevanz des Fremdsprachenunterrichts lag nicht nur in der Abgrenzung und Bewußtmachung fremder Elemente. Insbesondere die politische Geschichte anderer Völker schien geeignet, Parallelen in der Bewältigung historischer Aufgaben aufzuzeigen, die sich einer Funktionalisierung als Vorbilder für nationalsozialistische Ziele anboten. Die Geschichte Frankreichs und Englands, so wurde argumentiert, könne uns lehren, "wie ein Volk politisch erzogen wird und zu Erfolgen kommt", etwa so: "Die systematischen Einigungsbestrebungen des französischen Volks, die über die Etappen Jeanne d'Arc, Louis XI., Henri IV., Richelieu zu dem imposanten Machtstaat Ludwigs XIV. führten, sind leicht fruchtbar zu machen für die Erkenntnis deutscher Notwendigkeiten, weil sie zeigen, wie ein anderes Volk in entscheidenden Wendepunkten seiner Geschichte Probleme gelöst hat, die auch uns Deutschen aufgegeben sind."24
Vorbildfunktion kam vor allem England zu, von dem die NS-Propaganda j a anfangs ein eher positives Bild vermitteln und insbesondere die "Rassegemeinschaft" herausstellen wollte. Anglisten taten sich bei ihrer Argumentation daher leichter als Romanisten. Die Leistungen des British Empire oder einzelner historischer Persönlichkeiten - bis hin zu Cromwell als "englischer Hitler" 25 - standen dabei im Mittelpunkt. Als Unterrichtslektüre war in diesem Sinn Abenteuerliteratur attraktiv, worin ein Held "sein Leben für sein Vaterland und sein Volk in die Schanze schlägt" 26 bzw. Menschen gezeigt werden, "die den Befehl ihres Blutes zur Ausführung brachten, Führer und Helden von Nationen" 27 .
23 24 25 26 27
Siebert 1935, S. 278. Schmidt 1933, S. 377. Ib., S. 379. Bohlen 1934, S. 9. Harlander 1936, S. 50. Dieser Text markiert insofern den Tiefpunkt der Debatte, als sein Autor den ganzen Horror des nationalsozialistischen Rassismus in die Fremd-
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten
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3. Funktionalisierung der Fremdsprachen für die deutsche da:
79 Auslandspropagan-
Die direkte Einbindung des Fremdsprachenunterrichts in die Regierungspolitik mit dem Ziel, die feindliche Propaganda zu korrigieren, war gleichfalls eine Reaktualisierung alter Forderungen, die nach dem Ersten Weltkrieg erhoben worden waren (cf. Lejeune, Kap. 1.2.1.). Die von Heuer postulierte "geduldige und zähe Gegenaktion" (siehe oben) sollte die angeblichen Vorurteile des Auslands gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland entkräften. Hierin erblickten die Neuphilologen eine konkrete staatstragende Aufgabe, die ihrer Legitimation entscheidende Impulse geben konnte: "Wir Neusprachler vertreten [...] ein außenpolitisches Amt" 28 . Alle drei genannten Argumentationspunkte belegen, daß die Legitimierung der neueren Fremdsprachen im Dritten Reich mit Konzepten arbeitete, die bereits in der Weimarer Republik entwickelt worden waren. Insbesondere die Kulturkunde in ihrer deutschnational-chauvinistischen Prägung der Nachkriegsphase erlebte eine geradezu militante Renaissance, da die Zielsetzung, die seinerzeit den Hintergrund bildete - Kampf gegen das "Versailler Diktat" und Wiederherstellung des deutschen Machtstaates - , nunmehr zur offiziellen Regierungspolitik avanciert war. Völlig zurecht wies einer der führenden Propagandisten der Kulturkunde daraufhin, daß "Nationalsozialismus wie Kulturkunde eine gemeinsame Wurzel im Kriegserlebnis des deutschen Volkes 1914-1918 besitzen" 29 . Aufgrund der konstatierten Unsicherheit der weiteren Entwicklung war der Status des "Offiziellen", "Amtlichen" ein entscheidender Index für die Argumentationsstrategie der einschlägigen Texte. Ein massiver Einbruch des expliziten Rassismus ist z. B. ab 1935, dem Jahr der Nürnberger Rassengesetze, zu verzeichnen.
Sprachendidaktik einbringt. So sieht er "Geschichtsbetrachtung auf rassenbiologischer Grundlage" als "Mittelpunkt künftiger Nationalerziehung" (ib., S. 31), betrachtet den Kampf gegen das "bolschewistisch verseuchte Untermenschentum" (ib., S. 65) als Ziel der "rassenpolitischen Erziehung" und rechtfertigt die "amerikanische Lynchjustiz gegen Neger" als "Rassenjustiz für ein Verbrechen an der weißen Rasse" (ib., S. 62). 28
Kißling 1936, S. 339.
29
Hartig 1934, S. 431.
80
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2.2.
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Romanistik
"Wenn wir heute, im sechsten Jahr der völkischen Erneuerung, Rückschau über die Aufgaben halten, die der deutschen Romanistik gesetzt sind, und die Kräfte, die am Werk sind, können wir mit Zuversicht der Zukunft entgegensehen." 30
Diese Einschätzung, 1939 vom Berliner Ordinarius Ernst Gamillscheg an exponierter Stelle31 geäußert, läßt vermuten, daß die Legitimation der Romanistik im Dritten Reich erfolgreich verlaufen ist. Dies ist um so bemerkenswerter, als der oben beschriebene Rechtfertigungs- und Legitimationszwang der Neuphilologen von der romanischen Philologie in besonderem Maße empfunden werden mußte, da ihr traditioneller Forschungsschwerpunkt Frankreich im nationalsozialistischen Wertesystem eindeutig negativ besetzt war. Auch wenn nach Gamillschegs Auffassung der Romanistik Aufgaben "gesetzt" waren, und damit eine passive Rolle suggeriert wird, werden Akteure, die an die Romanistik diese Aufgaben verteilt hätten, nicht benannt und sind in der Tat auch nicht ausfindig zu machen. Entgegen Gamillschegs Formulierung wurde der aktive Part, nämlich die Definierung dieser Aufgaben, von den Romanisten selbst übernommen. Vorrangiges Ziel war dabei, die Relevanz der romanischen Philologie für die "nationalen Aufgaben" nachzuweisen, dies um so mehr, als die Romanisten sich qua Amt mit nicht-germanischen Sprachen und Kulturen beschäftigen und bei ihren Plädoyers in eigener Sache somit ein zusätzliches Hindernis überwinden mußten. Gamillscheg wies geschickterweise gleich im ersten Satz seines Beitrags darauf hin, daß die Romanistik "auf deutschem Boden zur Wissenschaft geworden" sei32, und brachte damit die Fachgeschichte als ersten Bonus ein. Sein eigentliches Anliegen war jedoch, auf die Forderung hinzuweisen, die er selbst mit seiner dreibändigen Romania Germanica (1934-36) bereits in die Praxis umgesetzt hatte: den Anteil der Germanen an der Entstehung und Entwicklung der romanischen Sprachen herauszuarbeiten. Dies sei "heute eine besondere nationale Aufgabe", die der Romanistik "zufallt" (abermals Passiv!): "ihrerseits beizutragen zur Aufklärung der deutschen Frühgeschichte", das heißt, "die romanische Sprachwissenschaft muß in den Dienst der germanischen Volkstumsforschung
30
Gamillscheg 1939, S. 42.
31
Es handelt sich um eine Festgabe der "Deutschen Wissenschaft" zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers, der somit erster Adressat des Buches war, in dem für sämtliche Wissenschaftsdisziplinen jeweils von einem fuhrenden Vertreter die Aufgaben skizziert werden. Gamillscheg 1939, S. 41.
32
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten
Reich
81
treten" 33 . Gamillscheg plädiert somit für die "Romanistik als Hilfswissenschaft einer völkischen Germanistik" 34 . Es ist oben festgestellt worden, daß die Fremdsprachenlegitimation im Dritten Reich vor allem die kulturkundliche Folientheorie Wiederaufleben ließ. Dieser Befund betrifft vorwiegend die Texte, die sich den Fremdsprachen allgemein widmeten. Galt es eine bestimmte Sprache oder Kultur aufzuwerten, dominierte meist nicht eine auf Abgrenzung und Negativität zielende Argumentation, sondern die Suche nach positiv besetzten Ereignissen oder Persönlichkeiten, um diese für in Deutschland aktuelle Zielsetzungen und Wertvorstellungen zu instrumentalisieren. Auch die Romanisten waren nicht verlegen, selbst in Frankreich, der klassischen Abgrenzungs-Folie der Kulturkunde, lehrreiche und vorbildliche Aspekte ausfindig machen zu können. Eugen Lerch stellte 1933 in hochgemuter Stimmung das Rechtfertigungsproblem generell in Abrede: "In diesen Tagen, da das deutsche Volk sich auf seine Deutschheit besinnt, ist wohl mancher Lehrer der fremden Sprachen von Zweifeln bedrückt. Er zweifelt nicht nur am äußeren Bestand seiner erworbenen oder zu erwerbenden Stellung, sondern auch am Sinn seines Berufs. Doch niemals waren solche Zweifel weniger berechtigt als heute." 35
Er verweist auf die "Bedeutung des fremdsprachlichen Unterrichts für die politische Erziehung unserer Jugend", d. h. konkret: die "Aufgabe, deutsche Menschen zu einer Volksgemeinschaft zusammenzuschweißen" 36 . Dieses Vorhaben stoße deshalb auf Schwierigkeiten, weil, so Lerch, der Deutsche von Natur aus freiheitsliebend und Individualist sei. Da aber nun die Unterordnung unter die Volksgemeinschaft gefordert sei, könne er, der Deutsche, Einordnung und Unterordnung von Frankreich lernen, dessen kultureller Wert gerade in den großen Kollektivbewegungen liege. Solche Gedankenflüge implizieren auch konkrete Maßnahmen für den Lektüreunterricht: "Kein deutscher Schüler sollte die Schule verlassen, ohne den 'Cid' [sc. Corneilles] zu kennen, das Drama, dessen Held bereit ist, sein Eigenstes und Liebstes der überpersönlichen Idee der Ehre zu opfern. [...] Hier ist die Bedeutung eines französischen Dichters für die deutsche Erziehung mit Händen zu greifen." 37
Der selbstauferlegte Zwang, der eigenen Disziplin eine politische Bedeutung nachweisen zu müssen, um sie in den Dienst der "völkischen Erneuerung" stellen zu können, führte in diesen Texten zu einem Diskurs, an dem zu bemerken ist,
33
Ib., S. 42.
34
Kramer 1988, S. 75.
35
Lerch 1933, S. 193.
36
Ib.
37
Ib., S. 199.
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Thomas
Bräutigam
wie die in den zwei Jahrzehnten zuvor entwickelten Paradigmen, wonach Sprachund Literaturwissenschaft als nationale Wesenskunde praktiziert wurden (Lerch z. B. war ein führender Vertreter dieser Richtung; siehe oben, Anm. 29), nun reibungslos in eine Art Begleitforschung zugunsten der nationalsozialistischen Volkstumspropaganda mündeten. Eine pro-nationalsozialistische Argumentation fiel deshalb relativ leicht, weil es nicht erforderlich war, an der bisherigen neuphilologischen Praxis wesentliche Modifizierungen vorzunehmen. Wesenskunde und völkisches Ideologem waren zwar nicht identisch, fanden aber im gleichen semantischen Kontext statt, so daß es nur eines kleinen zusätzlichen Schrittes bedurfte. Gleichzeitig wird deutlich, daß Konzeption und Terminologie, wie sie in den Geisteswissenschaften der zwanziger Jahre angewandt wurden, eine gleichsam blendende Wirkung ausübten, die eine rationale Einschätzung der Ereignisse ab 1933 verhinderte. Zwei Aufsätze von Walter Mönch sollen etwas näher betrachtet werden, weil sie sich primär auf die universitäre Romanistik beziehen und zudem eine viel tiefer gehende philosophisch-geistesgeschichtliche Argumentation in die Waagschale werfen, um der Romanistik eine Funktion bei der nationalsozialistischen Machtausübung zuzuweisen. Dem ceterum censeo aller Legitimationstexte - nationalpolitische Bedeutung von Bildung und Wissenschaft - verleiht Mönch mit folgenden Worten Ausdruck: "Wie die gesamte nationalsozialistische Bewegung kein nach außen gerichteter politischer Imperialismus, sondern nach innen gekehrte Selbstbesinnung auf die eigentümlichen Werte unseres Volkstums mit dem Ziele ihrer freien Verwirklichung und Entfaltung in einem politisch fest gegründeten Reiche ist, so hat unsere deutsche Wissenschaft, jene Dienerin der Wahrheit und Hüterin der nationalen Tradition, die selbstverständliche Verpflichtung, an der Aufbauarbeit des Reiches an ihrer Stelle mitzuwirken, und das heißt für uns, sich im Sinne Wagners um die Wesensfindung des deutschen Menschen zu bemühen, damit die Wissenschaft ihrer altehrwürdigen, hohen Bestimmung der Erziehung zum deutschen Menschen gerecht werden kann
Ebenso wie bei Gamillscheg ("völkische Erneuerung") und Lerch ("Besinnung auf die Deutschheit") ist bei Mönch eine Fixierung auf die Traditions- und Volkstums-Elemente des Nationalsozialismus festzustellen und damit eine Reduzierung auf positiv konnotierte Bestandteile. Das Neue, Radikale, Offensive der NS-Machtausübung wurde nicht wahrgenommen bzw. verdrängt oder, wie bei Mönch der imperialistische Aspekt, bestritten. Auf der Basis dieser partiellen Wahrnehmung konnte sich die Wissenschaft in die eindimensional verstandene "nationalsozialistische Bewegung" integrieren. Das Spezifische von Mönchs
38
Mönch 1934, S. 474.
2. Neuere Fremdsprachen im Dritten Reich
83
Beitrag kommt zum Ausdruck, wenn er gleich im nächsten Satz auf Piaton rekurriert, weil auch dieser seine Aufgabe darin gesehen habe, die "Grundwerte des national-griechischen Daseins" herauszuarbeiten. Die Einbettung des Nationalsozialismus in große philosophiegeschichtliche Zusammenhänge (bei Mönch: Piaton - Fichte - Gegenwart) stellte für den Geisteswissenschaftler einen Kontext her, der seine Zustimmung wesentlich erleichterte. Dieses Verfahren findet bei Mönch auch auf das Verhältnis Deutschland - Frankreich Anwendung. Die Intention, eine "Theorie der Deutschen und Franzosen (zu) vermitteln" 39 , mündet in die Konstruktion einer Opposition von metaphysisch-deutscher Platonik und rationalistisch-französischer Aristotelik, die für ihn den Kern des immerwährenden, aus dem antiken Erbe herleitbaren deutschfranzösischen Gegensatzes ausmacht. Der Romanist, der den "Urgrund und Lebensstrom eines Volkes" aufsuchen muß, um aus den vielen Erscheinungen "die alles erklärende Einheit" 40 zu finden, leistet in der Vermittlung dieser Erkenntnis seinen Beitrag zur "Erziehung zum deutschen Menschen", denn der Deutsche muß sich gegen die "geistige und politische Bedrohung durch den schicksalshaft mit ihm verbundenen französischen Nachbarn" 4 1 schützen. In einem weiteren Text von 1936, veröffentlicht in einem Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, konkretisiert Mönch diese Behauptungen insofern, als es nun darum geht, die "Mißverständnisse", die in Frankreich über das nationalsozialistische Deutschland herrschten und die auf den konstatierten unterschiedlichen Wesenszügen beider Völker beruhten, auszuräumen. Hierin erblickt er eine weitere Aufgabe der Romanistik. Als tagesaktuelles Beispiel wählt er "das große Ereignis des 7. März 1936" (Einmarsch der deutschen Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland): Die von raison geprägten Franzosen seien nicht vom "Motiv der 'Vernunft', das sich durch alle Reden des deutschen Führers hindurchzieht" 42 , überzeugt worden, weil die deutsche Vernunft, "wie Hitler sie in seinen Reden und Taten anwendet", vom griechischen 'logos' geprägt sei, hinter dem ein höheres Gesetz, "vielleicht [...] ein göttlicher Wille" 4 3 steht. Der Höhepunkt ist damit jedoch noch nicht erreicht, vielmehr steigert sich Mönchs Gegensatz-Theorie exzessiv: "Was sich somit in dem politischen Wechselspiel zwischen Frankreich und Deutschland ausprägen muß, ist die oft ins Tragische sich auswirkende Spannung zwischen der romanischen Staatsraison und ihrer machiavellistischen Staatsmoral einerseits und
39
Ib., S. 470.
40
Ib., S. 479.
41
Ib., S. 476.
42
Mönch 1936, S. 538.
43
Ib., S. 539.
Thomas Bräutigam
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der germanisch-platonischen Idee der absolut bindenden und verpflichtenden Idee der Gerechtigkeit andererseits, die sich in einer anti-machiavellistischen Politik, Staatsund Volksfilhrung seit Friedrich dem Großen bis auf unsere Tage, deutschem Wesen entsprechend, ausdrückt." 44
Dieser Unterschied manifestiere sich auch in den "von führenden Staatsmännern des Auslands mißverstandenen Reden des deutschen Führers, des ausgeprägtesten Vertreters des germanischen Staatsethos" 45 . Somit erhebt sich Mönch in diesem Text gleich dreimal zum Anwalt der mißverstandenen Hitler-Reden. Aber er geht noch weiter. Seine Intention, die Kritik des Auslands am Dritten Reich als Mißverständnisse aufgrund der völkischen Wesensunterschiede zurückzuweisen, durchbricht auch die letzten ethischen Schranken: "Es möge ferner erkannt werden, daß von den großen Zusammenhängen der Zukunftsgestaltung Europas aus die 'Rassenfrage' nicht eine willkürliche Schikane gegen die Juden ist, sondern eine ernste, politisch sich auswirkende, wissenschaftliche Erkenntnis von den tiefen Urgründen einer schöpferischen, völkerumfassenden und -verbindenden Gemeinschaftskultur des arischen Europa, dessen Substanz es zu retten
•u ..46
gilt."
Damit hat der Versuch, der Romanistik im Dritten Reich eine staatspolitische Legitimation zu verschaffen, ein Stadium erreicht, das den bislang intendierten Dienst am deutschen Volkstum weit hinter sich läßt und auch nicht mehr nur mit partieller Wahrnehmung oder Mißverstehen des Nationalsozialismus zu erklären ist. Er ist umgeschlagen in eine offensive Apologetik mit allen Konsequenzen, einschließlich des antisemitischen Rassismus. Der direkte Appell an einen Adressaten - "das Ausland", hier speziell Frankreich - verleiht diesen Sätzen den Status eines offiziösen Propagandatextes. Mönchs Ausführungen markieren einen Extrempunkt und sind daher für die Gesamtcharakteristik einer Theorie der Romanistik im Dritten Reich nicht generalisierbar. Isoliert stehen sie gleichwohl nicht da, denn gemeinsamer Nenner der theoretischen Texte ist die Rolle des Romanisten als Mittler zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und seinen Bezugsländern, ein quasi-außenpolitisches Amt, das selbstredend nur mit entsprechender Gesinnung ausgeführt werden konnte, eine "zwischenstaatliche Aufgabe mit festem nationalen Standort" 47 , wie es Moldenhauer bündig formulierte. Essentielle Grundlage dieser "zwischenstaatlichen Aufgabe" war die Herausarbeitung der unterschiedlichen "Wesenszüge" und perennierenden "Charakterei-
44
Ib., S. 543.
45
Ib., S. 543 f.
46
Ib., S. 545.
47
Moldenhauer 1937, S. 100.
2. Neuere Fremdsprachen im Dritten Reich
85
genschaften" der romanischen Völker und ihre Kontrastierung mit Deutschland. Fritz Neubert sah den Kern romanistischer Arbeit darin, "die nationalen Sonderheiten der romanischen Literaturen mit allen erlaubten Mitteln moderner Methodik herauszuarbeiten" 48 und verwies auf Wechsslers Esprit und Geist als Vorbild. Die intendierte Mittler-Rolle der Romanistik wollte also nicht die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich überwinden, sondern sie bezweckte im Gegenteil die wissenschaftliche Verifizierung dieser Gegensätze, die zum Teil überhaupt erst von den Romanisten, wie die Mönchsche Plato-vs.-AristotelesOpposition demonstriert, mit einigem Aufwand inszeniert wurden. Dieser Befund betrifft nur die "Legitimationstexte", also diejenigen Versuche, den Standort der Romanistik im Dritten Reich theoretisch zu fixieren. Generelle Aussagen über das Fach Romanische Philologie in diesem Zeitraum sind daraus nicht ableitbar. Andererseits erlebte gerade der den deutsch-französischen Gegensatz kultivierende Theorie-Komplex seine konsequente Umsetzung in die Praxis in den Jahren ab 1940, als durch den Krieg mit Frankreich die Situation der Romanistik im NS-Staat eine nochmalige Zuspitzung erfuhr. Das Bekenntnis zur "Deutschheit" genügte nun vollends nicht mehr, vielmehr mußte die Relevanz der Romanistik sich auch unter den neuen militanten Bedingungen erweisen. Dies geschah im Rahmen des großangelegten interdisziplinären Projekts "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften", in dem die romanistische Sektion unter der Leitung von Fritz Neubert das Thema "Frankreich, sein Weltbild und Europa" bearbeitete. Seine Vollendung erlebte das Projekt nicht mehr, doch wurden u. a. folgende Monographien realisiert: Die Anglomanie in Frankreich (Brüch), Frankreich und
der Geist des Westfälischen Friedens (Heinermann), Deutschland-Bild und Lutherauffassung in Frankreich (Leube), Die französische Klassik und Europa (Neubert), Wille und Macht in drei Jahrzehnten französischer Schau (Wandruszka), Hegel und die Franzosen (Knoop), Voltaire und Friedrich der Große. Das Drama einer denkwürdigen Freundschaft (Mönch). 49 Auch eine Arbeit über das Verhältnis Frankreich - Spanien war geplant, gelangte jedoch nicht mehr zur Ausführung. Damit ist nun die für unser Thema entscheidende Frage berührt, wie sich die Hispanistik in diesen skizzierten Rahmen der Fremdsprachenphilologie und Romanistik einordnete.
48 49
Neubert 1938, S. 86. Cf. Brummer 1941; Neubert 1944; kritisch: Jehle 1994, S. 205 ff.
86
Thomas
2.3.
Bräutigam
Theorie der Hispanistik im Dritten Reich
2.3.1. Der Stellenwert des Spanischen Der Aufschwung, den die Spanienbewegung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erfuhr, hielt nicht unvermindert an, sondern geriet Ende der zwanziger Jahre in eine Phase der Stagnation. Dieser Befund betrifft sowohl die hispanistische Abteilung der Hochschul-Romanistik als auch den Spanisch-Unterricht an den Schulen, da beide Bereiche durch ein Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet sind: Eine Ausweitung des Spanisch-Unterrichts und seine Gleichstellung mit dem Englischen und Französischen hätte zwangsläufig eine entsprechende Ausstattung der Hochschul-Hispanistik zur Folge gehabt. Stattdessen kam das Schulfach Spanisch - von einigen Oberschulen Hamburgs und Bremens abgesehen über den Status eines "Zusatzunterrichts" mit in der Regel nur zwei Wochenstunden nicht hinaus. Die Gründe für diesen Mißerfolg lagen zum einen im Wiedererstarken der Französisch-Lobby, die das anfängliche Verdikt, Sprache und Kultur des "Erbfeindes" zu propagieren, gut überstanden hatte. Der Trend der zwanziger Jahre, Englisch zur ersten Fremdsprache zu machen, wurde 1931 in Preußen wieder zugunsten des Französischen gestoppt, eine Regelung, die auch von anderen Ländern übernommen wurde. Zum anderen - aber damit zusammenhängend - gelang es den Hispanophilen nicht, mit ihrem Anliegen bei der Administration, d. h. den Kultusbehörden der Länder, durchzudringen. In zeitgenössischen Selbsteinschätzungen wurde diese Lage nicht verschwiegen. So gab Gustav Haack, einer der rührigsten Spanisch-Propagandisten, auf dem Breslauer Neuphilologentag 1930 eine pessimistische Zustandsbeschreibung, die die Zeitschrift Iberica50 veröffentlichte. Er konstatierte in der Ausbreitung der Hispanistik "heute Stillstand, j a Rückschritt" und sah die Gefahr, daß "die ganze
50
Iberica, das vom Ibero-amerikanischen Institut Hamburg herausgegebene, einzige rein hispanistische deutschsprachige Organ, mußte 1927 - auch dies symptomatisch - das Erscheinen wegen Geldmangels einstellen. Der Versuch einer Wiederbelebung - zudem mit einer spanischsprachigen Parallelausgabe Colon - scheiterte nach einem Jahr. In diesem Jahrgang 1930 veröffentlichte der Herausgeber und Hamburger Institutsdirektor Großmann einen Artikel, der den Ausfuhrungen Haacks diametral entgegenläuft. Großmann schildert das Blühen und Gedeihen der deutschen Spanienbewegung, an deren Fortbestehen er aufgrund des hohen Organisationsgrades durch Institute und Vereine nicht zweifelt. Er stellt einen zügigen Ausbau der Hispanistik an den Hochschulen fest und behauptet, die deutschen höheren Schulen gingen daran, "ihre Schüler für den Daseinskampf mit dem Rüstzeug der spanischen Sprache auszustatten" (Großmann 1930, S. 8). Mit dieser militanten Formulierung wird der Diskurs der kommenden Jahre trefflich antizipiert.
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten Reich
87
Bewegung schließlich im Sande verläuft". Dies bezog er nicht nur auf den Schulunterricht, sondern auch auf die Universitäten, "wo in der letzten Zeit bei der Besetzung der romanistischen Professuren die stark hispanistisch orientierten Kanditaten haben zurücktreten müssen" 31 . Diese negative Einschätzung der Lage war auch 1933 - und darüber hinaus - noch gültig. In den Jahrgängen 1933 und 1934 der Fachzeitschriften ist eine hispanistische Reaktion auf die neuen Machtverhältnisse nicht zu finden. Texte von Neuphilologen und Romanisten, wie sie oben analysiert werden konnten, sind in ähnlicher Form von Hispanisten nicht geschrieben worden. Die wenigen Aufsätze, die sich in diesem Zeitraum mit dem Spanischunterricht beschäftigten, sind hingegen symptomatisch für die mittlerweile verbreitete Bescheidenheit der Spanischbefiirworter. Zwar wagte Gustav Haack abermals einen Vorstoß und schlug vor, Französisch auf der Oberstufe durch Spanisch zu ersetzen, doch erachtete er es für notwendig, seinen Text mit der eindringlichen Warnung vor einer Abschaffung des Spanischen auf der höheren Schule zu eröffnen. 52 Ein solcher Vernichtungsschlag wurde also, gleichsam als schwebendes Damoklesschwert, durchaus für möglich gehalten. Welch schweren Stand die Schul-Hispanistik hatte, zeigt die Tatsache, daß Haacks Forderung nach Ausbau des Spanischen sofort vehement widersprochen wurde. Kollege Johannes Klein (auch er ein Spanischlehrer!) bestritt die Gleichwertigkeit von Französisch und Spanisch, da "vom Standpunkt des völkischen Erziehungideals" das Spanische dem Französischen unterlegen sei: "Die spanische Kultur besitzt nicht dieselbe innere Geschlossenheit und Feinheit der Ausprägung, die die französische Kultur auszeichnet; denn das Bodenständige und Wesenseigentümliche ist in Spanien in den letzten Jahrzehnten zu oft von fremden Einflüssen überwuchert worden."53
Ein zweifellos originelles Statement, denn zu den zentralen Topoi der Spanischlobby gehörte gerade der Verweis auf die völkische Geschlossenheit und Bodenständigkeit! Klein hielt den bislang praktizierten spanischen Zusatzunterricht für ausreichend, denn das Spanische diene lediglich praktischen und nicht ideellen Zwecken: eine Begründung, die dem Argumentationsstand von 1914/18 entspricht. Im gleichen Jahr stellte er in einem anderen Artikel ohne Bitterkeit fest, daß das "hochgespannte Ziel" des Englisch- und Französischunterrichts "der
51 52 53
Haack 1930, S. 106. Haack 1934, S. 161. Klein 1934a, S. 198.
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spanische Unterricht bei der Randstellung, die er einnimmt, natürlich nicht erreic h e n " kann. 5 4 E s ist diese faktische Randstellung, die erklärt, warum a u f hispanistischer Seite die veränderte politische Konstellation zunächst kaum Resonanz fand und vernehmbare Appelle an die Administration zur Verbesserung der Lage ausblieben. In einer Situation, in der hinsichtlich der Zukunft der Fremdsprachen generell eine große Unsicherheit herrschte, erschienen ein Plädoyer für eine drittrangige Sprache und damit ein erneutes Entfachen der Spanisch-Debatte nicht opportun. Der Disput Klein vs. Haack zeigt, daß noch nicht einmal unter den Spanischlehrern selbst Einigkeit herrschte, wobei zu berücksichtigen ist, daß die meisten Spanischlehrer auch Französisch unterrichteten. Das Stigma der Irrelevanz bzw. die Indifferenz, der sich die Fremdsprachen ausgesetzt sahen, ließ auch für die spanische Sprache keinen Ausnahmestatus erkennen. Ebensowenig enthielten die politisch-ideologischen
Ideen der Nationalsozialisten, deren B l i c k eher nach
Norden und Osten gerichtet war, irgendeinen Hinweis a u f ein Sonderinteresse gerade an Spanien oder Lateinamerika. A u f ein solches Interesse mußte erst wieder "von unten" aufmerksam gemacht werden! Die ersten T e x t e , die in diese Richtung argumentierten, erschienen erst 1 9 3 5 . A u f dieses schließlich doch noch stattfindende "Wiederankurbeln" der Spanischdiskussion wirkten vor allem zwei Punkte begünstigend: 1. Die Zerschlagung der Länder, die 1 9 3 4 mit dem "Gesetz über den Neuaufbau des R e i c h s " abgeschlossen war. Die föderale Zersplitterung war als Haupthindernis fiir die Entwicklung des Spanischunterrichts gesehen worden, von einem reichseinheitlichen Vorgehen konnte nun ein entscheidender Durchbruch erwartet werden; 2.
Signale der Administration für eine Reform des Unterrichts und damit auch der sprachlichen Fächer, die in ministeriellen Reden und Verlautbarungen immer wieder in Aussicht gestellt, aber erst 1937/38 realisiert wurde. 1935
54
Klein 1934b, S. 4 4 7 . Zugunsten Kleins spricht, daß er trotz seines völkischen Standpunkts mit den Zeichen der Zeit noch nicht recht vertraut war. Dies zeigt seine Definition des "hochgespannten Ziels": "Der englische und französische Unterricht hat die Aufgabe, den Schüler in die fremde Geisteswelt einzuführen [...]. Sein letztes und höchstes Ziel ist die Erschließung des großen literarischen Kunstwerkes" (ib.). Ein krasser Widerspruch zu den Bestimmungen des Fremdsprachenunterrichts auf NS-Basis, die genau gegen diese autonome Betrachtung der Literatur opponierten! Höchstes Ziel war für sie die Herausarbeitung des fremden Volksgeistes in seiner Relation zur Deutschheit, das literarische Werk hierfür nur Mittel zum Zweck.
2. Neuere Fremdsprachen
im Dritten
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gab es endlich auch in offiziellen Äußerungen Andeutungen über eine mögliche Berücksichtigung des Spanischen bei dieser Reform. 55 Der erste Artikel, der die Legitimierungsphase der Hispanistik im Dritten Reich eröffnete, stellt die lakonische Titelfrage: "Warum sollten wir Spanisch lernen?" Schon diese aufs Elementare zielende Frage läßt den Schluß zu, daß die publizistische Propaganda für den Spanischunterricht 1935 wieder von vorne beginnen mußte. So zieht der Verfasser ein kritisches Resümee des bisherigen Hispanismus in Deutschland, verweist auf die Stagnation Ende der zwanziger Jahre und die nachfolgende Tatenlosigkeit, die ihn veranlaßt, "erneut darzulegen, warum unsere Jugend Spanisch lernen sollte" 56 . Damit wird einerseits die Erkenntnis von der Bedeutung der spanischen Sprache und Kultur immer noch als Desiderat behauptet, andererseits eingeräumt, daß bei der Wiederaufnahme der Hispanistikdebatte originelle Beiträge nicht vorgesehen sind, sondern die Argumente der zwanziger Jahre reaktualisiert werden sollen. Der Verfasser gibt selbst zu, daß seine Ausführungen "kaum etwas Neues bringen werden" 57 . In der Tat bietet sein Artikel nicht mehr als eine Komprimierung der Thesen, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg dominierten: Die geistigen Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und den iberischen Ländern werden betont, auf die weltwirtschaftliche Bedeutung dieser Länder als Absatzmärkte wird verwiesen, die traditionellen freundschaftlichen Beziehungen Spaniens zu Deutschland werden gewürdigt, aus Karl Vosslers Rede von 1922 wird zitiert, und der Hinweis auf die erfolgreiche Kulturpropaganda Frankreichs in Spanien, der es nachzueifern gelte, war bereits das Credo von Fritz Lejeunes Ausfuhrungen im Jahre 1919. Ein direkter Bezug zwischen diesen alten Argumenten und der neuen deutschen Wirklichkeit des Jahres 1935 ist nicht erkennbar, nur vom "schweren Gegenwartskampf' 5 8 Deutschlands ist die Rede, in dem die Bedeutung der spanisch-sprechenden Staaten nicht übersehen werden darf. Auf eine Neuerung jedoch wird hingewie-
55
Am 29.5.1935 gab das Reichserziehungsministerium einen ersten amtlichen Erlaß zum Thema Fremdsprachen als Wahlfach heraus, der zwar durchaus hoffnungsfroh stimmen konnte, aber doch wieder nur das regionale Interesse reklamierte: "Es hat sich als dringendes Bedürfnis herausgestellt, daß neben den beiden verpflichtenden modernen Fremdsprachen Englisch und Französisch in einzelnen Gebieten, besonders in den Grenzlandschaften und großen Städten, auch noch andere Fremdsprachen, wie Spanisch, Italienisch, Schwedisch, Dänisch, Russisch, Polnisch und gegebenenfalls auch Tschechisch erteilt werden. Italienisch und Spanisch werden natürlicherweise bevorzugt im Süden und in Hafenstädten, Russisch und Polnisch im Osten, Schwedisch und Dänisch im Norden gelehrt werden" (DEWV 1, 1935, S. 270).
56
Bock 1935, S. 98.
57
Ib.
58
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sen, weil sie der Realisierung des Vorhabens größere Chancen eröffnet als ehedem: "Falls im Rahmen der bevorstehenden Reform des höheren Schulwesens die Anregung, dem spanischen Unterricht einen breiteren Raum zu gewähren, berücksichtigt würde, so würde eine solche Maßnahme eine viel größere Tragweite haben, als es früher möglich gewesen wäre, da sie von der nunmehr für das ganze Reich zuständigen 59
zentralen Unterrichtsbehörde ausgeht."
Nicht eventuelle ideologische Affinitäten zwischen Hispanismus und Nationalsozialismus stehen in diesem Text im Mittelpunkt, sondern ein utilitaristisches Vorteilsdenken: Bei der Beantwortung der Titelfrage dominiert das ökonomische Rohstoff- und Absatzpotential der Bezugsländer, die Auswirkungen der veränderten politischen Konstellation erschöpfen sich darin, daß die Spanienbewegung von der Auflösung der Länderhoheit über das Bildungswesen profitieren könnte. Obendrein indizieren Konditionalsatz, Konjunktiv und eine gewisse semantische Zurückhaltung ("Anregung" statt "Forderung") abermals die Unsicherheit der Situation und die relative Bescheidenheit der Diskursteilnehmer. Im gleichen Jahr 1935 wird gleichwohl auch eine andere Tonart angeschlagen. Ernst Gerhard Jacob wird schon im Titel seines Aufsatzes, der die "Bedeutung der spanischen Sprache und Kultur für die nationalpolitische Erziehung" nachweisen will, wesentlich konkreter und offensiver. Zwar operiert auch Jacob mit dem alten Argumentationsrepertoire, doch stellt er einen direkten Bezug zwischen der Hinwendung zu Spanien und politischen Zielen des "neuen Deutschland" her. Der "nationalpolitische Erziehungswert" wird zum neuen Parameter, der den "Bildungswert" aus den zwanziger Jahren - ein Begriff, dem nun das Odium des bürgerlich-liberalen Idealismus anhaftet - ablöst: "In anderen Ländern hat man den nationalpolitischen Erziehungswert der spanischen Sprache und Kultur schon längst erkannt. Er liegt in der doppelten Richtung einer ungemein lehrreichen historischen Entwicklung und einer für Politik, Wirtschaft und Kultur gewaltigen Zukunftsmöglichkeit."60
Pädagogik und Erziehung waren Schlüsselsektoren der nationalsozialistischen Theorie und Praxis. Den "nationalpolitischen Erziehungswert" einer Sache, d. h. deren Fungibilität für nationalsozialistische Wertvorstellungen und Zielsetzungen nachweisen zu können, war daher ein entscheidender Schritt in der Legitimationsstrategie. Für die Hispanistik bedeutete dies eine nur geringfügige Akzentverschiebung im Vergleich zur Spaniendebatte der zwanziger Jahre. Was vordem als Ausdruck eines allgemeinen Krisensyndroms in der spanischen Kultur als Desiderat er59 60
Ib., S. 101. Jacob 1935, S. 386.
2. Neuere Fremdsprachen im Dritten Reich
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blickt wurde, schien seit 1933 in Deutschland selbst eingelöst zu werden, denn die Machtübertragung an die Nationalsozialisten war nicht zuletzt eine Reaktion, eine Antwort auf dieses Krisengefühl. Der Mythosbedarf (Tradition, Nationalstaat, völkische Einheit etc.), konnte nun wieder - so schien es - am heimischen Herd gedeckt werden. In zentralen Elementen der NS-Ideologie glaubte man ein Konzept zur Realisierung dessen zu erblicken, was von deutscher Seite an Wertvorstellungen und Sehnsüchten in Spanien hineinprojiziert worden war. Die Fragestellung "Was macht Spanien für Deutschland interessant?" konkretisierte sich zu: "Was macht Spanien für die nationalsozialistischen Zielsetzungen interessant?" und erhielt damit einen gleichsam offiziellen Charakter. Neben den erziehungs- und belehrungsrelevanten Aspekten des iberischen Raums, die gleichsam zur topischen Grundausstattung der Legitimationstexte gehören (Bild des edlen, tapferen und ritterlichen Volkes, Verweis auf die traditionelle deutschfreundliche Gesinnung der Spanier in einer allgemein deutschfeindlichen Zeit, Beispiel der "nationalen Wiedergeburt" nach 1898 etc.), rückt Jacob bezeichnenderweise die Kolonialfrage und den paniberischen Charakter des spanischen Weltreiches in den Mittelpunkt, den er besonders im dia de la raza zum Ausdruck gebracht sieht: "Spanien, die 'madre patria', umgeben von ihren Töchtern, die mit dem Blut der Mutter auch deren Sprache, Religion und Kultur ererbten und bis auf den heutigen Tag bewahrt haben - welch ein Bild von historischer Größe und weltweiten Zukunftsmöglichkeiten!" 61
Es sind weniger solche biologistischen Mutter-Tochter-Modelle an sich, die die Akzentverschiebung markieren, als vielmehr die Wertvorstellungen, die laut Jacob dieses "Bluterbe" transportiert: die Vornehmheit der Gesinnung, die Präferenz des Ideellen vor dem Materiellen, die "Herrennatur", die "glühende Vaterlandsliebe und der unerschütterliche Glaube an etwas Höheres auf der Welt, das unserem Leben erst einen Sinn gibt" 62 ; sodann der Verweis auf "einen Mann und eine Tat", worin sich diese Werte alle symbolisch verdichten: Columbus und seine Entdeckungsleistung. Der belehrende Aspekt, den das spanische Imperium für das deutsche Publikum der Gegenwart bereithält, wird nochmals explizit betont, zwar ohne detaillierte Ausführung, aber doch so, daß seine Anwendung für die nationalsozialistische Revisionspolitik und die Wiederherstellung des deutschen Großmachtstatus naheliegt: "Alles das [...] ist politisch, d. h. wirtschafts-, kultur- und vor allem auch rassenpolitisch so lehrreich und fördernd für eine Erweiterung des politischen Horizontes, daß man nur wünschen kann, daß wir Deutschen uns eingehend mit all diesen Fragen der
61
Ib., S. 391.
62
Ib.
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spanischen Welt beschäftigen, um so mehr als wir durch unsere unvergleichlichen Kulturleistungen selbst mitten in diese Welt gestellt sind. Wir sehen, daß die Bedeutung eines Studiums dieser Welt weit über das philologisch-literarische Gebiet hinausgeht und daher erst recht politischen Erziehungswert beanspruchen kann."63
Der letzte Satz benennt eine weitere, für die Legitimation der Hispanistik im Dritten Reich charakteristische Tendenz, die zwar auch schon in der Argumentation vor 1933 angelegt war, nun aber einen dominierenden Status erhält: Der historisch-politische Sektor ist dem literarisch-kulturellen nicht mehr nur gleichrangig, sondern bekommt den Vorrang. Dies demonstriert Jacob am Schluß seines Artikels besonders eindringlich, wenn er auf Portugal zu sprechen kommt. Hier fällt nicht ein einziges Wort über Camöes, Kernpunkt ist vielmehr die "politisch lehrreiche Parallele" 64 zwischen Deutschland und dem autoritären Staat in Portugal, wo sowohl Liberalismus und Marxismus als auch der Parteienstaat überwunden seien und in der Regierung das Führerprinzip herrsche. Oliveira Salazar, "der einfache Mann aus dem Volk", habe eine "Politik der Wahrheit, der nationalen Ehre und des Opfersinnes durchgesetzt" und "seinem Volke den Glauben an seine eigene Kraft" 65 wiedergegeben. Betont wird auch hier der koloniale Aspekt und seine potentielle Funktionalisierung für deutsche Interessen: "Sehr lehrreich ist gerade für uns Deutsche die Tatsache, daß in dem nationalen Wiederaufbauplan Portugals an erster Stelle mit das koloniale Programm [...] steht."66
Zu diesem Zeitpunkt eignete sich nur Portugal als Modell für den autoritären Staat, denn das republikanische Spanien von 1935 verweigerte sich Identifikationen dieser Art. Aber das sollte sich nur allzu rasch ändern.
2.3.2. Schulreform und Spanischunterricht Die beiden zitierten Aufsätze von Bock und Jacob sind die einzigen Texte, die sich als gezielter Versuch, der Hispanistik im Dritten Reich eine neue bzw. erneuerte Legitimation zu verschaffen, präsentieren. Besonders auffallend ist, daß sich die Hochschul-Hispanisten theoretischer Äußerungen zum Stellenwert des Spanischen im nationalsozialistischen Staat enthielten. Es war sogar umgekehrt so, daß die Romanisten von offizieller Seite - in einem Erlaß des Reichserzie-
63 64 65 66
lb. Ib., S. 393. Ib., S. 394. Ib. Für Kolonialfragen war Jacob ausgewiesener Experte. 1934 veröffentlichte er den mit einem Vorwort von Ernesto Quesada versehenen Band Deutschlands Recht auf Kolonien. Spanische und portugiesische Stimmen zur Kolonialfrage.
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im Dritten
Reich
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hungsministeriums vom 22.3.1937 - gebeten wurden, die Ibero-Romania in der Lehre besonders zu berücksichtigen. 67 Die Spanischlehrer äußerten sich erst wieder als Reaktion auf die 1936 bis 1938 in mehreren Erlassen eingeführte reichseinheitliche Neuordnung des höheren Schulwesens, die auch die Situation der Fremdsprachen an den Oberschulen klärte. Diese Reform brachte eine große Aufwertung des Englischen und eine ebenso große Abwertung des Französischen mit sich und knüpfte damit an Bestrebungen der zwanziger Jahre an, die 1931 durch die Wiedereinführung von Französisch als erster Fremdsprache lediglich unterbrochen worden waren. Für das Spanische hingegen verbesserte sich die Lage nur unwesentlich. Englisch wurde allgemein (mit Ausnahme des altsprachlichen Gymnasiums) erste Fremdsprache (insgesamt sogar mit mehr Wochenstunden als Deutsch), Latein zweite (auch dies bedeutete eine Aufwertung). Die dritte Fremdsprache, die überhaupt nur für den sprachlichen Zweig in Frage kam, realisierte sich lediglich als "Arbeitsgemeinschaft" mit je drei Wochenstunden in den letzten drei Schuljahren (die 9. Klasse wurde im übrigen ganz abgeschafft). Hier mußten sich die Schüler zwischen Französisch oder Spanisch oder Italienisch (oder evtl. einer anderen Sprache) entscheiden. Das heißt, daß Spanisch zwar mit Französisch gleichgestellt wurde, bei der enormen Rückstufung des Französischen dies jedoch keine Verbesserung bedeutete gegenüber dem Spanischunterricht, wie er sich in den zwanziger Jahren entwickelt hatte. Für die Spanisch-Hochburgen Hamburg und Bremen, wo es Schulen mit Spanisch als zweiter Fremdsprache gab, war die Reform sogar ein eindeutiger Rückschlag. 68
67
"Die Erkenntnis, daß den 22 Staaten spanischer und portugiesischer Zunge mit ihren fast 150 Millionen Bewohnern bereits in der Gegenwart und - angesichts des raschen Anwachsens der Bevölkerung der süd- und mittelamerikanischen Länder - insbesondere für die Zukunft im politischen und kulturellen Weltgeschehen besondere Bedeutung zukommt, hat sich in den letzten Jahren immer stärker Bahn gebrochen. Vor allem ist erkannt worden, daß die Pflege und der Ausbau der Gesamtbeziehungen Deutschlands zu dieser großen Staatengruppe für das deutsche Volk und seine wirtschaftliche Entwicklung von hohem Wert sind. Eine wesentliche Förderung dieser wichtigen Bestrebungen würde es bedeuten, wenn den Studierenden mehr als bisher Gelegenheit geboten wird, die geschichtlich-kulturelle Entwicklung der vorwärtsstrebenden Länder des ibero-amerikanischen Kulturkreises kennenzulernen. Ich ersuche daher die in Frage kommenden Hochschullehrer, den ibero-romanischen Sprachkreis (Portugiesisch und Portugalkunde, Spanisch und Spanienkunde sowie IberoAmerikakunde) im Rahmen der Romanistik in Vorlesungen und Übungen vorzugsweise zu pflegen." (DEWV 3, 1937, S. 186).
68
In Hamburg ist Spanisch 1936 sogar im nur dort existierenden "Oberbau" der Volksschulen (wo ein der mittleren Reife entsprechender Abschluß erzielt werden konnte)
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Thomas
Bräutigam
Der offizielle Fächer-Lehrplan, der diese dritte Fremdsprache mit 20 Zeilen abspeist, belegt deren geringen Stellenwert. Der einzige Satz, der sich speziell auf das Spanische bezieht, besagt lediglich, daß im Spanischuntericht Südamerika zu berücksichtigen sei, wie überhaupt der dritten Fremdsprache in dieser reduzierten Form eine Art Experimentcharakter beigemessen wurde: "Ausführliche Anweisungen werden erst ergehen, wenn ausreichende Erfahrungen über diesen Unterricht vorliegen" 69 . Aus diesem Satz geht hervor, daß die Spanischlehrer und Fachdidaktiker ohne offizielle Vorgaben bezüglich der Unterrichtsinhalte an die Arbeit geschickt wurden, im krassen Gegensatz zu ihren Kollegen der Fächer Deutsch und Englisch, die man seitenlang mit detaillierten nationalsozialistischen Erziehungszielen instruierte. Die Gelegenheit, einen Spanischunterricht nach ihren individuellen Vorstellungen, abseits einer nationalpolitischen Indoktrination zu gestalten, sahen die Spanischlehrer bzw. Theoretiker des Spanischunterrichts in diesem Mangel an Instruktionen freilich nicht. Die fehlenden ministeriellen Anweisungen zur Gestaltung des Spanischunterrichts im nationalsozialistischen Sinn wurden nämlich von den Lehrern in ihren Fachzeitschriften selbst nachgereicht. So konstatierte die Berliner Studienrätin Gertrud Wacker zwar die "bescheidenen Ziele", die sich aus dem geringen Umfang des Spanischunterrichts ergeben würden, der Vermittlung des "nationalen Bildungswertes" tue dies jedoch keinen Abbruch: "Es ergibt sich zwanglos [sie!] die Frage nach der rassischen Zusammensetzung des spanischen Volkes. Recht früh führen Schilderungen der Heldenkämpfe und des Heldensterbens in Sagunt und Numantia zu deutlicher Veranschaulichung alten iberischen Volkstums, das, wie die jüngste Geschichte zeigt, auch dem heutigen Spaniertum seinen Stempel aufdrückt. Die Geschichte keines Volkes kann so klar wie des spanischen die Wahrheit zur Anschauung bringen, daß echtes Volkstum die Jahrhunderte und allen Zustrom fremden Blutes und fremder Geisteshaltung sieghaft überwindet und sich selbst treu zu bleiben imstande ist."70
Die gleichen Gemeinplätze, die schon die früheren spanienkundlichen Texte durchwalten, erfüllen auch hier ihre Funktion: die Vorstellung von einem geschlossenen, autochthonen und bruchlos durch die Jahrhunderte verlaufenden Wesen der spanischen Geschichte und Kultur, das zu keinem Zeitpunkt von frem-
69
70
eingefuhrt worden, was von der Schulreform allerdings nicht berührt wurde (cf. Voigt 1986). Erziehung 1938, S. 230. Realisiert wurde diese Ankündigung nicht mehr. Bis die Sprachenfolge einheitlich in der vorgesehenen Form praktiziert werden konnte, dauerte es mehrere Jahre, in denen Übergangsregelungen galten. Wacker 1939, S. 288.
2. Neuere Fremdsprachen
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den Einflüssen angekränkelt wurde und aufgrund dieser Eigenschaften als ideales Pendant zur deutschen Volkstumsideologie propagiert werden konnte. Die Akzentverlagerung gegenüber den älteren Texten besteht in der rassistischen Anreicherung und entsprechenden Zuspitzung der Formulierungen. 1939 war endlich auch das "heutige Spaniertum" funktionalisierbar. Hatte Herr Jacob 1935 noch auf Portugal ausweichen müssen, so konnte Frau Wacker nun auch spanische Gegenwart und historische Tradition didaktisch geschickt miteinander verbinden: "Von historischen Höhepunkten des spanischen Volkes muß der Schüler vor allem mit der Zeit der sogenannten 'Katholischen Könige' bekannt gemacht werden, die den Gedanken der Einheit Spaniens zuerst geformt und tätig in Angriff genommen hat. Nicht umsonst trägt die spanische Falange die fünf Pfeile und das Joch, die Symbole Ferdinands und Isabellas, als ihr Abzeichen und verankert damit bewußt ihre neuzeitlichen Bestrebungen in altspanischer Überlieferung."71
Auch die weiteren Höhepunkte spanischer Geschichte, die hier einer fachdidaktischen Würdigung unterzogen werden, sind in ihrer Funktionalität für das deutsche Publikum aus früheren Texten bekannt, so etwa der Aufstand gegen Napoleon oder der nationale Wiederaufstieg nach 1898, auf den allerdings bei Frau Wacker ein gewaltiger Schatten fällt. Führende Vertreter der 98er-Generation hätten nämlich dazu beigetragen, "weite Kreise in Spanien dem Bolschewismus in die Arme zu treiben", dieser Themenbereich sei daher nur bei "ganz gereiften tüchtigen Schülern" anzusprechen. 72 Johannes Kühn, der - von der Grammatik bis zur Lektüre - den ausfuhrlichsten Vorschlag für einen Lehrplan des Spanischunterrichts unterbreitet, notiert unter dem Gesichtspunkt "Nationalpolitische Aufgaben": "Für die Festigung der nationalsozialistischen Weltanschauung des Schülers würde vielleicht die Beschäftigung mit dem spanischen Volkstum den größten Gewinn bringen, wenn am Aufstieg zum spanischen Weltreich und an dessen Niedergang die Richtigkeit der nationalsozialistischen Anschauungen von Völkerleben und Völkertod aufgezeigt würde. [...] Die Zeit der Reconquista weckt Vaterlandsliebe, Rassenstolz und übt rassische Auslese und schafft so die Vorbedingungen für den Aufstieg - zuletzt vor allem durch die politische Einigung von ganz Spanien."73
Bis zu diesem Punkt läßt sich die spanische Geschichte als Vorbild vermitteln, etwa unter der Leitfrage: Welche Voraussetzungen braucht eine Nation für den Aufstieg zur Weltmacht? Der "Abstieg" ist dann als negative Folie zu demonstrieren unter dem Gesichtspunkt: Welche Fehler sind zur Erhaltung des Weltmachtstatus zu vermeiden?:
71 72 73
Ib., S. 289. Ib. Kühn 1939, S. 294.
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"Der Versuch, ein überstaatliches Weltreich zu gründen, muß trotz der wertvollen Hilfe der Kirche mißlingen, da die Grundsätze des Völkerlebens und der Völkerfreiheit mißachtet werden. - Die durch die Kolonisation hervorgerufene Bevölkerungsarmut des Landes, die Verkümmerung des Bauernstandes, das Einströmen des nicht durch echte Arbeit erworbenen Goldes, der Mangel an Führerpersönlichkeiten, namentlich bei den Bourbonen, sowie Parteihader (Karlistenkriege) führen zum Niedergang (1898). " 74
In einer solchen Interpretation historischer Abläufe können scheinbar mühelos zentrale Bestandteile des nationalsozialistischen Ideenguts in ihrer j e positiven bzw. negativen Besetzung untergebracht und im Unterricht abgerufen werden: Sozialdarwinismus (Völkerleben und -tod), Rassenlehre, Bevölkerungspolitik, Bauerntum, "schaffendes" vs. "raffendes" Kapital, Fremdherrschaft, Führerprinzip, Parteienstreit. Ein solches didaktisches Konzept näherte die Vermittlung der spanischen Geschichte im Spanischunterricht an das Niveau des Geschichtsunterrichts im Dritten Reich an: "Indienstnahme von Geschichte als politisches Instrument zur Legitimation des Regimes" 75 . Genau besehen eignete sich die spanische Geschichte für eine solche Instrumentalisierung sogar noch besser als die deutsche. Angesichts der von partikularer Zersplitterung geprägten deutschen Geschichte mußten hier, vor allem was den Mythos von der "Volksgemeinschaft" anging, vorwiegend Defizite thematisiert werden, vor deren Hintergrund sich dann das "Dritte Reich" (auch die "Reichs"Idee steht in dieser Funktion) als große Überwindung und Vollendung abhob. Diese "Lösung der deutschen Frage" bezog ihre Legitimation unter anderem aus dem Kontrast mit dem unter diesem Aspekt positiven Geschichtsverlauf anderer Nationen. 7 6 Der Festigung der "nationalsozialistischen Weltanschauung" des Schülers konnte die glorreiche spanische Vergangenheit daher insofern dienen, als auf sie die gleichen Kategorien anwendbar waren, die auch den Wiederaufstieg Deutsch-
74
Ib.
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Gies 1989, S. 43.
76
Im offiziellen Lehrplan fiir den Geschichtsunterricht sind, wenn auch ohne Nennung Spaniens, dieser Kontrast und die daraus abzuleitenden Folgerungen eigens angeführt: "Die Lage Deutschlands inmitten Europas, ohne natürliche Grenzen, die völlige Auflösung des Reichs in Kleinstaaten als Folge der religiösen Kämpfe und demgegenüber die nationale Einigung Frankreichs und Englands, die Gründung ihrer Kolonialreiche in der Zeit der deutschen Ohnmacht, das Mißverhältnis zwischen dem völkischen Wert des deutschen Volkes und seiner politischen Geltung, die ungleiche Verteilung der Lebensräume im Verhältnis zu geschlossener Volkszahl und kultureller Weltleistung fuhren hin zu der Forderung eines Höchstmaßes der Hingabe des Einzelnen an das Ganze unter einer einheitlichen und starken Reichsfiihrung als Voraussetzung einer befriedigenden Lösung der deutschen Frage" (Erziehung 1938, S. 75).
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lands ideologisch markierten. Vom "Bluterbe" des "iberischen Volkstums" über die Reconquista als Rückeroberung besetzter Gebiete und Vollendung der nationalen Einheit durch Führerpersönlichkeiten bis zur Errichtung des Weltreichs, der Eroberung neuer Räume, schien bei einer solchen, von allen epochenspezifischen Besonderheiten emanzipierten Betrachtung an Parallelen kein Mangel zu sein. Das Jahr 1898 war dabei das warnende Fanal, hielt indirekt aber eine Rezeptur zur Fehlervermeidung bereit. Der Aufstand von 1936 bedeutete hingegen die Wiederanknüpfung an das heroische Zeitalter. Zum Spanischen Bürgerkrieg ließen sich darüber hinaus mühelos aktuelle Bezüge herstellen, die zudem einen der Kernbereiche nationalsozialistischer Theorie und Praxis betrafen: den Kampf gegen den "Bolschewismus". Insbesondere die nach der Schulreform neu herausgebrachten Spanisch-Lehrbücher reagierten auf den als "nationale Erhebung" rezipierten Bürgerkrieg. Bis zu dieser Reform stellten die Lehr- und Lesebücher für den auf "nationalpolitische Erziehung" ausgerichteten Unterricht insofern ein Problem dar, als nach dem "Einfrieren" des Spanischunterrichts Ende der zwanziger Jahre auch die bis dahin florierende Produktion von Lehrbüchern zum Erliegen gekommen war. Nach 1933 warteten die Verlage mit Neuausgaben bis zur endgültigen Schulreform, so daß auch 1938 noch mit Werken aus der Weimarer Republik gearbeitet werden mußte. Da die seinerzeitigen kulturkundlichen Prämissen auch nach 1933 Gültigkeit hatten, war dies ohne Schwierigkeiten möglich, auch wenn 1939 explizit daraufhingewiesen wurde, daß von diesen Publikationen nur diejenigen berücksichtigt werden sollten, die "unserer nationalsozialistischen Ausrichtung entsprechen" 77 . 1938, in direkter Reaktion auf die Reform, erschienen die ersten neuen Schulbücher fiir den Spanischunterricht. Obwohl es, wie erwähnt, einen offiziellen Lehrplan für dieses Fach nicht gab, war für die Verfasser und Verleger ein direkter Bezug zu den nationalsozialistischen Erziehungszielen selbstverständlich, auch hier ist somit eine Anpassung von "unten" zu verzeichnen. Welche Gesichtspunkte hierbei entscheidend waren, ist dem Vorwort des bei Diesterweg erschienenen Lehrbuchs zu entnehmen, das zum Standardwerk für den Spanischunterricht im Dritten Reich avancierte: "Inhaltlich sind sie [sc. die Texte der Lektionen] auf Dinge eingestellt, die unsere heutige Jugend fesseln werden: spanisches Jugendlager, Fliegergeschichte aus der spanischen Erhebung, Bericht über die Olympiade, verschiedene Sportberichte aus Zeitungen, Kulturbilder aus Spanien, Stierkampf usw. Chronologisch geordnete Bilder aus der Geschichte geben einen Einblick in den rassenmäßigen Aufbau und die Entwicklung des spanischen Volkes. Von großen Persönlichkeiten sind vor allem der 77
Rosette 1939, S. 131.
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Cid, Cortés und Bolívar herausgestellt, von sonstigen geschichtlichen Höhepunkten 78
die Erhebung gegen Napoleon und die Befreiung des Alcázars von Toledo." Krieg und Sport, Führerpersönlichkeiten und heroische Taten: Ein solches didaktisches Konzept profilierte den Spanischunterricht zu einer Art geistiger Wehrsportkunde, wofür der Spanische Bürgerkrieg vor allem durch seine klare Freund-Feind-Differenzierung den idealen Stoff lieferte. Der Verweis auf die Attraktivität von Militarismus und Heldentum für die "heutige Jugend" signalisiert die reibungslose Anpassung an das nationalsozialistische
(Um-)Erzie-
hungsprogramm, das die Indoktrinierung durch Verknüpfung mit jugendspezifischen Interessen erst wirksam machte. Der Krieg in Spanien und die Etablierung des franquistischen Regimes verhalfen dem Spanischunterricht zu aktuellen und nationalpolitisch besonders wertvollen Themen, die auch von keinem Lehrbuch ausgelassen wurden. D i e Falange-Hymne Cara al sol z. B. gehörte zu den obligatorischen Texten. 1941 erschien schließlich ein Lesebuch, das sich mit einer sogenannten "geopolitischen Textauswahl" 7 9 gänzlich auf Franco-Spanien konzentrierte. Eine erste Bestandsaufnahme nach drei Jahren konnte eine positive Bilanz des neuen Spanischunterrichts ziehen. Für dessen Legitimation schien nun, aus aktuellem Anlaß, endgültig gesorgt zu sein: "Es ist nicht wie früher der sprachlich-kulturelle Gesichtspunkt, der schwer ins Gewicht fällt. Wir brauchen spanischen Unterricht in den höheren Schulen, um einen Teil unserer Jungen und Mädchen das Werden und Wachsen des autoritären Staates jenseits der Pyrenäen möglichst unmittelbar miterleben und nacherleben zu lassen. Die Politik unseres Volkes und Spaniens politische Entwicklung sind dabei der Leitfaden, dem sich alles unterordnet." 80
78 79
80
Schütt/Bosse 1938, S. III. Stoye/Berger 1941, S.III. Rosette 1941, S. 82. Der Verfasser, Lehrer an der Paulsen-Schule in Berlin-Steglitz, gibt einen interessanten Einblick in die Motive, die die Schüler bei der Wahl des Spanischen leiteten: "Fragt man die Jungen der neuen spanischen Arbeitsgemeinschaften über den Grund, weshalb sie gerade Spanisch und nicht Französisch wählen, so sind die Beweggründe vorwiegend: Spanien ist doch ein so schönes Land! Spanisch hat sicher eine große Zukunft! Der oft maßgebende elterliche Gesichtspunkt ist die zunehmende Bedeutung Südamerikas und die wachsende Stellung des Spanischen als Handelssprache. Im Jahre 1939 wurden viele Schüler durch die Erzählungen und Berichte der Legion Condor so begeistert, daß sie sich für das Spanische entschieden. Ein häufiger Beweggrund bei den Schülern der jüngsten Jahrgänge der Klassen 6 ist die vielfach völlig ablehnende Haltung der Jugend dem Französischen gegenüber. Sie weisen die Beschäftigung mit der Sprache und Kultur eines 'abgetanen' Volkes zurück. Im Spanier sieht die Jugend weniger den Deutschenfreund als ein aufstrebendes, zukunftsfreudiges, mit viel Romantik umgebenes Volk. Gleichzeitig rückt das Interesse an Südamerika durch die Kriegsereignisse, Nachkriegsaussichten u. dgl. immer
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An dem vergleichsweise bescheidenen Status des Spanischunterrichts auf der höheren Schule änderte sich trotz solcher aktueller inhaltlicher Aufwertungen freilich nichts mehr. Der suggerierte Gleichlauf von NS- und Franco-Staat war ohnehin nicht das entscheidende Kriterium. Die theoretische Legitimation der Hispanistik im Dritten Reich, die aufgrund der Randstellung, die das Spanische auch nach 1933 einnahm, nur zögerlich in Gang gesetzt wurde und sich dann auf das Schulfach Spanisch konzentrierte, lehnte sich vielmehr eng an den Diskurs der Spanienkunde aus den zwanziger Jahren an. Diese Reaktualisierung alter Begriindungszusammenhänge beruht zum einen darauf, daß die Spanischbefurworter aus einer Position des Neuanfangs heraus erst wieder auf ihr Anliegen aufmerksam machen mußten, zum anderen, daß die alten Argumentationsbestände mühelos in den nationalsozialistischen Kontext integriert werden konnten.
stärker in den Vordergrund" (ib., S. 86). Jenseits aller fachdidaktischen Legitimationsdiskurse erweist sich 1941 - nicht viel anders als 1919 - der praktische Nutzen des Spanischen als Handelssprache, verbunden mit der auch schon 1919 gehegten Hoffnung auf eine zunehmende Relevanz in der Zukunft, als das für die "Basis" immer noch wichtigste Kriterium. Legion Condor und Romantik erscheinen hier allenfalls als drapierende Zusätze, die spanisch-deutsche Wesensverwandtschaft spielt überhaupt keine Rolle.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung 3.
101
HISPANISTIK IN DEUTSCHLAND 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . EINFÜHRENDER ÜBERBLICK
3.1.
Institutionelle und personelle Ausstattung
3.1.1. Hispanistik als Teildisziplin der Romanischen Philologie Das vorangegangene Kapitel, das sich den Standortbestimmungen und Legitimationsversuchen von Romanistik und Hispanistik im Dritten Reich widmete, ergab einige Unterschiede zwischen den Texten, die sich mit der Romania allgemein und solchen, die sich mit der Ibero-Romania speziell beschäftigten. Die allgemein-romanistische Legitimation fand wesentlich unter Beteiligung der Hochschullehrer statt und war hauptsächlich auf das Fach "Romanische Philologie" zugeschnitten, auch wenn diese Texte in den didaktischen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Anmerkungen zum Französisch-Unterricht kamen nur gelegentlich vor (z. B. bei Lerch). Die hispanistische Legitimation war demgegenüber primär mit der Frage des Spanischunterrichts verknüpft und daher eine Angelegenheit der Spanischlehrer. Hochschul-Romanisten äußerten sich zu diesem Thema nicht. Die Spanien-Debatte der zwanziger Jahre, die mit Vossler, Curtius und Klemperer hochkarätig besetzt war, wurde somit nicht fortgeführt oder neu entfacht. Mit diesem Befund korrespondiert die Feststellung, daß die Romanistik-Texte sich auf Französisch konzentrierten und Spanisch oder Italienisch allenfalls streiften. Dies hängt damit zusammen, daß für den Gegenstand "Französisch" nach wie vor unangefochten Studien- und Forschungsschwerpunkt der Disziplin - im Dritten Reich ein erhöhter Legitimationsbedarf angenommen wurde. Ein Ausweichen auf Spanisch, also eine Verlagerung des Schwerpunkts, wie es in manchen Texten nach dem Ersten Weltkrieg erwogen wurde, stand nach 1932 nicht zur Debatte. Stattdessen wurde versucht, dem Französischen eine Funktion innerhalb des neuen politischen Rahmens zuzuweisen. Während Spanien in Deutschland traditionell positiv besetzt war, erzeugte das negative Image Frankreichs, das im NS-Staat erneut kultiviert wurde, unter den Romanisten einen Rechtfertigungs- und Legitimationsdruck, der jedoch nicht dazu führte, dieses negative Image zu überwinden - dies hätte eine Argumentation "gegen den Strom" erfordert - , sondern, in einer opportunistischen Reaktion, dem eigenen Fach die Funktion zuwies, den konstatierten deutsch-französischen Gegensatz wissenschaftlich zu untermauern (dies bezieht sich notabene nur auf die Legitimationstexte, nicht auf die romanistische Praxis in Lehre und Forschung insgesamt !).
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Der Hispanistik stellte sich dieses "Problem" in dieser Form nicht. Darüber hinaus war es auch nicht mehr erforderlich, für eine Öffnung der Romanistik zur Ibero-Romania hin zu plädieren. Diese Öffnung war an fast allen Universitäten im Laufe der zwanziger Jahre geschehen. Die meisten Lehrstuhlinhaber des Fachs hielten - zumindest in gewissen Abständen - auch Veranstaltungen über spanische Themen ab, allerdings ohne daß die ungebrochene Dominanz der Hauptvorlesungen über Altfranzösisch oder Altprovenzalisch davon berührt worden wäre. Daß der neue Teilbereich in der Lehre zuweilen noch etwas von oben herab betrachtet wurde, illustriert die Tatsache, daß selbst ein Leo Spitzer seine hispanistischen Seminare in Marburg und Köln bis 1932 unter dem ausgesprochen unakademischen Titel "Spanisches Literaturkränzchen" ankündigte. 1 Wie schnell andererseits auf das neue Interesse und auch auf die neuen Methoden reagiert wurde, demonstrierte die Berliner Universität. Vom Wintersemester 1921/22 an wurden dort zweisemestrige "Sprach- und Kulturkurse für Studierende aller Fakultäten" veranstaltet, die mit einem eigenen Abschluß verbunden waren. Der moderne Aspekt bestand darin, daß diese Veranstaltungen sich zunächst nur aus einem "Englisch-amerikanischen" und einem "Spanisch-südamerikanischen Sprach- und Kulturkursus" zusammensetzten, diesen Kulturkreisen also Priorität eingeräumt wurde. Eine entsprechende französische Abteilung kam erst im Wintersemester 1925/26 hinzu (ein russischer Kurs 1926/27, ein nordischer 1928/29). Dieses Angebot bestand unverändert bis 1945 und war dadurch gekennzeichnet, daß neben den Sprachkursen Veranstaltungen über vorwiegend zeitgenössische Themen abgehalten wurden ("Landeskunde", "Volk und Wirtschaft", "Einführung in die politische Struktur Südamerikas" etc.), oft auch von universitätsexternen Fachleuten (z. B. Botschaftsangehörigen). Die Hispanistik konnte also 1933 an den Universitäten als etabliert gelten und nahm in den romanischen Seminaren nach Französisch - mit gehörigem Abstand - den zweiten Platz ein (Ausnahme: Hamburg; siehe dazu unten, Kap. 5.1.). Die Stagnationsphase, die im Zusammenhang mit dem Spanischunterricht festgestellt wurde, änderte daran ebensowenig wie die Rückstufung des Französischunterrichts bei der Schulreform. Ein Ausbau der Hispanistik an den Universitäten zwischen 1933 und 1945 ist nicht feststellbar, aber auch keine Reduzierung. Neue Einrichtungen, wie z. B. das 1936 an der Universität Berlin gegründete "Institut für Portugal und Brasilien", sind zwar durchaus Ausdruck eines gewissen Trends, doch gingen hiervon kaum Impulse für Lehre und Forschung aus. Die Themen dieser "Kränzchen" waren allerdings höchst originell: Libro de buen amor, Celestina, Lazarillo de Tormes, La Dorotea, Göngora, Quevedo, Graciän vereinigten Werke und Autoren, die noch nicht zum üblichen Kanon gehörten.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung
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Bezeichnenderweise mußte sich das genannte Institut mit dem bereits emeritierten Eduard Wechssler als Direktor begnügen, dessen wissenschaftlicher Habitus nicht die geringste Beziehung zum Themenkreis aufwies. Auch die externen Ereignisse - Durchsetzung der NS-Hochschulpolitik, Spanischer Bürgerkrieg, Zweiter Weltkrieg - beeinflußten den hispanistischen Anteil an der Hochschul-Romanistik weder im positiven noch im negativen Sinn. Selbst eine Reaktion auf den oben zitierten amtlichen Erlaß von 1937 mit dem Aufruf an die Hochschullehrer, der Ibero-Romania den Vorzug zu geben, läßt sich anhand der Vorlesungsverzeichnisse nicht nachweisen. Dieser Erlaß war allerdings auch keine Anweisung, sondern nur eine Empfehlung; er ist aber dennoch als die einzige Intervention "von oben" zugunsten der Hispanistik zu werten. Die beiden großen Fachzeitschriften der deutschen Romanistik, die Zeitschrift für romanische Philologie und die Romanischen Forschungen, ergeben als Index für den hispanistischen Forschungsanteil ein uneinheitliches Bild. Während in den Hauptaufsätzen der ZrPh ibero-romanistische Themen nach französischen und italianistischen nur die dritte Stelle einnehmen, ist der hispanistische Anteil in den mehr literaturwissenschaftlich orientierten RF fast gleichrangig mit dem gallo-romanischen, was den Interessenschwerpunkt des Herausgebers Fritz Schalk widerspiegelt. Der Status der Teildisziplin Hispanistik ist somit auch nach 1933 durch Beibehaltung des erreichten Niveaus gekennzeichnet - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Von den etwa 50 (habilitierten) Hochschul-Romanisten im Untersuchungszeitraum lassen sich folgende zehn als die eigentlichen Hispanisten bezeichnen, als diejenigen Romanisten, die ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt in der Beschäftigung mit Spanien, Portugal und/oder Lateinamerika sahen: -
Wilhelm Giese (geb. 1895): PD 1930, apl. Prof. 1939 Hamburg; Rudolf Großmann (1892-1980): apl. Prof. 1929 Hamburg; Adalbert Hämel (1885-1952): o. Prof. 1929 Würzburg; Hans Jeschke (geb. 1903): Doz. 1937 Königsberg, ao. Prof. 1941 Graz; Werner Krauss (1900-1976): PD 1931, a.o. Prof. 1941 Marburg; Fritz Krüger (1889-1974): o. Prof. 1928 Hamburg; Harri Meier (1905-1990): Doz. 1937 Rostock, 1940 Leipzig, o. Prof. 1943; Hellmuth Petriconi (1895-1965): o. Prof. 1932 Greifswald; Edmund Schramm (1902-1975): PD 1932, apl. Prof. 1939 Greifswald; Karl Vossler (1872-1949): o. Prof. 1911 München.
Im Vergleich zur Hispanistik der Weimarer Republik fehlen zwei gewichtige Namen: Die Vertreibung Helmut Hatzfelds und Leo Spitzers von ihren Lehrstüh-
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len in Heidelberg und Köln ist für die Hispanistik als schwerer Verlust zu bewerten, da diese beiden die qualitativ hochwertigsten Forschungsbeiträge geliefert hatten. Die Relegation vom Amt war jedoch nicht gleichbedeutend mit einem strikten Publikationsverbot. Die Verleger bzw. Zeitschriftenherausgeber hatten einen nicht zu unterschätzenden Spielraum. 2 So erschienen von Spitzer, der unmittelbar nach seiner Suspendierung 1933 nach Istanbul emigrierte, noch 1936 zwei Aufsätze in der Zeitschrift für romanische Philologie, Hatzfeld, der 1935 als sogenannter "Vierteljude" zwangspensioniert wurde und bis 1938 in Heidelberg blieb, konnte noch in den Publikationen der katholischen Görres-Gesellschaft veröffentlichen.
3.1.2. Spanien- und Lateinamerikaforschung in anderen Disziplinen Die Gtablierung der Iberischen Halbinsel und Lateinamerikas als wissenschaftliches Forschungsgebiet war natürlich nicht allein eine Domäne der Philologie. Im ersten Kapitel ist gezeigt worden, daß der moderne Hispanismus im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg außerhalb der Romanistik und aus einem interdisziplinären Ansatz heraus entstanden ist, der sich gegen einen rein sprach- und literaturwissenschaftlichen Zugriff sperrte und eher ökonomisch-historischländerkundlich orientiert war. So bildeten sich in den verschiedensten Disziplinen zahlreiche Spezialisten heraus, die sich vorrangig der Iberischen Halbinsel und/oder Lateinamerika widmeten. Allerdings sind nicht alle diese Wissenschaftler pauschal der aktuellen hispanistischen Strömung zuzuordnen, da bei der Wahl eines Forschungsgebiets auch persönliche Motive zu berücksichtigen sind, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden können.
"In den ersten Jahren der NS-Herrschaft gab es erstaunlicherweise keine rechtliche Bestimmung, die den Ausschluß von jüdischen Mitarbeitern [bei wiss. Zeitschriften] juristisch verbindlich vorgeschrieben hätte. Wissenschaftliche Autoren bzw. Herausgeber brauchten nicht Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu werden und fielen nicht unter den Arierparagraphen des Schriftleitergesetzes. [...] Bei der Durchsetzung der "Nationalen Revolution' kam es aber nur in eingeschränktem Maß auf das kodifizierte Recht an. Viel entscheidender war die freiwillige Bereitschaft zur Kollaboration" (Knoche 1990, S. 271) oder, so ist zu ergänzen, zur Verweigerung.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung
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a. Geographie Die Geographie ist hier an erster Stelle zu nennen, da dieses Fach sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer integrativen, sich zwischen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften situierenden Disziplin entwickelte, die interdisziplinäre Methoden schon aufgrund ihres Selbstverständnisses herausbildete. -
Otto Quelle (1879-1959): o. Prof. 1920 Bonn, 1930 TH, 1940 Univ. Berlin. Neben Bernhard Schädel war Quelle der wichtigste Pionier der Spanien- und Lateinamerikaforschung (siehe oben, S. 51). Die Geographie war für ihn nur der Ausgangspunkt. Das integrative Wissenschaftsverständnis gipfelte bei Quelle in seiner Ibero-Amerika gewidmeten Professur an der 1940 gegründeten und an nationalsozialistischen Zielsetzungen ausgerichteten "Auslandswissenschaftlichen Fakultät" der Berliner Universität. In diesem Zusammenhang verfaßte er auch eine repräsentative, rein historiographische Darstellung Geschichte von Iberoamerika [1942] (siehe unten, Kap. 8.2.).
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Hermann Lautensach (1886-1971): o. Prof. 1935 Greifswald. Lautensach kann als Begründer der modernen geographischen "Länderkunde" gelten. Er installierte dieses Paradigma mit einer Arbeit Uber Portugal (1932/37), bis dahin terra incognita innerhalb der deutschen Geographie. Lautensachs Hinwendung zur Iberischen Halbinsel hatte eher wissenschaftsinterne Gründe (z. B. Entdeckung von wissenschaftlichem Neuland), was auch daraus ersichtlich ist, daß er seine Portugal-Arbeit mit einer ähnlichen Uber Korea kontrastierte (1945). Doch setzte sich sein Interesse für Spanien und Portgal auch nach 1945 fort und kulminierte in dem länderkundlichen Standardwerk Iberische Halbinsel (1964), so daß Lautensach als der herausragende Experte seiner Disziplin für dieses Gebiet bezeichnet werden muß. 3
Mit Spanien beschäftigte sich außerdem: -
Georg Niemeier (1903-1984): PD 1931 Münster, o. Prof. 1941 Straßburg;
Als Lateinamerika-Spezialisten sind zu nennen: -
Oskar Schmieder (1891-1980): o. Prof. 1920 Cördoba/Argent., 1930 Kiel. Schmieder, der führende Lateinamerikanist unter den Geographen, verfaßte eine Länderkunde Süd- und Mittelamerikas (1932/34), die 1962 unter dem Titel Die Neue Welt neu aufgelegt wurde.
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Helmuth Kanter (1891 -1976): PD 1926 Hamburg, o. Prof. 1938 Marburg. Herbert Wilhelmy (geb. 1910): apl. Prof. 1942 Kiel.
Lautensach hatte außerdem eine verwandtschaftliche Beziehung zu der aus Deutschland stammenden Romanistin in Coimbra, Carolina Michaelis de Vasconcelos (Beck 1982, S. 250).
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106 b. Völkerkunde -
Karl Sapper (1866-1945): o. Prof. 1919 Würzburg, 1932 emeritiert. Franz Termer (1894-1968): o. Prof. 1932 Würzburg, 193 5 Hamburg.
Beide Wissenschaftler (Lehrer und Schüler) kamen von der Geographie und betrieben eine auf Guatemala konzentrierte ethnographisch-geographische Feldforschung. Die Wahl dieser Region wurde begünstigt durch dort ansässige deutschstämmige Plantagenbesitzer. Bei Termer - seit 1935 Direktor des Hamburger Völkerkundemuseums - kamen wirtschaftliche Interessen der Hamburger Kaufmannschaft hinzu.4 Die eigentliche Altamerikanistik, als deren wichtigste Vertreter im Untersuchungszeitraum Leonhard Schultze-Jena und Max Uhle zu nennen wären, kann in unserer Darstellung nicht berücksichtigt werden. c. Geschichte -
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4 5
Ernst Schäfer (1872-1946): PD 1898 Rostock, Prof. 1924 Sevilla. Schäfer war in Sevilla als Prof. filr deutsche Sprache tätig und figurierte zudem als ständiger Vertreter des Ibero-Amerikanischen Instituts Hamburg. Seine Forschungen am Archivo General de Indias führten zu der Studie Der Königliche Spanische Oberste Indienrat (1936). Hermann Wätjen (1876-1943): o. Prof. 1918 Karlsruhe, 1922 Münster. Wätjens Interesse für Überseegeschichte verdankt sich seiner Herkunft aus einer Bremer Kaufmannsfamilie. Einen besonderen Schwerpunkt legte er auf die historischen Beziehungen zwischen Südamerika und Deutschland (z. B. mit Der deutsche Anteil am Wirtschaftsaufbau der Westküste Amerikas, 1942).5 Dieses Forschungsinteresse korrespondiert mit einem beliebten Thema der populären Publizistik Uber Lateinamerika: die Herausstellung des deutschen Anteils an der Erschließung des Kontinents und die Würdigung deutscher Forscher und Siedler. Adolf Schulten (1870-1960): o. Prof. 1907 Erlangen. Schulten beschäftigte sich als Alt-Historiker mit dem römischen Spanien und war durch die Ausgrabungen von Numantia (1905-12) hervorgetreten. Richard Konetzke (1897-1980). Konetzke, der wichtigste Spanien- und Lateinamerika-Experte unter den deutschen Historikern, habilitierte sich erst nach 1945. Zu seinen Arbeiten siehe unten, Kap. 8.
Riese 1987, S. 139. Kellenbenz/Schneider 1987, S. 52 f.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung
107
d. Kunstgeschichte Die Hinwendung deutscher Kunsthistoriker zu Spanien, die mit Carl Justis Monumentalwerk Diego Velázquez und sein Jahrhundert (1888) bereits auf einen ragenden Gipfel zurückblicken konnte, basierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Entdeckung El Grecos, der bis dahin von der Kunstgeschichte ignoriert worden war. Der Grund für die El Greco-Begeisterung in Deutschland lag in der Koinzidenz dreier Faktoren: der allgemeinen Sehnsucht nach dem Barockzeitalter, der Suche nach Vorläufern der zeitgenössischen expressionistischen Kunst und der Installierung des geistesgeschichtlichen Paradigmas in der Kunstgeschichtsschreibung u.a. durch Max Dvorak, der auch die Wende in der El-GrecoForschung herbeifiihrte. 6 -
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6
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Hugo Kehrer (1876-1967): ao. Prof. 1915 München. Kehrer entwickelte sich neben August L. Mayer zum eigentlichen El-GrecoExperten und damit zum wichtigsten Hispanisten unter den deutschen Kunsthistorikern: Die Kunst des Greco (1914); Greco als Gestalt des Manierismus (1939) - letzteres Buch widmete er Francisco Franco, "glorioso liberador de España". Unter seinen weiteren Werken sind hervorzuheben: Francisco de Zurbarán (1918) und Spanische Kunst von Greco bis Goya (1926). Georg Weise (1888-1978): o. Prof. 1921 Tübingen. Bei Weise, einem Spezialisten für spanische Plastik, promovierte 1934 der später als Schriftsteller bekanntgewordene Gerd Gaiser über Die Plastik der Renaissance und des Frühbarock in Neukastilien. Der erwähnte August L. Mayer (1885-1944) war in den zwanziger Jahren der "bedeutendste deutschsprachige Kenner span. Malerei des 16.-18. Jh." 7 mit einer reichhaltigen Bibliographie - u.a. El Greco (1911); Geschichte der spanischen Malerei (1913); Murillo (1921); Francisco de Goya (1923); Diego Velázquez (1924); Gotik in Spanien (1928). Tätig an der Alten Pinakothek und ao. Prof. an der Universität München, mußte er 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren. Er wurde 1943 in Frankreich von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
Kultermann 1981, S. 356. Einblicke aus erster Hand bei Kehrer 1953, S. 238-240 ("Die Jüngsten unter uns können sich keine Vorstellung davon machen, wie damals Greco Mittelpunkt der verschiedenartigsten Gespräche war und man gierig nach allem ausspähte, was nur irgendwie auf ihn sich bezog". Ib., S. 238). Klein 1990, S. 534.
108
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e. Theologie und Kirchengeschichte Für die katholische Theologie war Spanien das Land eines durch die Jahrhunderte hindurch ungebrochenen und kämpferischen Katholizismus, das Land Loyolas und Teresas, der Gegenreformation und Inquisition. Eine externe Motivation für die Beschäftigung mit spanischer Religion und Kirche war für diese Disziplin nicht notwendig, doch konnte sie die Spanien-Welle der zwanziger Jahre als publikumswirksames Forum nutzen. Wichtigste außeruniversitäre Institution der katholischen Wissenschaft wurde die Görres-Gesellschaft, die eine eigene Spanien-Abteilung unterhielt (siehe unten, Kap. 3.1.3.). -
Georg Schreiber (1882-1963) o. Prof. 1917 Münster. Schreiber war ein exponierter Vertreter des politischen Katholizismus (192033 Reichstagsabgeordneter des Zentrums), der sich vor allem in der Wissenschaftspolitik engagierte. Diese politische Form des Katholizismus geriet im NS-Staat unter Druck (Selbstauflösung des Zentrums im Zusammenhang mit dem Reichskonkordat 1933, Zwangsemeritierung Schreibers 1935 und Untertauchen nach dem 20. Juli 1944). Das wissenschaftliche Œuvre Schreibers ist zwischen Kirchengeschichte und Volkskunde anzusiedeln. Sein wichtigster hispanistischer Beitrag war das umfängliche Werk Deutschland und Spanien. Volkskundliche und kulturkundliche Beziehungen. Zusammenhänge abendländischer und ibero-amerikanischer Sakralkultur (1936), worin er die Einflüsse, die aus dem iberischen Raum auf das Gebiet der "Volksfrömmigkeit" hereinwirkten, untersuchte. Während seine äußere Biographie Schreiber eindeutig als Nicht-Nationalsozialisten ausweist (was noch nicht gleichbedeutend mit "Antifaschist" ist), enthalten seine Texte vor allem durch die Verwendung irrationaler und idealisierender Kategorien semantische Interferenzen mit NS-Ideologemen. Andererseits distanzierte sich die dezidierte NSVolkskunde von seiner klerikalen Warte.
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Johannes Vincke (1892-1975): PD 1930, ao. Prof. 1937 Freiburg. Vincke spezialisierte sich auf kirchliche Rechtsgeschichte des spanischen Mittelalters: Staat und Kirche in Katalonien und Aragon während des Mittelalters (1931), womit eine Beziehung zum letzten Punkt besteht:
f.
Rechtsgeschichte
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Eugen Wohlhaupter (1900-1946): PD 1929 München, ao. Prof. 1935 Kiel. Auch Wohlhaupter war ein Vertreter des katholizistischen Flügels, was sich auf seine Karriere im Dritten Reich hemmend auswirkte.8 Zu seinen Forschungen in Spanien wurde er von der Görres-Gesellschaft angeregt.
8
Cf. Hattenhauer 1987.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung -
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Friedrich Wilhelm v. Rauchhaupt (1881-1989): PD 1922, a.o. Prof. 1929 Heidelberg. Rauchhaupt war 1926 Gastprofessor in Buenos Aires und Santiago de Chile. Habilitiert hatte er sich mit der Arbeit Geschichte der spanischen Gesetzesquellen von den Anfängen bis zur Gegenwart (1923).
3.1.3. Hispanistik und Katholizismus: Die Görres-Gesellschaft Diejenige Forschungsrichtung, die ihre Hinwendung zu Spanien durch einen offensiven Katholizismus motivierte, ist zwar unter dem Punkt "Theologie" genannt worden, sie war indessen nicht ausschließlich deren Domäne. Auch in anderen Disziplinen ist bei vielen Spanienforschern ein mehr oder weniger ausgeprägter religiöser Hintergrund feststellbar, in der Philologie z. B. bei Pfandl, Hämel, Schramm, Rheinfelder, und auch Helmut Hatzfeld fand in der Emigration nicht zufällig ein neues Domizil an der "Catholic University of America" in Washington. Die interdisziplinäre katholische Hispanistik fand eine ausgesprochen effiziente außeruniversitäre Verankerung in der schon mehrfach erwähnten "GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland". Diese 1876 gegründete Institution war ein Produkt des Kulturkampfs und Niederschlag des massiven Widerstands der Katholiken gegen die Erscheinungen der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden modernen Industriegesellschaft, gegen das naturwissenschaftliche Weltbild ebenso wie gegen die sozialistische Arbeiterbewegung (Gegenorganisationen waren z. B. die katholischen Arbeitervereine). Aufklärung und Positivismus als dominierende Episteme der säkularisierten Gesellschaft hatten den katholischen Welterklärungsanspruch in die Defensive gedrängt. Dogma und päpstliche Infallibilität führten in der Epoche der "voraussetzungslosen Wissenschaft" zur Ausgrenzung des Katholizismus aus dem wissenschaftlichen Diskurs. Die Gegenaktion fiel indessen insofern auf fruchtbaren Boden, als sie mit dem sich nun allenthalben konstituierenden Unbehagen an der Moderne zusammenfiel, und der Katholizismus genau die ideologischen Elemente zu offerieren schien, nach denen sich viele in einer unüberschaubar und zusammenhanglos, wenn nicht gar chaotisch gewordenen Welt sehnten: weltanschauliche Bindung, ganzheitliches Denken, Hierarchie der Werte; "Wiedergeburt der Moderne aus dem Geist des katholischen Mittelalters wird die Losung" 9 . Neben der pragmatischen Zielsetzung, dem Durchbrechen der eigenen Isolation in einer veränderten Gesellschaft, speiste sich die katholische Mobilmachung somit aus dem gleichen
9
Loewenich 1964, S. 199.
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ideologischen Komplex, der auch der Spanienbewegung nach dem Ersten Weltkrieg die entscheidenden Impulse gab. Höhepunkt der hispanistischen Bestrebungen der Görres-Gesellschaft war 1926 die Gründung eines Forschungsinstituts in Madrid (ähnliche Einrichtungen bestanden bereits in Rom und Jerusalem). Diese Institutionalisierungspraxis stand in einem größeren wissenschaftspolitischen Kontext, da wegen des internationalen Boykotts gegen die deutsche Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg Spanien als eine Art Ausweichterrain ins Auge gefaßt wurde. Insbesondere die deutschen Mediävisten waren an der Auswertung der spanischen Archive interessiert. Die Planungen für das Görres-Institut konkurrierten mit denen des KaiserWilhelm-Instituts für deutsche Geschichte für ein Institut in Spanien unter Leitung von Paul Fridolin Kehr, dem Editor der mittelalterlichen Papsturkunden. Daß das Görres-Institut sein Ziel erreichte, verdankte es in erster Linie seinem Lobbyisten Georg Schreiber, denn die finanziellen Mittel für das Institut stammten aus dem Geheimfonds des Auswärtigen Amtes, was Schreiber persönlich mit Stresemann vereinbarte. 10 Solche Auslandsinstitute waren somit nicht nur Ausdruck der ideologischen Ziele ihrer Träger, sondern standen im Einklang mit der deutschen Wissenschafts- und Kulturpolitik im Ausland. Die spanischen Forschungen der Görres-Gesellschaft, die auch Stipendien für Forschungsaufenthalte in Spanien vergab, hatten ihren Schwerpunkt - unter Ausschluß der eigentlichen Theologie - in kirchenhistorischen und -politischen Studien zum spanischen Mittelalter, partizipierten aber auch an dem allgemeinen Barock-Interesse der zwanziger Jahre, denn aus katholischer Sicht war dies vor allem die Epoche der Gegenreformation. Diese Arbeiten, die ab 1928 in einem eigenen, noch heute existierenden Periodikum unter dem Titel Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens veröffentlicht wurden, waren meist streng an spanischem Archivmaterial ausgerichtet und standen daher auf wissenschaftlich hohem Niveau. Gerade diese Praxis der historisch-kritischen Methode wollte den Nachweis erbringen, daß sich Katholizismus und Wissenschaft nicht auszuschließen brauchten. Der katholischen Kirche gelang es, durch Anpassung und Konzessionen als einzige unabhängige geschlossene Organisation das Dritte Reich zu überstehen. Dies gilt nicht für diejenigen Institutionen, die im Rahmen der oben skizzierten "katholischen Aktion" gegründet worden waren, um alle gesellschaftlichen Bereiche zu erfassen: katholische Presse, Arbeitervereine, Bekenntnisschulen etc. Diese Einrichtungen kollidierten mit dem Monopolanspruch des Nationalsozialismus, für den eine Trennung von Kirche und Gesellschaft unabdingbare Vor10
Morsey 1983, S. 336.
3. Hispanistik 1933-1945.
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111
aussetzung war." Die Görres-Gesellschaft, die als nicht-universitäre konfessionelle Wissenschaftseinrichtung diesem Komplex zuzuordnen ist, wurde 1941 (ein relativ spätes Datum!) von der Gestapo verboten. Das Institut in Madrid war bereits im Spanischen Bürgerkrieg zerstört worden. Trotz dieser Unterdrückungspraxis wäre es verfehlt, den Repräsentanten dieser Institutionen eine pauschale Widerstandsgesinnung zu unterstellen. Der Präsident der Görres-Gesellschaft, der 78jährige Freiburger Historiker und SpanienSpezialist Heinrich Finke demonstrierte 1933 eine Haltung, die eine rein defensive Einstellung hinter sich ließ. Er entschuldigte sich beim "hochgeehrten Herrn Reichskanzler" ftir den Artikel über den Nationalsozialismus im Staatslexikon einem vom Herder-Verlag herausgegebenen Prestigeunternehmen der GörresGesellschaft - , der eine "nicht beabsichtigte Beleidigung" Hitlers enthalte, und reichte eine Neufassung dieses Artikels bei der Parteileitung ein.12
3.2.
Inhaltliche Aspekte der Publikationen
Den bisherigen Ausführungen zu Theorie und Praxis der Hispanistik im Dritten Reich ist bereits zu entnehmen, daß das Jahr 1933 keinen entscheidenden Schnittpunkt in der Geschichte des Fachs markiert. Weder bei der Hispanistik an den Hochschulen, noch beim Spanischunterricht, noch bei der Forschungsliteratur sind dramatische Veränderungen zu verzeichnen, die als direkte Folge des Nationalsozialismus an der Macht einzuordnen wären. Weder brauchten vor 1933 betriebene Tätigkeiten gestoppt zu werden, noch kamen neue Forschungsgebiete hinzu, die als eindeutiger Reflex auf die neuen politischen Machtverhältnisse gedeutet werden müßten. Hierfür sind vor allem zwei Gründe verantwortlich. Der Gegenstand der Hispanistik gehörte - von den Ereignissen im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg abgesehen - nicht zum zentralen Interessengebiet der Nationalsozialisten, auf ihn wurden keine speziellen Erwartungen gerichtet (im Unterschied etwa zur Slawistik). Entscheidend aber war, daß die Spanienforschung, wie sie bislang betrieben wurde, keine Abstriche an Themen und Methoden zu machen brauchte, um ihre Relevanz auch nach 1933 zu sichern. Aus den Legitimationstexten ging hervor, daß die Beschäftigung mit Spanien zum großen Teil aus einer Disposition für irrationale und mystifizierende Sehnsüchte herrührte. Aus dem Fundus dieser antimodernen Wertvorstellungen bedienten sich auch die Nazis, so daß im hispanistischen Diskurs auch vor 1933 partielle Überschneidungen mit
"
12
Gotto/Hockerts/Repgen 1983, S. 659. Zit. n.Heiber 1991, S. 345.
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den Denkweisen zu verzeichnen sind, mit denen die NS-Propaganda operierte. Aus diesen Interferenzen konnte die vermeintlich so abgelegene Disziplin nach 1933 Kapital schlagen. Diese inhärente Affinität von hispanistischen Forschungsdispositionen zu Teilen des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats und die Auswirkungen im Dritten Reich konstituieren daher den zentralen Gegenstand einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung der Hispanistik in diesem Zeitraum. Ein Überblick über das Tätigkeitsfeld der deutschen Hispanistik zwischen 1933 und 1945 (soweit es sich an den Publikationen ablesen läßt) ergibt drei dominante Themenkomplexe, die eine Behandlung in eigenen Kapiteln erfordern: -
Eine enthusiastische Hinwendung zu Lope de Vega, der als der spanische Buhnenklassiker vorübergehend Calderón ablöst; die (in den zwanziger Jahren eingeleitete) Rezeption der Gegenwartsliteratur, die zu einem ersten kleinen "Boom" der lateinamerikanischen Literatur führt; die Reaktion auf den Spanischen Bürgerkrieg, der als ein außerordentliches aktuelles Ereignis das Bezugsland der Hispanistik in die Weltöffentlichkeit rückt.
Daneben setzen sich zwei institutionelle bzw. personelle Besonderheiten aus den zwanziger Jahren fort: -
die Hamburger Schule mit einem exklusiven Forschungsbereich; die Tätigkeit von Ludwig Pfandl und Karl Vossler, den herausragenden und produktivsten deutschen Hispanisten mit j e spezifischen Interessen.
Bei allen diesen Sektoren - mit Ausnahme natürlich des Spanischen Bürgerkriegs - handelt es sich um Tendenzen, die bereits vor 1933 angelegt waren, womit sich das behauptete Kontinuum bestätigt. Die Markierung dieser thematischen Schwerpunkte verdankt sich allein quantitativen Kriterien, eine Aussage über die qualitativen "Hauptwerke" der Spanien- und Lateinamerika-Forschung zwischen 1933 und 1945 ist damit nicht getroffen. Ebensowenig lassen sich anhand einer Aufzählung von Themenschwerpunkten oder Hauptwerken die Spezifika der deutschen Hispanistik benennen, die nur für die Jahre 1933-1945 zutreffen, die also einen kausalen Nexus mit dem Nationalsozialismus an der Macht erkennen lassen, falls derartige Relationen überhaupt bestehen. Fest steht, daß es eine exklusive nationalsozialistische Hispanistik, die sich institutionell oder personell als solche isolieren ließe (vergleichbar etwa Walter Franks "Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" oder der Wissenschaftseinrichtung "Ahnenerbe" der SS), nicht gegeben hat.
3. Hispanistik 1933-1945. Einführung
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Die Frage nach eventuellen Zusammenhängen zwischen nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland und hispanistischen Publikationen beantwortet sich daher primär über die Suche nach entsprechenden Modifizierungen und Akzentuierungen der tradierten Hispanistik. Bei aller Vorsicht der Fragestellung und bei aller unvoreingenommenen Zurückhaltung muß doch festgestellt werden, daß sich die Suche nach positiven Reaktionen auf die neuen Machtverhältnisse nicht sehr schwierig gestaltet. Schon die Lektüre der Legitimationstexte, die eine Standortbestimmung der neueren Fremdsprachen im Dritten Reich vornehmen, ließ eine Indifferenz gegenüber dem "neuen Staat" nicht erwarten. Eine der dabei wiederholt formulierten Aufgaben, die die Fremdsprachler sich selbst zuwiesen, war, sich in den Dienst der Außenpolitik zu stellen. Noch im Jahr 1933 erschien eine Publikation unter Beteiligung der Hispanistik, die als eine solche Dienstleistung für die nationalsozialistische Außenpolitik zu bewerten ist. Als im Oktober 1933 die nationalsozialistische Regierung mit dem Austritt aus dem Völkerbund und dem Verlassen der Genfer Abrüstungskonferenz sich den ersten großen außenpolitischen Affront leistete, veröffentlichte unmittelbar danach die Zeitschrift für Politik unter Mitherausgeberschaft von Divisionsgeneral Wilhelm Faupel (dem späteren Botschafter bei Franco und Direktor des Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts) den zwar schon vorher konzipierten, aber nun sofort aktualisierten spanischsprachigen Band Ibero-América y Alemania. Obra colectiva sobre las relaciones amistosas, desarme e igualdad de derechos, der einen doppelten Zweck verfolgte: Zum einen sollten den lateinamerikanischen Ländern die Beweggründe für diesen Doppelschlag Deutschlands nahegebracht werden, zum anderen sollten die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen auf politischem, wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Sektor gewürdigt werden. Das Ergebnis war ein Sammelband mit 40 Beiträgen, an der Spitze eine HitlerRede (diejenige über Frieden und Abrüstung vom 17.5.1933, aus der bereits Küchler zitierte) und ein Text des Außenministers ("La Política del Desarme de Alemania"), sonst hauptsächlich aus Beiträgen von Staatssekretären, Botschaftern, Generalkonsuln, Militärs und Wissenschaftlern bestehend. Den Schluß bilden offizielle Stellungnahmen der Reichsregierung zum Austritt aus dem Völkerbund und dem Verlassen der Abrüstungskonferenz. Eingelassen in diese offizielle Ebene sind sich unverfänglich gebende, aber gerade dadurch die ganze Publikation aufwertende Texte von Karl Vossler ("Vieja y nueva grandeza del mundo hispánico"), Rudolf Großmann ("Ibero-América y las Ciudades Anseáticas") und sogar ein Beitrag des Historikers Hajo Holborn, der noch im gleichen Jahr 1933 aus politischen Gründen in die USA emigrierte ("El
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Thomas Bräutigam
Origen histórico del Artículo 8 del Pacto de la Sociedad de las Naciones"). Den Propagandacharakter des Werks unterstreicht eine pathetische Widmung in drei Sprachen: "Dem Genius der ozeanischen iberischen Rasse, der eine neue Welt entdeckte und gestaltete. Das Heimatland des Dichters des Faust" 13 . Ein ähnlicher Band aus dem Jahr 1939, nun unter Federführung des Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts, dessen Direktor Faupel im Vorwort ausdrücklich an das Werk von 1933 anknüpfte 14 , stellte seinen Propagandazweck noch deutlicher heraus. Während man sich 1933 noch mit Alexander von Humboldt als Frontispiz beschied, prangte nun hinter dem Inhaltsverzeichnis der Führer höchstselbst. Eingeteilt war das Werk in zwei Abschnitte: I.
"Seis Años de la Alemania Nacionalsocialista", eröffnet mit einem Text von Joseph Goebbels über "El Führer" sowie unter anderem mit Beiträgen von Justizminister Frank und Robert Ley, welcher "Organización y Desarrollo del Frente Alemán del Trabajo" vorstellte;
II. "El Mundo Ibero-Americano. Sus relaciones culturales y comerciales con Alemania", worin Hellmuth Petriconi die Hochschul-Hispanistik repräsentierte ("La Literatura Iberoamericana en Alemania"). Eine explizite Funktionalisierung von Fachinhalten für die Politik der Gegenwart ist auch in der Wiederentdeckung eines spanischen Theoretikers zu sehen, der in seinem Heimatland selbst der Vergessenheit anheimgefallen war: Donoso Cortés, ein Staatsphilosoph des 19. Jahrhunderts, der als scharfer Kritiker des Liberalismus und Theoretiker der Diktatur hervorgetreten war und mit den französischen Konterrevolutionären Bonald und de Maistre verglichen wurde. Bereits 1922 machte Carl Schmitt, der Theoretiker des "starken Staates", in seiner Politischen Theologie auf Cortés aufmerksam. Als die antiliberale Theorie mit der entsprechenden Praxis in Deutschland in Deckung zu bringen war, reagierte die Hispanistik in Gestalt von Edmund Schramm, dessen Monographie Donoso Cortés Leben und Werk eines spanischen Antiliberalen (1935) in einer wesentlich erweiterten Fassung auch auf spanisch erschien - und zwar 1936, also auch hier zum politisch "richtigen" Zeitpunkt. Interessanter als ein solches offensichtliches politisches Agieren sind die Texte, die sich in den tradierten Rahmen der Hispanistik einfügen und innerhalb dieses Rahmens einen mehr oder weniger (in)direkten Zeitbezug intendieren. Neben den genannten "Schwerpunkten", die uns weiter unten beschäftigen werden, lief vor allem das wesenskundliche und nationaltypologische Paradigma der "Spanienkunde" kontinuierlich weiter. Die Funktionalisierung dieser Theorie für 13 14
Ibero-América 1933, S. XI. Alemania 1939, S. 5.
3. Hispanistik 1933-1945.
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die Legitimierung der Fremdsprachen im Dritten Reich ist bereits in Kap. 2 dargestellt worden. Ergänzend soll hier darauf hingewiesen werden, daß der spanische "Nationalcharakter" nun auch mit NS-ldeologemen angereichert wurde, die das spanische Volk als Charaktervorbild für das nationalsozialistisch gesinnte deutsche Volk empfahlen. Diese Tendenz spitzt sich zu bei Rudolf Großmann, der zwar einen Defekt im spanischen Nationalcharakter diagnostiziert - die Vorherrschaft der Affekte und Leidenschaften über die Vernunft - , dieses Problem aber durch "Francos geniale Gestalt [...] im Sinne einer sieghaften aktivistischen Annäherung an das Ethos des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus" 15 gelöst sieht. Während sich hier die faschistische Gesinnung als Remedium für die Gegenwart anbietet, gewinnen umgekehrt die historischen Taten der Spanier Modellcharakter für das Zeitgeschehen, etwa wenn Großmann "die Eroberung des unermeßlichen Amerika durch eine Handvoll ihr Letztes einsetzender Herrenmenschen" 16 heroisiert. Mit der Expansion nach außen korrespondiert die Säuberung im Inneren: Aus der Inquisition wird ein "vom Volk übrigens offen begrüßtes Instrument zur Reinhaltung des Staates von staatsfeindlichen, wir würden heute sagen anarchistischen Elementen und Volksschädlingen", das "eher einen Volksgerichtshof als einen Glaubensgerichtshof' 17 darstellte. Phänomene der spanischen Geschichte werden ostentativ im Nazi-Jargon (Herrenmensch, Volksschädling, Volksgerichtshof) beschrieben, um damit ein Pendant zur NS-Politik zu suggerieren. Damit soll sowohl die spanische Geschichte exkulpiert, als auch die deutsche Politik legitimiert werden. Solche Parallelisierungen gestattete sich auch die Geographie, wenn sie die "Lebensraumfragen der iberischen Völker" erörterte und dabei einen "Trieb" und eine "Nötigung" zu kolonialer Betätigung bei Deutschland und Italien konstatierte, die heute "ebenso stark" seien wie in Spanien und Portugal. 18 Diese deutschspanische "Gleichschaltung" kulminiert in der Behauptung einer "psychologische(n) Gleichgelagertheit im Schicksal Deutschlands und Spaniens, die vorzüglich dann deutlich wird, wenn beide Völker zu übernationalen Aufgaben aufgerufen werden"19.
Daß alle diese Zitate Texten aus der Zeit nach 1939 entstammen, ist kein Zufall, handelt es sich doch hier um eine typische Begleitpublizistik zum Zweiten Weltkrieg, die die deutsche Expansion wissenschaftlich flankieren sollte. Das Charakteristische dieser Texte ist daher nicht so sehr die behauptete deutsch-spanische 15 16 17 18 19
Großmann 1943, S. 14. Ib., S. 12 f. Ib., S. 19. Lautensach 1941, S. 493. Eschmann 1941, S. 413.
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Dualität an sich (ähnliche Ansichten sind auch schon früher geäußert worden, sie gehen bis auf das somos hermanos der Romantik zurück), sondern die intendierte Funktion in der konkreten Situation. Auch in der Literaturgeschichtsschreibung spitzte sich der kulturhistorische Gleichlauf von Spanien und Deutschland insofern zu, als mit Hilfe von Phänomenen der Literaturgeschichte Gesinnungen und Tugenden idealisiert wurden, die die zitierte "Gleichgelagertheit im Schicksal" von Deutschland und Spanien suggerieren sollten. Formulierungen wie: die spanische Literatur sei "aus dem täglichen Lebenskampf eines bedrohten Volkstums" 20 entstanden, waren darauf angelegt, beim Leser ein Aha-Erlebnis auszulösen. Die "volkstümliche Bodenständigkeit" 21 , der enge Kontakt zwischen Künstler und Volk und die "echte Volksgemeinschaft" 22 waren die rekurrierenden Topoi der einschlägigen Texte, die einen Gesamtüberblick Uber die spanische Literatur vornahmen. Zuweilen wurden auch gezielt einzelne Autoren der zeitgenössischen deutschen Blut-undBoden-Literatur als Modell empfohlen, z. B. Pereda von Edmund Schramm im offiziellen Organ des "Amtes Schrifttumspflege" 23 . In den Kriegsjahren rückte der kämpferische und soldatische Charakter in den Vordergrund. So untertitelte Walter Mönch einen Aufsatz über Cervantes mit der originellen Reihenfolge: "Lebensbild eines Soldaten, Philosophen und Schriftstellers" 24 . Karl Vossler bemerkte in einem Zeitungsartikel anläßlich der spanischen 800-Jahr-Feier des Cid an dieser Figur eine "verherrlichte Geistesart [...] zu deren Wiederkehr man dem heutigen Spanien Glück wünschen muß": "Soldatische Frömmigkeit, ein offener sieghafter Weltsinn, keine Überhebung, keine Rachsucht, daher auch keine Tragik"25.
Den meisten bisher erwähnten Arbeiten war gemeinsam, daß sie Tendenzen der zwanziger Jahre weiterführten bzw. forcierten, die nun in einer deutlich funktionalen Beziehung zu Doktrinen und Ideologemen des NS-Staates standen. Einer genuinen "NS-Hispanistik" sind diese Texte jedoch nicht zuzuordnen. Zur hispanistischen Praxis im Dritten Reich gehören allerdings auch Werke, die die tradierten Maßstäbe des Fachs deutlich überschreiten und tatsächlich als faschistische oder nationalsozialistische Hispanistik bezeichnet werden müssen, weil
20
Winkler 1938, S. 145.
21
Beinhauer 1941, S. 195.
22
Ib., S. 200.
23
"Bei Pereda ist in beispielhafter Weise und in großer dichterischer Vollendung verwirklicht, was man meint, wenn man heute bei uns einen Roman fordert, der im Leben des Volkes und im Boden der Landschaft gründet" (Schramm 1939b, S. 354). Mönch 1942.
24 25
Vossler 1941.
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sie entweder direkte Propaganda filr Nationalsozialismus/Faschismus enthalten oder essentielle Bestandteile der nationalsozialistischen Weltanschauung, wie Rassismus und fanatischen Antisemitismus, in den Mittelpunkt stellen. Diese Texte, die eine derartige Grenzüberschreitung praktizieren, nehmen im Gesamtspektrum eine Randstellung ein und sind wegen ihres niedrigen Argumentationsniveaus und ihrer ideologischen Eindeutigkeit für die wissenschaftsgeschichtliche Analyse zweitrangig. Andererseits ist die Annahme, diese Arbeiten seien völlig anderen Sphären entsprungen und hätten mit dem Fach nichts zu tun, abwegig. Sie gehen vielmehr aus dem "normalen" wissenschaftlichen Betrieb hervor, können hier somit nicht völlig übergangen werden. Publikationen, die eine dezidiert rassistische Argumentation verfolgen und dies als ernstgemeinte seriöse Wissenschaft verstanden wissen wollen, markieren in jeder Disziplin einen ethischen Tiefpunkt. Für die Hispanistik ist auf einen Aufsatz von Max Depta über "Rassenmischung in der spanischen Literatur" zu verweisen, erschienen 1937 in der Zeitschrift Die Neueren Sprachen, jenem Organ der Fremdsprachendidaktik, das mittlerweile zu einem Fachblatt des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, also einer quasi-amtlichen Publikation geworden war und dessen Herausgeber es als ihr Ziel ansahen, "zur Schaffung des deutschen Menschen, wie ihn der Nationalsozialismus sieht, ihren guten Teil beizutragen" 26 . Vor diesem Hintergrund untersucht der Verfasser vier Werke der spanischen Literatur, an denen er glaubt, die Gefahren der Rassenmischung aufzeigen zu können: Lope de Vegas Stück Las paces de los reyes y judía de Toledo, die Romane Gloria von Pérez Galdós und La conquista del reino de Maya por el último conquistador español Pío Cid von Angel Ganivet sowie die Erzählung De otra raza von Ramón Gómez de la Serna. Der Angelpunkt von Deptas gewaltsamer Interpretation besteht darin, daß er den Autoren unterstellt, mit diesen Werken eine Warnung vor der Rassenmischung intendiert zu haben. In bezug auf Lopes Stück behauptet er gar, daß die antisemitische Auslassung einer Figur "auch die Meinung Lopes selbst ist, der in seinen Dramen mit seiner Verachtung der Juden und in seinem Hasse gegen sie nicht zurückhält" 27 , wobei dies als Anerkennung, nicht als Kritik gemeint ist. Bei Galdós ergibt sich für Depta das (von ihm auch erkannte) Problem, daß es in Gloria nicht um einen Rassen-, sondern um einen Glaubenskonflikt geht. Er kritisiert, daß in dem Roman "das eigentlich rassische Moment, die Verschieden-
26 27
"Aufruf des neuen Hauptamtsleiters" und "Geleitwort" der Herausgeber, in: DNS 44, 1936, vor S. 1. Depta 1937, S. 225.
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heit dem Blute nach, [...] kein Hindernis für die Vereinigung der Liebenden"28 bilde. Diese Erkenntnis hindert Depta nicht an krassen Fehldeutungen, etwa wenn er die Äußerung eines Fischers im Roman, der seinen Judenhaß mit den Worten "Weil das so sein muß" begründet, als eine "Feststellung" von Pérez Galdós zustimmend kommentiert: "Diese Worte des Fischers besagen alles über das Verhältnis des Spaniers zum Juden. Seine Abneigung gegen ihn ist etwas Naturgegebenes, es gehört zu seinem Wesen. 29 Darüber zu diskutieren ist zwecklos."
Der Aufsatz wird nicht durch die Fragestellung an sich zum Elaborat, sondern durch die methodisch deplorable Durchführung. Depta projiziert seinen eigenen Rassismus in die Werke hinein, ohne Rücksicht auf deren eigentlichen Sinn und die eigentlichen Intentionen der Autoren. So unterschlägt er bei Ganivet den satirischen Charakter des Romans und glaubt bei Serna das "Gefühl für die seelische Disharmonie des Mischlings"30 feststellen zu können. Den didaktischen Zweck seiner Ausführungen unterstreicht Depta explizit am Schluß, wenn er auf Lateinamerika zu sprechen kommt und dabei ein Desiderat formuliert: "Unseren Neusprachlern als den zünftigen Vertretern der Auslandskunde wäre das Studium der rassenbiologischen Vorgänge, die sich in dem riesigen, geschlossenen Gebiet Latein-Amerikas abspielen und ihm für die Zukunft das Gepräge geben, dringend zu empfehlen. Sie müßten eine klare Erkenntnis der Verindianerung nicht nur seines Nordens haben, der hemmungslosen Mischung zwischen Weißen, Negern und Indianern in den portugiesischen Gebieten, des Stolzes, mit der die einstige Herrenschicht der Spanier trotz aller Resignation die Verschmelzung mit den Indios ablehnt, und des Hasses, mit dem ganz Mittel- und Südamerika den Angelsachsen in den United States gegenübersteht und der sich nicht nur aus politischem Druck und wirtschaftlicher Ausbeutung, sondern mehr noch aus dem Gegensatz der Rassen erklärt."31
Mit dieser "dringenden Empfehlung" gewinnt der Text eine weitere Dimension, da der Autor das rassistische Erklärungsmuster den Fremdsprachenlehrern, also den potentiellen Popularisatoren solcher Theorien, als erkenntnisfordernd nahelegt. In den Publikationen, die jenseits der Fachzirkel erschienen und die sich an ein breiteres Publikum richteten, war ein solcher Diskurs ohnehin keine Seltenheit. Die zweibändige, 1272 Seiten starke Kulturgeschichte Spaniens des österreichischen Autors Franz Litschauer, die aufgrund ihres Umfangs und ihrer illustrierten Austattung wohl einen repräsentativen Charakter für sich reklamierte, treibt den
28 29 30 31
Ib., Ib., Ib., Ib.,
S. S. S. S.
228. 229. 232. 235 f.
3. Hispanistik 1933-1945.
Einführung
119
hemmungslosen Rassismus und Antisemitismus insofern auf die Spitze, als die Juden wiederholt als "Pest" und "Abschaum der Menschheit" 32 bezeichnet werden und anläßlich der Glorifizierung der Inquisition ihrer Ausrottung zugestimmt wird: "Das war das große geschichtliche Verdienst der Inquisition um Spanien: sie hat in diesem Lande für Jahrhunderte die jüdische Pest ausgerottet! Das aber haben die Juden der ganzen Welt nie vergessen. Begreift man also jetzt das jüdische Literatengeschreibsel über die 'Schrecken' der Inquisition? Es war eine zeitgemäß-rauhe Methode, der Judenplage Herr zu werden. Aber sie hat sich bewährt und ist darum, historisch gesehen, für Spanien gut gewesen." 33
Solche Passagen versagen sich einer nüchtern-distanzierten Kommentierung. Es bleibt für die meisten der in diesem Abschnitt erwähnten Texte festzuhalten, daß hier Aspekte der spanischen Kultur oder Geschichte so erfaßt werden, daß ihnen eine legitimierende Funktion für die nationalsozialistische Herrschaft oder Teilbereichen davon (z. B. territoriale Eroberung, Judenhaß) zukommt. Sie sind für die Hispanistik im Dritten Reich insofern spezifisch, als sie ohne NS-Staat nicht oder zumindest nicht in dieser Form geschrieben worden wären. Sie sind andererseits für die Hispanistik im Dritten Reich insofern untypisch, als sie nicht das Gros der zwischen 1933 und 1945 geschriebenen Texte ausmachen. Anders formuliert: Die Publikationen im Dritten Reich, die eine direkt funktionale Lektüre ermöglichen, waren in der Minderheit; eine zumindest indirekte Funktion zugunsten des Systems ist aber allen Texten (und überhaupt der gesamten kulturellen und wissenschaftlichen Produktion im Dritten Reich) zuzuschreiben, da das Fortsetzen des "normalen" Wissenschafts- und Publikationsbetriebs eben auch die "Normalität" des Systems suggeriert, in dem diese Wissenschaft stattfindet. Diese Feststellung ist auch für die folgenden Kapitel grundlegend.
32 33
Litschauer 1939, S. 215. Ib., S. 247.
4. Die Reaktion auf den Bürgerkrieg 4.
121
D I E REAKTION AUF DEN SPANISCHEN BÜRGERKRIEG
Während das Jahr 1933 für unseren Untersuchungsgegenstand keinen eigentlichen Markierungspunkt darstellt, ist ein solcher Status dem Jahr 1936 um so mehr zuzusprechen. Der Ausbruch des Bürgerkriegs in Spanien katapultierte dieses Land plötzlich in das Licht der Weltöffentlichkeit. Für die deutsche Spanien-Publizistik war das bisherige Themenspektrum um ein aktuelles Ausnahmeereignis erweitert, für das sich ein breites Publikum interessierte. Potenziert wurde dieser "plötzliche Bedeutungsanstieg Spaniens"1 durch die spezifisch deutschen Interessen, die der vermeintlich rein innerspanische Konflikt tangierte, da ein etwaiger Sieg der Linken aus nationalsozialistischer Sicht eine Ausweitung des Sowjet-Kommunismus an einer strategisch relevanten Position - dem Ausgang des Mittelmeers - und eine Veränderung der Mächtekonstellation, die Hitler für seine Planungen zugrunde legte, bedeutet hätte. Für Nazi-Deutschland hatten die innerspanischen Auseinandersetzungen zudem einen nicht zu unterschätzenden propagandistischen Wert, da sie leicht als Kampf zweier Ideologien interpretiert werden konnten und damit eine der Grundfesten der nationalsozialistischen Legitimation berührten: den Kampf gegen den "Bolschewismus". Unabhängig von der direkten Intervention der Legion Condor, die ja bis 1939 geheimgehalten wurde, war das publizistische Echo auf den Spanienkrieg im Dritten Reich daher sehr lebhaft. Im folgenden stehen diejenigen Publikationen im Mittelpunkt, die mit einem einigermaßen seriösen Anspruch auftreten und a. die Intention verfolgen, über die Hintergründe des Bürgerkriegs aufzuklären bzw. b. nach Beendigung des Kriegs die Etablierung des Franco-Staates kommentieren.2 Die Autoren dieser Werke sind meist in einem akademischen Umfeld zu situieren. Von den Hochschul-Romanisten ist hier an erster Stelle der schon mehrmals erwähnte Greifswalder Dozent Edmund Schramm zu nennen, dessen Bibliographie generell einen ausgesprochen politischen Akzent aufweist, einschließlich dezidiert propagandistischer Kampfschriften wie Frankreichs Einmischung im Spanischen Bürgerkrieg (1940). Auch von geographischer Seite erfuhr der Spanische Bürgerkrieg eine sich als wissenschaftlich verstehende Kommentierung, namentlich durch die beiden Spanien-Experten unter den deutschen Geographen, Hermann Lautensach und Georg Niemeier.
1 2
Peter 1992, S. 85. Zum gesamten Komplex cf. Monteath/Nicolai 1986.
122
Thomas
Bräutigam
Die politische Brisanz des Themas schloß einen breiten Meinungspluralismus von vornherein aus. Sowohl bezüglich der Einschätzung der Ereignisse von 1936 als auch bezüglich deren Einordnung in die spanische Geschichte herrschte ein allgemeiner Konsensus. Trotz teilweise unterschiedlicher Akzentsetzung der Autoren, wäre eine Einzelanalyse dieser Texte daher wenig erkenntnisfördernd. Alle Verfasser nehmen Partei für die aufständische Seite. Diese Parteinahme hatte auch zur Folge, daß nach Alternativen zu dem neutralen, nichtwertenden Terminus "Bürgerkrieg" gesucht wurde, da dieser eine nationale Spaltung impliziert, die der völkischen Betrachtungsweise widersprochen hätte. Der Begriff "nationale Erhebung" hingegen suggeriert eine Rebellion gegen von außen eindringende, fremde Elemente und legitimiert damit den Kampf gegen diese als einen nationalen Verteidigungskrieg. Eine weitere Konsequenz ist die Ignorierung der komplexen politischen Verhältnisse auf republikanischer Seite 3 und deren Simplifizierung als "Bolschewisten" und "Rote" 4 . Diese Bezeichnungen insinuieren zugleich den volksfremden Charakter dieser Seite und ihre Steuerung von außen, nämlich durch die Sowjetunion und deren "Handlanger" (z. B. die französische Volksfrontregierung). Die Spanier, die auf dieser Seite kämpfen, erscheinen, da ihnen das Spaniertum nicht schlechthin abgesprochen werden kann - als "verführt" und "verhetzt". Zumindest in diesem Zusammenhang wird aber meist auf eine soziale Ursache des Konflikts verwiesen: Das besitzlose Landproletariat sei in seinen berechtigten Forderungen nach gerechter Verteilung des Bodens der bolschewistischen Propaganda hilflos ausgeliefert gewesen. 5
3
Ausnahme: Niemeier 1937, der die "Vielgliedrigkeit der beiden Fronten" in den Mittelpunkt stellt. Für die Presse-Berichterstattung gab es eine offizielle Sprachregelung: "Die spanische Regierung des Generals Franco ist in Zukunft stets als die spanische Nationalregierung zu bezeichnen. Von einer roten Regierung darf nicht gesprochen werden, da eine rote Regierung gar nicht mehr vorhanden ist. Es ist stattdessen stets die Wendung zu gebrauchen: 'Die Bolschewisten'." (DNB-Rundruf vom 19.11. 1936, zitiert nach: NSPresseanweisungen 1993, S. 1405). Die gewalttätigen Konflikte in Spanien vor Kriegsausbruch fanden in der deutschen Presse noch ein differenziertes Echo; die Frankfurter Zeitung z. B. kommentierte bis Juli 1936 zugunsten der Republik (cf. Peter 1992, S. 90).
5
Ein solcher Befund ließ sich mühelos mit den alten Klischees der spanischen Wesenskunde verknüpfen: "Man kann sich leicht vorstellen, welche furchtbare Wirkung das Gift kommunistischer und anarchistischer Propaganda in diesen analphabetischen, schlecht bezahlten und bisher jeder sozialen Fürsorge entbehrenden Proletariermassen der Großstädte und Bergbaudistrikte Spaniens haben muß. Steht dem Spanier doch eben das Donquichottetum, der Drang nach dem Phantastischen, der den Sinn fiir
4. Die Reaktion auf den Bürgerkrieg
123
Die Hauptverantwortlichen für diesen Vorgang sind vorwiegend die Protagonisten der Zweiten Republik. Diese Phase der spanischen Demokratie, die unmittelbare Vorgeschichte des Bürgerkriegs, ist das Hauptangriffsziel und das geeignete Demonstrationsobjekt für die Gefahren von Liberalismus, Demokratie und bolschewistischer Agitation. Zu den zentralen Vorwürfen gehört der des Parteienpluralismus, der den "Volkskörper zerrissen" 6 und zu einer "Atomisierung Spaniens" 7 geführt habe. Diese Vorstellung von der Zersplitterung eines ehedem Ganzen fuhrt auch zu einer scharfen Kritik an den regional istischen Bestrebungen und insbesondere an der Duldung bzw. sogar Förderung der katalanischen Autonomie. Schuldig an den Zuständen in der Zweiten Republik sind die liberalen Intellektuellen, die durch ihre Reformfreudigkeit der Republik "ihr Gesicht gegeben haben" 8 , was letztlich zu Anarchie und Chaos führte. Die Generation von 1898, in den Betrachtungen der zwanziger Jahre vor allem als Vorbild für einen neuen nationalen Aufbruch in einer vermeintlich ähnlichen Situation gewürdigt, erfuhr nunmehr, da sich zwischen Deutschland und Spanien viel deutlichere Parallelen auftaten, eine wesentlich differenziertere und im Rahmen der allgemeinen Intellektuellen-Kritik auch negative Interpretation. Unamuno und Ortega seien gescheitert bzw. hätten in der Zweiten Republik resigniert. Noch prägnanter formulierte es Rudolf Großmann: "Es fehlte dieser spanischen Generation von 1898 noch die Kraft des politischen Stoßtrupps" 9 . Der Diktatur Primo de Riveras attestierte man zwar erste Schritte in die richtige Richtung, wie die Auflösung der Parteien 10 , doch sei sie insgesamt zu schwach gewesen, es fehlte ihr der "stahlharte, einheitliche Wille"". Das Spanien der Jahre 193Ibis 1936 wird bei fast allen Autoren zum Pandämonium schlechthin stilisiert, in dem der Staat vollständig im Chaos versinkt, gesteuert wiederum von "außen", von "den Roten", "den Anarchisten", "den Bolschewisten" 12 . Vor einem so geschilderten Hintergrund hebt sich der franquistische Putsch suggestiv als legitime nationale Rettungstat ab.
6 7 8 9 10 11 12
mühevolle, langsam fortschreitende, nüchterne Arbeit verloren gehen läßt, tief in der Seele" (Lautensach 1937, S. 100). Rust 1939, S. 97. Seifert 1941, S. 101. Schramm 1937, S. 55. Großmann 1941a, S. 126. Schramm 1937, S. 53. Großmann 1941a, S. 127. In der einschlägigen NS-Literatur kamen noch Juden und Freimaurer als fremde Agitatoren hinzu. Zu dieser Literatur cf. Monteath/Nicolai 1986.
Thomas Bräutigam
124
Zahlreiche Punkte dieser Kritik an den spanischen Zuständen decken sich mit der im Dritten Reich üblichen Diffamierung der Weimarer Republik. Solche Konnotationen waren von den Verfassern auch gewiß beabsichtigt, doch sind diese Texte primär vor dem Hintergrund des in den zwanziger Jahren in Deutschland aufgebauten Spanien-Mythos zu lesen. Dieser Mythos bediente die vorherrschende Sehnsucht nach Ganzheit, nach völkischer Einheit und einer geschlossenen Nation. Dieses wohlkonstruierte Bild von der spanischen Kultur und Gesellschaft schien nun der Zerstörung preisgegeben zu sein, ausgerechnet in einem Moment, in dem diese Werte in Deutschland selbst scheinbar ihre erhoffte Wiedergeburt erfuhren. Die Situation war nun genau umgekehrt wie noch ein Jahrzehnt zuvor: Das Vorkriegsspanien, insbesondere das der Jahre 1931 bis 1936, war zum Schreckbild geworden und verkörperte die Übel, die Deutschland Uberwunden zu haben glaubte: "Der Versuch der spanischen Linken, hauptsächlich ihrer Ideologen, in einem Augenblick, wo andere europäische Nationen sich von der liberalen Demokratie abwandten, diese Staatsform ihrem Lande aufzuzwingen, hat Spanien in wenigen Jahren an den Rand des Untergangs gebracht."13
Dieser Satz zeigt zugleich den Versuch, das alte, konstruierte Spanien-Bild aufrechtzuerhalten. Aus den "spanischen Linken" werden die "Ideologen" herausgehoben, die ihrem Land eine Staatsform "aufzwingen". Somit entsteht eine Opposition zwischen "dem Spanien" und "den linken Ideologen", mit ersterem als leidendem, hinnehmendem Opfer und letzteren als Täter. Um das Klischee von der ganzheitlich gesinnten Nation nicht zu gefährden, war es erforderlich, die Zerstörer dieses Bildes zu isolieren und auszugrenzen. Diese Kräfte kamen nicht von innen, aus dem heroischen spanischen Volk selbst, sondern von außen, und bedrohten nicht nur Spanien, sondern ganz Europa. Mit dieser Interpretation ließ sich der alte Mythos fortsetzen und sogar insofern aktualisieren, als 1936 Spanien wieder eine historische Mission zu erfüllen hatte: "Spanien stand hier in Katalonien im Begriff, wiederum einer Sturmflut art- und bodenfremder Eindringlinge zum Opfer zu fallen, die von hier aus ihre Wogen über ganz Europa wälzen konnte, wie die Araber es zwölfhundert Jahre zuvor von Gibraltar und Jerez de la Frontera aus versucht hatten. Der Augenblick war wieder einmal gekommen, wo Spanien seine europäische Sendung erfüllen mußte, Torwächter gegen die Feinde des Abendlandes zu sein. Das Werkzeug dieser geschichtlichen Stunde wurde der General Franco."14
Die "geschichtliche Stunde" von 1936 bedeutete die scheinbare Rehabilitierung der alten Interpretations-Raster. Die Rebellion gegen die Republik stellte sich als definitiver Wiederaufstieg der spanischen Nation seit ihrem Niedergang im 19. 13 14
Schramm 1937, S. 55. Großmann 1941a, S. 127.
4. Die Reaktion auf den
Bürgerkrieg
125
Jahrhundert dar und erhielt dadurch ihre historische Legitimation, wie umgekehrt der Verlauf der spanischen Geschichte durch die Ereignisse ab 1936 neu perspektiviert wurde: Der Caudillo nehme die "endgültige Abrechnung mit 711" 15 vor, Spanien sehe "zum zweitenmal in seiner Geschichte" 16 einer Großmachtstellung entgegen. Diese Anbindung an die Geschichte war keine Erfindung der deutschen Autoren, sondern stand im Einklang mit den Geschichts-Mythen, die die Franquisten selbst inszenierten. Hierzu gehörte primär die Konstruktion einer rückfuhrenden Linie vom Franco-Staat zu den Katholischen Königen, die dem Schema Aufstieg Verfall - Wiederaufstieg entsprach: Nach vollendeter Reconquista traten die Katholischen Könige als Gründer des spanischen Staates auf, der nach seiner Hochblüte im 16. Jahrhundert einer ständigen Aushöhlung und schließlich einem permanenten Verfall im 19. Jahrhundert ausgesetzt war. Solche passivischen Formulierungen sind besonders markant, da so die Verantwortlichen für diesen Verfallsprozeß als fremde Agitatoren auftreten: Die Bourbonen-Herrschaft und die Ideen von Aufklärung und Französischer Revolution 17 waren die Hauptschuldigen. Dem Aufstieg als ureigene Leistung des spanischen Volkes entsprach der Abstieg als Ergebnis konstanter Fremdbestimmung, was sich in dem Fehlen einer "nationalen Idee" 18 und einem Gegensatz von Volk und konstitutionalistischem Staat im 19. Jahrhundert äußerte. Zentrale Ereignisse der spanischen Geschichte ließen sich auch hier mit Kategorien referieren, die einen Propagandawert für die Gegenwart implizierten. 19 Die Autoren, die die aktuellen Ereignisse kommentierten, strebten nicht eine Revision des bisherigen Spanienbildes an, sondern im Gegenteil dessen Zementierung. Die auf einer Gemeinschafts- und Ganzheitsideologie basierende Interpretation der spanischen Geschichte und Kultur als der Leistung eines in innerer Eintracht und heroischer Gesinnung handelnden "Volkes" (allein dieser Terminus war eine Vereinfachung) hätte durch eine Analyse der tatsächlichen Ursachen des Bürgerkriegs eine entscheidende Falsifikation erfahren müssen. Daß dies nicht 15
Stoye 1940, S. 38.
16
Großmann 1941a, S. 129.
17
"Das Gift des Liberalismus der Französischen Revolution hatte weite Kreise in Spanien erfaßt und konnte nicht so bald entfernt werden" (Stoye 1940, S. 42).
18
Schramm 1937, S. 47.
19
"Die Inquisition wurde zu einem Staat im Staate, wurde länger als drei Jahrhunderte zum furchtbaren Alpdruck Spaniens, zu einer GPU unter teilweise jüdischer Führung" (Niemeier 1937, S. 634). Auch die Kritik an der Inquisition konnte also - indem sie das antibolschewistische und antisemitische Syndrom bediente - pro-nazistisch instrumentalisiert werden (cf. die oben [S. 119] zitierte Position Litschauers zur Inquisition!).
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geleistet wurde, ist nicht in erster Linie den in Deutschland herrschenden politischen Rahmenbedingungen zuzuschreiben, also etwa einer Manipulation "von oben", sondern den eigenen, mit scheinrationalen Kategorien operierenden Denkmustern. Hierzu gehörte die biologistische Vorstellung von Aufstieg, Blüte und Verfall einer Nation, die dem Geschichtsverlauf eine naturhafte Notwendigkeit unterstellt, vor dem das Handeln des einzelnen Individuums verblaßt. Die einmal erfaßten Grundstrukturen des "spanischen Geistes" konnten unangetastet bleiben, wenn die potentiellen Störfaktoren sich als fremde, unspanische Einflüsse erwiesen. 20 Die "nationale Erhebung" wurde nicht nur deshalb positiv gewürdigt, weil nun ein politischer Gleichlauf Spaniens mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu erkennen war, sondern vor allem weil die Sache der "Nationalisten" (auch dieser Begriff ist semantisch simplifizierend) als das "wirkliche Spanien" 21 gesehen wurde, als das Spanien, das dem bisher konstruierten Bild entsprach. Die implizite Konnotierung des NS-Staats als Durchbruch des "wirklichen" Deutschlands und Wiederaufstieg der deutschen Nation war ein zusätzlicher Aspekt dieser Interpretation. Es ist jedoch zumindest ein Text zu erwähnen, auf den dieser Befund nicht zutrifft. Er stammt aus der Feder von Werner Krauss, hat die faschistische spanische Staatspartei zum Thema und erscheint 1941 in einer linientreuen nationalsozialistischen Publikation. Das Zusammentreffen allein dieser drei Fakten ergibt eine bemerkenswerte Konstellation. Krauss war zu diesem Zeitpunkt - nachdem seine Berufung auf einen Lehrstuhl wegen seiner regimekritischen Einstellung gescheitert war - in einer Dolmetscher-Lehrkompanie dienstverpflichtet. Im gleichen Jahr knüpfte er seine Kontakte zur Widerstandsgruppe Schulze-Boysen. Schon durch diese Koinzidenz von anti- und pro-faschistischen Aspekten erhält der Text einen besonderen Status, der sich auch in divergierenden Interpretationen widerspiegelt, die diesem Aufsatz von der in letzter Zeit auflebenden Wer-
20
21
Eine kleine Variante dieser Argumentation stellte Karl Vossler in einem Zeitungsartikel vor, worin er dem zeitgenössischen Spanien die Teilhabe am guten alten spanischen Geist generell streitig machte und diese Absenz als eigentliche Wurzel der aktuellen Malaise anführte: "Wie hoch man die Wirkung der russischen Agitatoren veranschlagen mag, sie hätte taube Ohren gefunden, wenn im heutigen Spanien etwa derjenige Geist noch vorherrschend wäre, den wir als den eigentlich spanischen zu betrachten gewöhnt sind: der Geist, der das Weltreich Karl V. erbaute und noch mehr als einhundert Jahre später in den wunderbarsten Werken der Dichtung, Malerei und Plastik seine Blüten trieb." (Vossler 1936c). Schramm 1940, S. 45.
4. Die Reaktion auf den
Bürgerkrieg
127
ner-Krauss-Forschung zuteil wurden. Sie reichen von "Heulen mit den W ö l f e n " 2 2 bis zu "verschlüsselte Kritik am Faschismus" 2 3 . D i e Absichten, die Krauss mit diesem Aufsatz verfolgte, sind inzwischen durch B r i e f e von Krauss an den ehemaligen Marburger Assistenten Martin Hellweg rekonstruierbar. Demnach hatte Krauss eine Stelle in Spanien in Aussicht, wofür er sich nach seinen Worten "schriftlich im 'Gaischt der Zeit' verunreinigen" mußte und daher "ein Ei über 'Falange Española' (mit schillernder Färbung) in diese J a u c h e " legte. 2 4 Zudem wollte er die "schöne Gelegenheit, 'mein Wort' zur Widerspruchs-Ideologie zu sagen [...] nicht ungenützt passieren" lassen. 2 5 Damit formulierte auch Krauss selbst die Ambivalenzen
(verunreinigen/schillernde
Färbung/Widerspruchs-Ideologie), die mit einem solchen T h e m a zu dieser Zeit an diesem Ort verbunden waren. D e r T e x t ist insofern pro-falangistisch, als Krauss die Legitimität dieser B e w e gung nirgends in Frage stellt. Er vermeidet j e d o c h eine pauschale Apologetik, indem er die dem Falange-Weltbild immanenten Gegensätzlichkeiten thematisiert, so daß ein eigentümlich dialektischer Diskurs entsteht. Dies beginnt bei der behaupteten anfänglich schwierigen Akzeptanz der Falange-Bewegung in Spanien, da ihr der Makel anhaftete, eine Kopie des italienischen Faschismus zu sein. Diesen Makel habe die Falange dadurch überwunden, daß sie den spanischen "Personalismus" ins Zentrum stellte. 2 6 Auch werden die unterschiedlichen M e i nungen innerhalb der Bewegung (JONS/Falange, Ledesma Ramos vs. J o s é Antonio oder auch Maeztu vs. Ledesma) relativ breit dargestellt, so daß der Untersuchungsgegenstand nicht als ein monolithischer B l o c k , sondern als ein verschiedene Tendenzen integrierender Faktor erscheint. Innerhalb dieses Rahmens sind auch Korrekturen an den sonst üblichen SpanienKlischees möglich, etwa dem vom uniformen, von den Zeitläuften unbehelligten
22 23 24
25
26
Schlobach 1989, S. 127. Neriich 1993, S. 133. Zitiert nach: Neriich 1993, S. 110. Ib. S. I I I . Auch folgender Satz ist aufschlußreich: "Im übrigen verkaufe ich meine Haut meistbietend. Ich mache alles, was gewünscht wird, wenn man mich aus der 'merde' rauszieht" (ib., S. 109, alle Zitate von Okt.-Dez. 1940). Hier greift Krauss zur Ironie: "Ortega y Gasset war ein schlechter Prophet, aber er hatte ein sicheres Wissen um die spanische Seele, und die spanische Seele gab sich willig dem Zauber seiner geschliffenen Formulierungen gefangen. Wenn es schließlich dem Falangismus doch gelang, ein faschistisches Spanien in Bewegung zu setzen, so mußte FALANGE dieses Gesetz der spanischen Seele vernommen haben: der Personalismus wurde zur Achse des falangistischen Staates" (Krauss 1941, S. 495).
Thomas
128
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spanischen Volkscharakter. 27 Auch die regionalistischen Bestrebungen -
sonst
üblicherweise Fanal für die Auflösung der spanischen Nation - haben trotz der antiseparatistischen Einstellung der Falange positive Seiten. 28 Bei all diesem dialektischen und zum Teil spitzfindigen Abwägen und intendierten Aufzeigen widersprüchlicher Tendenzen ist jedoch der Standpunkt des Autors nicht mehr auszumachen. Krauss verschanzt sich hinter zitierten Meinungen, dergestalt, daß für den Leser nicht mehr ersichtlich ist, ob nun gerade José Antonio paraphrasiert wird oder der Autor kommentiert. Bezeichnenderweise finden sich auch in diesem Aufsatz (ähnlich dem in Kap. 2.1. analysierten von Walther KUchler) Konditionalsätze mit unklarer Semantik und daher distanzschaffender Funktion 29 : Sie beschreiben keinen Ist-Zustand, sondern konstruieren Annahmen, Vermutungen, Voraussetzungen. Mit einem Begriff aus der Erzähltheorie läßt sich dieses Zurücknehmen bzw. Verschwinden des Autorenstandpunkts als personale Erzählhaltung charakterisieren: Die dominierende Perspektive ist die der auftretenden Personen - José Antonio, Ledesma, Maeztu etc. - , denen jedoch nur soviel Platz eingeräumt wird, wie es der Autor ohne Selbstverleugnung zugestehen kann. Dieser Aufsatz erweist sich für den Leser als ungewöhnlich sperrig, und der zeitgenössische Rezipient, an klare Bekenntnisse gewöhnt, war mit einem Text, der sich einer klaren Aussage enthält, vermutlich nicht befriedigt. Nicht zufällig unterläßt Krauss auch jeden expliziten Vergleich von Falange und Nationalso27
28
29
"Das wehrhafte Nebeneinander zweier in tödlicher Feindschaft zerrissener Spanienbilder ist das beredte Dementi des Irrwahns, als ob einem Volk zu seiner Erfüllung nur eine einzige Form überlassen wäre, als ob nicht die Zeit ihr Gesetz dem nationalen Wesensausdruck von einer Epoche zur andern auferlege. Die geistigen Bildner der Falange haben diese Einsicht besessen" (ib., S. 501). "Der katatonische, baskische, galizische Nationalismus wird also keineswegs als Komplott einer Fremdmacht, als Hirngespinst politischer Romantik angesehen, sondern für eine überaus natürliche und naturhafte Tatsache. [...] Die Abwehr dieser Separatismen kann den Ernst und die Tiefe und Wahrheit der aufgebotenen Gefühle keinen Augenblick übersehen; was sie verwirft ist gerade die Suprematie der natürlichen Gemeinschaft über den geistigen Beruf der spanischen Nation. Diese Völker haben um die Kategorien JOSE ANTONIOS zu gebrauchen - ein Höchstmaß an Individualität, aber der Versuch ihrer politischen Personifizierung und Selbständigkeit ist nur Symptom der spanischen Ohnmacht" (ib., S. 500). "Wenn der monadenhafte Individualismus die Behauptungsform einer zersetzten Welt ist, so erschließen die personellen Einheiten der Einzelperson, der Familie, der Gemeinde, der Gewerkschaft ('sindicato') den Pluralismus einer organisch ineinandergreifenden Ordnung" (ib., S. 496). Schlobach, der den ersten Teil dieses Satzes als "Konzession an die nazistische Terminologie" (Schlobach 1989, S. 126) zitiert, demonstriert damit die Gefahren der Zitatverkürzung: Er unterschlägt nämlich das "wenn" und stellt den Konditionalsatz als Aussagesatz hin!
4. Die Reaktion auf den
Bürgerkrieg
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zialismus, der bei der sonst so oft beschworenen "Geistesbruderschaft" für den Leser gewissermaßen im Räume stand. Es ist daher anzunehmen, daß der vergleichende Aspekt implizit mitgelesen wurde, und es ist nicht abzustreiten, daß bei einer solchen komparativen Lektüre eine Kritik am Nationalsozialismus herausgelesen werden konnte (aber nicht mußte!). Sätze wie: "Die wirkliche Dimension des imperialen Entwurfs strebt natürlich nicht in anachronistischer Weise der bestehenden Gliederung geschichtlicher Räume entgegen" 30
oder "Die falangistische Urtat, die Setzung des Imperio, greift nicht über die Grenzen" 31
markieren negativ den Griff über die Grenzen seitens des NS-Staates, der der bestehenden Gliederung geschichtlicher Räume entgegenstrebt. Gegen diese kritische Lektüre verhalten sich jedoch andere Aussagen - zudem im gleichen Passus - sperrend: "Die europäischen Spanier stützen dabei ihren Anspruch auf die hispanische Vorhut weniger auf geschichtlichen Vorrang als vielmehr auf den erlebten Prozeß der falangistischen Wandlung." 32
Stützten auch die Deutschen ihren Anspruch auf Vorhut auf den erlebten Prozeß der nationalsozialistischen Wandlung? Es zeigt sich jedenfalls, daß die kritische Argumentation in diesem Text mit der unkritischen, pro-faschistischen derart verschränkt ist, daß ein Herauslösen der einen Argumentationslinie zuungunsten der anderen nicht möglich ist. Das "Ausspielen einer weniger schrecklichen Variante [des Faschismus] gegen die schrecklichste" 33 war unter diesen Umständen zum Scheitern verurteilt. Das Verfahren, nur solche Verfassermeinungen zuzulassen, die auch ein Gegner der deutschen und spanischen Regimes noch vertreten konnte, anderes aber als paraphrasierte Zitate mitzuteilen bzw. mit Klauseln und Vorbehalten zu versehen, führt allenfalls zu einer reduzierten, bedingten Affirmation, erweist sich für
30
Krauss 1941, S. 504.
31
Ib., S. 504 f.
32
Ib., S. 504.
33
Neriich 1993, S. 133. Neriich, der diese Interpretation als die alleingültige festsetzt, behauptet obendrein: "Die Briefe an Martin Hellweg beseitigen mit wünschenswerter [sie!] Klarheit alle Zweifel hinsichtlich des Falange-Aufsatzes" (ib.). Das Wunschdenken als Faktum auszugeben, dient hier nur dazu, die Diskussion zugunsten des eigenen Standpunkts zu beenden.
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"verschlüsselte Botschaften" eines "oppositionellen Textes" 34 jedoch als unzureichend. Grundsätzlich ist bei solchen doppelbödigen, sich einer klaren Aussage enthaltenden Texten deren Alibifunktion zu kritisieren: Sie spiegeln ein kritisches Rationalisieren vor und verleihen eben dadurch ihrem Gegenstand (also hier: der faschistischen Staatspartei) eine Respektabilität da, wo eigentlich eine Distanznahme erforderlich ist (die Verlierer des Bürgerkriegs z. B., die gewiß nicht an der "falangistischen Wandlung" partizipierten, sondern auch 1941 noch dem Racheterror der Franquisten ausgeliefert waren, werden mit keinem Wort erwähnt). Solche Feststellungen aus Uber 50jähriger Distanz sind freilich mit der Perspektive der damaligen Protagonisten nicht in Deckung zu bringen. 35 Gerade deswegen sollten diese Überlegungen nicht als moralisierender Vorwurf aus sicherer postfestum-Position verstanden werden, sondern auf die Verantwortung der Autoren für ihren Text aufmerksam machen. Hierfür ein Problembewußtsein zu schaffen, wäre ein wissenschaftsgeschichtlicher Erkenntniswert, der über den Untersuchungszeitraum hinausweist.
34 35
Ib. Krauss war rückblickend (1975) selbst der Meinung, daß eine solche "doppelzüngige Konzeption" besser nie hätte erscheinen sollen (zit. bei Jehle 1994, S. 191).
5. Hamburger und bayerische Hispanistik 5.
DIE FORTSETZUNG DER HAMBURGER UND BAYERISCHEN HISPANISTIK
5.1.
Die "Hamburger Schule"
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Im Überblickkapitel zur deutschen Hispanistik der zwanziger Jahre kristallisierten sich zwei "Schienen" heraus, eine Hamburger und eine bayerische. Die bayerische Hispanistik war geprägt durch das individuelle Spanien-Interesse dreier Personen - Pfandl, Hämel, Vossler die darüber hinaus allerdings keine spezifischen Gemeinsamkeiten aufweisen, wenn man vom katholischen Impetus bei Pfandl und Hämel absieht. Im Gegensatz dazu bot die Hamburger Hispanistik das Bild einer geschlossenen Community mit einem exklusiven Forschungsprofil. Dieses Profil ist mit seiner an dem sprachwissenschaftlichen Paradigma "Wörter und Sachen" orientierten Erforschung der ländlichen Volkskultur der (Ibero-) Romania bereits skizziert worden. Dabei ist vor allem die zeitgeisttypische Verbindung von zwar gegenwärtigen, aber in archaischen Zeiten wurzelnden bäuerlichen Lebensformen mit aktuellen, zeitnahen Aspekten hervorgehoben worden, z. B. die besondere Berücksichtigung der gesprochenen Umgangssprache. Zusammenfassend läßt sich die Hamburger Romanistik mit diesen vier Punkten charakterisieren: -
Iberoromanistische Schwerpunktbildung; Verbindung von "Wörter und Sachen" mit Volkskunde; Gegenwartsorientierung im Rahmen der "Auslandskunde"; gleichberechtigtes Einbeziehen von Lateinamerika.
Diese vier Elemente sind für den gesamten Zeitraum von 1919 bis 1945 kennzeichnend. Die Hamburger Spezifika sind in den zwanziger Jahren angelegt und entwickelt worden und konnten im Dritten Reich ohne Abstriche oder zusätzliche Legitimierung weiterbestehen. Diese Kontinuität betrifft besonders die sprachwissenschaftliche Volkskunde, die von der propagandistischen Valorisierung der Kategorien Volk, Volkstum, Tradition, Heimat etc. profitierte. Die Teilhabe an der paradigmatischen Aufwertung dieser Begriffe identifiziert diesen Forschungszweig nicht a priori mit einer "NS-Wissenschaft". "Volkskundlich" ist nicht mit "völkisch" gleichzusetzen. Volkskultur als Gegenstand von Wissenschaft ist per se weder positiv noch negativ besetzt. Entscheidend für eine Bewertung ist jedoch der gesellschaftliche und ideologische Kontext, in dem diese Forschung stattfindet, und welche potentiellen Funktionalisierungen - auch unabhängig von den Intentionen der beteiligten Wissenschaftler - dieser Kontext bereithält. Die Präferenz von Lebensformen isolierter archaischer Bauern- und Hirtenkulturen korrelierte mit der ahistorischen, idealisierenden und harmonisierenden
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Sichtweise, die den Mythos von der "organischen Volksgemeinschaft" - eines der Basiselemente auch des Nationalsozialismus - ermöglichte und dieser Vorstellung eine wissenschaftliche Relevanz sicherte. Auch die Erforschung fremden Volkstums konnte die in den Legitimationstexten der Romanistik geforderte Unterstützung der germanischen Volkstumsforschung (siehe oben, Kap. 2.2.) leisten, indem sie das Paradigma "Volk" in einer Art Parallelforschung auf die eigenen Bezugsländer anwandte. In der Hinwendung zur unteren agrarischen Schicht - Bauern, Hirten, ländliche Handwerker - und der Aussparung der modernen städtischen Kultur manifestiert sich ein allgemeiner zeitnaher Impetus mit einer anti-industriellen Semantik. Hierzu gehört z. B. die sittliche Konfrontierung von Stadt und Land sowie die Heroisierung des "einfachen Lebens", das weit entfernt von den Zwängen der modernen, komplexen Gesellschaft in ruhigen, überschaubaren und immer gleichen Bahnen verläuft. Die "Entdeckung" der in übersichtlichen Bereichen stattfindenden und auf das Elementare reduzierten einfachen Lebensformen war eine Reaktion auf das Krisenbewußtsein, die Fortschrittsmüdigkeit und die Erfahrung undurchsichtiger Strukturen. Dieser mentale Hintergrund war auch nach 1933 aktuell, da der Nationalsozialismus als Produkt dieser subjektiven Krisen- und Chaoserfahrung zu verstehen ist. Dennoch war das Verhältnis dieser Forschungsrichtung zum Nationalsozialismus ambivalent: einerseits die Partizipation an der gleichsam zur offiziellen Staatsdoktrin gewordenen Volkstumsideologie, andererseits der Kontrast, in dem die ethnographische Idealisierung einer insularen Gemeinschaft wie der Pyrenäen- oder Sierra-Nevada-Bevölkerung zum totalen gesellschaftlichen Aufbruch im Deutschland des Dritten Reiches stand. Das Faszinosum dieser abgeschiedenen Kulturräume bestand gerade darin, daß sich die Beschreibung von Bauernhäusern, Viehzuchtformen, Brauchtum, Trachten und Volksfesten scheinbar von der "großen" Politik, den ökonomischen Zusammenhängen, den Klassengegensätzen, den sozialen Konflikten, dem Wechsel von Kriegs- und Friedenszeiten abstrahieren ließ und damit einen positiv besetzten Gegenpol markierte. Ebensowenig waren "die Hamburger" an den historischen Wandlungen interessiert, da sie nicht die Alltagskultur einer vergangenen, abgeschlossenen Epoche untersuchten, sondern eine Kultur, die aus der Geschichte von den Zeitläuften unbeschadet in die Gegenwart hineinragt. Doch war gerade in den zwanziger und dreißiger Jahren, als diese Forschungsrichtung florierte, der Punkt erreicht, an dem diese kulturellen Reservationen dem destruktiven Vorstoß der Moderne nicht mehr standzuhalten schienen, weil - um eine zeitgenössische Formulierung zu zitieren -
5. Hamburger
und bayerische
Hispanistik
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"dort [sc. Pyrenäengebiet] bodenständiges Sprach- und Sachgut in einem aussichtslosen Kampf gegen die mit Schule, Militärdienst, Zeitung und Rundfunk einbrechenden nivellierenden Schriftsprachen stand"1.
Der Romanist glaubte, in diesem "Kampf' Partei ergreifen zu müssen, um das bedrohte Kulturgut vor seinem Untergang aufzuzeichnen und zu überliefern. 2 Dieses Bewußtsein, an einem Endpunkt angekommen zu sein, war eine zusätzliche Motivation. Die Feldforschung vor Ort und der direkte Kontakt mit dem Volk, dem lebendigen Element anstelle des toten Sprachmaterials, umgab auch das Handeln des Wissenschaftlers mit der Aura des Natürlichen in Opposition zum traditionellen Buch- und Stubengelehrten. 3 Das Kontinuum der Volkskultur als entscheidender Faktor tangiert auch internationale Zusammenhänge. Unamunos Konzeption einer intrahistoria basierte auf ähnlichen Überlegungen. In Frankreich stellten die Annales-Historiker ebenfalls die longue durée (der Schlüsselbegriff bei Fernand Braudel) in den Mittelpunkt: die Erforschung der über viele Epochen hindurch gleichbleibenden Strukturen. Der soziologische Ansatz dieser Richtung und die Hervorhebung der Mentalitäten als produktive Faktoren in der Geschichte markieren allerdings die Differenz zur Hamburger Schule. Näherliegend ist die Verbindung der romanistischen Volkskunde zu ähnlichen Tendenzen in den zeitgenössischen deutschen Geisteswissenschaften. Auch in der Geschichtswissenschaft etablierte sich eine "Volksgeschichte", die methodische und thematische Innovationsbereitschaft (interdisziplinäre und empirische Untersuchung der Lebensformen des einfachen Volkes) mit einer irrationalen Verklärung des Volkstums kombinierte, was eine "Mischung von methodologisch 'progressiven' Elementen und weitgehend modernitätsskeptischem, 'regressivem' Inhalt" 4 ergab. Diese Tendenzen ließen sich insbesondere im Rahmen der sogenannten "Ostforschung" gezielt zur Legitimierung deutschen Raumanspruchs instrumentalisieren (und zwar nicht im Auftrag "von oben", sondern in Eigeninitiative der beteiligten Historiker). Kuhn 1941, S. 396. 2
Fritz Krüger sah sich in seinem Pyrenäen-Werk zudem mit einer äußerst konkreten und plötzlichen Zerstörung konfrontiert, die seine Arbeit als Rettung in letzter Minute erscheinen ließ: "Mit schmerzlichen Gefühlen schließe ich dieses Vorwort ab. Denn die Kultur, die ich in diesem Band zur Darstellung bringe, ist inzwischen im Verlaufe des spanischen Bürgerkrieges zu einem großen Teil vernichtet worden, das häusliche Leben und das Herdfeuer vieler Pyrenäendörfer erloschen" (Krüger 1939, S. V).
3
Zu den "ideologischen Implikationen" der Hamburger Schule und der Wörter-undSachen-Bewegung generell: Settekorn 1991 u. 1992.
4
Oberkrome 1993, S. 170.
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Eine ähnliche direkte politische Funktion findet sich auch in der Hamburger Schule, zwar weniger auf iberoromanistischem Sektor, wohl aber in der Frankreichforschung, die in Hamburg nicht völlig marginalisiert war. So spricht Settekorn von einer "Kriegsbegleitforschung" 5 Fritz Krügers, als dieser 1940 mittels sachkundlicher Belege (Flureinteilung, Pflug- und Haustypen etc.) die Durchdringung Nordfrankreichs mit der "fortschrittlichen Kultur des germanischen Lebensraums" nachzuweisen versucht und die kulturelle Unterwerfung der Picardie durch die "Strahlkraft des benachbarten Germanentums" 6 würdigt. Der Nachweis des germanischen Einflusses auf die französische Sprache und Kultur war allerdings seit langem eine beliebte Thematik bei deutschen Romanisten (z. B. Walter von Wartburg, Ernst Gamillscheg). Gleichwohl läßt sich die romanistische Volkskunde, wie sie in Hamburg praktiziert wurde, nicht einseitig auf politische Implikationen und NS-AfFmitäten reduzieren. Die Lokalisierung des wissenschaftsgeschichtlichen Standorts dieser Richtung legt vielmehr gerade deren ambivalente Eigenschaften offen, wie etwa den positiven Kontrast zur Kulturkunde. Der Primat der Registrierung und Deskription der materiellen Volkskultur in der Hamburger Schule hat nämlich zur Folge, daß die sprachwissenschaftlichen Aspekte - hier primär Dialektgeographie - in den einschlägigen Publikationen einen eher nachgeordneten Status erhalten. Sprache erscheint hier nicht als selbständiges Phänomen, sondern als Produkt der autonomen Volkskultur. Diese ist das eigentliche Subjekt. Zutreffend ist von Krüger behauptet worden, daß er aus der Schule "Wörter und Sachen" "Sachen und Wörter" gemacht habe: "Er stellte die Sache dar und suchte dann die Beziehung des Wortes dazu" 7 . Methodisch hatte dieses Verfahren einen Rekurs auf das positivistische Faktensammeln zur Folge. Krüger notierte in seinem mehrbändigen, enzyklopädisch angelegten Opus magnum Die Hochpyrenäen (1935-39), ihm gehe es um "Überbleibsel einer uralten Kulturschicht", um
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Settekorn 1992, S. 160. Zit. ib., S. 159. Solche direkten Bezüge finden sich meist nicht in den eigentlichen Fachzeitschriften; sie zielten auf ein heterogeneres Publikum (hier das der Hansischen Hochschulzeitung) mit größerer Breitenwirkung. Im direkten Anschluß an Krügers Text steht ein antifranzösischer und antisemitischer Ausfall Wilhelm Gieses, der eine "enge Verbindung des französischen Denkens mit dem aus ihm hervorgegangenen, aber verflachten jüdischen Denken" konstatiert, die geeignet sei, "den Glauben anderer Völker an den höheren Wert der französischen Zivilisation zu erschüttern" (Giese 1940, S. 171). Deutschmann 1992a, S. 172.
5. Hamburger und bayerische
Hispanistik
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"sachliche Reststücke, die nicht weniger Beachtung beanspruchen als die sprachlichen Residuen, denen die Philologie mit Recht eine so große Bedeutung zur Aufhellung alter Kulturzustände beilegt"8. Damit erhält die Aufzeichnung der ländlichen Gegenstandskultur den gleichen wissenschaftlichen Stellenwert wie die Rekonstruierung sprachhistorischer Zustände. Da diese neue Forschungsrichtung "von vorne" beginnen mußte, rückte methodisch das empirische Erfassen des Details in den Mittelpunkt. Dadurch ermangeln diese Publikationen weitgehend den nationaltypologischen Verallgemeinerungen und vorschnellen Rückschlüssen von einem Phänomen auf den "Volkscharakter", wie dies aus den kulturkundlichen Texten bekannt ist. Dieser Befund betrifft jedoch nur die Hamburger Schule im engeren Sinn. Hierzu gehörten der Seminardirektor Fritz Krüger, der Dozent Wilhelm Giese, der Assistent Walter Schroeder und die Doktoranden. Er betrifft nicht die Hamburger Hispanistik in toto: Rudolf Großmann z. B. - Direktor des Ibero-amerikanischen Instituts und Dozent am Seminar - partizipierte nur am Rande an dieser "Schule" und publizierte meist andere Texte, vorwiegend in seiner Institutszeitschrift Ibero-amerikanische Rundschau. Das Hamburger Vorlesungsverzeichnis dokumentiert jedoch die Bedeutung, die der Parameter "Volk" für das Seminar generell hatte. Nicht selten indiziert schon die Titelformulierung der Veranstaltungen die Reduktion des literarischen Werks auf seine Beziehung zu volkhaften oder volkstypischen Aspekten, auf eine Folie zum Aufweis der volkstümlichen Elemente der spanischen Kultur: -
"Spanische Volkspoesie: Cantar de Mio Cid" (Giese, 1935); "Volkstypen in der spanischen Literatur: Der Schelmenroman" (Großmann, 1936/37); "Die Volkwerdung des spanischen Amerika" (Großmann, 1937); "Heimat und Volk in der spanischen Literatur des 19. Jahrhunderts" (Krüger, 1937/38); "Übungen über das Volkslied der Romanen" (Krüger, 1938/39); "Einfuhrung in die südamerikanische Volksliteratur" (Großmann, 1938/ 39); "Das spanische Volk im Spiegel der spanischen Literatur" (Giese, 1940/41); "Übungen über die volkstümliche Erzählkunst Spaniens" (Giese, 1942/ 43).
Ein ähnliches Bild ergeben die Themen der Hamburger Dissertationen. Neben den eigentlichen volkskundlich-ethnographischen Arbeiten 9 war die Literatur als "Spiegel" des Volkstums ein beliebtes Forschungsgebiet. 10
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Krüger 1936, S. VII. Beispiele: - Werner Bergmann, Studien zur volkstümlichen Kultur im Grenzgebiet von Hoch-
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Volkstumsforschung und iberoromanistischer Schwerpunkt markieren die Ausnahmestellung des Hamburger Romanischen Seminars im Vergleich zu den anderen deutschen Universitäten. Daß Hamburg zur Hochburg der deutschen Hispanistik avancierte, geht auf die in Kap. 1 dargestellte außeruniversitäre Entwicklungsphase dieser Teildisziplin im Kontext des Ersten Weltkriegs zurück. Da Bernhard Schädel, der Initiator dieser frühen Spanienforschung, erster Direktor des Instituts für Romanische Philologie an der 1919 gegründeten Hamburger Universität wurde, war dieser Schwerpunkt von Anfang an dort verankert. Auf Schädel gehen auch die ersten dialektgeographischen und volkskundlichen Arbeiten zurück. Die Vorlesungsverzeichnisse aller anderen Universitäten belegen die klare Dominanz des Französischen, und insbesondere in den klassischen Hauptvorlesungen über Altfranzösisch, Altprovenzalisch, Historische Grammatik des Französischen etc. manifestiert sich die Konstanz von hundert Jahren Fachtradition. Der Forschungsschwerpunkt des entsprechenden Lehrstuhlinhabers hatte darauf nur geringen Einfluß." In Hamburg wurden französische - und auch altfranzösische - Themen zwar nicht völlig ignoriert, waren im Vergleich zu den iberoromanistischen Veranstaltungen jedoch in der Minderheit. Statt historischer Grammatik bevorzugte man dann Themen wie: "Der Kulturaufbau Frankreichs" (Krüger, 1939/40) oder: "Französische Wortgeschichte als Ausdruck der Kulturgeschichte" (Krüger, 1939) oder gar: "Übungen über das französische Bauerntum" (Giese, 1937/38).
aragön und Navarra (1934); - Max Thede, Die Albufera von Valencia. Eine volkskundliche Darstellung (1934); - Paul Voigt, Die Sierra Nevada. Haus, Hausrat, häusliches und gewerbliches Tagewerk (1937); - Rudolf Wilmes, Der Hausrat im hocharagonesischen Bauernhaus des Valle de Viö (1938); - Käte Brüdt, Madeira. Estudo lingüistico-etnogräfico (1938). 10
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Beispiele: - Sophie Weiland, Portugiesisches Volkstum im Spiegel der portugiesischen Erzählungsliteratur (1941); - Siegfried W. Lenz, Die spanische Copla als Spiegelbild spanischer Lebens- und Wesensart (1944). Lediglich der literatur- bzw. sprachwissenschaftliche Schwerpunkt variierte von Seminar zu Seminar. Dabei ist zu berücksichtigen, daß jedes Institut (mit Ausnahme von Berlin und Leipzig) in der Regel mit nur einer ordentlichen Professur für Romanische Philologie ausgestattet war. Der galloromanischen Tradition des Fachs konnten oder wollten in der Lehre sich auch diejenigen Romanisten nicht entziehen, die - wie z. B. Karl Vossler in München - ganz andere Interessen hatten.
5. Hamburger und bayerische
Hispanistik
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Die iberoromanistischen Veranstaltungen verteilten sich nahezu gleichmäßig auf Spanien, Portugal und Lateinamerika, wobei Wilhelm Giese die Lusitanistik und Rudolf Großmann die Lateinamerikanistik betreuten. Wiederum im Unterschied zu den anderen Universitäten zeigt das Veranstaltungsprofil des Hamburger Seminars eine auffällige Präferenz von aktuellen kulturellen und politischen Problemen unter besonderer Berücksichtigung der ausländischen Presse als Quelle (auch diese Pressearbeit hatte Tradition: Schädel gab bereits im Wintersemester 1921/22 ein "Auslandspolitisches Zeitungspraktikum"). Zu diesem Zweck beschäftigte das Seminar mit Franz Hermann Kluge einen eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der zu den "nationalsozialistischen Aktivposten" 12 des Seminars zählte, was zuweilen schon im Titel seiner Veranstaltungen anklingt (z. B.: "Politische Führung und publizistische Führungsmittel in Süd- und Mittelamerika", 1939). Zu diesen Aktivposten gehörte auch Krügers Assistent Walter Schroeder, der die nationalsozialistische Innenpolitik mit der Romanistik zu verbinden wußte ("Arbeitsgemeinschaft: Soziale Reformbestrebungen im heutigen Frankreich verglichen mit dem Aufbau der Deutschen Arbeitsfront", 1936). Darüber hinaus nahm das Romanische Seminar an der "Politischen Fachgemeinschaft der Fakultäten" teil, die Veranstaltungen für Hörer aller Fakultäten in vier Abteilungen anbot: I. Rasse, Volk, Staat; II. Auslandskunde; III. Die Nordsee; IV. Wehrwissenschaften und Verwandtes. Die "Auslandskunde" wurde auch von Romanisten mit Seminaren beliefert (z. B.: "Die Wechselbeziehungen zwischen der deutschen und der spanisch-portugiesischen Welt in ihrer geschichtlichen Entwicklung", Großmann, 1937/38). Fragen nach der Situierung der Hamburger Romanistik im nationalsozialistischen Hochschulalltag und dem Verhalten einzelner Hochschullehrer lassen sich allein an Hand der Vorlesungsverzeichnisse (die j a Aussagen über den eigentlichen Seminarverlauf nicht zulassen) und auch mittels der Publikationen nicht beantworten. Auch das Fehlen direkter nationalsozialistischer Bezugspunkte in den volkskundlichen Veröffentlichungen läßt keinerlei Rückschlüsse zu. Wolfgang Settekorn kommt auf Grund seiner Archivstudien jedoch zu dem Schluß, daß es in den Publikationen gar keiner "verbalen Loyalitätsbekundungen" bedurfte, weil der "Seminaralltag [...] von 1933 an zutiefst nationalsozialistisch geprägt" 13 war.
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Settekorn 1991, S. 764. Ib., S. 763. Anläßlich zweier Reisen Krügers in das Portugal Salazars (1935 und 1937) und seiner überschwenglichen internen Berichte darüber führt Settekorn aus, "daß unter Krüger die alten kulturpolitischen Bestrebungen der Hamburger Romanistik in der Zeit des herrschenden europäischen Faschismus auf besonders fruchtbaren Boden gefallen waren und sich zu voller Blüte entwickelten: Die richtigen rechten Politiker waren an der Macht, die eigenen Schüler besetzten in der Heimat wichtige
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5.2.
Ludwig Pfandl und seine Beziehung zum Unbewußten
Bräutigam
Der sich im Überblickskapitel 1.3.2. als "bayerische Hispanistik" profilierende Zweig der deutschen Spanienforschung rekrutierte sich aus Adalbert Hämel, Ludwig Pfandl und Karl Vossler. Während Hämel wegen seiner geringen Produktivität zu vernachlässigen und Vossler lediglich wegen seiner langjährigen Tätigkeit an der Universität München hierherzurechnen ist, lassen sich die hispanistischen Studien Ludwig Pfandls - cum grano salis - tatsächlich als Niederschlag einer altbayerischen Mentalität charakterisieren. Hierzu zählt nicht nur sein orthodoxer Katholizismus, sondern auch sein hartnäckiges Beharren auf einmal bezogenen Positionen. Die bis zu seinem Tod trotzig durchgehaltene Weigerung, Spanien zu besuchen, war nur der äußere Ausdruck dieser Haltung. Daß Pfandl das bayuwarische Element selbst mit einem gewissen Stolz kultivierte, belegen unter anderem die zahlreichen Bavariazismen, mit denen er seinen ohnehin sehr persönlichen und lebhaften Schreibstil anreicherte. 14 Pfandls Originalität und sein Außenseiter-Status bedingen sich gegenseitig. Obwohl ihn sein Privatgelehrten-Dasein an den Rand des Existenzminimums manövrierte, versteifte er sich auf Theorien, die ihn im Dritten Reich vollends in die Isolation führten. Ab etwa 1930, dem Erscheinungsjahr seiner Studie über Johanna die Wahnsinnige, ließ Pfandl mit zunehmender Tendenz in seine Werke psychoanalytische und psychopathologische Deutungen einfließen, wobei er sich j e nach Bedarf bei Freud, Jung und Kretschmer bediente. Während sich die Jungsche Lehre von den archaischen Denkstrukturen leicht mit dem geistesgeschichtlich-idealistischen Ansatz verbinden ließ, waren im Dritten Reich der explizite Bezug auf Freud, dessen Schriften 1933 in die Scheiterhaufen geworfen wurden, wie Uberhaupt die Anwendung der Psychoanalyse in den Geisteswissenschaften ein kühnes Unterfangen.
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Stellen, in Portugal waren politische und akademische Positionen mit Personen besetzt, die in Hamburg gelernt und gelehrt hatten und am deutschen Kulturinstitut in Lissabon erfüllte man seine Aufgaben in einer Weise, die der in Hamburg praktizierten entsprach" (ib., S. 766). In seiner Literaturgeschichte von 1929 übersetzte er einmal das spanische "seguidilla" mit "Schnaderhüpfl", um sogleich in einer Fußnote zur Ethymologie dieses bayerischen Terminus Stellung zu nehmen (Pfandl 1929, S. 501). Oder er stellte Verbindungen zwischen Mexiko und Oberammergau her: Den Auftritt des Chores in dem Stück El divino Narciso von Sor Juana Ines de la Cruz kommentierte er mit der Anmerkung: "Wer je das Passionsspiel in Oberammergau gesehen hat, kann sich einen guten Begriff von dieser Art des chorischen Singens und Musizierens machen" (Pfandl 1946, S. 353).
5. Hamburger und bayerische Hispanistik
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Pfandl reagierte auf diese Situation einerseits mit einem Ausweichen auf Publikationsorte außerhalb Deutschlands. So erschien sein Beitrag zum Lope-deVega-Jubiläum in der niederländischen Zeitschrift Neophilologus. Im gleichen Jahr 1935 gelang es Pfandl gar ins Allerheiligste vorzudringen: in die in Wien erscheinende und von Sigmund Freud herausgegebene Zeitschrift Imago,15 Andererseits fand er in Deutschland eine Nische in den Spanischen Forschungen der Görresgesellschaft, wo er 1937 eine überaus originelle Interpretation von Calderöns La cisma de Inglaterra veröffentlichte. In diesem Aufsatz, den jede romanistische Fachzeitschrift abgelehnt hätte - die Romanistik war auf solche Theorien ohnehin völlig unvorbereitet 16 stellte er dem eigentlichen Thema eine 26seitige Abhandlung über archaisches Denken, Tabu- und Traumtheorie voraus, verwies ausdrücklich auf Freud und zitierte aus dessen Psychopathologie des Alltagslebens. Eine Bewertung des Pfandischen Ansatzes und die Lokalisierung seines wissenschaftsgeschichtlichen Standorts ergeben, wie schon bei der Hamburger Schule, einen ambivalenten Befund. Zweifellos bedeutete das Eindringen von Freud und Jung in den hispanistischen Diskurs ein veritables Novum gegenüber den bisher praktizierten Richtungen (Stilstudien, Geistesgeschichte, Nationaltypologie, Volkskunde). Eine fachinterne Rezeption dieses Ansatzes im Dritten Reich blieb jedoch aus mehreren Gründen aus. Neben den grundsätzlichen Einwänden, die gegen tiefenpsychologische Literaturinterpretation möglich sind (Reduzierung von Literatur auf Zwangsmechanismen, Ausblenden sowohl von Formproblemen als auch von sozialen und historischen Zusammenhängen), war es 1. das oftmals amateurhafte und simplifizierende Vorgehen Pfandls, das eine seriöse Kritik gar nicht erst aufkommen ließ; 2. war niemand bereit, ein derart "heißes Eisen", das die Freudschen Theorien durch ihre öffentliche Diffamierung seitens der Nationalsozialisten darstellten, aufzunehmen und 3. fehlte dem wissenschaftlichen Outcast Pfandl die Resonanz innerhalb der akademischen Institutionen. Die äußeren Bedingungen für die Durchsetzung eines neuen Paradigmas waren somit nicht gegeben.
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"Der Narzißbegriff. Versuch einer neuen Deutung". Dieser Aufsatz war zuvor von der DVjs abgelehnt worden, wie aus einem Briefwechsel der Herausgeber Kluckhohn und Rothacker hervorgeht (zit. bei Knoche 1990, S. 280). Vossler artikulierte seine Distanz angesichts eines Pfandl-Textes folgendermaßen: "Statt eines Urteils kann ich nur Warnungsrufe abgeben, wenn ich sehe, wie dem keimzarten Leben und Wachsen von Dichtungen mit ärztlichen Instrumenten zu Leibe gegangen wird" (Vossler 1936b, S. 14). Anders formuliert: Psychopathologische Befunde gefährdeten die harmonisierende organizistische Literaturbetrachtung.
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Andererseits ist es nicht möglich, Pfandl zum verhinderten Bahnbrecher methodischer Innovationen zu stilisieren oder seine Parteinahme fiir eine diffamierte Theorie als demonstrativen Widerstand zu bewerten. Das Angebot neuer Methoden impliziert nicht automatisch den Bruch mit den tradierten Kategorien. In seinem Beitrag für den Neophiloiogus, worin Pfandl die sexuellen Eskapaden Lope de Vegas gegen den Vorwurf der Immoralität mit der Begründung zu verteidigen sucht, Lope habe wegen der infantilen Bindung an seine Mutter unter psychoneurotischem Zwang gehandelt, propagiert er wörtlich die "Psychoanalyse von Sigmund Freud" als "ein seelenkundliches Instrument, das viel mehr, als es bisher geschehen ist, auch zum Verständnis der spanischen Nation als völkische und rassische Gemeinschaft, und im besonderen ihrer großen Dichter und Denker des siglo de oro angewendet werden müßte."17
Auf den Mythos der Volks- und Rassegemeinschaft - die Basis jeder SpanienApologetik - wurde auch dann nicht verzichtet, als dieser durch seine Integrierung in die NS-Propaganda eine radikale Semantisierung erfahren hatte, die eine Verwendung außerhalb dieses Kontextes eigentlich hätte unmöglich machen müssen. Diese "semantische Differenz" ist von Pfandl und den meisten anderen Autoren ignoriert worden. Anstatt aber den vermeintlich naheliegenden Vorwurf der Parteinahme für Nazismus und Rassismus zu erheben, ist es der wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnis eher forderlich, auf die mangelnde Sensibilität der Wissenschaftler für ihre eigene Begrifflichkeit zu verweisen. Auch Pfandl glaubte, das Bezugssystem von Nation, Volksgemeinschaft und Rasse unangetastet lassen zu können, obwohl die ernsthafte und konsequente Anwendung des "seelenkundlichen Instrumentariums" zu einer Reduzierung der "Dichter und Denker" auf ihre triebgesteuerten, zwanghaften und pathologischen Elemente geführt und daher ihre Einordnung in dieses statische Bezugssystem konterkariert hätte. Desgleichen war Pfandl darauf bedacht, das Unbewußte nicht in Gegensatz zum religiösen Element treten zu lassen. Seinen Calderón-Aufsatz beschließt er mit den Worten: "Er [sc. Calderón] ist, alles in allem, eine glückliche Synthese des archaischen, des religiösen und des rationalistischen Menschen; eine Synthese, bei der die Religion den unverrückbaren, unzerstörbaren Kern bildet, der wie ein glänzender Marmorblock von dem farbigen Geästet archaischer und rationalistischer Adern durchblutet, belebt und verschönt ist. Gibt es einen Zustand seelischen Reichtums, sicheren Besitzes, tröstlicher Lebensfulle, der sich mit diesem messen könnte?"18
17 18
Pfandl 1935, S. 266. Pfandl 1937, S. 389.
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Das archaische Denken wird hier mühelos - gleichsam als kongeniale Ergänzung - mit dem religiösen Denken in Einklang gebracht und läßt die Gloriole der verehrten Dichterpersönlichkeit um so heller erstrahlen. Statt der in der angewandten Theorie potentiell enthaltenen Entheroisierung ergibt sich ein gegenteiliger Effekt. Die oben konstatierte Intransigenz, mit der Pfandl seine Thesen verfocht, ließ ihn allerdings bei einem Werk derart über das Ziel hinausschießen, daß für dieses im Manuskript etwa 1937 abgeschlossene 19 - Buch im Dritten Reich tatsächlich kein Verleger zu finden war. In dieser Studie über die mexikanische Nonne Sor Juana Inés de la Cruz macht er Ernst mit der Freudschen Sexualtheorie. Aus Ödipuskonflikt und Penisneid konstruiert er eine "am Männlichkeitskomplex hängengebliebene Neurotikerin" 20 , analysiert ihre Dichtung ausschließlich als Produkt verdrängter Triebe und ihren Eintritt ins Kloster als "Flucht aus der Weiblichkeit" 21 . Nun tritt auch der religiöse Aspekt hinter die Triebstruktur zurück: Die von den kirchlichen Autoritäten erzwungene Aufgabe von Juanas intellektueller Tätigkeit - von orthodoxen Autoren als religiöses Bekehrungserlebnis gedeutet - ist für Pfandl eine Folge des Klimakteriums, da sich nun die sexualneurotischen Komplexe lösen und damit erst die Voraussetzung für Schuldeinsicht und Reue geschaffen ist.22 Interpretationsinstanz fllr die Dichtungen Juanas ist ausnahmslos das Unbewußte ihrer Verfasserin, genau dies aber soll erst den Genuß der heutigen Lektüre ermöglichen. 23 Den Teil ihrer Bibliographie, der sich dieser Interpretation verschließt, will Pfandl dem "Mottenfraß der Vergessenheit" anheimgeben 24 und 19 20 21 22
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Hans Rheinfelder: Vorwort zu Pfandl 1946, S. 5. Pfandl 1946, S. 137. Ib., S. 183. "Als sich dann die Zeit erfüllt hat und das Klimakterium die im Unbewußten wühlenden und treibenden Kräfte, den Männlichkeitskomplex, den aus sexueller Wurzel erwachsenen Grübelzwang, den Narcißmus, die Empfängnis-, Gebär- und Mutterschaftsphantasien und damit das ganze Getümmel der verdrängten Triebe endgültig stumm gemacht hat, als der unterirdische, bald schwelende, bald knatternde Brand für immer gelöscht ist, da wird die Luft rein und die Bahn frei für das Lichtsignal von oben, für den erleuchtenden Blitz der Begnadung. Jetzt wird auch die seelische Sicht triebgereinigt und klar, die Nebel vor den Augen weichen, das latente Schuldgefühl dringt ins Bewußtsein, der Begriff des Sündhaften lebt auf und die Reue, die bittere, quälende, aber auch erlösende Reue" (ib., S. 281). "Nur als Gestaltungen aus dem Unbewußten sind darum Juanas Werke verständlich und genießbar, und nur wenn man den Boden und die Salze des Erdreichs kennt, aus dem diese Quellen erfließen, wird man ihre süße Herbheit gleich der Blume eines fremdartigen Weines zu erschmecken imstande sein" (ib., S. 305). Ib., S. 306.
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rechnet hierzu sogar ihre religiöse Lyrik, "mit Ausnahme der neurotisch determinierten 'inmaculada'-Poesie" 25 . Der massive Einbruch verdrängter Sexualität in die ansonsten eher erbaulich gehaltene zeitgenössische Literaturgeschichtsschreibung macht dieses Buch zweifellos zu einem Unikum. Pfandls Motive, sich ausgerechnet zu dieser Zeit in ein derartiges Theoriegebäude einzunisten, sind wohl eher im persönlichen Bereich zu suchen, denn ein solches Verhalten diente nicht zuletzt dazu, seinen Außenseiter-Status zu kultivieren. Die Qualität seiner tiefenpsychologischen Deutungen variiert von Text zu Text. Der plump-drastischen Durchführung in der Sor Juana steht eine moderate Anwendung in den Habsburger-Biographien gegenüber. Hier diente der psychoanalytische Aspekt freilich einem anderem Zweck: der Apologie der spanischen Herrscher im 17. Jahrhundert (siehe unten, Kap. 8.4.).
5.3.
Karl Vossler im Dritten Reich
5.3.1. Die hispanistische Wendung Karl Vossler war nicht nur der renommierteste unter den deutschen Hispanisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern Uberhaupt einer der herausragenden deutschen Intellektuellen in diesem Zeitraum. Vor allem dieser Status macht eine Beschäftigung mit seinen Schriften wissenschaftsgeschichtlich relevant, weniger seine Zuordnung zur bayerischen Hispanistik. Während für Pfandls Tätigkeit der bayerische Hintergrund tatsächlich eine Rolle spielte - sein permanentes Verharren in der Heimat bestätigt dies - , blickte der weitläufige Vossler eher von einer europäischen Warte auf die spanische Kultur. Seine nahezu plötzliche Hinwendung zur Ibero-Romania Mitte der zwanziger Jahre ist bereits als Ausdruck einer zunehmenden Distanzierung zur geistigen Situation seiner Zeit gedeutet worden. Daß gerade Vossler eine derart radikale Umorientierung hin zur hispanischen Welt und den in ihr erblickten geistigen Werten vornahm, legt einen Zusammenhang mit Vosslers führender Position im Prozeß der Etablierung des Idealismus und der Geistesgeschichte als neuem geisteswissenschaftlichen Paradigma nahe. Die damit verbundene Ablösung der philologischen Detailforschung durch die Darstellung der großen, epochenübergreifenden Ideen und Werte einer Nationalkultur und die gleichzeitige ethische Valorisierung dieser Ideen und Werte ließen die Hispania zum idealen Betätigungsfeld für Vossler werden. Dort glaubte er die Gesinnungen ausfindig machen zu können, die er als Antwort auf das Unbehagen an der zeitgenössischen Kultur propagieren wollte. 25
Ib., S. 307.
5. Hamburger und bayerische
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Als Romanist ließ er allenfalls noch Italien, seinen ursprünglichen Forschungsschwerpunkt, einer ähnlichen Wertschätzung teilhaftig werden. Frankreich hingegen stand er wesentlich nüchterner gegenüber. Es war für ihn der "lebendige, tüchtige und nützliche Nachbar", nach dem man aber "wenig Sehnsucht" empfindet: "Für mich persönlich hat sich diese Sachlage dahin ausgewirkt, daß ich das französische Geistesleben in meiner Lehrtätigkeit als Romanist so regelmäßig wie das tägliche Brot meinen Schülern zu vermitteln bemüht war. In meiner Freizeit aber trieb mich das Verlangen nach Erweiterung des Gesichtsfeldes und nach Beruhigung des Gemüts über die Alpen, über die Pyrenäen und über den Ozean zu einer ferneren, farbigeren, südlichen Romania."26
Diese Selbstcharakteristik ist insofern zutreffend, als Lehr- und Forschungstätigkeit Vosslers auffallend divergieren. Seine Münchner Vorlesungen bestanden hauptsächlich aus einem sich regelmäßig wiederholenden Zyklus über französische Literatur- und Sprachgeschichte, hispanistische Kollegs waren die Ausnahme, wie überhaupt das Münchner Romanische Seminar neben Frankreich primär Italien berücksichtigte. In Vosslers Publikationstätigkeit ("Freizeit"!) zwischen 1933 und 1945 dominieren hingegen eindeutig hispanistische Arbeiten. Ein rein quantitativer Vergleich der entsprechenden Seitenzahlen seiner Bibliographie 27 ergibt fllr die Relation Spanien - Italien - Frankreich ein Verhältnis von 8 : 3 : 1 , für den Zeitraum von 1897 bis 1932 dagegen: 2 : 1 3 : 5 (wobei der Wendepunkt nicht um 1933 liegt, sondern um 1925 anzusetzen ist). Diesen Befund bestätigt eine Bemerkung seines Schülers Victor Klemperer, der 1932 in einer recht distanzierten Rezension von Vosslers Lope-de-Vega-Buch behauptete, Vossler habe der französischen Dichtung "in den letzten Jahren mit angesammelter Bitterkeit und gelegentlich hervorbrechender Abneigung" 28 gegenübergestanden. Klemperer hegte eben diese Abneigung gegen die spanische Dichtung. In den dreißiger Jahren streckte Vossler seine Fühler auch nach Südamerika aus, weil er auch jenseits des Ozeans eine Gesinnung wahrnahm, die dem zeitgenössischen maroden Europa etwas sagen sollte. Bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in Argentinien entdeckte er einen südamerikanischen Drang nach Selbständigkeit und Bindungslosigkeit und schlußfolgerte: "Wir Mitteleuropäer von heute, die wir im Begriffe sind, unsere gesunden Glieder in ein System von gutgemeinten Gipsverbänden einzukleistern und in eitel Organisation
26 27 28
Vossler 1940a, S. 5. Ostermann 1951. Klemperer 1932, Sp. 2221.
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bewegungslos zu werden, können uns ein Beispiel nehmen an der freien Selbsttätig29 keit der Südamerikaner." In diesem Text, einem am 12. Januar 1933 in München gehaltenen Vortrag, überraschte der 60jährige Vossler gar mit dem "persönlichen Geständnis", er würde, falls er noch einmal von vorn beginnen könnte, seine "beste Kraft" auf Lateinamerikastudien verwenden, "um die Verbindungen des spanischen mit dem indianischen Wesen" zu untersuchen.30 Diese kritische Reflexion über die eigene wissenschaftliche Biographie enthüllt, daß Vosslers Drang nach der hispanischen Kultur, der sein letztes Lebensdrittel ausfüllte, nicht als Teilnahme an einer Modeströmung zu verstehen ist, sondern einer persönlichen Motivation entsprang. Vosslers Bedürfnis nach gesellschaftlicher Resonanz und sein pädagogischer Impetus, der die Essenz seiner kulturhistorischen Studien zu einer Botschaft an die Gegenwart macht, stellen sein persönliches Interesse jedoch in einen größeren gesellschaftlichen Kontext, vor dessen Hintergrund erst eine kritische Analyse und Würdigung seiner Publikationen möglich ist. Dieses Bedürfnis nach einem Echo jenseits der Fachgrenzen korrespondiert mit dem Sachverhalt, daß seine Schriften nur mit Einschränkungen der Gattung "wissenschaftlicher Text" zuzuordnen sind. Eher handelt es sich um Essays mit fließenden Grenzen zur literarischen Prosa. Erstes Indiz für diese Behauptung ist die Tatsache, daß seine Aufsätze kaum in den eigentlichen romanistischen und philologischen Fachzeitschriften erschienen31, sondern in Periodika, deren Publikum weniger aus Fachleuten als aus der literarisch und kulturell interessierten Öffentlichkeit bestand. Dabei treten zwei Publikationsorte hervor, die die ambivalente Position Vosslers innerhalb dieser nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit markieren. Einerseits schrieb er zahlreiche Artikel und Rezensionen über romanistische Themen für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung, also einer Tageszeitung zwar gehobenen Niveaus, aber mit heterogener Leserschaft, andererseits ist als seine eigentliche "Heimatzeitschrift" die Corona anzusehen, eine exklusiv-elitäre Zweimonats-
29 30
31
Vossler 1933, S. 645. "Guarani und Tupi, araukanische und aztekische Sprachen, Gebräuche und Werke müßten meine Liebhaberei werden, und anstatt am grünen bzw. altersgrauen Tisch der Hypothesen nachzusinnen über die durch tückische Schattenhafligkeit berüchtigte Fortwirkung von gallischen oder iberischen Elementen im Vulgärlatein, ginge ich hin und überraschte mit eigenen Augen und Ohren auf frischer Tat die Verbindungen des spanischen mit dem indianischen Wesen" (ib., S. 637). Für den Zeitraum 1933-1945 sind überhaupt nur drei Nennungen möglich: DVjs 1936, RF 1936, RF 1939.
5. Hamburger und bayerische
Hispanistik
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schritt, deren Resonanz auf einen engen konservativen Intellektuellen-Zirkel beschränkt blieb. Hier veröffentlichten Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Borchardt, Rudolf Kassner oder auch Paul Valéry, den Europa-Gedanken kultivierend, erlesene Essays, Poesie und Prosa. In diese exquisite literarische Nachbarschaft fügen sich Vosslers Texte gut ein, da es ihm nicht um textkritische Literaturwissenschaft, nicht um die konkrete Detailanalyse philologischer Probleme ging, sondern um die großen Linien, Hauptströmungen und über den einzelnen Autor oder Text hinausweisende Zusammenhänge, die sich für die Gegenwart aktualisieren ließen. Literarische Werke analysierte er nicht als autonome ästhetische Kunstprodukte, sondern als eine Art Transportmittel für "Gesinnungen" 32 . Da Vossler aber auch diese Gesinnungen nicht als historische Phänomene problematisierte, sondern als Ewigkeitswerte idealisierte, war das Ergebnis meist eine weitgehende Identifizierung des Literaturhistorikers mit seinem Gegenstand. Schon die in den bislang zitierten Passagen gefallenen Begriffe wie "Gemüt", "Sehnsucht", "Freizeit", "Liebhaberei" indizieren, daß Vosslers hispanistische Motivation nicht dem kritischen Ethos des Wissenschaftlers entsprang, eher speiste sie sich aus einem genußvollen Behagen, das ihm die spanische Kultur bereitete. Daher verzichtete er auch auf einen metasprachlichen Diskurs, sondern praktizierte im Gegenteil eine stilistische Anpassung und emotionale Assimilierung an seinen Gegenstand.
32
"Meine Einführung ist wesentlich literarhistorisch und das heißt formgeschichtlich gemeint, wobei Form nicht in dem äußerlichen und abschätzigen Sinn zu verstehen ist, den man ihr manchmal heute wieder gibt. Form heißt hier Gesinnung: Gesinnung, die als Sprache und Dichtung in Erscheinung tritt" (Vossler 1939a, S. 112f.).
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Thomas
Bräutigam
5.3.2. Zwischen Innerer Emigration, Verweigerung und Anpassung Vossler kultivierte eine Aura des über den Dingen stehenden Intellektuellen, der einem von den Zeitläuften und vom politischen Alltag weitgehend emanzipierten Kulturbegriff huldigte. Die Frage nach dem Standort dieser Intellektuellen im Dritten Reich wird meist mit dem Rubrum "Innere Emigration" beantwortet, verstanden als eine direkte Reaktion auf die gesellschaftliche und kulturelle Revolutionierung im Nazi-Deutschland, die sich nicht als Protest artikulierte, sondern als demonstrative Abkehr von den Themen, die die Agenda dieser Zeit dominierten. Auf Vossler angewandt hieße dies, "die Auswirkung eines Erschreckens angesichts der Umwälzung in seiner historischen Umwelt" 33 zu konstatieren. Ebenso ist es jedoch möglich, das Sich-Abwenden von dieser Umwälzung als eine Folge des konservativen Kulturverständnisses zu deuten. Das "Erschrecken" führte jedenfalls nicht zu einer Revision des Kulturbegriffs, dessen Problematik spätestens jetzt hätte evident werden müssen, sondern zum Versuch der sorgsamen Abschottung gegen den politisch-ideologischen Zugriff. Dieser prekäre Drang nach einer Trennung der geistig-kulturellen Werte vom politischen Handeln ist anläßlich eines Vossler-Zitats von 1930 schon einmal bemerkt worden (siehe oben, S. 48). Definiert man den Begriff "Innere Emigration" unter diesem Aspekt, läßt er sich insofern auf Vossler anwenden, als dieser in einer auffalligen thematischen Konstante seiner Publikationen nach 1933 den "Weg nach innen", die Abkehr von den weltlichen Dingen und den stoischen Trotz gegen die Unbilden der Zeit propagiert, indem er diese "Gesinnungen" aus der spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts herausfiltert. Sein Hauptwerk in dieser Hinsicht wurde das Buch Poesie der Einsamkeit in Spanien, mit dem er nach eigenen Angaben im Jahr 1933 begonnen hat. 34 Dieses Werk stellt innerhalb von Vosslers Œuvre insofern ein Novum dar, als nun Mentalitäten und Gesinnungen im Mittelpunkt stehen, die dem Kanon, wie er bislang der spanischen Literatur zugeordnet wurde - auch von Vossler (cf. die in Kap. 1.2. vorgestellten Texte von 1922 und 1930) - , entgegenlaufen. Der Autor war sich dieser Differenz durchaus bewußt: "Es gilt als ausgemacht, daß die großen und bleibenden Werte der spanischen Dichtung im Heldenepos, in der Romanze, im Schelmenroman, im Don Quijote und im
33
Gumbrecht 1988, S. 278.
34
Vossler 1940b, S. VI. Das Werk erschien in drei Teilen 1935, 1936 und 1938 als Sitzungsbericht der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und 1940 in einem Band im Verlag C. H. Beck.
5. Hamburger und bayerische Hispanistik
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Drama beschlossen liegen, d. h. daß die lebendigste Poesie der Spanier aus einer tätigen, wirklichkeitsnahen, kampffrohen und geselligen Haltung des Gemütes hervorgegangen ist.
Diese Interpretation hält Vossler weiterhin für gültig, aber er hat nun zusätzlich einen "Strom von Poesie" entdeckt, der zwar - in der dem Autor eigenen Metaphorik - "mit den geräuschvollen Wassern der Romanzen, Novellen und Comedias in einer heimlichen Verbindung steht", aber doch vorwiegend "still und beinahe unterirdisch durch die Jahrhunderte läuft", eben die "Poesie der Einsamkeit" 36 . Nun ist es naheliegend, die Tatsache, daß Vossler ausgerechnet nach 1933 die bislang propagierten Tugenden Tat, Kampf, Gemeinschaft zurückstellt - zu einem Zeitpunkt, als diese "Tugenden" in Deutschland in einer Art realisiert wurden, die Vosslers Vorstellungen gewiß widersprach 37 - , um statt dessen dem Quietismus, der Innerlichkeit und Kontemplation das Wort zu reden, als Reaktion auf die politische Situation zu deuten. Die Qualität dieser Reaktion bedarf freilich einer genaueren Untersuchung. Gumbrecht schlägt vor, das Buch als "Dokument zur 'inneren Emigration' deutscher Wissenschaftler" zu lesen und will es als "ein Zeichen des innersten Widerstands deuten" 38 , wobei er als zentrale Botschaft eine "Apologie des Schweigens" annimmt, die mittels eines Zitats aus Miguel de Molinos' Gula Espiritual ausgedrückt wird: "Es gibt dreierlei Stillschweigen: das der Worte, der Wünsche, der Gedanken. Im Schweigen der Worte gelangt man zur Tugend. Im Schweigen der Wünsche gewinnt man die Ruhe, im Schweigen der Gedanken die innere Sammlung. Nicht reden, nicht wünschen, nicht denken: das ist der Weg zur echten mystischen Stille [...]. 1,39
Wenn solche Textstellen, wie Gumbrecht versichert, sich auf "Vosslers Situation in der Welt des Dritten Reiches beziehen" 40 , und das Schweigen, das NichtReden, das Nicht-Denken (!) in einer solchen Situation als respektables intellektuelles Verhalten gewürdigt werden, dann erfährt der Begriff "Widerstand" für diesen Zusammenhang doch eine nicht unbeträchtliche semantische Ausdehnung. Immerhin beteiligte sich Vossler nicht am nationalen Massenaufbruch zugunsten des Regimes und sah in dieser distanzierten Position ein Ausscheren aus dem 35
Ib., S . V .
36
Ib.
37
An Vosslers antifaschistischer Grundeinstellung sind kaum Zweifel möglich. Dies belegen z. B. seine Artikel gegen den Antisemitismus aus der Weimarer Republik (Gumbrecht 1988, S. 285f.) sowie die Intervention zugunsten seines 1943 in Plötzensee inhaftierten Schülers Werner Krauss.
38
Gumbrecht 1988, S. 291 f.
39
Ib., S. 292; bei Vossler 1940b, S. 164, Übersetzung von Vossler.
40
Gumbrecht 1988, S. 292.
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allgemein üblichen Verhalten, einen Akt der Verweigerung, der Mut erforderte. Auch hierfür lassen sich exemplarische Textstellen anführen, die eine parallelisierende Lesart nahelegen. Über Sä de Mirandas Rückzug auf sein Landgut bemerkt Vossler: "In den Jahren, in denen das kleine portugiesische Volk zur Weltmacht und zu einem märchenhaften Luxus aufstieg, mußte diese zurückgezogene Lebensführung eines der begabtesten Söhne des hohen Adels sehr absonderlich und beinahe unverständlich erscheinen. Es war, auf altspanisch-bäuerlicher Grundlage, eine fremde, italianisierende und humanistische Haltung, die der wackere Dichterphilosoph vor sich selbst und vor den anderen zu rechtfertigen große Mühe hatte."41
Die altspanisch-italianisierend-humanistisch motivierte Haltung des Dichters signalisiert die große Sympathie des Autors für seinen Gegenstand, denn diese Signifikate waren in der Vosslerschen Wertewelt sehr hoch angesiedelt. Die Distanznahme zur Gesellschaft und zum politischen Handeln stilisiert den zur Elite gehörenden Intellektuellen zum Außenseiter und erweist sich dadurch als couragiertes Verhalten ("wacker"). Der Dichter wird zum Opfer und Leidenden der gleichsam über ihn hinweg - oder zumindest an ihm vorbei - rollenden Ereignisse und legitimiert damit zugleich seine Flucht nach innen. 42 Vossler sah dieses Verhalten jedoch nicht nur als einen sympathischen individuell-privaten Akt, sondern interpretierte es auch als gesellschaftliche Protesthaltung, wodurch er den Bezug zu seinem Verhalten in seiner Zeit andeutete. Als Beleg dient ihm das Sendschreiben Sä de Mirandas an dessen Bruder, worin dieser, der sich aktiv an den kolonialen Unternehmungen beteiligte, aus dem bukolischen Refugium poetisch zum Rückzug ins Einsiedlerleben aufgefordert wird. Vossler kommentiert Sä de Mirandas Mahnungen und Ratschläge an seinen Bruder als "Bekenntnisse und Proteste gegen den Geist der Mitläufer, der Gelegenheitsmacher, Erfolgsanbeter und Streber. Gerade in denjenigen Nationen, die an der Eroberung der neuentdeckten Inseln und Kontinente, an der Ausbeutung der Welt, am beginnenden Imperialismus unmittelbar beteiligt waren, machte diese niedrige Gesinnung sich am breitesten" 43 .
Bei Sä de Miranda hört er den "Notschrei [...] des empörten und angeekelten Würdegefühls einer echten Persönlichkeit" 44 . Vossler wertet bei seinem Dichter das antike Beatus ille zu einer aktuellen Gesinnungskritik auf, der er sich an-
41
Vossler 1940b, S. 58.
42
"Je tiefer Sä de Miranda unter dem Rausch des allzu raschen Aufstiegs und unter den schon beginnenden Zeichen des Niedergangs seiner Nation zu leiden hatte, desto stiller verhüllte er sich in seine mystische Frömmigkeit" (ib., S. 66).
43
Ib., S. 65.
44
Ib., S. 66.
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schließt. Das moderne Vokabular, mit dem die zu kritisierende Gesinnung benannt wird (Mitläufer, Ausbeutung, Imperialismus), verweist darauf, daß mit der Kritik nicht nur das 16. Jahrhundert gemeint ist. Vossler suchte sich aus dem Siglo de Oro gezielt Autoren heraus, die sich quer zum Zeitgeist stellten, und idealisierte deren Verhalten als Paradigma für seine eigene Rolle während der nationalsozialistischen Diktatur. Vollends evident wird dies 1943, als er mit Luis de León einen anderen "wackeren Dichterphilosophen", obendrein einen Professor, zum Gegenstand einer Studie wählte, der als exemplarisches Idealbild eines Intellektuellen seiner Zeit aus Vosslers Sicht kaum noch zu übertreffen war. Auch hier dient als roter Faden die semantische Opposition von zurückgezogen lebendem Dichter und Humanisten, der in stiller Größe der sündigen Welt den Rücken kehrt und ihr entsagt, gegenüber dem politischen Weltgeschehen, der äußeren Macht, dem weltlichen Staatsgebilde und der nationalen Gemeinschaft, die sich in Relation zu den inneren Werten als vanitas erweisen. Diese Opposition spitzt sich insofern zu, als hier die Opferrolle des Helden durch einen realen Akt der Repression konkretisiert wird. Wegen seiner von der Inquisition veranlaßten Kerkerhaft läßt sich Luis de León dem Typus "verfolgter Intellektueller" zuordnen, der auch durch Zwang und Unterdrückung nicht von seiner stoischen Geisteshaltung abzubringen ist. Dieser Umstand rundet das Charakterbild, das Vossler von seinem Idol liefern möchte, erst ab. Dabei arbeitet er mit derart direkten Anspielungen, daß der Bezug zur Gegenwart wohl auch als Autorintention anzunehmen ist. Diese Behauptung kann nur, wie folgt, durch wörtliches Zitieren verifiziert werden. "Offenbar schätzt Meister Lusius den Mut des Widerstandes und der Beharrlichkeit wesentlich höher als die Kühnheit des Angriffs oder den Schwung der Initiative, den er sogar mit Mißtrauen als ein Abspringen von der gegebenen Pflicht und gewiesenen Bahn betrachtet."45 "Unterdrückung, Mißhandlung, Vergewaltigung der Armen, Wehrlosen und Schwachen konnten ihn allerdings in heftige Wallung bringen. Tyrannei, gleichviel ob von einem mächtigen Privatmann oder von politischen Gewalthabern ausgeübt, gilt ihm als 'Gipfel der Sünde', als Teufelswerk und Schändung der göttlichen Ehre und menschlichen Würde."46
Dieser Satz, der unmittelbar anschließend noch durch eine Rechtfertigung des Tyrannenmords ergänzt wird, stellt den wohl direktesten Kommentar Vosslers zum Zeitgeschehen dar, er erfordert noch nicht einmal ein mühsames "Zwischen-
45
46
Vossler 1943, S. 25. Diese Studie geht zurück auf einen Vortrag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vom 24.10.1942. Ib., S. 53.
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den-Zeilen-Lesen", da der nächste Passus explizit auf die Gegenwart von Autor und Leser (bzw. Zuhörer) verweist: "Was wir aber in den eisernen Zeiten, die wir heute durchleben, am meisten an ihm zu bewundern und zu verehren haben, ist, daß er ohne Panzer, ohne Schwert, ohne Blut zu vergießen, sein Rittertum übte. [...] Nicht im Angriff, im Widerstand und in der Verteidigung entfaltete sich die volle Kraft seiner Persönlichkeit. Wie bezeichnend ist es doch, daß von allen biblischen Gestalten keine andere ihn so anhaltend und lebhaft beschäftigt hat wie Hiob, der gottergebene und in der Abwehr immer streitbare Dulder und Herold seines Herrn."47
Der erste Satz ist zunächst eine klare Kritik an militärischer Aggression, die rhetorisch insofern verstärkt wird, als die erste Person Plural eine Identität von Autor und Publikum suggeriert, und der Satz in dieser Formulierung nicht nur einen Vorschlag, sondern eine Verpflichtung ausdrückt (wir müssen dies an ihm bewundern). Hinzu kommt die Polysemie des Wortes "Panzer". Dem kritischen Befund der Gegenwart stellt sich jedoch nur ein verblaßtes Ritterideal entgegen. Die passive Defensivhaltung und ein mit biblischer Aura drapiertes Pathos des Leidens ergeben eher ein Palliativum als ein Remedium. Diese unverfängliche Alternative verweist auf die Hilflosigkeit des auf Geistigkeit und Kultur ausgerichteten Intellektuellen, der sich aus scheinbar völlig anderen Sphären entsprungenen Mächten gegenübersieht, vor denen er in fatalistische Passivität flüchtet. Fragen nach der Verantwortung des Individuums für den historischen Prozeß oder nach den Ursachen gesellschaftlicher Entwicklungen stellen sich nicht. Trotz konkreter Anspielungen richtet sich die Opposition nicht gegen ein bestimmtes, klar definiertes repressives System (Inquisition im 16. Jahrhundert, NS-Staat in der Gegenwart), sondern primär gegen den "weltlichen", d. h. politischen Staat schlechthin - "Mißtrauen gegen alle weltlichen Staatsgebilde als solche, gegen die Civitas terrena" 48 - , dem ein "ewiges" oder "inneres Reich", also eine mystifizierende, irrationale Instanz entgegengesetzt wird: "Durch politische Schlagworte war dieser helle Geist nicht zu trüben, durch den Teufel nicht zu schrecken. [...] Mit den politischen Fragen seiner Zeit beschäftigte er sich wenig. Wenn er über weltliche Staatsgebilde sprach, geschah es zumeist, um ihnen das ewige Reich entgegenzustellen und die Machthaber zur Milde und christlichen Menschlichkeit zu überreden."49
47
48 49
Ib., S. 54. In einer Fußnote kritisiert Vossler Unamuno, der Luis de León "cobardía" vorwarf: "Freilich, bei Unamuno pflegte der kämpferische Mut sich mit publizistischer Theatralik darzustellen, während Luis nur mutig und gar nicht theatralisch war" (ib.). Ib., S. 59. Ib.
5. Hamburger und bayerische
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Doch beinhaltet die Heroisierung des unpolitischen Dichters und Professors keineswegs nur Resignation und Entsagung als gleichsam intellektuelle Pflichterfüllung, vielmehr sieht Vossler aus dieser Flucht nach innen neue produktive Kräfte hervorgehen, die diesen passiven Widerstand gegen den Zeitgeist sublimieren und recht eigentlich erst legitimieren: "Gewiß nicht auf das Gemüt, aber auf die Phantasie unseres Dichters, wenn er von seiner Klosterzelle aus das zeitgenössische Weltwesen betrachtete, müssen die überseeischen Unternehmungen und die aus Asien und Amerika hereinströmenden Reichtümer einen beunruhigenden Eindruck gemacht haben. Der neuen weltumsegelnden Unrast und Habsucht die antiken und christlichen Gedanken des Maßes und inneren Friedens in der Genügsamkeit entgegenzustellen, dies ist ihm nicht etwa nur eine Pflicht und moralische Genugtuung, es bereitet ihm auch eine echte Künstlerfreude. Daher gelingen ihm Verse wie die [...] Ode 'Die Habsucht', En vano el mar fatiga. Man liest sie noch heute mit Vergnügen; denn in den Schulgeschmack, der an Horaz erinnert, wehen indische Wohlgerüche und portugiesische Meerluft herein."50
Das "zeitgenössische Weltwesen" wird von diesem inneren Exil ("Klosterzelle") aus nur noch als anregender Reflex wahrgenommen. Doch gerade die Tugenden, die Luis de León der Nachwelt und insbesondere der Vosslerschen Gegenwart noch vermitteln kann, entfalten sich erst in dieser vida retirada: "In der Kunst des Maßhaltens, im feinen Gefühl für die Grenzen des Schicklichen, Ziemlichen, Gerechten, Würdigen, Anmutigen und Vernünftigen, im Mißtrauen gegen das Extreme kann er auch unter völlig veränderten Bedingungen noch immer als ein großes seltenes Vorbild wirken [...]."51
Der elitäre Aspekt dieser Geistes- und Lebenshaltung läßt sich nun nicht mehr verbergen. Ebenso wie es nicht jedem gegeben ist, das zeitgenössische Weltwesen mit der Klosterzelle zu vertauschen und dem imperialen Aufbruch mit Genügsamkeit zu begegnen, ist für diese Tugenden nur eine Minderheit empfänglich: "Nur wer das menschliche Gemüt, wo stille Wünsche keimen und Gestalt gewinnen, zu belauschen geneigt ist, kann hoffen, der Nachwirkung des Bruders Luis in anderen Menschen und Zeiten wieder zu begegnen." 52
Dieser - in seiner stilistischen Angleichung an den poetischen Gegenstand echt Vosslersche - Satz markiert noch einmal die parallelisierende Lesart, die für diese Studie vorgeschlagen wurde. Nur wer in der Lage ist, Luis de Leóns Haltung kongenial nachzuempfinden, nur ein Bruder im Geiste - und als solchen sah sich Vossler - kann die ethische Botschaft aus dem 16. Jahrhundert in der Gegenwart empfangen. Was Vossler aus Luis de León herausliest bzw. in ihn hin-
50 51 52
Ib., S. 111. Ib., S. 129. Ib., S. 128.
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einprojiziert, ist Resultat einer Methode, die die sozialen und historischen Bedingtheiten des Gegenstands konsequent negiert. Der Konflikt von Fray Luis mit der Inquisition interessiert nicht als solcher, sondern nur als verstärkendes Motiv für die Weltflucht. Die Converso-Abstammung, die bei den Anklagen der Inquisition eine zentrale Rolle spielte, wird von Vossler bagatellisiert. Ihm genügt die persönliche Versicherung Luis de Leons, seine Vorfahren seien reinen Glaubens gewesen. Den Vorwurf des Hauptanklägers León de Castro, der Rückgriff auf den hebräischen Bibeltext sei die Tat eines judaizante, kommentiert Vossler mit der Bemerkung, man habe eine "textkritische Frage" mit der "Rassenfrage" vermischt: "Der Gedanke, daß man aus Gewissenhaftigkeit durch rein philologische Erwägungen gezwungen auf den hebräischen Text zurückgreifen könnte, ohne daß der böse Zauber semitischen Blutes dabei mitspielte, wollte ihm [sc. León de Castro] nicht einleuchten. t e
Die Opposition, die diese Formulierungen trägt - philologische Gewissenhaftigkeit vs. rassistische Erklärung - ermöglicht abermals semantische Schnittstellen zwischen dem Spanien des 16. Jahrhunderts und dem Deutschland der Gegenwart. Vossler reagiert zwar kritisch auf rassistische Tendenzen in der philologischen Praxis seiner Zeit, aber nur insoweit, als er die Unvereinbarkeit von Textkritik und "Rassenfrage" feststellt. Die "Rassenfrage" und der "böse Zauber semitischen Blutes" an sich werden nicht grundsätzlich dementiert, sondern nur für die philologische Arbeit zurückgewiesen. Vossler geht es in seiner Studie um die Rolle des Intellektuellen in einer ihm feindlich gesinnten Umwelt. Dabei idealisiert er Luis de Leóns Verhalten in seiner Abseitsstellung zur Gesellschaft und stilisiert es zum Maßstab über alle Epochen hinweg. Luis wird zum "Urbild eines scharfen und ehrlichen Denkers, Philologen und Namendeuters, eines mutigen, zum Martyrium bereiten Charakters", dem "die ewigen Werte mehr als alle zeitlichen Vorteile" gelten. 54 Dieses Verhalten äußert sich nicht in einem Protest gegen die politisch-sozialen Umstände, nicht in einem "J'accuse", sondern in einem "Adieu Welt", in einer Besinnung auf die vermeintlich eigentlichen Werte. Nicht die politischen Gestalter, die sich nur den äußerlichen und vergänglichen Dingen widmen, sind es, die "uns" noch etwas zu sagen haben, sondern dieser Prototyp des poeta doctus vermittelt auf seine Weise die immer gültigen Erkenntnisse: "Nicht mit politischen Machtmitteln, nicht als dogmatischer Restaurator noch Reformator, nur forschend und gestaltend als Humanist, Philologe und Poet erfüllte er seine Aufgabe" 55 . 53 54 55
Ib., S. 8. Ib., S. 19. Ib., S. 127.
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Zwar impliziert diese Attitüde eine zu respektierende, weil nicht selbstverständliche Ablehnung auch des Nationalsozialismus. Gleichwohl läßt sich Vosslers Text nicht als Protest gegen das System interpretieren, in dem er selbst "forschend und gestaltend" tätig war, die suggerierten Parallelen indizieren vielmehr eine Distanzierung von jeglichem politischen Engagement und damit auch von der Veränderung der politischen Verhältnisse. Selbst in gelegentlichen gezielten Spitzen gegen das Deutschland der Gegenwart kommt Vossler Uber sublime Ironie nicht hinaus, etwa wenn er den mangelnden Nachhall von Fray Luis moniert: "Die sieben Bände seiner lateinischen Schriften [...] sind in keiner einzigen Bibliothek des Großdeutschen Reiches zu finden! Ohne die freundliche Hilfe der Augustiner in Würzburg wären sie mir unzugänglich geblieben." 56
Wiederum konfrontiert Vossler die politisch-ideologische Gegenwart, um diese abzuwerten, mit dem spanischen Dichterhelden aus dem 16. Jahrhundert, ohne daß an dieser Gegenwart eine grundsätzliche Kritik geübt würde. Ein NSTerminus wird ironisiert, doch der Vorwurf richtet sich nicht gegen das Großdeutsche Reich an sich, sondern gegen die Ausstattung seiner Bibliotheken, und selbst an dieser Stelle wird die verklärte Klosterzelle gleichsam als Fanal gepriesen. Vom tiefsten Punkt des inneren Exils aus trat die umgebende Realität nur noch als winziger Reflex in Erscheinung. Vosslers gesamte Publikationstätigkeit im Dritten Reich unter dem Stichwort "Innere Emigration" zusammenzufassen, ist ohnehin nicht möglich. Im engeren Sinn gilt diese Bezeichnung nur für die Werke, die tatsächlich eine "Flucht nach innen" propagieren und dem zeitgenössischen Leser als Alternative vorschlagen. Andere Werke Vosslers sind dieser Richtung nicht zuzuordnen, wie z. B. seine Interpretation Lope de Vegas, weil er hier nicht dem "inneren Reich" das Wort redet, sondern im Gegenteil auf der großen Volksnähe des Dichters insistiert (siehe unten, Kap. 6). Obwohl es keinen Anlaß gibt, an Vosslers grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus zu zweifeln, ist andererseits die Behauptung Gumbrechts, "es gibt nicht einmal in Ansätzen opportunistische Äußerungen, die er während der Zeit zwischen 1933 und 1945 getan hätte" 57 , nicht haltbar. Insbesondere in Vosslers Zeitungsartikeln finden sich solche "Ansätze", noch dazu in Zusammenhängen, in denen sie besonders unangemessen und daher demonstrativ wirken. 1936 veranstaltete die argentinische Zeitschrift Nosotros eine Umfrage unter den Intellektuellen Argentiniens, in der mit weiser Voraussicht der drohende Welt56
Ib., S. 129.
57
Gumbrecht 1988, S. 288.
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krieg beschworen und nach der Rolle Argentiniens und Amerikas nach einem möglichen Untergang der westlichen Zivilisation gefragt wird. 58 Vier Jahre später, als dieser Krieg in vollem Gange ist, greift Vossler diese Umfrage in einem Zeitungsartikel auf, allerdings nicht um die Argentinier ob ihrer präzisen Zukunftsanalyse zu rühmen, sondern eher im Gegenteil, um die Antworten als zu klischeehaft und kurzsichtig zu kritisieren. Insbesondere die Kritik am nationalsozialistischen Deutschland, mit dem sich Vossler durch Verwendung der ersten Person Plural identifiziert, weist er zurück: "Viele Freunde hatte damals, vor vier Jahren, unsere Sache [sie!] in Argentinien noch nicht, so wenig wie der italienische Faschismus" 59 . Die antideutschen Vorwürfe sind für Vossler die gleichen Klischees, "wie man sie gegen das Deutschland von 1914 erhoben hatte: 'Militarismus, Imperialismus, Technizismus, Drill, Nationaldünkel, Gewalttätigkeit' und dergleichen. Daher wohl auch die vielfach geäußerte Befürchtung, wir [sie!] würden demnächst einen weltanschaulichen Feldzug gegen Rußland vom Zaune brechen. Wie Kinder sich rascher entwickeln, als ihre Eltern und Lehrer einsehen und zugeben wollen, so wachsen aufstrebende Völker in wenigen Jahren über alte und neue Schauermärchen hinaus, in die man sie eingesponnen hat, sozusagen in Schutzhaft."
1940 derartige Feststellungen zu treffen, war wohl nur auf Basis einer tiefgehenden politischen Ignoranz möglich. Vossler bestreitet den "weltanschaulichen Feldzug gegen Rußland" ("Schauermärchen"), obwohl der Antibolschewismus keine "Befürchtung", sondern die Grundlage der nationalsozialistischen Legitimation war und einen entsprechenden propagandistischen Spitzenwert besaß. Daß der weltanschauliche Feldzug kurz davor stand, in einen realen, militärischen umzuschlagen, hätte Vosslers Vorstellungskraft (im Gegensatz zu den Argentiniern von 1936) gewiß überstiegen. 60 Andererseits scheinen die weltanschaulichen Feldzüge gegen Großbritannien und die USA bei Vossler auf Resonanz gestoßen zu sein, denn er liest aus den argentinischen Antworten, die eine Kritik am britischen Imperialismus und USKapitalismus enthalten und von Vossler als "Mißtrauen gegen die Geldwirtschaft des Bürgertums" begrüßt werden, "Anzeichen" heraus, "daß Argentinien unter 58
59 60
"Vivimos inquietantes vísperas de guerra. Una contienda armada en Europa y en Oriente, en la cual acaso zozobre la civilización occidental, para muchos no es ya una hipótesis pavorosa, sino una fatalidad aceptada casi con resignación. [...] Si el terrible acontecimiento de todos temido se produce, ¿qué será de la Argentina y de América?" (Nosotros 1, 1936, S. 40f.). Vossler 1940c. Alle folgenden Zitate ib. Wie in anderen Texten anderer Autoren ist auch hier ein bedenkenloser Umgang mit Vokabeln festzustellen, die im NS-Staat eine spezielle Bedeutung hatten: Die "Schutzhaft", ein euphemistischer Vorwand für die willkürliche Verhaftung von Regimegegnern, war eines der zentralen Elemente des Unrechtsstaates.
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ähnlichen Plagen leidet und gegen ähnliche Feinde vorzugehen hat wie wir", denn "gerade diejenigen Zustände und Mächte, die in den besinnlichsten Antworten der argentinischen Männer besonders oft und laut verurteilt werden, sind dieselben, gegen die das neue Deutschland zuerst im eigenen Hause sich gewehrt hat und heute im Kriege an der Seite Italiens kämpft."
Der eventuelle Versuch, die bislang zitierten Passagen als extreme Form von Ironie zu interpretieren, scheitert spätestens am Schluß des Artikels, wo sich Vossler eines Argentiniers erinnert, der zwar in Nosotros nicht zitiert wurde, von dem er aber glaubte, daß er dem faschistischen Europa mehr Verständnis entgegengebracht hätte als seine Landsleute: "Eine der wichtigsten Stimmen, das vaterländische, heldische, leidenschaftlich tapfere Wort des Dichters Leopoldo Lugones vermisse ich im Chor der argentinischen Antworten. Es wäre, so muß ich mir denken, gewiß ein klingender Gruß kameradschaftlicher Verbundenheit an das neue Italien und Deutschland geworden. Leopoldo Lugones hat den zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt. Krank und verdüstert schied er im Frühjahr 1938 freiwillig aus dem Leben. Höchst reizbar und überempfindlich hat der geniale Mann im Reich der Träume und der Wortkunst eine ähnliche Entwicklung schwermütig durchgemacht, wie der von ihm so hoch verehrte Schöpfer des Fascismus sie durch die harte Wirklichkeit hindurch erarbeiten und erkämpfen mußte: den Weg von der internationalen Revolution zu der Freiheit und Größe des eigenen Volkes."
Was Vossler veranlaßte, sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auf eine vier Jahre zuvor erschienene argentinische Publikation zu beziehen und die Äußerungen in dieser Zeitschrift, die eine hervorragende Gelegenheit für eine kritische Analyse der Gegenwart gewesen wären, gewissermaßen zurechtzustutzen, läßt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Der Falange-Artikel von Werner Krauss war dadurch motiviert, daß sein Autor von der physischen Vernichtung bedroht war. Vossler war keiner Bedrohung ausgesetzt, die eine opportunistische Reaktion rechtfertigte, sondern schrieb vom sicheren Port aus einen Artikel mit unzweideutig profaschistischer Tendenz. Während Krauss sich dadurch aus der Affäre zog, daß er mit einem komplexen Diskurs operierte, der auch eine gegenläufige Lektüre ermöglichte, war Vosslers Text von plumper Deutlichkeit. Für die wissenschaftsgeschichtliche Erkenntnis sind zumindest die tiefgreifenden Widersprüche zu konstatieren, die mitten durch die beteiligten Personen hindurchgehen. Jeder Einordnungsversuch - "Widerstandskämpfer", "innerer Emigrant", "Faschist", "Opportunist" - erweist sich als unzulässige Vereinfachung. Im Falle Vosslers sind der prekäre Rekurs auf die Innerlichkeit und ein solcher opportunistischer Text beispielsweise mit seinen Stellungnahmen gegen den Antisemitismus in Einklang zu bringen oder mit der Tatsache, daß er maßgeblich an der Rettung von Werner Krauss beteiligt war, und auch die Feststellung, daß
Thomas Bräutigam
156
er "zu einer Art von Kristallisationskern der verfolgten Romanisten" 61 wurde, bleibt davon unberührt, weil sie unabhängig von der Qualität der Texte zu treffen ist. Erklären lassen sich solche Widersprüche, die in jeder Disziplin zu beobachten sind 62 , wohl nur dadurch, daß die sogenannte "NS-Ideologie" eben kein monolithischer Block war, der nur Zustimmung oder Ablehnung zuließ, sondern ein sich aus verschiedenen Quellen (auch aus wissenschaftlichen) speisender heterogener Komplex, der auch disparate und konträre Verhaltensweisen integrierte und alternierende Einstellungen zum Regime ermöglichte. Nicht zu unterschätzen ist ferner die Blendung durch die innen- und außenpolitischen Erfolge der Nationalsozialisten, die gerade 1940 als triumphal erfahren wurden. Auch im nächsten Kapitel geht es um einen widersprüchlichen Vossler, dem jedoch - zumindest in Ansätzen - diese Ambivalenzen selbst nicht mehr verborgen geblieben sind.
61 62
Christmann 1994, S. 499. Cf. Fischer 1990, S. 229.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
157
6.
DIE LOPE-DE-VEGA-FORSCHUNG IM DRITTEN REICH
6.1.
Vorgeschichte: Die Rezeption Lope de Vegas und Calderóns in Deutschland
Art und Ausmaß der Beschäftigung mit den "Klassikern" einer Nationalliteratur sind immer aussagekräftige Parameter für die Entwicklungsphasen einer philologischen Disziplin, da die mit der Zuerkennung des Klassiker-Status an einen oder mehrere Autoren verbundene Wertung als überzeitliches Muster, kanonisches Vorbild und literaturgeschichtlicher Höhepunkt auf die solchen Kriterien zugrundeliegenden epochenspezifischen Denkstrukturen verweist. Der Klassiker-Begriff impliziert zumeist die Vorstellung von einem überzeitlichen Literatur-Modell, das nicht nur auf die literarische Form, sondern auch auf das formulierte Menschenbild normierend wirken soll. Die dahinterstehende Geisteshaltung wird oft als "nationales Erbe" zusätzlich aufgewertet, die Klassiker gelten als literarische Repräsentanten ihrer Nation. Veränderungen oder Verschiebungen in einem solchen Kanon weisen daher über den rein literarischen Aspekt weit hinaus. Während die Literaturgeschichtsschreibung für die deutsche und französische Literatur eine genuin klassische Periode ermittelte, den absoluten Höhepunkt der italienischen Literatur schon an deren Beginn stellte und in der englischen mit Shakespeare eine alles überragende Gestalt etablierte, konnte die Hispanistik zwar auf ein "Siglo de Oro" und damit auf eine "Blütezeit" verweisen, doch ergab das spanische Autoren-Angebot der literarischen Hochphase ein eher uneinheitliches Bild. Cervantes situierte sich als Verfasser des "Don Quijote" unangefochten in der vordersten Reihe der Weltliteratur und ließ durch diese universale Rezeption den engen Rahmen eines National-Klassikers hinter sich (ähnlich Shakespeare oder Dante). Demgegenüber wurden Calderón und Lope de Vega primär als spanische "Nationaldichter" gelesen, deren Nimbus allerdings variierte. Allein der Vergleich Deutschland-Spanien zeigt eine signifikante Differenz: Der Favorisierung Lopes im Heimatland der beiden Dichter steht eine genuine Calderón-Tradition in Deutschland gegenüber. Der überragende Anteil der Romantik an der Etablierung der spanischen Literatur im deutschen Geistesleben ist wegen seiner Bedeutung für die Kanonbildung der sich konstituierenden philologischen Hispanistik bereits in Kapitel 1.1. skizziert worden. Die einseitige enthusiastische Rezipierung Calderóns als Inkarnation des romantischen Dichter-Ideals war von weitreichender Bedeutung für die Einschätzung dieses Autors in der deutschen Literatur und Kritik. Daß mit Goethe der deutsche Klassiker ebenfalls am Calderonismus partizipierte - wenngleich wesentlich differenzierter als die Romantiker - , hatte eine zusätzliche potenzierende Wirkung.
158
Thomas Bräutigam
Die Calderón-Enkomiastik beruhte nicht auf einer vertieften Kenntnis der spanischen Literatur und der Bedingungen ihrer Entwicklung, sondern auf den Prinzipien der romantischen Kunsttheorie, als deren Erfüllung (neben den Romanzen) die dramatische Literatur des Siglo de Oro gesehen wurde - und Calderón als Gipfel innerhalb derselben. Dieser Vorgang läßt sich als "Reduktion der spanischen Literatur auf die deutsche"' beschreiben. Zusätzlich bedeutete die Idealisierung und Mystifizierung Spaniens eine bewußte Antithese zur eigenen, pessimistisch gedeuteten Gegenwart, welche den romantischen Sehnsüchten nur wenig Anreize bot. 2 Die Verehrung Calderóns war - insbesondere bei den beiden Schlegels - mit einer expliziten Ablehnung der Dramen Lope de Vegas gekoppelt. Diese in der Romantik etablierte Opposition der beiden Dichter setzte auch für die nachfolgende Rezeption der spanischen Dramatik in Deutschland die Maßstäbe. Dem romantischen Literaturverständnis entsprechend war es insbesondere die eine Reflexion über alle Erscheinungsformen des Menschen ermöglichende allegorisch-christliche Dichtung, die Calderón eine Spitzenstellung zuwies. Demgegenüber war Lope den Romantikern nicht "tief 1 genug. Der "verwilderte" Lope habe nur improvisierend "die glänzende Oberfläche des Lebens" 3 abgebildet. Ihm wurde ein durch seine Viel- und vor allem Schnellschreiberei begünstigtes unkünstlerisches Verfahren vorgeworfen, da er seinen Stoff gewissermaßen im Rohbzw. Naturzustand belassen und auf eine bewußte, einen tieferen Sinn stiftende Bearbeitung verzichtet habe. Es fehlte ihm somit die Übersteigerung des Natürlichen durch den Intellekt des Künstlers. Genau dieser Aspekt, den die Romantiker als Manko identifizierten, war es, der der nachfolgenden Generation einen Zugang zu Lope ermöglichte. Die Ablösung des idealistischen Stils durch eine realistischere Kunst hatte konsequenterweise auch eine Abkehr von Calderón zur Folge. 4 Der Umschwung zugunsten Lopes begann bereits in der Romantik selbst und zeigt sich am deutlichsten bei Ludwig Tieck, der die "Naivität" Lopes gegenüber der "Manieriertheit" Calderóns zu schätzen beginnt, und dessen Hinwendung zu Lope mit einer neuerlichen Wertschätzung des von Friedrich Schlegel als altnordisch-unchristlich abgelehnten Shakespeare verbunden war. 5 Auch diese analoge positive Würdigung von Lope de Vega und Shakespeare blieb ein rekurrierender Faktor in der deutschen Kritik.
1 2 3 4 5
Blanco Unzui 1981, S. 501. Brüggemann 1964, S. 265. Friedrich Schlegel, zitiert nach: Hoffmeister 1976, S. 130. Tiemann 1936, S. 189. Hoffmeister 1976, S. 131 f.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
159
Dennoch war die Fallhöhe von Calderóns Ruhm eher gering. Von einer durchgreifenden Ablösung des Calderón-Paradigmas durch ein entsprechendes LopeModell kann jedenfalls nicht die Rede sein. Calderón konnte vielmehr als der zweite spanische Klassiker neben Cervantes als etabliert gelten, was sich in der wissenschaftlichen Hispanistik des 19. Jahrhunderts vor allem in Textausgaben niederschlug. Wohl aber wurde die Einseitigkeit der romantischen CalderónRezeption kritisiert und die Beschäftigung mit Lope de Vega als ein Akt der wiedergutmachenden Gerechtigkeit angesehen. Dies läßt sich z. B. an der Literaturgeschichte des Grafen Schack ablesen, auch wenn diese großenteils noch den romantischen Kategorien verpflichtet ist. Die Resonanz, die der 200. Todestag Calderóns 1881 in Deutschland fand, belegt dessen Permanenz im deutschen Bewußtsein, trotz des allgemeinen dédain gegenüber der als katholisch und rückständig diskriminierten spanischen Kultur in dieser Ära. 6 Auch die enthusiastische Hinwendung Franz Grillparzers zu Lope de Vega war nicht Ausdruck einer allgemeinen Tendenz, sondern die individuelle Reaktion einer äußerst komplexen und ambivalenten Dichterpersönlichkeit, deren Werke einen Epochenumbruch markieren und daher zahlreiche gegensätzliche Tendenzen in sich vereinigen. Ohne auf diese Aspekte näher eingehen zu können, bleibt festzuhalten, daß Grillparzers Lope-Verehrung nicht als naive, unhistorische Heroisierung eines nachzueifernden Idols zu verstehen ist, sondern als bewußte antiromantische Reaktion auf dem Weg zu einem realistischeren Dramenstil. Zwar ging es Grillparzer nicht darum, Lope gegen den zunächst verehrten Calderón auszuspielen, sondern eher eine Synthese aus beiden zu versuchen, doch entdeckte er bei Lope für sich genau das, was die Romantiker an ihm abgelehnt hatten: das Natürliche, Einfache, Unverbildete, Individualisierende der Darstellung und den Detailreichtum der Handlung. Reduziert man die LopeCalderón-Opposition auf den Gegensatz von natürlich vs. künstlich, so favorisierte Grillparzer im Gegensatz zu den Romantikern das Natürliche gegenüber dem Künstlichen. Beide Positionen decken sich jedoch in der Antithese zu einer bedrückenden, auf die künstlerische Produktion lähmend wirkenden Gegenwart: "Lopes Empfinden für das Natürliche begeistert Grillparzer insbesondere deshalb, weil er seine eigene Zeit als eine Zeit der Verstandesmäßigkeit und der Künstlichkeit betrachtet."7
Lopes Phantasie wird gegen das Rationale der Zeit gesetzt.
6 7
Cf. Sullivan 1983. Branscheid 1963, S. 97. Welch paradigmatische Bedeutung Lope de Vega für Grillparzer gewann, belegen nicht nur seine theoretischen Äußerungen, sondern z. B. auch das Stück Ein Bruderzwist in Habsburg, dem eine Schlüsselstellung in Grillparzers Œuvre zukommt. Die ersten Worte der Hauptfigur Rudolf II. lauten: "Lope de Vega!"
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160
Damit ist auch die Brücke zum 20. Jahrhundert geschlagen, denn die Hinwendung zum spanischen kulturellen Höhenkamm - gleichviel ob Calderón oder Lope - und die Abkehr von einer negativ erfahrenen Gegenwart stellen einen die Geschichte der deutschen Hispanistik durchlaufenden Konnex dar. Die allgemeine Spanien-Renaissance nach dem Ersten Weltkrieg erfaßte deshalb auch die beiden spanischen Bühnenklassiker, und zwar zunächst Calderón und Lope gleichermaßen. Der Indifferenz gegenüber spanischen Themen in der Ära des Positivismus stellte die idealistische Philologie eine Aufwertung von Traum, Phantasie, Intuition, Religion, Mittelalter und Barock gegenüber und verstand diese Reaktion als Antwort auf die eigene, als nüchtern, technizistisch und kontingent empfundene Gegenwart. Damit wurde die irrationale, mystifizierende SpanienRezeption der Romantik wieder aufgenommen. Ein diesem wissenschaftlichen Paradigmawechsel paralleler Vorgang fand in der zeitgenössischen Literatur statt, als auf den Naturalismus ein neoromantischsymbolistisches Theater folgte, dessen wichtigster Vertreter Hugo von Hofmannsthal einen expliziten Rekurs auf Calderón unternahm. Auch das mit diesen Tendenzen zusammenhängende Streben nach einem "Gesamtkunstwerk" griff auf Vorbilder im spanischen Theater zurück. 8 Auch in Spanien selbst ist eine Aufwertung der eigenen Klassiker aus Anlaß einer prekär empfundenen Gegenwart zu registrieren, allerdings nicht aus einem neoromantischen Affekt heraus. Die Aufführungen von Lope- und Calderón-Stücken, mit denen Garcia Lorcas Theatertruppe La Barraca durch die Zweite Republik zog, hatten einen eindeutig politischen Akzent und verstanden die Besinnung auf die eigene nationale Tradition als demokratisch-revolutionäres Volkstheater. Von solchen - auf ihre Weise freilich ebenfalls mystifizierenden - Bestrebungen war man in Deutschland denkbar weit entfernt. Hier wollte man sich mittels der Spanier ganz anderer Wertvorstellungen versichern: "Für Calderón gab es nur eine Lösung aller Probleme, nämlich die Lösung im Sinne der katholischen Weltanschauung. Diese Einheitlichkeit und Geschlossenheit seines Denkens müßte gerade in einer Zeit der Zersplitterung und der Auflösung auch Andersdenkenden Achtung abnötigen."
Vossler interpretiert Calderón zwar als einen "Dichter der Freiheit", distanziert sich aber noch im gleichen Satz von einer potentiell politischen Füllung dieses Begriffs, der er seine individualistisch-elitäre Attitüde entgegenstellt: "freilich nicht der Freiheit, die man besitzt, genießt und verwaltet wie ein liberaler Bürgersmann, sondern der Freiheit als Tat, der Selbstbefreiung durch Charaktergröße. Die Freiheit, die Calderón meint, ist die des Märtyrers und des Stoikers, d. h. des 8
Wilhelm 1956, S. 294 f.
9
Hämel 1931, S. 460.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
161
geistigen Widerstandes gegen Not, Zwang, Verfuhrung, Drohung, Anfechtung und Gefahr."10
Die meisten Vertreter der deutschen Hispanistik der Weimarer Republik bezogen ihre Wertschätzung des Siglo de Oro auf das spanische Theater dieser Epoche allgemein, ohne Lope und Calderón ideologisch zu konfrontieren. Einigen Romanisten, wie z. B. Leo Spitzer", war gerade die Dualität der beiden Ausweis der qualitativen Höhe der spanischen Blütezeit. Daneben gab es aber auch Bestrebungen, die Calderón-Lope-Opposition des 19. Jahrhunderts wieder aufzunehmen, wobei wiederum die Kategorien "natürlich" und "künstlich" als entscheidende Referenzpunkte dienten. Die Tradition, Calderón und Lope jeweils als Folie des anderen zu lesen, verleitete einige Hispanisten, zur endgültigen Klärung der Frage zu schreiten, welcher von beiden denn nun der "größte" und "bedeutendste" und somit der eigentlich repräsentative Vertreter des Siglo-de-Oro-Theaters sei. In dieser - am Rande geführten - Debatte zeichnete sich ein immer deutlicher werdender Trend zugunsten Lope de Vegas ab, wobei in der Argumentation auf Grillparzer zurückgegriffen werden konnte. Während Pfandl 1924 in seiner Spanischen Kultur und Sitte Calderón en passant und ohne nähere Erläuterung als "zweitgrößten aller spanischen Dramatiker"12 einstufte und damit die Frage nach dem "größten" indirekt beantwortete, war es 1929 ein Vertreter der zweiten Garnitur, der diese Frage explizit auf den Punkt brachte, verbunden mit einer harschen Kritik an der exaltierten CalderónVerehrung der Romantiker: "Sollten wir nicht alle [...] das Schlegelsche Dogma vom alles überragenden Calderón, dieses überlebte, verstaubte, schon viel zu lange mitgeschleppte Überbleibsel, dieses unwissenschaftliche Produkt mangelhafter Kenntnis, romantischen Über-
10 11
12
Vossler 1931, S. 50. "So hat denn Spanien eine einheitliche überragende Vertretung in Cervantes und eine dualistische in dem Paar Lope-Calderón; es ist doppelt vertreten, unitarisch und dualistisch, - so recht Zeichen seines schöpferischen Reichtums und seiner Gestaltungsüppigkeit" (Spitzer 1931, S. 518). 1931 war das 250. Todesjahr Calderóns, daher häuften sich entsprechende Artikel. Pfandl 1924a, S. 46. In seiner Literaturgeschichte von 1929 präzisierte Pfandl diese Rangfolge mit der ihm eigenen Metaphorik. Er kontrastierte den volkstümlichen Lope, der "die Gesellschaft schildert, wie sie war", mit dem aristokratischen Calderón, bei dem "zwischen Wirklichkeit und Bühne, zwischen Wahrheit und Dichtung ein Abgrund" klafft. "Die Periode Lopes war frischer Morgen, Befruchtung, Leben, Wachstum; die Periode Calderóns ist schwüler Mittag, Höhepunkt und Stillstand, letzte Reife, die den Keim von Zerfall und Fäulnis bereits in sich trägt" (Pfandl 1929, S. 395 f.).
162
Thomas
Bräutigam
schwangs und eigenwilliger Subjektivität mit beherztem Ruck und hoffentlich auf Nimmerwiedersehen über Bord werfen?" 13
Auch wenn diese rhetorische Frage im Namen objektiver Wissenschaft gestellt wurde, wollte sich die seriöse Hispanistik auf eine solche explizite Diskussion nicht einlassen. Unabhängig davon stabilisierte sich jedoch der Trend zugunsten Lopes, weil die historisch-kulturelle Spanienforschung vorrangig als eine Art praktizierte Kulturkritik an der als krisenhaft erfahrenen Gegenwart betrieben wurde, der ein aus Spaniens goldener Zeit entlehntes Ideal entgegengehalten werden sollte. Diesem Ideal stand der "natürliche" Lope de Vega wesentlich näher als der "künstliche" Calderón. Es war ja gerade das "Natürliche", dem man sich in der eigenen Zeit entfremdet zu haben glaubte. Die Vertiefung dieser Tendenz bedurfte allerdings eines Impulses in Form einer mustergültigen Monographie. Diese lieferte 1932 Karl Vossler mit seinem Buch über Lope de Vega und sein Zeitalter, das in der Entwicklung der deutschen Hispanistik zwischen 1918 und 1945 einen außerordentlichen Markstein darstellt. Es ebnete einer bisher in Deutschland nicht vorhandenen Lope-Rezeption den Weg, dergestalt, daß in den Jahren 1933 bis 1945 die Beschäftigung mit diesem Dichter zu einem signifikanten Forschungsparadigma der deutschen Hispanistik wurde.
6.2.
Karl Vosslers Lope-de-Vega-Buch (1932)
Mit Lope de Vega und sein Zeitalter verfolgt Vossler das Ziel, Lope aus dem engen Rahmen eines spanischen Nationalklassikers herauszulösen, um ihm eine universale, über National- und Epochengrenzen hinausreichende Bedeutung zu verleihen. Gegenstand ist nicht primär ein historischer Dichter, dessen Person und Werk nur noch aus den Bedingungen seiner Epoche heraus zu vestehen wäre, sondern ein Dichter, der nicht nur für die Spanier um 1600 geschrieben hat, sondern auch ftlr die Deutschen (bzw. Europäer) des 20. Jahrhunderts als Modell geeignet ist, nicht nur als poetisches, sondern als menschliches schlechthin. Vosslers Leser sollen sich mit Lope und seinem Zeitalter identifizieren, "Lope de Vega und unser Zeitalter" wäre ein ebenso zutreffender Titel. Alle diese Aspekte benennt Vossler explizit in einem mit persönlichen Akzenten versehenen Vorwort und dokumentiert damit, wie wichtig ihm sein Anliegen war: "Das Verlangen nach einer stilvoll gefestigten, in religiöser und nationaler Gemeinschaft verwurzelten, über Standesunterschiede hinausgreifenden und das Leben bejahenden Dichtung ist wieder erwacht. Es gibt sich in vielerlei ungeduldigen und verfrühten Arbeiten unserer jüngeren Dichter in Deutschland, ja in dem ganzen europä13
Altschul 1929, S. 98.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
163
isch-amerikanischen Kulturkreis zu erkennen. Dasselbe Verlangen hat mich im sechsten Jahrzehnt meines Lebens zu Lope de Vega geführt und läßt mich eine literarhistorische Darstellung wagen, von der ich wohl weiß, wie verfrüht sie in fachmännischer Hinsicht erscheinen muß. Mein persönliches Zeitgefühl erlaubte mir aber nicht, noch länger hinter dem Berge zu halten mit dem Wissen um einen Dichter, der so sicher gekonnt und geleistet hat, was wir unter veränderten Bedingungen heute wieder zu brauchen und zu wünschen glauben. - Möge der Lebensmut des großen spanischen Dichters auf die Leser dieser Einführung in eine ferne und doch so nahe Welt nicht ohne Wirkung bleiben."14
In diesem Passus verdichten sich gleichsam die Hauptlinien der deutschen Hispanistik zwischen 1918 und 1945, womit sich die Schlüsselstellung dieses Buches bestätigt. Von einem "Verlangen" ist zunächst die Rede, und das Objekt dieses Verlangens verweist genau auf jene Sehnsüchte, die der Hispanophilie seit dem Ersten Weltkrieg die entscheidenden Impulse lieferten: eine Kunst, die nach einer egalitären Einheit strebt, eine optimistische Gesinnung transportiert und "stilvoll gefestigt" - einem hohen ästhetischen Anspruch gerecht wird. Das zentrale Element stellt die religiöse und nationale Gemeinschaft dar, da besonders dieses Ideal den speziellen Anreiz filr die Beschäftigung gerade mit der spanischen Kultur lieferte. Gleichzeitig wird ein "Wiedererwachen" konstatiert, d. h. ein langsames Manifestwerden dessen, was bislang nur als Desiderat formuliert wurde. Ein Augenblick ist erfaßt, in dem das Verlangen und die Sehnsüchte einer Erfüllung und Befriedigung greifbar nahe stehen. Erste Anzeichen hierfür sieht Vossler in der zeitgenössischen Literatur, einer Literatur, die, so darf vermutet werden, der bislang den Höhenkamm der Epoche markierenden, durch Namen wie Kafka, Döblin, Joyce vertretenen Literatur, die eben nicht plump das Leben bejahte, sondern das Dissonante, Chaotische und Rätselhafte des Lebens thematisierte, diametral entgegensteht. Vossler solidarisiert sich mit diesen "wiedererwachten" - also schon einmal dagewesenen - Tendenzen und stellt dadurch einen intentionalen Zusammenhang zwischen zeitgenössischer literarischer Praxis und Literaturgeschichtsschreibung her. Auch dieser angestrebte Gleichlauf von Dichtung und Wissenschaft gehörte zum egalisierenden, einheits- und gemeinschaftsstiftenden Programm der Epoche. Vossler erfaßt hier einen seit etwa 1930 - jedenfalls vor 1933 - tatsächlich manifest werdenden Trend in der Literatur, der, wie von ihm ebenfalls richtig bemerkt, nicht auf Deutschland beschränkt blieb. Es handelt sich um eine '"klas-
14
Vossler 1932, Vorwort. In der Nachkriegsauflage ( 2 1947), die nicht mehr bei C. H. Beck, sondern bei Biederstein erschien, ist "in religiöser und nationaler Gemeinschaft verwurzelten" weggelassen worden.
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Thomas Bräutigam
sizistische Wende' innerhalb der europäisch-amerikanischen Literatur" 15 , eine form- und wertkonservative Strömung, die auf vormoderne Stile (z. B. Klassik, Realismus des 19. Jahrhunderts) und ältere Gattungsarten (z. B. Sonett, historischer Roman) zurückgreift. 16 Dieser Trend ist Produkt der gleichen geistigen Krise, in der auch Vossler den entscheidenden Anstoß für seine hispanistischen Arbeiten sah. Vosslers sicheres Erfassen des Zeitgeistes war somit keine Selbststilisierung, sondern ein Faktum. Er benutzt nun diesen Umstand zur Legitimierung seiner Monographie, indem er a. mit Alter und Frühreife zugleich kokettiert, b. sein "persönliches Zeitgefühl" als bestimmende Instanz anfuhrt und c. den "Lebensmut" als dasjenige Ideal herausstellt, mit dem der größtmögliche Deckungsgrad zwischen "ferner" und "naher" Welt erzielt werden soll. Er greift damit eine der Grundtendenzen der Literaturwissenschaft dieser Epoche auf, Literaturgeschichte nicht um ihrer selbst willen zu schreiben, sondern mit einem hohen Maß an Gegenwartsbezug zu verbinden. Die auch von Vossler bemerkte Verspätung der deutschen Hispanistik ("in fachmännischer Hinsicht verfrüht") ist kein Hindernis für ein Werk, das der Verfasser mit seinem Gespür für die zeitgenössische Denkweise legitimiert. So präsentiert sich Vossler 1932 als ein im Brennpunkt des Zeitgeistes stehender Autor mit gerade deswegen erhöhtem Mitteilungsbedürfnis an die Öffentlichkeit ("nicht hinter dem Berg halten"). Diese Einstellung markiert den Gegenpol zu seiner später praktizierten Wendung nach innen, in Richtung heroische Einsamkeit, wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben wurde. Trotz des Bescheidenheitstopos (verfrühtes Wagnis) erzeugt ein solches Vorwort eine gewaltige Erwartungshaltung, die sich, wie die positive bis enthusiastische Rezeption des Buches in den Jahren danach zeigt, auch erfüllte. Vor allem aber offenbart dieses Vorwort, daß eine kritisch-distanzierte Darstellung nicht beabsichtigt war und wohl auch nicht erwartet wurde. Die Intention bestand vielmehr darin, den Gegenstand der hispanistischen Forschung als ein Identifikationsangebot für den zeitgenössischen Leser aufzubereiten. Auch damit steht dieses Werk ganz in der Traditionslinie, wie sie sich in der deutschen Hispanistik seit der Romantik herausgebildet hatte. Indessen ist Vosslers Interpretation zum überwiegenden Teil keine gewaltsame oder aufgesetzte. Der Autor konzentriert sich im wesentlichen auf seinen Gegenstand: Lopes Leben und Werke, gedeutet vor dem Hintergrund seiner Zeit. Das 15 16
Ketelsen 1992, S. 305. Schäfer 1982, S. 62.
6. Lope de Vega im Dritten
Reich
165
Vorbildliche von Lopes Kunst und die exemplarische Gesinnung, die Werkbetrachtung und Biographie vermitteln sollen, ergeben sich scheinbar zwangsläufig aus der geistesgeschichtlichen Methode. Im Ineinanderfließen von wissenschaftlichem Anspruch und Pathos der Darstellung besteht gerade das Suggestive des Vosslerschen Diskurses. Die Textanalyse kann sich deshalb auch hier nicht mit der Paraphrase begnügen, sondern muß auf das wörtliche Zitat insistieren. Vosslers Argumentationsstrategie fokussiert drei zentrale Aspekte: -
das Gemeinschaftserlebnis von Dichter und Volk, die kritiklose Akzeptanz des Lebens, den impliziten Bezug zur Gegenwart.
Da mit Lopes Werk eine "über die Standesunterschiede hinausgreifende Dichtung" präsentiert werden soll, beschwört Vossler den Einklang Lopes mit seinem Volk, den integrativen und alle Schichten ansprechenden Moment seiner Werke. Dieser Aspekt ist der eigentliche rote Faden des Buches. Das "Natürliche", bislang die entscheidende Referenzkategorie der Lope-Rezeption, konkretisiert sich nun zum "Volkstümlichen": "Man mußte, um etwas zu gelten, tief in der Gemeinschaft und Mitte des volkstümlichen Gefühles und Geschmackes wurzeln; und aus solcher Verbundenheit, in der Tat, empfing Lope seinen grenzenlosen Ruhm." 17
Lope habe weder "als Reformator noch Restaurator, weder als Empörer noch Bahnbrecher, weder aufklärend noch umstürzend gewirkt", "seine ganze Gesinnung und innerste Überzeugung" ging vielmehr in "Eintracht mit der Zeit und dem Volk, dem er angehörte", sein "Standort" lag "in der Mitte der Nation" 18 . Kurz gefaßt: "Das Beste an seinem Werk ist volkstümlich und spanisch bis ins Innerste" 19 , Lope ist "der größte Volksdichter seiner Nation" 20 . Zum Volkstümlichen gesellt sich kongenial das Unverbildete: "Was bei Lope aus der Tiefe wieder aufsteigt, sind keine Bildungserlebnisse, wie es etwa für Petrarca das klassische Altertum war, sondern allgemein menschliche und spanisch volkstümliche Gefühle." 21
Besondere Wertschätzung wird dem "realistischen" Charakter der Lopeschen Dichtung zuteil, womit eine naiv-referentielle Lesart einhergeht: "Man könnte aus Lopes Werken ein großes Handbuch der spanischen Volkskunde herstellen" 22 . Wie bewußt Vossler sein Buch für eine breite Resonanz in der zeitgenös17
Vossler 1932, S. 2.
18
Ib., S. 75 f.
19
Ib., S. 88.
20
Ib., S. 108.
21
Ib., S. 110.
22
Ib., S. 167.
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Thomas
Bräutigam
sischen Öffentlichkeit konzipierte, zeigt sein Bestreben, mit dem Terminus "Volk" unter keinen Umständen politisch verstanden werden zu wollen: "Lopes Zuschauer waren keine Proletarier, sondern echtes Volk" 23 . Das "echte Volk" war nicht eine Klasse im soziologischen Sinn, sondern eine organische Gemeinschaft im nationalen Sinn. Binäre Oppositionen wie echt/natürlich vs. falsch/ künstlich erweisen sich für solche Texte als diskurskonstitutiv, weil sie geeignet sind, komplexe Phänomene - in diesem Fall: soziale Antagonismen, die eben nicht eine organische Gemeinschaft, sondern eine widersprüchliche Gesellschaft konnotieren - zu simplifizieren. Dadurch erst wird eine die epochalen Differenzen negierende Darstellung möglich, die das Publikum des 20. Jahrhunderts für Botschaften aus dreihundertjähriger Distanz empfänglich stimmen soll. Mit dem "volkstümlichen" ist der "lebensbejahende" Lope untrennbar verbunden. Dem "genialen Naturkind" eignet eine "gesunde Bejahung des Daseins" und eine "bereitwillige Teilnahme an seinen Gütern und Werten, wie verschieden und widerspruchsvoll sie immer sein mögen" 24 . Vossler würdigt an Lope dessen Akzeptanz des Menschen so wie er ist, die Abwesenheit jeder kritischen Attitüde und - im Kontrast zu Calderón - die Zurückhaltung gegenüber dogmatischen Stoffen: "In das volle weltliche Menschenleben aber greift er so herzhaft und wahllos hinein wie kein zweiter Schauspieldichter des Abendlandes" 25 , seine Bühnenkunst drückt ein "pulsierendes, rauschhaftes Lebensgefühl aus" 26 . Da Vossler den volkstümlichen, menschenfreundlichen und lebensbejahenden Lope seiner Gegenwart als Gesinnungsvorbild empfiehlt, versäumt er es nicht, einige Defizite zu benennen, gegen die Lope - oder gar das gesamte Siglo de Oro - als glanzvolle Antithese erscheint. An diesen Stellen, die die implizite Folie verlassen und eine explizite Opposition: Lope und seine Zeit vs. Gegenwart von Autor und Leser aufbauen, konkretisiert Vossler, wogegen er eigentlich anschreibt: "Die minderwertigen Gefühle des unbefriedigten Geltungsdranges, des Ressentiments, von dem das heutige Bewußtsein und Gemeinschaftsleben so weithin und tief vergiftet ist, haben diesen lebensfrohen Menschen nie gequält." 27
Vossler bemerkt, der romantischen Argumentation nicht unähnlich, daß im gesamten Spanien jener Epoche die Kluft zwischen Kunst- und Volkspoesie und die Bildungsunterschiede in der Gesellschaft durch die "nationale Gläubigkeit" und die "Eintracht der Gesinnung" aufgehoben worden seien, 23
Ib., S. 192.
24
Ib., S. 109.
25
Ib., S. 333.
26
Ib., S. 336.
27
Ib., S. 81.
167
6. Lope de Vega im Dritten Reich
"weil der Schatz der gemeinsamen Erinnerungen, statt wie bei uns in Büchern und Archiven zu verstauben oder in einem intellektualistischen Schulbetrieb und papierenen Bildungswesen zu erkalten und als Memorierstoff verwaltet zu werden, in Spanien heiß und flüssig geblieben ist, wie das pulsierende Blut eines Körpers, der sich wehrt und regt"
28
.
Dieser Satz komprimiert das Arsenal der semantischen Oppositionen, die den Vergleich der spanischen Blütezeit mit "unserer" Verfallszeit auf eine biologistische Ebene heben: lebendig vs. tot, heiß vs. kalt, flüssig vs. erstarrt. Die ideologische Aufwertung von Leben und Erleben und die Abwertung rationaler Erkenntnis suggerieren eine ursprüngliche Ordnung, die nicht mehr hinterfragbar ist. Solche Vorstellungen, die nur durch einen radikalen Bruch mit der Aufklärung erklärbar sind, machen nochmals evident, wie gerade Spanien zum Projektionsfeld
der
zivilisationsmüden,
fortschrittspessimistischen
und
modernitäts-
skeptischen Intellektuellen wurde. Vossler setzt seine Kulturkritik fort mit der Behauptung, daß dieses von allen geteilte Bildungserlebnis der Spanier der heutigen Zeit fremd vorkommen muß, denn davon "kann der gegenwärtige Mensch mit seiner spröden Verstandesbildung, mit seinem Klassenkampf und armseligen Geltungsdrang, mit seiner Vereinsamung einerseits und Massenpsyche andererseits, mit seinem kritischen Prosaismus und literarischen Preziosismus nur schwer sich eine Vorstellung machen"
29
.
Vossler führt hier ähnliche Punkte an, die er schon 1930 in seinem Aufsatz über die "Bedeutung der spanischen Kultur für Europa" genannt hat (siehe oben, Kap. 1.2.7.). Wie dort äußert er auch hier sein Unbehagen über die nationalistischen Bewegungen der Gegenwart, die nicht ohne Abstriche mit dem nationalen Gemeinschaftskult, den er propagiert, in Deckung zu bringen sind: "Die moderne Vergiftung des Nationalbewußtseins mit sinnlichem und mystischem Rassenhaß war der Völkerfamilie des katholischen Weltreiches fremd." 3 0
Damit ist das Dilemma benannt, in dem Vossler sich 1932 zu befinden glaubte, und dessen Erkenntnis wohl auch zur Konzipierung seines Lope-Buches beitrug. Das "Verlangen", das er in seinem Vorwort artikulierte, war das nach einem "echten", "natürlichen" nationalen Gemeinschaftserlebnis, ein Verlangen, das sich nicht nur aus einer allgemeinen, metaphysisch geprägten Kulturkritik speiste, sondern auch aus dem konkreten Erleben der Agoniephase der Weimarer Republik. Sein aus der spanischen Kultur des Siglo de Oro gewonnenes Idealbild kontrastierte er sowohl mit der geistigen Situation der Zeit als auch mit den ante
28
Ib., S. 111 f.
29
Ib., S. 113.
30
Ib., S. 2 4 1 .
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portas stehenden Nationalsozialisten, deren demagogische Propaganda für die nationale Volksgemeinschaft nicht mit der seinen identisch war. Vossler insistierte auf solchen Distanzierungen, weil er andererseits auf Kategorien wie Nation, Volk, Gemeinschaft beharrte, obwohl diese Begrifflichkeit nun vollends prekär geworden war und sich kaum noch von den entsprechenden NS-Ideologemen abgrenzen ließ. Diese implizite Ambivalenz dokumentieren noch einmal die Schlußsätze von Vosslers Lope-Buch: "Lope erzieht nicht, er beflügelt. Wie sollte das schwere und zerrissene Volk der Deutschen an diesem Genius der Leichtigkeit nicht seine Freude und Erquickung finden? Nicht mit dem tragischen Übermut des Vereinzelten, sondern aus glücklicher Geborgenheit in der Gemeinschaft des Volkes und seines Glaubens schwingt er sich auf." 31
Vossler stand mit dem Ansinnen, einen Dichter-Heros der Gegenwartsmisere entgegenzuhalten, nicht allein, sondern mitten im mainstream seiner Zeit. Es ist nicht uninteressant darauf hinzuweisen, daß sein Lope-Buch im Goethe-Jahr 1932 erschien. Zu einem Zeitpunkt, als die politische, wirtschaftliche und soziale Krise der Weimarer Republik sich dramatisch zuspitzte und das Gefühl, vor einem Abgrund zu stehen, allmächtig wurde, galt es, dem deutschen Dichterfürsten zu huldigen. Diese Koinzidenz hatte zur Konsequenz, daß in der Flut von Festreden und Publikationen zu Ehren Goethes dieser gleichsam als ein geistiger Rettungsanker in dem Elend der Gegenwart beschworen wurde. Ähnlich wie bei Vossler überbrückten irrationale und mystifizierende Kategorien die historische Distanz. Ernst Bertram z. B. begann seine Rede zur Goethefeier der Universität Köln mit den Worten: "In einem Schicksalsaugenblick - so scheint es - ruft die Fügung unser ratloses Volk an eines seiner großen Ahnengräber. An einer vielleicht goethefernsten Wende unseres Wegs muß die Sitte des Jahrhundertgedenkens etwas wie eine Feier des Lichtes in der Nacht bereiten [...]. Gefahrzeit ist - und in der Gefahrstunde weisen nicht allein die Heiligen und Heroen, auch die Seher und großen Dichter eine anderes Antlitz strenger zugleich und tröstender." 32
Schicksal, Fügung, Volk, Ahnen, Sitte, Feier, Licht vs. Nacht, Heilige, Heroen, Seher: Diese Art von Rhetorik war wenig geeignet, aufklärend zu wirken (das einzige nachprüfbar korrekte Wort im ganzen Passus ist das Adjektiv "ratlos"). Es ist nicht der Brückenschlag von der Gegenwart zur Klassik an sich, der zu kritisieren ist, sondern die Art, in der er vorgenommen wird. Statt der diagnostizierten Gefahr (womit natürlich nicht die Gefahr von rechts gemeint ist) mit ei31
Ib., S. 336. Dieser Passus, der sich noch mit einem Nietzsche-Zitat fortsetzt, fehlt konsequenterweise i n 2 1 9 4 7 .
32
Zit. n. Klassiker in finsteren Zeiten 1983, S. 63.
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nem Appell an den kritischen Intellekt zu begegnen, wird mit dem Beschwören der Seher und Dichter ein Narkotikum verordnet: "Trost" bei Bertram, "Freude und Erquickung" bei Vossler. Die Klassiker werden nicht als Instanzen der Reflexion, sondern der Suggestion angerufen. 33 Spätestens nun, am Vorabend des Dritten Reiches, war der Prozeß der Etablierung des geistesgeschichtlich-idealistischen Paradigmas, an dem ein Großteil der Intelligenz im ersten Drittel dieses Jahrhunderts beteiligt war, in ein Stadium getreten, in dem er gefährliche Dimensionen annahm. Der aus diesem Paradigma resultierende Diskurs hatte wegen seiner gesamtgesellschaftlichen Resonanz einen derart einlullenden Effekt, daß die realen Gefahren, die jenseits der raunenden Metaphorik lauerten, nicht mehr faßbar wurden. Vossler nimmt in diesem Kontext mit seinem hispanistischen Opus magnum einen exemplarischen Status ein. Der Umgang mit Lope de Vega im Dritten Reich, der wesentlich von diesem Buch beeinflußt wurde, zeigt, daß die irrationale Diktion nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden konnte. Vosslers Buch war in mehr als einer Hinsicht richtungsweisend. Es leitete nicht nur eine Lope-de-Vega-Renaissance in Deutschland ein, sondern gab auch der zu diesem Zeitpunkt deutliche Ermüdungserscheinungen aufweisenden Spanienbewegung einen neuen Impuls. Nun war ein spanischer Autor vom führenden Hispanisten so für den Gegenwartsgebrauch zubereitet worden, wie dies die Apologeten der spanischen Kultur in den zwanziger Jahren immer gewünscht hatten. Vossler bündelte gewissermaßen alle diese Tendenzen, um sie auf einen Dichter anzuwenden, dem er damit einen repräsentativen Status verlieh. Das Echo auf Vosslers Buch war ernorm. Es reichte weit Uber die Fachgrenzen der Romanistik hinaus - Besprechungen erschienen in nahezu jedem Feuilleton und war, begünstigt durch das Lope-Jahr 1935, vor allem lange anhaltend. Negative Kritiken gab es nur zwei. Max Wolff, ein Positivist der alten Schule, lehnte das Werk - konsequenterweise - rundheraus ab, weil er mit der idealistischen
33
Vossler gab zum Goethe-Jahr ebenfalls eine Stellungnahme ab, die der Bertramschen Metaphorik in nichts nachsteht. 1931 stellte die renommierte Zeitschrift Die literarische Welt allerlei Geistesgrößen die Frage, ob man auf die Goethe-Feiern nicht besser verzichten solle, da ohnehin nur Phrasen zu erwarten seien. Dieser - trefflich vorausgeahnten - Begründung schloß sich tatsächlich eine knappe Mehrheit der Befragten an, Vossler hingegen nicht: "Ob wir vorbereitet, fähig, würdig und innerlich berechtigt sind, den Todestag Goethes zu feiern, kommt gar nicht in Frage. Wir sind dazu verpflichtet. Jede Gemeinschaft, die mit europäischem Bildungswesen zu tun hat, ist es; keine kann so arm sein, daß sie einem Kaiser im Reiche des Geistes nicht Ehre erweisen könnte: hörbare, sichtbare Ehre. Auch glaube ich nicht, daß die Nacht, in der wir leben, dadurch verkürzt wird, daß man die wenigen Lichter, die noch brennen, zudeckt" (Die literar. Welt, Nr. 38, 18.9.1931. S. 8).
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Methode nichts anzufangen wußte. Er monierte den Einfluß des "Gundolfschen Kultismus" auf Vossler und stellte klipp und klar fest: "Er [sc. Lope de Vega] läßt sich nur noch historisch und ästhetisch begreifen, und jeder Versuch, eine nicht mehr vorhandene Verbindung mit der Gegenwart zu konstruieren [...] muß [...] versagen" 34 .
Die interessanteste, weil differenzierteste Rezension stammt von Vosslers Schüler Victor Klemperer. Er anerkannte zwar das Buch in seinem literaturhistorischen Inhalt als ein "völliges Meisterwerk", kritisierte aber die distanzlose, identifikationsheischende Attitüde, die Vossler seinem Gegenstand gegenüber einnimmt und bemerkt eine "schöne silbrige Vernebelung", die die Fragwürdigkeit des "spanischen Seelenzustandes" verwischt und verklärt. Neben dem Gelehrten sei der "nationalpädagogisch gerichtete Ethiker" am Werk gewesen, dem "ästhetisches und ethisches Betrachten schillernd ineinanderfließt" 35 . Klemperer, dem j a die ganze Spanienmode ein Dorn im Auge war, muß die hispanistische Wende seines Meisters mit einiger Verbitterung verfolgt haben: "Mit so vieler Liebe hängt V. jetzt an seinen Spaniern, daß er sich selber von ihrer Gesinnungsart nicht mehr [...] distanziert, daß er bisweilen das Ungeheuerliche darin hinter einem kunstvoll aus Bewunderung, aus halb spielender, halb ernster Sehnsucht gewobenen Schleier verbirgt, daß er jenes: 'der Dichter möchte, daß wir wie seine Spanier in ihren Heldentaten werden' umbiegt in ein: Ich möchte es, und möchte durch mein Buch dafür werben." 36
Damit traf Klemperer exakt den gedanklichen Kern von Vosslers Werk. Zu dieser kritischen Einstellung kam er aber, so ist zu vermuten, nur, weil ihm "die Spanier" fremd ("ungeheuerlich") geblieben sind, er ständig auf diese Fremdheit pochte und j e d e Werbung für die spanische "Gesinnungsart" strikt ablehnte (siehe oben, Kap. 1.2.5.). Hätten Vosslers Bemühungen statt Lope de Vega Corneille gegolten, wäre Klemperer wohl weniger distanziert geblieben. Sonst jedoch herrschte bei den Vossler-Epigonen im Dritten Reich einhellige Begeisterung darüber, einen spanischen Dichter präsentiert bekommen zu haben, dessen Botschaften im neuen deutschen Staat nun nicht mehr Desideratcharakter hatten, sondern mit der nationalistischen und völkischen Doktrin des NS-Staates gleichgeschaltet werden konnten. Auch wenn dies nicht in Vosslers Absicht lag, so brauchten die Thesen seines Buches für diesen Zweck keineswegs umgedeutet oder verfälscht zu werden. Wer 1932 Nation und Volkstum ohne Differenzierung zu zentralen Interpretationsinstanzen erklärte, mußte wissen, daß er sich damit in eine fatale Nachbarschaft begab. Die oben bemerkten zaghaft-hilflosen Distan-
34
W o l f f l 9 3 4 , S. 281.
35
Klemperer 1932, Sp. 2223 f.
36
Ib., Sp. 2223.
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Reich
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zierungsversuche machen deutlich, daß sich Vossler dessen durchaus bewußt war, eine konsequente Abkehr von seiner irrationalen BegrifTlichkeit aber nicht in Erwägung zog. So war spätestens nach 1933 eine Lesart möglich, die Vossler nötigte, noch einmal zum Thema Stellung zu nehmen (siehe unten).
6.3.
Lope de Vega im Dritten Reich
6.3.1. Lope und der "neue Staat" "Hitzig brandet heute die Diskussion bei der Literaturjugend: Wie muß das Drama aussehen, das dem heutigen Staat entspricht, das des neuen Staatsbegriffs würdig ist? Ist es möglich, das Drama inhaltlich in bestimmte Richtungen zu leiten? [...] Das Ideal des Dramas, das uns vorschwebt, wäre ein Drama, das über den Klassen stünde, wie der neue Staat. Das nicht nur zum Aristokraten, sondern auch zum Plebejer spräche, das dem Priester und dem Soldaten, dem Gelehrten und dem Bauern das Seine brächte, weil es die ganze Buntheit des Lebens einzufangen wüßte. Ist ein solches Universaldrama nicht phantastische Utopie? Es ist Wirklichkeit. Shakespeare. Daneben gibt es keinen zweiten Namen. Und wo immer die Dichtung in dieser Richtung schritt, begann ihre Fühlung mit der Gesamtheit des Volks, wurde Drama nationales Gemeinschaftserlebnis. Der späte Schiller ist daran, Bayreuth versucht es. Das ist der Weg. Ein Buch erschien vor kurzem, das uns darin bestärkt. Das uns in Versuchung fuhrt, fortan zusammen mit dem Drama Shakespeares stets ein anderes zu nennen: das Drama seines spanischen Zeitgenossen Lope de Vega. Denn auch bei ihm wölbt sich über allen Klassengegensätzen jenes Universaltheater, durch schlechthin geniale Zusammenschweißung der drei gegnerischen Dramentypen: Mysterienspiel, Vulgär-Farce, Humanistendrama." 37
So beginnt Kurt Wais seinen Kommentar zum Vosslerschen Lope-Buch und steckt damit das Terrain ab, auf dem sich die Rezeption Lope de Vegas im Dritten Reich vorwiegend bewegt. Vosslers Buch wurde in diese Rezeption unweigerlich integriert, keiner der Autoren unterließ einen positiven Hinweis darauf bzw. legitimierte seine eigenen Ausfuhrungen mit Vossler-Zitaten. Diesen Nexus umschreibt Wais völlig zutreffend mit "Versuchung", ein Hinweis darauf, daß nach 1933 der äußere Rahmen gegeben war, der das Suggestive der Vosslerschen Argumentation erst zur Entfaltung brachte. Das Novum bei Wais ist der explizite Bezug zum nationalsozialistischen Staat: Der neue Staat braucht ein neues Drama, das mit den Idealen dieses Staates identisch ist. Der Rest ist gleichbedeutend mit Vosslers Forderung nach einer "über die Standesunterschiede hinausgreifenden" und "in nationaler Gemeinschaft verwurzelten Dichtung". Wie Vossler erste Anzeichen einer Realisierung seiner Forderung in der zeitgenössischen Dichtung wahrnahm, beruft sich auch Wais
37
Wais 1934, S. 5.
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auf die "Literaturjugend", auch wenn beide wohl kaum die gleichen Autoren im Sinn haben. Zusätzlich erfährt Lope insofern eine Aufwertung, als er Gleichrangigkeit mit der germanischen Traditionslinie Shakespeare - Schiller -.Wagner beanspruchen darf. Im weiteren Verlauf seines Textes geht Wais auch über Vossler hinaus, wenn er Einwände gegen Vosslers Erklärung des Lopeschen Ehrendramas formuliert. Die blutigen Rachehandlungen in diesen Stücken, die Vossler aus Katholizismus, Renaissance-Individualismus und Rittertum ableitet, stellt Wais in eine andere Tradition: "Nicht aus einer südländischen Affektethik heraus, nicht als schäumende Amokläufer töten diese Männer, sondern aus Pflicht, oder - mit Nietzsche gesprochen - aus einer Herrenethik heraus." Diese Herrenethik sei bei den Protagonisten der Reconquista entstanden, deren Herrschaft über Mauren und Juden "davon abhängig war, daß sie j e d e Möglichkeit der Rassenmischung abschnitten, um nicht das Schicksal der Völkerwanderungsgermanen zu teilen" 38 . Verhinderung der Rassenmischung als Legitimation für einen aus Herrenethik begangenen Pflichtmord: Dies ist nun doch eine Diktion, die von der von Vossler vorgezeichneten Interpretationsbahn abweicht. Vosslers Credo jedoch, das dieser in seinem Vorwort zum Ausdruck brachte, kennzeichnet den Tenor der Lope-de-Vega-Literatur auch im Dritten Reich, vor allem der Jubeltexte, die 1935 zu Lopes 300. Todestag veröffentlicht wurden: Hier ist ein Dichter aus Spaniens Blütezeit, der uns heute etwas zu sagen hat. Die Abweichungen gegenüber Vossler betreffen Nuancen. Mit "uns" sind vorrangig "die Deutschen" gemeint, mit "heute" der nationalsozialistische Staat, das "etwas" wird so zugespitzt, daß es terminologisch für die nationale Aufbruchstimmung im "neuen Staat" passender erscheint. Nun ist von Bodenständigkeit und Vaterlandsbegeisterung, von Führertum und Herrenmenschen, von Gemeinschaftsborn und gesundem Volksempfinden, von Blutsgemeinschaft und Kraft der Scholle die Rede. Lope habe eine Kunst geschaffen, die seinem Volke "artgemäß" gewesen sei und Spanien von "Überfremdung" befreit habe. 3 9 Lope wurde der "unbestrittene Führer seiner Zeit auf dramatischem Gebiete", und diese "Führerstellung" habe es ihm ermöglicht, "auch sein Volk zu erziehen" 40 . Führend sei Lope auch in der "Erfassung der spanischen Seele" gewesen und kein anderer sei wie er "Ausdruck seiner Rasse" 41 .
38
Ib., S. 6.
39
Hämel 1935, S. 95 f.
40
Ib., S. 96. Der Einbruch des Führergedankens in die Literaturwissenschaft fand bereits in den zwanziger Jahren statt, speziell im George-Kreis. Cf. Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928).
41
Ib.,S. 99.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
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Details seiner Biographie werden isoliert, um sie mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen. Die Tatsache, daß Lopes Eltern aus Asturien stammten, also jenem Gebiet, das schon Vossler als "Wiege der spanischen Herrenmenschen" 42 beschrieben hatte, gibt Anlaß für weitreichende, an Blut-und-Boden-Vorstellungen orientierte Schlußfolgerungen: "So wird er zum Gestalter der edelsten Triebe seines Volkes, stammt er doch selbst aus einer Familie, die in jenen asturisch-kantabrischen Bergen heimisch war, wo die Flut der Mauren sich brach, wo die germanischen Reste der Bevölkerung den 700jährigen Befreiungskampf gegen die rassefremden Eindringlinge eingeleitet hatten.
„43
Dieser Satz konstruiert einen kausalen Zusammenhang von Lopes Schaffen mit der Reconquista und zwar sprachlich so, daß der Kampf für Rassereinheit als Essenz dieses Vorgangs gedeutet wird, wobei obendrein das germanische Element als Bollwerk gegen die fremde Flut fungiert. Lope in eine solche Traditionslinie hineinzustellen, bedeutet gleichsam eine "Aufnordung" des Dichters, der nicht mehr nur von der Aura des autochthonen, reinrassigen Spaniers umgeben ist, sondern nun auch, weil er, wie es in einem anderen Text heißt, "das elterliche Erbschicksal in seinen Adern" 44 fühlt, das nordisch-germanische Element "gestaltet". Die "edelsten Triebe" des spanischen Volkes wurden schon immer gern auf den germanischen Einfluß zurückgeführt. 1935 ist diese These vollends zum Axiom geworden. Eng mit dieser Erbtheorie verbunden ist die Wertschätzung eines anderen Details aus Lopes Leben: der Dichter als Soldat. "Schon geadelt durch seine Kunst, begehrt der Einundzwanzigjährige adelnden Waffendienst, getrieben von seinem asturischen Blut" 45 . Es ist nicht allein die militärische Gesinnung an sich, die ähnlich wie Cervantes (cf. Mönch 1942) - den Dichter sittlich heraushebt, sondern die zusätzliche Verbindung mit dem Erbschicksal. Ferner war Lope stolz darauf, seinen Waffendienst für ein Volk zu leisten, das "als Vormacht des Abendlandes sich im Angriff und in der Abwehr bewährt" 46 . Zwei Einzelheiten aus Lopes Biographie - Herkunft der Eltern, Militärdienst - werden für das deutsche Publikum des Jahres 1935 sprachlich und interpretatorisch so zubereitet, daß ihnen eine funktionale ideologierelevante Rolle zukommt. Durch eine solche Semantisierung von an sich banalen Fakten erscheint Lope schließlich als ein von
42 43 44 45 46
Vossler 1932, S. 4. Hämel 1935, S. 97. Behn 1935, S. 400. Ib., S. 401. Hämel 1935, S. 97.
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germanischem Kampfeswillen geprägter Teilnehmer an der Rettung des Abendlandes vor der fremdrassigen Bedrohung. Am literarischen Lope sind die schon von Vossler aufgezeigten unphilosophischen, anti-intellektuellen und anti-rationalen Aspekte seiner Kunst für die Lektüre im NS-Staat funktionalisierbar: "Lope ist kein tiefer Denker, kein Philosoph. Wie bei seinem Volke, so herrscht auch bei ihm das Gefühlsmäßige, Instinkthafte vor dem Rationalen" 47 . Vor allem mit diesen Wesenszügen ließ sich nun auch die Opposition zu Calderón zuspitzen. Dieser nämlich praktizierte eine "verstandesmäßig gesteuerte Aristokratenkunst" 48 , mit der man im Dritten Reich wenig anfangen konnte. Calderón war zu sehr ein dem Barock verhafteter Hofdichter, an dem man die naive Volksverbundenheit vermißte, welche Lope gerade den universalen Charakter verlieh: "Calderón ist barock und spanisch, Lope zeitlos und spanisch" 49 . Hinzu kam, daß der "asketisch-katholische Geist" Calderóns als "ein Produkt des Verfalls der spanischen Nation" 50 gedeutet wurde, und man sich an solchen Verfallsprodukten in einer heroisch gestimmten nationalen Aufbruchszeit weniger delektieren mochte. Die Calderón-Lope-Opposition der Romantik war nun endgültig umgekehrt besetzt. Dies läßt sich auch daran ablesen, daß selbst in seriösen Darstellungen der romantische Calderonismus sich eine deutliche Kritik an seinen Einseitigkeiten und Irrtümern gefallen lassen mußte. 51 Sogar die Sucher nach dem Gesamtkunstwerk wurden nun bei Lope fündig: "Die Wurzeln von Lopes Dramatik reichten - gleich denen des griechischen Dramas in den geheimnisvollen Urgrund, in dem Tanz, Musik und Wort noch vergattet sind und nicht in 'Gattungen' sich absperren."52
Der schwülstige Mystizismus bedient hier wieder die alte Sehnsucht nach ursprünglicher Ganzheit und Totalität. Die Vereinnahmung Lope de Vegas für den Nationalsozialismus kulminiert in einem Aufsatz Rudolf Großmanns, dessen Titel: "Lope, der Dichter des ewigen Spanien" bereits ahnen läßt, daß hier der völkisch-nationale Kult gegenüber den
47 48 49 50 51
52
Ib. Großmann 1935, S. 218. lb. Iden 1939, S. 160. "Vereinzelt und übergroß herausgehoben versperrte Calderón geradezu die Sicht auf andere spanische Dramatiker, die ftir eine Aufnahme durch die Deutschen geeigneter gewesen wären" (Tiemann 1936, S. 159). Diese Abhandlung Tiemanns über Das spanische Schrifttum in Deutschland ist gleichwohl von einer bei diesem Thema bemerkenswert konzessionslosen Nüchternheit. Behn 1935, S. 419.
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anderen Texten noch um einige Dimensionen erweitert wird. Der Dichter erscheint hier nicht nur als Inkarnation seiner Epoche, sondern er verkörpert alle die Komponenten, aus denen sich der mythische Komplex "Spanien" zusammensetzt. Diese Ausnahmestellung gründet auf seiner individuellen Persönlichkeit, die ihn von den sonstigen Dauerspaniern abhebt: "Das Geheimnis von Lopes Größe liegt darin, daß er als Mensch und Künstler jederzeit nur e i n e n kategorischen Imperativ kannte: sich selbst zu leben. Und damit aus dem Urborn seines Seins wieder herauszuholen, was Generationen von Ahnen, was Boden und Landschaft, was Volkstum und Geschichte in ihn hineingelegt hatten, ohne Rücksicht auf zeitgebundene Konvention, auf gesellschaftliche Verpflichtungen, auf artfremde Beeinflussung." 53
Aus Lebensbejahung und Blut-und-Boden-Vorstellungen entsteht ein Muster an Vollkommenheit, eine Verschmelzung der gegensätzlichen Tendenzen des spanischen Volkscharakters in einer Person: "Daß er Himmelstreber und Erdensohn, Don Quijote und Sancho Panza in einer Person war, das erst gab Lope die psychologischen Voraussetzungen, ohne die er nicht zum Seelenkünder seines Volkes hätte werden können"54. Großmann rühmt das "mystische Gemeinschaftsbewußtsein zwischen Publikum und Autor", das unserem "individualistischen Zeitalter" verlorengegangen sei. Die neuesten Entwicklungen in Deutschland geben jedoch Anlaß zur Hoffnung, daß diese Kluft wieder überbrückt wird, da nun nach Prinzipien gelebt werde, die auch für Lope galten: "Erst die allerjüngste Gegenwart hat uns Deutschen die Erkenntnis gegeben: "Nichts für mich, alles für mein Volk'. Auch Lope de Vega hat [...] in tiefstem Herzen triebhaft nach diesem Gebot gehandelt."55
Ist einmal der Kurzschluß zwischen Nazi-Deutschland und Siglo de Oro hergestellt, fallen meist alle Hemmungen. Großmann versteigt sich zu einem Vergleich von nationalsozialistischem Thingspiel und auto sacramental: "Unser heutiges deutsches Geschlecht, das wieder so stark von einem erdenfrohen Glauben auf der selbstverständlichen Grundlage einer einheitlichen völkischen Gesamthaltung durchpulst ist, steht im Begriff, sich ebenfalls eine eigene Form weihevoller Bühnenkunst, das Thingspiel, zu schaffen, das in ähnlicher Weise, durch künstlerische Gestaltung des Gemeinschaftserlebnisses, das deutsche Wunder darstellen soll." 56
Der suggestiv wirkende Mystizismus, den die Mischung aus religiösen (Glaube/ Weihe/Wunder) und biologistischen Kategorien (Geschlecht/Erde/Puls) erzeugt, demonstriert, daß es Autoren wie Großmann nicht darum ging, plausible Er-
53 54 55 56
Großmann 1935, S. 215. Ib. Ib., S. 217. Ib.
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kenntnisse über Lope de Vega zu vermitteln, sondern sie wollten diesen Dichter im Dritten Reich populär machen, um die eigene Position aufzuwerten. Aus dem eigenen, vermeintlich exotischen Tätigkeitsbereich einen Gegenstand präsentieren zu können, bei dem eine hohe Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Ideologemen suggeriert werden konnte, machte die eigene hispanistische Profession gleichsam staatstragend relevant. Hierfür war jedes Mittel recht, auch das der irrationalen Effekte. Die "gläubige Empfangsbereitschaft der Hörer" 57 , die Großmann bei Lopes Publikum konstatiert, konnte er auch bei seinem eigenen voraussetzen - sein Text war die Eröffnungsrede einer Gedenkausstellung alter und neuer spanischer Meister im Hamburger Kunstverein: Je größer die Entfernung vom Fachpublikum, desto verantwortungsloser der Umgang mit dem eigenen Thema. Zweck der Auseinandersetzung mit solchen Passagen kann es jedoch nicht sein, die beteiligten Akteure als "Nazis" zu denunzieren (dies allein aufgrund der Publikationen wäre ohnehin fahrlässig und obendrein von geringem Aussagewert). Wohl aber indizieren diese Texte das funktionierende Zusammenspiel von NSPropaganda und Geisteswissenschaften, die Kollaborationsbereitschaft der Fachleute und die Bereitwilligkeit, ungefragt eigene Themenfelder einzubringen. Wo Anglistik (Shakespeare) und Germanistik (Schiller) ihre Klassiker bereitstellten, wollte die Hispanistik nicht zurückstehen. Wenn Großmann behauptet: "Durch die Welt geht ein Sehnen in jedem Volk, das uns schon Erfüllung wurde, sich wieder auf die Ideale der Blutsgemeinschaft und die ewig segenspendende Kraft der Scholle zu besinnen. Lope de Vega hat diese Ideale wie kein zweiter spanischer
58
Dichter im Herzen getragen" ,
dann dokumentiert dies, wie als geeignet betrachtete Bereiche der eigenen Disziplin ohne Rücksicht auf historische Differenz dem Zeitgeschmack ausgeliefert wurden. Dieser Prozeß der Selbstgleichschaltung von Geisteswissenschaft mit nationalsozialistischem Ideen-Eklektizismus verlief so reibungslos, weil die Protagonisten eine Kluft zwischen beiden Bereichen überhaupt nicht mehr wahrnahmen. Die zu großen Teilen irrationale Begrifflichkeit der geistesgeschichtlichidealistischen Methode mit ihrer radikalen Ablehnung jeder kritisch-rationalen Attitüde und die gerade nicht als geschlossene "Ideologie" eindeutig zu identifizierenden Denkmuster der NS-Bewegung speisten sich aus dem gleichen Arsenal mythenschaffender Stereotypen. Die Verwendung der gleichen Sprachebene und
57
Ib.
58
Ib.. S. 218.
6. Lope de Vega im Dritten
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die Weigerung, das Behauptete empirisch nachzuprüfen, ließen eine Differenzierung von Kunst- und Lebenswirklichkeit nicht mehr zu.
6.3.2. Lope de Vega und wir Bei Teilen der intellektuellen Elite sickerte zuweilen, wie schon bemerkt, das Bewußtsein dieser fatalen Kontaminierung durch. Aber auch Karl Vossler kam über hilflose und zaghafte Distanzierungsgesten nicht hinaus. Zu einer kritischen Revision der eigenen Denkstrukturen kam es nicht, denn dies hätte einen Sprung über den eigenen Schatten erfordert. Vossler reagierte mit unnachgiebigem Beharren auf den prekären Kategorien und bestand auf einer längst hinfallig gewordenen Abgrenzung vom - aus seiner Sicht - ungebetenen Zugriff von "außen". Die Art, in der er 1936 noch einmal zum Thema "Lope de Vega und wir" Stellung nahm, belegt dies schlaglichtartig. Vossler realisierte, daß das, was er 1932 mit seinem Lope-de-Vega-Buch gesät hatte - die biologistische Metapher sei hier ausnahmsweise gestattet derart reiche (und vor allem faule) Früchte trug, daß er sich einem veritablen Wildwuchs gegenübersah. Seine Intention, die aus Lopes Leben und Werken herausgefilterten Gesinnungen als positive Antwort auf die geistige Situation der Zeit zu offerieren, fand spätestens im Lope-Jahr 1935 - unter völlig veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen - ein so nachhaltiges Echo, daß er eines korrigierenden Einspruchs sich nicht enthalten zu können glaubte. Er kritisierte die "aufdringliche Gedankenlosigkeit, mit der Tagesfragen und praktische Sorgen der Gegenwart an die Seelen von großen und fernen Toten herangetragen und geschoben werden", denn so konkret war die Instrumentalisierung Lopes nicht gemeint: "Von Faschismus, Sozialismus und Nationalsozialismus darf man nichts bei ihm erwarten" 59 . Dieser lakonische Satz zeigt wie in einem Brennglas das ganze Dilemma. Vossler distanziert sich - ohne Namen zu nennen - von den oben zitierten Texten Hämels, Großmanns etc., die einen direkten Bezug zwischen Lope de Vega und dem Dritten Reich herstellten. Da in Vosslers Lope-Buch der Bezug zu "unserer Zeit" gleichsam als roter Faden ständig mitzulesen war und oft explizit formuliert wurde, zeigt sich der Autor nun konsterniert über die Folgen, weil er wieder einmal die semantische Nähe seiner hochgeistig gemeinten Ausführungen zur vulgären Alltagsrhetorik des politischen Diskurses bemerkte. Seine Stellungnahme enthält keine Distanzierung vom Nationalsozialismus, sondern von der potentiellen Ent-
59
Vossler 1936a, S. 158. In der Nachkriegsauflage des Sammelbandes Aus der schen Welt (1948) findet sich dieser Satz nicht mehr.
romani-
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weihung, die seinem Dichter bei der Vereinnahmung durch politische "Tagesfragen" gleich welcher Couleur drohte. Vossler glaubte nach wie vor, auf einer markanten Trennung beider Sphären insistieren zu können, mußte dies aber angesichts der konstatierten Vermischung verdeutlichen. Freilich war eine "Verdeutlichung" auf Basis der bekannten Vosslerschen Diktion, die eine metasprachliche Distanznahme vom Gegenstand auch jetzt nicht zuließ, ein schwieriges Unterfangen: "Wenn wir nach der Art der Leuchtkraft fragen, die dem Sonnengestirn der Lopeschen Dichtung innewohnt, so scheint mir, sofern ich Lope und die Gemütsart der Deutschen von heute richtig verstehe, keine andere Antwort möglich, als daß es die Leuchtkraft des nationalen Gedankens ist."60
Ein Satz, der mit Gestirnen, Leuchtkräften und Gemütsarten operiert, hat Mühe, klärend zu wirken. Dennoch indiziert dieser Satz in seiner Kombination von demonstrativer Affirmation ("keine andere Antwort möglich") und potentieller Negation mittels Konditionalsatz ("sofern...") eine gewisse Unsicherheit Vosslers ("so scheint mir"), die daraus resultiert, daß er einerseits auf dem "nationalen Gedanken" beharrt, ihn andererseits aber von den Nationalismen der Gegenwart abgrenzen will: "Bei den Völkern, die heute sich abmühen und miteinander ringen und wetteifern um höhere Daseinsformen, haften dem nationalen Gedanken notwendigerweise gewisse Trübungen und Beschattungen an",
was aber, wie Vossler, offenbar selbst erschrocken über seinen kritischen Vorstoß, sogleich einräumt, "kein Vorwurf' sein soll, da alle politischen Ideen auf dem Weg zu ihrer Verwirklichung an "Unruhe, Schmerz, Friedlosigkeit, Zorn usw." leiden. Lope jedoch "hatte keine solchen Ideen", er war "der reine und echte Dichter" und "gehört ganz und gar seiner Kunst, seiner Inspiration, keinem politischen Programm" 61 . Damit war Vosslers Klarstellung beendet. Der Leser erfährt von "Trübungen" und "Beschattungen", von "Schmerz" und "Zorn", ohne daß sich im Abstraktum ein Konkretum erkennen ließe. Deutlicher konnte oder wollte Vossler coram publico (auch dieser Text war wieder ein Vortrag, diesmal in Bonn) nicht werden. Falls Schmerz und Friedlosigkeit eine Anspielung auf das Deutschland der Gegenwart sein sollten, da ja auch hier eine Idee zur Verwirklichung sich anschickte, war dies kein anklagender, sondern ein entlastender Aspekt, insofern, als es sich um notwendige Begleiterscheinungen eines großen Gedankens handelte. Vossler begnügte sich mit der Unterscheidung eines politischen Nationalismus
60 61
Ib. Ib., S. 158 f.
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und eines rein künstlerischen und inspirativen Nationalismus, der nicht von Schmerz und Zorn befleckt ist und dem er seinen Dichter zuordnet. Vossler blieb ein Gefangener seiner idealistischen Methode, seiner irrationalen Terminologie und seines essayistischen und deshalb nur pseudowissenschaftlichen Stils. Die daraus resultierende Erkenntnisblockade demonstriert er noch einmal am Schluß seiner Ausführungen, wenn er glaubt, auch hier seinen Feldzug gegen die Aufklärung fortsetzen zu müssen. Den "Intellektualisten und Rationalisten von damals" (19. Jh.) lastet er die lange Vergessenheit Lopes an, weil sie die "Freude am heimatlichen und altvaterischen Geistesgut als etwas Rückständiges und Schwerfälliges"62 verachteten. Der gemütvolle Idealist von heute hingegen vermittelt durch die Revalorisierung des ehedem Rückständigen ethische Botschaften, die der kritisch-rationalen Wissenschaft in der Tat verborgen geblieben wären: Lope, der mit "himmlischen und völkischen" Gnaden gleichermaßen ausgestattet ist, "führt uns himmelwärts auf dem Weg über Spanien. [...] Wir, die wir auf dem deutschen Wege himmelwärts streben, wie sollten wir diesem Dichter nicht in dankbarer Verehrung huldigen" 63 .
Daß der deutsche Weg zu dieser Zeit nicht himmelwärts führte, sondern geradewegs in die entgegengesetzte Richtung, blieb dem aufklärungs- und ratiofeindlichen Gelehrten verschlossen. Die Rolle Karl Vosslers im Dritten Reich zu charakterisieren, heißt ein exemplarisches Dilemma zu beschreiben: Der "unpolitische" Intellektuelle sah die hehren Ideale, die zu propagieren er als seine Aufgabe betrachtete, von einer Seite vereinnahmt, mit der er nichts zu tun haben wollte. Vossler reagierte auf dieses Dilemma, aber nicht indem er dieses Vereinnahmungspotential analysierte, weil ein solches Verfahren die Kritik an seiner eigenen unpräzisen und daher für vielerlei Füllungen offenen Begrifflichkeit impliziert hätte. Stattdessen verteidigte er seinen Irrationalismus, was nur eine noch größere Mystifizierung zur Folge hatte. Zusätzlich aber wich er auf andere Ideale und Tugenden aus, um die Distanz zwischen beiden Bereichen (aus seiner Sicht: Geist vs. Politik) deutlicher markieren zu können. So gelangte er zur Poesie der Einsamkeit und zu Luis de León. Wie im vorangegangen Kapitel nachgewiesen, propagierte er nun "Gesinnungen", die sich zu seinem Lope-de-Vega-Bild eher entgegengesetzt verhielten: statt vita activa vita contemplativa, statt Volksnähe Rückzug nach innen, statt nationalem Aufbruch Weltabkehr.
62
Ib., S. 169.
63
Ib.
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6.3.3. Der "andere" Lope Nicht alle Lope-Interpreten wollten sich an der Mystifizierung oder gar Faschisierung des Dichters beteiligen, manche bevorzugten einen sachlicheren, vom offiziösen Bild abweichenden Zugang. Hierzu gehören die zu Lope verfaßten Dissertationen, die sich meist einer seriösen werkimmanenten Methode verpflichtet fühlten. 64 Hierzu gehört Ludwig Pfandls archetypische Deutung einer Lope-Comedia, Das Märchendrama bei Lope de Vega (1942) ebenso wie Hermann Tiemanns Bibliographie der gesamten historischen deutschen Lope-Literatur, Lope de Vega in Deutschland (1939), die den Eindruck erweckt, als wollte sie durch den Nachweis einer langen Forschungstradition die bisherige Vernachlässigung dieses Klassikers in Deutschland dementieren. Aber auch Autoren, die sich an ein breiteres Publikum richteten, vergaben sich nichts, wenn sie eine Popularisierung Lopes außerhalb der traditionellen Schiene natürlich-volkstümlich-völkisch versuchten. Gerhard Rohlfs z. B., der sich als Nachfolger Vosslers in München auch literaturgeschichtlich betätigte, traf in einem vergleichsweise nüchternen Text die merkwürdige Feststellung: "Die Tatsache, daß sie [sc. Lopes Kunst] einen volkstümlichen Charakter zeigt, darf nicht dazu verführen, seine Kunst herabzusetzen" 65 . Als ob in den Jahren zuvor irgend jemand ausgerechnet dieser Verführung erlegen wäre! Rohlfs reagiert auf die völkisch-nationale Beschlagnahmung Lopes, indem er sie ignoriert und stattdessen sogar eine gegenteilige Tendenz annimmt, mit dieser Volte aber indirekt die eigentlich faktische Tendenz kritisiert. Der Parameter "Volkstümlichkeit" ist in dieser Formulierung jedenfalls negativ besetzt. Rohlfs verweist auf eine unverfänglichere Essenz von Lopes Werken: "Das zentrale und konkrete Problem seiner Dramen ist vielmehr die Liebe" 66 . Einige Artikel gingen auf Distanz zu einem mit der deutschen Gegenwart kurzgeschlossenen Lope de Vega und betonten stattdessen den historischen Abstand und das Zeitverhaftete seiner Kunst, die "uns" deshalb nicht mehr unmittelbar ansprechen kann. Hellmuth Petriconi sah in seinem Gedenkartikel für das Berli-
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65 66
Maria Heseler, Studien zur Figur des gracioso bei Lope de Vega und Vorgängern (Heidelberg 1933); Otto Joerder, Die Form des Sonetts bei Lope de Vega (Freiburg 1936); Ruth A. Oppenheimer [sie!], Santiago el Verde, eine Comedia von Lope de Vega (Hamburg 1938); Heinz Schulte-Herbrüggen, Studien zu Lope de Vega's Gotendramen (Würzburg 1943). Rohlfs 1942, S. 467. Ib., S. 463.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
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ner Tageblatt in der Gegenwart Uberhaupt völlig andere Wertvorstellungen walten als die Lope-Apologeten: "Heute vollends dürften die Aussichten für seine [sc. Lopes] Wiedererstehung geringer sein als je, die Vorliebe unserer Zeit für das Strenge und Unbedingte scheint ein Gefallen an der bunten Wirklichkeit Lopes auszuschließen. [...] Immer aber wird es einzelne [sie!] geben, die sich zu seiner Menschlichkeit hingezogen fühlen und von dem Reichtum seiner Schöpfung künden, wie es auch bei uns das neue schöne LopeBuch Vosslers bezeugt."67
Petriconi dementiert, nur notdürftig verklausuliert, das Grundanliegen Vosslers: die Wiedergeburt Lopes in "unserer Zeit". Die Formulierung degradiert den berühmten Kollegen zum Einzelgänger, der am Zeitgeist vorbei schreibt und lediglich einer persönlichen Neigung folgt. Petriconi ignoriert entweder Vosslers tatsächliche Intention oder den Zeitgeist, oder er umgeht hier vornehm eine direkte Kritik. Eine offene oder auch nur innerwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vosslers Thesen fand im Dritten Reich ohnehin nicht statt und konnte wohl auch nicht stattfinden, da es bei einer solchen Diskussion eben nicht nur um einen dreihundertjährigen spanischen Klassiker, sondern auch um das Wertesystem der Gegenwart gegangen wäre. Ähnlich wie Petriconi argumentiert auch der Schriftsteller (und Vossler-Schüler) Eugen Gottlob Winkler. Lope sei so seiner Zeit verhaftet gewesen, daß er als Ratgeber und Wegweiser für unsere Gegenwart nicht zu gebrauchen sei: "Es bleibt uns wenig ad usum" 68 . Im Unterschied zu Shakespeare oder Cervantes stellten Lopes Figuren keinen zeitlos gültigen Menschentyp dar, das Zeitgebundene seines Werks würde uns heute langweilen! Aber auch bei Winkler bleibt die nahezu sakrale Aura des Meisters unangetastet: "Karl Voßler und Lope de Vega: ein beinah sehnsüchtiger Klang wird bei der Berührung dieser beiden Geister entstehen" 69 . Und im Vossler-Schlepptau gelingt schließlich doch noch die Brükke zur Gegenwart: "Wenn uns Lope trotzdem noch etwas bedeutet, so nicht durch sein Werk, sondern durch die Beispielhaftigkeit seines Falles, durch das im wörtlichen Sinne Fabelhafte seiner organischen Stellung als Dichter in einer organisch geschlossenen Welt, wie sie Karl Voßler uns darstellt als Muster und Ideal."70
Dieses "Trotzdem" ist deshalb so bezeichnend, weil es gleichsam mit den Schlüsselbegriffen der Epoche einhergeht: "organisch" und "geschlossen". Die Sehn-
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Petriconi 1935. Winkler 1935, S. 218. Ib., S. 221. Ib.
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sucht nach einer naturhaft gestalteten Totalität zieht sich wie ein roter Faden durch die Texte der konservativen Autoren. Nun ist allerdings wiederum ein Aufsatz zum Thema vorzustellen, der sich von den bislang erwähnten Texten radikal unterscheidet, und dieser Aufsatz stammt abermals aus der Feder von Werner Krauss. Eine 1935-1941 in Madrid erschienene Ausgabe von Briefen Lope de Vegas nimmt der Autor zum Anlaß, die sonst kurrenten Vorstellungen vom völkischen, echt spanischen und national gestimmten Lope zu dementieren. Kraussens Kommentar zu den brieflichen Selbstzeugnissen präsentiert eine Innenschau des Dichters, die nicht das Klischee des in seinem Volk und Publikum aufgegangenen Genies bedient, sondern im Gegenteil die Widersprüche von Lopes gesellschaftlicher Position in den Mittelpunkt stellt. Zwar nimmt Krauss nirgends Bezug auf das in Deutschland vorherrschende Lope-Bild, noch wagt er eine explizite Kritik an Vossler, doch liefert er inhaltlich eine Relativierung, wenn nicht gar Revision der Vorstellungen, die Vossler und dessen Epigonen über Lope vermitteln wollten. Die Dementis sind eindeutig und präzise. Einer naiv-referentiellen Lesart von Lopes Werken, aus denen Vossler ein volkskundliches Handbuch erstellen zu können glaubte, widerspricht Krauss kategorisch: "Lopes Theater ist kein 'Zeitspiegel'" 71 . Anläßlich der autobiographischen Ekloge an Claudio konstatiert er einen authentischen Protest Lopes gegen die Veräußerung seiner künstlerischen Schöpfungen an die Mit- und Nachwelt: "In einem letzten titanischen Aufstand bäumt sich das Schöpferbewußtsein gegen das Schicksal einer Enteignung und Überantwortung seiner poetischen Gaben an den kollektiven Geistesraum der Nation." 72
Wo bislang immer die Symbiose von Dichter, Volk und Nation behauptet wurde, erscheint hier ein autonomer, die Rechte auf seine schöpferischen Leistungen einfordernder Künstler, der sich dagegen sträubt, in der Kollektivität aufzugehen: "Der Dichter gibt Rechenschaft über das, was ihm Spanien zu verdanken hat" 73 . Dichter und Nation verschmelzen hier nicht, sondern stehen einander gegenüber. Nicht Lope und das Volk konstituieren eine Einheit, sondern Lope und der Herzog von Sessa, die Symbiose besteht zwischen Adel und Günstling und ist dadurch von einer organisch-diffusen auf eine soziologisch faßbare Ebene verschoben. In den Briefen tritt nicht der volksverbundene Lope zutage, sondern der durch die intimen Dienstverhältnisse höfisch gewordene Lope, für den die Hinwendung zum Adel nicht nur materielle Notwendigkeit war, sondern durchaus
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Krauss 1942/43, S. 22. Ib., S. 289 f. Ib., S. 290.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
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die Inkarnation seines Weltbildes. Da jedoch das Verhältnis zum Herzog von Sessa statt auf hierarchisch-devoter Unterordnung auf ungezwungener Einvernehmlichkeit basierte, lassen die Briefe an ihn zuweilen einen "anderen" Lope durchscheinen, der spontane Kritik an Gesellschaft und Klerus übt oder sich ironische Bemerkungen über den König erlaubt. Krauss entdeckt diese Briefe als Quellen, die "einen Querschnitt durch die Alltagsgespräche einer Gesellschaft" offenbaren und dadurch einen "undiskreten Einblick in die außeroffizielle Meinungsbildung" gestatten; dieser Einblick "läßt nicht den Gegenkräften den Puls erfühlen, sondern den Spielraum der inneren Freiheit abtasten, der das Jahrhundert trotz seiner vielgehaßten Einrichtungen als ein das menschliche Wesen umfassendes 'siglo de oro' auszeichnet" 74 . Von "außeroffizieller Meinungsbildung" und "innerer Freiheit" war in den anderen Lope-Deutungen nie die Rede. Solche Kategorien bedeuten eine erfrischende Abweichung vom üblichen hispanistischen Diskurs im Dritten Reich. Das Humanum von Lope und seiner Epoche erscheint hier nicht in der organischen völkisch-nationalen Geschlossenheit, sondern diametral engegengesetzt im Auftreten des Individuums, das zwar nicht gegen die Gesellschaft opponiert, wohl aber in seiner Autonomie spürbar wird. Krauss stößt auf einen den "öffentlichen" Lope kontrastierenden "privaten" Lope de Vega und demonstriert so die widersprüchlichen Facetten einer Persönlichkeit. Der Verfasser ist offenbar selbst überrascht, in den Briefen pro-erasmistische Meinungen zu finden, worin Lope nicht die Verurteilung, sondern die Äußerungen, derentwegen Erasmus verurteilt wurde, "ausdrücklich gutheißt" 75 . Wir erfahren - diesmal aus einem poetischen Text Lopes, wo von "descompuesta edad" die Rede ist daß der Dichter das "Bewußtsein der spanischen Dekadenz [...] deutlich auf der politischen Ebene erlebt" 76 habe, während in den anderen Hommagen Lope immer als ein sich mit der spanischen Glorie Identifizierender auftritt. Auch dem Mythos vom anti-intellektuellen, ratio- und bildungsfeindlichen Lope setzt Krauss eine andere Erkenntnis entgegen: "Es berührt heute erstaunlich, wie weit ein kalkulierender Verstand das Gemüt in seinen heimlichsten Operationen begleitet" 77 . Selbst den militärischen Abschnitt in Lopes Biographie ironisiert Krauss so, daß er als Plädoyer für soldatische Gesinnung unbrauchbar wird: "Die militärische Episode erweitert und befestigt den einzigen Kriegsschauplatz, auf
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Ib.,S. 36. Ib., S. 297. Ib., S. 6. Ib., S. 15.
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dem sich Lope Soldat fühlt: die Kampffront der Liebe" 78 - ein Satz, der im Jahr 1942 unweigerlich über seinen eigentlichen Bezug hinausweist. Werner Krauss insistiert auf Lope de Vega als einem Individuum mit seinen Widersprüchen und befreit ihn dadurch vom Aufgehen im vermeintlich homogenen Volkstum, das die anderen Lope-Interpreten als Quintessenz seiner dichterischen Existenz ausmachten. Krauss interessiert an Lope nicht das Gesinnungsvorbild für "uns", sondern der durch die Lokalisierung zwischen Volk und Hof bedingte ambivalente Status des Dichters in einer ohnehin widersprüchlichen Gesellschaft. Lope liefert somit dem Betrachter des 20. Jahrhunderts keine wohlfeilen Antworten auf die Fragen der Gegenwart, sondern fundamentale Erkenntnisse für die Rekonstruktion einer \iteratur-historischen Epoche.
6.4.
Die spanischen Klassiker im Dritten Reich. Bilanz
Die literaturwissenschaftliche Hispanistik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierte ihre Forschungen gemäß der idealisierenden "Blütezeif'-Vorstellung auf das spanische Siglo de Oro. Allerdings richtete sich das Interesse nicht auf die gesamte Epoche, sondern vorrangig auf drei Autoren, denen ein repräsentativer Status zuerkannt wurde: Calderón, Cervantes und Lope de Vega. Auf der Textebene bedeutet dies eine Bevorzugung der spanischen comedia und des Don Quijote. Andere Autoren oder Gattungen wie die novela picaresca, Quevedo, Góngora oder Gracián spielten eine eher marginale Rolle. Diese einseitige Objektwahl speist sich aus mehreren Motiven. Calderón gehörte seit der Romantik zum ureigenen Traditionsbestand der deutschen Hispanistik. Mit ihm war die Disziplin gleichsam entstanden. Die Beschäftigung mit dem romantischen, katholischen, theatralischen Calderón gehörte daher auch in der Folgezeit zum hispanistischen Prestige. Ähnliches gilt für Cervantes, dessen Don Quijote international und auch jenseits der Fachgrenzen als Hauptwerk der Weltliteratur rezipiert wurde. Gemessen an diesem Status, der den Vergleich mit Shakespeare nahelegt, war der Ertrag der deutschen Cervantes-Forschung allerdings bescheiden. Er erschöpfte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Hatzfeld, Spitzer), in der Deutung als Ausdruck des spanischen Nationalcharakters (Realismus und Idealismus). Lope de Vega, der im 19. Jahrhundert nur als Folie zu Calderón wahrgenommen wurde, setzte sich erst spät als gleichrangiges Forschungsobjekt durch, verdrängte jedoch zwischen 1932 und 1945 aus den oben analysierten Gründen Calderón von seinem Spitzenplatz.
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Ib., S. 295.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
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Die Gründe für das relative Desinteresse an den anderen Bereichen des Siglo de Oro lassen sich schlagwortartig so beschreiben: Der Schelmenroman war zu derb-realistisch, Quevedo zu satirisch, Góngora zu manieristisch und Gracián zu pessimistisch. Solche Einstellungen waren der idealisierenden Attitüde und der Sehnsuchtshaltung, die die hispanistischen Studien motivierten, wenig entgegenkommend. Dieser Befund gilt auch für die Jahre von 1933 bis 1945. Das Spezifische dieses Zeitraums liegt in der einseitigen Bevorzugung Lope de Vegas, der, im Gegensatz zu Calderón, als ein mit dem zeitgenössischen Literatur-Ideal konform laufender Autor gelesen wurde. Diese Aufwertung Lopes bereitete sich in den zwanziger Jahren vor und erreichte mit Vosslers Monographie von 1932 ihren Durchbruch. Das Gedenkjahr 1935 begünstigte diese Entwicklung zusätzlich. Die Renaissance dieses Autors schlug sich nicht nur in einer anschwellenden Lope-Bibliographie, sondern auch in Theater-Inszenierungen seiner Stücke nieder. Da wegen der Rezeptionslücke im 19. Jahrhundert keine spielbaren deutschen Fassungen vorlagen, war eine der Aufführungspraxis entgegenkommende Neuübersetzung erforderlich. Diese Aufgabe übernahm der in Barcelona ansässige Hans Schlegel (1882-1957), der bis zu seinem Tod mehr als 70 Lope-Stücke übersetzte, wovon in den dreißiger Jahren zahlreiche Textausgaben erschienen. Dies waren keine originalgetreuen Übersetzungen, sondern am deutschen Theaterpublikum ausgerichtete freie Bearbeitungen. Neben zahlreichen Eingriffen in die Handlung war das hervorstechendste Merkmal dieser Nachdichtungen die durchgängige Verwendung des im deutschen Drama üblichen Blankverses, so daß vom Lopeschen Original nur noch Rudimente erkennbar waren. Dieser "germanisierte" Lope de Vega erlebte zahlreiche erfolgreiche Auffuhrungen - davon die meisten deutsche Erstaufführungen wobei vorwiegend auf die Stücke zurückgegriffen wurde, die sich als burleske Lustspiele inszenieren ließen. Daß auf der deutschen Bühne des Dritten Reiches auch Calderón gespielt wurde, widerspricht nicht der konstatierten Lope-Begeisterung, sondern bestätigt den Trend zur einseitigen Rezipierung der spanischen comedia als komödiantisches Volksschauspiel. Die beiden wichtigsten Calderón-Inszenierungen galten El alcalde de Zalamea (1937 von Ernst Legal am Berliner Schiller-Theater mit Heinrich George in der Titelrolle) und La dama duende (1940 von Erich Engel am Deutschen Theater, Berlin), also den beiden Stücken, in denen Calderón dem Lope, wie er in Deutschland gesehen werden wollte, am nächsten steht. Dies bestätigt im Falle des Zalamea die Verwendung einer Übersetzung von Wilhelm von Scholz, die die barocke comedia in rustikales Volkstheater verwandelte 79
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Gerstinger 1977, S. 132.
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und die zeitgenössische Kritik zu einem Lob über die "mythischen und elementaren Kräfte des Bauerntums"80 animierte. Mit der Annäherung von Calderón und Lope auf der Bühne korrespondiert die wissenschaftliche Literatur über beide Autoren allerdings nicht. Von der Anpassung an das völkisch-nationalsozialistische Literatur-Ideal, die man Lope angedeihen ließ, blieb Calderón weitgehend verschont. Während die Publikationen zu Lope oft eine unkritisch-mystifizierende Vereinnahmung oder gar pro-nazistische Aktualisierung intendierten, bewegte sich die (im Untersuchungszeitraum ohnehin geringe) Calderón-Literatur vorwiegend auf einem hohen Niveau. Der authentische, d. h. formstrenge, barocke, religiöse, höfische Calderón bot sich, gerade weil er sich einer Zwangsgermanisierung verweigerte, der seriösen Forschung als Nische an. Dies dokumentiert z. B. Ernst Robert Curtius mit einem umfangreichen Aufsatz über Calderón und die Malerei (RF 1936), und selbst Vossler setzte mit dem Thema Magische Einsamkeit in Calderóns Fronleichnamsspiel (Corona 1937) andere Akzente als mit dem daseinsfrohen Volkstum bei Lope de Vega.81 Diese Tendenz - zugespitzt: Calderón als Terrain für Individualisten - bestätigt sich vollends bei den Arbeiten von Max Kommerell, die, so darf ohne Stilisierung behauptet werden, einen Höhepunkt der deutschen Calderonistik überhaupt markieren. Der Germanist Kommerell konzentrierte, nachdem er sich vom George-Kreis losgesagt hatte (was eine Leistung für sich darstellt), sein Interesse auf werkimmanente Ästhetik nicht nur der deutschen, sondern der (im Goetheschen Sinn) Weltliteratur. Seine Arbeiten zu Calderón - Übersetzungen und Studien82 rückten daher wieder den künstlichen und manierierten Dichter in den Mittelpunkt mit Anleihen bei der Toposforschung von Curtius, mit dem er in engem Austausch stand.
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Zitiert nach: Sorg 1980, S. 87. Dieser Sachverhalt markiert den Trend, charakterisiert aber nicht die gesamte Lopeund Calderón-Literatur. Ein sachlich-seriöser Zugang zum spanischen Theater ist ebenso anzutreffen wie die Instrumentalisierung Calderóns. Im Feuilleton der (katholischen) Kölnischen Volkszeitung z. B. war es der barocke und gegenreformatorische Calderón, der gegen die "rationalistische und liberalistische Kampagne" verteidigt und ideologisch der Gegenwart empfohlen wurde: "Man spricht davon, daß der Liberalismus erledigt sei. Vielleicht merkt man das gegenwärtig nirgends besser als beim Calderónstudium" (Steinmetz 1940). Sie erschienen posthum (Kommerell starb 1944 im Alter von 42 Jahren): "Beiträge zu einem deutschen Calderón" (1946). Das Leben ist Traum in Kommereils Nachdichtung wurde 1943 am Berliner Staatstheater in der Regie von Wolfgang Liebeneiner aufgeführt.
6. Lope de Vega im Dritten Reich
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Freilich waren auch Kommereils Calderón-Studien nicht kritisch-distanzierte Wissenschaft, sondern eine auf Einfühlung in den Gegenstand basierende, sich an den stilistischen Qualitäten der Stücke delektierende Betrachtung. Im Rekurs auf Hofmannsthal las Kommereil einen "modernen" Calderón, der ihm als Modell für eine Erneuerung des zeitgenössischen Theaters geeignet schien. 83 Eine solche Lesart im Dritten Reich statt an Lope de Vega an Calderón zu demonstrieren, war nur von einer Position außerhalb des literarischen und wissenschaftlichen Mainstreams möglich. Ein Überblick über die Aufsätze, die zu anderen Themen des Siglo de Oro veröffentlicht wurden, ergibt einen ähnlichen Befund, der durch eine zusätzliche Beobachtung bestätigt wird: Diejenigen Arbeiten, die a. in ihrer Themenstellung eine deutliche Abkehr von der zeittypischen literaturwissenschaftlichen Agenda signalisieren und b. auf hohem wissenschaftlichem Niveau argumentieren, konzentrieren sich in auffälliger Häufung in einer Zeitschrift, den von Fritz Schalk herausgegebenen Romanischen Forschungen.84 Das vergleichsweise hohe Niveau dieser Texte verdankt sich dem Vorhandensein eines internationalen Standards bei der Beschäftigung mit der literarischen Hochphase Spaniens. Über diesen tradierten Standard hinaus lassen sich in der deutschen Siglo-de-Oro-Forschung dieses Zeitraums jedoch weder methodische Innovationen noch etwa eine Entdeckung neuer Themenfelder feststellen. Der auf internationaler Ebene vor allem durch Américo Castro und Marcel Bataillon diskutierte Einfluß des Erasmus auf die spanische Literatur, der geeignet war, das orthodoxe Spanien-Bild zu revolutionieren, fand im wissenschaftlich nach außen abgedichteten Deutschland des Dritten Reiches nur eine schwache Resonanz.
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Cf. Briesemeister 1976b. In den RF erschienen u. a. folgende Aufsätze: Werner Krauss, Wege der spanischen Renaissancelyrik (1935); Harri Meier, Spanische Sprachbetrachtung und Geschichtsschreibung am Ende des 15. Jahrhunderts (1935); Ernst Robert Curtius, Calderón und die Malerei (1936); Werner Krauss, Das neue Góngorabild (1937); Harri Meier, Personenhandlung und Geschehen in Cervantes' 'Gitanilla' (1937); Ernst Robert Curtius, Theologische Kunsttheorie im spanischen Barock (1939); Harri Meier, Zur Entwicklung der europäischen Quijote-Deutung (1940); Fritz Schalk, Gracián und das Ende des siglo de oro (1940/41); Werner Krauss, Lope de Vegas Weltbild in seinen Briefen (1942/43); Fritz Schalk, Die Sentenzen Quevedos (1942). Zu den RF unter Schalk im Dritten Reich cf. Hausmann 1993, S. 71-101.
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Bataillons bahnbrechendes Werk von 1937, Erasme et Espagne, ist in der deutschen Romanistik überhaupt nur von Werner Krauss reflektiert worden. 85
85
Krauss 1939.
7. Rezeption zeitgenössischer Literatur 7.
DIE REZEPTION DER ZEITGENÖSSISCHEN LITERATUR
7.1.
Spanische und portugiesische Literatur
189
7.1.1. Gegenwartsliteratur als neues Forschungsgebiet Die Abstinenz gegenüber der zeitgenössischen Literatur war für die Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit. Jenseits einer methodologischen und erkenntnistheoretischen Begründung dieser Abstinenz stand dabei die Abgrenzung der sich als streng wissenschaftlich verstehenden Disziplin von der feuilletonistischen Literaturkritik im Vordergrund. Spätestens der Erste Weltkrieg beendete die Abneigung gegenüber der Gegenwart als Forschungsobjekt zwangsläufig, da die politische und militärische Auseinandersetzung mit England und Frankreich auch den Wissenschaften, die sich mit Sprache und Literatur der "Feind"-Länder beschäftigten, neue Aufgaben setzte. Das Defizit an Wissen über die zeitgenössische Kultur und Gesellschaft dieser Länder spielte in der Ursachenforschung über die als traumatisch erfahrene deutsche Niederlage eine wichtige Rolle. Die Erkenntnis, beispielsweise Frankreich falsch eingeschätzt zu haben, trug zum Durchbruch der bereits eingeleiteten Abkehr von der bislang nahezu ausschließlich betriebenen positivistischen Quellen- und Motivforschung und der Hinwendung zu Geistesgeschichte und Gegenwartsfragen wesentlich bei. Neben dem "toten" Material trat nun auch das "lebendige" der eigenen Epoche in den Gesichtskreis der Philologen. Ernst Robert Curtius' berühmtes, 1919 erschienenes Buch Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich ist exemplarischer Ausdruck dieser neuen Tendenz und war eben deswegen umstritten. Die Hispanistik partizipierte an diesem Prozeß in besonderem Maße, da der Erste Weltkrieg und seine Folgen den eigentlichen Motor ihrer Entwicklung darstellen. Wie bereits in Kap. 1 ausgeführt, hatte die neu entstehende Spanien-Bewegung wegen der Dominanz wirtschaftlicher und politischer Themenfelder von Beginn an einen überdurchschnittlichen Gegenwartsbezug. Das kulturelle Interesse für Spanien, das im Gefolge dieser wirtschaftlichen Bestrebungen aufkam bzw. diese begleitete, nahm daher auch von den aktuellen Tendenzen Notiz. Damit traten erstmals die spanische Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die neuen literarischen Strömungen seit 1898 in das Blickfeld der deutschen Rezipienten. Die ohnehin nur spärliche Beschäftigung mit hispanistischen Themen vor 1914 war zudem von einer einseitigen Fixierung auf die "Blütezeit" gekennzeichnet. Diese Blütezeit-Metapher wies der dem Siglo de Oro vorausgehenden Epoche immerhin den Status einer aufsteigenden und daher positiv konnotierten Phase zu, deklassierte die nachfolgenden Perioden aber zwangsläufig zu
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reinen Verfallserscheinungen, die einer Beschäftigung für nicht würdig erachtet wurden. Der neue Blick auf Spanien, der aus politisch-wirtschaftlichen Krisenerfahrungen und einer gesellschaftlichen Umbruchsituation herrührte, folgte nicht primär diesem organologischen Raster, sondern auch anderen Kriterien, die der aktuellen Situation entsprachen. Mit der teilweisen Abkehr von Frankreich ging die Hinwendung zu Spanien einher, als eine Kontaktsuche im Stadium allgemeiner Isolation. In dieser neuen Konstellation wurde die jahrzehntelange Vernachlässigung Spaniens und vor allem die Ignoranz gegenüber der zeitgenössischen spanischen Kultur in Deutschland als Defizit und schwerwiegender kulturpolitischer Fehler diagnostiziert. Gleich der erste Aufsatz, der im August 1918, also noch vor dem Waffenstillstand, einen Überblick über die "Hauptrichtungen der spanischen Literatur der Gegenwart" wagte, stellte seine Ausführungen in eben diesen Kontext. Sein Verfasser, ein Theologe im übrigen, der bereits 1915 eine Schrift Spanien und der Weltkrieg verfaßt hatte, beklagte, daß die geistige Verbindung Spaniens mit Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgerissen sei und die spanischen und südamerikanischen Schriftsteller sich ausschließlich nach Paris orientiert hätten - mit "gefährlichen" Folgen für Deutschland: "Es war deswegen nur eine natürliche Folgeerscheinung dieser Tatsachen, wenn ein großer Teil der intellektuellen Welt Spaniens und Süd-Amerikas gleich beim Ausbruch des Weltkrieges in den geistigen Bann Frankreichs und Englands geriet und mit ihren Federn den moralischen Feldzug gegen Deutschland unterstützte."'
Die ersten Kontakte mit der zeitgenössischen spanischen Literatur fanden somit unter wissenschafts- und literaturexternen Vorzeichen statt. Im Vordergrund stand das deutschnationale Interesse, zu dem die fremde Kultur in einen funktionalen Bezug gesetzt und damit nachgeordnet wurde. Die wissenschaftsinterne Rezeption der Romanistik folgte diesen Bestrebungen erst nach. Dieses "Hinterherhinken" der akademischen Philologie, das als allgemeines Phänomen der Frühphase der neuen Hispanistik schon in Kap. I festgestellt wurde, äußert sich gerade bei der Gegenwartsliteratur, da dieser Themenkomplex ein generelles Novum darstellte. Darüber hinaus ist jedoch zu beobachten, daß die Grenzen zwischen philologischer Wissenschaft, Literatur, Politik und Wirtschaft ohnehin zu fließen begannen und sich neue, mehrere Disziplinen integrierende Komplexe organisierten, wie etwa die "Auslandskunde". Auch für dieses Phänomen bietet die Frühphase der Hispanistik idealtypisches Anschauungsmaterial. In den Zeitschriften, die im
1
Froberger 1918, S. 226.
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
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Hamburger Umkreis für die kaufmännische und allgemein interessierte Öffentlichkeit herausgegeben wurden (siehe oben, S. 54 f.) und die eine Mixtur aus Wirtschafts-, Politik- und Kulturbeiträgen offerierten, gab es immer wieder Vorstöße zur neueren Literatur. Gleichwohl blieb die orthodoxe Hochschul-Romanistik diesen Tendenzen gegenüber auf Distanz und ließ das Thema Gegenwartsliteratur, das nach 1918 gewissermaßen im Raum stand, nur langsam an sich heran. In der ohnehin jungen Teildisziplin Hispanistik betätigten sich auf diesem Gebiet nahezu ausschließlich die Newcomer. Erst 1926 erschien der erste Versuch einer Gesamtdarstellung der spanischen Literatur der letzten 50 Jahre, verfaßt von einem zu diesem Zeitpunkt frischgebackenen Privatdozenten der Universität Frankfurt am Main. Diese Pionierstudie belegt zugleich schlagend, daß von der bislang praktizierten Trennung von "hoher" Wissenschaft und "niederer" Literaturkritik nichts mehr zu erkennen war. Hellmuth Petriconi legte keine spröde Abhandlung vor, sondern einen originellen, weil persönlich-subjektiv gehaltenen Essay mit praktischer Zielrichtung, eine Art Vademecum für Leser. Für solche Arbeiten war nun ein Markt vorhanden, was sich an den Übersetzungen spanischer Autoren ablesen läßt (z. B. Baroja, Unamuno, Blasco Ibäflez, Benavente). Gleichzeitig aber war sich der Verfasser des wissenschaftlichen Werts seiner Arbeit sehr wohl bewußt. Wenn sich folgender Satz auch auf Menendez y Pelayo bezieht, so klopfte sich damit gewiß Petriconi selbst auf die Schulter: "Über einen Klassiker klug zu sprechen, das scheint uns am Ende keine so große Kunst [...], aber über einen bedeutenden Zeitgenossen das entscheidende Wort zu sagen, Literaturgeschichte nicht nur zu schreiben, sondern zu machen, das heißt uns 'auf der Höhe sein', das verleiht in unseren Augen schon Rang!"2
Petriconi war tatsächlich "auf der Höhe", seine Arbeit war gerade kein zaghaftes, vorsichtiges Tasten, wie es bei einer solchen ersten Eroberung des Terrains vielleicht zu erwarten gewesen wäre, sondern die Autoren und Werke wurden treffsicher ausgewählt und bewertet und vor allem nicht in ein Raster von vorgefertigten "-ismen" und "Generationen" eingezwängt. Die erstaunlichste Innovation des Buches war allerdings, daß es dem Verfasser "selbstverständlich" erschien, auch die spanisch-amerikanischen Autoren mitaufzunehmen, denn deren Ausklammerung "hieße dasselbe, wie etwa die schweizerischen Dichter aus der deutschen Literaturgeschichte ausschließen" 3 . Die damit implizierte Gleichrangigkeit von europäischer und amerikanischer Dichtung bedeutete einen wichtigen Schritt in
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Petriconi 1926, S. 44 f. Ib., S. VI.
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der nun langsam einsetzenden Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Deutschland. Dieses Buch kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine kontinuierliche Forschung über spanische Gegenwartsliteratur in Deutschland nach wie vor nicht stattfand. Die Beschäftigung mit dem aktuellen Spanien blieb weiterhin sporadisch und auf das individuelle Interesse einiger Weniger beschränkt. Von den Hochschul-Romanisten war Petriconi der einzige mit umfassenden Kenntnissen zu diesem Thema. Bei anderen war ein rein subjektives und daher selektives Vorgehen kennzeichnend. Dies zeigt sich insbesondere bei dem fur Gegenwartsliteratur aufgeschlossenen Curtius, der sich eigentlich nur fur drei Autoren interessierte (Unamuno, Ortega, Pérez de Ayala). Oft war die persönliche Begegnung zwischen deutschem Romanisten und spanischem Schriftsteller der Anlaß für eine Publikation. So entstand eine Studie des Hallenser Romanisten Werner Mulertt über Azorin (1926), international die erste Monographie Uber diesen Autor überhaupt, und ein Aufsatz Karl Vosslers über Jacinto Benavente (Corona 1930). Erst 1928 erschienen die ersten Dissertationen über das neue Forschungsgebiet, die (im Zeitraum von 1928 bis 1932) die Autoren Pérez Galdós, Angel Ganivet, Blasco Ibáflez und Pereda thematisierten. Die im vorangehenden Passus genannten, als forschungswürdig erachteten spanischen Autoren indizieren einen weiteren Befund: Unter dem Rubrum "Gegenwart" bzw. "zeitgenössisches Schrifttum" subsumierte man vorwiegend die Autoren, die - falls sie überhaupt noch lebten - ihren literarischen Zenit längst überschritten hatten, deren Œuvre bereits überschaubar war, und die sich daher in bereitliegende Schemata einordnen ließen. Die wirklich zeitgenössische spanische Avantgardeliteratur, von der es j a besonders im Bereich der Lyrik tatsächlich Neues und Aufregendes zu berichten gegeben hätte, blieb für die deutsche Hispanistik terra incógnita. 4 Es war wiederum als einziger Petriconi, der, in einem Nachtrag zu seiner Monographie, genau diesen Sachverhalt kritisch reflektierte. Er monierte, daß von den spanischen Autoren, die in Deutschland halbwegs bekannt seien, "auch die jüngsten schon an der Schwelle des fünfzigsten Jahres" stünden, also "die Generation [...], die nach deutschen Begriffen für eine Doktor-Dissertation reif wäre" 5 und kommt zu dem Schluß:
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Völlig unbekannt blieb sie dem deutschen Publikum gleichwohl nicht. Im Schlüsseljahr 1927 legte der langjährige Hamburger Spanisch-Lektor José F. Montesinos in Teubners Studienbücherei eine Untersuchung über Moderne spanische Dichtung mit ausführlichen Textbeispielen der tatsächlich "modernen" Lyriker vor. Petriconi 1928, S. 151.
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
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"Sich [...] über die eigentliche zeitgenössische Literatur auch nur in dem, was sie hervorgebracht hat, zu unterrichten, ist heute in Deutschland so gut wie unmöglich." 6
Bei dieser Gelegenheit kommen auch die organisatorischen und materiellen Mißstände zur Sprache. Die wichtigsten spanischen Literaturzeitschriften wie die Revista de Occidente oder die Gaceta Literaria waren in kaum einer deutschen Seminarbibliothek vorhanden, von den eigentlichen avantgardistischen Blättern zu schweigen. Ebenso schwierig war die Buchbeschaffiing. Diejenigen Hispanisten, die sich über die aktuellsten Tendenzen informieren wollten, mußten daher ein überdurchschnittliches Maß an Eigeninitiative aufbringen, um an das entsprechende Material zu gelangen. Petriconi jedenfalls scheint dies gelungen zu sein: Er nennt die relevanten Autoren (Jorge Guillén, Rafael Alberti, Pedro Salinas, García Lorca, Gerardo Diego, Gómez de la Serna, Guillermo de la Torre, Vicente Huidobro) und entscheidenden Richtungen ("Creacionismo", "Ultraismo"). Petriconis Aufforderung an seine Kollegen - als solche ist sein Text primär zu verstehen sich mit den genannten Dichtern zu beschäftigen, zeigte nicht die geringste Resonanz. Die Auseinandersetzung mit der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts beschränkte sich im wesentlichen auf die Problematik der Generation von 98, weil die Reflexionen dieser Schriftstellergeneration über die Dekadenz Spaniens oder über das Verhältnis Spaniens zu Europa mit den von der deutschen Hispanistik bevorzugten Interpretations-Schablonen in Einklang zu bringen waren: Aufstieg und Verfall einer Nation, Neubesinnung nach Krisenerfahrung, Suche nach den autochthonen Elementen etc. Da der wissenschaftliche Gegenstand "Spanien" zu einem großen Teil als Projektionsfeld für Modernitätsskeptiker und Zivilisationsflüchtlinge Verwendung fand, konnte in diesem Umfeld ein Interesse ausgerechnet für spanische rart-pour-l'art-Lyrik gar nicht aufkommen. Anders formuliert: Die zeitgenössische spanische Literatur, die ja mit verwandten Strömungen in den anderen Ländern konform lief, kultivierte genau den Zeitgeist, dem man in Deutschland mittels Spanien-Mythos zu entfliehen gedachte. Potentielle Forschungsobjekte wie "Ultraismo", "Greguería" oder "Esperpento" waren in diesen mythischen Komplex nur schwer integrierbar.
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Ib., S. 152.
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7.1.2. Spanische und portugiesische Gegenwartsliteratur im Dritten Reich Auch in den Jahren ab 1933 blieb die spanische Gegenwartsliteratur innerhalb der hispanistischen Forschung unterrepräsentiert. Dem zögerlichen Interesse für die aktuelle Literaturproduktion auf der Iberischen Halbinsel steht im Dritten Reich ein auffalliges Bemühen um die hispano-amerikanische Literatur gegenüber (siehe unten), so daß die spanischen Dichter im Schatten dieses ersten Lateinamerika-"Booms" standen. Aufgrund der anhaltenden Fixierung auf das Siglo de Oro wurden spanische Vorbilder fiir das völkische Literatur-Ideal primär in dieser Epoche und nur zu geringem Teil in der Literatur des 20. Jahrhunderts gesucht. Auch die Lope-de-Vega-Renaissance war, wie im vorangehenden Kapitel analysiert, ursächlich mit dieser Vorbildsuche verbunden. Dieser Nexus mit der einheimischen, sich im "neuen Staat" auch neu definierenden literarischen Praxis war fiir die Rezeption der modernen fremdsprachigen Literatur im Dritten Reich grundlegend. Dies betrifft sowohl die Auswahl der übersetzten Autoren, die Rezension im Feuilleton als auch die Texte der Literaturwissenschaftler, die beim Thema Gegenwartsliteratur nahezu ausnahmslos an ein breites Lesepublikum gerichtet waren. Das nationalsozialistische Deutschland war der modernen Literatur des Auslands zwar keineswegs hermetisch verschlossen 7 , doch lag der Primat dieser Rezeption eindeutig auf der form- und wertkonservativen Literatur, die, wie anläßlich eines Vossler-Zitats schon einmal (S. 164) bemerkt, eine internationale Strömung darstellte. Der einzige spanische Autor, der in den dreißiger Jahren kontinuierlich übersetzt wurde, war Ortega y Gasset, der nach seinem Bestseller Der Aufstand der Massen (dt. 1931) zu den "meistgelesenen modernen Philosophen" 8 gehörte. Nennenswerte Übersetzungen anderer konservativer Autoren finden sich erst wieder in den vierziger Jahren. 9 Als erratischer Block in dieser kargen Übersetzungslandschaft erschien 1936 in einem Berliner Kleinstverlag ("Die Rabenpresse") die schmale Anthologie Neue spanische Dichtung (übertragen von Roy Hewin Winstone und Hans Gebser) mit Gedichten von Rafael Alberti, Manuel Altolaguirre, Luis Cernuda, Jorge Guilldn, 7 8
Cf. Schäfer 1982, S. 10 ff., der u. a. auf Faulkner-Übersetzungen hinweist. Ib., S. 12. Neben Pérez de Ayala (Tiger Juan, 1941) und Baroja (Zalacain, der Abenteurer, 1944) waren dies bezeichnenderweise Autoren eines als bodenständig verstandenen Realismus wie Concha Espina oder gar Pereda (Das Erbe von Tablanca [Peñas arriba], 1944). Von Armando Palacio Valdés erschienen Fortsetzungsromane in der Kölnischen Volkszeitung: José und Elisa. Fischerroman von der asturischen Küste (1935); Das verlorene Dorf (1940).
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Federico Garcia Lorca, Emilio Prados, Pedro Salinas. Der Kontakt mit der wirklich neuen Dichtung war offensichtlich nur in einer winzigen Nische möglich. Überblicksdarstellungen zur modernen spanischen Literatur von Hispanisten - in der Nachfolge Petriconis - erschienen nur im Zusammenhang mit der Behandlung anderer Literaturen, also in einem Kontext, in dem die spanische Literatur nicht ausgespart werden konnte. So war die renommierte, von Oskar Walzel herausgegebene Enzyklopädie Handbuch der Literaturwissenschaft in den dreißiger Jahren bei der Darstellung der einzelnen Gegenwartsliteraturen angelangt. In dem Band über die romanischen Literaturen fiel die Bearbeitung des iberoromanischen Abschnitts dem Königsberger Dozenten Hans Jeschke zu, ausgewiesen durch eine Dissertation über Angel Ganivet (1928) und eine Monographie über Die Generation von 1898 in Spanien (1934). Obwohl sich Petriconis Abhandlung von 1926 gar nicht so sehr als streng wissenschaftliche Darstellung verstanden hatte, blieb sie auch zwölf Jahre danach nicht zuletzt faute de mieux - der Maßstab für die literaturgeschichtliche Untersuchung der spanischen Literatur seit dem Realismus. Auch die Integrierung der lateinamerikanischen Literatur war nun nicht mehr unkonventionell, sondern der steigenden Resonanz angemessen. Auf welch unsicherem Gelände der deutsche Betrachter der modernen iberoromanischen Literaturen sich auch 1938 noch bewegte, demonstriert Jeschke gleich an mehreren Stellen und macht auch keine Anstalten, dies zu verheimlichen. Während er bei der spanischen Literatur oft den Bewertungen Petriconis folgt (z. B. Bevorzugung Valeras gegenüber Galdös), zeigt sich insbesondere in den Lücken und Fehlern seiner Ausführungen zur portugiesischen und lateinamerikanischen Literatur, daß die Infrastruktur der Buch- und Zeitschriftenbeschaffung und die Möglichkeit der Information über neueste Strömungen sich kaum gebessert hatten. 10 Von diesen externen Gründen abgesehen, ist dieses Defizit aber nun entscheidend vom zeittypischen Literaturgeschmack bestimmt. Als Jeschke bei der spanischsprachigen Avantgardeliteratur ankommt, beschränkt er sich auf eine reine Aufzählung der Autoren und ihrer Werke (Salinas, Guillön, Diego, Garcia Lorca, Alberti, Jarnös, Borges, Pellicer, Gorostiza), verweigert aber eine ausführliche Kommentierung mit dieser Begründung:
10
Exemplarische Stelle: "Auch der Mexikaner Mariano Azuelo [sie!] (geb.?), dessen Roman 'Los de abajo' (1930) [sie! recte: 1915! 1930 erschien bereits die deutsche Übersetzung] mir eben bei Abschluß dieser gedrängten Übersicht noch in die Hände kommt, hat in diesem Werk Szenen aus einer der vielen mexikanischen Revolutionen mit unbefangener Objektivität beschrieben" (Jeschke 1938, S. 102).
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"Da die Werke all der eben angeführten Dichter, in denen Welt und Mensch aus allen nur erdenklichen, den banalsten und geistig subtilsten, ausgefallensten Perspektiven gesehen und literarisch in einer in jeder Hinsicht gekonnten Hochform dargestellt werden, ganz ausgesprochen an einen engen Kreis literarischer Kenner und Feinschmecker gerichtet sind, meine Darstellung aber für Leser bestimmt ist, denen eine lebensnahe, poetische Kunst mehr am Herzen liegt als artistische Kunstexperimente, genügt zur Orientierung die oben gegebene Liste der fuhrenden Autoren der zeitgenössischen spanischen und hispanoamerikanischen Lyrik und ihrer wichtigsten Werke."11
Jeschke verlangt von der zeitgenössischen Literatur ausdrücklich eine "Rückkehr vom Ich zum Wir [...], vom artistischen Literatentum zum wirklichen Dichtertum" 12 . Diese Oppositionen - Artistik vs. Lebensnähe, künstlich vs. wirklich, Literat vs. Dichter, Ich vs. Wir - konturieren das Raster, mit dem die avantgardistischen Tendenzen der Gegenwartsliteratur - nicht nur der spanischsprachigen - erfaßt wurden. Diese Kategorien, die die "guten" aus den - trotz literarischer Hochform! - "schlechten" Schriftstellern, die Dichter aus den Literaten herausfiltern sollten, sind die gleichen, die auch aus Klassikern wie Lope de Vega ein Modell für die literarische Praxis machten: die Gemeinschaft von Dichter und Volk ("Wir" statt "Ich") und die kritiklose Bejahung des Lebens. Zumindest zwei Avantgardisten läßt Jeschke jedoch gelten, bestätigt damit aber nur die Gültigkeit der genannten Kategorien. Bei Garcia Lorca läßt der Rekurs auf die traditionelle Volksdichtung eine "Kraft echter dichterischer Genialität" wenigstens ahnen, bei Gómez de la Serna sind es die "verhältnismäßig einfache Form" 13 und die erkennbare Aussage, die ihn von der Hermetik eines Guillén oder Diego positiv abheben. Als Gültigkeit beanspruchender Handbuch-Artikel repräsentiert Jeschkes Aufsatz eine Textsorte der oberen Kategorie. Tatsächlich ist dem Autor die Anstrengung einer möglichst objektiv-neutralen Perspektive anzumerken. Daß er dennoch eine ganz bestimmte Tendenz innerhalb der Literaturproduktion favorisiert, ist daher weniger Ausdruck einer subjektiv-persönlichen Neigung, sondern verweist darauf, daß das Modell einer lebensnahen, volkstümlichen Dichtung mittlerweile zu einem nicht mehr hinterfragten Standard avanciert war. Die Identifizierung des Literaturwissenschaftlers mit dem breiten Publikumsgeschmack und die Abgrenzung gegen den abstrakten Ästhetizismus literarischer Gourmets in einem solchen Informationstext sind nicht als plumpe Anbiederung mißzuverstehen, sondern legitimieren sich durch einen allgemeinen geisteswissenschaftlichen Konsens. Auch auf höchster intellektueller Ebene machte die geistige Elite mit einer Ar11 12 13
Ib., S. 122. Ib. Ib. S. 120 und 122.
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gumentation, die durch Schlagwörter wie "deshumanicaziön del arte" oder "Verlust der Mitte" charakterisiert ist, Front gegen die radikale Moderne. Dieser Diskurs, der in den zwanziger Jahren noch mit anderen Diskursen konkurrierte, war nun der alleinherrschende. Sich ihm zu entziehen oder ihn gar zu unterlaufen, erforderte im Dritten Reich einen nicht zu unterschätzenden intellektuellen Kraftakt. Dennoch basiert Jeschkes Handbuch-Artikel weitgehend auf den Prinzipien der tradierten wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung, die ja schon seit langem sich nicht mehr auf die Vermittlung reiner Fakten beschränkte, sondern mit massiven Wertungen einherging. Der Verfasser war bestrebt, sich sowohl von außerliterarischen Bezügen (nicht einmal der Bürgerkrieg wird erwähnt) als auch von nationalcharakterologischen Typisierungen fernzuhalten. Demgegenüber erscheint ein Jahr später ein Sammelband über Die Gegenwartsdichtung der europäischen Völker, der sich explizit anderer Darstellungsprinzipien bedient. Der Herausgeber Kurt Wais stellt gleich im ersten Satz seines Vorworts einen Zeitbezug her, der die Literaturbetrachtung aus innerliterarischen Zusammenhängen herauslöst und ihr somit eine andere Funktion zuweist: "In einer vom politischen Denken ergriffenen Zeit wird die Zahl derjenigen gering sein, die aus bloßer Freude am musisch Erschaffenen, ungesättigt vom heimischen Besitz, ihre Blicke über die Grenzen des eigenen Sprachbezirks hinaus schweifen lassen. Um so größer die Anzahl jener, die ihr Absehen darauf richten, durch die Dichtung eines mehr oder minder fremden Volkes zum Kennenlernen oder tieferen Begreifen der in diesem Volk schlummernden Möglichkeiten, Empfindungs- und Denkgewohnheiten zu gelangen."14
Literatur wird nicht mehr als ästhetisches Gebilde wahrgenommen, das als solches anaylisiert werden muß, sondern nur noch als Index für den Nationalcharakter, als Material für Aussagen über die fremden "Gewohnheiten". Dieser Gedanke, der keineswegs neu ist - wir kennen ihn aus der Kulturkunde und den Legitimationstexten der Neuphilologen - , erfährt auch bei Wais seine Ausführung mit dem Hinweis, daß "echte" Dichtung nur durch "die Verbundenheit mit dem Volkstum und die Verbundenheit mit dem verpflichtenden Erbe des heimischen Schrifttums"15 möglich sei. Auch die Warnung an den deutschen Leser, daß ein allzu tiefes Eindringen in das Fremde zu einer "Abflachung des nationalen Eigenkerns"16 führe, ist nicht neu, allenfalls die Formulierung. Die Betrachtung der Gegenwartsliteratur unter politischen Gesichtspunkten und der a priori bestimmte Primat der völkischen Dichtung setzen die einzelnen Na14 15 16
Wais 1939, S. VII. Ib., S. VIII. Ib., S. IX.
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tionalliteraturen, um die es hier geht, von vornherein einer massiven Bewertung aus. So konstruiert der Herausgeber in seinem Einleitungskapitel, das eigentlich "Vom Zusammenhang der europäischen Literaturen" handeln soll, einen WestOst-Gegensatz in der völkisch-nationalen Literaturproduktion, der die englische und französische Literatur bereits in der Einleitung mit einem gewaltigen Makel behaftet: dem Odium der Ignoranz gegenüber dem Rekurs auf das eigene Volkstum. 17 Die Ostvölker hingegen hätten schon allein gegen das "Sengen und Brennen des Bolschewismus" alle "nationalen und rassischen Bindungen" 18 verstärken müssen. Ein Sammelband, der seine Beiträge unter das Diktat einer solchen Einleitung stellt, läßt nicht unbedingt eine sachlich-nüchterne Bestandsaufnahme der europäischen Gegenwartsliteratur erwarten. Diese Skepsis wird vom Herausgeber selbst mehr als bestätigt, da dessen Aufsatz über die französische Literatur insbesondere wegen seiner antisemitischen Ausfälle in der Geschichte der romanistischen Literaturwissenschaft in Deutschland beispiellos dasteht. 19 Indessen beteiligt sich der hispanistische Beitrag, mit dem Edmund Schramm betraut wurde, an solchen Exzessen nicht. Er folgt auch nicht uneingeschränkt der Vorgabe des Herausgebers, die der völkischen Gemeinschaft huldigende Dichtung in den Mittelpunkt zu stellen - eine Forderung, die neben Kurt Wais vor allem der Anglist Hans Galinsky vorbehaltlos umsetzt 20 - , sondern bemüht 17
18 19
"Das lang eingewurzelte Bewußtsein, daß die eigene nationale Einheit kein Problem mehr bildet, ist einer der Gründe, warum England und Frankreich nicht nur dem kulturpolitischen Wandel in Italien und Deutschland so geringes Verständnis entgegenbrachten, sondern auch in ihrer neueren Dichtung vorwiegend um städtische Verfeinerung und volksfern abseitige Seelenanalyse bemüht scheinen, sehr in Gegensatz zum kräftigen Zupacken der verjüngten osteuropäischen Nationalliteraturen und zu der frohgemuten Begeisterung über die Erftillung des tausendjährigen Traums vom vaterländischen Sich-Zusammenflnden, die sich in italienischer und deutscher Hymnendichtung ausspricht" (ib., S. XIV f.). Ib., S. XVII.
So konstatiert er beim "Nicht-Vollfranzosen", weil "Halbjuden", Marcel Proust eine "neugierige Mikroskopie der Pubertätsprobleme und des Sumpfes lustfrevlerischer Sexualverirrungen, welche Proust mit vielen jüdischen Belletristen Europas gemein" habe. Julien Benda bezeichnet er als "dünnblütigen Sohn einer schreibseligen Pariser Vorstadtjüdin und eines Ostjuden" (ib., S. 214 f. bzw. 260). Darüber hinaus scheitert , nahezu jeder Satz an seiner exzentrischen Metaphorik ("der schwärende Quark der Gefühle" etc.). 20 Wie der alleinige Maßstab des völkischen Paradigmas zur totalen Erkenntnisblockade fuhrt, demonstriert Galinsky idealtypisch am Joyceschen Ulysses: "Soweit mir das Werk überhaupt verständlich ist, lohnt es sich nicht, es verstanden zu haben, es sei denn als Anzeichen der Fäule einer dichterischen Lebensfunktion. [...] Es bleibe dem Keltologen überlassen, dieses literarische Verprassen eines völkischen Erbes, des
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sich auch bei den modernen Tendenzen um eine sachliche Würdigung. So stehen bei ihm mit Pérez de Ayala, Gómez de la Serna und Benjamín Jarnés drei Autoren als bedeutendste Repräsentanten der Gegenwartsliteratur im Mittelpunkt, die vom völkisch-heroischen Modell denkbar weit entfernt sind. Originell ist die Auswahl gleichwohl nicht, da alle drei Autoren in Deutschland bereits vorgestellt waren. 21 Der völkisch-nationalistische Aspekt wirkt bei Schramm zudem merkwürdig aufgesetzt und erscheint zuweilen in gewundener Formulierung 22 , so als ob hier nur zwanghaft eine Auflage des Herausgebers erfüllt würde. Garcia Lorcas Stück Bodas de sangre, das sich zur Vereinnahmung als Blut-und-Boden-Drama angeboten hätte, erfährt eine differenzierte Betrachtung jenseits einer vermeintlich realistischen Bauerntragödie. Zur Behandlung der eigentlichen modernen Lyrik der Generation von 27 aber dringt auch Schramm nicht vor. Ihre Vertreter werden auf einer Seite knapp abgehandelt, und auch hier liegt der Verdacht nahe, daß der Bann, den Kurt Wais in seiner Einleitung über die ästhetizistische Dichtung verhängte, eine ausführliche Darstellung verhindert hat. Am Schluß vertagt Schramm die potentielle Wiedergeburt von Gemeinschaft, Nation und Volkstum vollends in die Zeit nach dem Bürgerkrieg, ist sich aber nicht einmal sicher: "Werden die Kräfte, die im 16. und 17. Jahrhundert in Spanien ein echt volkstümliches Schrifttum von höchstem künstlerischen Rang hervorbrachten, vielleicht wieder mächtiger sich regen? Wir wissen es nicht."23
Und als Schlußsatz eine wiederum sehr demonstrativ wirkende Bemerkung, die der Verfasser wohl deshalb für notwendig hielt, weil sie sich gerade nicht als zwangsläufiges Resultat seiner Ausführungen aufdrängt:
21
22
23
kühl-sachlichen Verhältnisses zur Erfahrungswirklichkeit und der metaphysischreligiösen Begabung, in geschichtliche Sicht zu bringen" (in: Wais 1939, S. 157). Ernst Robert Curtius, Ramón Pérez de Ayalá, ¡n: Die Literatur 1931; Fedor Wälderlin (= Walter Pabst), Das Geheimnis der Greguería, in: Die Literatur 1930; ders.: Geisteswende in Spanien [Jarnés], in: Die Literatur 1931. Übersetzungen erschienen von Jarnés (in: Neue Rundschau 1926 u. Europäische Revue 1931) und Gómez de la Serna (Torero Caracho, 1928). "Nichts wäre abwegiger als in dem Streben nach Vervollkommnung, nach Vergeistigung der Dichtung, nach 'Exklusivität', wie es sich in der spanischen Literatur der letzten Jahrzehnte so deutlich bekundet, bloßen Ästhetizismus wittern zu wollen. Bei näherem Zusehen läßt sich in dieser Dichtung, die freilich nicht immer gerade eine Dichtung f ü r das Volk genannt werden kann, doch klar erkennen, wie enge sie mit Volkstum und Landschaft verbunden und wie sehr sie dem geistigen, literarischen und sprachlichen Erbe der Nation verpflichtet ist" (Schramm 1939a, S. 331 f.). Ib., S. 357.
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"Das aber muß bei jedem Urteil über die Dichtung der letzten drei Jahrzehnte mit in Betracht gezogen werden: trotz aller, oft recht kühner Versuche, trotz allem Streben nach Exklusivität ist diese Dichtung immer eine echt spanische gewesen." 2 4
Ein Text wie dieser gibt Anlaß, erneut auf die uneinheitlichen und ambivalenten Aspekte der Publikationen und ihrer Verfasser hinzuweisen. Selbst in einem Kontext, der mit der offiziösen Literaturdoktrin konform lief und diese gezielt auch auf die fremdsprachigen Literaturen angewandt wissen wollte, war eine die sachliche Information bevorzugende Position möglich, auch von jemandem wie Schramm, der einer tendenziösen Schreibweise grundsätzlich nicht fern stand. Dies belegt seine Begleitpublizistik zum Spanischen Bürgerkrieg (siehe oben, Kap. 4), in der er gerade die Intellektuellen für die Anarchie der Zweiten Republik verantwortlich gemacht hatte. Hier hingegen läßt er den Bürgerkrieg, über dessen "geistige Voraussetzungen" er 1937 publizierte, erst in den Schlußzeilen und noch dazu seltsam abstrakt wie ein Naturereignis ohne Vorgeschichte "ausbrechen" 25 . Bemerkenswerterweise findet sich in Kurt Wais' Sammelband auch ein eigener Abschnitt über die portugiesische Literatur, die sonst nur, wenn überhaupt, als Annex der spanischen abgehandelt wird. Eine eigenständige Betrachtung hatte ihr in Deutschland zuletzt 1904 Karl von Reinhardstoettner in der "Sammlung Göschen" zuteil werden lassen. Es erstaunt, daß ein solcher "Pioniertext" erst 1939 erschien, da die deutsche Hispanophilie nach dem Ersten Weltkrieg auch das ganz nach England orientierte Portugal (und wohl gerade deswegen) mit einbezogen hatte, mit einer Vielzahl von kulturpolitischen Aktivitäten im Gefolge (z. B. Deutsches Institut in Coimbra, 1925). Der Verfasser des Artikels, Bruno Rech, wiederum war Mitarbeiter des schon erwähnten (S. 102 f.) Instituts für Portugal und Brasilien der Berliner Universität, das indessen durch spektakuläre Aktivitäten nach außen nicht in Erscheinung trat. Im Unterschied zu Schramm folgt Rech bedingungslos dem vorgegebenen Traditions- und Volkstumskonzept, das ihm als alleinige Bewertungsinstanz der Autoren und Werke dient. Zur Begründung begnügt er sich mit naiven Behauptungen wie dieser: "Niemand, am allerwenigsten ein Portugiese, kommt auf die Dauer von seinem Volkstum los, wenn er ehrlich sein will" 26 . Der erfreulichste Aspekt
24
Ib.
25
Schramms Abriß erfuhr 1942 in der von dem NS-Barden Will Vesper herausgegebenen Zeitschrift Die Neue Literatur eine Fortsetzung, diesmal aus offiziöser Sicht. Kriterium für die Auswahl der Autoren war nun ihre Beziehung zum "nationalen Staat" und die Thematisierung des "Kriegserlebnisses" aus nationalspanischer Perspektive (Hering 1942).
26
Rech 1939, S. 367.
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der neueren portugiesischen Literatur ist für ihn die Überwindung des skeptischen und vor allem portugalkritischen Rationalismus der "Schule von Coimbra" durch die Saudade-Dichtung, da, wie Teixeira de Pascoäes richtig erkannt habe, "der echte Portugiese ein Mystiker sein muß" 27 . Daraus ergibt sich eine Konzentrierung auf Dichter wie Lopes Vieira oder Antonio Correia de Oliveira, deren Werke er als "Weckruf an die Nation" 28 vorstellt. Relevante Autoren wie Pessanha oder Sä-Carneiro, die sich in dieses Schema nicht einordnen lassen, werden konsequent negiert. Ebenso fehlen die eigentlichen Avantgardisten wie Pessoa oder Almada Negreiros (die Jeschke zumindest erwähnt hatte, mithin bekannt waren). Immerhin registriert Rech die "Presen5a"-Bewegung, die ihm jedoch nicht ganz geheuer ist, denn "diese neue Jugend glaubt zu fühlen, daß die blutund volksverbundene Dichtung einen zu engen Raum umschließt, und strebt nach neuen allgemein gültigen Werten" 29 . Rech befürchtet einen Wiederanschluß an den Kritizismus der Generation von Coimbra und schließt mit diesem bedenklichen Ausblick den Kreis seiner Darstellung. Dieser Text verdankt seine Tendenz nicht nur dem Konzept dieses Sammelbandes, sondern fügt sich nahtlos in die allgemeine Portugal-Rezeption im nationalsozialistischen Deutschland ein. Publikationen über Portugal erreichten zwischen 1933 und 1945 ein quantitativ markantes Niveau. Diese Veröffentlichungen thematisierten jedoch weniger die portugiesische Literatur, sondern feierten den portugiesischen Staat, der spätestens nach dem Machtantritt Salazars als mit den deutschen Vorstellungen und Zielen konform laufend gesehen wurde (ebenso wie Spanien nach 1939), heroisierten die portugiesische Geschichte und würdigten insbesondere das Kolonialreich, dem aus deutscher Sicht Vorbildfunktion zukam. 30 Das Thema "Portugal" war im Dritten Reich derart politisch besetzt, daß
27
Ib., S. 365.
28
Ib., S. 368.
29
Ib., S. 369.
30
Exemplarische Titel: - Friedrich Sieburg, Portugal. Bildnis eines alten Landes (1937); - Manfred Zapp, Portugal als autoritärer Staat (1937); - Paul Herre, Das neue Portugal und sein Führer (in: Deutschlands Erneuerung 1939); - Anton Mayer, Portugal und sein Weg zum autoritären Staat (1939); - Hans Paeschke, Oliveira Salazars Portugal (in: Die Tat 1939); - G. Pommeranz-Liedtke/Gertrud Richert, Portugal, aufstrebender Staat am Atlantik (1939); - Ernst Gerhard Jacob, Das portugiesische Kolonialreich (1940); - Heinrich Baron, Portugal und Europa (in: Volk und Reich 1941); - Heinz Büchsenschütz, Portugal als Element der Politik der Gegenwart (in: ZIP 1943); - A. E. Beau, Die Entwicklung des portugiesischen Nationalbewußtseins (1945).
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die wissenschaftliche und publizistische Annäherung von vornherein mit einer quasi-offiziösen Aura umgeben war. Das authentische Portugal verschwand hinter einem Nebel aus Tradition, Volkstum, Kolonialmythos, autoritärem Staat und Saudade. Diese Politisierung verhinderte ein Interesse für die zeitgenössische portugiesische Literatur eher, als daß es sie forderte. Dieser Portugal-Komplex kulminierte 1939/40 zum 800jährigen Bestehen des portugiesischen Staates, u. a. mit einer Ausstellung in Berlin ("Portugal in Vergangenheit und Gegenwart") und einer Festschrift des Portugal-Instituts der Universität Köln, u. a. mit Beiträgen von Fritz Schalk, Werner Krauss, Harri Meier, Ludwig Pfandl und Hans Rheinfelder. 31 Daneben wurden die in den zwanziger Jahren angelegten kulturpolitischen Aktivitäten fortgesetzt und ausgebaut (einschließlich KdF-Fahrten nach Madeira). Noch 1944 wurde in Lissabon - in Anwesenheit von Karl Vossler! - ein Deutsches Kulturinstitut eröffnet. Auffällig zahlreich waren an portugiesischen Universitäten deutsche Wissenschaftler vertreten: Wolfgang Kayser als Professor für Germanistik in Lissabon, Joseph M. Piel als Professor für Romanistik in Coimbra, Albin E. Beau als Deutsch-Lektor ebenda und Harri Meier ab 1943 als Professor für Romanistik und Direktor des genannten Kulturinstituts in Lissabon. Zusammen mit der Erwähnung von Wolfgang Kayser ist indessen ein Text anzuzeigen, der durch Abweichungen vom bisher skizzierten Trend auffällt. Dieser Abriß der portugiesischen Gegenwartsliteratur erschien im ersten (und letzten) Jahrgang der von Kayser selbst herausgegebenen Zeitschrift des Lissabonner Kulturinstituts. Mit diesem Organ, das sich den kulturpolitischen Intentionen gemäß an portugiesische und deutsche Leser richtete, war sogar, wie der Herausgeber am Schluß seines Aufsatzes bemerkt, geplant, kontinuierlich über die portugiesische Literatur zu informieren. 32 Bei Kayser wird sofort deutlich, daß hier - im Gegensatz zu den unsicheren Jeschke und Rech - ein Insider schreibt, der auch mit den allerneuesten Autoren und Werken vertraut ist, die wohl tatsächlich nur vor Ort zugänglich waren. Nun erfährt auch der Avantgardismus eine ausführliche Würdigung, zu einem Zeitpunkt allerdings, als die Epoche der literarischen Revolutionen bereits abgeschlossen und überschaubar war. Die portugiesische Literatur des 20. Jahrhunderts besteht hier nicht mehr nur aus Saudade-Melancholikern und Anhängern des "Neuen Staates" (den Kayser überhaupt erst am Schluß erwähnt), sondern auch aus den Tendenzen, die die internationale literarische Moderne kennzeich-
31 32
Schalk 1940. "Das Manuskript wurde im Sommer 1943 abgeschlossen; über die wichtigsten Neuerscheinungen wird in dieser Zeitschrift laufend berichtet werden" (Kayser 1944, S. 73).
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zeitgenössischer
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nen. Gleichwohl gelingt es auch Kayser trotz seiner Detailkenntnis nicht, sich von den eingefahrenen Rastern der Literaturbetrachtung völlig zu lösen, wobei darauf hingewiesen werden muß, daß diese seine Zeitschrift als das Organ einer offiziellen Institution des Deutschen Reiches figurierte. Trotz ausfuhrlicher und korrekter Charakterisierung läßt Kayser nämlich keinen Zweifel über seinen Dégoût vor den avantgardistischen Richtungen. Dies beginnt damit, daß das Kapitel über die Zeitschrift Orpheu mit "Literatenrevolution" überschrieben ist (und "Literat" war eindeutig negativ besetzt) und fuhrt über den Vermerk der "halbjüdischen Abkunft"33 Fernando Pessoas zu einem sich durch den Aufsatz hindurchziehenden Katalog von richtig erkannten, aber abwertend gemeinten Merkmalen der modernen Literatur: internationale Einstellung, IchZerstörung, Seelenzergliederung, Introspektion und Pansexualität, um schließlich in "grössten Geschmacklosigkeiten"34 zu kulminieren. Die Distanz gegenüber der Avantgarde vermag Kayser auch indirekt auszudrücken, wenn er sich, wie z. B. bei Pessoa, hinter anderen verschanzt: "Fernando Pessoa ist von den jüngeren Dichtern, die sich als Träger des literarischen Lebens ansahen, überschwenglich gefeiert worden. Erst in jüngster Zeit wagen sich Einschränkungen stärker hervor und äussert sich das Bekenntnis einer letzten bleibenden Fremdheit vor dieser Erscheinung." 35
Aufgrund seiner Informiertheit selbst über aktuellste Trends ist es Kayser aber möglich, der portugiesischen Gegenwartsliteratur auch positive Aspekte abzugewinnen: "Die von den Männern um die 'Presença' heraufbeschworene Modewelle des introspektiven Romans ist abgeebbt"36, statt dessen sei eine neue regionalistische Prosa mit Alves Redol als wichtigstem Vertreter zu registrieren. Kayser erfaßt somit exakt die erst seit ca. drei Jahren manifest werdende Wende vom modernistischen zum realistischen Stil (und konstatiert obendrein bei Redol den Einfluß von Jorge Amadol). Er setzt dem Unbehagen an der Moderne also nicht den völkisch-heroischen, sondern den sozialen Realismus entgegen, wenngleich er an diesem nun wieder eine "perspektivische Verzerrung"37 kritisiert. Ebensowenig strebt Kayser das Ideal der einheitlichen Ausrichtung von Volk, Staat und Literatur an, sondern stellt im Gegenteil nüchtern fest, daß diese drei Elemente in Portugal "in den letzten Jahrzehnten weithin nebeneinander her gelebt haben"38.
33 34 35 36 37 38
Ib., S. 59. Ib., S. 66. Gemeint war Fernando Namoras Roman As sete Partidas Ib., S. 60. Ib., S. 70. Ib., S. 71. Ib., S. 72.
do
Mundo.
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Statt einer nationalpolitischen Funktionalisierung von Literatur gilt Kaysers Interesse Form- und Stillagen, freilich auf Basis genauer Normvorstellungen: "Der neuen Generation harren große Aufgaben, vor allem, der formal und sprachlich etwas zuchtlos und geistig mitunter unkeusch gewordenen portugiesischen Lyrik von 39
neuem Mass und Ordnung und Form zu geben." Diese hier manifest werdende Abkehr von einer politisierenden Literaturbetrachtung verweist einerseits darauf, daß man spätestens 1944 sich auf die Zeit "danach" einzurichten begann, andererseits wird hier bereits der Verfasser des noch in Lissabon geschriebenen und gleichzeitig auf portugiesisch erschienenen Buches Das sprachliche Kunstwerk (1948) erkennbar, das zu einem Bahnbrecher für die zur werkimmanenten Interpretation mutierende deutsche Nachkriegsliteraturwissenschaft avancierte, und in dem Kayser sich explizit von den auf Weltanschauung, Epochengeist oder Volkscharakter zielenden Erklärungsmodellen distanzierte. Die Fülle der spanischen und portugiesischen Beispiele verleiht darüber hinaus diesem Werk ein im Umfeld der deutschen Germanistik bemerkenswert exotisches Flair. Als Resümee bleibt festzuhalten, daß die Rezeption der modernen und avantgardistischen Tendenzen in der spanischen und portugiesischen Literatur im Deutschland des Dritten Reiches zwar nicht unmöglich war, aber doch auf erhebliche Schwierigkeiten stieß. Eine sachlich-nüchterne Beurteilung der zeitgenössischen fremden Literatur hätte ein Negieren der die Literaturproduktion im NSStaat dominierenden völkisch-heroischen Ideologeme erfordert. Die Vertreter der traditionellen Philologien, für die die Beschäftigung mit noch lebenden Autoren ohnehin ein erst langsam akzeptiertes neues Forschungsfeld darstellte, standen dem vorherrschenden NS-Literaturideal jedoch nicht zuletzt deshalb relativ hilflos gegenüber, weil sie für die Einordnung sich noch im Fluß befindender Phänomene kein spezielles Instrumentarium entwickelt hatten. Sie reagierten daher auf die neuen Anforderungen nicht eigentlich "wissenschaftlich", sondern eher feuilletonistisch, auch im Hinblick darauf, daß ihr Publikum besonders bei diesem Thema sich vorwiegend aus interessierten Lesern, also Laien statt Fachleuten, zusammensetzte. Das Fehlen einer seriösen Forschungstradition auf diesem Gebiet und ein entsprechendes Theoriedefizit einerseits und in den zwanziger Jahren praktizierte Dilletantismen wie die Wesens- und Kulturkunde andererseits begünstigten eine opportunistische Reaktion. Einer sich primär als Geistesgeschichte definierenden Literaturwissenschaft, die es ablehnte, sich auf den literarischen Text zu konzentrieren oder diesen Text soziologisch einzuordnen, mußte es schwerfallen, von sich aus auf sprachlich innovative Phänomene, wie etwa die
39
Ib., S. 69.
7. Rezeption zeitgenössischer Literatur
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Lyrik der Generation von 27 in Spanien zuzugehen, von einer angemessenen Beurteilung des normsprengenden Verhaltens der tatsächlichen Literatur-Revolutionäre zu schweigen. Die Rezeptionsblockade gegenüber der Avantgardeliteratur verdankte sich somit nicht einem von externen Instanzen verhängten Verbot, sondern dem eigenen Methodendefizit. Zur Vorstellung von einer Dichtung, die ihre Funktion primär im Dienst an der Volksgemeinschaft erfüllt, waren vor 1933 keine ausreichenden Alternativen entwickelt worden, sondern man arbeitete im Gegenteil - wie z. B. in der Hamburger Volkstumsforschung - auf Feldern, die diesen Mythos erst recht bedienten und wissenschaftlich unterfutterten. Diejenigen, die sich doch anderer, modernerer Konzepte bedienten - für die Hispanistik wäre vor allem auf die Stilforschung Spitzers und Hatzfelds zu verweisen - , waren nach 1933 in Deutschland nicht mehr erwünscht. Diese "Rezeptionsblockade" bestätigen gerade die Texte, die einen ambivalenten Eindruck hinterlassen, weil ihren Autoren - wie Schramm oder Kayser - zumindest der Versuch anzumerken ist, einen Zugang auch zu den formal und inhaltlich unkonventionellen Tendenzen zu finden. Diese Versuche scheiterten, weil deviante Schreibweisen in der Literatur nicht als Bereicherung oder Fortschritt, sondern als Bedrohung der form- und wertkonservativen Norm aufgefaßt wurden bzw. von vornherein unter dem Verdacht volksfremder Dekadenz standen. Solche Einstellungen sind im übrigen ein deutsches Spezifikum. Während der italienische Faschismus den Futurismus zu integrieren verstand, war der Nationalsozialismus auf vielen Sektoren modernisierend, auf dem kulturellen hingegen nicht.
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7.2.
Lateinamerikanische Literatur
7.2.1. Die Pionierphase Der gesamte Themenkomplex "Lateinamerika" erfuhr vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine absolut marginale und unsystematische Rezeption. Dieser Mangel erscheint um so gravierender, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der monumentalen Leistung Alexander von Humboldts auf ethnographisch-naturwissenschaftlichem Gebiet eine kontinuierlich betriebene Amerika-Wissenschaft hätte etabliert werden können, wobei durch die Arbeiten seines Bruders Wilhelm (und bei diesem obendrein gekoppelt mit einer innovativen Institutionalisierungspraxis) ein kongenialer sprachwissenschaftlicher Zweig angelegt war. Indessen rückten für die wissenschaftlichen "Entdecker" des 19. Jahrhunderts andere geographische Räume in den Vordergrund: Afrika, der Orient und speziell für die Sprachwissenschaft Indien. Diese Interessenverlagerung implizierte eine Marginalisierung Amerikas, vor allem des südlichen Subkontinents, der nur noch gelegentlich Neugier außerhalb des wissenschaftlichen Mainstreams erweckte. 40 Eine kontinuierliche Beschäftigung mit lateinamerikanischer Literatur war unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten, trotz ausbaufähiger Ansätze etwa bei Ferdinand Wolf (siehe oben, Kap. 1, S. 19). Lateinamerikanische Autoren wurden nur dann zur Kenntnis genommen, wenn sie dem romantischen oder exotischen Muster entsprachen (z. B. Marmol, Alencar). Spätestens der Erste Weltkrieg beendete die Indifferenz gegenüber Lateinamerika, doch blockierte die Dominanz des ökonomischen Interesses zunächst wissenschaftliche oder kulturelle Fragestellungen. Der amerikanische Subkontinent wurde als Absatzgebiet für den deutschen Außenhandel oder als Auswanderungsziel wahrgenommen, nicht aber als Kulturproduzent. Dieser wissenschaftsexterne Bezug führte auch zu einer außeruniversitären Institutionalisierung in Form von Iberoamerikanischen Instituten. Mit Spanien, zunächst ebenfalls Objekt handelspolitischer und kulturpropagandistischer Absichten, beschäftigte sich bald auch die deutsche HochschulRomanistik, weil dieser Gegenstand zwar bisher vernachlässigt worden war, aber doch zum Traditionsbestand der Disziplin zählte. Die Hispanistik konnte daher relativ mühelos einen Platz neben der dominierenden Frankreichforschung beanspruchen, die Amerikanistik hingegen war auf Anhieb nicht in das Fach Romanische Philologie integrierbar, weil sie nicht zu dessen Traditionsbestand zählte. Weder das amerikanische Spanisch noch die spanisch-amerikanische Literatur 40
Cf. Briesemeister 1990.
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
207
waren bis dahin als eigenständige, wissenschaftlich relevante Komplexe wahrgenommen worden. Lateinamerika verblieb daher weitgehend ein rein geographischer und wirtschaftlicher Raum, ein Zielgebiet für deutschnationale Interessen mit zum Teil unverhohlen imperialistischen Absichten. 41 Den Kulturraum Lateinamerika und dessen autochthone Literatur mußten erst Pioniere "entdecken". An erster Stelle ist Max Leopold Wagner zu nennen, dessen unorthodoxe Biographie ihn zum Spezialisten für unkonventionelle Themen prädestinierte. 42 Sein Aufenthalt in Mexiko schuf die Voraussetzung für einen Aufsatz über Mexikanisches Rotwelsch (1919), der nicht nur linguistische terra incognita betrat, sondern gleich eine Sondersprache thematisierte. Immerhin erschien dieser Text, ebenso wie der folgende über Amerikanisch-Spanisch und Vulgärlatein (1920), in der Zeitschrift für romanische Philologie, also im "Zentralorgan" der Romanisten, was darauf hinweist, daß die orthodoxe Romanistik sich nicht völlig gegen das neue Thema abriegelte 43 Wagner war wohl der einzige deutsche Romanist seiner Generation, der aufgrund seines Aufenthaltes vor Ort befähigt war, eine Geschichte der spanischsprachigen Literatur Amerikas zu schreiben. Dieses - im übrigen auf Anregung von Fritz Krüger verfaßte - und 1924 erschienene schmale Bändchen blieb bis zu Rudolf Großmanns Werk von 1969 der einzige Versuch einer literaturgeschichtlichen Synthese in Deutschland. Die Würdigung dieser Pionierleistung kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Wagner weniger darum ging, die lateinamerikanische Literatur aus den ihr eigenen Entwicklungsbedingungen heraus darzustellen, als vielmehr dem deutschen Publikum ein akzeptables, weil auf bereits vorhandenen Rastern basierendes Bild zu vermitteln. Wenn er im Vorwort schreibt, daß er "diejenigen Er-
41
42
43
Noch 1927 legitimierte der Verfasser einer Gesamtdarstellung sein Thema so: "Wenn sich gegenwärtig in Deutschland das Interesse für das lateinische Amerika immer stärker belebt, so ist das wohl verständlich, da dieses Auslandsgebiet der überschüssigen deutschen Kraft, die nach Betätigung außerhalb der Reichsgrenzen sucht, in vielen Beziehungen die günstigsten Bedingungen bietet" (Mann 1927, S. 9). Wagner (1880-1962) promovierte 1907 mit dem damals sensationellen Thema "Lautlehre der südsardischen Mundarten" und ging dann als Lehrer an die deutsche Schule in Istanbul. Dort begann er, als einer der Pioniere auf diesem Gebiet, über das Judenspanische zu forschen. 1913 ging er an die deutsche Schule nach Mexiko, 1914 nach Kuba. Zurückgekehrt nach Deutschland habilitierte er sich in Berlin, doch aus Abneigung gegen den Hochschulbetrieb allgemein und den romanistischen Zwang, sich mit Französisch zu beschäftigen, gab er seine Hochschulkarriere auf und lebte als ein seine Forschungsgebiete bereisender filölogo andante (cf. Rohlfs 1962). Ein Vorläufer ist Rudolf Lenz, Beiträge zur Kenntnis des Amerikanospanischen (Zrph 1893).
Thomas Bräutigam
208
scheinungen bevorzugt, die amerikanischen Charakter tragen"44, dann signalisiert dies die Übertragung des in den zwanziger Jahren grassierenden Modells von der Literatur als Ausdruck des Nationalcharakters auf einen ganzen Subkontinent. Wagner erliegt - wenn auch nicht durchgängig - der Versuchung, seine Literaturgeschichte den Assoziationen anzupassen, die der durchschnittlich gebildete Leser beim Stichwort "Südamerika" hatte: Urwald, Wildnis, Eldorado, Indianer, Rassenmischung, Exotik. Als typisches Kennzeichen der lateinamerikanischen Kultur ortet Wagner z. B. die "Schwermut des Indianers" und die "Sinnlichkeit des Negers"45. Rekurrierendes Relevanzkriterium für die Auswahl der Autoren bildet das exotische Lokalkolorit ("tropische Farbenpracht" etc.), und die Attraktivität des Untersuchungsgegenstandes wird schließlich in einem Satz komprimiert: "So ist heute schon die spanisch-amerikanische Literatur reich an Werken, die bodenständige Stoffe mit strenger Kunst beleben"46. Das von Wagner inaugurierte Referenzsystem zur Erfassung der lateinamerikanischen Literatur, mit "Amerikanität" als zentraler Kategorie, war gleichwohl in dieser Frühphase der Rezeption nicht die conditio sine qua non. Hellmuth Petriconi z. B. drehte den Spieß um und dementierte den "amerikanischen Charakter" generell. Nur deshalb konnte er auch die lateinamerikanischen Autoren so mühelos in seine Spanische Literatur der Gegenwart von 1926 integrieren, und zwar nicht in von den Spaniern abgesetzten Kapiteln, sondern im durchlaufenden Text. Petriconi bestand auf einer gemeinsamen kulturellen Entwicklung von Europa und Amerika und bemerkte kritisch: "Was heute noch von einer amerikanischen oder gar national-argentinischen oder peruanischen Literatur geredet wird, sind nur inhaltlose Programme"47. Diese Einstellung ermöglichte ihm auch ein relativ unbefangenes Urteil über einzelne Autoren, wenn er z. B. zu José Santos Chocano feststellt, "daß er uns allerdings als der Verkünder der modernen Sendung Amerikas erscheint, daß wir aber eben diesen 'Amerikanismus' selbst im Geist und Wesen ftir europäisch halten. Mit anderen Worten: Amerika ist uns ein politischer, kein kultureller Begriff' 48 .
Demgegenüber erwies sich das Wagnersche Konzept als ideologisches Korsett, das z. B. Rubén Darío den "amerikanischen Charakter" absprach und ihn der spanischen Literatur zuordnete.
44 45 46 47 48
Wagner 1924, Vorwort. Ib., S.30. Ib., S . 6 1 . Petriconi 1926, S. 53. Ib., S. 89.
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
209
Die zögerliche Aufnahme der Literatur Hispanoamerikas im Windschatten der ökonomischen Interessen war wenig geeignet, ein authentisches Bild entstehen zu lassen. Das Fremde, Unbekannte wurde mit vertrauten, positiv konnotierten Kategorien erfaßt und damit seiner Fremdheit weitgehend entkleidet. Nicht die horizonterweiternde Erfahrung der Alterität war das Ziel, sondern die Angleichung des Ungewohnten an heimische Prinzipien, die umgekehrt durch die Literatur eines anderen Kontinents ihre Bestätigung erfahren sollten: In Südamerika wird genauso bodenständig gedichtet wie bei uns, nur eben mit anderen Inhalten, nämlich jenen, die den exotischen Reiz der amerikanischen Literatur ausmachen. Mit dieser Projektion euro- bzw. germanozentrischer Images auf die lateinamerikanische Kultur 49 war der Rahmen vorgegeben, in dem die Rezeption der Literatur der iberoamerikanischen Länder in den folgenden zwanzig Jahren (und darüber hinaus) stattfand. Entscheidend für diese Dauer war, daß die lateinamerikanische Literatur nicht an die europäische Moderne (und dies im Unterschied zur Rezeption der nueva novela vierzig Jahre später), sondern an deren Gegenbewegung, an die modernitäts- und zivilisationskritischen Tendenzen angeglichen wurde. Die Tatsache, daß gerade die lateinamerikanische Avantgarde-Literatur dieses Zeitraums vehement Anschluß an die entsprechenden europäischen Richtungen suchte, war Anlaß, diese literarischen Tendenzen aus der Rezeption auszuklammern. Ebenso wie die Hinwendung zur spanischen Kultur in Deutschland mit der Flucht vor der technizistisch-abstrakten Moderne ursächlich verbunden war, gilt dies für die Rezeption der iberoamerikanischen Literatur, auch wenn deren Reiz gerade nicht in ihrem spanischen, sondern, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrem indigenen Charakter lag. Die Art, in der in dieser Frühphase die lateinamerikanische Literatur "entdeckt" wurde, läßt jedenfalls erkennen, daß auch nach 1933 auf der dann herrschenden ideologischen Grundlage eine positive Resonanz auf diese Literatur möglich war.
7.2.2. Lateinamerikanische Literatur im Dritten Reich In den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchlief die deutschsprachige Publizistik über Geschichte, Politik und Kultur der süd- und mittelamerikanischen Länder eine deutliche Hochphase. Es ist naheliegend, zu vermuten, daß diese "Hausse" des Themenkomplexes "Lateinamerika" sich einem ideologischen oder machtpolitischen Interesse der Nationalsozialisten am amerikanischen Subkontinent verdankt. Dies ist indessen nicht der Fall. Innerhalb der Außenpolitik des Dritten Reiches waren Mittel- und Südamerika absolut margi-
49
Zu diesem Komplex cf. Broyles 1981, Siebenmann/König 1992.
210
Thomas
Bräutigam
nalisiert 50 ; sie erhielten eine - aber auch hier nur geringe 51 - Relevanz lediglich unter Gesichtspunkten des Außenhandels, als Rohstofflieferanten und Abnehmer deutscher Industrieprodukte. Aus diesem Sachverhalt nun zu folgern, die Texte über Lateinamerika stellten einen Hort der Ideologieferne und Indifferenz gegenüber nationalsozialistischen Interessen dar, wäre allerdings gleichfalls ein Fehlschluß. Eher trifft das Gegenteil zu, insofern, als eine Vielzahl dieser Texte NS-relevante Ideologeme wie Volkstumspolitik, Lebensraumfragen, Rassenmischung, politische Souveränität, Grenzverschiebungen, Kampf gegen Wirtschaftsimperialismus etc. thematisierte und mit der Anwendung auf einen fernen, fremden Raum deren vermeintlich universale Gültigkeit unter Beweis zu stellen suchte. Den quantitativ größten Anteil an der Lateinamerika-Literatur im Untersuchungszeitraum bestritten Publikationen, die die Leistungen des deutschen Volkstums im Ausland heroisierten und am Beispiel Lateinamerika die völkische Ideologie in ihrer expansiven Funktion zu legitimieren suchten. Dieser Themenkomplex stand in dem großen Kontext des völkischen Pangermanismus, der das Deutschtum in aller Welt für deutschnationale Hegemonieansprüche reklamierte. Auch dies war kein Spezialinteresse der Nationalsozialisten, sondern Folge der als nationales Trauma erlebten Niederlage im Ersten Weltkrieg (Verlust des einheitlichen deutschen Nationalstaats und der Kolonien). Die Heroisierung der wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen der Deutschen im Ausland stand mithin im Dienst der nationalen und völkischen Regenerierung. Diesem Zweck dienten spezielle Zeitschriften mit einem entsprechend exklusiven Themenprofil (Der Auslandsdeutsche, Der Deutsche im Auslande, Auslandsdeutsche Volksforschung, Der Deutsche in Argentinien etc.). Neben der eigentlichen Historiographie (siehe unten, Kap. 8) nahm auch die Erörterung politischer Fragen breiten Raum ein, z. B. in der NS-konformen Zeitschrift für Politik und besonders in Karl Haushofers Zeitschrift für Geopolitik. Das geopolitische Theorem vom "Lebensraum" zielte nicht nur in Richtung Osten, sondern ließ sich auch bei "Räumen" anwenden, die, wie Lateinamerika, nicht als Expansions-Territorium in Frage kamen. Die Verquickung von Grenz-, Raum- und Rassefragen, demonstriert an einem fernen, nicht im Brennpunkt
50
Pommerin 1977, S. 338 u. passim.
51
"Die Lateinamerikapolitik wurde entgegen sonstiger Hitlerscher Praxis völlig ohne Eingriffe seinerseits vom Auswärtigen Amt und dort auf der Ebene der Abteilungsleiter und Referenten geführt" (Ib., S. 340).
7. Rezeption zeitgenössischer
211
Literatur
stehenden Kontinent, sollte deren generelle wissenschaftliche Verifizierung suggerieren. 52 Besonders nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist in Deutschland
eine
sprunghafte Zunahme der Publikationen über weltpolitische Fragen zu verzeichnen, wobei
die Aufteilung der Welt in Einflußsphären der
Achsenmächte
Deutschland, Italien und Japan im Mittelpunkt stand (verbunden wiederum mit eigenen Publikationsorganen wie der Zeitschrift Berlin - Rom - Tokio). Auch die Etablierung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin im Jahre 1940 - mit Lehrstühlen für Spanien und Spanisch-Amerika (Otto Quelle), Portugal und Brasilien (Ivo Dane), Überseegeschichte
und
Kolonialpolitik
(Egmont Zechlin) - steht in diesem Zusammenhang. Spätestens 1941, mit der Ausweitung und Radikalisierung des Krieges, verlagerten die Kommentatoren der weltpolitischen Lage den Akzent von der germano- auf eine eurozentristische Sichtweise (nicht allein Deutschland, sondern "Europa" im Kampf gegen den Bolschewismus). 5 3 In der Lateinamerika-Literatur lag der Schwerpunkt nun auf der an den südamerikanischen Staaten demonstrierten Auseinandersetzung zwischen den europäischen Werten und den nivellierenden Einflüssen von Demokratie und Kapitalismus der USA. In diesem Abwehrkampf war vor allem die Besinnung auf die südamerikanische Tradition eine erfolgversprechende
In-
stanz 54 , eine Tradition freilich mit vorrangig europäischer Prägung. 55
52
53 54
55
Dies indizieren schon die Titel entsprechender Aufsätze der Zeitschrift für Geopolitik: Helmuth Kanter, Die neue Grenze zwischen Bolivien und Paraguay - ein geopolitisches Problem (1935); Gustav Fester, Südamerikanische Volks- und Rassenfragen (1939), Frank H. Schmolck, Das südamerikanische Mittelmeer (1939); Wilhelm Rohmeder, Argentiniens Verantwortung vor der weißen Rasse (1940); Karl Haiderwang, 'Anschlußfragen' in Südamerika (1941); Erich Sander, Südamerika, Geopolitik eines kontinentalen Lebensraumes (1942). Auch die traditionelle Romanistik war in dieser Zeitschrift vertreten, weil auch sie geeignete Themenfelder einbringen konnte: Eugen Lerch, Germanische Wörter in romanischen Sprachräumen (1942). Integriert in einen solchen Kontext erhält ein scheinbar harmloser linguistischer Terminus wie "Sprachraum" eine gewollte Mehrdeutigkeit. Der Publikationsort verändert den Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang. Der gleiche Aufsatz mit dem gleichen Titel in der Zeitschrift für romanische Philologie veröffentlicht, hätte dieser Ambivalenz entbehrt. Cf. Schönwalder 1992, S. 246. "Gegen diesen Einfluß [sc. der USA] schien es zunächst kein Gegengewicht zu geben. Dennoch zeigte es sich, daß die geistigen Kräfte der Überlieferung zusammen mit der blutmäßigen Bindung an den südamerikanischen Boden stark genug waren, um die hemmungslose Entwicklung in einen landfremden Liberalismus aufzufangen" (Samhaber 1941, S. 444). "Diese Verflechtung der europäischen Einwanderer der Vergangenheit mit dem südamerikanischen Boden hat ihnen in der südamerikanischen Politik und im Aufbau des
212
Thomas
Bräutigam
Festzuhalten bleibt der Kontrast der anschwellenden Literatur über Lateinamerika zum offiziellen Desinteresse an diesem Thema im Dritten Reich. Daß die meisten lateinamerikanischen Staaten 1942 Deutschland den Krieg erklärten und diplomatische und handelspolitische Beziehungen damit Uberhaupt nicht mehr bestanden (mit Ausnahme von Argentinien und Chile), spiegelt sich in dieser Literatur nicht wider. Wenn diese Autoren Zusammenhänge zwischen ihrem Gegenstand und Teilaspekten nationalsozialistischer Ideologie und Praxis herstellten, handelten sie selbständig und nicht etwa unter dem Druck eroberungspolitischer Zwänge wie etwa der "Ostforschung". Durch die Anwendung geopolitischer Theoreme und damit einer pro-nationalsozialistischen Funktionalisierung sollte dem Lateinamerika-Thema eine relevante Rolle im öffentlichen Diskurs gesichert werden. Unter diesen Autoren waren nur wenige Spezialisten, die sich - wie Ernst Samhaber - vorrangig oder gar ausschließlich mit Lateinamerika beschäftigten. Für das Gebiet der Literatur gilt diese Feststellung in besonderem Maße, da den Diskurs Uber lateinamerikanische Literatur in den dreißiger und vierziger Jahren eine Person dominierte: der Dresdener Schriftsteller und Journalist Georg Hellmuth Neuendorff (1882-1949). Dieser verfaßte nicht nur den Großteil der Sekundärliteratur in diesem Zeitraum, sondern war wegen seiner persönlichen Beziehungen zu Autoren und Verlegern in Lateinamerika der Sachverständige für spanischamerikanische Kultur in Deutschland. 56 Durch seine Tätigkeit als Herausgeber der Iberischen Bücherei im Leipziger Hans-Müller-Verlag trat Neuendorff als Literaturagent in Erscheinung, der maßgeblich die Auswahl der Übersetzungen aus der hispano-amerikanischen Literatur beeinflußte. Er selbst übersetzte zwischen 1932 und 1946 elf Bücher aus diesem Gebiet 57 , die er zum Teil durch
56 57
neuen Staates, der neuen Gesellschaft und der neuen geistigen Haltung einen wesentlichen Platz gesichert. So konnten sie mithelfen, den Ansturm des liberalen Geistes abzuwehren, als dieser nach dem Weltkrieg Südamerika zu überfluten drohte" (ib., S. 445). Ernst Samhaber (1901-1974), ein in Chile geborener Journalist, war der herausragende Lateinamerika-Experte im NS-Staat, u. a. als Korrespondent der Wochenzeitung Das Reich. Seine Veröffentlichungen bestehen freilich nicht ausschließlich aus linientreuer NS-Publizistik. Dies bestätigen seine überaus originelle Gesamtdarstellung Südamerika, Gesicht-Geist-Geschichte (1939), sowie der eine merkwürdige Doppellektüre ermöglichende Aufsatz Francisco Solano López. Das Bild eines Tyrannen (Deutsche Rundschau 1941). Cf. Schwauß 1942, Großmann 1950. Arturo Uslar Pietri, Die roten Lanzen (1932); Vargas Vila, Die Neunte Symphonie (1933); Der Schatz der Mayas. Indianische und kreolische Geschichten (1933); Hernán Robleto, Es lebe die Freiheit (= Sangre en el trópico, 1933); José Eustasio Rivera, Der Strudel (1934); Rafael F. Muñoz, Vorwärts mit Pancho Villa! (1935);
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
213
umfangreiche Einleitungen und Nachworte mit expliziten Rezeptionsanweisungen versah. In einer regelmäßigen Rubrik der ¡bero-amerikanischen
Rundschau
("Neue Bücher, die Ibero-Amerika liest") stellte er dem deutschen Publikum insgesamt über 300 Neuerscheinungen in Kurzbesprechungen vor. Die Dominanz Neuendorffs bei der Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im Dritten Reich ist vor allem deshalb gravierend, weil dieser diese Rezeption nahezu ausschließlich unter dem völkisch-rassischen Paradigma betrieb. Die Kategorien Volk, Rasse, Blut, Heimat, Scholle, Bodenständigkeit, Tradition, Heldentum, Opfermut etc. waren die entscheidenden rekurrierenden Instanzen für die Einordnung und Bewertung der vorgestellten Autoren und Werke. Die Anwendung dieses Schemas bedeutete jedoch keineswegs die simple Übertragung der nationalsozialistischen Rassenideologie auf die lateinamerikanische Kultur. Diese Ideologie mit ihrer Forderung nach Vorherrschaft der weißen, nordischen Herrenrasse auf Basis einer absoluten "Rassereinheit" wäre mit den amerikanischen Verhältnissen nur schwer in Einklang zu bringen gewesen. Das tertium comparationis
im Vergleich von lateinamerikanischer Gegenwartslitera-
tur und NS-Deutschland aber war die "Hinwendung zum rassischen Gedanken" 58 an sich, die nach dieser Auffassung sich als lateinamerikanische Variante der deutschen Vorgänge manifestierte. Neuendorff kehrt den Kern der NS-Rassenideologie geradezu um, wenn er just die Rassenmischung als die eigentliche produktive Kraft der lateinamerikanischen Kultur betrachtet, da aus ihr erst die "lateinamerikanische Rasse" hervorgeht:
58
Hernán Robleto, Gabriel Aguilar (= Los estrangulados, 1935); Augusto d'Halmar, Das Geheimzeichen (= El otro yo, 1938); Carlos Wyld Ospina, Pranke und Schwinge (= La Gringa, 1940), Rómulo Gallegos, Doña Barbara (1941); Carlos Quiroga, Im Schatten der Anden (= La raza sufrida, 1946). "Einmal im Zuge einer Entwicklung, die dem strotzenden Wachstum der tropischen Pflanzenwelt gleicht, hat nun das iberoamerikanische Schrifttum seit etwa zehn Jahren eine Wendung genommen, die ähnlichen Erscheinungen in Deutschland entspricht, aber kaum von ihnen beeinflußt, sondern eigenen Notwendigkeiten entsprungen ist. Es handelt sich um eine bewußte Hinwendung zum rassischen Gedanken im Zusammenhang einer sich vorbereitenden allgemeinen soziologischen Wandlung" (Neuendorff 1936, S. 84 f.). Mit dem Verweis auf das Pflanzenwachstum wird hier wieder ein Kontext hergestellt, der den "rassischen Gedanken" auf einer biologistisch-organischen Ebene legitimiert. Der Publikationsort dieses Aufsatzes, das von Egon v. Eickstedt herausgegebene führende Organ der deutschen Anthropologie, die Zeitschrift für Rassenkunde, suggeriert zudem eine wissenschaftliche Aura, die sowohl die Anwendung des Rasse-Theorems auf ein literarisches Thema aufwerten soll, als auch die rassistische Lateinamerikanistik der "Rassenkunde" als Hilfswissenschaft andienen will.
Thomas Bräutigam
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"Was die lateinamerikanische Rasse ist, läßt sich angesichts der verwirrenden Fülle von Blutmischungen leichter erleben als biologisch bestimmen. Auszugehen ist von der Tatsache, daß es eine lateinamerikanische Rasse gibt, und daß sie mit immer grö59
ßerem Bewußtsein ihrer selbst existiert."
Neuendorff geht noch einen Schritt weiter und sieht das produktive Element dieser "Blutmischungen" nicht im weißen, europäischen Anteil, sondern gerade im indianischen, eben weil dieser den bodenständigen, autochthonen Faktor in diesem Prozeß darstellt. Daher schildert er mit großer Sympathie den amerikanischen Indianismus, der sich von den europäischen Einflüssen abzugrenzen versucht, um an die Inka- und Maya-Vergangenheit anzuknüpfen: "Dahinter steht der Wille, den Aufbau und den Zusammenschluß der indianischen Rasse zu betreiben. Hier ist der Herd des Widerstrebens gegen Nordamerika und Europa. Schon wird das Verschwinden der weißen Rasse gefordert [...]; man verlangt nach bodenständiger Kultur und spricht bereits im Sinne Spenglers von einem indoamerikanischen Kulturkreise. [...] Die von den begeisterten Führern der 'allindianischen Bewegung' geforderte restlose Ausmerzung alles Fremden wird wohl ewig unverwirklicht bleiben; die lateinamerikanische Rasse wird voraussichtlich immer auf den beiden Grundelementen des Indianertums und Kreolentums ruhen. Aber sie wird sich verselbständigen."60
Die Neuendorffsche Argumentationsstrategie funktioniert deshalb, weil sie zwar die eigentliche Rassendoktrin inhaltlich umkehrt, bei dieser Umkehrung aber das traditionelle Referenzsystem erhalten bleibt: Zusammenschluß der Rasse, bodenständige Kultur, Führer der Bewegung, Ausmerzung alles Fremden. Der legitimierende Verweis auf Spengler dient der Absicherung durch Autoritäten. Somit operiert der auf Lateinamerika angewandte Rassismus mit den einschlägigen Komponenten dieses Denkschemas - Hierarchie der Rassen, Opposition von bodenständig vs. fremd, Abgrenzung oder gar "Ausmerzung" - , nur: die "Herrenrasse" sind hier die Indianer, und sogar die Forderung nach dem "Verschwinden der weißen Rasse" wird mit Wohlwollen registriert, weil sie diesem Denkschema entspricht. Autoren wie Neuendorff sahen ihre Aufgabe darin, ihr an sich weit abgelegenes Interessengebiet dem Publikum im Dritten Reich attraktiv zu machen, und referierten daher die historische Entwicklung und vor allem die Gegenwartsprobleme der fremden Kultur in vertrauten Strukturen. Ein Satz wie: "Heute befindet sich Lateinamerika im Durchbruch zu einem organischen Aufbau nach eigenen Da-
59 60
NeuendorfT 1935a, S. 202. Ib., S. 204.
7. Rezeption zeitgenössischer
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215
seinsgesetzen" 61 soll beim Leser einen Wiedererkennungseffekt auslösen und eine Parallelität zur eigenen Situation suggerieren. Gerade die Rassenideologie setzte Neuendorff bewußt als positives Referenzsystem ein, weil die lateinamerikanischen Verhältnisse nach der "reinen Lehre" eher als Schreckbild gewirkt hätten. Den rassischen Aspekt modelte er jedoch so, daß statt der Widersprüche die Übereinstimmungen mit dem NS-Weltbild in den Vordergrund traten. Potentiellen Kritikern, die sich von Lateinamerika wegen der Rassenmischung und des Indios als einer ausgesprochen "unnordischen" Erscheinung distanziert hätten, sollte damit die Angriffsfläche genommen werden. Dieses Prinzip gilt auch für die Präsentation der Literatur des fremden Kontinents: "Heimat und Rasse sind die wichtigsten Inhalte der zeitgenössischen Literatur Lateinamerikas, soweit diese fiir das Ausland von besonderem Reiz und Wert ist" 62 . Dieser Satz ist in seiner Lakonik mehrfach aufschlußreich. Er signalisiert, daß es nicht um die lateinamerikanische Literatur an sich geht, nicht um ihren autonomen Eigenwert, sondern nur um ihre Funktion für externe Interessen. Ferner läßt diese Formulierung ahnen, daß es sehr wohl eine Literaturproduktion gibt, in der Heimat und Rasse keine Rolle spielen, diese ist jedoch für den ausländischen Betrachter wertlos und daher zu ignorieren. Zur Auswahl gelangt nur, was dem deutschen Publikum frommt, weil es mit dem heimischen Literaturkanon in Einklang zu bringen ist. Dieses Selektionsprinzip bedeutet auch hier die Negierung der avantgardistischen Tendenzen, die Neuendorff gleichwohl durchaus bekannt waren. Zumindest im Artikel in Meyers Lexikon blitzt die Moderne in knappsten Stakkato-Sätzen kurz auf: "Großen Einfluß hatte der nach neuen Ausdrucksformen suchende Jorge Luis Borges" oder: "Als Führer der jungen chilenischen Lyriker gilt gegenwärtig der sensible Pablo Neruda" oder: "Auch im Ausland weithin bekannt ist die funkelnde Begabung des Neutöners Vicente Huidobro" 63 . Statt dieser Neutöner machte Neuendorff den Indio zum Hauptdarsteller. Nun war der Indianismus innerhalb der lateinamerikanischen Literatur dieser Epoche zweifellos eine dominante Strömung, deren sachliche Darstellung sich durchaus für eine Einführung des deutschen Lesers in den neuen literarischen Kontinent geeignet hätte. Für Neuendorff, so scheint es, setzte sich sein Publikum jedoch ausschließlich aus nationalsozialistischen Hardlinern zusammen, deren begrenz-
61
62 63
Meyers Lexikon, Leipzig 1939, Bd. 7, S. 279, Stichwort Lateinamerikanische Kultur. Dieser Artikel in der NS-Auflage des Lexikons ist nach Neuendorffs eigenen Angaben von ihm selbst verfaßt bzw. redigiert worden (cf. Neuendorff 1939, S. 148). Neuendorff 1935b, S. 194. S. 283 bzw. 286.
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ter Horizont ihm als Maßstab diente. Die Popularisierung der lateinamerikanischen Literatur realisierte sich daher in gröbsten Gleichsetzungen, mittels derer die Indios vollends zu Nazi-Sympathisanten wurden: "Ihr [sc. der indianischen Bewegung] bereits ziemlich umfangreiches Schrifttum kommt von Seiten des 'atlantischen' Menschen zu ähnlichen Folgerungen wie der 'arische Mensch'. Es erwächst unzweideutig der heimischen Scholle, die hier Spenderin des Maisbrotes anstelle unseres Roggen- und Weizenbrotes ist. Bodenständige Kunst entwickelt ein bisher niedergehaltenes und durch übermäßige Zufuhr von Alkohol geschädigtes Volk zu anziehender körperlicher und geistiger Kraft und Anmut. Es ist begreiflich, daß die rassenbewußten Wortführer der Inkas, Mayas, Tolteken und Kitschées je länger j e mehr für die Arbeit unseres neuen Deutschlands Anteilnahme, j a Sympathie zeigen." 64 Aber auch jenseits einer solchen monströsen Argumentation mußten die hispanoamerikanischen Romane - um diese Gattung ging es primär - eindeutige Qualitätskriterien erfüllen, um den deutschen Ansprüchen zu genügen: -
Vermittlung eines lebendigen und getreuen Bildes der fremden Welt;
-
Darstellung von etwas Vorbildlichem und damit der
-
Beweis einer "aufbauenden Gesinnung";
-
Handlung von "menschlicher Güte und Größe, von geistigem Adel, heldischen Kämpfen, Dulden und Überwinden, von Opferbereitschaft und fordernder Arbeit";
-
Aufzeigen eines "gemeinsamen Denken(s), Wollen(s), Handeln(s), im Hinblick auf ein größeres Allgemeines" 6 5 .
In der praktischen Anwendung ergab dieser Kanon ein Raster, in das die entsprechenden Werke notfalls auch gewaltsam hineingepreßt wurden. Über Jorge Icazas Huasipungo
z. B. ließ Neuendorff verlauten:
"'Heimatscholle' wäre die angemessene Verdeutschung des Titels. Und auf heimischen Grund und Boden machen die seit Jahrhunderten niedergehaltenen Indios heute Anspruch. Jorge Icaza ist der leidenschaftliche Anwalt dieser Forderung." 66 Der von ihm selbst übersetzte Roman Los estrangulados bekommt nicht nur einen anderen Titel - Gabriel anderen Untertitel: aus El imperialismo
64 65 66
yanki
Aguilar
von Hernán Robleto - , sondern auch einen
en Nicaragua
wird Ein
Bauern-
Neuendorff 1935c, S. 561. Neuendorff 1935d, S. 246. Neuendorff I935e, S. 252. Im Artikel in Meyers Lexikon war die Freude über den leidenschaftlichen Anwalt allerdings nicht mehr ungetrübt. Vom Roman in Ecuador heißt es dort, daß dieser "von der jungen 'indoamer.' Generation mit erstaunl. Schwung gepflegt wird. Von ungehemmter Rücksichtslosigkeit, neigt er vielfach marxist. Ideologien zu: Jorge Icaza ('Huasipungo', 1934, 'Cholos', 1938), Aquilera Malta ('Don Gringo', 1933...)" (S. 287).
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schicksal aus Nicaragua, das Feindbild USA ordenet sich dem Blut-und-BodenEffekt unter, was Neuendorff im Vorwort zu diesem Roman verdeutlicht: "Für deutsche Leser hat das Buch besonderen Reiz. Abgesehen davon, daß es den tropischen Landstrich und die Menschen der Handlung mit großer Liebe und Bildhaftigkeit zeichnet, klingt es darin häufig wie ein Echo auf gewisse Fragen wider, die heute in Deutschland jedermann bewegen: Kampf des Bauerntums um die Scholle, Wertung von Blut und Boden, Schwergewicht des internationalen Großkapitals, Verwirklichung der klassenlosen Volksgemeinschaft." 67
Dieses Muster war für die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im Dritten Reich grundlegend. Bei den Autoren, die sich zu diesem Thema äußerten, sind lediglich Variationen dieses Musters feststellbar. Neuendorffs vehementes Plädoyer für den Indianismus als Remedium gegen die Überfremdung fand nicht bei allen Lateinamerikanisten die gleiche Unterstützung. Einigkeit herrschte bei der Betonung der Einheitlichkeit der lateinamerikanischen Literatur. Das übergreifende Kontinentalgefühl und die dadurch artikulierte "gleiche Rassenseele" wurde dem "zerwühlten Europa" 68 entgegengestellt. Während bei Neuendorff auch der Kampf gegen die weiße Rasse Sympathie findet, war Großmann bemüht, wenigstens den iberoromanischen Einfluß in Schutz zu nehmen, wenn er betonte, daß die Bedrohung der "ursprünglichen Art" des Kontinents durch "Kapital und Technik" als den "beiden nichtspanischen Einflüsse(n) des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts" 69 bestehe. Das wichtigste spanische Element sah er freilich in dem Aspekt, der auch den deutschen Spanien-Apologeten einen entscheidenden Impuls lieferte: dem völkischen Heroismus, der sich mit der indigenen Bewegung in Amerika gut versöhnen ließ. So konstatiert Großmann in bezug auf Santos Chocano, mit dem er den criollismo und das Erwachen der "amerikanischen Seele" beginnen läßt: "[...] statt nebelhafter nordischer Götter von Victor Hugos Gnaden oder hinter Opiumdämpfen entrückter Mandarinen schreiten sehr reale spanische Konquistadoren und robuste indianische Volkshelden durch seine Sonette. Hier spricht kein ästhetisierender Dekadent und kein Spintisierer mehr, der schließlich am Leben zerbricht, sondern eine Herrennatur, die um jeden Preis es zu meistern gewillt ist. Auch Chocano findet dabei in gewisser Weise zu Spanien: aber nicht zu dem des beschaulich frommen Gonzalo de Berceo oder dem barock verschlungenen Góngoras, wie Dario, son-
67
68 69
Neuendorff 1935f, S. 6. Diese Ausgabe enthält zudem ein umfangreiches "Nachwort des Übersetzers" mit dem Titel "Die amerikanische Rassenfrage", in dem Neuendorff erneut das Wiedererwachen des antieuropäischen und pro-indianischen lateinamerikanischen Rassebewußtseins verkündet. Großmann 1941b, S. 56 Großmann 1938, S. 227.
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Bräutigam
dem zu dem heroischen der 700jährigen Maurenkämpfe und dem welterobernden des Entdeckungszeitalters."70
Mit den Oppositionen, die diesen Passus strukturieren, wird die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur wieder an den Diskurs angeschlossen, mit dem die fremde Gegenwartsliteratur im Dritten Reich generell aufgenommen wurde. Hier herrschen die gleichen Kategorien und die gleichen Präferenzen wie in dem oben besprochenen Sammelband von Kurt Wais, insbesondere die Aufwertung der soldatisch-kämpferischen Gesinnung gegenüber dem dekadenten Part-pour-PartÄsthetizismus französischer Provenienz. Mit diesen Oppositionen korrespondiert zudem eine bemerkenswerte Harmonie zwischen spanischem Konquistador und indianischem Volkshelden. Dem imperialen Spanien und dem indigenen Amerika wird die gleiche Mentalität unterstellt, so daß sich unter den völkisch-heroischen Prämissen die historischen Antagonismen gleichsam aufzulösen scheinen. Neben der Umkehrung des Rassenschemas bei Neuendorff, der die Rassenmischung positiv besetzt, sind Texte zu verzeichnen, die die Schilderung eines amerikanischen "Rassebreis"71 als negative Folie zur Bestätigung der NS-Rassenideologie funktionalisieren. Auf literarischem Gebiet exerzierte dies Alexander Stelzmann, ein Studienrat aus Krefeld-Uerdingen, der bereits 1927 mit einem Mexiko-Buch hervorgetreten war. Stelzmann propagierte nur einen einzigen Autor, den Venezolaner Rufino Blanco-Fombona, den er in einer Zeitschrift des orthodoxen Katholizismus als den "bedeutendsten Romanschriftsteller Südamerikas unserer Zeit" vorstellte72 und dessen Hauptwerk, den bereits 1907 erschienen Roman El hombre de hierro er für den Gebrauch im Spanischunterricht an den Schulen didaktisch aufbereitete.73 Blanco-Fombona war für rassistische Theorien ein denkbar ungeeignetes Objekt, da sein Werk eher mit der naturalistischironischen Narrativik eines Clarin oder der psychologischen eines Flaubert zu vergleichen ist.74 Die sozialkritische Dimension und die Vielschichtigkeit entgingen Stelzmann zwar nicht, doch versteifte er sich in seiner didaktischen Zielsetzung darauf, daß die "Gegensätzlichkeit der lateinamerikanischen Rassen und Mischungen zur nordisch-germanischen Rasse"75 herauszuschälen sei. Dies war
70 71 72 73
74
75
Ib., S. 221. Brehm 1941/43. Stelzmann 1935. Stelzmann 1937. Er fertigte nach eigenen Angaben (ib., S. 100) auch eine Übersetzung dieses Romans an, die jedoch nie erschienen ist. Stegmann 1959, S. 43. Stegmann zitiert Blanco-Fombona mit der Äußerung, El hombre de hierro sei ein "Protest gegen die Ironie und Grausamkeit des Lebens, in dem sich das Gute nicht durchzusetzen vermag" (ib., S. 59). Stelzmann 1937, S. 103.
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
219
nur um den Preis einer vergewaltigenden Interpretation möglich, die mit herausgerissenen Dialogpassagen und der künstlichen Aufwertung von Nebenaspekten operieren mußte, um zu folgenden Erkenntnissen zu gelangen: "Der Mestize, Mischling, bietet den Beweis dafür, wie die Mischung einer höheren Rasse mit niedrigeren Rassen zum Schlechteren führt und die Nachkommen von Weißen und Farbigen die Treppe herunterfallen, auf deren oberer Stufe die weißen Väter stehen" 76 . Als Thema für ein Schülerreferat schlägt Stelzmann vor: "Inwiefern verursacht die praktisch ausgeübte Umkehrung unseres nationalsozialistischen Grundsatzes: 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' den Niedergang der südamerikanischen Staaten an Hand des Beispiels Venezuela im Roman H(ombre) de H(ierro)?"77 Die lateinamerikanische Literatur als Modell und Exerzierfeld der nationalsozialistischen Rassenlehre markiert zweifellos den Tiefpunkt ihrer Rezeption im Dritten Reich. Diese Rezeptionsvorgabe auch noch als Lernstoff im Schulunterricht durchzusetzen, wäre mit einer Breitenwirkung verbunden gewesen, die ein sachliches Lateinamerika-Bild vollends unmöglich gemacht hätte. Eine konsequente praktische Umsetzung, so ist zu vermuten, scheiterte jedoch aufgrund der Randstellung des Spanischunterrichts wohl schon aus organisatorischen Gründen. Außerdem ist fraglich, ob derartige Erziehungsziele bei den Spanischlehrern, die, wie bereits ausgeführt, keinen offiziellen Lehrplan hatten, auf Resonanz stießen. Didaktische Alternativen, die einen anderen Einstieg in die lateinamerikanische Literatur eröffnet hätten, suchte der interessierte Spanischlehrer allerdings vergebens. Den bislang vorgestellten Autoren und Texten war gemeinsam, daß sie - bei unterschiedlicher Akzentsetzung - die lateinamerikanische Literatur nach Volkstums- und rassenideologischen Gesichtspunkten sortierten. Der einzige unter den deutschen Lateinamerikanisten dieses Zeitraums, auf den dieser Befund nicht zutrifft, ist Hellmuth Petriconi, wobei zu berücksichtigen ist, daß nahezu der gesamte Diskurs über lateinamerikanische Literatur im Dritten Reich von den genannten vier Personen bestritten wurde: Neuendorff, Großmann, Stelzmann, Petriconi, und Petriconi und Großmann wiederum die beiden einzigen Vertreter der akademischen Romanistik waren, die eine Kompetenz in Lateinamerikanistik besaßen. 78
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Ib.. S. 106. Ib., S. 110. Hier ist freilich noch Karl Vossler anzuführen, der mit immerhin vier lateinamerikanistischen Arbeiten vertreten ist: Über geistiges Leben in Südamerika (Corona 1933); Die 'zehnte Muse von Mexiko', Sor Juana Inés de la Cruz (1934); Nationale Dichtung in Argentinien (Hochland 1938); Plauderei über Cuba (Europäische Revue 1940).
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Petriconis Arbeit über spanisch-amerikanische Gegenwartsromane 79 , die aufgrund ihrer durchgehenden Ambivalenzstruktur zu den interessantesten Texten der Hispanistik im Dritten Reich gehört, ist der einzige Aufsatz über lateinamerikanische Literatur, der im Untersuchungszeitraum in einer romanistischen Fachzeitschrift erschien. Das ansteigende Interesse für die Literatur aus Übersee fand überwiegend außerhalb des Fachs "Romanische Philologie" statt, und Petriconi kritisiert daher zu Beginn die Ignoranz der deutschen Romanistik gegenüber diesem neuen Forschungsgebiet. Wegen dieses Mangels an fachlichen Vorarbeiten sieht er sich veranlaßt, mit seinem Einstieg in das Thema an die wissenschaftsexterne Lateinamerika-Publizistik anzuknüpfen: an die vorliegenden Übersetzungen und die wesentlich von Neuendorff propagierten Autoren. Dieses Junktim zwischen Romanistik und nicht- bzw. populärwissenschaftlichen Aktivitäten im Feuilleton oder auf dem Buchmarkt (z. B. Verleger-Initiativen), das hier explizit legitimiert wird, erscheint zwar nur als Notlösung 80 , aber gerade bei diesem noch jungfräulichen Forschungsgebiet zeigt sich erneut, daß eine Trennung von "wissenschaftlichen" vs. "nicht-wissenschaftlichen" Textsorten nicht aufrechtzuerhalten ist. Wie schon bei der Etablierung der Hispanistik nach dem Ersten Weltkrieg hinkt die Romanistik externen Motivationen hinterher, die sie dann in ihr eigenes methodisches Konzept zu integrieren versucht. Die Anbindung an die bereits etablierten Mechanismen der Rezeption lateinamerikanischer Literatur schlägt sich am deutlichsten darin nieder, daß nun auch Petriconi die Amerikanität und den dokumentarischen Charakter der Romane zu relevanten Parametern für die Werkauswahl erklärt 81 , also ausdrücklich die Kategorien favorisiert, die er noch 1926 zurückgewiesen hat (siehe oben, S. 208). Diese thematische Vorgabe variiert Petriconi insofern, als er nicht wie Neuendorff den Indianismus in den Mittelpunkt stellt, sondern den mexikanischen Re-
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81
Sieht man von Sor Juana ab, die dem Themenkomplex "Siglo de Oro" zuzuordnen ist, waren dies jedoch lediglich Reflexe seiner Aufenthalte in Argentinien bzw. Kuba, subjektive Situationseindrücke, nicht aber Niederschlag systematischer Forschung. Petriconi 1937 und 1938. Der ursprüngliche Aufsatz (RF 1937) erschien in teilweise veränderter und vor allem erweiterter Fassung als selbständige Publikation 1938. Von dieser Fassung erschien eine nur geringfügig veränderte Nachkriegsauflage ( 2 1950). "So bleibt denn nichts anderes übrig, als von jenen deutschen Ubersetzungen auszugehen, sie durch Bezugnahme auf ähnliche Werke, soweit sie erhältlich sind, in einen gewissen Zusammenhang zu bringen und auf diese Weise jedenfalls einen Ausschnitt aus der literarischen Produktion im spanischen Amerika kenntlich zu machen" (Petriconi 1938, S. 6). "(Wir möchten die Werke) herausheben, die sich die Darstellung ausgesprochen amerikanischer Zustände und Begebenheiten zur Aufgabe gemacht haben" (Petriconi 1937, S. 2).
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Literatur
221
volutions- und den argentinischen Gauchoroman. Ebenso wie bei Neuendorff oder Großmann findet auch bei Petriconi ein permanenter Aktualitätsbezug statt, der die Lektüre der lateinamerikanischen Literatur vor den Hintergrund der deutschen Gegenwart der dreißiger Jahre stellt. Zwar schlägt der Verfasser die Brükke vom Deutschland des Dritten Reiches nach Amerika nicht mittels Blut und Boden oder Rassenkult, wohl aber legitimiert er die Forderung nach einer authentisch-realistischen Literatur, die die Lebenswirklichkeit beschreibt, als zeitgemäß: "Es ist gerade in letzter Zeit wiederholt die Forderung oder der Anspruch erhoben worden, den 'Roman des Arbeiters', den 'Roman des SA.-Mannes' oder des 'Soldaten' zu schreiben oder geschrieben zu haben. Die betreffenden Werke, die uns bekannt geworden sind, können indessen diesem Anspruch nicht gerecht werden. Der Held ist 82 jeweils mehr Held als Arbeiter."
In diesem Fall ist es der Don Segundo Sombra, der sich diesem Defizit Überhöhung der Realität durch Idealisierung - zur Überwindung empfiehlt. Der mexikanische Revolutionsroman wird mit den europäischen Kriegsromanen gleichgesetzt, weil er, so Petriconis Kritik, wie diese sich mit subjektiven Sichtweisen begnügt. Damit sind die Gemeinsamkeiten mit den bisher vorgestellten Arbeiten allerdings erschöpft. Gerade der Gegenwarts- und Deutschlandbezug enthält bei Petriconi eine Dimension, die seinem Text eine eigentümliche Ambivalenz verleiht. Während die anderen Autoren die besprochenen Werke inhaltlich auf Volkstums- und Rassefragen reduzieren, folgt zwar auch Petriconi einem ähnlichen Reduktionsprinzip, doch stellen die Aspekte, die er aus der erzählten Welt der Romane bzw. aus deren politisch-sozialen Hintergrund isoliert, nicht einen parallelen, sondern - wenn auch nur implizit - konträren Bezug zum Dritten Reich her. Mit dieser Feststellung soll nicht eine Kritik am Nationalsozialismus als Autorintention behauptet werden, doch ermöglichten folgende, exemplarisch zitierte Stellen für den deutschen Leser von 1937/38 eine zumindest konnotationsfördernde Perspektive: -
Über Los de abajo: "Demetrio Macias "wird 'General', und die Verfolgten von gestern sind die Mächtigen von heute - die ihre Macht nur mißbrauchen können. Ausschweifung, Mißhandlung, Gewalttat, Raub und Totschlag - was soll man von diesen primitiven Menschen anderes erwarten?"83
82
Ib., S. 12. In 1 1950 wurde aus "Roman des SA.-Mannes" "Roman des Siedlers" (S. 27). Petriconi 1937, S. 6, 1938 wird "primitiv" durch "einfach" ersetzt (S. 12).
83
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Pancho Villa war "unter den Führern der Revolution gewiß derjenige, dem die geringste geistige oder politische Bedeutung zukommt: verwegen, brutal, gesinnungs- und skrupellos" 84 "Villas ursprüngliche Volkstümlichkeit gründete sich gerade darauf, daß er auch als Divisionsgeneral der 'Räuberhauptmann 1 , der Tagelöhnersohn und einstige Viehdieb, geblieben war, der aus seiner Mißachtung von Recht und Sitte kein Hehl machte und in seiner Person alle, die sich entrechtet dünkten, an ihren Machthabern zu rächen schien." 85 "Mexiko ist heute ein sozialistischer Staat, in dem die Ansprüche der Masse und der Indianer als solcher anerkannt sind" 86 "José Hernández versucht, in seinem 'Martin Fierro' ( 1872) einen Gaucho als Opfer staatlicher Willkür zum tragischen Helden zu erheben." 87 Bartolomé Mitre und Pedro II. führten den Krieg mit Paraguay "nicht um augenblicklicher Vorteile willen [...], sondern zur Sicherung eines dauerhaften Friedens und um dem zwischenstaatlichen Recht vor seiner Willkür Geltung zu verschaffen." 88 "Gálvez ist Argentinier und Republikaner und darf sich in diesen Eigenschaften dem herausfordernden Diktator gegenüber doppelt im Recht fühlen [...]" 89
Solche Sätze - und ähnliche Stellen finden sich auf nahezu jeder Seite - sind ambivalent, weil doppelt lesbar: Sie denotieren Lateinamerika, enthalten aber eine zweite, allgemeinere Ebene, der sich auch ein impliziter Bezug auf die Machtverhältnisse im Dritten Reich entnehmen läßt. Dieser Bezug ist jedoch nicht eindeutig im Sinne von "Antifaschismus" oder "Widerstand zwischen den Zeilen" zu deuten, sondern entbehrt seinerseits nicht der Ambiguität: Auch das Dritte Reich definierte sich als "sozialistischer Staat", auch ein NS-Propagandasatz - z. B. zur Revision des Versailler Vertrags - konnte die Forderung, dem zwischenstaatlichen Recht vor seiner Willkür Geltung zu verschaffen, formulieren. Dennoch postulieren diese Sätze Wertmaßstäbe, die sich an liberalen, rechtsstaatlichen Prinzipien orientieren und eine überzeitliche Gültigkeit beanspruchen. Der Autor unterscheidet klar zwischen "gut" und "böse", zwischen
84 85
86 87 88
89
1937, S. 7, fehlt 1938. 1938, S. 19, 1937 ähnlich: Der "Triumph über den 'Erbfeind' [sie!] [...] steigerte Villas Volkstümlichkeit über alles Maß und ließ ihn als Verfechter aller der Rechte und Freiheiten erscheinen, die seiner Landsknechtsnatur sicher sehr wenig am Herzen gelegen haben" (S. 8). 1938, S. 9. 1937, S. 10. 1937, S. 18. 1937, S. 19.
7. Rezeption
zeitgenössischer
Literatur
223
Recht und Sitte auf der einen und Machtmißbrauch und Unterdrückung auf der anderen Seite. Diese rekurrierenden Oppositionen gelangen erst dadurch zur Geltung, daß sie dem referierten Kontext relativ willkürlich entnommen sind. Daß Martin Fierro zum Opfer staatlicher Willkür wird, ist zwar nicht falsch, aber gewiß nicht die Essenz dieses Werks. Ein Nebenaspekt wird isoliert, dadurch grell beleuchtet und semantisch so aufgeladen, daß er über den eigentlichen literarischen Zusammenhang hinausweist. Das Novum besteht nicht in der parallelisierenden Lesart, dem gedanklichen Kurzschluß zwischen Lateinamerika und Drittem Reich an sich, denn diesem Prinzip folgten auch die anderen Autoren. Während aber Neuendorff, Stelzmann und Großmann den lateinamerikanischen Zuständen die NS-Denkmuster überstülpen und Übereinstimmung suggerieren, reflektiert Petriconi diese Zustände im Denkmuster des liberalen Bildungsbürgers und registriert die Diskrepanzen. Der Verweis auf den NS-Staat ist bei ihm daher nur implizit möglich, erreicht seine Effektivität aber durch die Disposition der Rezipienten für diese parallelisierende Lesart, die durch entsprechende konnotationssteuernde Signale im Text noch erhöht wird, etwa durch die Anwendung von zeitgenössischem deutschen Vokabular auf lateinamerikanische Verhältnisse: "SA-Roman", "Erbfeind" oder gar Pancho Villa als "Freikorpsfuhrer" 90 . Die Ambivalenz wird gewissermaßen zum Programm des Textes, zum durchgehenden Strukturprinzip. Über die Degenerierung des Gaucho-Mythos' ist zu lesen: "Sogar seine nicht rein europäische Abstammung wird dem Gaucho jetzt zum Vorwurf gemacht und zur Erklärung seiner nunmehrigen schlechten Eigenschaften herangezogen. Es ist bemerkenswert, daß sowohl Acevedo Diaz als auch sein Landsmann Larreta die Minderwertigkeit der Indianer und Mestizen verkünden, wie es zwar dem europäischen Empfinden entspricht, aber zu der Haltung der heutigen mexikanischen und peruanischen Schriftsteller in geradem Gegensatz steht." 91
Ein Denkschema, das im Deutschland des Jahres 1937 eigentlich zur opinio communis gehörte, nämlich schlechte Eigenschaften aus einer unreinen Herkunft abzuleiten, wird hier mit belustigter Distanz kommentiert ("sogar"). Die Kategorie "Minderwertigkeit", der als Bestandteil der Rassenideologie gleichsam naturgesetzartiger Charakter zukam, ist zwar nicht zurückgewiesen, das "europäische Empfinden" nicht kritisiert, wohl aber als rein subjektive Anschauung relativiert und damit dessen Fragwürdigkeit und Nicht-Übertragbarkeit herausgestellt. Selbst innerhalb Lateinamerikas prallen die Gegensätze aufeinander und dementieren dadurch die Vorstellung von einer einheitlichen kulturellen Ausrichtung.
90
1937, S. 8.
91
1937, S. 20.
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Dieses ironisch-distanzierte Lavieren zwischen brisanten Ideologemen verrät eine bemerkenswerte Indifferenz gegenüber den üblichen Interpretations-Rastern und gipfelt schließlich in einer Kritik an der regional istischen Prosaliteratur, also jener Gattung, die mit Urwald, Pampa und Llano als local setting den NS-konformen Autoren als attraktive Mischung aus Bodenständigkeit und abenteuerlicher Exotik erschien: "Diese Kunstauffassung, die in ihrer jetzigen Bedeutung den Höhepunkt ihrer Geltung vielleicht schon erreicht hat, dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit von den Zolaschen Milieuromanen ihren Ausgang genommen haben und hätte sich dann in Mittel- und Südamerika um so eher mit einem gewissen neuromantischen Exotismus verbunden, 92
als man hier die Exotik sozusagen im Hause hatte."
Statt von Blut und Boden und Heimatscholle zu schwärmen, erlaubt sich Petriconi eine Historisierung und damit Entmystifizierung des regionalistischen Schreibens, wenn er "diese Kunstauffassung" (also eine unter vielen) als Modeerscheinung diskreditiert, deren Niedergang schon bevorsteht. Die Herleitung ausgerechnet vom französischen Naturalismus ergibt aus der Sicht eines Neuendorff oder Großmann eine ausgesprochen unappetitliche Aura, und selbst die Exotik ist hier derart ironisiert, daß von ihrem literarischen Eigenwert wenig übrigbleibt. Mit dem Ambivalenzdiskurs und der teilweisen Distanzierung von sonst kurrenten Interpretationskategorien markiert Petriconi die Singularität seiner Publikation. Von diesen Aspekten abgesehen, steht aber auch sein Text in dem Trend, der die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im Dritten Reich kennzeichnet. Faßt man die charakteristischen Merkmale dieser Rezeption in diesem Zeitraum zusammen, so ist zunächst festzustellen, daß das Thema "lateinamerikanische Literatur" im Gesamtspektrum zwar weiterhin marginalisiert war, aber nun doch zum ersten Mal eine nicht mehr rein zufällige, sondern systematische Aufnahme von lateinamerikanischen Autoren und Werken zu verzeichnen ist. Das "System", das dabei zu erkennen ist, war indessen wenig geeignet, ein unvoreingenommenes Bild von dieser neuen Literatur entstehen zu lassen. Dieser erste quantifizierbare Kontakt der Deutschen mit der Literatur des amerikanischen Subkontinents fand im Rahmen des völkischen "Blut-und-BodenRomantizismus" statt, also jener Richtung, die den Literaturbetrieb des Dritten Reiches dominierte, wenn auch nicht ausfüllte 93 . Die lateinamerikanische Literatur wurde an die heimischen Literatur-Präferenzen angeschlossen, was mit einer Auswahl der Werke unter vorrangig ethnisch-rassischen Gesichtspunkten einherging. Die Folge war eine noch größere Abschottung gegenüber den modernen
92
1938, S. 47.
93
Ketelsen 1992, S. 246.
7. Rezeption zeitgenössischer Literatur
225
und avantgardistischen Strömungen als im Falle Spaniens und Portugals. Konsequenterweise konzentrierte sich die Rezeption auf den hispanoamerikanischen Roman, da dieser inhaltlich dem vorgegebenen Rahmen vermeintlich entgegenkam und formal einer traditionell-realistischen Schreibweise verpflichtet war. Die wesentlich avantgardistisch ausgerichtete Lyrik dieser Epoche wurde nicht rezipiert. Mit dem gleichen Motiv ist die Ignoranz gegenüber der brasilianischen Literatur zu erklären, die nur in einem einzigen Text wahrgenommen 9 4 und aus der auch nichts übersetzt wurde: Brasilien war in diesem Zeitraum vom avantgardistischen modernismo bestimmt, und die regional istischen Autoren des brasilianischen Nordostens, die sich in das Rezeptionsschema noch am ehesten hätten integrieren lassen (z. B. Lins do Régo und Graciliano Ramos) huldigten nicht einem romantizistischen Gxotismus, sondern waren sozialkritisch orientiert. Zahlreiche hispanoamerikanische Romane der dreißiger Jahre hingegen kultivierten den indigenismo, und dieser Rekurs auf das indianische Element als dem so verstandenen Kern der "lateinamerikanischen Rasse" verlieh diesen Romanen eine sinnstiftende Funktion, eine die einheimischen Dogmen scheinbar legitimierende Parallele. Daraus wiederum resultierte ein rein inhaltsideologisches Interesse an diesen Werken, Reflexionen über ästhetisch-formale Aspekte fanden nicht statt, auch nicht bei Petriconi. Aber selbst wenn der rassenideologische Moment nicht immer im Vordergrund steht, als kleinster gemeinsamer Nenner der Interpretation erweist sich bei allen Romanen die Suche nach einer über exotisches Lokalkolorit vermittelten "Amerikanität". Die außergewöhnliche Uniformität, die die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im Dritten Reich kennzeichnet, verdankt sich dem extrem kleinen Zirkel, der sich damit überhaupt beschäftigte, und der rezeptionssteuernden und diskursdominierenden Funktion, die G. H. Neuendorff dabei ausübte. Diese Führungsrolle erklärt sich daraus, daß es sich bei ihm um einen veritablen Experten handelte, mit vielfältigen Kontakten nach Übersee. Was er dem deutschen Publikum an Übersetzungen und Sekundärliteratur vorsetzte, war daher keineswegs wahllos oder zufällig, sondern eine gezielte Präsentation. Wenn in einem weiter oben (S. 76) besprochenen Legitimationstext der Neuphilologen dem Fremdsprachler im Dritten Reich eine "Wächterfunktion" zur Kontrolle des Kulturaus-
94
Matthiessen 1936. Dieser Text referiert den Vortrag eines Brasilianers und diffamiert obendrein den modernismo als geschmacklos und unverständlich.
226
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tausches zugewiesen wurde, dann erfüllte Neuendorff eine solche Funktion idealtypisch. 95 Das einheitliche Bild von der lateinamerikanischen Literatur kam auch dadurch zustande, daß die Sekundärliteratur eng an die übersetzten Werke gebunden war und oft als Begleittext zu diesen Übersetzungen auftrat. Selbst Petriconi, der als einziger unter den ordentlichen Professoren der Romanistik zu diesem Thema publizierte, begab sich diesmal nicht auf unbekanntes Terrain, sondern orientierte sich ausdrücklich an den vorliegenden Übersetzungen. Damit schließt sich der Kreis insofern, als umgekehrt nur solche Werke auf den deutschen Buchmarkt kamen, die sich der Abteilung "Volkstum - Exotik - heroische Abenteuer" zuordnen ließen. 96 Bücher außerhalb dieses Schemas konnten sogar zum Politikum werden. So gab es 1943 eine interne Kontroverse zwischen Wilhelm Faupel, dem
95
96
Neuendorff setzte seine Tätigkeit auch nach 1945 in der SBZ fort. Nun freilich entdeckte er neben der Volkstums- und Heimatliteratur noch eine zweite Richtung: die sozialkritische Literatur mit ihrer Schilderung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. Mit der "Bekanntgabe" dieser Richtung, so formulierte er mysteriös, habe er "nach verheißungsvollen Anfängen zu Beginn der dreißiger Jahre trotz aller Anstrengungen kein Glück mehr gehabt" (Einführung in: Südamerikanische Erzähler, Halle 1948, S. 7). Jenseits der Selbststilisierung lassen sich tatsächlich vage Indizien für diese Behauptung finden. So nahm er 1933 in eine Anthologie (Der Schatz der Mayas) auch Autoren wie Asturias - der hier freilich als biederer "Märchen- und Sagenerzähler seiner Heimat" figuriert - oder Elias Castelnuovo auf, dessen sozialkritische Erzählungen er erst 1949 vollständig übersetzte. In diesem Zusammenhang ist auf einen anderen, noch recht unerforschten Themenkomplex zu verweisen: Lateinamerika als Stoff der belletristischen Literatur im Dritten Reich. Bei dieser Stoffwahl stehen möglicherweise andere Motive im Vordergrund, z. B. Lateinamerika als Topos der Evasion für nicht-nationalsozialistische Schriftsteller. Das bekannteste Beispiel, Reinhold Schneiders Erzählung Las Cosas vor Karl V. (1938) korrespondiert zwar einerseits mit dem pro-indianischeiv Trend, stellt aber andererseits die Kritik am imperialen Spanien in den Mittelpunkt. Die Behauptung, die denotierte Indianerverfolgung konnotiere die Judenverfolgung, wäre kritisch zu überprüfen. Zu verweisen ist ferner auf die Romane Günther Weisenborns, die trotz ihrer Titel sich nicht in die gängige Abenteuer-Ideologie einordnen lassen: Die einsame Herde. Buch der wilden blühenden Pampa (1937), Die Furie. Roman aus der Wildnis (1937), Die Silberminen von Santa Sabina. Roman aus Südamerika (1940); cf. Bock/Hahn 1987, bes. S. 262. Andererseits ließ sich "der Indianer" in der Belletristik - und besonders im Jugendbuch - leicht instrumentalisieren, auch wenn dieser Komplex umstritten war. Während Will Vesper vor einer "Verherrlichung farbiger Rassen" warnte, gleichviel "ob es sich nun um den 'armen Schwarzen' oder den 'armen Indio' oder den 'edlen Indianer' handelt", da er dies als "Schwächung unseres eigenen Rasseinstinkts und unserer Rassegesundheit" empfand, verwiesen die Befürworter auf die Parallelität von "germanischem Heldentum und indianischem Verzweiflungskampf' (zitiert nach: Jaroslawski/Steinlein 1976, S. 320 f.).
7. Rezeption zeitgenössischer
Literatur
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Direktor des Berliner Ibero-amerikanischen Instituts, und Karl Vossler über eine geplante Übersetzung von Sarmientos Facundo. In einem Brief an Vossler lehnte Faupel diese ab, da der Facundo gegen Rosas gerichtet sei, der bei der "national gesinnten Jugend" Argentiniens großes Ansehen genieße. Eine Übersetzung gerade dieses Werks würde diejenigen Kreise "vor den Kopf stoßen", die "mit uns weltanschaulich am meisten übereinstimmen"97. Der Facundo blieb unübersetzt.
97
"Wenn Sie, sehr verehrter Herr Professor, zum Ausdruck bringen, meine Stellungnahme in der Facundo-Frage bedeute etwa das Gleiche, als ob man Wilhelm Teil verbieten oder noch besser ihn überhaupt verbrennen wolle, so kann ich diesen Vergleich und die Analogie beider Fälle nicht anerkennen" (Faupel an Vossler, 29.4. 1943, Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung).
8. Historiographie im Dritten Reich 8.
DIE SPANIEN- UND LATEINAMERIKA-HISTORIOGRAPHIE IM DRITTEN REICH
8.1.
Allgemeine Tendenzen
229
Trotz des literaturwissenschaftlichen Schwerpunkts dieser Darstellung ist mehrmals der interdisziplinäre Charakter der Spanien- und Lateinamerikaforschung, wie sie sich seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entwickelte, betont worden. Diese Interdisziplinarität, die aus dem Vorrang von ökonomischen gegenüber kulturellen Fragestellungen resultierte, realisierte sich freilich nicht in einem organisierten Zusammenwirken der verschiedenen akademischen Disziplinen und deren "Experten" für iberische Themen, sondern verdankte sich zunächst einem "Allround"-Interesse der maßgeblichen Hispanistik-Pioniere (wie Schädel, Quelle, Großmann), die die Fachgrenzen ihrer wissenschaftlichen Herkunft (Romanistik, Geographie) überschritten, weil sie mit ihrer Arbeit primär externe Interessen (z. B. der Kaufleute) bedienten. Auch als einzelne Universitätsdisziplinen von sich aus auf den Themenkomplex Spanien-Portugal-Lateinamerika zugingen, geschah dies aus unterschiedlichen Motiven und nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Vorlieben Einzelner (siehe oben, Kap. 3.1.). Ebenso gestalteten sich Art und Intensität der Hinwendung zur Iberischen Halbinsel und zum amerikanischen Subkontinent sehr unterschiedlich. Fächern wie Geographie oder Völkerkunde, die per se ein internationales Themenprofil aufweisen, fiel die Öffnung zu neuen außerdeutschen bzw. außereuropäischen Forschungsgebieten leichter als solchen, die wesentlich auf nationale Innenschau ausgerichtet waren und mit ihrer Fokussierung auf Deutschland konkrete nationalpädagogische Zielsetzungen verfolgten. Zu diesen Fächern gehörte die Geschichtswissenschaft in besonderem Maße. Die neuzeitliche Nationalgeschichtsschreibung in Deutschland war jedoch nicht nur geprägt von einer starren Fixierung auf deutsche bzw. germanische Geschichte, sondern ebenso - und dies erst macht ihren spezifischen Charakter aus - von einer einseitigen Akzentuierung des Staates als entscheidende geschichtskonstituierende Instanz. Im Mittelpunkt des historischen Prozesses standen für die deutschen Historiker nicht die Interessenoppositionen innerhalb der Gesellschaft, sondern "der Staat" und die Machtpolitik von Herrschern und Dynastien. Die Tradierung dieses den autoritären Staat bewundernden Geschichtsverständnisses hatte im 20. Jahrhundert zur Konsequenz, daß die deutsche Geschichtswissenschaft ein kritisches Potential gegenüber dem aufsteigenden Nationalsozialismus nicht entfalten konnte. In den bislang zu diesem Thema erschienenen Studien besteht ein weitgehender Konsensus darüber, daß von "tiefgehenden politischen Affinitäten zwischen dem Geschichtsbild der Geschichtswissenschaft in
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Deutschland und dem Weltbild des Nationalsozialismus" 1 auszugehen ist, die dazu führten, daß - zugespitzt formuliert - "die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1933 nicht 'gleichgeschaltet' zu werden brauchte, da sie den Erwartungen der nationalsozialistischen Führung bereits weitgehend entsprach" 2 . Dieser Befund 3 ist für die Spanien- und Lateinamerika-Historiographie im Dritten Reich insofern von Bedeutung, als dieser neue und peripher anmutende Forschungsbereich sich in diese tradierte Konzeption einfügen mußte, um eine Legitimationsbasis zu finden. Obendrein fand die Etablierung einer "iberischen Abteilung" in der Geschichtswissenschaft erst sehr spät - etwa ab 1930 - statt, so daß diese Phase zeitlich mit dem Dritten Reich zusammenfiel. Diese, im Vergleich zur literaturwissenschaftlichen Hispanistik zeitliche Verzögerung belegt das Desinteresse in der deutschen Historikerzunft an außerdeutscher oder gar außereuropäischer Geschichte. Aus diesem Grund war das iberische Thema auch ein typisches Terrain für Newcomer oder Außenseiter (NichtHistoriker, Nicht-Professoren, Privatgelehrte). Insbesondere für die historische Lateinamerikaforschung gingen die entscheidenden Anregungen nicht von der Geschichtswissenschaft, sondern von Geographie und Völkerkunde aus. 4 Unter den ordentlichen Professoren der Geschichte gab es mit Hermann Wätjen nur einen einzigen mit Kompetenz in lateinamerikanischer Geschichte. Das zentrale Paradigma von Staat und Machtpolitik galt freilich nicht nur in der akademischen Geschichtswissenschaft im engeren Sinne, sondern bestimmte die Geschichtsschreibung generell, auch und besonders die populärwissenschaftliche. Nach 1933 radikalisierte sich dieser Komplex, da der Traum vom starken deutschen Nationalstaat nicht mehr nur von vergangenen Epochen zehren mußte, sondern in der Gegenwart in Erfüllung zu gehen schien. Darüber hinaus ließ die neue, nämlich aggressive Qualität der deutschen Außenpolitik, die mit dem "machtpolitische(n) und revisionistische(n) Grundkonsens" 5 der Historiker in Einklang stand, nun auch universalgeschichtliche Fragestellungen aufkommen. Spätestens mit Kriegsbeginn war neben dem bereits konstatierten Interesse für "Weltpolitik" (siehe oben, S. 210 f.) auch "Weltgeschichte" interessant geworden. Legitimiert wurde dieses neue Thema in dieser Phase jedoch nur durch Rückbindung an die eigenen nationalen Interessen. Egmont 1
Werner 1967, S. 97.
2
Borowsky 1991, S. 572.
3
Cf. ebenso: Schreiner 1985, bes. S. 222 ff.; Schulze 1993 ("der nur durch wenige liberale oder konfessionelle Abweichler gestörte Grundkonsens der Historiker erfüllte die elementaren Bedürfnisse des nationalsozialistischen Staates", S. 43). Kellenbenz/Schneider 1987, S. 43.
4 5
Schönwalder 1992, S. 34.
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8. Historiographie im Dritten Reich
Zechlin, gewissermaßen der "Pionier" dieser Richtung, führte "nationale Erziehungswerte" der Universalgeschichte an: Indem diese den Platz der außereuropäischen Völker "gegenüber den historischen Lebensformen und Lebensrechten der Nationen Europas" abgrenzt, dient sie dem "Daseinskampf des Vaterlandes" 6 . Markierendes Indiz für diese Tendenz ist die Tatsache, daß ein Prestige-Unternehmen aus der Endphase der Weimarer Republik, die von Walter Goetz herausgegebene Propyläen-Weltgeschichte,
von der die letzten Bände 1933 erschienen
waren, bereits wenige Jahre später, nämlich ab 1940, unter der Herausgeberschaft von Willy Andreas völlig neu ediert wurde. Der neue Herausgeber ließ in seiner Einleitung keinen Zweifel daran, daß der Blick auf die Universalgeschichte im Jahre 1940 nur mit einem ganz bestimmten Themenschwerpunkt erkenntnisversprechend war: "Eine gewisse Einheitlichkeit des Blickpunktes und der Stoffbemeisterung kann nur dadurch erzielt werden, daß das allgemeine Geschehen in Beziehung gesetzt wird zu der besonderen Rolle, die Europa, das Zentrum der abendländischen Gesittung, handelnd und leidend darin spielt. Eben deshalb aber, weil wir wünschen und wollen, daß Europa in den heraufziehenden Rassekämpfen eines neuen Weltzeitalters den Vorrang behaupte, haben jene Epochen der Vergangenheit, in denen die Völker unseres Erdteils sich fremder Kontinente in Gestalt von Expansionismus, Kolonialgründungen, Staatsbildungen und Kulturdurchdringungen bemächtigen, uns heute besonders viel ,i7 zu sagen. Auch wenn diese Äußerung nicht als opinio communis
zu bewerten ist8, macht sie
deutlich, daß die Darstellung der außerdeutschen bzw. außereuropäischen Geschichte im Dritten Reich wenn nicht in der Ausfuhrung, dann zumindest in der Themenauswahl einer konkreten Perspektivierung unterworfen war. Dies betrifft auch und gerade die Spanien- und Lateinamerika-Historiographie, da die letztge-
6 7
Zechlin 1944, S. 30. Andreas 1940, S. 7. Dies zeigt sich nicht zuletzt an dieser Edition selbst. Den Vorgaben des Herausgebers, der obendrein der "Rassen- und Völkerkunde und der sie tragenden Vererbungslehre" eine "einschneidende Bedeutung [...] für die Umgestaltung des historischen Weltbildes" (ib., S. 4) beimißt, trägt zwar ein Kapitel "Werden und Bedeutung der Rassen" Rechnung, doch räumen die Verfasser der einzelnen Epochenkapitel solchen Aspekten wenig Platz ein. Vielmehr lieferten sie Texte ab, die sich in ihrem wissenschaftlichen Gestus wenig von der alten Propyläen-Weltgeschichte unterschieden. Dies gilt auch für die Beiträge mit iberischer Thematik: Egmont Zechlin, Die großen Entdekkungen und ihre Vorgeschichte (Bd. 3, 1941), Hermann Wätjen, Die nord-, süd- und mittelamerikanische Welt im 19. Jhdt. (Bd. 5, 1943). Der Band, in dem das spanischportugiesische Kolonialreich hätte behandelt werden müssen, erschien überhaupt nicht mehr. Stattdessen konstatierte Wätjen lakonisch: "Die Kolonialzeit Iberoamerikas ist für den Historiker immer noch wissenschaftliches Neuland" (Wätjen 1943, S. 555).
Thomas Bräutigam
232
nannte Forderung in diesem Zitat ein entscheidendes Kapitel derselben anspricht. Tatsächlich waren Entdeckung und Eroberung Amerikas und das spanischportugiesische Kolonialreich die favorisierten Themen der einschlägigen Publikationen (siehe unten, Kap. 8.3.), nicht nur weil hier der europäische Expansionismus sich im Sinne des obigen Zitats feiern ließ, sondern auch weil der Griff nach fremden Kontinenten als sichtbarer Höhepunkt staatlicher Machtentfaltung gelten konnte. Aber auch die lateinamerikanische Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert und die Entstehung neuer Staaten in ihrem Gefolge waren attraktive Forschungsgebiete. Beide Epochen waren zudem gesegnet mit "großen historischen Persönlichkeiten", die heroisch große Ideen verwirklichten, wie Kolumbus oder Bolívar. Insbesondere der Ruhm Bolivars als "Befreier" und "Vater des Vaterlandes" fand in Deutschland ein intensives Echo, was zwar nicht ursächlich mit dem Dritten Reich zusammenhing - bereits zum 100. Todestag 1930 gab es ein lebhaftes publizistisches Interesse doch eigneten sich historische Freiheits- und Unabhängigkeitskämpfer für eine politische Instrumentalisierung besonders gut. 9 Bezüglich Spaniens ist die biographische Geschichtsschreibung, zu der wesentlich die Habsburger-Apologetik Ludwig Pfandls zu rechnen ist (siehe unten, Kap. 8.4.), 1936/37 bereichert worden durch eine Übersetzung von Ramón Menéndez Pidais La España del Cid, da der spanische Nationalheros zu diesem Zeitpunkt auch in Deutschland "Freunde und Bewunderer" finden sollte, wie es Karl Vossler in seinem Geleitwort formulierte. 10 Als Begründung konnte er ohne Abstriche die auf Spanien gemünzten Bemerkungen Menéndez Pidais in dessen Einleitung zitieren, wo von einer von Skeptizismus angekränkelten Volksgemeinschaft die Rede ist und die "großen historischen Erinnerungen" als Remedium empfohlen werden. 11 Hier bestätigt sich nicht nur wieder der Spanien-Mythos als Antwort So brachte Wolfram Dietrich Bolivars Persönlichkeit in Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Fuhrerprinzip. Allein die Beschreibung der äußeren Erscheinung des Helden trieb kuriose Blüten: "Die Bereitschaft, sich im Dienste der Menschheit und vor allem sich im Dienste seines eigenen Volkes zu verzehren, gibt sich auch in Form und Ausdruck der langen, fast geraden Nase kund, deren schmaler Rücken wie ein Berggrat zu der gewaltigen Kuppe der Stirn emporfuhrt. Sie bestärkt den Eindruck, den der Mund schon erweckte" (Dietrich 1934, S. 3, Kapitel "Antlitz und Wille"). Zur deutschen Bolivar-Literatur insgesamt: Kahle 1980. 10
Vossler 1936d, S. X.
11
"Y aun la vida del Cid tiene, como no podía menos, una especial oportunidad española ahora, época de desaliento entre nosotros, en que el escepticismo ahoga los sentimientos de solidaridad y la insolidaridad alimenta al escepticismo. Contra esta debilidad actual del espíritu colectivo pudieran servir de reacción todos los grandes recuerdos históricos que más nos hacen intimar con la esencia del pueblo a que pertenecemos y que más pueden robustecer aquella trabazón de los espíritus - el alma
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im Dritten Reich
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auf die Gegenwartskrise, sondern auch der mühelose Gleichlauf von deutscher und spanischer Hispanistik, der solche Übersetzungsprojekte erleichterte (in umgekehrter Richtung zeigt dies der Erfolg von Pfandls und Vosslers Büchern in Spanien). Darüber hinaus reagierten die Verlage in Deutschland auf das ansteigende Interesse an spanischer Geschichte und besonders am imperialen Spanien bei gleichzeitigem Mangel an eigenen Experten für dieses Gebiet mit weiteren Übersetzungen. 12 Festzuhalten bleibt, daß in der deutschen Spanien- und Lateinamerika-Historiographie der dreißiger und vierziger Jahre verschiedene, aber eng verknüpfte Tendenzen ihren Niederschlag finden. Der auch in anderen Disziplinen als Antwort auf die als geistige und kulturelle Krise empfundene Gegenwart zelebrierte Spanien-Mythos konvergierte mit der in der traditionellen Geschichtsschreibung dominierenden Vorstellung eines von Staaten und Reichen geprägten historischen Prozesses. Trotz ihrer Deutschlandzentriertheit ist in der Historik ein langsam ansteigendes und im Dritten Reich deutlich manifest werdendes Interesse fiir die Geschichte außerdeutscher und außereuropäischer "Nationen", "Staaten" und "Völker" zu verzeichnen, nicht zuletzt deshalb, weil die Betrachtung der deutschen Geschichte mit dem Ziel nationalpolitischer Sinnstiftung eine weitgehend negative Bilanz ergab. Von germanischer Frühzeit, Hochmittelalter und Preußens Gloria abgesehen, war die deutsche Geschichte besonders unter Aspekten wie Nationalstaat, Großmacht, Kolonialreich eine defizitäre Erfahrung. 13 Die Geschichte anderer Länder - oder zumindest ausgewählter Epochen daraus - konnte auf der Suche nach Einlösung positiver Ideale einen Ausgleich schaffen und als Vorbild wirken. Auf dieser Legitimationsebene bewegte sich auch die Spanienund (mittels der kolonialen Epoche) Lateinamerika-Historiographie.
8.2.
Gesamtdarstellungen
Der neue Geschmack an Weltgeschichte ließ neben der nach Epochen gegliederten Propyläen-Weltgeschichte auch Gesamtdarstellungen der Geschichte anderer Länder aktuell werden. So brachte das Bibliographische Institut Leipzig die Edition Die Große Weltgeschichte auf den Markt, bei der jeder Band einem Land
12
13
colectiva - , inspiradora de la cohesión social. Pero un recuerdo como el del Cid es singularmente oportuno" (Menéndez Pidal 1929, Bd. I, S. III.). U. a. Edgar Prestage, Die portugiesischen Entdecker (1936); F. A. Kirkpatrick, Die spanischen Konquistadoren (1937); Trevor Davies, Spaniens Goldene Zeit (1939); Antonio Ballesteros, Spanische Geschichte (1943). Werner 1967, S. 40; cf. die oben (S. 96) zitierte Anweisung für den Geschichtsunterricht.
234
Thomas
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oder Kontinent gewidmet war und dessen Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart erzählen sollte. Von diesem Projekt sind zwar nur nur drei Bände realisiert worden, doch eröffnete die Reihe bemerkenswerterweise eine Darstellung über Spanien und Portugal (1939), ein Vorgang, der auch mit dem allgemeinen Informationsbedilrfhis zu erklären ist, das der Spanische Bürgerkrieg hervorrief. 1940 erschien der nächste Band über Italien, 1942 einer über Amerika (aufgeteilt in Nord- und Ibero-Amerika). Sowohl Richard Konetzkes Geschichte des spanischen und portugiesischen Volkes als auch Otto Quelles Geschichte von Iberoamerika bestätigen unabhängig vom Text die bisher skizzierten Trends. Weder Konetzke noch Quelle waren professionelle Vertreter der akademischen Geschichtswissenschaft: Konetzke zu diesem Zeitpunkt Studienrat in Berlin, Quelle - von Hause aus Geograph - Professor an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. Beide Werke füllten eine echte Marktlücke. Quelles Abhandlung war eigentlich der erste deutschsprachige Gesamtüberblick zur lateinamerikanischen Geschichte, wenn man von Hermann Luffts kleinem Abriß Geschichte Südamerikas (1912/ 13 in der Sammlung Göschen) absieht. 14 Bezüglich Spaniens waren die letzten größeren historiographischen Synthesen im 19. Jahrhundert erschienen und zu diesem Zeitpunkt bereits in den Bibliotheken verstaubt. Daß die moderne Hispanistik an diese älteren Arbeiten nicht anknüpfen wollte, hatte jedoch noch einen anderen Grund als die zeitliche Distanz. Zumindest in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die historiographischen Darstellungen Spaniens meist eine ausgesprochen spanienkritische Tendenz, was in der neoromantisch-affirmativen Ära Pfandls und Vosslers als peinlicher Affront empfunden wurde. 15
14
Als wichtigster Vorläufer ist Konrad Haeblers Artikel über Mittel- und Südamerika in der von Julius v. Pflugk-Harttung herausgegebenen und bei Ullstein erschienenen Weltgeschichte zu nennen (Bd. 6, 1909). Haebler (1857-1946) war ebenfalls kein professioneller Historiker, sondern Direktor der Handschriftenabteilung in der Dresdener Bibliothek und Spezialist für Inkunabelkunde. Seine Beiträge zur Spanien- und Lateinamerika-Historiographie sind allerdings sowohl quantitativ als auch qualitativ von großer Bedeutung (z. B. Geschichte Spaniens unter den Habsburgern, 1907).
15
Zu erwähnen sind insbesondere Hermann Baumgarten mit seinen Arbeiten zur neueren spanischen Geschichte (Geschichte Spaniens vom Ausbruch der französischen Revolution bis auf unsere Tage, Leipzig 1865-71) und Gustav Diercks (Geschichte Spaniens, Berlin 1895/96), der beispielsweise die Inquisition als "eine der schrecklichsten Ausgeburten menschlicher Geisthestätigkeit in der Kulturgeschichte der Welt" bezeichnete (ib., S. 197). Das Urteil Pfandls über Diercks war eindeutig: "Dieser blindwütige Fanatiker hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das spanische Volk zu verleumden und zu verhöhnen; vor seinen Werken müßte also direkt gewarnt werden" (Pfandl 1924b, Sp. 51).
8. Historiographie
im Dritten Reich
235
Der Vergleich der Texte Konetzkes und Quelles zeigt zunächst, daß beide Autoren um eine faktenkonzentrierte, auf wissenschaftlichem Niveau stehende Darstellung bemüht waren. Insbesondere Quelle ist angestrengt darauf bedacht, sich jeden Kommentars zu den referierten Fakten zu enthalten, und gibt diese Einstellung erst auf, als er bei der unmittelbaren Gegenwart angelangt ist: Hier richtet sich sein Zorn gegen ein "von keinen Hemmungen mehr beeinflußtes imperialistisches Vorgehen" der USA in Iberoamerika. 16 Bei Konetzke hingegen ist zu bemerken, daß dieser sein ebenfalls als nüchterninformativen Handbuchtext konzipiertes Werk unter eine ganz bestimmte Perspektive stellt, die das Spanienbild seiner Gegenwart nicht nur bestätigt, sondern noch zuspitzt. Deshalb ist eine nähere Analyse seiner Argumentationsstrategie erforderlich. Zunächst impliziert der Titel des Bandes, der eine Geschichte des "spanischen und portugiesischen Volkes" verspricht, eine Abkehr von der bisherigen, auf Staaten, Herrscher und Dynastien konzentrierten traditionellen Geschichtsschreibung und eine Aufwertung einer überzeitlich verstandenen und daher nicht rational definierten geschichtsprägenden Instanz, die gerade in der Hispanistik schon eine gewisse Tradition hatte (cf. die Hamburger Volkstumsforschung). Damit geht zwar tatsächlich eine Hinwendung zu einer Geschichtsbetrachtung "von unten" einher, doch bleibt dieses "unten" soziologisch diffus und damit einer kritischen Analyse entzogen. Ferner suggeriert der Titel eine durch diesen VolksBegriff definierte, alle Epochen überdauernde Einheit und Kollektivität der Iberischen Halbinsel. Seinen spezifischen Charakter gewinnt der Diskurs bei Konetzke jedoch durch eine Kontaminierung des ohnehin mythisierenden "Volks"-Begriffs mit dem vollends irrationalen "Rasse"-Begriff. Eine zusätzliche antisemitische Akzentuierung verleiht dem Text schließlich eine Tendenz, die ihre Nähe zum nationalsozialistischen Geschichtsbild nicht mehr verleugnen kann. So leitet der Autor nach der Feststellung, daß die "immer stärkere Rassenmischung" die "germanische Eigenart" der Westgoten "zersetzt" habe, zur sogenannten "Judenfrage" über, die "zu einer wichtigen politischen und kirchlichen Angelegenheit im Westgotenreich"' 7 wurde. Allein die Nebeneinanderstellung von angeblicher Zersetzung der germanischen Rasse und gleichzeitiger Relevanz der Judenfrage erzeugt eine semantische Nähe, die dem Leser von 1939 eine vertraute Realität suggerieren soll. Dieser intendierte "Aha"-Effekt verstärkt sich bei der nachfolgenden wohlwollenden Schilderung der antijüdischen Maßnahmen 16 17
Quelle 1942, S. 260. Konetzke 1939, S. 40.
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236
der Westgoten: "König Erwich wollte schließlich die 'jüdische Pest' mit allen Wurzeln ausrotten" 18 . Bei dieser sich hinter einem vorgeblichen Zitat verschanzenden Formulierung wird die beabsichtigte parallelisierende Lesart besonders deutlich. Dieser Satz ist in diesem konkreten Kontext völlig deplaziert, da es sich bei den von Konetzke referierten Maßnahmen gar nicht um eine Ausrottungspolitik handelt, sondern um Fragen der Religionszugehörigkeit, Taufe oder Besteuerung. "Aber diese Maßnahmen wie die früheren Judengesetze blieben zum großen Teil deshalb wirkungslos, weil das jüdische Geld ihre Durchfuhrung zu verhindern wußte."
19
Unabhängig von der Faktizität einer solchen Aussage besteht das Prinzip darin, diejenigen Aspekte in den Vordergrund zu stellen, die das geläufige Bild von "den Juden" bestätigen sollen, das Bild einer kapitalbesitzenden, verschwörerischen Minderheit, die aufgrund ihrer internationalen Verflechtung mit fremden Mächten paktiert: "die Juden traten mit ihren Glaubensbrüdern in Afrika in Verbindung und bereiteten eine Verschwörung gegen den westgotischen König vor", ein "geplanter Hochverrat", und "als nach wenigen Jahren die Araber einfielen, konnten sie auf die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung rechnen" 20 . Die islamische Epoche auf der Iberischen Halbinsel stellt einen mit "Rasse" und "Volk" operierenden Historiker vor besondere Herausforderungen, da er einerseits mit einer aus seiner Sicht das christliche Abendland bedrohenden Fremdherrschaft konfrontiert ist, andererseits aber den kulturellen Höhepunkt, den diese Epoche markiert, nicht dementieren kann. Dieses Dilemmas entledigt sich Konetzke außerordentlich geschickt: "Die Herrschaft des Islam hat dem Lande und dem Leben weithin das Gepräge gegeben und bestimmte Züge des spanisch-portugiesischen Geistes gestaltet. Aber es ist eine durchaus irrige Vorstellung, daß der Islam einen völligen Bruch in die Geschichte der Iberischen Halbinsel gebracht hat, daß alles ursprüngliche Leben durch eine rassische und kulturelle Fremdherrschaft erdrückt worden ist, daß Spanien ein Stück Afrika wurde und das christliche Mittelalter nicht miterlebte. Eine eingehendere Betrachtung läßt erkennen, wie kräftig die einheimische Bevölkerung geblieben und wie beständig die Kontinuität der romanisch-germanischen Grundlagen gewesen ist, welche eigentümliche und selbständige Gestaltung die arabische Kultur auf dem Boden der Halbinsel gefunden hat und wie mannigfach die Berührungen und Beziehungen mit dem westlichen Kulturkreis gewesen sind. Das Schicksal entfernte das islamisierte Spanien von dem Leben der anderen europäischen Völker, aber es gab ihr die Möglichkeit, innerhalb der Mittelmeerwelt eine glänzende Zivilisation zu schaffen und
18
Ib.
19
Ib.
20
Ib., S. 4 0 f.
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im Dritten
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237
durch sie entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des europäischen Mittelalters auszuüben." 21
Ziel dieser - per se keineswegs falschen - Argumentation ist es, Spanien gegen den Vorwurf der Afrikanisierung und Abkoppelung von Europa zu verteidigen. Erreicht wird dieses Ziel durch eine Bagatellisierung bzw. Abschwächung des arabischen Einflusses einerseits und eine Aufwertung der christlich-abendländischen Kontinuität andererseits. Das arabische Spanien wird aus dem orientalischen Kontext herausgelöst und in den europäischen integriert, gewissermaßen "verwestlicht", und der fremde Charakter damit gedämpft. Die Isolierung Spaniens relativiert sich zudem durch die Rolle des Gebers und Vermittlers im damaligen Europa. Den Kern dieser historiographischen Schadensbegrenzung bildet jedoch das Kontinuum der "kräftigen einheimischen Bevölkerung". Konetzke räumt zwar ein, daß "die fremdrassige Einwanderung" den "rassischen Bestand der iberischen Bevölkerung" änderte, hält diesem Befund aber die Feststellung entgegen: "Die einheimischen Rassen vermochten sich in ihrer wesentlichen Struktur zu erhalten und die fremden Bestandteile sich allmählich zu assimilieren. Die Zahl der fremden Eindringlinge war verhältnismäßig gering." 22
Der historische Vorgang des Eroberns und Erobertwerdens gerinnt in dieser Argumentation zu einer Opposition von einheimischen Rassen gegen Fremdrassen. Das Prinzip besteht dabei darin, den bodenständigen Bestandteil immer autochthoner werden zu lassen, während sich der fremde allmählich seiner Fremdheit entledigt. Dies geschieht einerseits durch eine "Aufnordung" des einheimischen Elements, dergestalt, daß "die nordische Rasse dauernd durch die zahlreichen europäischen Sklaven ergänzt worden ist, die als Kriegsgefangene und als Handelsware nach Spanien gebracht wurden. Der Sklavenhandel lag meist in den Händen der Juden" 23 . Dieser Satz ist wiederum ein Beispiel für die rekurrierende Methode, einen antisemitischen Aspekt in eine vorgeblich nüchterne Faktendarstellung einfließen zu lassen, indem die Juden mit negativ konnotierten Vorgängen (Sklavenhandel) in Verbindung gebracht werden, der Autor auf einen wertenden Kommentar jedoch verzichtet. Auch in der Bemerkung: "Ein fremdrassiges Bevölkerungselement war durch die Juden bereits auf der Halbinsel vorhanden" 24 manifestiert sich die Ausgrenzungsstrategie mittels einer durch die Gültigkeit der Kategorie "Rasse" legitimierten lakonischen Feststellung.
21
Ib., S. 51 f.
22
Ib., S. 52.
23
Ib.. S. 54.
24
Ib.
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Auf der anderen Seite assimilierten sich die fremden Eroberer der einheimischen Bevölkerung, bis sie sich nicht mehr als solche identifizieren ließen: "Die Kalifen von Córdoba waren in den späteren Generationen blond und blauäugig und erinnerten in ihrem Äußeren nicht mehr an arabische Beduinen" 25 . Dieser Identitätsverlust kulminiert schließlich in einer totalen Hispanisierung des arabischen Spanien, so daß die kulturellen Hochleistungen dieser Epoche nicht mehr als Ausfluß einer "fremdrassigen" Zivilisation geschildert werden müssen, sondern für die bodenständigen Kräfte reklamiert werden können: "Die Kultur des spanischen Islam entfaltete sich zu einer eigentümlichen Schöpfung des spanischen Geistes" 26 . Die Spanien-apologetische Hispanistik des 20. Jahrhunderts empfand die Herrschaft der Araber in Spanien generell als ein eher unangenehmes Kapitel und denunzierte sie als eine die lineare Entwicklung des autochthonen Spanien störende und das christliche Europa bedrohende Epoche. Der sonst kurrente Rekurs auf die Hispanophilie der Romantiker wurde bei diesem Aspekt unterbrochen: An deren Maurenverehrung wollte man nicht anknüpfen. In Konetzkes Darstellung erscheint dieser Abschnitt nun als von den unbequemsten Elementen bereinigt. Diese intendierte Entsorgung der spanischen Geschichte geht jedoch keineswegs mit Verfälschungen oder grober Geschichtsklitterung einher, sondern vollzieht sich in einem vermeintlich neutral-seriösen, tatsächlich aber aufgrund von einseitiger Faktenauswahl, Zuspitzungen und rassistischen Kriterien suggestiv wirkenden Diskurs. Die Minimalisierung des arabischen Einflusses führt gleichwohl nicht zu einer Relativierung der Reconquista, die auch bei Konetzke das christliche Abendland vor der Afrikanisierung rettet. Nachdem der arabische Zwischenfall einigermaßen zurechtgestutzt ist, hebt die heroische Geschichte des spanischen Volkes an, die zu schreiben als das eigentliche Anliegen des Autors bezeichnet werden kann. Nun erlaubt er sich auch einen persönlichen Kommentar, um einzelne Ruhmestaten ins rechte Licht zu rücken, etwa im Falle der christlichen Besiedlungspolitik während der Wiedereroberung: "Die innere Kolonisation im Fortgang der Reconquista stellt eine der großartigsten Leistungen des spanischen Volkes im Mittelalter dar" 27 . Solche vereinzelten subjektiven Stellungnahmen finden sich auch als negative Wertungen. Die einseitige Vorherrschaft Kastiliens nach der Vereinigung mit Aragón kritisiert Konetzke als verhängnisvollen Partikularismus, denn: "Der 25 26 27
Ib. Ib., S. 58. Ib., S. 85 f.
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geschichtliche Augenblick, alle Kräfte der spanischen Lande in einem neuen und gewaltigen Geschehen fortzureißen, wurde versäumt, denn nur in großen gemeinsamen Erlebnissen kann die innere Einheit eines Volkes sich verwirklichen" 28 . In dieser Sprache spiegelt sich unverkennbar die Gegenwart des deutschen Geschichtsschreibers am Ende der dreißiger Jahre. Dieses Statement speist sich aus eigener Erfahrung, denn auch das deutsche Volk hat sich jüngst von einem neuen und gewaltigen Geschehen fortreißen lassen und schickt sich an, in einem großen gemeinsamen Erlebnis seine Einheit zu verwirklichen. Diese Erfahrung perspektiviert auch die Darstellung der spanischen Geschichte, insofern, als die "völkische Einheit" als Basis allen Geschehens aufgefaßt wird, als Parameter, der Hochphasen und Tiefpunkte des Geschichtsverlaufs markiert. Diese Idealvorstellung von der monolithischen Geschlossenheit des "Volkes" ignoriert gesellschaftliche Antagonismen als geschichtliche Triebkräfte und registriert diese allenfalls als störende Faktoren. Die sozialen Hintergründe revolutionärer Bewegungen wie der Aufstand der Comuneros und der Germania bleiben daher im Dunkel, statt dessen ist von der "Uneinigkeit des kastilischen Volkes" 29 die Rede, von "Brandstiftungen und Mordtaten" und "bittere(m) Klassenhaß, der sich in grausamen Bluttaten auswirkte" 30 . Überall aber, wo das Volk in geschlossener Eintracht auftritt, übt es zugleich eine legitimierende Funktion aus: "Trotz der Härte und Unheimlichkeit ihres Vorgehens war die Inquisition eine volkstümliche Einrichtung. Mit Begeisterung nahm das Volk an den Ketzerverfolgungen Anteil" 31 . Von der Verantwortung für die Schattenseiten der spanischen Geschichte ist "das Volk" allerdings meist entbunden. So erklärt sich der Niedergang Spaniens im 17. Jahrhundert aus dem "biologischen Degenerationsprozeß der Herrscherfamilie" 32 , die progressiven Regierungen des 19. Jahrhunderts sind von volksfremden Mächten gesteuert, den Freimaurern und Juden: "Die Logen lenkten jetzt die Regierungen. Sie erlangten die Macht vor allem durch den Ministerpräsidenten Mendizábal, einen reichen Bankier jüdischer Herkunft." 33
Auch nach den Ursachen des Bürgerkriegs im 20. Jahrhundert wird nicht lange in sozialen Bedingungen gefahndet: "Die unterirdische Wühlarbeit des Freimaurertums und des Bolschewismus aber trieb zur Katastrophe" 34 . 28
Ib., S. 129.
29
Ib., S. 143.
30
Ib., S. 144 f.
31
Ib., S. 156.
32
Ib., S. 258.
33
Ib., S. 359.
34
Ib., S. 399.
240
Thomas Bräutigam
Konetzke - so ist zu resümieren - schrieb sein Buch so, wie er wohl glaubte, daß es von ihm erwartet wurde: eine auf wissenschaftlicher Grundlage stehende Faktendarstellung in "zeitgemäßer" Diktion. Weder die rassistische noch die antisemitische Argumentation sind konsequent durchgehalten, sondern fließen an bestimmten Punkten in eine sachlich-unaufgeregte Darstellung ein. Damit unterscheidet sich sein Text sowohl von solchen, die auf diese Kategorien ganz verzichten (wie z. B. Quelle) als auch von solchen genuiner NS-Autoren (wie z. B. Litschauer, siehe oben, S. 119). Konetzke will mit dem Rekurs auf diese Kategorien seine eigene Arbeit - und damit sein Thema: die spanische und portugiesische Geschichte - aufwerten, legitimiert aber umgekehrt durch die Einbindung in einen wissenschaftlichen Diskurs die Gültigkeit der zeitgenössischen Begrifflichkeit ("Rasse") und der entsprechenden Feindbilder (Juden, Freimaurer). Dies ist ein grundsätzlicher Einwand gegen solche Konzessions-Texte und deren Verharmlosung. Stringent durchgeführt ist hingegen das Konzept vom "Volk" als handelnde Instanz im historischen Prozeß, wobei der Rasse-Begriff in diesem Volks-Begriff aufgeht. Damit partizipiert der Text an der Ideologie der organischen Volksgemeinschaft und fiinktionalisiert die spanische Geschichte in diesem Sinne. Diese Volksperspektive offerierte dem deutschen Publikum ein Identifikationsangebot und enthielt damit eine didaktische Komponente. Ein Satz wie: "Spaniens weltgeschichtliche Größe im 16. Jahrhundert ruhte auf der Einheit und Unbedingtheit seines katholischen Glaubens" 3 5 konnotiert einen grundsätzlichen, über das historische Spanien hinausgehenden Zusammenhang von Größe, Einheit und Unbedingtheit des Glaubens, der auch auf das zeitgenössische Deutschland anwendbar war. Diese Fähigkeit zur Konnotation erhält der Satz dadurch, daß der Autor den Nexus von Spaniens Weltstellung und Gegenreformation nicht mit kritischer Distanz formuliert, sondern so, daß er eine Identifikation signalisiert. 36 Konetzkes Darstellung fand ein positives Echo, und es ist kein Zufall, daß ein besonders hochmögender Rezensent der Frankfurter Zeitung, dem dieser identifikatorische Zugang zur Materie alles andere als fremd war, es zu würdigen wußte, daß hier Geschichte "nicht vom Standpunkt der regierenden Herrscherhäuser" betrachtet, sondern "aus den eigentümlichen Kräften und Interessen des spanischen und portugiesischen Volkes" 37 verstanden wird.
35 36
37
Ib., S. 156. Diese Identifikation wird im Satz unmittelbar zuvor explizit, wo die "großartige religiöse Einmütigkeit" beschworen wird, "die für den geschlossenen Einsatz der Kräfte Spaniens in den gewaltigen auswärtigen Unternehmungen notwendig war" (ib.). Vossler 1939b. Auch hier zeigt sich eine schon angesprochene Tendenz der Vosslerschen Zeitungsartikel, die geeignet ist, den Status des Verfassers als "innerer Emi-
8. Historiographie
8.3.
im Dritten
Reich
241
Schwerpunkt Kolonialreich
Die Abhandlungen zur spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Geschichte, die im Rahmen der weltgeschichtlichen Enzyklopädien erschienen, waren vorwiegend als sachlich-seriöse Darstellungen konzipiert, auch die mit starken Konzessionen befrachtete Arbeit Konetzkes. Für die Einzelstudien, die sich mit dem favorisierten Thema der kolonialen Expansion Spaniens und Portugals beschäftigen, gilt dies nur mit Einschränkungen. Dieser Themenkomplex, zu dem wiederum Konetzke das zentrale Werk beisteuerte, legitimierte sich durch die nicht hinterfragte Rechtmäßigkeit des imperialen Gedankens, der europäischen Sendung und des Kolonialismus, was die kritische Distanz der Autoren zu ihrem Thema vollends eliminierte. Diesen Zusammenhang spricht Konetzke bereits im Vorwort zu seinem Buch Das spanische Weltreich an, wenn er der Geschichte des spanischen Imperiums eine Hilfsfunktion zur "Selbstbesinnung Europas im Weltkampf der Kontinente" 38 zuerkennt. Die oben (S. 231) zitierte Forderung von Willy Andreas nach einer eurozentristischen Geschichtsschreibung ließ sich bei diesem Thema in geradezu idealtypischer Weise erfüllen, denn "das spanische Weltreich ist eine der großartigsten politischen Schöpfungen der europäischen Menschheit gewesen und hat in einem hervorragenden Maße die kulturelle 39 Sendung des Europäertums in der Welt erfüllt" .
Konetzke verläßt die (relative) Zurückhaltung in seiner Gesamtdarstellung und heroisiert hier seinen Untersuchungsgegenstand a priori. Durch die axiomatische Festsetzung einer europäischen "Sendung", als deren Ausdruck das spanische Weltreich charakterisiert wird, definiert sich die historiographische Hispanistik als Legitimationsinstanz nicht nur im gegenwärtigen Weltkrieg, sondern auch bei der zeitgenössischen nationalen Restauration: "Die Erinnerung an die Größe dieses Weltreiches und die aus ihm abgeleitete Idee der Hispanität geben schließlich die stärksten Impulse für die politische und geistig-seelische Erneuerungsbewegung im heutigen Spanien" 40 . Der Übergang zu einer manifest tendenziösen Darstellungsweise ist besonders im Kapitel über die mittelalterlichen Grundlagen des spanischen Weltreiches zu
38
grant" zumindest zu relativieren. In diesem Fall macht Vossler deutlich, daß ihm die eindeutig pro-franquistische Position Konetzkes am Schluß des Buches nicht weit genug geht: "Auch scheint mir das neueste Schrifttum der spanischen Falange mit seiner schwungvollen Anknüpfung an jene alten Reichsideen merkwürdig genug, um einige Hinweise, etwa auf Pemán und Jiménez Caballero, zu verdienen" (ib.). Konetzke 1943, S. 6.
39
Ib., S. 8.
40
Ib.
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Thomas
Bräutigam
registrieren. Hier ist abermals Gelegenheit, das Hohelied der Reconquista anzustimmen, nun aber in einer Weise, die die Position von 1939 hinter sich läßt. Die Reconquista züchtet nicht nur den "Typ des spanischen Herrenmenschen" 41 , sondern bringt vor allem den Kriegeradel der spanischen Hidalgos hervor, dessen Charakterisierung eher einer Heldensage als einer historiographischen Abhandlung ähnelt: "Er [sc. der Hidalgo] folgt dem inneren Drange, der Stimme des Gefühls und vermag in seinem verwegenen Draufgängertum die erstaunlichsten und unglaublichsten Taten zu vollbringen, oder er scheitert an seiner wahnwitzigen Tollkühnheit." 42
Entscheidend ist jedoch weniger dieses Pathos an sich, sondern seine Verbindung mit einer Instrumentalisierung der spanischen Geschichte als Propagandawaffe für die Gegenwart, denn das Heldentum des Hidalgos hat eine ganz bestimmte Wurzel: in ihm "lebt germanische Kriegerethik fort" 43 , die, so darf im Sinne des Autors wohl geschlußfolgert werden, auch 1943 eine historische Renaissance durchlebt. Besonders suggestiv wird der Diskurs, wenn die Tendenz sich hinter vermeintlich unverdächtigen Autoritäten verschanzt. Zur Charakterisierung des Cid baut der Autor ein NS-Schlagwort - das Motto des Reichsparteitages von 1934, der durch Leni Riefenstahls gleichnamigen Film ikonische Bedeutung erlangte - mittels eines Zitats aus einem anderen Kontext in die Argumentation ein: der spanische Nationalheld stellt "nach den Worten von Menéndez Pidal 'den Triumph des Willens, der das Unüberwindliche überwindet'", dar 44 . Ideale, die im Dritten Reich als essentielle Propagandaelemente fungierten, um die militärische Aggression vorzubereiten, tauchen in geballter Form im spanischen Mittelalter als Grundlagen und Triebkräfte für den expanisven Aufbruch der Nation auf. Das Ergebnis ist eine Art "Parallelmontage" von spanischer Geschichte und deutscher Gegenwart, die der Vergleich von Reconquista und deutscher Ostkolonisation 45 noch abrundet. Auch der antisemitische Akzent, der in der Gesamtdarstellung von 1939 noch in einen sachlichen Diskurs eingebettet und eben deshalb besonders wirksam war, wird nun expliziter und ermöglicht besonders im Detail eine auf die Gegenwart des Lesers applizierbare Lektüre, etwa wenn die Rede davon ist, daß man im 41
Ib., S. 9.
42
Ib., S. 10.
43
Ib.
44
Ib. Der Originaltext lautet: "El Cid es el triunfo de la voluntad, que supera lo insuperable, y en esto también es representativo de su nación más que cualquier figura eminente de otra clase" (Menéndez Pidal 1929, Bd. II, S. 699).
45
Konetzke 1943, S. 13.
8. Historiographie
im Dritten Reich
243
spanischen Mittelalter "den Juden die Ausübung bestimmter Berufe verboten und sie duch Abzeichen an ihrer Kleidung kenntlich gemacht hatte" 46 . Eine an dieser Stelle irrelevante Einzelinformation konstruiert historische Analogien zu den antijüdischen Maßnahmen des Dritten Reiches und läßt diese dadurch als rechtmäßig erscheinen. Am Vorabend der Entdeckung der Neuen Welt ist Spanien von den "fremden" Bevölkerungsteilen befreit, was nicht nur als Voraussetzung für die Einigung Spaniens gilt, sondern sich auch für den neuen Kontinent als segensreich erweist. Mit Genugtuung konstatiert der Autor "die grundsätzliche Ausschließung aller jüdischen und ketzerischen Elemente von der Neuen Welt" 47 . Bemerkenswerterweise setzt sich dieser Stil im Hauptteil, also der eigentlichen Entdeckungsgeschichte, nicht fort. Hier waltet stattdessen überwiegend eine nüchterne Faktendarstellung, ein recht eigentlich wissenschaftlicher Diskurs mit Quellenkritik und Problemdiskussion. Die tendenziösen Aspekte bilden den Rahmen der Abhandlung und stellen den Gegenstand in eine ganz bestimmte Perspektive: die Rechtmäßigkeit des imperialen Aufbruchs einer durch die Reconquista gestählten und - dies ist der entscheidende Aspekt - geeinten Nation, die den Segen Europas in die Welt trägt und gleichzeitig die Vormacht in Europa übernimmt. Am Schluß des Buches, als der Historiker am Beginn des 16. Jahrhunderts angelangt ist, bietet sich ihm Spanien in einer glanzvollen Position dar. Es versäumte zwar, "zur rechten Zeit den ihm natürlichen Expansionsraum in Afrika in Besitz zu nehmen" 48 , doch bestand die Aussicht, dem atlantischen Imperium ein Mittelmeerreich anzuschließen, das "Spanien zur europäischen Vormacht und Führung im Kampf gegen die Gefahren, die aus dem Osten der abendländischen Kultur drohten, erhoben hätte"49.
Konetzke beschließt somit sein Werk über das spanische Weltreich mit einer Formel, mit der die nationalsozialistische Propagandarhetorik den Kampf legitimierte, der zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches an allen Fronten tobte. Der "Welt"- und "Kolonialreich"-Historiographie eignete spätestens zu diesem Zeitpunkt generell ein affirmativer und apologetischer Charakter. Sie ist einzuordnen in eine allgemeine "Renaissance imperialistischer Eroberungsprogramme" 50 und der Einforderung des Rechts auf Kolonien. Solche Publikationen er-
46 47 48 49 50
Ib., S . 6 6 . Ib., S. 68. Ib., S. 223. Ib., S. 224. Schönwalder 1992, S. 178.
244
Thomas Bräutigam
schienen auffallend gehäuft ab 1940 und sind daher als typische Begleitpublizistik zum Zweiten Weltkrieg einzustufen. Kennzeichnend hierfür ist auch, daß nicht nur die Autoren dieses Thema lancierten, sondern breitere Kreise daran interessiert waren. Konetzkes Buch z. B. ging aus einem Vortrag an der "Deutschen Akademie" in München hervor. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang bei einem Text über Das spanische Kolonialreich von Hermann Trimborn, den dieser im Rahmen von "Kriegsvorträgen" der Universität Bonn innerhalb der Vortragsreihe "Europa und die Kolonien" rezitierte. 51 Unabhängig von den Ausführungen des Autors - die hier relativ moderat ausfallen und auch die Unterdrückungspraxis der spanischen Konquistadoren zur Sprache bringen - signalisiert allein der Kontext von Krieg und Kolonien, in den das Thema hineingestellt wurde, welcher Stellenwert dem spanischen Kolonialreich in diesem Zeitraum zukam. Am deutlichsten wird Ernst Gerhard Jacob, der seinen Ausführungen über das portugiesische Kolonialreich ein Zitat von Oliveira Salazar voranstellt: "Unsere Kolonien sollen die hohen Schulen des Nationalismus werden. Die Mehrheit der Offiziere und alle jene anderen, in denen der Kult des Vaterlandes und der Rassestolz wachgehalten werden sollen, müßten eine Zeitlang in den Kolonien dienen." 52
Die portugiesischen Kolonien eigneten sich ohnehin besser als Modell, da hier, statt in die Historie auszuweichen, eine ruhmreiche Gegenwart geschildert werden konnte. Die wissenschaftsgeschichtliche Bilanz des Schwerpunktthemas "Kolonialreich" fällt jedoch nicht nur wegen der zeittypischen Tendenzen dieser Werke, sondern auch wegen des dramatischen Rückfalls hinter bereits errungene wissenschaftliche Positionen so negativ aus. Zur Entdeckungs- und Eroberungsgeschichte Amerikas lag bereits ein bahnbrechendes Werk aus deutscher Feder vor, das zu dem kriegs- und kolonialapologetischen Kontext scharf kontrastierte. An das 1925 und 1936 in drei Bänden erschienene Opus über den Charakter der Entdekkung und Eroberung Amerikas durch die Europäer des (bezeichnenderweise) Privatgelehrten Georg Friederici mochte deshalb niemand anknüpfen, weil dieser unter Aufbietung eines immensen Quellenmaterials die Eroberung Amerikas vorrangig aus der Perspektive der Eingeborenen schilderte und ein detailliert dokumentiertes Panomara von Terror und Unterdrückung ausbreitete. Das ge-
51
Trimborn 1941. Der Autor wird auf dem Titelblatt obendrein als "Mitglied des N S D Dozentenbundes" vorgestellt, was der ganzen Publikation einen quasi-offiziösen Charakter verleihen soll.
52
Jacob 1940, S. 3.
8. Historiographie im Dritten Reich
245
wonnene Bild, schrieb zutreffend der liberale Historiker Hermann Oncken in der Einleitung zum dritten Band, "entbehrt der nationalen Verklärung, in der die einzelnen Völker ihre Taten, wenn sie nur ihrer Machtausdehnung in der Welt zugute kamen, zu erblicken gewöhnt sind" 53 .
Wegen dieses "Mankos" war Friedericis Werk ein typisches Außenseiterprodukt, das sich gegen den Zeitgeist sperrte, weil - so nochmals Oncken - hier die "bittere Erkenntnis" vorwaltet, "daß die äußere Ausbreitung der Kultur, wie sie vermöge der kolonialen Tätigkeit der meisten europäischen Völker sich vollzogen hat, mit unendlich vielen düsteren und frevelhaften Nebenerscheinungen hat erkauft werden müssen" 54 .
Eine solche Botschaft konnte sich im Dritten Reich nicht mehr Gehör verschaffen. Doch offenbaren Werke wie das Friedericis, gleichsam in einem kurzen Aufblitzen, das der Wissenschaft inhärente kritische Potential. Dieses Potential vernachlässigt zu haben, markiert das eigentliche Versagen der Wissenschaft im Dritten Reich. Die Publikationen zum spanischen und portugiesischen Kolonialreich sind hierfür nur ein besonders ernüchterndes Exempel.
8.4.
Ludwig Pfandls Habsburger-Biographik
Der unkritische Umgang mit der spanischen Geschichte kulminiert in den biographischen Arbeiten Ludwig Pfandls. Die Attitüde des defensor Hispaniae, mit der der Autor sein Gesamtwerk bestritt, führte ihn zwangsläufig auch auf historiographisches Terrain, und ebensowenig wie in seinen literaturgeschichtlichen Texten ließ er auch auf diesem Gebiet einen Zweifel daran aufkommen, daß er die Verteidigung des edlen Spanien gegen die Verleumdungen der leyenda negra als seine Lebensaufgabe betrachtete. Auf Anregung des Münchner Callwey-Verlags, der ein dezidiert historischbiographisches Programm verfolgte - mit Carl J. Burckhardts Richelieu (1934) als Glanzpunkt (aber auch Konetzkes Spanisches Weltreich erschien bei Callwey) - , verfaßte Pfandl Biographien über Philipp II. (1938) und Karl II. (1940) sowie eine Übersetzung von Gregorio Marafiöns Olivares (1939), die er mit einer 50seitigen Einleitung über Philipp III. versah, so daß mit diesen drei Büchern eine geschlossene Habsburger-Trilogie vorlag. Sowohl das Verlagsprogramm als auch Pfandls apologetische Intention waren nicht auf wissenschaftliche Biographik - diese repräsentiert exemplarisch Karl Brandis Karl V. (1937/41) - , sondern auf populäre Darstellung ausgerichtet.
53
Oncken 1936, S. IX.
54
Ib.
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Empirische Quellenforschung war Pfandls Sache nicht. Philipp II. wollte er nicht als historische Figur schildern, sondern als "Mensch, dessen Leben in schwerer und großer Zeit wert war gelebt zu werden" 55 . Dieses Pathos zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk und schlägt sich in zahlreichen romanesken Elementen und unbewiesenen Behauptungen nieder. Auch die psychoanalytische Herangehensweise, die j a den eigentlichen "PfandlTouch" ausmacht, führt nicht zu nachprüfbaren Aussagen, doch ist es gerade dieser Ansatz, der den Text "interessant" macht, weil er sich vom konventionellen zeitgenössischen Diskurs abhebt. Der Autor war sich bewußt, daß er mit seiner Sympathie für ein anrüchiges Erklärungsmodell sich in eine prekäre Situation begab. Die gescheiterte Publikation seiner explizit freudianisch angelegten Studie über Sor Juana ließ ein vorsichtigeres Verhalten angeraten sein. Erstes Indiz für eine entschärfte Psychoanalyse in Philipp II. ist der Rekurs auf Jung statt auf Freud, weil die Jungsche Lehre vom kollektiven Unbewußten und von den Archetypen im Gegensatz zur Freudschen Sexualtheorie einen Bruch mit den tradierten Interpretationsprinzipien nicht erforderlich machte. Vom "spanischen Nationalcharakter" zur "spanischen Kollektivseele" vorzudringen, war kein weiter Weg. Pfandl ging jedoch noch einen Schritt weiter, indem er seine tiefenpsychologischen Exkurse in ein Referenzsystem hineinstellt, das eine Verbindung mit aktuellen ideologischen Versatzstücken erlaubt. Wenn anläßlich der archaischen Determiniertheit von Philipps Verhalten das kollektive Unbewußte als "Erbe der Ahnen" definiert wird, ist es innerhalb eines auf Abstammungs- und Herkunftsverhältnisse fixierten Denkens positiv sanktioniert. Noch konkreter wird der Reliquienkult Philipps, ebenfalls als Ausdruck eines archaischen Weltbildes gedeutet, in Bezug zur Gegenwart gesetzt: "Der Sinn für solche Dinge und der Respekt vor ihnen ist heute wieder von neuem erwacht. Die sterblichen Überreste der Blutzeugen einer großen Idee werden in feierlichen Umzügen gesammelt, in Tempeln zur ewigen Ruhe gebettet und dem Volke zur Verehrung dargeboten. Die Idee hat gewechselt, dort hieß sie 'Religion', hier heißt sie 'Vaterland'; die Antriebe und die ethischen Ziele sind die gleichen geblieben, auch die ethischen Werte halten sich die Waage." 56
Um seinen Thesen Respektabilität zu verschaffen, suggeriert Pfandl eine Identität von historischem und gegenwärtigem Verhalten. Ergebnis dieser unterstellten Sinngleichheit ist eine gegenseitige Legitimierung. Die Differenz zwischen 16. und 20. Jahrhundert wird negiert, stattdessen der propagandistische Bezug der
55
Pfandl 1938, S. 10.
56
Ib., S. 519.
8. Historiographie
im Dritten Reich
247
Gegenwart auf die Geschichte als Rechtfertigungsinstanz bestätigt und als Renaissance eines großen Gedankens gewürdigt. Ein solches Verfahren dient Pfandl nicht nur dazu, eine esoterische Theorie, wie die vom archaischen Denken, einem breiten Publikum schmackhaft zu machen, sondern fungiert generell als Mittel, um seinen Helden gegen "Lügenmärchen", "Verleumdungen" und "Greuelpropaganda" zu verteidigen. Das Vorgehen Philipps gegen Don Carlos (Ausschluß von der Thronfolge) findet Pfandls Anerkennung, denn dadurch hat der König "seine [Carlos'] Gemeingefährlichkeit rechtzeitig unschädlich gemacht, hat verhütet, daß der Keim seiner körperlichen und geistigen Insuffizienz durch Fortpflanzung auf Generationen hinaus sich übertrage - was ihn vor allem sehr in die Nähe gegenwärtigen Denkens rückt"57.
Pfandl übernimmt also in seinem Plädoyer genau die Argumentation, mit der die Nationalsozialisten gegen "lebensunwertes Leben" Front machten, und die bereits 1933 zum berüchtigten "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" gefuhrt hatte. Dieses Prinzip der gegenseitigen Legitimierung tritt auch dann in Kraft, wenn historische Vorgänge in zeitgenössischer Terminologie referiert werden und allein dadurch eine implizite, aber eindeutige Bewertung erfahren. So ist von "Rassenschande" die Rede, wenn es um religiöse Konflikte geht 58 , Philipp befreit Spanien von "mischblütigen Horden semitischer und asiatischer Herkunft" 59 , "Spanien will einen König von seinem Blut und seiner Rasse [...], der mit der Scholle und der Gesinnung des Landes verwachsen ist"60, Philipps Wahlspruch hätte gelautet: "Spanien, Spanien über alles, über alles in der Welt" 61 . Es spricht viel dafür, daß sich Pfandl für diese Praxis nicht aus pro-nazistischer Gesinnung entschieden hat, sondern um sein Buch gegen Einwände von offizieller Seite abzusichern. Dieses Ziel hat er nur zum Teil erreicht. Nach Erscheinen des Werks (eine amtliche Vorzensur existierte im Dritten Reich bekanntlich nicht) gab es heftige Attacken von Seiten der "Reichsstelle fiir Schrifttumspflege" beim Amt Rosenberg, der die Überwachung der Buch- und Zeitschriftenpublikationen oblag. Der Vorwurf lautete auf pro-katholische Tendenz und psychoanalytische Betrachtungsweise, und das Buch wurde auf die "Liste des unerwünsch57 58
59 60 61
Ib., S. 354. "Christen also verbündet mit Bekennern des Islam zum Kampfe gegen Christen! Nach damaligen spanischen wie nach heutigen deutschen Begriffen gewiss eine Rassenschande ohnegleichen" (ib., S. 99). Ib., S. 404 f. Auch in diesem Satz fällt wieder das Wort "Rassenschande". Ib., S. 314 f. Ib., S. 554.
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248
ten Schrifttums" (die freilich nur für Bibliotheken galt) gesetzt. Gleichwohl entwickelte es sich zu einem Bestseller, und die offizielle Kritik verstummte deshalb 62 : ein Beispiel für die durchaus autonome Rolle des Lesepublikums. Die Angriffe mögen Pfandl in seiner Position weiter bestärkt haben, jedenfalls tendierten seine Publikationen immer mehr zu reinen Kampfschriften. Dies zeigt sich paradoxerweise am deutlichsten an der Marafiön-Übersetzung, wiewohl Pfandl hier eigentlich nur als Übersetzer fungierte. Die Bearbeitung, die er dem Original angedeihen ließ, ergab in der deutschen Fassung jedenfalls ein Buch, das mehr Pfandl als Marafiön enthielt. Nach Gutdünken des Übersetzers wurde gekürzt, ergänzt und umformuliert, und der Lektor des Callwey-Verlags wußte später amüsiert zu berichten, daß Pfandl in seinem Eifer von ihm Distanzierungen mitten im Text "erpressen" wollte. 63 Nun war Pfandl Marafiön durchaus gewogen - sonst hätte er die Übersetzung ganz abgelehnt 64 - , und insbesondere das psycho-pathologische Interesse des spanischen Autors kam seinen Neigungen entgegen, doch rechnete Marafiön nicht in dem Maße mit der leyenda negra ab, wie Pfandl es für erforderlich hielt. Daher sah sich dieser zu einer umfangreichen Einleitung und einem "Nachwort des Übersetzers" genötigt, worin er Spanien gegen die von der hispanophoben Tradition Europas inkriminierten Punkte zu rechtfertigen suchte: Inquisition, Juden- und Moriskenvertreibung, und insbesondere der politische Abstieg Spaniens waren aus Pfandls Sicht erklärungsbedürftig. So diagnostiziert er bei den spanischen Königen eine "krankhafte Abulie und Verantwortungsscheu", die auf die Nachkommen Philipps II. "wie ein Reif in der Frühlingsnacht herniederfallen" 65 und erteilt damit den Herrschern durch die suggerierte Nähe von Krankheit und Naturereignis gleichsam einen Freispruch von persönlichem Versagen. Dieser möglicherweise auf die Inzucht-Ehen zurückzuführende pathologische Befund sei die eigentliche Ursache für den Niedergang der spanischen Habsburger und damit Spaniens Uberhaupt, denn "der 62
63 64
65
Cf. Baur 1985, S. 220 f. Karl Baur, Schwiegersohn des Verlagsgründers und Inhaber des Callwey-Verlags, gibt an, er habe bei Hagemeyer, dem Leiter der Schrifttumsstelle, persönlich aber erfolglos gegen die Angriffe protestiert. Gerade Pfandls Buch sei aber später von der Schrifttumsabteilung des Propagandaministeriums bei jeder Gelegenheit "so auffallend wie nur möglich" herausgestellt worden. Baurs Begründung, es habe im Ministerium Männer gegeben, die "ohne viel Worte zu machen" "Unsinn und Unrecht" verhindert und "Wagnisse" auf sich genommen hätten (ib., S. 221), sei dahingestellt. Rinn 1959, S. 47 ff. Nach Angaben Rinns übernahm er den Übersetzungsauftrag "auf ausdrücklichen Wunsch Karl Vosslers" (ib., S. 47). Pfandl 1939, S. 28.
8. Historiographie
im Dritten Reich
249
Spanier" sei, "solange nicht die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der Liberalismus des 19. über ihn kamen, durch dick und dünn mit seinem König gegangen" 66 und nicht nur dem guten, sondern auch dem schlechten Beispiel bedingungslos gefolgt. Geschichte ist für Pfandl, losgelöst von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die Abfolge von guten und schlechten (bzw. gesunden und kranken) Herrschern. Das "Volk" ist, solange es nicht von Aufklärung und Liberalismus angekränkelt ist, per se gut, aber in seiner naiven Verbundenheit mit den Herrschern von diesen abhängig. Pfandl idealisiert dieses Abhängigkeitsverhältnis, denn der vordemokratische Zustand, in dem "das ganze Volk wie ein Mann" 67 hinter dem König steht, gehört für ihn zu den glorreichsten Kapiteln der spanischen Geschichte, wohl nicht zuletzt deshalb, weil auch unter diesem Aspekt die Nähe zum "gegenwärtigen Denken" besonders groß war. Um diese Nähe herzustellen, war sich Pfandl nicht zu schade, auch beim Goebbels-Jargon Anleihen zu nehmen, selbst in einem Buch wie diesem, wo ein anderer Autor auf dem Titelblatt steht, den er damit indirekt in einen Zusammenhang hineinzerrt, dem er nicht angehört. Die Notwendigkeit der Moriskenverfolgung, die er schon 1929 mit dem Parteiprogramm der NSDAP in Verbindung gebracht hatte (siehe oben, S. 58, Anm. 144), begründet Pfandl nun mit Formulierungen wie dieser: "Ihrer Rasse wohnt eine geradezu biblische Fruchtbarkeit inne, und ihre Familien vermehren sich wie die Kaninchen" 68 . Die Morisken werden als auszubrennende "Eiterbeule am Volkskörper" und "artfremdes Gesindel" 69 denunziert, und der endliche Vollzug ihrer Vertreibung als "unvermeidlicher und darum gewaltsamer Ausscheidungsprozeß eines hinderlichen, bedrohlichen, lebensgefahrlichen Eindringlings, Giftstoffes, Parasiten oder wie man es sonst benennen mag [sie!], aus dem Gesamtorganismus eines Volkes" 70
bejubelt. Mit der Opposition "gesund" vs. "krank", dem Kausalnexus von "unvermeidlich" und "gewaltsam", der Aufforderung zur assoziativen Fortsetzung der Metaphernreihe impliziert dieser biologistische Diskurs eine allgemeine Therapieanleitung. Der Appellcharakter dieses Satzes ist jedenfalls nicht zu übersehen. Wenn der Terminus "Endlösung" bereits geprägt gewesen wäre, hätte Pfandl wohl auch diesen skrupellos verwendet.
66 67 68 69 70
Ib., Ib., Ib., Ib., Ib.,
S.27. S. 37. S. 39. S. 40. S.44.
250
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Weder Pfandl noch Konetzke, die beide die gewichtigsten Beiträge zur SpanienHistoriographie im Dritten Reich lieferten, sind als überzeugte Nationalsozialisten einzustufen, die ihre Schriften im Dienste dieser Überzeugung verfaßt hätten. Sie identifizierten sich nicht bedingungslos mit der herrschenden Weltanschauung, aber integrierten Versatzstücke daraus in ihre Argumentationsstrategie, um ihren Ausführungen eine größtmögliche Relevanz zu sichern. Sie beabsichtigten, die spanische Geschichte an aktuelle Problemstellungen anzupassen und historische Handlungen durch den Verweis auf das scheinbar analoge heutige Denken zu rechtfertigen. Dabei bedienten sie sich des zeitgenössischen Schlagwort-Repertoires ohne Rücksicht darauf, daß durch ein solches Verfahren die allgemeine Akzeptanz der benutzten Ideologeme entscheidend potenziert wurde. Die spanische Geschichte präsentierte sich schließlich didaktisch so zubereitet, daß sie als Argumentationsangebot im herrschenden Diskurs verstanden werden konnte. Solche Texte (bzw. einzelne Passagen daraus) schlicht als opportunistische Verbeugungen zu klassifizieren, würde am eigentlichen wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntniswert vorbeigehen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer generellen Bereitschaft, mit dem offiziellen Referenzsystem bedingungslos und deshalb affirmativ zu operieren, statt es kritisch zu hinterfragen.
9. Bilanz und Ausblick 9.
251
BILANZ UND AUSBLICK
Der Gegenstand unserer Untersuchung - Spanien, Portugal und Lateinamerika als Thema von (im weiteren Sinne) wissenschaftlichen Publikationen im Dritten Reich - war a priori nicht in einer unmittelbaren Nähe zu dezidiert nationalsozialistischen Interessen zu situieren. Ziel konnte es daher nicht sein, nach einer speziellen "NS-Hispanistik" zu suchen; vielmehr stellte sich die Frage, wie die (ebenfalls in einem weiteren Sinne verstandene) Hispanistik mit ihren tradierten fachlichen Konzepten und Kategorien auf den Nationalsozialismus an der Macht reagierte. Das Reagieren auf politische Veränderungen war für die Hispanistik kein neues oder fremdes Verhalten, denn das Interesse an Spanien und Lateinamerika entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg in einem Kontext, in dem es um manifeste politische und ökonomische Interessen ging, die eine elfenbeinturmartige Isolierung der Hispanistik von vornherein nicht zuließen. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Spanien nach 1914/18 in Deutschland positiv besetzt, was zu einer Idealisierung seiner Kultur und der Projektion zivilisations- und fortschrittsfeindlicher Images führte. Daran änderte sich prinzipiell auch nach 1933 nichts, doch das Mißverstehen des Nationalsozialismus als einer nationalen Restaurationsbewegung beeinflußte die SpanienSehnsucht insofern, als deren Ziele nun in Deutschland selbst sich zu realisieren schienen. Die Teilnehmer an der Legitimationsdebatte der zwanziger Jahre, die ihre hispanophile Argumentation vorwiegend aus einer romantizistischmodernitätsskeptischen Kulturkritik bezogen und der Abkehr von einer als atomistisch erfahrenen Gegenwart das Wort redeten, fanden in der Volksgemeinschafts-Rhetorik des Dritten Reiches keine negative Folie vor, sondern eine mit ihren Wünschen vermeintlich gleichlaufende Entwicklung. 1933 bedeutet daher keinen Bruch im Werdegang der deutschen Hispanistik, da zumindest auf der theoretischen Ebene die bisherige Argumentationsstrategie sich zu bestätigen schien. Von denjenigen, die in den zwanziger Jahren für Spanien aus einer weitgehend irrationalen, mythosorientierten und apologetischen Position heraus warben, die an der spanischen Kultur die völkische Geschlossenheit, die Einheit von Dichter und Volk, den Traditionalismus und die Bodenständigkeit schätzten, war eine oppositionelle Einstellung zu den von der NSPropaganda postulierten Wertvorstellungen nur auf Basis einer selbstkritischen Revision bisheriger Denkweisen zu erreichen. Die partielle Nähe von hispanistischen Forschungsdispositionen zu den Vorstellungen, aus denen die Nationalsozialisten ihre Legitimation bezogen, reduzierte die Distinktionsfähigkeit der Teilnehmer an diesem zu großen Teilen irrationalen
252
Thomas Bräutigam
Diskurs erheblich. Das Wertesystem, das der Nationalsozialismus propagierte, stand zu dem ihrigen nicht in einem Konkurrenzverhältnis, sondern knüpfte im Gegenteil erfolgreich an die bürgerlichen Ängste und Sehnsüchte an, um die eigene Radikalität und Monstrosität zu verschleiern. Daß selbst bei einem Intellektuellen vom Range Vosslers der Distanzierungsversuch sich lediglich als Ausweichen in den selbst prekären Einsamkeitstopos realisierte, läßt vermuten, daß die Einsicht in die Notwendigkeit einer unmißverständlichen Trennung zwischen beiden Wertesystemen eine enorme geistige Kraftanstrengung erforderte. Von der offiziell-administrativen Seite ist die Hispanistik im NS-Staat nicht aufgewertet, sondern mit Indifferenz behandelt worden. Dies betrifft die Iberoromanistik an den Universitäten ebenso wie den Spanischunterricht an den Schulen. Auch unter diesem Aspekt - Desinteresse von "oben" - ist somit eine Fortsetzung der Verhältnisse von vor 1933 festzustellen, und auch die sich ohnehin nur zögerlich zu Wort meldende Spanischlobby änderte mit ihrem Versuch, einen "nationalpolitischen Erziehungswert" des Spanischen nachzuweisen, an diesem Zustand nichts. Die schließlich doch wiederauflebende Aufmerksamkeit für die iberische Thematik verdankt sich einem externen Ereignis, dem Spanischen Bürgerkrieg, nicht nur weil die deutsche Intervention an dessen Verlauf einen nicht geringen Anteil hatte, sondern auch weil dieser Krieg als Kampf zweier Ideologien interpretiert und damit propagandistisch nutzbar gemacht wurde. Ähnliches gilt für Lateinamerika als Publikationsgegenstand, das im Rahmen von Welt- und Geopolitik Interesse beanspruchen konnte. Nur eine Minderheit der Texte, die über Spanien, Portugal und Lateinamerika verfaßt wurden, ist als bedingungslose pro-nazistische Propaganda einzustufen. Rekurrierender Befund unserer Analysen war stattdessen die Ambivalenz, Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Publikationen, was eine schlichte Katalogisierung in pro- und antinazistische oder "neutrale" Texte ausschloß. Diese Ambivalenz resultiert aus dem Ineinanderfließen von tradierter wissenschaftlicher Kontinuität und latenter bzw. offener Instrumentalisierung des Forschungs- bzw. Publikationsgegenstands. Das Kapitel Uber die Legitimation der Romanistik im Dritten Reich zeigte, daß zahlreiche Fachvertreter dem "neuen Staat" ein Angebot zur Mitwirkung machten und zwar gerade auf Basis der bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeit. Die dominierende Praxis des geistesgeschichtlichen Diskurses in den Kulturwissenschaften war geeignet, auch ohne Preisgabe tradierter Prinzipien einen gemeinsamen Nenner mit Zielen der neuen Machthaber zu finden. Dies war für die Hispanistik aufgrund des vorwiegend positiven Images ihres Gegenstands ohnehin leichter als für die Frankreichforschung: Galloromanisten argumentierten vorwiegend antithetisch-distanzierend, Hispanisten identifizierend. Die favorisierten Themen der hispanistischen Publi-
9. Bilanz und Ausblick
253
kationen spiegeln diesen Trend insofern wider, als sie - um nur ein Beispiel herauszugreifen - den "volkstümlichen" Aspekt derart in den Vordergrund rückten, daß er vom "völkischen" kaum noch zu unterscheiden war: von der Hamburger Volkstumsforschung über den volkstümlichen und lebensfrohen Lope de Vega und den mit seinem Volk verschweißten Philipp II. bis zur Selektion der volksnahen Autoren und Werke der Gegenwartsliteratur. Die Einstellung der einzelnen Verfasser zum NS-Staat - soweit diese überhaupt rekonstruierbar ist - erwies sich dabei als von untergeordneter Bedeutung. Selbst der Antifaschist Werner Krauss lieferte mit seinem Aufsatz über die Falange Espahola einen Text ab, bei dem das "Anti" derart im "Pro" versteckt war, daß sich die Rezeption von den Intentionen des Autors abgekoppelt haben dürfte. Sogar die Texte, die eine oppositionelle Lektüre ermöglichen (z. B. auch Petriconi) bleiben bestenfalls doppelt interpretierbar. Gleichwohl war der Widerspruch zum Trend der Vereinnahmung fachspezifischer Sachverhalte möglich, wofür das Lope-Kapitel Beispiele lieferte. Die Frage nach einem exklusiven Profil der deutschen Hispanistik im Dritten Reich, das diese Epoche aus der Fachgeschichte markant herausheben und eine isolierte Betrachtung aus fachinternen Gründen rechtfertigen würde, muß - soweit es sich an den Publikationen ablesen läßt - verneint werden. Anders formuliert: Die Hispanistik bot nach 1933 thematisch und methodisch kein wesentlich anderes Bild als vor 1933. Zwischen den Texten und dem Nationalsozialismus an der Macht besteht kein ursächlicher Zusammenhang. Das bestätigen nicht nur die Texte, die jeder externen Motivation entbehren (sie finden sich konzentriert in den Fachzeitschriften RF und ZrPh). Auch das Lope-de-Vega-Bild hätte ohne NS-Herrschaft nicht viel anders ausgesehen, und die Rezeption der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur hätte keine grundlegenden Modifizierungen erfahren. Das Charakteristische, Dritte-Reich-Spezifische, lag in Zuspitzungen, die eine Funktionalisierung des Publikationsgegenstands im Sinne von gegenseitiger Aufwertung intendierten, um die Nähe der hispanistischen Forschung zur herrschenden Meinung zu dokumentieren. Hierzu gehört vor allem die rassistische und antisemitische Argumentation und ganz allgemein das Suggerieren von Parallelen zwischen historischen oder auch aktuellen spanischen/lateinamerikanischen Sachverhalten und dem Dritten Reich. Nach solchen Parallelen ist zum Teil gezielt gesucht worden. Dieses Verhalten steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der "Spanienkunde" der zwanziger Jahre, wo das kritische Rationalisieren seit langem durch eine identifikationsheischende Attitüde ersetzt worden war, was mit einer Negation historischer und kultureller Differenzen einherging. Das freiwillige "Andie-
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Thomas
Bräutigam
nen" und "Anbieten" von Fachinhalten im Dritten Reich war letztlich nur ein kleiner Schritt, der diesen Weg fortsetzte. So wie im Jahr 1933 keine entscheidende fachgeschichtliche Zäsur zu erkennen ist, eignet sich auch 1945 wenig als Fixpunkt für interne Entwicklungen (Themenverschiebungen, Methodenwechsel etc.)- Den damaligen Protagonisten der Romanistik - und wohl auch der meisten anderen Disziplinen - wäre das Ansinnen, die Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Zusammenbruch bzw. - je nach Blickwinkel - Befreiung hätten inhaltliche Folgen für ihr Fach haben müssen, wohl recht wunderlich erschienen. Zwischen Altfranzösisch oder spanischer Blütezeit und diesen "äußeren" Ereignissen wollte sich ein erkennbarer Zusammenhang nicht recht einstellen, und daher hielt man einen Anlaß für Prüfling, Selbstkritik und Methodendiskussion für nicht gegeben. Das Feilbieten von Fachinhalten an externe Interessen wurde kommentarlos durch einen Rückzug auf interne Positionen ersetzt. Tiefergehende Reflexionen fanden nicht statt. Dieses zum Teil demonstrative 1 Festhalten an Kontinuität hatte für die Hispanistik den positiven Effekt, daß sie ihren in den zwanziger Jahren errungenen Platz neben der unangefochten dominierenden Galloromanistik behaupten konnte, obwohl die äußeren Bedingungen nun eher ungünstig waren: Das isolierte Franco-Spanien konnte kein öffentliches Interesse mehr beanspruchen, der drei Jahrzehnte lang propagierte "spanische Geist" fand im Nachkriegsdeutschland kaum noch ein Echo, und auch Lateinamerika verlor in der nun anhebenden "Abendland"-Rhetorik jede Bedeutung im kulturellen Diskurs 2 . Die auf der Agenda ganz oben stehende Aussöhnung mit Frankreich verlagerte die Gewichte wieder zugunsten der Frankreichforschung, und die deutsche Romanistik hatte gerade unter diesem Aspekt auch viel nachzuholen und wiedergutzumachen. Darüber hinaus war die. Hispanistik von personellen Veränderungen betroffen. Der Tod von Pfandl (1942) und Vossler (1949) bedeutete den Verlust der beiden profiliertesten und produktivsten deutschen Hispanisten und zugleich derjenigen, die die entscheidenden Wesenszüge der Hispanistik ihrer Epoche prägten und zementierten. Der Antifaschist Krauss ging in die DDR, der Nazi Krüger nach Argentinien, die Emigranten Spitzer und Hatzfeld kehrten nicht wieder zurück. Petriconi und andere Protagonisten der Hispanistik vor 1945 verlagerten ihren Schwerpunkt auf Frankreich.
Am sinnfälligsten bei dem Göttinger Historiker Karl Brandi, der im Wintersemester 1944/45 eine Vorlesung über "Mittelalter I" hielt und diese im Wintersemester 1945/46 mit "Mittelalter II" fortsetzte. Mit Spanien allerdings waren im Rahmen dieses Europa-Gedankens doch wieder Verbindungen möglich (cf. Briesemeister 1986. S. 21).
9. Bilanz und Ausblick
255
Von den ordentlichen Professoren der Romanischen Philologie gab es in den fünfziger Jahren mit Rudolf Großmann nur einen einzigen, der sich ausschließlich der Hispanistik und Lateinamerikanistik widmete, wodurch Hamburg seinen Status als Hispanistik-Hochburg behaupten konnte. Die auf der Basis von "Wörter und Sachen" betriebene Volkstumsforschung wurde allerdings zusammen mit ihrem spiritus rector Wilhelm Giese marginalisiert. Der Versuch, die Zeitschrift VKR fortzusetzen, scheiterte am Einspruch der englischen Militärregierung, was - gleichsam als Ersatz - zur Gründung des Romanistischen Jahrbuchs führte. 3 Sowohl das interdisziplinäre Auftreten als auch die enge Verflechtung von wissenschaftlicher und populärer Literatur setzten sich in der bisherigen Form nicht fort, so daß die bundesrepublikanische Nachkriegs-Hispanistik sich auf eine Teildisziplin der universitären Romanistik reduziert sah. Diese Reduktion bewirkte schließlich doch einige thematische Veränderungen. Die Lope-de-VegaEuphorie war trotz einer Neuauflage von Vosslers berühmtem Buch und trotz vereinzelter unverdrossener Bemühungen, Lopes Wertewelt auch für das Nachkriegseuropa zu reklamieren 4 , verflogen. Die ideologische Ausschlachtung, die man Lope in den dreißiger und vierziger Jahren hatte angedeihen lassen, machte eine Fortsetzung dieses Themenschwerpunkts unmöglich. Andererseits distanzierte sich auch niemand von dieser Vereinnahmung, noch gab es einen weiteren Versuch (z. B. in Anknüpfung an Werner Krauss) zu einem authentischen LopeBild vorzudringen. Statt dessen richtete sich das Interesse auf Literatur, die nicht zur Identifizierung einlud, sondern gerade wegen ihres unvertrauten und fremden Charakters zur Interpretation herausforderte. Aus diesem Blickwinkel konnte sich Calderón seinen Spitzenplatz wieder zurückerobern (Hugo Friedrich, Der fremde Calderón, 1955) und in der Folgezeit auch unangefochten behaupten. Zusätzlich richtete sich der Blick auf Gebiete des Siglo de Oro, die bislang schwer vernachlässigt worden waren. Hierzu gehörte auch der Don Quijote, zu dem der Hispanistik in Deutschland seit Helmut Hatzfelds Meisterwerk von 1927 nichts Originelles mehr eingefallen war. Nun schaffte die jüngste Generation den Anschluß an das internationale Niveau (Harald Weinrich, Das Ingenium Don Quijotes, 1956). Daneben partizipierte die deutsche Romanistik an der Forschung über die
3 4
Cf. Deutschmann 1992b. S. 180. "(Lope verkörpert) zwei Eigenschaften der Spanier [...], um die auch das Europa der zweiten Nachkriegszeit ringt wie kaum zuvor: den Menschen nicht als Programm, als soziologisches, politisches oder weltanschauliches 'Problem' zu fassen, sondern als Geschöpf schlechthin, als 'Menschen von Fleisch und Blut' [...]. Was aber das Größte und für uns Positivste dabei ist: für Lope besitzt diese Welt nichts Hintergründiges. Er arbeitet nicht mit dem Hirn an ihr, sondern mit dem Herzen. Und findet dabei, naiv und in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewußt, sehr viel leichter die gute Lösung, als die komplizierte Menschheit unserer Tage" (Großmann 1954).
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international einer gründlichen Revision unterzogenen novela picaresca reflektierte die sensationelle Entdeckung der mozarabischen jarchas.
und
Auffallend ist, daß nach 1945 wissenschaftlich relevante Publikationen erst nach einer etwa zehnjährigen Latenzzeit registrierbar sind. Dies betrifft auch die Forschung Uber die von den Hispanisten im NS-Staat völlig marginalisierte moderne spanische Lyrik. Hierbei wirkte nicht zuletzt der spanische Teil von Hugo Friedrichs epochemachender Struktur der modernen Lyrik (1956) als Katalysator. Rechnet man noch den herausragenden linguistischen Beitrag hinzu (Kurt Bal-
dinger, Die Herausbildung der Sprachräume auf der Iberischen Halbinsel, 1958), ergibt sich für die deutsche Hispanistik zwischen 1955 und 1960 eine recht positive Forschungsbilanz. Der Rekurs auf das eigentlich akademische Terrain hatte gerade wegen des defizitären öffentlichen Interesses an spanischen Themen eine Rückbesinnung auf wissenschaftliche Prinzipien zur Folge, wenn man so will: einen Rückzug in den Elfenbeinturm, der freilich in Relation zu einer sich partiell prostituierenden Hispanistik im Dritten Reich als Fortschritt zu bewerten ist. Demgegenüber ergibt die Bilanzierung der literaturwissenschaftlichen Lateinamerikanistik der fünfziger Jahre einen negativen Beftmd. Es zeigt sich, daß es nicht gelungen war, dieses Teilgebiet in die Romanische Philologie zu integrieren. Es war in den vergangenen Jahrzehnten wissenschaftsexternen Interessen überlassen worden, was sich im NS-Staat in Gestalt eines G. H. Neuendorff zuspitzte, der mit seiner Lektüre lateinamerikanischer Literatur als Folie und Spiegel von NS-Ideologemen als opinion leader fungierte, dem jeder seriöse Widerpart fehlte. Somit war die Lateinamerikanistik, noch bevor sie sich richtig etablieren konnte, auf ein derart niedriges Niveau manövriert worden, daß sich nach 1945 neuerliche Kontaktversuche nicht einstellen wollten. Statt einer Korrektur des bisherigen Bildes und der Entdeckung der modernen Autoren herrschte nach dem Krieg Sprachlosigkeit vor. Daß Petriconis Spanisch-amerikanische Romane der Gegenwart 1950 in einer nahezu unveränderten Auflage erschien, belegt dies ebenso wie die Tatsache, daß als einziger neuer Autorenname der von Gabriela Mistral auftaucht. Diese Dichterin, die kaum als Repräsentantin der Avantgarde anzusehen ist, weckte 1955 das Interesse von gleich zwei deutschen Romanisten, die auf dem Gebiet der lateinamerikanischen Literatur jedoch als Amateure einzustufen sind. 5 Den scharfen Kontrast zur Mistral-Rezeption in der BRD markieren die zahlreichen Ausgaben von Pablo Neruda, Jorge Amado und Nicolás Guillén, die in der DDR erschienen - Autoren, die im Adenauer-Deutschland der
5
Kurt Wais, Zwei Dichter Südamerikas. Gabriela Mistral - Römulo Gallegos, 1955; Hans Rheinfelder, Gabriela Mistral. Motive ihrer Lyrik, 1955.
9. Bilanz und Ausblick
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fünfziger Jahre unbekannt blieben. Diese Differenz verweist auf den Vorrang politischer Kriterien gegenüber ästhetischen. Die Frage nach "Bruch" oder "Kontinuität" in der Nachkriegshispanistik läßt sich vorläufig nicht eindeutig beantworten. Ein "Bruch" hätte die Erkenntnis vorausgesetzt, daß die bisherigen geistesgeschichtlich-idealistischen Erklärungsmodelle insofern prekär waren, als sie ein in großen Teilen irrationales, weil auf Wunschbildern basierendes Spanien-Image haben entstehen lassen, das sich leicht für externe Interessen korrumpieren ließ. Ob und inwiefern sich diese Einsicht durchsetzte oder ob dieses Image tradiert wurde, wäre durch entsprechende Textanalysen - also eine Fortsetzung dieser Studie - zu ermitteln. Fest steht, daß es insofern einen Neubeginn gab, als die junge Generation sich neuen Themen zuwandte und diese mit textkonzentrierten Methoden bearbeitete, die die diffusen Kategorien wie "Geist" und "Volk" hinter sich ließen.
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Abkürzungsverzeichnis
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