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German Pages 352 Year 2020
Katia Harbrecht, Karen Struve, Elena Tüting, Gisela Febel (Hg.) Die un-sichtbare Stadt
Edition Kulturwissenschaft | Band 195
Katia Harbrecht (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen im Projekt »Entzauberte Städte« und promoviert über Facetten, Strukturen und Funktionen des Wetters in französischen Kriminalromanen. Karen Struve (PD Dr. phil.) arbeitet als Research Managerin im Projekt »Anxiety Culture« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Für ihre Dissertation zur transkulturellen écriture beur wurde sie 2008 mit dem Prix Germaine de Staël ausgezeichnet und erhielt 2019 für ihre postkoloniale Studie zur französischen Aufklärung als Habilitationsschrift den Elise Richter Preis. Ihre Forschungs-, Lehr- und Publikationsschwerpunkte liegen in der postkolonialen und poststrukturalistischen Literatur- und Kulturtheorie, den frankophonen Literaturen des 18. bis 21. Jahrhunderts sowie der italienischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Elena Tüting (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der französischen Literaturwissenschaft an der Universität Bremen und promoviert über die urbanen Räume aus der Perspektive von sans domicile fixe in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur. Gisela Febel (Prof. Dr.) ist Professorin für Romanistik, Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsliteraturen Frankreichs und der Frankophonie sowie der postkolonialen Räume, Epistemologie, Poetik und Literaturtheorie, Literatur und Philosophie.
Katia Harbrecht, Karen Struve, Elena Tüting, Gisela Febel (Hg.)
Die un-sichtbare Stadt Urbane Perspektiven, alternative Räume und Randfiguren in Literatur und Film
Wir danken der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen für die Förderung des Fokusprojekts »Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration im französischsprachigen Gegenwartsroman«, auf das der vorliegende Band zurückgeht. Unser Dank gilt außerdem dem Forschungsverbund »WoC – Worlds of Contradiction« an der Universität Bremen für den Druckkostenzuschuss.
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Inhalt
Un-sichtbare Städte Einführende Überlegungen
Gisela Febel, Katia Harbrecht, Karen Struve und Elena Tüting | 7
DIE UN-SICHTBARE STADT. RÄUME – PERSPEKTIVEN – RANDFIGUREN IN LITERATUR UND FILM Labyrinth und Netz Stadtmodelle, Stadtmetaphern
Matthias Hennig | 53 Reiche der Buddleja Das terrain vague als Raum des Ästhetischen
Andreas Mahler | 73 Die Rekolonisierung der Stadt durch den postkolonialen Flaneur in L’Abyssinie von Corinne Dufosset (2016)
Elena Tüting | 91 Die sicht- und doch unsichtbare Stadt Ethnoscapes und die Funktionen von Raumkonzepten in aktuellen Texten der Afroromania
Hanna Nohe | 107 Orillas/La Recoleta Die Zwittereinheit terrain vague/Heterotopie in den frühen Werken Jorge Luis Borges’
Irene Breuer | 125
UNSICHTBARE ZEITGESCHICHTE. BAHNHÖFE – RANDZONEN – POLITISCHE CHIFFREN Neapel zwischen De- und Regeneration Projektionen der Stadt in Ermanno Reas Napoli Ferrovia
Tobias Berneiser | 153
Temporalité précaire et prostitution ‚gay‘ L’adolescence et les lieux d’ombre de la vie citadine dans L’Homme blessé de Patrice Chéreau/Hervé Guibert (1983)
Verena Richter | 175 Sprechende Städte Zur Lesbarkeit urbaner Räume im Werk Cécile Wajsbrots
Melanie Koch-Fröhlich | 193 Ricardo Piglias La ciudad ausente Die „abwesende Stadt“ als Chiffre für den totalitären Staat
Matthias Hausmann | 209
UNSICHTBARE STÄDTE. ENERGIEN – WOLKEN – ATMOSPHÄREN Die Abgründe und Monster von Paris in Umberto Ecos Roman Il cimitero di Praga (2010)
Monika Schmitz-Emans | 237 Autopsie des Unsichtbaren Das energetische Feld des Londoner Ostens in Iain Sinclairs Lud Heat
André Otto | 261 Meteorologische Spurensuche in Paris
Katia Harbrecht | 283 Wolkenstädte Vom Babel-Phantasma Hugos zu den Cloud Cities Saracenos
André Weber | 309 Stadtwahrnehmung, Wettergeschehen und Lebensperspektive in Breslau während des Holocaust Eine Lektüre der Tagebücher von Willy Cohn
Annelies Augustyns | 323 Autorinnen und Autoren | 345
Un-sichtbare Städte Einführende Überlegungen Gisela Febel, Katia Harbrecht, Karen Struve und Elena Tüting
Der Raum ist nicht einfach gegeben, der städtische Raum ebenso wenig wie der Landschaftsraum. Wir erleben ihn, indem wir in die Stadt eindringen, sie durchschreiten, den Blick schweifen lassen, Entfernungen abschätzen, Bilder formieren, Verbindungen memorieren, Gebäude identifizieren, Menschen in ihrer Bewegung im Raum verfolgen und vieles mehr. Wir erkennen Stadtraum auch im Blick auf eine Karte, in der Fotografie von oben, aus der Straßenansicht, von einem Autodach oder in der Struktur eines Verkehrsnetzes. Oder wir erleben Stadt als Umfeld, als Lebensraum, als atmosphärische Einheit von Gerüchen, Wetterlagen, Lichtverhältnissen. Stadt kann auch der Raum von Demonstrationen und öffentlichen Versammlungen sein, der Ort der Arbeit oder des Müßiggangs, der Freizeit und des Konsums. Diese Stadtbilder und Erfahrungen sind sich nie gleich, wiewohl sie in Verbindung stehen und zusammen ein – durchaus subjektives, aber auch kollektives – Imaginarium darstellen. Stadt ist immer sichtbar und unsichtbar, weil konstruiert und real, repräsentiert und imaginiert. Der vorliegende Band will diesem Zusammenhang anhand literarischer und filmischer Darstellungen der Stadt im europäischen Raum genauer nachspüren.
STÄDTE. RÄUME. PASSAGEN Seit jeher erkundet der Mensch seinen Lebensraum auch im Raum der künstlerischen und literarischen Repräsentation. Dabei bedingen sich die literarischen Raumkonstruktionen und die Raumwahrnehmungen wechselseitig: Die literarischen Räume werden ebenso von räumlichen Kategorien, Selbstverortungen und Mustern räumlicher wie sozialer Ordnung geprägt wie diese auf die Wahrneh-
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mungsweisen des Raumes und damit die epistemologischen und phänomenologischen Voraussetzungen zurückwirken. Innere und äußere Räume, wie sie im Text selbst konstruiert, aber auch in ihrer Referenzbeziehung dargestellt werden, hängen immanent zusammen.1 Die Konstruktion ästhetischer Räume ist, um es mit Ernst Cassirer zu sagen, „keineswegs ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt; sondern sie ist ein ‚neues‘ Verhältnis, in das sich der Mensch zur Welt setzt.“2 Jenes ästhetische Verhältnis zur Welt, das wir in diesem Band in den Blick nehmen wollen und das in literarischen Konstruktionen von Stadtlandschaften und urbanen Lebensräumen in der Geschichte der Literatur immer wieder dargestellt und vielfach untersucht worden ist, zu erschaffen war im 19. und bis ins späte 20. Jahrhundert hinein ein Privileg der Schriftsteller. Sie rekrutierten sich im Wesentlichen aus gebildeten, oft intellektuellen, bürgerlichen oder gerade dem bürgerlichen Haus in die Bohème entflohenen Kreisen. Sie hatten die Stadt stets vor Augen, nutzten sie wie Émile Zola als Labor für (literarische) soziale Experimente3, als Allegorie einer dekadenten Zukunft wie Joris-Karl Huysmans 1884 in seinem Roman À rebours,4 als soziale Klammer in Balzacs Comédie humaine oder als Apotheose einer technologischen Teleologie, wie in der elektrifizierten Welt im Jahr 1960, in die uns Jules Verne in seinem Roman Paris au XXe siècle führt5 (1996 posthum erschienen). Wir Leser*innen schauen in die Bürgerhäuser der Stadtbewohner*innen wie in ihre Seelen hinein, wie der Teufel in Alain-René Lesages berühmten Roman Le diable boiteux von 1707, den 1
Vgl. Febel, Gisela/Struve, Karen: „La ville imaginée – L’imaginaire de la ville. Einleitende Überlegungen zu Stadtkonstruktionen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik“, in: Lendemains 142-143 (2011), S. 96-108.
2
Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ [1930], in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 485-499, hier S. 497. Seit einigen Jahren dringt der Raum als Kategorie der (nicht nur) literaturwissenschaftlichen Analyse unter dem Schlagwort des „spatial turn“ zunehmend in den Vordergrund. Vgl. zum Spatial turn in den Literaturwissenschaften: Bachmann-Medick, Doris: „Spatial turn“, in: Dies., Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt 2006, S. 284-328, bes. S. 308-312, sowie Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld: transcript 2017; und Döring, Jörg/Thielemann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008.
3
Vgl. Zola, Émile: Le Roman experimental, Paris: Charpentier 1902 [1880].
4
Huysmans, Joris-Karl: À rebours, Paris: Charpentier 1884.
5
Verne, Jules: Paris au XXe siècle, Paris: Hachette 1994 [posthum erschienen, verfasst 1860].
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manche als ersten Stadtroman bezeichnen,6 unter die Dächer von Madrid schaut. Der Stadtraum ist in der Geschichte der Literatur zugleich Schutzraum einer aufsteigenden Bürgerlichkeit und ihrer Intimität sowie Schauraum und Bühne ihrer Wirtschaft, ihres Erfolgs. Die Stadt als Cité, als Gemeinwesen und agonaler Raum, war stets ein politisches Dispositiv, das zwar auch heute noch in den selbstorganisierten heterotopen Räumen7 der Banlieues der Megacities eine wiederkehrende Rolle spielt, aber bereits in den ersten Stadtutopien von Christine de Pizan oder in der Abbaye de Thélème bei François Rabelais8 ein zentrales Modell von Gemeinschaft vorgibt. Die ersten literarischen Städte sind ein Ort der Neu- und Selbstverortung des mündigen Subjekts im Gemeinwesen, noch nicht der melancholischen Flanerie oder der lustvollen oder neurasthenischen Auflösung des Ichs in der Masse der Stadtbewohner. Deren Figuren verweisen dabei auf subjektive und affektive Verortungen, noch nicht auf die „non-lieux“ der modernen Großstädte,9 in denen der Mensch seine Ortsbindung verloren hat, kein Gemeinwesen mehr lokal definiert 6
Lesage, Alain-René: „Le Diable Boiteux“, in: Romanciers du XVIIIe siècle, Bd. I, Paris: Gallimard 1960, S. 267-490 [1707, erweiterte Endfassung 1726]; vgl. CorbineauHoffmann,
Angelika:
Kleine
Literaturgeschichte
der
Großstadt,
Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, und dies.: Brennpunkt der Welt, Bielefeld: Schmidt 1991. 7
Vgl. Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“, in: J. Dünne/S. Günzel (Hg.), Raumtheorie (2006), S. 317-327 [Original: „Des espaces autres“ [1967], in: Ders., Dits et écrits 1954-1988, Bd. IV, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 1994, S. 752-762], sowie Febel, Gisela: „Non-lieux und Heterotopien im französischen Gegenwartsroman und -film“, in: Gesine Müller/Susanne Stemmler (Hg.), Raum – Bewegung – Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen, Tübingen: Narr 2010, S. 195-204.
8
De Pizan, Christine: Le Livre de la Cité des Dames, Manuskript: Paris: Bibliothèque nationale de France, BnF 1178 [publiziert 1405]; Rabelais, François: „L‘Abbaye de Thélème“, in: Ders., Gargantua (édition établie dans: Œuvres complètes, présentée et annotée par Mireille Huchon; avec la collaboration de François Moreau), Paris: Gallimard 1994 (= coll. Bibliothèque de la Pléiade no 15), [erste Fassung 1534 oder 1535, Lyon: François Juste, endgültige Fassung 1542 als La vie treshorrificque du grand Gargantua, Lyon: François Juste, und als La Plaisante, et joyeuse histoyre du grand Geant Gargantua, Lyon: Etienne Dolet, beide 1542]. Die Darstellung der Stadtutopie der Abbaye de Thélème findet sich in den Kapiteln LII bis LVIII der Ausgabe von 1542 bzw. in den Kapiteln L bis LVI der Ausgabe von 1535.
9
Vgl. Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992.
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ist und die Spezifik des Ortes sich in der Austauschbarkeit auflöst. Es geht nicht um konkrete Topografien, wenn der Roman einzelne Orte und Namen nennt, sondern, wie Volker Klotz ausführt, um moralische Symbolik. 10 Lokalisierung und Ortsangaben erzeugen einen Rahmen für die symbolische Interpretation des urbanen Raums, die wiederum historisch wandelbar ist. In der literarhistorischen Perspektive zeigt sich die in der Literatur der Neuzeit formulierte Stadt als Zeichen der Hybris und als Sündenpfuhl, wie sie seit der biblischen Schilderung Babylons Eingang in die Literatur gefunden hat.11 Der frühen Abwertung städtischen Lebens und dessen niederen Personals, die oft in idyllischen und bukolischen Texten kontrafaktisch bearbeitet wird, schließt sich spätestens in der Romantik ein affektiver Gegenpol an, in dem Bewunderung und Stadtverliebtheit zu einer Idealisierung der Stadt führen. So zeichnet Karlheinz Stierle in seinem Buch über den Mythos der Stadt Paris im 19. Jahrhundert nach, wie Pariser Stadtgeschichte zugleich europäische Geistesgeschichte ist.12 Wolfgang Matz resümiert seine Argumentation so: „Zumindest bis ins 19. Jahrhundert war die Geschichte des Mythos von Paris zugleich auch die intellektuelle Geschichte jenes ‚Laboratoriums der sich verwirklichenden Vernunft‘, in dem die Moderne zu ihrem eigenen Begriff fand und zu ihrem Mythos. Tatsächlich war Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, und indem ihr Karlheinz Stierle den Spiegel vorhält, erkennt die Gegenwart am Ende auch sich selbst. Sich selbst, das heißt: die Grundfiguren des modernen Bewußtseins, das in jener Epoche entstand – in Paris.“13
Neben den Bildern der städtischen Dekadenz im 19. Jahrhundert zeigt sich in den historischen literarischen Texten immer auch der Stolz auf die Größe und Macht der Städte. Die Kultur schaffende, technologische und zivilisatorische Leistung 10 Vgl. Klotz, Volker: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans, München: Hanser 1969, – bis heute einer der wenigen Klassiker zu diesem Thema. 11 Vgl. Bottin, Jacques/Calabi, Donatella (Hg.): Les étrangers dans la ville. Minorité et espace urbain du bas Moyen Âge à l’époque moderne, Paris: Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 1999, und Frenzel, Elisabeth: „Die Stadt“, in: Dies., Motive der Weltliteratur, Stuttgart: Kröner 1999, S. 667-681. 12 Vgl. Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München: Hanser 1993; vgl. zur Verschränkung von Stadtmythos und Migration auch: Nissen, Laila: Mythos fremde Metropole. Paris und New York in der lateinamerikanischen Erzählliteratur, München: Meidenbauer 2011. 13 Matz, Wolfgang: „Laboratorium der Moderne. Karlheinz Stierle über den Mythos von Paris“, in: Die ZEIT 49 (1993), verfügbar unter https://www.zeit.de/1993/49/labora torium-der-moderne.
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des Menschen wird in der Intensität der Stadtdarstellungen aufgewertet und die Bedeutung der urbanen Entwürfe als Utopien von idealer Gemeinschaftlichkeit ist bis heute unbestritten. Die – westliche – Großstadt des 19. und 20. Jahrhunderts ist jedoch auch immer in Bewegung. Sie ist eine Bühne, ein Netzwerk, ein Labyrinth, ein Geflecht von Verbindungen und Quergängen – wie sie Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk14 beschreibt – von Durchgängen und Hauptstraßen, Kommunikationsorten wie Cafés und Parks: Es entsteht peu à peu ein metropolitaner urbaner Raum, der in großen strategischen Perspektiven neu aufgebaut und gestaltet wird – die Stadtplanung hält mit Haussmann und den großen Boulevards Einzug in Paris – und durch den Blick des Flaneurs in Besitz genommen wird. Der Flaneur ist eine (späte) Figur des Widerstands gegen die industriell geforderte Beschleunigung der Zeit. Denn Bewegung in der Stadt impliziert auch Geschwindigkeiten und Zeitabläufe, die im historischen Wandel die urbane Lebenserfahrung verändern. So ist der Bürger unter den Bedingungen der wachsenden Metropolen ein zunehmend getriebener und gehetzter. Georg Simmel formulierte um 1900 die Theorie von der Steigerung der Wahrnehmungsdichte in der Großstadt und der damit verbundenen Entwicklung von Schutzmechanismen. 15 Er erklärt, dass der Städter gegen die erhöhte Menge von Wahrnehmungseindrücken die für ihn so typische Blasiertheit entwickle. Der Stadtmensch habe nur die Wahl zwischen nervlicher Überforderung, die damals Neurasthenie genannt wurde, und einem blasierten Unbeteiligtsein. Der Flaneur hingegen stemmt sich durch Langsamkeit – heute würde man vermutlich von Entschleunigung sprechen – gegen das urbane Technologie- und Fortschrittsprimat. „1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff des Flanierens in den Passagen“,16 schreibt Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, und notierte in der Berliner Chronik die Sentenz: „nie und haste nie, dann haste nie
14 Vgl. das Passagen-Werk von 1927-1940, posthum erschienen: Benjamin, Walter: Berliner Chronik, Sammlung von Beiträgen über Berlin, Neuausgabe, hg. v. Karl Maria Guth, Berlin: BoD 2016 [1932; Vorläufer der Berliner Kindheit um neunzehnhundert]. 15 Vgl. Simmel, Georg: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Karl Bücher et al. (Hg.), Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (= Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Band 9), Dresden: Zahn & Jaensch 1903, S. 185-206. 16 W. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 532.
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Neurasthenie”.17 Neurasthenie – oder Hysterie – wurde zu einer typisch modernen Krankheit, die mit dem neuen Zeitstress einherging.18 Auch die gegenwärtigen Figuren des Flanierens sind Zeichen der Inbesitznahme von städtischem Raum und zugleich Verweigerung der festen strukturellen Vorgaben von Arbeit und Zeit, wie es z.B. die erzählenden „Flaneusen“ in der Anthologie Flexen. Flaneusen* schreiben Städte von 201919 vorführen. Die ziellose Bewegung in der Stadt kann bis heute als eine Sinn-Suche, eine Wissensform oder als eine Reflexionsform verstanden werden, ja sogar als ein „Denkstil“. 20 Maria E. Brunner bezeichnet in ihrer Untersuchung zum Palermo-Roman von Vincenzo Consolo die „Stadt als mentalen Ort“.21 Stadtraum in der Literatur zu erfahren, bedeutet spätestens seit Baudelaire, sich in ihm zu bewegen, scheinbar interesselos die eigene Bewegung, die Menschenmenge, die Passanten, auch die Verlierer der Moderne, die Blinden und Versehrten, wahrzunehmen und sich dazu in ein ästhetisches Verhältnis zu setzen. Mit Charles Baudelaire starren wir auf die Blinden als die puppenhaften Außenseiter der Gesellschaft, Ergebnis einer Exklusion, die dem Prinzip der Entzauberung der Welt – ohne göttliche Inspiration – folgt. Sie sind Stadtbewohner, denen es nicht gelingt, friedliche Flaneure mit dem Blick auf die Straße zu werden. Der urbane Raum, die personalisierte Cité in Baudelaires Gedicht, ist hingegen ein einziges Vergnügungsloch, ein Ort der Spaßgesellschaft, ein lauter, anziehender und zugleich abstoßender Ort der Sinne und der Lüste, in der das Subjekt nur noch dahinvegetiert: „Ô Cité! / Pendant qu'autour de nous tu
17 Benjamin, Walter: Berliner Chronik, Sammlung von Beiträgen über Berlin, Neuausgabe, hg. v. Karl-Maria Guth, Berlin: BoD 2016. [1932; Vorläufer der Berliner Kindheit um neunzehnhundert], S. 13. 18 Vgl. Stöbe, Sylvia: „Der Flaneur und die Architektur der Großstadt. Der Flaneur als Mythos und als Phantasmagorie der Moderne“, Vortrag zur Erlangung der „Venia Legendi“ an der Universität Kassel am 07. Dezember 1998, verfügbar unter www.unikassel.de/fb6/stoebe/Flaneur.pdf, S. 5. 19 Dünar, Özlem Özgul et al. (Hg.): Flexen. Flaneusen* schreiben Städte, Berlin: Verbrecher Verlag 2019. 20 Vgl. Gebhardt, Winfried/Hitzler, Ronald (Hg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden: Springer 2006. 21 Brunner, Maria E.: „Die Stadt als mentaler Ort. Gestaltung von Stadtwahrnehmungen des Verfalls in Palermo. Der Schmerz von Vincenzo Consolo“, in: Dies. (Hg.), Geschichte und Zeugenschaft. Literatur als Seismograph von Kulturen und Gesellschaftsformen der Gegenwart, Würzburg: Könighausen & Neumann 2016, S. 169-195.
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chantes, ris et beugles, / Éprise du plaisir jusqu'à l'atrocité, / Vois! je me traîne aussi! …“22 Die Stadt ist zudem der Raum der Begegnung mit dem Fremden; sie ist Allegorie der Zivilisation oder deren Niedergangs, Ort der Gemeinschaft als Utopie oder deren Scheiterns als Dystopie. Die Repräsentationen urbaner Räume stehen daher nicht nur in einem Wechselverhältnis mit den Selbstkonstruktionen des starken Individuums (à la Nietzsche), wie es der Flaneur präfiguriert, sondern sie bringen die Bindungskraft und die Exklusionsmechanismen von Kollektiven zum Ausdruck und fungieren oft als Räume ethischer und moralischer Gerichtsbarkeit für die Lebensentwürfe der Menschen. So tritt die Stadt etwa als Ort der Sünde und der menschlichen Abgründe hervor, wie bei Eugène Sue23 oder bei Baudelaire, oder als Erinnerungsraum fast vergessener Verbrechen, auf deren Spur im 20. Jahrhundert Patrick Modianos Erzähler in vielen seiner Romane durch die Straßen wandert. Im 20. Jahrhundert werden die urbanen Räume zunehmend Passagenräume und dies geschieht nicht bzw. nicht nur durch städtebauliche Maßnahmen, sondern auch durch die Veränderung des Blicks der literarischen Erzähler*innen. Stadtleben wird als Analogon eines fragmentierten Lebens auf der Suche, eines ambivalenten, zerrissenen und absurden Lebensgefühls verstanden und drückt so die Krise des modernen Subjekts in besonderer Weise aus. Dies gilt – um nur einige wenige zu nennen – von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) bis zu Carlos Fuentes La región más transparente (1958) über Mexiko-Stadt, von James Joyce Ulysses (über Dublin, 1922), bis zu John Dos Passos Manhattan Transfer (1925), von Patrick Chamoiseaus karibischer Metropole in Texaco (1992) über Paul Austers New York-Trilogie (1985-1987)24 bis zu Zadie Smiths postkolonialem London in ihrem Roman White Teeth (2000). Der Flaneur im Übergang von der Moderne zur Postmoderne ist, wie Stephanie Gomolla resümiert, bestimmt durch das Spiel von Distanz und Nähe, Unangepasstheit und der Fähigkeit, die Welt zu lesen.25 22 Baudelaire, Charles: „Les aveugles“, in: Ders., Les Fleurs du Mal, Paris: PouletMalassis et de Broise 1861, S. 214. 23 Vgl. Sue, Eugène: „Les Mystères de Paris“, in: Le Journal des Débats (19. Juni 1842 bis 15. Oktober 1843) [Buchausgabe: Paris: Gosselin 1842-43]. 24 Paul Austers Trilogie besteht aus den Romanen City of Glass (1985), Ghosts (1986) und The Locked Room (1987). 25 Vgl. Gomolla, Stephanie: Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne. Würzburg: Könighausen & Neumann 2009; vgl. auch: Neumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999; Genazino, Wilhelm: „Vom Flaneur zum Streuner“,
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Es zeichnet sich bis heute ein Wandel zu fragmentierten Stadträumen mit Erzähler*innen in einer inkohärenten oder ziellosen Bewegung und auf Irrwegen ab. Raum ist zunehmend im Sinne von Michel de Certeau ein Raum als Passage, als Übergang, Streifzug, Choreografie. De Certeau erklärt den Raum zu einem „Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt“ 26. De Certeaus Abhandlung ist für die Analysen von literarischen Texten und Filmen über die Stadt, wie sie der vorliegende Band vornimmt, auch insofern bedeutsam, als er Gehen und Erzählen „als zwei dominante raumbildende Handlungen erörtert […], beide setzen und verschieben Grenzen und transformieren Orte in Räume.“27 Die raumbildende Praxis besteht bei beiden Handlungen in der Verbindung von Orten, die miteinander in Beziehung gebracht werden und auf diese Weise Räume erzeugen. Daher vergleicht de Certeau Geschichten mit jenen – den Namen metaphorai tragenden – kommunalen Verkehrsmitteln Athens: „Auch die Geschichten könnten diesen schönen Namen tragen: jeden Tag durchqueren und organisieren sie Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.“28
Die metaphorischen Terminologien, die symbolischen Bilder und die Konzepte für die urbanen Räume haben sich der Dynamik und der konstruktivistischen Entwicklung der aktuellen Stadtnarrative ebenfalls angepasst und es tauchen Begriffe für die heutigen urbanen Erfahrungsräume auf wie Non-lieux, Labyrinthe, U-Bahn-Netze, Kanalsysteme und andere Untergrundstrukturen, Szenen, Bannmeilen, No-go-Areas, Flash-Mob-Meetings, neue Ghettos, Containerisierung und Homelands, Gentrifizierung, terrains vagues, Brachen etc., die in den Beiträgen
in: Ders., Die Belebung der toten Winkel, München/Wien: Hanser 2006, S. 87-107; Drohsel, Karsten Michael: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse, Bielefeld: transcript 2016. 26 De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 189 [Original: „Pratiques d’espace“, in: Ders., L’invention du quotidien I: Arts de faire, Paris: Gallimard 1990 [1980], S. 137–191]. 27 Vgl. Strohmaier, Alexandra: „Zur Konstitution des Raumes durch diskursive und performative Praxis“, in: Marijan Bobinac/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes in ihrem deutschsprachigen Kontext, Tübingen/Basel: Francke 2008, S. 25-39, hier S. 29. 28 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 215.
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des vorliegenden Bandes erläutert und an literarischen und filmischen Texten exemplifiziert werden.
UNSICHTBARE STADT. IMAGINIERTE STADT Der titelgebende Terminus der „unsichtbaren Stadt“ ist nicht ganz neu, wenn auch bislang eher unscharf und wenig reflektiert. Wir schließen den Begriff an die Beobachtung von Andreas Mahler an: Denn Mahlers literaturhistorische Einteilung von 1999 scheint sich heute noch zu bestätigen, insofern er „einen langgreifenden Wandel textueller Stadtdarstellung“ konstatiert, der „von der allegorischen Wiederholung über die ‚realistische‘ Nachahmung bis hin zur kreativen Befreiung im Zeichen des Imaginären“ verläuft.29 Nach Mahler zeigen die Stadtromane eine deutliche Doppelfunktion, d.h. zum einen als „Stadttexte“, also in ihrer Referentialität, zum anderen als „Textstädte“, also in ihrer semantischen Stadtkonstitution.30 Das Konzept der „un-sichtbaren Stadt“ knüpft vor allem an die semantische und semiotische Konstruktivität von urbanem Raum an. Wir wollen uns in diesem Band über die „un-sichtbare Stadt“ einer Reihe von Texten und Filmen zuwenden, die zwar Stadt durchaus als einen urbanen Raum im Zeichen des Imaginären verstehen, aber keineswegs als den klassischen Rahmen für das Engagement der gesellschaftlich sanktionierten Intellektuellen und Kreativen in der Bevölkerung, den Nachkommen des modernen Wohlstandsbürgertums. Die heute oft so genannte „kreative Stadt“ zielt auf eine sinnvolle und ästhetische Nutzung der städtebaulichen Zwischenräume, die jedoch nichts mit dem Ernst der Überlebenssituation in der Illegalität oder der Prekarität zu tun hat. Auch die politische Aneignung urbaner Freiräume31 zielt auf die Rechte der Meinungsfreiheit und des Freiraums als öffentlichen Raum und als geteilter Sphäre der durchaus ‚sichtbaren‘ Bürger*innen.
29 Mahler, Andreas: „Vorwort“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 7-8, hier S. 7. 30 Vgl. Mahler, Andreas: „Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder (1999), S. 11-36. 31 Vgl. Hauck, Thomas E./Hennecke, Stefanie/ Körner, Stefan (Hg.): Aneignung urbaner Freiräume, Bielefeld: transcript 2017.
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Der Topos der „unsichtbaren Stadt“ wird von Gabriele Schabacher in ihrem Aufsatz Unsichtbare Stadt. Zur Medialität urbaner Architekturen32 zugespitzt auf das Moment des „Netzhaften“ – also weg von der Extension der Bauten und Straßen und hin zu einem Begriff des Dispositivs oder zu einer innen wie außen dynamischen Struktur. Als Beispiel dient ihr hierfür das u.a. von Bruno Latour gestaltete Online-Projekt Paris. Ville invisible von 2004, das auf ein Buch von 1998 zurückgeht und weitere Ausstellungsvariationen 2011 und später erfahren hat.33 Im Mittelpunkt dieses Projekts steht die epistemologische Frage nach der Darstellbarkeit dieses beweglichen und machtdurchzogenen Dispositivs Stadt, das von dem, was Latour „Oligoptiken“ (Kontrollpanels von Stromerzeugern, Verkehr, Wasserwerke, Bebauungspläne etc.) nennt, perspektivisch vielfach bestimmt wird. Die Verflechtungen der Akteur*innen, Interessen, Vor-Bildern etc. verhindern, nach Latours Ansicht, einen – oder zumindest einen einzigen – privilegierten Zugang zur Sichtbarkeit der Stadt. Damit erhält die Frage nach der grundsätzlichen Sichtbarkeit oder Sichtbarmachung des Netzwerks Stadt auch eine politische Dimension, wie Gabriele Schabacher unterstreicht.34 Seit einigen Jahren ist auch von einer neuen Urbanität die Rede; insbesondere das Konzept der „kreativen Stadt“ hat Konjunktur, womit nicht zuletzt neue Formen der kulturellen und künstlerischen Nutzung gemeint sind. Andreas Reckwitz konstatiert: „Das Schlagwort der creative city ist allgegenwärtig. Wenn seit den 1990er Jahren von einer Renaissance der Städte die Rede ist, dann wird diese an der Schnittstelle von politischen, medialen und sozialwissenschaftlichen Debatten regelmäßig mit dem Begriff der ‚kreativen Stadt‘ verknüpft […] – überall scheint die im Zeichen der Suburbanisierung totgesagte Urbanität europäischer Prägung sich neu zu etablieren und überall scheint ‚Kreativität‘ und ‚Kultur‘ dabei eine Leitfunktion zuzukommen.“35 32 Schabacher, Gabriele: „Unsichtbare Stadt. Zur Medialität urbaner Architekturen“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaften 12.1 (2015), S. 79-90, verfügbar unter https:// www.diaphanes.net/titel/unsichtbare-stadt-3258. 33 Vgl. Latour, Bruno: Paris. Ville invisible, Online-Projekt von 2004, weitere Ausstellungsvariationen 2011 und später, verfügbar unter http://www.brunolatour.fr/virtual/, Buchversion: Latour, Bruno/Hermant, Emilie: Paris ville invisible, Paris: Les Empêcheurs de penser en rond & Le Seuil 1998. 34 Vgl. G. Schabacher: Unsichtbare Stadt. 35 Reckwitz, Andreas: „Die Selbstkulturalisierung der Stadt. Zur Transformation moderner Urbanität in der ‚creative city‘“, in: Ders., Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript 2016, S. 155-184, hier S. 155.
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Allerdings ist dies, so Reckwitz weiter, allzu oft eine neoliberale Inszenierung der creative industries36 und die Entwicklung zur zeitgenössischen ‚Kulturstadt‘ mit ihren als Bistro gestylten Straßencafés, den Pseudo-Altstadtrestaurationen und den Vernissagen der sich etablierenden Kunstszene, die eine Art „Neo-Bohème“37 schafft, folgt meist dem Bedürfnis der bürgerlichen Mittelschicht nach vermeintlich ‚authentischer‘ Urbanität. Diese neue Urbanität des Bürgerlichen steht in einem Gegensatz zu dem, was wir hier vorrangig beschreiben wollen. Wir interessieren uns für das Andere dieser durch Kulturindustrien gefertigten creative city und deren Bewohner*innen. Jenes Andere, der Gegensatz zum städtischen Leben ist aber nun nicht länger das Landleben, sondern vielmehr die Existenz an den Rändern, in den nicht in dieser Weise gentrifizierten oder urbanisierten Räume, wie auch Reckwitz folgert: „Die eigentliche Differenz im globalen Raum des Urbanen besteht zwischen den kulturorientierten Städten mit ihrer erfolgreichen kulturorientierten Gouvernementalität und jenen, für die diese Selbstkulturalisierung außerhalb ihrer Möglichkeiten ist: die urbanen Brachen, die schrumpfenden Städte, die Industrieruinen und ihre Bewohner […]; schließlich die unsichtbaren Städte des Südens, vor allem in Afrika und Teilen Asiens, die kaum je auf dem medialen Bildschirm der creative cities Europas, Amerikas oder Ostasiens erscheinen.“38
Die neue Urbanität ist von einer zunehmenden Diversität, nicht nur, aber auch durch Migration, gekennzeichnet. Keine Großstadt der Welt ist heute zu denken ohne permanente und schwer zu erfassende, geschweige denn zu kanalisierende
36 Vgl. ebd., S. 174ff. 37 Vgl.: Zukin, Sharon: Loft Living: Culture and Capital in Urban Change, New Brunswick: Rutgers University Press 1989; Llyod, Richard D.: Neo-Bohemia. Art and Commerce in the Postindustrial City, London/New York: Taylor & Francis 2005. 38 A. Reckwitz: Die Selbstkulturalisierung der Stadt, S. 184. Vgl. auch das Konzept der Ab-Orte, in dem die exkludierten Bewohner*innen als Abjekte leben: „Wie das Abjekt nicht mehr Subjekt und noch nicht Objekt ist, bewegt sich auch der Ab-Ort im Dazwischen, dem unbestimmten Bereich der Ent-Ortung. […] Ab-Orte sind fluide und bleiben im Vagen. Sie sind abseits, sowohl räumlich als auch zeitlich, physisch wie psychisch. Sie sind Orte der Suche und selbst auf der Suche. Ab-Orte sind Orte, die Identität stiften und verwerfen, verwerfen und stiften – und das ununterbrochen.“ (Martin, Silke/Steinborn, Anke: „Von Ab-Orten und (De)Lokalisierungen“, in: Dies. (Hg.), Orte. Nicht-Orte. Ab-Orte. Mediale Verortungen des Dazwischen, Marburg: Schüren 2015, S. 7-10, hier S. 10)
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Migrationsströme: geflüchtete Menschen unterschiedlichster Herkünfte, Arbeitsmigrant*innen auf Zeit oder auf Dauer, moderne Nomaden, wandernde Obdachlose, etc. Transnationale Familien und andere Verbindungen sind nicht selten die Folge, die wiederum Reisebewegungen, Tourismus und weitere Migration nach sich ziehen können. Die Städte werden zunehmend „Multiples Landscapes“,39 in denen Migration eine bedeutsame Rolle spielt, auch wenn sie in das Oberflächenkonzept der creative city nicht recht passen will (obwohl die Arbeitskraft der migrantischen Arbeiterschaft vom Baugewerbe über die Küchenhilfen bis zum Mülltransport sie ja allererst ermöglicht). Diese Diversität soll jedoch, wie Dirk Rupnow schreibt, „essential but invisible“ bleiben.40 Mark Terkessidis betont, dass eine Stadt heute – trotz der nach wie vor beharrlich vertretenen Ansicht, die europäische Stadt sei ein „wohlgeordneter Container“, – viel eher einem ‚Knotenpunkt‘ in einem transnationalen Gewebe“ ähnelt.41 „Da die Familien von Einwanderern grenzüberschreitend leben und diese Transnationalität durch beschleunigte Reise- und Kommunikationswege aufrecht erhalten bleibt, wird die Stadt zu einer ‚Parapolis‘, zu einem vagen Gebilde, das weit über die Stadtgrenzen hinausreicht.“42
Der Realität der offenen Gesellschaft einer „Parapolis“ steht jedoch eine imaginierte westliche Stadt gegenüber, die sich auf der Grundlage des bürgerlichen Gemeinwesens und mithilfe der neuen Technologien und Kommunikationsmöglichkeiten zu einer „Smart City“ entwickelt. Sybille Frank und Georg Krajewski stellen 2018 fest, dass „die Smart City […] eine der wirkmächtigsten Leitideen [ist], die im letzten Jahrzehnt das Denken und Handeln von Stadtplaner*innen, Immobilienentwickler*innen und zuständigen Stadtverwaltungen
39 Vgl. Antenhofer, Christina et. al. (Hg.): Cities as Multiple Landscapes. Investigating the Sister Cities Innsbruck and New Orleans, Frankfurt a.M.: Campus 2016. 40 Rupnow, Dirk: „Essential but invisible: Migration as part of urban and general history“, in: Christina Antenhofer et. al. (Hg.), Cities as Multiple Landscapes (2016), S. 441-458. 41 Terkessidis, Mark: „Komplexität und Vielheit“, in: Marc Hill/ Erol Yildiz (Hg.), Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld: transcript 2018, S. 73-80, hier S. 75. 42 Ebd. (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006.
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beeinflusst hat.“43 Die Probleme heutiger Megacities sollen – so die Hoffnung – durch smarte, vorwiegend digitale Technologien gelöst werden. Dies geht, wie Frank und Krajewski zeigen, mit einer Pathologisierung der Stadt einher, die anknüpft an Krisendiskurse zum Urbanen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. 44 Zugleich wird versucht, durch einseitige rationalisierte, technologische Lösungen für Probleme der Oberfläche wie Verkehrsfluss, Transportwege, Kommunikationsnetze, Entsorgungsmodalitäten etc. ein gesichertes Wohlbefinden in der urbanen Umgebung zu schaffen. „Urbanität als Lebensform“ jenseits des Technologischen, wie sie schon 1938 der US-amerikanische Soziologe Louis Wirth als eine „besondere Form des menschlichen Zusammenlebens in Gruppen“ erfasste45, gerät jedoch so aus dem Blick und dies geht besonders zu Lasten der sozial Schwächeren, der Marginalisierten, derjenigen, die nicht an der digitalen Stadt partizipieren können. Die schon seit Georg Simmel als Großstadtgefühl artikulierte Lebensform der Urbanität beruht, wie Wirth betont, vielmehr auf speziellen psychologischen und psychosozialen Faktoren und impliziert insbesondere eine Grundhaltung der Toleranz und die Begrüßung von Diversität: „Als typisch städtische Haltungen benannte Wirth in Übereinstimmung mit Georg Simmels grundlegendem Text ‚Die Großstädte und das Geistesleben‘ von 1903 […] Persönlichkeitsmerkmale wie Sachlichkeit, Distanziertheit, Reserviertheit und ausgeprägten Individualismus, aber auch einen Zugewinn an persönlicher Freiheit durch den Abbau sozialer Kontrolle und großzügigste Toleranz: ‚Die Konfrontation divergierender Persönlichkeiten und Lebensformen schafft im allgemeinen eine relativistische Betrachtungsweise und ein Gefühl der Toleranz Unterschieden gegenüber […].“46
Die neuen globalen Städte reservieren dieses Lebensgefühl allerdings zunehmend für eine Gruppe der Happy Few oder bestenfalls für die obere bürgerliche Mittelschicht und um den Preis der baulichen Abschottung in gesicherten Statteilen und Siedlungsgebieten. Am Beispiel des südafrikanischen Architekten George Hazeldon und seiner gesicherten, zugleich utopischen und klaustrophobischen 43 Frank, Sybille/Krajewski, Georg: „Smarter Urbanismus und Urbanität“, in: Sybille Bauriedl/Anke Strüver (Hg.), Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, Bielefeld: transcript 2018, S. 63-74, hier S. 63. 44 Vgl. ebd., S. 65ff. 45 Wirth, Louis: „Urbanität als Lebensform“ [1938], in: Ulfert Herlyn (Hg.), Stadt und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung, München: Nymphenburger 1974, S. 42-66, hier S. 44. 46 S. Frank, Sybille/G. Krajewski: Smarter Urbanismus und Urbanität, S. 69, Zitat von L. Wirth, Urbanität als Lebensform, S. 55.
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Stadtentwürfe zeigt Zygmunt Baumann auf, wie die bürgerliche imaginäre urbane Gemeinschaft sich als „abgespeckte Utopie, heruntergekocht auf das Format der unmittelbaren Nachbarschaft“47 erweist und radikale Formen der Überwachung in der Smart City hervorbringt: „Die Gemeinschaft […] ist zuallererst, wenn nicht ausschließlich, ein dicht überwachtes Territorium, wo alle, die sich abweichend verhalten und die man daher ablehnt, sofort bestraft und wieder auf gemeinschaftlichen Kurs gebracht wurden – Bettler, Vagabunden und andere Eindringlinge, die ‚nicht hierher gehören‘ dürfen entweder gar nicht herein oder werden verjagt.“48
Zugleich tun sich zwischen den abgesicherten Territorien, den ‚smarten‘ Stadtvierteln, den ‚zivilisierten‘ kreativen Bereichen, „Leerräume“49 auf, die anders besetzt werden können und sich der bürgerlichen Funktionalisierung weitgehend entziehen. Es sind bestenfalls Durchgangsorte, die man – die städtische Mehrheitsgesellschaft – rasch zu durchqueren und wieder zu verlassen sucht. An diesen Orten werden keine Differenzen ausgehandelt, sie sind in gewisser Weise unsichtbar, weil sie als leer, also bedeutungslos für die bürgerliche Nutzung, die Immobilienspekulation, die industrielle Verwertung oder die digitale Einbindung, erscheinen, wie Baumann argumentiert: „Leer sind diese Räume in erster Linie in Hinblick auf ihre Bedeutung. Nicht daß sie bedeutungslos wären, weil sie leer sind: Sie erscheinen leer (oder genauer gesagt: unwahrnehmbar), weil sie keine Bedeutung tragen […]. An derart bedeutungsresistenten Plätzen stellt sich nie das Problem, Unterschiede auszuhandeln: Es ist keiner da, mit dem man etwas aushandeln könnte. […] Die Leerräume […] sind unkolonisierte Orte; Orte für die sich weder die Gestalter, noch die Manager, die den Strom gelegentlicher Nutzer steuern, interessieren. Es sind die Orte, die übrig geblieben sind, nachdem alle anderen Plätze, die man für wichtig erachtet, eine Struktur erhalten haben: Ihre geisterhafte Präsenz entfaltet sich im Niemandsland zwischen strukturierter Eleganz und dem Chaos der Welt.“50
47 Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [Original: Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000], S. 111. 48 Ebd. 49 Vgl. Kociatkiewicz, Jerzy/Kostera, Monika: „The Anthropology of Empty Spaces“, in: Qualitative Sociology 22 (1999), S. 37-50, verfügbar unter https://doi.org/10.1023/A: 1022131215755. 50 Z. Baumann: Flüchtige Moderne, S. 123f. (Hervorhebung im Original).
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Doch wäre da zu fragen: ist wirklich keiner da? Sind die Räume immer und zu allen Tages- und Nachtzeiten leer? Gibt es neue, andere Kolonisierung des nur scheinbar oder nur phasenweise und vorübergehend leeren Raumes? Geisterhafte Leerräume, „unwahrnehmbare“ Durchgangsorte als un-sichtbare Zwischenräume der sich als kreativ, smart, geschützt und zivilisiert imaginierenden (zumeist westlichen) Großstadt, bieten sich an für eine andere Nutzung, das Squatten, den flüchtigen Straßenhandel, die Pop-Up-Friseurdienstleistungen, die nächtlichen Gebäudewächter am Rande der Legalität, die Übernachtungsquartiere der SDF oder der Migrant*innen ohne Wohnsitz oder Duldung, kurz für die Besetzung von jenen Stadtbewohner*innen, die die bürgerliche urbane Gemeinschaft allzu gerne ganz ausschließen möchte.
EINSCHLÜSSE. AUSSCHLÜSSE Das Gemeinwesen der Stadt produziert wie alle Gesellschaftsbünde Einschlüsse und Ausschlüsse, deren Bewahrung eine bauliche – räumliche – Extension annehmen: die Festung. Schließlich ist die Stadt seit dem Mittelalter ein Ort des Schutzes des gemeinschaftlichen Lebens. Hier formiert sich das Selbstverständnis eines „Wir“, das durch die Stadtmauern vor dem „Anderen“ geschützt ist. Gleichwohl dringen Fremde durch die Stadttore ins Innere der Städte ein, so dass die Formulierung urbaner Kollektive immer wieder Neudefinitionen, Toleranzgeboten, aber auch Sanktionen unterliegt. Zygmunt Baumann sieht in der neuen abgeschotteten bürgerlich-urbanen Gesellschaft eine „Gemeinschaft, die sich nicht mehr über ihre Gemeinsamkeit, sondern über die scharfe Bewachung ihrer Grenzen definiert“.51 Seine Vision für die nahe Zukunft des städtischen Lebens ist durchaus pessimistisch und gründet in der Bobachtung, dass zunehmend eine „Politik der alltäglichen Angst“52 die Oberhand gewinnt, was sich nicht zuletzt nach der Flüchtlingskrise von 2015 und auch heute wieder allerorten beobachten lässt: „‚Verteidigungsgemeinschaften‘ mit bewaffneten Wächtern, kommerziellen Sicherheitsdiensten und kontrollierten Zugängen; Penner und Obdachlose als Staatsfeinde erster Ordnung; Überführung von öffentlichen Plätzen in Hochsicherheitstrakte, zu denen nicht jeder Zugang hat; ein öffentliches Leben, das nicht mehr auf Aushandeln, sondern auf
51 Z. Baumann: Flüchtige Moderne, S. 113. 52 Ebd.
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Segregation oder schlimmstenfalls Kriminalisierung von Differenzen beruht – das sind die grundlegenden Dimensionen, in denen sich das urbane Leben zur Zeit entwickelt.“53
Die neuen Metropolen wie die Megacities des Global South scheinen zusätzlich neue soziale Differenzen zu schaffen oder die vorhandenen zu zementieren. Andreas Reckwitz spricht von einer „charakteristischen Doppelstruktur postmoderner Urbanität von Oberfläche und Tiefenstruktur“: „An der sichtbaren Oberfläche findet sich die urbane Zelebrierung der ästhetischen Zeichen und Symbole, in der Tiefenstruktur hingegen jener Kapitalismus, der sich in der Postmoderne der Dimension symbolischer Waren bedient, der tatsächlich aber eine massive stadträumliche Segregation unterschiedlicher Klassen fördert. Tatsächlich liefern ja die längst jeglicher politischen Steuerung entzogenen, monströs verslumten megacities der Dritten Welt, die ‚schrumpfenden Städte‘ Mittel- und Osteuropas wie die ehemaligen Zentren Westeuropas und Nordamerikas sowie die – häufig von Migranten geprägten – Ghettobildungen am Rande der im Zentrum florierenden Kulturstädte vertraute Phänomene, die gemeinsam mit den creative cities insgesamt ein irritierendes Ensemble globaler Stadtentwicklung und spätmoderner Gesellschaft ergeben.“54
Nicht alle Menschen in der Stadt begreift die Gemeinschaft der Bürger*innen ein; es bleiben die Marginalisierten, die Wohnsitzlosen, die Geflüchteten, die Durchziehenden, die nicht selten ihre Hoffnungen auf die europäischen Metropolen setzen und allzu oft in ihnen nicht Fuß fassen können. Hieran schließt das diesem Band zugrunde liegende Forschungsprojekt zur Entzauberung der Metropole an, das sich unter dem Stichwort „Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur“ mit der aktuellen französischsprachigen Literatur von Migrant*innen und Menschen ohne festen Wohnsitz, Flüchtlingen und illegalen Einwanderer*innen beschäftigt und nach den Bildern und Lebenspraxen fragt, mit denen sie die urbanen Räume der europäischen Großstädte wahrnehmen, erleben und in ihnen überleben. Die Nachwuchsforscherinnengruppe aus den Doktorandinnen Katia Harbrecht, Elena Tüting und Katharina Ries beschäftigt sich unter der Leitung von Karen Struve und Gisela Febel damit, die Konstruktionen des urbanen Raums aus der Sicht der sozial marginalisierten Menschen sichtbar zu machen. Dazu verbinden wir migrations- und stadtsoziologische Ansätze, literarische und kulturwissenschaftliche Raumtheorien mit postkolonialer Kritik und semiotischen close readings, um die besonderen Topoi und Verfahren herauszuarbeiten, die diese Literatur verwendet. 53 Ebd., S. 113f. 54 A. Reckwitz: Die Selbstkulturalisierung der Stadt, S. 156 (Hervorhebung im Original).
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Im Mittelpunkt der Recherche stehen Texte der SDF (Sans domicile fixe) einerseits und der Sans-Papiers andererseits, sowie die Frage nach den Atmosphären in Texten zu den Schattenseiten der Stadt, insbesondere in Kriminalromanen. Ein weiterer Aspekt sind Fragen nach besonderen heterotopen Räumen wie Beauty Shops oder Squats, besetzten Häusern oder der (oft nächtlichen) Umnutzung von Industrieraum, Brachen oder terrain vague. Eine von der Forscherinnengruppe veranstaltete Tagung im Frühjahr 2018, in der diese Fragen auf weitere Literaturen bezogen und in ein internationales Diskussionsfeld getragen wurden, bildet den Grundstock des vorliegenden Bandes, der um weitere Beiträge ergänzt wurde. Es geht mithin darum, die Stadt aus der Perspektive und in der Nutzung und Konstruktion derer zu betrachten, die sie als Gemeinschaftsraum ausschließt, von jenen, denen die Stadt scheinbar nicht gehört und die sie sich dennoch aneignen und sie mitgestalten. Die Figuren der Texte wie ihre Autor*innen sind oft doppelt exkludiert, zum einen als illegale Stadtbewohner*innen, zum anderen als Subalterne, die – folgt man Gayatri C. Spivak55 – nicht zu Sprache und schon gar nicht zu Literatur autorisiert oder befähigt sind und kein Gehör finden. Die Vielzahl literarischer und kultureller Texte (Filme, Bücher, Theaterstücke etc.), die in den letzten 20 Jahren in dieser Autorschaft entstanden sind und durchaus auf eine interessierte Leserschaft treffen, straft diese Annahmen jedoch eindrucksvoll Lügen. Interessanterweise kann man seit den späten 1990er Jahren beobachten, dass Migrant*innen, Geflüchtete und Wohnsitzlose in Frankreich nicht nur die neuen Medien vermehrt nutzen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, sondern auch literarisch aktiv sind. Die Skala der Erzähltexte reicht von autobiografischen Dokumenten über autofiktionale Flüchtlingserzählungen bis zu komplexen literarischen Fiktionen. Daneben sind im selben Zeitraum eine Reihe von Romanen bekannter Autor*innen und eine größere Zahl von Jugendbüchern erschienen, die das Thema des Überlebens in der Stadt für illegale Migrant*innen, Familien und Geflüchtete und die Entzauberung der Metropolen thematisieren. In der bisherigen Forschung sind vor allem die utopischen oder die allegorischen Funktionen der Stadt gesehen worden. Mithin ist die Stadt, zumal die Großstadt oder Metropole, ein Anziehungspunkt für Wünsche, Hoffnungen, Ideale, aber auch Ort der Erfahrung von deren Scheitern. Diese Attraktivität der urbanen Zentren in Europa wiederholt und potenziert sich in gewisser Weise in den
55 Vgl. Spivak, Gayatri C.: „Can the Subaltern Speak?“, in: Cary Nelson/ Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-314.
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Migrationsbewegungen, da für die Migrant*innen der europäische Raum insgesamt und dann umso mehr die Metropolen zum idealen ‚Fluchtpunkt‘ (im wörtlichen Sinn) geworden sind. Die Literatur der Sans-Papiers und der SDF zeigt, dass mit der Erfahrung von Prekarität, sozialer Exklusion und Illegalität eine massive Desillusionierung einsetzt und mit dieser Enttäuschung sich eine affektive Umbesetzung der Stadt abzeichnet. Diese fällt jedoch keineswegs mit der Stadt als Bild des moralischen Verfalls oder als Dystopie europäischer Prägung zusammen, sondern generiert andere, neue Sichtweisen der urbanen Räume und neue Aneignungsweisen. Es vollzieht sich eine Entzauberung, die in gewisser Weise als Komplementärbegriff zum (europäischen wie migratorischen) Stadtmythos zu verstehen ist. An dieser Stelle sollte unterstrichen werden, dass es im literarischen Text nicht um eine mimetische Abbildung einer prädiskursiven Stadt – mit Volker Klotz gesagt nicht um einen „Vorwurf“ der Stadt56 – geht und gehen kann, sondern um die Tatsache, dass das, was Stadt ist, erst in der literarischen Gestaltung und durch sie entsteht. Andererseits gilt ebenso, dass das, was die Erfahrung des urbanen Lebens und Überlebens ausmacht, erst im Abgleich vom Mythos oder der Imagination der Stadt (und des erhofften Lebens in ihr) mit den in ihr konstruierten und darstellbaren Positionen von Selbst und Gemeinschaft entsteht. Dies leistet im gelingenden Fall die textuelle Konstruktion der urbanen Räume und der in ihnen geronnenen Lebenserfahrungen und Lebensentwürfe; darüber hinaus vermittelt sie innovative Modelle der ästhetischen Aneignung von urbanem Raum. Es geht also in den exemplarischen Analysen von literarisch und filmisch konstruierter Urbanität in den Beiträgen des vorliegenden Bandes um die Verbindung und Verhandlung von imaginären Kartografien oder mental maps (des Subjekts und der Gemeinschaft), mehr oder weniger moralistischen Topografien (des guten oder schlechten Handelns, des Eigenen, des Fremden etc.), um Choreografien der Orientierung und des Irrens, des Flanierens und der Flucht oder um poetische Soziogramme, für die die äußere wie die innere Architektur und die illegalen oder legalen Bewohner*innen der Großstadt den Rahmen und die Denkfigur abgeben. Fragen wir nach dem literarischen Feld, so verwundert der heute recht große Erfolg der Themen und Autor*innen von und über Geflüchtete angesichts eines Booms von Migrations-Literaturen (im weitesten Sinn) nur wenig. Gerade marginale Protagonist*innen entwerfen oft innovative und kritische Positionen im städtischen Leben, welche einen Status attraktiver Neuheit gewinnen können und allererst ein kreatives Überleben in der Metropole sichern – auch für das melancholische westliche Bürgertum. Die alternativen Sinnkonstruktionen des urbanen 56 V. Klotz: Die erzählte Stadt, S. 10.
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Lebens in diesen Texten sind zwischen verschiedenen beteiligten Akteur*innen durchaus umkämpft und spätestens beim Eintritt in den Buchmarkt und die Öffentlichkeit wird der/die Autor*in Gegenstand komplexer Verhandlungen um Anerkennung und Alibifunktion, Repräsentation und Ausnahmesituation, erlittene Marginalisierung und Hype des Underdogs etc. Der aktive Beitrag dieser neuen Autor*innen aus der Illegalität – deren Situation, wie Barbara Lüthi schreibt, das Ergebnis einer sozialen „production of Illegality“ ist,57 – zur Darstellung und Wahrnehmung urbaner Räume ist noch kaum gesehen worden und kann vielleicht auch erst dann in den Blick genommen werden, wenn sich analytische Perspektiven und Narrative der Erfahrung (und Selbsterfahrung) berühren. Auch Orte der Erkundung von transkulturellen Lebensräumen können in prädestinierter Weise die Metropolen sein.58 Sie bilden einen mentalen und physischen Raum von transkulturellen Vermischungen, von Contact Zones und Überschneidungen, von Migrationen und Fluchtbewegungen, von religiöser Differenz und sozialen Konflikten und neuen Gemeinschaften. Marc Hill untersucht in seinem Band Nach der Parallelgesellschaft. Neue Perspektiven auf Stadt und Migration mittels Biografieforschung etwa das „Marginalisierungswissen“59 und die Umwertung der Stadt durch Migrationsprozesse. Die so genannte Migrations-Literatur selbst hat sich verändert; anders als in den ersten beiden Generationen der Einwanderer-Literatur wird z.B. in der littérature beur nicht mehr primär die Misere des Identitätsverlustes beklagt 60, sondern zunehmend ein – oft ironischer – Dialog mit der ehemaligen Aufnahmegesellschaft und heutigen Lebensumwelt inszeniert, in dem das Traumbild der Metropole entzaubert wird.
57 Lüthi, Barbara: „Migration and Migration History, Version: 1.0“, in: DocupediaZeitgeschichte
2010,
verfügbar
unter
http://docupedia.de/zg/Migration_and_
Migration_History?oldid=97424. 58 Vgl. Sennett, Richard: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt a.M.: Fischer 1991. 59 Hill, Marc: Nach der Parallelgesellschaft. Neue Perspektiven auf Stadt und Migration, Bielefeld: transcript 2016, hier bes. S. 71ff. 60 Vgl. Struve, Karen: Écriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen. Tübingen: Narr 2009.
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FRAGEN. PERSPEKTIVEN Fest steht: in den literarischen Texten der Romania der letzten 30 Jahre spielt die Stadt eine neue Rolle. Aus der Sicht marginalisierter Gruppen, wie der Geflüchteten, der Illegalen, der Obdachlosen oder Migrant*innen werden neue Stadtansichten artikuliert. Hier stellen dunkle Ecken und leere Wohnungen, Hochhauseingänge oder Brachen zwischen stillgelegten Eisenbahnschienen einen Lebensraum – oder einen Überlebensraum – dar, der mitten in und doch neben den sichtbaren Stadträumen liegt. Mit ihren abseitigen Bewegungsmustern schreiben sich die Figuren teils in den Topos des Flaneurs ein, allerdings nicht ohne ihn durch ihre Wahrnehmungsperspektive und Lebensbedingungen zu verfremden und in der Gestalt eines rôdeur, fugeur oder postkolonialen Flaneurs zu neuem Leben zu erwecken. Dieser urbane Raum wird dabei weniger durch architektonische Konstruktionen und personale Verortung in Wohn-, Einkaufs- und Arbeitsräumen charakterisiert, sondern ist selbst ein beweglicher Raum, der sich in Passagen, Querungen, Entfernung und Rückkehr, wiederholtem Begehen, besitzlosem Besetzen, Erkundung und Gebrauch in der Zeit als dynamischer, choreografischer, aber auch fragmentierter Raum erkennen lässt und besondere, ephemere Arten der Spurensuche ermöglicht. Die beweglichen Räume sind bewohnt von Sans-Papiers und Sans Domicile Fixe, ortlosen Migrant*innen und traumatisierten Geflüchteten, die sich Teile des Stadtraums auf eine individuelle Art zu eigen machen, wie etwa: Brachlandgebiete, besetzte Häuser, Schlafplätze unter Brücken oder Schönheitssalons als Arbeitsplatz und Treffpunkt von illegalisierten Einwanderern. Zwischenräume und terrains vagues. Diese Leerstellen des dichten Stadttextes bieten Potenzial für die Transformation und individuelle Aneignung durch jene Stadtbewohner, denen eigene Räume häufig verwehrt bleiben. Diese nur scheinbar menschenleeren, oft funktionalen Räume, die in Form von besetzten Häusern, umfunktionierten Brücken oder Métro-Stationen, Zeltstädten oder illegalen Camps erscheinen können, werden durch die Perspektive marginalisierter Stadtfiguren oftmals erst sichtbar gemacht bzw. durch das Moment der Nutzung, Aneignung und Umdeutung erst konstituiert. Es stellt sich also die Frage: Welche neuen, sonst unsichtbaren Stadtansichten werden hier konstruiert? Daran schließen sich weitere Fragen an, die als Leitlinien der Lektüren durch die Beiträge des Bandes gelten können, nämlich die folgenden: • Zu den so entstehenden Stadtansichten:
Wie werden durch Narrationen die (Über-)Lebensbedingungen der marginalisierten Protagonist*innen erfahrbar und ein verändertes Stadtbild sichtbar?
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Welche neuen Stadtbilder werden entworfen, legen sich über die – vielleicht bereits zu Ende erzählten – postmodernen Metropolen der Moderne und rücken den technischen Fortschritt und die menschliche Bewegung in ein verändertes Licht? Wie verändern sich die Metropolen und deren Narrative im Zuge der global anwachsenden Migration? Was bekommt die Perspektive ‚von unten‘ überhaupt in den Blick – oder was bekommt nur sie in den Blick – und welche Räume und Grenzziehungen tun sich dadurch auf? • Auch die neuen Räume und deren Bedeutung werden untersucht:
Welche auf den ersten Blick unsichtbaren Räume werden durch die Perspektive der marginalisierten Stadtfiguren sichtbar gemacht bzw. erschaffen? Welche spezifischen literarischen Verfahren bilden sich dafür aus? Welche ‚anderen Räume’ und Heterotopien werden fokussiert? Wie bedeutsam sind diese für den urbanen Raum, auch wenn sie temporär und ephemer erscheinen und zwischen Nutzung und Verwahrlosung, zwischen Natur und Beton, zwischen Heimat und Abkopplung pendeln? Welche Bedeutung oder welcher Stellenwert wird diesen Zwischenräumen als spezifisch urbanen Räumen zugesprochen? • Da die Dynamiken der Räume hier eine besondere Relevanz haben, werden die
Bewegungsformen und -figuren etwa mit folgenden Fragen adressiert: Mit welchen Bewegungs- und Wahrnehmungsrouten spannen die Figuren in Stadttexten der Gegenwart urbane Räume auf, die sowohl Enttäuschungen und soziale Prekarität ausbuchstabieren, als auch Perspektiven der agency und einen ganz eigenen Blick auf die (urbane) Welt entwickeln, und Möglichkeiten von Gemeinschaften jenseits der offiziellen Sozialräume skizzieren? Was charakterisiert den postkolonialen ‚Flaneur‘, der sich als illegaler Geflüchteter in der europäischen Großstadt bewegt und sich mit der postimperialen Stadt auseinandersetzt? Welche Machtasymmetrien bestimmen diese Figur? • Auch das literarische Wetter legt Zeugnis ab von sich wandelnden kulturellen,
sozialen und individuellen Dispositionen. Für den Flaneur konnten Wetterlagen Bestandteil des ästhetischen Stadt-Eindrucks sein, für Sans Domicile Fixe können sie hingegen lebensbedrohlich sein, für die Sans Papiers zum Moment der Erinnerung werden, für den Detektiv wiederum eine wertvolle Spur darstellen. Daher verfolgt der Band auch Fragen wie diese: Welche Rolle spielen Umwelt, Wetter und Atmosphäre für die Stadtwahrnehmung und die Lebens- bzw. Über-lebensperspektive? Welche Wahr-
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nehmungsperspektiven auf das Wettergeschehen in der Stadt kann man feststellen und wie ergeben sich dadurch Bedeutungsverschiebungen und spezifische Funktionsgefüge für die Semantisierung des Wetters? Welche ‚Klimatope‘ entstehen als urbane Konstruktionen? • Unsichtbare Städte sind auch imaginierte Räume, die sich als solche in den Fik-
tionen nur unter oder hinter der manifesten erzählten Stadt finden. So kann schließlich gefragt werden: Welche Stadtimaginationen formieren die Stadterfahrungen der Protagonist*innen und wie gehen sie damit um, wenn die erlebte Stadt nicht ihren Bildern und Wünschen entspricht? Welche Stadträume und Stadtbilder werden durch die Literarisierung sichtbar – welche bleiben (bewusst) obskur? Wie wird das Spiel von Hell/Dunkel bzw. sichtbar/unsichtbar gestaltet? Welche idealen Orte der Gemeinschaft und des Austausches etablieren sich in diesen urbanen Räumen oder durch die prekären urbanen Milieus? Welche Funktionen als Utopie, Dystopie, Sehnsuchtsort oder Ort des Eskapismus haben diese Stadtnarrative?
FORSCHUNGSSTAND. KONZEPTE. ANNÄHERUNGEN Die Räume der unsichtbaren Stadt können, wie in den Beiträgen zu sehen sein wird, mit unterschiedlichen raumtheoretischen Konzepten und literaturwissenschaftlichen Topoi beschrieben und analysiert werden. Unter den Bedingungen der Unsichtbarkeit und Marginalisierung werden sie oft durch subversive Aneignungsstrategien transformiert oder erhalten aus einer randständigen Perspektive eine neue Bedeutungsdimension. Foucaults Heterotopien beispielsweise wandeln sich von sichtbaren gesellschaftlichen Institutionen wie Gefängnissen oder Altenheimen zu Geheimtreffpunkten für revolutionäre Sans-papiers-Gemeinschaften in besetzten Häusern oder zu Cruising-Areas für Homosexuelle an öffentlichen Bahnhoftoiletten.61 Als literaturästhetisches Konzept bietet sich die von Ottmar Ette beschriebene Konzeption der „Literaturen ohne festen Wohnsitz“62 an, die jedoch in den hier untersuchten Texten keineswegs eine Wahloption der mobilen Protagonist*innen
61 Vgl. auch Warning, Rainer: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Fink 2009. 62 Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005.
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darstellt, sondern der Not, Illegalität und Prekarität geschuldet ist. Das terrain vague als unerwünschte urbane Brache kann als das räumliche Äquivalent zu den marginalisierten Figuren betrachtet werden und bietet als urbaner Leerraum eine Fülle an Aneignungsmöglichkeiten. Marc Augés hyperfunktionale Non-lieux erhalten durch die Perspektive von obdachlosen oder illegalen Figuren, die die offiziellen Funktionen unterlaufen, durch gemeinschaftliche Aneignung die ihnen abgesprochene identitäts- und beziehungsstiftende Wirkung zurück. Die Aneignung von öffentlichen Räumen dieser Art erzeugen durch die Besetzung von ethnischen Gemeinschaften identitätsstiftende Räume, die nach Arjun Appadurai als ethnoscapes bezeichnet werden können. Eine weitere Dimension für die Transformation urbaner Wahrnehmungsbedingungen ist die subjektive Zeitlichkeit. Die Lebenssituation vieler exkludierter Figuren bedingt eine eigene Zeitlichkeit, die in Zusammenspiel mit der Dimension des Raums individuelle Formen des Chronotopos im Sinne Bachtins63 hervorbringen. An den genannten Konzepten zeigt sich die transformative Kraft der untersuchten Erzähltexte, was in den nachfolgenden Beiträgen verdeutlicht wird. Insbesondere die im Zuge des so genannten Spatial Turn gebündelten Deutungsverfahren des Raums64 als dynamischer Handlungsraum, Passage, Heterotopie, Nicht-Ort und Chronotopos werden zur Analyse der spezifischen urbanen Räume beigezogen, die im Blick ‚von unten‘ in der untersuchten Literatur entstehen. Diese neuen Fragen fordern neue Herangehensweisen heraus. Die klassischen hermeneutischen und semiotischen Methoden sollten ergänzt werden durch die Bestimmung des sozialen Ortes der Akteure im transkulturellen Raum. Dazu tragen insbesondere postkoloniale Reflexionen der Machtasymmetrien unter den Nutzer*innen des urbanen Raums bei, die Analyse der Diskurse sowie der Genese der aktuellen Situation der Massenmigration und der Illegalität in transkultureller Hinsicht und die kulturwissenschaftliche Reflexion der Konzepte des/der ‚Fremden‘ in der Stadt. Daran knüpfen unsere Forschungen zu den ‚neuen Fremden‘ im Stadtraum an. In der vornehmlich lateinamerikanischen Literatur und mit einem besonderen Fokus auf topologische und topografische Wahrnehmungsmuster wird die Aneignung der Großstadt aus dem ‚peripheren Blick’ der Fremden von Buschmann/
63 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. v. Edwald Kowalski u. Michael Wegner, Frankfurt: Fischer 1989 [russische Originalversion 1975, Neuübersetzung: Chronotopos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008]. 64 Vgl. Günzel, Stephan (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007.
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Ingenschay untersucht.65 Dieter Ingenschay nimmt dabei zum einen an, dass Stadterfahrungen maßgeblich durch Konzepte über Stadt geprägt werden (und vice-versa) und konstatiert zum anderen, dass „realweltliche Vorgabe und die konzeptualisierte Literarisierung nicht getrennt zu halten [seien ...], weil die Stadt und ihr Diskurs geradezu dazu einladen, beides zu verwischen und zu vermischen“.66 Er verweist aber auch auf die Unlesbarkeit oder „Unsemiotisierbarkeit“67 der Stadt im postkolonialen Blick und schlägt u.a. einen Typus des peripheren Blicks vor, den er die „Rache der Marginalisierten“68 nennt und der auf die Dekonstruktion der eurozentrischen Metropole zielt. Jenen peripheren Blick, der als Perspektive eines migrantischen wie sozialen Erlebens ‚von unten‘ entstehen kann, haben einzelne Forschungsarbeiten zum Gegenstand, die sich mit der Verbindung von Immigration und Stadt beschäftigen.69 Der Nationen- und nationale Gemeinschaftskonzepte entrückende Blick auf die Stadt, der durch Migration entsteht, wird etwa von Yvette Marin (1998)70, oder in jüngerer Zeit auch von H. Adlai Murdoch (2012)71 als ‚kreolisierte Metropole’ thematisiert. Einen Überblick über die Darstellung von Immigration im französischsprachigen Roman der Gegenwart geben bspw. Christine Albert (2005), Christina Horvath (2007) und Rebecca Walkowitz (2010); insbesondere für die „littérature SDF“ in soziologischer Perspektive ist der Aufsatz von Krisztina Z. Horváth (2001) grundlegend.72
65 Vgl. Buschmann, Albrecht/Ingenschay, Dieter (Hg.): Die andere Stadt. Großstadtbilder in der Perspektive des peripheren Blicks, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 66 Ingenschay, Dieter: „Großstadtaneignung in der Perspektive des ‚peripheren Blicks‘“, in: A. Buschmann/D. Ingenschay (Hg.), Die andere Stadt (2000), S. 7-19, hier S. 8. 67 Ebd., S. 15. 68 Ebd. 69 Und dies muss für Frankreich nicht nur Paris sein, wie Ursula Hennigfeld jüngst zeigte: Hennigfeld, Ursula (Hg.): Nicht nur Paris. Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2012. 70 Marin, Yvette: Ville et immigration (= Revue sur l'Espace humain et urbain 8, Sondernummer), Presses Université Franche-Comté 1998. 71 Murdoch, H. Adlai: Creolizing the Metropole. Migrant Caribbean Identities in Literature and Film, Indiana: Indiana University Press 2012. 72 Albert, Christine: L'immigration dans le roman francophone contemporain, Paris: Karthala 2005; Horvath, Christina: Le roman urbain contemporain en France, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle 2007, und Walkowitz, Rebecca: Immigrant Fictions: Contemporary Literature in an Age of Globalization, Wisconsin: University of Wisconsin Press 2010; Horváth, Krisztina Zentai: „Le personnage SDF comme lieu
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Das Schlagwort des Spatial Turn73 wird seit längerem auch in der französischen Stadtsoziologie kritisch diskutiert.74 Diese Perspektive auf die soziale Stratifikation der Gesellschaft erlaubt es, die Konstruktion urbaner Räume in der Literatur als hoch relevantes Indiz für die Dynamiken von Inklusion und Exklusion zu verstehen, woran der vorliegende Band anknüpft. Die soziologischen Arbeiten zur Situation der Sans-Papiers und der SDF sind besonders seit den Demonstrationen 1996 bis 1998 in Paris zu einem Thema in Frankreich und zum Teil auch in Deutschland geworden.75 Die Berichte der Schlichtungskommission sind öffentlich zugängliches Material 76 und Anlass zu weiterer soziopolitischer Forschung wie bei Monique Chemillier-Gendreau oder Gérard Noiriel.77 Der Soziologe Étienne Balibar bezeichnet die Situation der Sans-
d'investissement sociologique dans le roman français contemporain“. in: Neohelicon 12 (2001), S. 251-268. 73 D. Bachmann-Medick: Spatial turn, bes. S. 308ff. 74 Vgl. Pinçon, Michel/Pinçon-Charlot, Monique: „Espace social et espace urbain“, in: Socius, Bulletin de l´association Rencontres Sciences Sociales 3 (1986), S. 32-49. Im Konnex
mit
multikulturellen
Fragestellungen
vgl.
Dejean,
Frédéric:
„Les
enseignements de l’urbanisme multiculturel“, in: Géographie et cultures 74 (2010), verfügbar unter http://gc.revues.org/1764. 75 Vgl. Pichon, Pascale: „La manche, une activité routinière. Manières de faire“, in: Annales de la recherche urbaine 57-58 (1993), S. 146-157; Siméant, Johanna: La cause des sans-papiers, Paris: Presses de Sciences-Politiques 1998; Fassin, Didier/Morice, Alain/Quiminal, Catherine (Hg.): Les lois de l'inhospitalité, la politique de l'immigration à l'épreuve des Sans-Papiers, Paris: Éditions La Découverte 1997; O.A. : „Tes papiers!“. Questions d'immigration, hg. von der CGT, Paris: VO éditions (La vie ouvrière) 1997; Abdallah, Mogniss H.: J'y suis, j'y reste! Les luttes de l'immigration en France depuis les années soixante, Paris: Éditions Reflex 2000; O.A.: Les sans domicile fixe dans l´espace public, Paris: Plan Urbain 1994. 76 Vgl. O.A. : Les assises de l'immigration. Organisées par le collège des médiateurs le lundi 18 novembre 1996, au Sénat, in: Revue Migrations Sociétés 9 (1997), o.S.; O.A.: Les assises de l'immigration. Organisées par le collège des médiateurs le lundi 18 novembre 1996, au Sénat, in: Supplément au n° 49 de Les idées en mouvement, mensuel de la Ligue de l'enseignement 3 (1997), o.S. 77 Chemillier-Gendreau, Monique:
L'injustifiable. Les politiques françaises de
l'immigration, Paris: Bayard Éditions 1998; O.A.: Sans-papiers: chroniques d'un mouvement, hg. von der Agence IM'média. Paris: Éditions Reflex 1996; Noiriel, Gérard: Réfugiés et sans-papiers: La République face au droit d'asile, XIXe-XXe siècle, Paris: Hachette 1998.
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Papiers als einen „archaïsme fatal“78. Diskutiert werden in den 2000er Jahren vor allem die Rechtssituation,79 die ökonomische Situation80 und die Identitätsproblematik. Der Aspekt der Identität ist in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten.81 Relevant sind auch die von Michel Agier beschriebenen Formen der Biopolitik und der Exklusionsmechanismen.82 Hierzu lassen sich psychoanalytische Forschungen finden, die in der Mehrzahl von in der Szene engagierten Ärzt*innen und Psychiater*innen verfasst sind wie Sylvia Quesemand Zucca oder Alain Mercuel und die eine mediale Präsenz des Themas vermitteln. 83 Mercuel betont die Bedeutung des Überlebens in der Stadt und spricht von den SDF als „habitants de nulle part“, nirgends beheimateten oder lokalisierbaren Einwohner*innen. Die Verbindung von Nicht-Lokalisierbarkeit und urbanem Raum mit der Präsenz und der Bewegung der SDF im öffentlichen Raum thematisiert erstmalig Djemila Zeneidi-Henry in ihrem Buch Les SDF et la ville. Géographie du savoir-
78 Balibar, Etienne et. al. (Hg.): Sans-papiers, l'archaïsme fatal, Paris: Éditions La Découverte 1999. 79 Vgl. Lindemann, Ute: Sans-Papiers-Proteste und Einwanderungspolitik in Frankreich, Wiesbaden: Springer 2001; Cissé, Madjiguène: Parole de sans-papiers, Paris: Éditions La Dispute 1999; Breyer, Insa: Keine Papiere - keine Rechte? Die Situation irregulärer Migranten in Deutschland und Frankreich, Frankfurt a.M.: Campus 2011; Löw, Neva: Wir leben hier und wir bleiben hier! Die Sans Papier im Kampf um ihre Rechte, Münster: Westfälisches Dampfboot 2013. 80 Vgl. Moulier-Boutang, Yann: De l’esclavage au salariat: économie historique du salariat bridé, Paris: PUF 1998; Terray, Emmanuel: „Le travail des étrangers en situation irrégulière ou la délocalisation sur place“, in: É. Balibar et. al (Hg.), Sanspapiers, l’archaïsme fatal (1999), S. 9-34. 81 Vgl. Ngnemzué, Ange Bergson Lendja: Les étrangers illégaux à la recherche de papiers, Paris: L'Harmattan 2008; Guillou, Jacques/Moreau de Bellaing, Louis: Figures de l’exclusion. Parcours de Sans-Domicile Fixe, Paris: L’Harmattan 2004; Hadjer, Kerstin: Illegalisierte Identitäten: Auswirkungen der Sans Papiers-Problematik auf den Alltag afrikanischer Migranten in Pariser Wohnheimen (Foyers), Köln: Institut für Völkerkunde 2003. 82 Vgl. Agier, Michel: Politiques de l’exception - Réfugiés, sinistrés, sans-papiers, Paris: Éditions Tétraèdre 2012. 83 Vgl. Quesemand Zucca, Sylvie: Je vous salis ma rue: Clinique de la désocialisation. Avec une préface de Xavier Emmanuelli, Paris: Edition Stock 2007, und Mercuel, Alain: Souffrance psychique des sans-abri: Vivre ou survivre, Paris: Edition Odile Jacob 2012.
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survivre von 2002.84 Sie untersucht am Beispiel Bordeaux die „Geographie des Überlebens“; d.h. sie erarbeitet mentale Karten, entwickelt eine Geografie der Hilfsorte, rekonstruiert die Handlungsräume der SDF und die Überlebenspraxis im Alltag.85 Eine Géographie de la clandestinité untersucht 2010 für die Stadt Lausanne Mathias Schaer.86 Die Untersuchung urbaner Räume im Zusammenhang mit Literatur einerseits und mit Migration andererseits wird in den Disziplinen der Soziologie und der Psychoanalyse, der Stadtforschung und der Linguistik in den letzten Jahren angesprochen. Für die Geschichte der Repräsentation des städtischen Raums in Literatur und Kunst zeichnet sich besonders Forschung aus der anthropologischen Literaturwissenschaft verantwortlich. Urbane Räume in literarischen Texten können – so die einhellige Meinung der Forschung – unterschiedliche Funktionen in Wechselwirkung mit den menschlichen Selbstentwürfen übernehmen. Repräsentationen und Konstruktionen von Städten durch literarische Texte sind wesentliche Teile von Entwürfen eines Gemeinwesens sowie einer Selbstkonstruktion von Subjekt und Gesellschaft,87 deren dynamische Aspekte in der Forschung zunehmend betont werden wie unlängst in dem Band Urban Dynamics. Conflicts, Representations, Appropriations and Politics von 2018.88
BLICKWINKEL. PERSPEKTIVEN. ORTE. FIGUREN Zu behaupten, Städte seien unsichtbar, ist auf einen ersten Blick nicht einsichtig: Städte sind schon von weitem durch ihre Hochhäuser sichtbar; nähert man sich den Großstädten, Metropolen und Megalopolen der Welt, muss man sich erst durch ihre Ausläufer jenseits der Bannmeile (der banlieue) kämpfen: durch all die
84 Zeneidi-Henry, Djemila: Les SDF et la ville. Géographie du savoir-survivre. Paris: Bréal 2002. 85 Vgl. Marpsat, Maryse: „Zeneidi-Henry Djemila, 2002, Les SDF et la ville. Géographie du savoir-survivre, Paris, éditions Bréal, collection D´autre Part“, in: Cybergeo: European Journal of Geography, Revue de livres (2003), verfügbar unter http://cyber geo.revues.org/845. 86 Schaer, Mathias: Lire ma ville sans papiers: Géographie de la clandestinité à Lausanne, Saarbrücken: Éditions universitaires européennes 2010. 87 Vgl. G. Febel/K. Struve: La ville imaginée – L’imaginaire de la ville. 88 Gomez Montero, Javier et. al. (Hg.): Urban Dynamics. Conflicts, Representations, Appropriations and Politics, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2018.
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Vorstädte mit ihren Einfamilienhäusern und Vorgärten, die himmelhohen Wohnblocks der banlieues oder die Industriegebiete mit ihren von Brachen umgebenen Fabriken und dem dazugehörigen Verkehrsnetz aus Autobahnen und Bahnschienen. „Un-sichtbare Städte“ – das sind nicht nur die imaginierten Städte Italo Calvinos89, sondern in unserem Zusammenhang all jene Räume und Orte in der Stadt, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind oder sein wollen und von denen doch erzählt wird. Uns geht es im vorliegenden Band um Stadtansichten, die das Unsichtbare in den Städten zum Vorschein bringen. Die Unsichtbarkeit, auf die wir im Titel anspielen, bezieht sich aber – wie so oft bei Blicksemantiken – zum ersten auf die unsichtbaren, versteckten und verdeckten Facetten von Städten, zum zweiten auf Stadtwahrnehmungen, die neben der visuellen Dimension die olfaktorische, auditive oder körperlich-räumliche Wahrnehmung von Städten artikulieren und zum Dritten auch auf die marginalisierten Figuren, durch die solche Eindrücke vermittelt werden. Dabei ist für die Leser*innen oder Betrachter*innen oft unentscheidbar – und diese Frage zielt auf eine zentrale Dimension der un-sichtbaren literarischen Stadt –, welcher chronologischen oder systematischen Hierarchie die Interdependenz von urbanem Raum und Figurenperspektive gehorcht. Urbaner Wahrnehmungsraum und Figurenperspektive bedingen sich wechselseitig, ohne dass der urbane Raum schon präexistent wäre und nur noch von der Figur wahrzunehmen und zu erleben wäre. Entlang der oben skizzierten beiden Achsen der literarischen Stadt – der konstruierten Stadt und dem Erfahrungsraum Stadt – bilden sich zumindest vier Dimensionen der un-sichtbaren Stadt, die uns in den Beiträgen dieses Bandes begegnen, nämlich: • • • •
Die Stadt als Imaginationsraum Die Stadt als Affektraum Die Stadt als Wissensraum Die Stadt als Überlebensraum
Das Verhältnis von (imaginierendem, fühlendem, erkennendem und überlebendem) Subjekt und Stadtraum lässt sich dabei über spezifische urbane Semantiken bzw. Denkfiguren artikulieren und beschreiben: über bestimmte Bewegungsmodi wie Flanerie, Flucht- und Suchbewegungen, über Orientierung in netzartigen Strukturen und Kartografien im Labyrinth der Straßen und Häuserfluchten, über das relationale, zeitliche und räumliche In-Beziehung-Setzen zu den urbanen Orten, durch das neue Räume in Form von ethnoscapes, Heterotopien und 89 Vgl. Calvino, Italo: Le Città invisibili, Milano: Mondadori 1996.
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Chronotopoi entstehen und über das Erschließen unberührter terrains vagues und gleichförmiger non-lieux. Die daraus folgenden Aneignungsmodi des Subjekts, sind allerdings oft nicht souverän und stabil. Es sind Versuche des ohnmächtigen Subjekts durch die Decodierung der Stadt, Strategien der urbanen Ordnung und Orientierung, durch Archäologie und urbane Entdeckungsreisen, den übermächtigen urbanen Raum zu ergründen und zu systematisieren und ihn sich im besten Fall wieder anzueignen oder ihn neu zu kolonisieren. Doch welche Orte und Räume finden wir beim Lesen vor? Die betrachteten Orte changieren zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit und können sowohl mitten im Zentrum als auch in der Peripherie der Städte liegen. Im Zentrum der Stadt liegen versteckte Orte rund um Bahnhöfe und U-Bahnstationen, in unterirdischen Tunneln und Anlagen. Historische Stadtschichten und energetische Felder durchziehen den Boden unter dem sichtbaren Asphalt und können nur durch einen archäologischen Blick sichtbar gemacht werden. An den Rändern der Städte wuchern sichtbar riesige Wohnblocks, hinter deren Fassaden sich unsichtbare Leben vollziehen. In den Zwischenräumen der Stadt erobern sich wilde Pflanzen den urbanen Raum zurück und lassen Möglichkeitsräume zwischen kaltem Beton entstehen. Die Figuren funktionalisieren solche Orte um zu eigenen urbanen Räumen: als Schutzraum, als chaotischen Raum, als Fluchtraum, als energetisch aufgeladener Raum, als Heimatspeicher, als Überwachungsraum, als Kommunikationsraum, als Geschichtenraum etc. Hier wirken die Aneignungsmodi oftmals in der Dekomposition, der Fragmentierung und der Verfremdung der herkömmlichen Raumbilder. Städte sind in der Literatur gemeinhin Projektionsflächen für Utopien und Dystopien. Utopische Momente finden sich aber auch im Kleinen, überall dort, wo die Stadt einen Raum eröffnet, der sich außerhalb der funktionalen Ordnung befindet. In den hier erzählten Heterotopien kehren sich gesellschaftliche Normen ins Gegenteil, finden die Platz, die sich den Regeln entziehen und so Raum finden für abweichende Handlungen. In Städten sind dafür besonders jene Räume interessant, die sich der architektonischen Ordnung entziehen und gleichzeitig in das Stadtbild einpassen und aus ihm herausfallen: jene terrains vagues, die Wolfgang Nitsch und sein Forschungsteam intensiv bearbeitet haben.90 Sie stellen einen Leerraum dar, suspendieren ähnlich wie Heterotopien die urbane Ordnung und 90 Vgl. O.A.: TERRAIN VAGUE. Ästhetik und Poetik urbaner Zwischenräume in der französischen Moderne. Projektleiter: Prof. Dr. Wolfram Nitsch, Mitarbeiter: Jacqueline Broich und Daniel Ritter, Universität zu Köln, verfügbar unter http://terrainvague.de/; Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als „terrain vague“. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur, Bielefeld: transcript 2017.
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bieten, wie Jacqueline M. Broich und Daniel Ritter in ihrer Studie von 2017 betonen, vielfältige Möglichkeiten zur subversiven Aneignung: „Sie sind erstens in vielerlei Hinsicht Zwischenräume: Sie bilden räumliche und funktionale Lücken im Stadtsystem, sie stehen nicht nur häufig auf der Schwelle zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, sondern auch zeitlich zwischen dem Nicht-mehr ihrer ehemaligen und dem Noch-nicht einer künftigen Nutzung. Die häufig an ihnen anzutreffende Kombination aus im Vergehen und Verwittern begriffenen Resten menschlicher Kultur und einer den Raum zurückerobernden, wuchernden Natur machen sie zu hybriden Räumen einer dritten Art. Zweitens werden diese Orte seit jeher von einer starken Ambivalenz bezüglich ihrer Betrachtung und Bewertung begleitet: Was für die einen Müll ist, ein Schandfleck oder ein zu überwindender Missstand, ist für die anderen Attraktion und Reiz. […] Drittens sind diese Orte nicht nur von der Heterogenität ihrer Erscheinungsformen geprägt, sondern auch und gerade von der ihrer Nutzungsmöglichkeiten: Ihre potenzielle Offenheit macht sie einerseits zu Möglichkeitsräumen für kreative Um-, Wieder- oder Zwischennutzungen, andererseits aber auch zu einem Terrain des Widerstreits, auf dem die verschiedenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Akteure und Interessen aufeinandertreffen; und wo sich Formen der subversiven Aneignung gegen eine vielerorts wachsende Entfremdung gegenüber neuerer Stadtentwicklung wehren, werden sie schnell auch zum Terrain des Widerstands.“91
Signifikant erscheint uns, dass die Figuren in jenen neuen urbanen Zwischenräumen oftmals, wenn nicht gar überwiegend durch Bewegung gekennzeichnet sind und sich damit (mit Ottmar Ette gesprochen: in einem Modus der Vektorisierung92) die Stadt immer wieder neu erschließen. Eine kleine Typologie solcher neuen Stadtfiguren könnte aus dem Flaneur, dem promeneur, dem fugeur, dem rôdeur, dem walker und stalker, dem Geflüchteten, dem Einwanderer, dem ‚guide‘, dem Stadtgärtner und dem Journalisten auf Spurensuche etc. (und heute kann jede dieser Figuren auch immer in weiblicher oder diverser Gestalt im Text erscheinen) bestehen. Dieses Stadtpersonal schafft durch die Bewegung in der Stadt eigene Räume im Sinne de Certeaus und korreliert überdies äußerst divergente und heteronorme Stadtdimensionen miteinander. Die Bewegungen der Figuren sind dabei nicht Ausdruck ihrer Privilegierung, sondern häufig Folge von oder Widerstand gegen ihre Marginalisierung. Sans-papiers, Obdachlose, Straßenverkäufer*innen, Rückkehrer*innen, Migrant*innen, Homosexuelle – sie alle eint ihre marginale Positionierung in der Stadt, durch die sie gezwungen sind, 91 J.M. Broich/D. Ritter: Die Stadtbrache als „terrain vague“, S. 11. 92 Vgl. Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin: Kadmos 2004, bes. S. 245ff.
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verborgene Orte in der Stadt aufzusuchen und alternative Räume zu erzeugen. Durch ihre marginale Positionierung durchbrechen sie Grenzen von öffentlichem und privatem Raum, haben einen Einblick in verborgene Welten und verbinden eine ambivalente Insider-/Outsider-Perspektive zu einem oft innovativen Blick auf die Gesellschaft. Ziel des Bandes ist die Erkundung all jener neuen Bewegungsmuster, Formen und Nutzungsweisen urbaner Räume in der europäischen Gegenwartsliteratur aus der Perspektive von marginalisierten Gruppen und Individuen, deren zunehmende Präsenz in den Metropolen im Zuge der Globalisierung und der Massenmigration zwar nicht mehr zu übersehen ist und die doch ihren Platz in der Metropole immer wieder suchen und besetzen müssen.
ZU DEN BEITRÄGEN Die Beiträge des Bandes sind in drei größere Abschnitte eingeteilt, die jeweils verschiedene Perspektiven auf die Stadt in den Vordergrund rücken: Orientierung im Raum, Zeitgeschichte und Bewegungsräume, Energien und Atmosphären. Dennoch sind Querverweise und Beziehungen zwischen den besprochenen Texten und den einzelnen Beiträgen immer wieder spürbar, so dass diese Einteilung eher ihrerseits Felder bezeichnet und Lesewege entwirft, die jederzeit verlassen werden können, um auf eigene weitere Erkundung zu gehen. Der erste Abschnitt thematisiert insbesondere Unsichtbare Orientierungen: Labyrinth – Netz – Ethnoscape – Terrain vague – Heterotopie – Non-lieux – Flanerie und zeigt neben den verschiedenen Orientierungsmodellen für die Bewegung im urbanen Raum auch die konzeptuelle Vielfalt, mit der diese adressiert werden können. Matthias Hennigs Beitrag Labyrinth und Netz. Stadtmetaphern, Stadtmodelle betrachtet die Modelle Labyrinth und Netz als Möglichkeiten das Verhältnis von Subjekt und Raum zu definieren. Beide stellen aus seiner Sicht topische Stadtmetaphern dar, die als Muster für Desorientierung und Orientierung der Figuren im urbanen Raum fungieren. Anhand von drei exemplarischen Romanen: Topographie idéale pour une aggression caracterisée von Rachid Boudjedra, L’emploi du temps von Michel Butor und Franz Kafkas Das Schloss untersucht er, inwiefern diese Thesen mit dem subjektiven Gefühl der Fremdheit der Figuren und ihrer Fähigkeit zur Anpassung und Funktionalisierung des Raums korrelieren. Andreas Mahler geht in seinem Beitrag Reiche der Buddleja. Das ‚terrain vague‘ als Raum des Ästhetischen der Verbreitung des Begriffs terrain vague
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nach, indem er dessen Produktivität insbesondere aus seiner Nähe zu rezenten Auffassungen vom Ästhetischen zu ergründen sucht. Anhand des Raums der Petite Ceinture in Jacques Rédas Text Les ruines de Paris verdeutlicht er, wie die terrains vagues durch ihre Unstrukturiertheit und Offenheit für das ambivalente Zweifache zu einem Raum des Ästhetischen werden können. Er verdeutlicht dies mit der Metapher der Buddleja, einer rankenden Pflanze, die sich den brachliegenden urbanen Raum zurückerobert. Elena Tütings Beitrag Die Rekolonisierung der Stadt durch den postkolonialen Flaneur in ‚L’Abyssinie‘ von Corinne Dufosset (2016) entwickelt anhand eines neuen Stadtfigurentypus der Gegenwartsliteratur, dem Sans domicile fixe, das Konzept eines postkolonialen Flaneurs, dessen Bewegungen durch den urbanen Raum statt von Selbstvergessenheit und Melancholie ̶ wie beim klassischen Flaneur ̶ von Prekarität und Heimatlosigkeit geprägt sind. In dem Beitrag wird verdeutlicht, inwiefern diese spezifischen Bewegungen zu einer Aneignung des urbanen Raums im Sinne von Michel de Certeau führen, und es wird gezeigt, wie durch die prekäre Wahrnehmungsperspektive des Protagonisten eine Dekonstruktion der entwickelten westlichen Metropole vollzogen wird. Anhand von vier autobiografisch geprägten Romanen subsaharischer Autoren, Khadi Hanes Des fourmis dans la bouche (2011), Bay Madembos Il mio viaggio della speranza (2011), Papa Ngady Fayes Se Dio vuole. Il destino di un venditore di libri (2011) und Igiaba Scegos: La mia casa è dove sono (2010), untersucht Hanna Nohe in ihrem Beitrag Die sicht- und doch unsichtbare Stadt. Ethnoscapes und die Funktionen von Raumkonzepten in aktuellen Texten der Afroromania die Besetzung und Umfunktionierung urbaner Räume und die dadurch entstehende Stadtwahrnehmung von weiblichen subsaharischen Figuren. Sie stellt dabei heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen den Gemeinschaften subalterner Figuren und der Entstehung von ethnoscapes gibt. Sie besetzen öffentliche Räume und funktionieren diese zu ihrem Wohn- und Arbeitsraum um, wobei diese Aneignungsstrategien zu einer kulturellen und funktionalen Umdeutung der urbanen Räume führen. Irene Breuer widmet sich in ihrem Beitrag mit dem Titel: ‚Orillas‘/La Recoleta: Die Zwittereinheit terrain vague/Heterotopie in den frühen Werken Jorge Luis Borges den beiden Werken Inquisiciones und Los Inmortales von Jorge Luis Borges. Hierzu diskutiert die Autorin zunächst die Konzepte der Heterotopie und des terrain vague. Zwischen beiden Konzepten entsteht eine Zwittereinheit zwischen dem Phänomen verlassener, identitätsloser, oft vergessener Räume (terrain vague) und dem Phänomen repräsentativer und symbolischer Räume in der Stadt, die sich uns aber mit ihrer radikalen Fremdheit entziehen (Heterotopie).
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Vor diesem theoretischen Hintergrund werden exemplarische Textstellen untersucht. In den ausgewählten Texten entsteht, wie Breuer zeigt, eine Dialogizität zwischen den Vororten, die eine lyrische, fragile, melancholisch-romantische Natur evozieren, und der labyrinth-artigen Struktur der Stadt, die über einen monumentalen, pittoresken, fragmentarischen, unheimlichen Charakter verfügt. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass die Trennung zwischen terrains vagues und Heterotopien gleichzeitig ihre Relation bedeute, da sie nicht nur einander die Grenzen und ihre mögliche Überschreitung aufzeigen, sondern indem sie von den Widersprüchen unserer alltäglichen Erfahrungen zeugen. Der zweite Abschnitt des Bandes legt den Schwerpunkt auf die in den Texten vermittelte Unsichtbare Zeitgeschichte: Bahnhöfe – Randzonen – politische Chiffren. Hier geht es vor allem um die Verbindung von Erinnerungen und aktuellem Erleben, Geschichte und aktueller Gegenwart der Räume: Tobias Berneiser arbeitet in seinem Beitrag Neapel zwischen De- und Regeneration: Projektionen der Stadt in Ermanno Reas ‚Napoli Ferrovia‘ (2007) am Beispiel des genannten Romans die Tradition einer neapelspezifischen Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt heraus und skizziert die Binarität des Bahnhofviertels als Transitraum und als parallel existenter interkultureller Begegnungsraum, der als dynamischer Ort konträr zur statisch apperzipierten Stadt steht. Dieser verweist, so Berneiser, auf einen kulturell hybriden Raum, der für eine neue Entwicklung neapolitanischer Kultur, aber auch als Modell urbaner Identität im Sinne einer „Dialog-Stadt“ fruchtbar gemacht werden könne. Die Analyse setzt sich detailliert mit den Protagonisten aus Napoli Ferrovia auseinander, die gleichsam als Flaneure durch die Stadt wandern, sie erkunden und für die Lesenden gewissermaßen zu Stadtführern werden. So wird eine Dualität aufgedeckt zwischen Erinnerung und Aktualität, eine Verbindung gezeigt vom Kindheitsort, der zu einem Milieu florierender krimineller Aktivitäten wurde, zum heutigen Bahnhofsviertel. Das sukzessive Aufdecken einer unsichtbaren Stadt und ihrer Geschichte wird dabei auf multiple Weise über die Figuren reflektiert. In ihrem Beitrag Temporalité précaire et prostitution ‚gay‘. L’adolescence et les lieux d’ombre de la vie citadine dans ‚L’Homme blessé‘ de Patrice Chéreau / Hervé Guibert (1983) zeigt Verena Richter in der Analyse des Films, wie zeitlich und räumlich prekäre Orte – wie etwa die unterirdischen Toiletten des Bahnhofs oder der Jahrmarkt – als Schwellenort für die jugendliche Sexualität und homosexuellen Grenzerfahrungen des Protagonisten dienen. Sie untersucht den Zusammenhang zwischen der Adoleszenz als Zustand der Krise und Marginalisierung und randständigen urbanen Zonen unter Anwendung räumlicher Konzepte wie
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terrain vague, Heterotopie und Krisen- bzw. Schwellenchronotopos und schreibt so dem Raum eine zeitliche subjektive Dimension ein. Melanie Koch-Fröhlich untersucht in ihrem Beitrag Sprechende Städte: Zur Lesbarkeit urbaner Räume im Werk Cécile Wajsbrots das Erzählwerk der zwischen Berlin und Paris pendelnden literarischen Grenzgängerin Cécile Wajsbrot. Der Fokus liegt hierbei auf einer raumästhetischen Perspektive, der komplexen Semantik und der entwickelten raumzeitlichen Perspektivik. Die Autorin stellt heraus, wie der urbane Raum die für Wajsbrots Werk- und Familiengeschichte wesentliche Dialektik von Erinnerungspflicht und Erinnerungslast, von Vergangenheit und Zukunft, von Selbstfindung und Selbstverlust inszeniert und reflektiert. Im Zuge der Analyse wird nicht nur das Literaturverständnis Wajsbrots selbst an das literarische Werk herangetragen, sondern u. a. mit Konzepten von Marc Augé oder mit dem von Ottmar Ette formulierten Desiderat einer Verbindung des Wissens vom Leben, Überleben und Zusammenleben argumentiert, was die aktuelle Erlebensdimension mit der historischen und traumatischen Vergangenheit der Stadträume Paris und Berlin und deren symbolischen Dimensionen verknüpft. Matthias Hausmann lässt in seinem Beitrag Ricardo Piglias Ciudad ausente: Die „abwesende Stadt“ als Chiffre für den totalitären Staat diese „ciudad ausente“ sichtbar werden, indem er nicht nur die Verbindung des Romans zur Fantastik und die sorgsam konzipierte Nutzung von Aspekten des Kriminalromans aufdeckt, sondern durch die detailgenaue Analyse anschaulich macht, wie die Ungreifbarkeit der Stadt – dem verfremdeten, dystopischen Buenos Aires – mit der Ungreifbarkeit des skrupellosen totalitären Regimes korreliert, das die politische Hintergrundfolie des Textes bildet, aber nie explizit erwähnt, geschweige denn beschrieben wird. Hausmann zeigt auf, wie Piglias Roman als Erfahrung der Zeit der argentinischen Militärdiktatur und der mit ihr verbundenen Traumata, der Erinnerung an Folter, Sprachlosigkeit und Furcht, zu lesen ist. Als ein wesentliches Element hebt er die „Erzählmaschine“ heraus, deren Geschichte und Funktion der Protagonist Junior erforscht, und analysiert ihre diegetische und metaleptische Funktion für den Text wie auch ihre Bedeutung für die Erzählung der Wahrheit im historischen Kontext. Ergänzt wird die Analyse des Romans mit einem abschließenden Blick auf den Film Invasión von Hugo Santiago, der in Zusammenarbeit mit Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares entstand, und eine vergleichbare Thematik hat. Der dritte und letzte Abschnitt des Bandes versammelt Beiträge, in deren Fokus die spürbaren, aber oft nicht sichtbaren oder nur durch Hinweise zu erahnenden Energien, die Untergründe und unbewussten Schichten des urbanen Raums und
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die textuellen Bilder und Verfahren für deren Repräsentation stehen; es geht um Unsichtbare Städte – Energien – Wolken – Atmosphären. Monika Schmitz-Emans untersucht in ihrem Artikel Die Abgründe und Monster von Paris in Umberto Ecos Roman ‚Il cimitero di Praga‘ (2010) die semantisch aufgeladenen Raumstrukturen, die in Umberto Ecos Roman die gegensätzlichen Seiten der Metropole Paris spiegeln und gleichzeitig die gespaltene Persönlichkeit des Protagonisten symbolisieren. Insbesondere analysiert sie die Darstellung eines dunklen, ‚rückseitigen‘, inoffiziellen Paris, das von zwielichtigen Gestalten bevölkert ist und den Rahmen für abseitige Verhaltensweisen, Lebensformen und Verbrechen bietet – eine bei aller Abseitigkeit doch ‚realistische‘ Romanwelt, die zum Anlass einer Thematisierung der spannungsvollen Relation von Faktualem und Fiktionalem wird. Ecos Pastiche-Paris mit seinen räumlichen und diskursiven Finsternissen wird komisch überzeichnet und diese Satire auf das Dunkelmännertum ist mit Strategien anderer Romane vergleichbar, die auf Analoges zielen: auf eine Ridikülisierung des Bösen, des vermeintlich Unheimlichen und dadurch scheinbar Unangreifbaren. André Otto zeigt in seinem Beitrag Autopsie des Unsichtbaren: Das energetische Feld des Londoner Ostens in Iain Sinclairs Lud Heat, wie durch das Konzept der Autopsie als einer Praxis des Selbst-Sehens durch den Protagonisten des Romans eine Kartierung des urbanen Raums von London vorgenommen wird, die über den topografischen Raum hinausgeht, indem sie den Raum als topologisches Feld entwirft, das sich über energetische Relationen zwischen der Stadtmaterie und historisch sowie ontologisch divergenten Diskursen etabliert. Otto zeichnet die Autopsie des Unsichtbaren nach, die Ian Sinclair in seinem Text durch den Gestus der Offenlegung mythischer und historischer Schichten betreibt. Dadurch entsteht eine Mytho-Historiografie, die die ontologische Differenz zwischen Mythischen und Geschichtlichen ebenso kontinuierlich transgrediert wie die zwischen topografischer Materialität und diskursiv-symbolischer Rekonfiguration. Der Beitrag von Katia Harbrecht mit dem Titel Meteorologische Spurensuche in Paris geht der Reziprozität von Wetter und Stadtraum im Kriminalroman in zwei verschiedenen historischen Momenten und in jeweils umgekehrter Blickrichtung nach: einmal mit der Perspektive der Wirkung der Stadt auf das Wetter am Beispiel von Eugène Sues Les Mystères de Paris (1842-1843), einmal mit der Perspektive der Wirkung des Wetters auf die Stadt am Beispiel von Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris (1954-1959). Während bei Eugène Sue das Areal der Cité mit Verbrechen und Gefahr verbunden ist und der Ort sich mit der schauerromantischen Szenerie von drohendem Unwetter verbindet, werden Wetterphänomene bei Léo Malet, wie der Beitrag zeigt, zu semantischen Spuren und Zeichen
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von Lesbarkeit und Unlesbarkeit der Stadt, wobei jedes Viertel bei Malet sein eigenes metereologisches Profil besitzt, das mit dem jeweiligen Kriminalfall korrespondiert und daher eigene Spuren legt und zur Aufklärung beiträgt. André Weber zeichnet in seinem Beitrag Wolkenstädte. Vom BabelPhantasma Hugos zu den Cloud Cities Saracenos am Beispiel Victor Hugos, Guy de Maupassants und Paul Valérys die Entwicklung der Beziehung des Menschen zu den Wolken nach, die in ihnen nicht nur Ängste, Unsagbares und Hoffnungen gespiegelt sahen oder sie zu Visionen anregten, sondern ihren urbanen Lebensraum zu transzendieren und reflektieren vermochten. Mittels der chronologischen Perspektivierung geht der Verfasser der Frage nach, welche Funktionen das Bildgefüge von Stadt und Wolke zu unterschiedlichen Zeiten und im Kontext der jeweils epistemologischen Voraussetzungen ausfüllte. Abschließend verlässt Weber die Ebene der literarischen Texte und spürt dem Erleben der Installationen von Tomás Saraceno, der Cloud Cities, nach, um vor dem Hintergrund der historischen Betrachtungen die neuen Bedingungen des Verhältnisses von Mensch und Wolke zu erörtern und zu fragen, inwiefern der Wandel der Raumwahrnehmung und der literaturästhetischen Inszenierungen möglicherweise in dieser artifiziellen Cloud eine Erfüllung und einen vorläufigen Endpunkt findet. Annelies Augustyns schließlich untersucht in ihrem Artikel Stadtwahrnehmung, Wettergeschehen und Lebensperspektive in Breslau während des Holocaust die Tagebücher Willy Cohns (1933-1941), der als Mitglied der jüdischen Gemeinde Breslaus die Zeit des Holocausts dokumentiert. Hierbei liegt der Fokus insbesondere auf dem Wetter, welches als realer Umstand Einzug in den Text erhält und verschiedene Bedeutung und Funktionen ausfüllt. Wetterwahrnehmungen sind nicht nur Bestandteil des ästhetischen Stadteindrucks und des alltäglichen Lebens, sondern auch Ausdruck der inneren Stimmung und der Lebensbedrohung, die der Autor erfährt. Darüber hinaus fungieren sie als Flashbackauslöser für Erinnerungen an glücklichere Zeiten und Orte. Auf der Basis des historischen Kontextes arbeitet Augustyns heraus, wie das Wetter in den Aufzeichnungen Cohns etwa als ironisches Element eingesetzt wird, aber auch inwiefern die Quantität der Erwähnungen des Wetters innerhalb des Tagebuchs von den politischen Entwicklungen abhängig scheint – Wetter als Indiz einer unsichtbaren Bedrohung. Für die großzügige Unterstützung der vorausgehenden Tagung gilt unser Dank der Verbundforschungsinitiative Worlds of Contradiction an der Universität Bremen. Für die Fertigstellung und Durchsicht des Bandes bedanken wir uns sehr herzlich bei Luisa Birke sowie besonders bei Luisa Vogt für die sorgsame Erstellung des
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Layouts und die Korrekturlektüren. Ein herzlicher Dank gebührt auch dem hilfreichen und geduldigen Lektorat des transcript Verlags sowie allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben.
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Die un-sichtbare Stadt. Räume – Perspektiven – Randfiguren in Literatur und Film
Labyrinth und Netz Stadtmodelle, Stadtmetaphern Matthias Hennig
VOM LABYRINTH ZUM NETZ: VOM GESCHLOSSENEN ZUM OFFENEN SYSTEM Der Titel meines Beitrags fußt auf einer Gegenüberstellung: der von Labyrinth und Netz. Warum Labyrinth und Netz? Nun, beides sind topische Metaphern der Stadt, die sich auf einer ganz basalen Ebene auf ihre räumlich-logistische Organisation beziehen lassen. Beide Metaphern versuchen auf unterschiedliche Weise räumliche Komplexität zu organisieren. Beide spielen daher auf einer kybernetischen Ebene mit den Modellen der Ordnung und Unordnung sowie der Orientierung und Desorientierung. Während Netze versuchen, Komplexitäten zu reduzieren (etwa indem sie den Verkehr in einer Stadt schematisch vereinfachen oder Verbindungs- und Wegmöglichkeiten anbieten), organisieren Labyrinthe eine künstliche Komplexität. Labyrinth und Netz definieren zwei basale Möglichkeiten sich mit der (urbanen) Umgebungsrealität in Verbindung zu setzen, ein Verhältnis von Subjekt und Raum zu definieren. Sie sind zum einen konkrete Räume, zum anderen heuristische Metaphern oder Denkmodelle im Sinne des Mental mappings. Nicht nur für die Urbanistik oder Stadtliteraturforschung bilden sie daher topische Muster,1 die zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, dem
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In Erweiterung der Abhandlung der Städtebauhistorikerin und Architekturtheoretikerin Sonja Hnilica, die einen Katalog von Stadtmetaphern erstellt hat (Hnilica, Sonja: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie, Bielefeld: transcript 2012). In diesem Buch untersucht sie die Modellierung der Stadt als Haus, Lebewesen, Natur, Maschine, Theater, Kunstwerk und Gedächtnis.
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Materiellen und Virtuellen changieren. Netze geben Wege vor, Labyrinthe hingegen Umwege. Netze erlauben das Finden, Labyrinthe zwingen zum Suchen. Im Folgenden beginne ich mit einer kurzen Definition der Begriffe ‚Labyrinth‘ und ‚Netz‘. Labyrinth und Netz lese ich als polare, sich gleichwohl ergänzende Muster geschlossener (Labyrinth) bzw. offener (Netz) Systeme, die basal für unsere Stadt- und Weltwahrnehmung sind. Anschließend diskutiere ich die Gegenüberstellung und Komplementarität dieser Begriffe anhand dreier Fallbeispiele aus der Literatur des 20. Jahrhunderts: Rachid Boudjedras Topographie idéale pour une agression caractérisée (1975; dt. Topographie), Michel Butors L‘Emploi du temps (1956; dt. Der Zeitplan), sowie – als Ausblick und Transfer – Franz Kafkas Das Schloss (1926). Alle drei Texte thematisieren die Konfrontation eines neu eintreffenden, vereinzelten ‚Fremden‘ mit einer bereits existierenden sozialen Gemeinschaft bzw. Großstadt.
LABYRINTH Das Labyrinth möchte ich hier als einen Raum denken und nicht primär als mythologischen Komplex oder als sozialanthropologische oder symbolische Wirkungseinheit verstanden wissen. Es ist eine topologisch zunächst unverbunden scheinende architektonische Konfiguration, der es an Orientierungspunkten mangelt. Der labyrinthische Raum versucht das ungehinderte Fortkommen, die kürzeste Passage von ‚A‘ nach ‚B‘, zu stören, indem er das Vorankommen über Umwege leitet und dabei die Perspektiven verstellt. Ein Labyrinth ist, wenn nicht komplett nach außen geschlossen, so doch weitgehend in sich abgegrenzt und durch räumliche Trennung vom Umgebungsraum abgesetzt. Es ist die Konstruktion einer größtmöglichen Anzahl von Wegen und Wegstrecken auf kleinstmöglichem Raum, eine Abbreviatur des Unendlichen. Das Labyrinth meint aber nicht bloß Desorientierung, vielmehr ist es eine von außen (d.h. von der räumlichen Struktur) erzwungene Desorientierung – freilich eine Desorientierung, die System hat. Im Innern des Labyrinths muss daher nicht zwangsläufig Chaos herrschen, vielmehr basiert es oft auf einer streng mathematisch-geometrischen Organisation. Und dieses Überhandnehmen von Ordnung kann einen genauso chaotisierenden Effekt haben wie bloße Unordnung. Im Labyrinth dominiert aus der Binnenperspektive der Nutzenden (oder Gefangenen)
Anknüpfungspunkte zu meinem Ansatz sehe ich vor allem im Abschnitt „Technik. Raster und Diagramm“ (ebd., S. 167-176).
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das Chaotische; aus der Außen- oder Vogelperspektive der für den Bau Verantwortlichen (oder Beobachtenden) das Geordnete – im betrachtenden Genuss der kunstvollen Logik räumlicher Symmetrien. 1. Je fremder meine Umgebung ist um so desorientierender und labyrinthischer ist ihr Effekt auf mich. Ohne Orientierung in der unmittelbaren Umgebung bin ich in einer großen Stadt verloren oder auf die Hilfe anderer angewiesen und muss Siri, Google Maps oder einen Passanten fragen. Ich muss mich also auf ein Netz beziehen, das entweder von einem elektronischen Gehirn abgerufen wird (dem Internet) – oder vom raumverknüpfenden Alltagswissen anderer Passanten. 2. Ein Labyrinth ist eine erzwungene, räumlich-morphologisch systematisierte und auf Dauer gestellte Desorientierung. Die Großstadt ist eines der räumlichmorphologischen Modelle, die als ein solches Labyrinth erlebt und wahrgenommen werden.2 3. Es ist eine räumlich abgrenzbare Einheit und erst dadurch kann es auch eine Wirkungseinheit bilden (die dem Subjekt übergeordnet ist). 4. Das Labyrinth ist nicht ohne die Binnenperspektive einer das Labyrinth begehenden Person vorstellbar. Es muss eine Figur geben, die sich ihm ausgesetzt sieht. In ihm realisiert sich eine auf die Spitze getriebene, agonale Konfrontation von Ich und Raum. 5. Ins Labyrinth unternehme ich keine Gruppenreisen; Labyrinthe sind Orte potenzierter und intensivierter Einsamkeitserfahrungen. Die einzige Möglichkeit des Entkommens, der einzige jenseits des Labyrinths liegende Referenzpunkt ist für die meisten Figuren literarischer oder filmischer Labyrinth-Versionen im 20. und 21. Jahrhundert der Tod. Das Labyrinth bleibt für sie ein intransitiver Ort.3 6. Gehen wir von diesen filmischen und literarischen Versionen weg und wenden uns der Alltagsrealität zu, so verschwindet die meist kurzzeitig erlebte Desorientierung in der Regel, wenn ich die labyrinthische Erfahrung in ein ‚Netz‘ und damit in eine Form von Orientierung und Ordnung überführen kann (s. Punkt 1).
2
Vgl. hierzu Hennig, Matthias: Das andere Labyrinth: Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2015 (speziell das Kapitel „Stadtlabyrinthe“, S. 25-76).
3
Vgl. ebd., S. 251-256.
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NETZ Im Gegensatz zum Labyrinth, das ein meist streng geschlossenes und statisches System ist, bildet das Netz ein offenes und eher prozessorientiertes System. Schon von seiner materiellen Beschaffenheit her – etwa als Netz zum Fischen – ist es porös und durchlässig. Ein Netz besteht aus miteinander verknüpften Fäden, die zwischen ihren vielen Knotenpunkten eng- oder weiträumige Maschen bilden. Das Netz steht nicht wie das Labyrinth für Abschottung und Trennung, sondern für ein Modell der Verknüpfung, die über sich selbst hinausreichen kann, weil sie prinzipiell aktualisier- und erweiterbar ist.4 Ich möchte es als ein Verbindungsmittel definieren, ein Interaktionsinstrument, das mir erlaubt, über nahe und ferne Kanäle mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen. So kann ich etwa mit Hilfe eines persönlichen Netzes oder Netzwerks Verbindungen zu Unbekannten über Dritte herstellen und Personen kennenlernen, die außerhalb meines sozialen Umfeldes liegen. Bin ich in einer Stadt, kann ich mir durch Rückgriff auf die virtuellen Karten meines Gehirns oder meines Mobiltelefons Orientierung verschaffen. Ich kann ihre Unübersichtlichkeit reduzieren und durch schon bestehende Netze zu mir in Beziehung setzen. Kann ich meine Stadt sortieren, indem ich die Routen des U-Bahn-, Bus- oder Straßenbahnnetzes im Kopf abfahre? Kann ich meinem
4
Das Netz hat eine Doppelbedeutung: Es ist Herrschaftsinstrument dessen, der es besitzt und benutzen kann. Für den, der darin gefangen ist, steht es im Gegenteil für VerstricktSein und Unfreiheit. Vgl. hierzu Gießmann, Sebastian: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, 2. durchges. Aufl., Berlin: Kadmos 2016, S. 15: „Netze halten, verbinden und fangen; sie verfangen, binden und verstricken. Diese Ambivalenz wird ebenso gerne vergessen wie die materiellen, nichtmenschlichen Komponenten von Netzwerken. Tatsächlich ist die positive Überhöhung des Netzwerk-Begriffs jüngeren Datums. Für die längste Zeit waren Fangnetze im Mittelmeerraum und Europa hingegen widersprüchliche Objekte“ und weiter: „Netze sind […] konkrete dingliche Artefakte, aber auch konnektive Strukturen, die in topologischen Diagrammen repräsentiert oder codiert werden können. Vernetzungen werden hauptsächlich gefasst als räumliche und bildliche Arten und Weisen, konnektive Verbindungen gleicher Elemente zu schaffen. Sie sind vor allem im kartografischen Modus darstellbar. Netzwerke hingegen werden als wesentlich heterogene, interkonnektive und unscharfe Quasi-Objekte verstanden, die Menschen, Dinge, Zeichen Institutionen und Räume integrieren. Als Quasi-Objekte zeichnen sich Netzwerke durch spezifische Modi der Verzeitlichung aus. […] Realiter vermischen sie [= die Begriffe Netze, Netzwerke, Vernetzung; M.H.] […] sich ständig.“ (ebd.).
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Magen Verheißungen versprechen, in dem ich ein lokal verfügbares Netz meiner Lieblingskneipen, Lieblingsrestaurants, Dönerläden oder McDonalds-Filialen entwerfe? Ein räumliches Netz, in dessen ungefährer Mitte sich mein momentaner Standort befindet? Welche Stadtteile erhöhen ihre Wertigkeit für mich dadurch, dass ich dort bei Bedarf ausreichend Cafés, Tinder-Matches, Pokémons, BeautyShops, Nagelstudios, dm-Märkte oder universitäre Subkulturen finden kann? Ob Verkehrs-, Restaurant-, Tinder- oder Pokémon-Netze: sie alle kartieren die Stadt für mich und formatieren ihre prinzipiell unüberschaubaren Möglichkeiten auf ein individuell verstehbares anthropologisches Maß. Das virtuelle oder mentale Netz wird in ein räumliches Netz überführt, wenn ich den Weg zu meiner Lieblingskneipe oder zum nächsten, nur im Virtuell-Realen auffindbaren Pokémon einschlage. Und umgekehrt erweitere ich etwa mein lokales Biertrinknetz, wenn mich meine Mittrinker und Mittrinkerinnen zu einer neuen Kneipe bringen; oder mein Pokémon-Netz, wenn ich die Toilette des Uniseminars aufsuche, um dort überraschenderweise einem Internet-Gadget in meinem Smartphone (oder der Maulenden Myrte) zu begegnen. Dann wird das räumliche Netz umgekehrt Teil meines virtuellen Netzes oder meiner mentalen Karte; das virtuelle Netz reichert dann das räumliche Netz an und vergrößert es. Bildlich und etwas verallgemeinert gesprochen, tauchen wir mit dieser Alltagsnetz-Struktur wie mit einem Fangnetz oder Kescher in die Wirklichkeit ein, um zu sehen, welche Beute und welche Erkenntnisgewinne darin hängenbleiben. Damit meine ich ausdrücklich nicht, dass das Subjekt die absolute Herrschaft über sein Netz hätte.5 Es hilft uns viel eher, im Überangebot der Wirklichkeit zu differenzieren und zu ordnen, eine Grenze zu ziehen, die Fülle für uns einzuhegen, ein Minimum an Logik, Sinnzusammenhang (oder bloßen Spaß) im Maximum der Welt zu finden oder mich in eine Gemeinschaft oder soziale Rolle einzufügen. Logik und Sinnzusammenhang (und natürlich auch Ablenkung und Spaß) sind wie die Fische im Netz die Beute, die ich meinem körperlichen System einverleiben kann, um mich als Organismus zu erhalten. Als Nahrung für den Magen oder als Appetitanregungen für den Geist. In jedem Fall muss die ‚Beute‘ wie ein neues Puzzlestück an mein bisheriges Erfahrungssystem und an mein Vorwissen angepasst werden. Das Sich-Vernetzen ist daher kein blindes Fragen (das zufällige Antworten hervorbringt), sondern eine Methode, die Welt zu befragen, die schon ein Verstehen und Orientierung in ihr voraussetzt. Die durch das Sich-Vernetzen entstehenden mentalen Karten bilden nur eine temporäre und flüchtige Konstellation von Punkten, die sich – denken wir an die 5
Vgl. zum Netz als einem Instrument von Jagd und List Friedrich, Alexander: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, Paderborn: Fink 2015, S. 263-268.
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öffentliche Verkehrsinfrastruktur, die Liste der Lieblingsrestaurants/Lieblingskneipen, Tinder-Matches und Pokémons – von Raumpunkt zu Raumpunkt vektoriell verschieben und verändern sowie neue Konstellationen eingehen. Das Netz ist so besehen ein heuristisches Werkzeug, ein erkenntnistheoretisches Instrument der Orientierung im Vielen, eine elementare Verknüpfungsleistung von Subjekt und Welt. „Das Charakteristische eines Netzes ist es, dass jeder Punkt mit jedem anderen verbunden werden kann, und wo die Verbindungen noch nicht entworfen sind, können sie trotzdem vorgestellt und entworfen werden. Ein Netz ist ein unbegrenztes Territorium […]. Das abstrakte Modell eines Netzes [hat] weder einen Mittelpunkt noch ein Außen.“ 6
Ähnliches gilt auch für das Suchen und Finden im Internet. Wollen wir darin nicht nur suchen, sondern auch finden, müssen wir die Informationen an unser vorhandenes Informations- oder Wissenssystem anpassen, und auf diese Weise die elektronischen ‚Gehirne‘ mit unseren eigenen Gehirnen verschalten. Eine InternetSuchmaschine etwa führt uns mit ihren Treffern stets auch auf Umwege. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Werbung und Seitentreffer nicht immer klar erkennbar; zum anderen gibt es keine Trennung von ‚relevanten‘ und ‚irrelevanten‘ Seiten. Denn die Relevanz der Daten für sie selbst können erst die Nutzenden entscheiden und nicht schon die Künstliche Intelligenz. Drittens, und das ist der wichtigste Punkt: das Internet unterscheidet nicht zwischen ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Informationen. Ganz zu schweigen davon, dass die Suchmaschinen inzwischen personalisierte Informationen, d.h. vorformatierte virtuelle Schnittstellen liefern: Nur ein Bruchteil der Suchmaschinentreffer enthält überhaupt brauchbare Fundstücke, viele führen zum einen auf die Abwege von Werbung und Falschinformationen, zum anderen auf die Umwege zwar verwandter, de facto aber oft irrelevanter oder ungenauer Suchergebnisse. Das Netz ist eine Vorstellung im Kopf, eine mentale Karte (und eine Realisierung), die einzelne Raumpunkte oder Orte miteinander verbindet, deren Beziehungen zueinander Orientierung und Sinn stiften. Die verschiedenen Netze und mentalen Karten entstehen erst nach und nach. Und auch wenn sie fertig zu sein scheinen, können sie sich verändern oder erweitern. So wie das Labyrinth zum ständigen Suchen zwingt, hilft das Netz beim Finden. Suchen und Finden verstehe ich hier als die beiden wesentlichen Aktionsformen der raum- und erkenntnistheoretischen Modelle von Labyrinth und Netz. Labyrinth und Netz (Netzwerk) sind, so meine These, topische Metaphern und topische Leitbilder der Stadt. 6
Eco, Umberto: Das Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam 1989, S. 105f.
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Die topische Stadt-Labyrinth-Analogie ist spätestens seit den aus der Antike stammenden römischen Fußbodenmosaiken belegbar. Vermehrt taucht sie in neuerer Zeit mit der Entstehung der modernen Großstädte sowie der Großstadtliteratur des 19. Jahrhunderts auf. Die Verbindung von Stadt und Netz bzw. Netzwerk existiert seit ebenjener Epoche, d.h. seit dem 19. Jahrhundert.7 Orthogonale Gitternetze mit ihrer streng geometrisch serialisierten Nord/Süd und Ost/West-Rasterung gibt es jedoch bereits seit den römische Militärlagern (castra) sowie im europäischen und vor allem nordamerikanischen Städtebau.8 Während die Labyrinth-Metapher negativ konnotiert ist, wird die Netz-Metapher zumindest in jüngster Zeit eher positiv besetzt.9 Auffällig ist, dass Städte – als gebaute Netzwerke (Verkehr, Logistik, Kommunikation) bzw. Labyrinthe – stets Ordnung und Unordnung zugleich prozessieren. Ich möchte dies kurz anhand von drei Beispielen diskutieren.
RACHID BOUDJEDRA: TOPOGRAPHIE IDÉALE POUR UNE AGRESSION CARACTÉRISÉE – AGONALER KAMPF VON ICH UND RAUM Rachid Boudjedras Topographie idéale pour une agression caractérisée (1975) ist ein Text, der einer obsessiven Versenkung in den Pariser Metroplan entspringt: eine Meditation über Architektur, Einrichtung und Funktionsweise dieses städtischen Transportsystems samt seiner optischen, akustischen und olfaktorischen Reize – all dies aus der Perspektive eines algerischen Bauern; dazu garniert mit zahllosen Redundanzeffekten, postmodern-metaphorischen Wiederholungsschnörkeln und tagesaktueller politischer Polemik im Blick auf die Situation algerischer Migranten und Migrantinnen in Frankreich. Ausgestattet mit Koffer und Zettel versucht ein Großstadtnovize den Weg zu einem Verwandten zu finden, was gründlich misslingt. Der großstädtische Raum dient nicht der ungehinderten Durchquerung von Punkt ‚A‘ nach Punkt ‚B‘; er ist vielmehr das unübersichtliche Stationendrama einer fortgesetzten Verirrung, die kreisförmig an dieselben Punkte zurückkehrt.
7
Vgl. S. Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge, S. 15.
8
Vgl. hierzu Lampugnani, Vittorio Magnago: Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika, Berlin: Wagenbach 2017, S. 19-21; Sennett, Richard: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 69-89.
9
Vgl. S. Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge, S. 15.
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Im ziellosen Fortschreiten von Umweg zu Umweg ist kein Fortschritt zu erkennen. Der Plan der Pariser Metro, ein visuelles System zur Vereinfachung der Orientierung, nimmt hier im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Funktion völlig überhand: er wird – wie das Metronetz selbst – anstatt Hilfsmittel zu sein, zu einem a-zentrischen und a-perspektivischen „topographischen Wirrwarr“ („le fouillis topographique du plan du métro“). 10 Dieses „unlogische“, aber „engmaschige“ Netz („un reseau apparemment incohérent mais qui demeure serré“) ist in seiner Fremdheit und Neuheit ein „agressives“ und „repressives“ 11 System notorisch fremd bleibender Räume und Zeichen. Die „ideale Topographie“ dieses Metronetzes, so zumindest laut dem Titel, mutiert zum Instrument einer rassistisch motivierten Unterdrückung in Form gezielter Irreführung („lʼespace, lui aussi, se met de la partie pour le dérouter“)12 und Überwachung des Fremden; jeder Weg ist für den Protagonisten daher ein schier nicht enden wollender und demütigender Umweg. Das offene Netz wird zum geschlossenen Labyrinth; das Labyrinth wiederum zum Gefängnis, das Raum, Zeit und Körper auflöst bzw. zerstört. Und Boudjedras poetisch mäandernder Pariser Metro-Roman wird zur politischen Anklageschrift, indem er das Faktische ins Poetische einbindet: er listet elf – aus vermutlich rassistischen Gründen – binnen weniger Tage in Frankreich zu Tode gekommene Personen algerischer Abstammung mit Namen und Todesursache auf. 13 In der indirekten Überblendung von Labyrinth, Moloch, Großstadt, Teufel, Dämon, Verfluchung, Inferno und Pseudo-Kabbala (der algerische Bauer deutet die Invertierung des arabische Rechts-Links-Schemas in der französischen Schrift als ‚kabbalistisch‘), die alle zu einer Isotopie der „Megalopolis“ verschmelzen, klingen in Boudjedras pamphletistischer Poesie auch anti-jüdische und antichristliche Töne durch. Als quasi-paradiesisches und in der Rückschau verklärtes Gegenmodell zur identitätslosen Falle der Großstadt entwirft Boudjedras Roman am Ende eine (algerische) Wüstenlandschaft.14 Das Metronetz traumatisiert den Großstadtnomaden und führt ihn durch seine Über-Ich-Größe und Undurchschaubarkeit in die Irre, kurz: es wird vom offenen Netz zum geschlossenen und opaken Labyrinth. Dieses zum Labyrinth gewucherte Metronetz annulliert Raum- und Zeitempfinden, es löscht temporär 10 Boudjedra, Rachid: Topographie idéale pour une agression caractérisée, Paris: Denoël 1975, S. 159. (Dt. Topographie, neu überarbeitete Übersetzung, übers. v. Thomas Dobberkau, Mainz: Donata Kinzelbach 1993). 11 Ebd., S. 84. 12 Ebd., S. 240. 13 Ebd., S. 154f. 14 Ebd., S. 239f.
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Denken, sowie Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeit aus und stellt in Trance-, Schock- und Amnesiezuständen auch die personale Integrität des Algeriers infrage.15 Samt seinem unterirdischen Metrosystem ist Paris ein Großstadtmoloch, der die Freiheit und Offenheit des Raums aufs Engste zusammenballt – mit Straßen, Verbindungen und Wegen, die den Raum verbarrikadieren („fermer, clôturer, enfermer“)16 und „verstümmeln“ („mutilant l’espace“)17. Sie machen ihn zu einer Falle abstrus und unzusammenhängend scheinender Architekturen und Geometrien. In aggressiver Manier stoßen sie dadurch den großstadtunkundigen Bauern zurück und schließen ihn gleichermaßen ein. Das „kodierte System von Verknüpfungen“18 des Metronetzes bleibt durch den Overkill sinnlicher Wahrnehmungen undurchschaubar, wuchert aber in den unsichtbaren Räumen von Kopf und Körper weiter, schlägt symbolische Lücken und Wunden, perforiert die Identität. „Il reprend alors sa marche et subit l’agression de centaines d’espaces giclant de partout, à droite, à gauche […], toujours sous forme de dédales, de couloirs, de corridors, d’escaliers, de niveaux, de carrefours hostiles et venteux qu’il contourne chaque fois qu’il peut – ce qui souvent lui fait perdre le sens de son orientation – […]. Il se met à croire, tout à coup, que son crâne est plein de trous laissant couler une viscosité grumeleuse qui gêne sa vision ou la ralentit ou l’arrête complètement pendant quelques secondes durant lesquelles il perd la mémoire et se débarrasse de son avenir. Vertige! Soliloque! Transe!“19
Labyrinthische Großstadt und labyrinthischer Körper sind dadurch osmotisch aufeinander bezogen – beide als äußerst instabil organisierte Systeme, beide allein durch ihren defizitären oder prekären Status definiert, orientierungslos verloren in Raum und Zeit. Die Linien des Metronetzes mutieren in der Wahrnehmung des Protagonisten zu Schnüren („cordes“), die den Bauern gefangen nehmen und fesselnd in sein Fleisch schneiden („les traces intérieures incisant sa chair“). 20 Das Wegemöglichkeiten versprechende Metronetz verwandelt sich so in ein
15 Ebd., S. 76: „pris dans un code de connexions qu’il n’arrive pas à déchiffrer mais qu’il pressent comme inscrit irrémédiablement dans ces tatouages qui commencent à hanter son esprit: les lignes formant le plan du métro […], les traces intérieures incisant sa chair […], les cercles du temps éclatants en mille segments, les espaces déglingués.“ 16 Ebd., S. 23. 17 Ebd., S. 160. 18 Vgl. Anmerkung 9. 19 R. Boudjedra: Topographie, S. 92. 20 Ebd., S. 76.
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Herrschaftssystem, das sein Opfer („victime“) 21 in permanenter Unfreiheit verstrickt. Labyrinth und Tod, desorientierender Raum und im Zentrum schlummernde letale Gewalt: All das bringt Boudjedra, die Kernelemente des griechischen Mythos‘ aufgreifend, explizit zusammen. 22 Nur, dass die Schnur nicht zum rettenden Ariadnefaden wird. Der Algerier stirbt einen symbolischen Tod, indem ihn das verschlossene Labyrinth der Großstadt nicht nur gefangen hält, sondern auf psychisch und physisch gewaltsame Weise auch seiner Identität beraubt.
MICHEL BUTOR: L’EMPLOI DU TEMPS – PROTAGONIST GROßSTADT Auch in Butors Text von 1956 hat das Netz nicht die Funktion zu verknüpfen, d.h. Anhaltspunkte oder Weg- und Verbindungs-möglichkeiten zu bieten. Stattdessen wendet es sich gegen den Protagonisten des Romans, um ihn zu fangen und zu verstricken.23 Während dieser es bei Boudjedra nicht schafft, das Pariser Metrosystem zu verlassen, bleibt Butors Revel seit seiner Ankunft in einer englischen Industriestadt in der horizontal unendlich scheinenden Expansion dieser industriellen Agglomeration gefangen. Geschildert wird hier nicht der Aufenthalt eines Tages (wie bei Boudjedra), sondern der eines ganzen Jahres. Butors Figur spannt in ihrem enzyklopädischen Drang, die historische und soziale Wirklichkeit der Stadt zu ergründen, viele verschiedene symbolische Bedeutungsnetze aus. Diese versuchen, Ich und Raum miteinander zu verbinden – durch mythologische, literarische, theologische Geschichten, durch Stadtpläne und Ordnungsmodelle, die eine als real imaginierte Wirklichkeit auf zweiter und dritter Ebene bilden, die sich als Palimpsest über die unmittelbare urbane Erfahrung legen. Die Stadt ist der ungreifbare Schnittpunkt aller (!) für Revel verfügbaren Quellen und Referenzen: eigene Erlebnisse, Karten, Pläne, Archivmaterial, Romane, Filme, Legenden, mündliche Erzählungen, die zudem metaleptisch soziales Erleben und Fiktion miteinander verbinden usw. All diese Beschreibungsnetze wachsen sich zu schriftlich und mental fixierten Ordnungsphantasmen aus, die nicht nur mit der Stadt, sondern auch wechselseitig synekdochisch ad infinitum mit sich selbst verknüpft sind.24
21 R. Boudjedra: Topographie, S.76. 22 Vgl. ebd. z.B. S. 156, 221, 241. 23 Vgl. zu diesem Doppelaspekt S. Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge, S. 15. 24 Vgl. zur unendlichen synekdochischen Verschachtelung als Strukturprinzip von M. Butors L’Emploi du temps Thorel-Cailleteau, Sylvie: La fiction du sens. Lecture croisée
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Denn die Stadt realisiert sich bei Butor vor allem im Zeichen einer chimärischen Amalgamierung und Verwandlung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge, deren Mutationen Revel in der Obsession seines Aufschreibens und Festhaltens vergeblich Herr zu werden versucht: Im Exorzismus des Benennens25 wird er zu einem Paranoiker des Zeichenlesens und der Allegorisierung, der in allen Dingen eine Magie der Ähnlichkeit sucht. Das urbane Labyrinth erschafft dabei die Chimäre einer multiperspektivischen Aufspaltung der Wirklichkeit. Butor entwirft ein imaginäres (und unsichtbares) Stadtbild, das in seinem Totalitätsanspruch alle unbekannten und auch unsichtbaren Bedeutungsebenen der Kohle- und Industriestadt Bleston aufzudecken versucht – sei es in der räumlichen Ausdehnung bis an die Grenzen der Stadt, sei es in der zeitlichen Ausdehnung bis in die Urzeit mythologischer und geologischer Stadtgründung zurück. Mit seiner wissensgesättigten Enzyklopädik entwirft Butor die Ästhetik eines Prismas. Dieses Prisma folgt der Logik einer unendlichen selbstreferentiellen Verspiegelung aller narrativen Requisiten und Bedeutungsebenen.26 Stadterkundungen und Tagebuchschreiben werden bei Butor gleichermaßen uferlos und unendlich; während im Tagebuch die Zeit aus den Fugen gerät, wird die Stadt zum azentrischen, als Ganzes unerkennbaren Labyrinth und, wie bei Boudjedra, zu einer als dämonisch wahrgenommenen Unterwelt, einer Falle, die das Subjekt gefangen hält. Die Hypertrophie der Wahrnehmungen und Interpretationen lässt das Netz der Bedeutungsschichten groß und unendlich werden: Es ist kein Netz mehr, sondern wird zu einem enzyklopädisch offenen Labyrinth der du Château, de L’Aleph et de L’Emploi du temps, Mont-de-Marsan: Éditions InterUniversitaires 1994, S. 109-119; Calle-Gruber, Mireille: La ville dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Paris: Nizet 1995, S. 90-98. 25 Barthes, Roland: „Littérature et discontinuité“, in: Ders., Œuvres complètes, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Bd. 2, Paris: Seuil 2002, S. 430441, hier S. 431: „car nommer exorcise“. 26 Im Roman wird für dieses prismatische Spiel der Begriff des „Spektroskops“ verwendet (Butor, Michel: L'Emploi du temps (= Collection „double“), Paris: Gallimard 2002 [1956], S. 385). M. Calle-Gruber schlägt für das Spiel der Perspektivierungen in Butors Roman den Begriff der Brille („lunettes“) bzw. Linse („lentilles“) vor: „Cette narration construit, en quelque sort, des verres optiques pour le narrateur; change les lentilles qui font tantôt longue-vue; varie la focale. Il n’y en a, en vérité, que cette réalité dioptrique“ (M. Calle-Gruber: La ville, S. 86). Dieser Vergleich ist zwar treffend, aber unzureichend, denn Butor erzeugt mit seinen in sich verspiegelten Allegorisierungen ein Paralleluniversum, in dem die Bedeutungen wie in einem Prisma zugleich prozessiert werden, mit ihren Facetten in einer Konfiguration miteinander verbunden sind. Vgl. hierzu auch M. Hennig: Das andere Labyrinth, S. 63-65 (1.3.5 Poetik des Prismatischen).
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Zeichen(-systeme). Butors Roman erstickt an seinem labyrinthischen Interpretationssyndrom; Boudjedras Protagonist leidet unter den mikroskopischen Wahrnehmungsredundanzen und -obsessionen, die sich zu keinem Gesamteindruck mehr runden wollen. Bei beiden werden Stadt bzw. Metronetz daher zu unsichtbaren, aber mächtigen Akteuren, zu autonomen Agenten, die sich mit aller Gewalt ihrer Raum- und Zeichenlogik gegen die Erzählerfiguren stellen. In ihren Texten ist die Stadt ein zwar unsichtbarer, doch überall anwesender Protagonist, der die ‚Erzählerfiguren‘ zu Antagonisten degradiert.
FRANZ KAFKA: DAS SCHLOSS – TRANSFER Boudjedra und Butor zeigen exemplarisch, wie die (Groß-)Stadt die beiden Modelle von (offenem) Netz und (geschlossenem) Labyrinth komplementär miteinander verbindet, die ihr durch räumlich-logistische Organisation und Wegführung topologisch und topografisch bereits zugrunde liegen. Die Stadt, die ein vereinfachtes und nach außen abgesichertes Netzwerk von Verbindungen herstellen soll (für Menschen, Waren, Verkehr, Kommunikation) wird für die Protagonisten der Romane zum undurchdringlichen Labyrinth: und zwar auf räumlich wie auf semantische Weise. Das Netz wird undurchschaubar, abstrus, inkohärent und zu einem gewaltigen Über-Ich. Butor und Boudjedra spielen dabei die (agonale) Konfrontation von Ich und Raum bis zur Agonie durch. Auf sprachlich sehr viel nüchternere Weise thematisiert Kafka das Aufeinandertreffen von fremdem Einzelgänger und existierender Gemeinschaft – ohne den Hang zur Dämonisierung und den poetischen Wust an Metaphern und Allegorien, den Boudjedra und Butor auftürmen. Das Schloss (1926) zeigt, dass diese Konfrontation nicht allein für die (französischsprachige) Großstadt- oder Nachkriegsliteratur typisch ist. Statt fremder Großstadt und fremder Sprache, trifft Kafkas reisende Figur K. in einem nicht näher bestimmbaren mitteleuropäischen Irgendwo auf Dorf und Muttersprache. Alle drei Romantexte ähneln einander jedoch in den Effekten, die aus der Gegenüberstellung von fremdem Einzelgänger und sozialer Gemeinschaft resultieren. Dazu möchte ich thesenhaft ein paar Argumente skizzieren. 1. Schloss und Dorf bilden ein unzusammenhängendes, fragmentarisch bleibendes und labyrinthartiges Ensemble,27 in dem eine Orientierung auf für die
27 Vgl. Kilcher, Andreas: „Nach der Stroemfeld-Insolvenz: Kafka dringt abermals nicht bis ins Schloss vor“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 21.09.2018, o.S., verfügbar unter
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Figuren objektive Weise unmöglich ist. Sie zwingen zu Umwegen und Ziellosigkeit und evozieren das Bild eines zerbrochenen, nur noch lose existierenden Netzes. Auf ähnliche Weise kann man das in Paul Klees Bild „Zerstörtes Labyrinth“ sehen: Abbildung 1: Paul Klee – Zerstörtes Labyrinth
Quelle: Paul Klee: Zerstoertes Labyrinth (1939). Sammlung: Kunstmuseum Bern, Paul-Klee-Stiftung
Prototypisch dafür sei eine Stelle zitiert: „Es gibt mehrere Zufahrten zum Schloß. Einmal ist die in Mode, dann fahren die meist dort, einmal andere, dann drängt sich alles hin. Nach welchen Regeln dieser Wechsel stattfindet, ist noch nicht herausgefunden worden.“28 Kafka spielt systematisch – nicht nur wie hier bei der Straßennetz-Verbindung von Dorf und Schloss – mit MultiVialität, mit Vagheit und mit Ambivalenzen bzw. Kontradiktorik.
https://www.nzz.ch/feuilleton/nach-der-stroemfeld-insolvenz-kafka-dringt-abermalsnicht-bis-ins-schloss-vor-ld.1421801: „Das sogenannte Schloss hat damit dieselbe räumliche Gestalt, die schon Kafkas frühere Romane ‚Der Verschollene‘ und ‚Der Process‘ prägt: Labyrinthe eng aneinander liegender Gebäude, endlose verwinkelte Gänge und Gassen, die als Ensemble kein geschlossenes Ganzes bilden, sondern unübersichtlich, bruchstückhaft, fragmentarisch bleiben.“ 28 Kafka, Franz: Das Schloß, Frankfurt a.M.: Fischer 1983 [1926], S. 206.
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2. Aussagenlogisch betrachtet operiert Kafkas Roman mit dem Prinzip der Kontradiktion. Er ambiguisiert damit jeden Weg im Dorf und jede Handlungsoption im Roman. Daraus leiten sich zum einen die offene Vielwegigkeit, Inkohärenz und Vagheit der topografischen Struktur ab – was gleichermaßen grundlegend für die handlungslogische (oder dramaturgische) Organisation des Romans ist: Er öffnet immer wieder (faktisch begehbare) Wege und (für die Figuren handlungsöffnende und interpretatorische) Perspektiven. Diese bleiben jedoch offen, unverbunden, uneingelöst, umwegartig. Kafkas Schloss ist ein ausgelegtes Bündel loser Enden. Jede winzige Elle Weges kann für K. unendlich werden.29 Schreiben wir Mängel und Unzulänglichkeiten in Kafkas SchlossRoman nicht konzeptioneller Schludrigkeit zu (wozu angesichts der Entstehungsgeschichte durchaus Anlass bestünde), könnte gesagt werden, dass sich Kafka an der literarischen Realisation des Zenon‘schen Paradoxes von Achill und der Schildkröte versucht: wie der Weg (auch: der Handlungsweg des Romans) unendlich werden kann, je öfter er unterteilt wird. 3. Nahezu jeder Weg wird daher bei Kafka (analog zu Boudjedra) zu einem Umweg, der mäandriert, aber nicht zum Ziel, zur Erfüllung gelangt. 4. Der fragmentarischen und unverbundenen Topografie entspricht die fragmentarische Raumwahrnehmung der Figuren. Aus der Binnenperspektive des ‚Fremden‘ K. ist kein Überblick über den Raum möglich. Diese Unmöglichkeit zur Gesamtschau betrifft den Kern seines Tuns: als Landvermesser Karten zu zeichnen, topografische und topologische Relationen in schematisierender Vogelperspektive darzustellen.30 Für ihn ergibt sich keine Gesamtschau der Wahrnehmung, keine ‚Karte‘ im Deleuze‘schen Sinne. Aus seiner Froschperspektive bleibt ihm die Perspektive der Macht nebulös. Gerade angesichts der Ironie, dass der Landvermesser unfähig ist, Karten zu erstellen (es sei denn, er ist ein Lügner; siehe Punkt 7), erscheint die sowohl berufliche Rolle als auch soziale Identität K.s prekär. 5. Kafkas Roman ist ein Schnee- und Winterroman, der in geschickter Manier den Schnee benutzt, um die in Punkt 1 und 2 angesprochenen labyrinthischen und desorientierenden Effekte der Szenerie zu steigern. Wege, Landschaften, markante topografische Unterschiede dieser zivilisatorischen Provinz lösen 29 Vgl. Kafka, Franz: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 32: „Der Weg ist unendlich, da ist nichts abzuziehen, nichts hinzuzugeben und doch hält jeder noch seine eigene kindliche Elle Wegs daran. ‚Gewiß, auch diese Elle Wegs mußt du noch gehen, es wird dir nicht vergessen werden‘“. 30 F. Kafka: Das Schloß, S. 96: „Die Blicke des Beobachters konnten sich nicht festhalten und glitten ab“.
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sich in der fraktalen Unendlichkeit der Schneekristalle auf – die optisch zwar weitgehend gleich (vielleicht mal größer, mal kleiner) anmuten, doch in sich unendlich verschiedenartig aufgebaut sind. Monotonie, Wiederholung, Unterschiedslosigkeit: all dies verbindet natürliche Schneelandschaften und künstlich angelegte Labyrinthe.31 Schloss und Dorf bilden ein hermetisches System: als hermetische Systeme sind sie undurchschaubar und repressiv. Denn alle Macht liegt in den obskuren und undurchdringlichen „Netzwerken der Schloß-Administration“32. Der Landvermesser K. wird – trotz seiner Affäre mit Frieda und seiner Tätigkeit als Aushilfslehrer – weder in ein soziales Netz (die Dorfgemeinschaft) integriert noch zur hierarchisch übergeordneten Schlossgemeinschaft vorgelassen. K. bleibt dadurch bis zum offenen Romanende ein fragwürdiger und lügnerischer Außenseiter. Durch seinen Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft ist auch K.s Identität in Frage gestellt. Zum einen bleibt K.s an seinen vermeintlich vom Schloss stammenden Auftrag gebundene Anwesenheit unbestätigt und offen – einem Auftrag, zu dem es im Übrigen nie kommen wird. Oder aber K. lügt über seinen Auftrag. In beiden Fällen ist seine Rolle als Landvermesser dubios. Kafkas Roman basiert auf einem agonalen Prinzip, wobei ein einzelner Antagonist einem gewaltigen Über-Ich-artigen Protagonisten gegenübersteht (der Großstadt bzw. dem Dorf/Schloss). Der vereinzelte Antagonist ist desorientiert, verloren in Raum und Zeit. Diese Verlorenheit in Raum und Zeit lässt auch Körper und Identität des Antagonisten instabil werden. Damit schließt sich ein Kreis zu den Romanen von Butor und Boudjedra. Arbeiten Butor und Boudjedra mit einem Überhandnehmen, einer Hypertrophie der Zeichen, sind die Zeichen bei Kafka oft ohne Zusammenhang und damit bedeutungslos; es könnte von einer Hypotrophie der Zeichen bzw. einer zu großen Unverbundenheit der Einzelinformationen (Zeichen) gesprochen werden – was wiederum der labyrinthartigen Fragmentarik der topografischen Struktur von Dorf und Schloss entspräche.
31 Vgl. zu Monotonie und Wiederholung im Schloß Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München: Beck 2005, S. 593f. 32 Ebd., S. 603.
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Labyrinth und Netz: sie können beides sein, Raumrealisierungen oder Metaphern, d.h. erkenntnistheoretische Modelle, um die Beziehung von Subjekt und Raum näher zu beschreiben. Als Raumrealisierungen sind sie materiell fassbar; als Metaphern hingegen haben sie einen heuristischen Wert, indem sie unsere Einstellung zur Wirklichkeit bestimmen und Subjekt und Raum/Umgebung zueinander in Beziehung setzen. Während das Labyrinth ein determiniertes, oft in sich stabiles und geschlossenes System repräsentiert, ist das Netz eher ein offenes System, das seine Struktur neu suchen und finden und durch neu hinzukommende Erfahrungen erweitern kann, nie aber endgültig strukturiert ist. Es bildet – ganz im Sinne von Ecos Definition oder Deleuze/Guattaris Konzept der ‚Karte‘ 33 – eine Vielheit nicht-hierarchischer Verknüpfungsmöglichkeiten, die nicht abgeschlossen sind und die verschiedene Ein- und Ausgänge haben können. Ein Netz bietet als Interaktionsmöglichkeit nicht primär Orientierungspunkte, sondern Erfahrungs- und Verstehensmöglichkeiten, die mich im positiven Sinne über mich selbst hinausführen können. Das Labyrinth hingegen lässt sich definieren als die Einheit der Unausweichlichkeit, der Geschlossenheit, des Innen. Es führt daher – in letzter Konsequenz – den Labyrinthgänger radikal auf sich selbst zurück, weil es Orientierung und damit auch den Sinn verweigert. Das Labyrinth definiert einen Ausschlusszwang, das Netz eine Anschlussmöglichkeit. Das Labyrinth ist eine Suprastruktur, die darauf abzielt, Orientierung und Vernetzung systematisch (d.h. auf strategische Weise) zu zerstören. Die Praktik der Vernetzung wiederum versucht als Taktik, das anfängliche Labyrinth (der Stadt) aufzubrechen und zu umgehen, indem sie zunächst kleine und lokale Kontakte realisiert. Das Netz ist im Idealfall etwas, das wir benutzen, ein methodisches Werkzeug. Als methodisches Werkzeug hat es eine ideelle und räumliche WegweiserFunktion. Das Labyrinth hingegen ist kein Werkzeug, eher ein überlegener Antagonist, ein heimlicher Agent, eine architektonische Provokation, die Ich und Raum auf radikale Weise miteinander zu konfrontieren versucht: Ein räumlicher Affront, der zu einem semantischen Affront wird. Labyrinth und Netz definieren verschiedene Möglichkeiten, sich mit der Umgebungsrealität in Verbindung zu setzen, ein Verhältnis von Subjekt und Raum zu definieren.34 Während die Beziehung von Raum und Ich durch das Labyrinth agonal/existentiell und hierarchisch wird,
33 Deleuze, Gilles/Guattari Félix: Rhizom, Berlin: Merve 1977, S. 35. 34 Vgl. zur Verbindung von Subjekt- und Raumgeschichte M. Hennig: Das andere Labyrinth, S. 21-24.
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bleibt sie beim Netz hingegen instrumentell und von einem Ausgleich, einer Annäherung, einer Anpassung und Äquivalenz zwischen Ich und Welt bestimmt. Während das Labyrinth das Ich ein- und abschließt und durch diesen Abschluss die Erfahrung des Subjekts vollkommen irreal werden lässt, wird das Subjekt im zu Äquivalenzbeziehungen und Offenheit tendierenden Netz mit der Realität jeweils neu verbunden. Das Labyrinth zwingt zum Suchen in einem weitgehend geschlossenen und opaken System, dessen Ziel es ist, alle Verbindungen zum Außen zu kappen und den Tod des Protagonisten herbeizuführen. Das Netz (Netzwerk) all meiner virtuellen und realisierten Alltagskarten ermöglicht im Gegensatz dazu günstigenfalls das ständige Finden von Verbindungen, den Austausch von Informationen und Wissen im offenen Universum der Welt. Bleiben die Netzwerke einer Stadt (Verkehr, Logistik, Kommunikation, soziale Netzwerke) undurchschaubar und damit unzugänglich, verwandeln sie sich für den Nutzer in ein Labyrinth, das akute oder chronische Desorientierung auslöst. Wie dieses Netz im Zuviel seiner Verknüpfungen wiederum zum Labyrinth werden kann, das Raum, Zeit und Körper destabilisiert und zerstört, lässt sich bei Butor oder Boudjedra beobachten. Umgekehrt zeigt Kafka ein chronisches Zuwenig an räumlichen, semantischen und sozialen Verknüpfungen. Die Hypotrophie der Dorf-/Schloss-Architektur sowie ihrer sozialen Netzwerke, die nicht als Ganzes überblickt werden können, führen zu Vagheit, Ambiguisierung, Ambivalenz und zielloser Offenheit, die jeden Weg unendlich werden lässt. Die Relationen, die das Netz verspricht, werden bei Butor, Boudjedra und Kafka systematisch zerbrochen oder endlos weitergeführt. Was bei Boudjedra und Butor als Unendlichkeit der Fülle erscheint (in der Hypertrophie der Raumverbindungen sowie des sprachlich angehäuften metaphorischen Zeichenmaterials), könnte bei Kafka als Unendlichkeit der Leere bezeichnet werden ̶ weil jeder Weg in ein zielloses Nichts, zu einem losen Ende führt oder beliebig veränderbar ist und weil K. schlicht (so gut wie) keinen Zugang zu den im Roman existierenden Netzwerken erhält. Boudjedras und Butors Stadt werden unlesbar, weil sich die Wege und Zeichen zu einem endlosen Palimpsest (oder Prisma) überlagern; Kafkas Schloss/Dorf ist im Gegensatz dazu unlesbar angesichts akuter und chronischer Unterinformation. Bei allen dreien ist der urbane bzw. dörfliche Raum der eigentliche Protagonist des Textes, der die Erzählerfiguren zu Antagonisten degradiert. Der Fremde (oder der Migrant bei Boudjedra) verändert durch seine Anwesenheit weniger den Blick auf die Metropole/das Dorf; vielmehr ist es umgekehrt die Metropole (das Dorf), die/das als hyperdominante und doch ungreifbare Macht den Fremden kontrolliert und ihn bis zur Auflösung des Ichs destabilisiert.
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LITERATUR Primärliteratur Boudjedra, Rachid: Topographie idéale pour une agression caractérisée, Paris: Denoël 1975. (Dt. Topographie, neu überarbeitete Übersetzung, übers. v. Thomas Dobberkau, Mainz: Donata Kinzelbach 1993). Butor, Michel: L’Emploi du temps (= Collection „double“), Paris: Gallimard 2002 [1956]. Kafka, Franz: Das Schloß, Frankfurt a.M.: Fischer 1983 [1926]. — Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a.M.: Fischer 1983. Sekundärliteratur Alt, Peter-André: Franz Kafka. Der ewige Sohn, München: Beck 2005. Barthes, Roland: „Littérature et discontinuité“, in: Ders., Œuvres complètes, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty, Bd. 2, Paris: Seuil 2002, S. 430-441. Calle-Gruber, Mireille: La ville dans L’Emploi du temps de Michel Butor, Paris: Nizet 1995. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin: Merve 1977. Eco, Umberto: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, Leipzig: Reclam 1989. Friedrich, Alexander: Metaphorologie der Vernetzung. Zur Theorie kultureller Leitmetaphern, Paderborn: Fink 2015. Gießmann, Sebastian: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke, 2. durchges. Aufl., Berlin: Kadmos 2016. Hennig, Matthias: Das andere Labyrinth: Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2015. Hnilica, Sonja: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie, Bielefeld: transcript 2012. Kilcher, Andreas: Nach der Stroemfeld-Insolvenz: Kafka dringt abermals nicht bis ins Schloss vor, in: Neue Zürcher Zeitung vom 21.09.2018, verfügbar unter https://www.nzz.ch/feuilleton/nach-der-stroemfeld-insolvenz-kafka-dringt-abermals-nicht-bis-ins-schloss-vor-ld.1421801 [letzter Aufruf am 04.12.2019]. Lampugnani, Vittorio Magnago: Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes, 3. Aufl., Berlin: Wagenbach 2017.
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— Die Stadt von der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Urbane Entwürfe in Europa und Nordamerika, Berlin: Wagenbach 2017. Sennett, Richard: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt a.M.: Fischer 1994. Thorel-Cailleteau, Sylvie: La fiction du sens. Lecture croisée du Château, de L’Aleph et de L’Emploi du temps, Mont-de-Marsan: Éditions InterUniversitaires 1994.
Reiche der Buddleja Das terrain vague als Raum des Ästhetischen Andreas Mahler
1. Erster Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum terrain vague als einem prototypischen Raum des Ästhetischen ist eine Bemerkung des Mentalitätenhistorikers Patrick Hutton aus den achtziger Jahren, wonach westlich-europäisch geprägte Geschichte wie auch deren Geschichtsschreibung wesentlich dadurch geprägt seien, dass sie sich bestimmten über ein „Vordringen des Strukturierungsprozesses in den unstrukturierten Bereich menschlicher Tätigkeit“1. Der Verlauf des Zivilisationsprozesses, sofern man an ihn glaubt2, bestünde demnach in einer fort-
1
Siehe hierzu Hutton, Patrick H.: „Die Geschichte der Mentalitäten. Eine andere Landkarte der Kulturgeschichte“, in: Ulrich Raulff (Hg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin: Wagenbach 1986, S. 103-131, hier S. 127; vgl. auch S. 105f.
2
Der allzu linear wie teleologisch (miss)verstehbare Gedanke vom Zivilisationsprozess geht bekanntlich zurück auf den Soziologen Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und phylogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 [1969]; er findet sich mentalitäts- und kulturgeschichtlich unter dem Stichwort einer historischen Verhaltensforschung oder Anthropologie weiter- und zusammengeführt etwa bei Nitschke, August: Historische Verhaltensforschung. Analysen gesellschaftlicher Verhaltensweisen: Ein Arbeitsbuch, Stuttgart: Ulmer 1981, in den vielfältigen Analysen von Burke, Peter: Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie, übers. v. Wolfgang Kaiser, Berlin: Wagenbach 1986, wie in der Programmschrift von
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laufend zunehmenden Erfassung menschlicher Erfahrungsbereiche durch Strukturierungen, welche diese teilen, gliedern, ordnen und auf diese Weise in einem starken Sinne ‚be-schreiben‘ – also gewissermaßen syntagmatisch portionieren und sodann etikettierend mit kulturellen Semantiken ausstatten. Solche Strukturierung lässt sich fassen als ‚an-eignende‘ Tätigkeit, in der der Mensch als kulturelles sprachliches Wesen sich die Welt zu eigen macht, indem er sie ‚semiosphärisch‘ ordnet und eindeutig in Identitäten teilt, welche ihm seine durch ihn gemachte Kultur als vermeintliche Natur vorspiegeln.3 In ganz ähnlicher Weise sehen etwa gegenwärtig kursierende Theorien der steten sozialen Ausdifferenzierung à la Luhmann oder der unaufhörlichen ‚complexification‘ à la Lyotard den allgemein vorherrschenden Grundprozess gesellschaftlicher Entwicklung.4 Dies suggeriert allerdings, wie schon das Wort vom ‚Vordringen‘ oder auch die Formulierung ‚zunehmend‘ verrät, eine gewisse Einseitigkeit in der Gerichtetheit des Prozesses – als gäbe es nichts als noch weitergehende Strukturierung, zusätzliche Ausdifferenzierung, erhöhte und noch erhöhtere Komplexität. Hierin läge eine fundamentale Logik des uns bestimmenden Funktionalismus: das einmal Errungene kann gar nicht aufgegeben werden, weil es eine Funktionsstelle aus-
Dülmen, Richard van: Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000. 3
Zur Auffassung von Kultur als einer ‚Semiosphäre‘, welche über Akte der Segmentierung und Semantisierung gegenseitig interpretierbare Vermittelbarkeit allererst schafft, siehe Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, hg. v. Susi K. Frank/Cornelia Ruhe/Alexander Schmitz, übers. v. Gabriele Leupold/Olga Radetzkaja, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 163-376, v.a. S. 232f.; zu ihrer Sicht als einem vom Menschen künstlich hergestellten „Habitat [...], durch das er sich als der manifestiert, der er ist“, siehe Iser, Wolfgang: Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, hg. v. Alexander Schmitz, Konstanz: Konstanz University Press 2013, das Zitat S. 76.
4
Zum Prozess der Differenzierung siehe etwa Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, v.a. S. 256ff.; für eine konzis zusammenfassende Darstellung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive siehe Jahraus, Oliver: „Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns“, in: Niklas Luhmann, Aufsätze und Reden, Stuttgart: Reclam 2004, S. 299-329. Zu einer Gegenthese von nicht mehr an Systeme anbindbaren, dadurch aber auch befreiend wirkenden Komplexitätsschüben siehe Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter Engelmeier, übers. v. Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1986.
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füllt, die fortan unser Leben mitbestimmt und genau deshalb als nunmehr notwendige, nicht mehr abschaffbare Struktur erscheint.5 Gegenüber einer solchen Logik linear ansteigender Progression – eines ‚immer größer, schneller, weiter‘ – bestünde allerdings eben auch die Option eines Vergessens, des Verfalls, des Ausder-Übung-, Aus-der-Gewohnheit-Fallens: die Möglichkeit von Strukturverlust. Wer die Geltung des Knigge oder verwandter Etikette- oder Grammatikregeln in den letzten Jahrzehnten – begrüßend oder auch ablehnend – verfolgt hat, mag abschätzen, was damit gemeint ist. Wo also westliche Gesellschaften gekennzeichnet sind durch ein ‚Vordringen des Strukturierten in den unstrukturierten Bereich‘, wird man nicht ganz umhinkönnen, gegenstrebig zugleich auch in gewissem Maß als Potential eine immer auch operative Rückgewinnung des Unstrukturierten gegenüber einem einstmals strukturierten Bereich auszumachen. Statt um Teleologie geht es womöglich oftmals mehr um Ökologie.
2. Dies bringt mich zum zweiten Ausgangspunkt meiner Überlegungen. In seinen weitgreifenden Reflexionen zur Gleich- und Gegenüberstellung6 von Politik und Ästhetik hat der französische Philosoph Jacques Rancière, so ließe sich im Rahmen des bisher Gesagten weiterentwickeln, das Politische gewissermaßen als den Bereich des Strukturierten und das Ästhetische als den Bereich seiner Suspension – oder vielleicht weniger jeweils als ‚Bereich‘ denn als differente, strukturierende oder suspendierende Praktiken mit dem allerorts ‚sinnlich‘ Erfahrbaren – zu beschreiben gesucht, und er hat dies zurückverfolgt bis hin zu Platons oft missverstandener Ablehnung des Künstlers im idealen Staat. Denn seiner Ansicht nach liegt für Platon das Skandalon des Dichters nicht so sehr in der Verbreitung
5
Zur analytischen Vorordnung des Funktionsbegriffs vor den Strukturbegriff – oder zumindest beider Gleichursprünglichkeit – siehe N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 83ff.
6
Zum Grundprinzip der Gleich- und Gegenüberstellung im Sinne einer nicht antithetisch auf ausschließliche Gleichheit oder Ähnlichkeit eingeengten Jakobson’schen ‚Äquivalenz‘, siehe, unter dem Stichwort ‚protivosopostavleni‘ die Überlegungen bei Lotman, Jurij M.: Die Analyse des poetischen Textes, hg. v. Rainer Grübel, Kronberg/Ts.: Skriptor 1975, S. 51-55; zu seiner Explikation und Anwendung siehe Greber,
Erika:
„Oppositionen“,
in:
Heinrich
Bosse/Ursula
Renner
(Hg.),
Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i.Br.: Rombach 1999, S. 193-210, hier S. 202.
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falscher, von der ‚idealen‘ Wirklichkeit noch um eine zusätzliche Stufe weiter entfernter Inhalte, als darin, dass er auf unaufrichtige Weise ineinssetzend zwei inkompatible Dinge gleichzeitig ‚tut‘: zu ‚reden‘, als sei er auf dem Marktplatz, und zugleich ‚Dinge zu verbreiten‘, die genau dort gar nichts zu suchen haben: „Platons Verbannung der Dichter gründet sich nicht primär auf den unmoralischen Inhalt der Fabeln, sondern grundsätzlich auf die Unmöglichkeit, zwei Dinge zugleich zu tun. Die Frage, was Fiktion sei, ist zunächst eine Frage nach der Verteilung von Orten. Aus platonischer Sicht stört die Theaterbühne ‒ zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit und ein Ort der Vorführung von ‚Trugbildern‘ ‒ die klare Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen.“7
Dies trennt Politik und Ästhetik in jeweils einen Raum (oder vielleicht eher einen Zugriff) der Differenz einerseits – des Entweder-Oder, des eindeutigen ‚Tuns‘, der ‚klaren Aufteilung von Identitäten, Tätigkeiten und Räumen‘ – und einen Raum (oder auch Zugriff) gleich- und gegenüberstellender Äquivalenz andererseits – des Zugleich, des Sowohl-als-auch, eines im Sinne des ‚brouiller‘ störenden ‚DoppelTuns‘. Gilt in der Polis die Notwendigkeit der Unterscheidung, der ‚Aufteilung‘, der Distinktion von ‚Identitäten‘ – also der Primat trennender Strukturierung zur sinnvollen und rationalen Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen –, so ist ein nicht minder in der Polis befindlicher Raum wie derjenige der Bühne und des Dichters als Raum der ‚Fiktion‘ oder auch des ‚Ästhetischen‘ insofern ein Skandalon, als er genau diese soziale Grundregel unterläuft und an sich getrennt zu Haltendes – wie ‚Abbild‘/‚Trugbild‘, ‚Wahrheit‘/‚Lüge‘, ‚Öffentlichkeit‘/‚Privatphantasie‘ – ineinssetzt und gerade darin die sozial notwendige, Bedeutsamkeit schaffende Unterscheidbarkeit zersetzt. Dies darf man, wie gesagt, nicht missverstehen als Raumseparation, noch als ‚normale‘ Opposition, allenfalls vielleicht als Meta-Opposition.8 Wohl ist das 7
Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, hg. v. Maria Muhle, 2. Aufl., Berlin: b_books 2008, S. 27 (Übers. modifiziert von A.M.); vgl. hierzu das Original: „Avant de fonder sur le contenu immoral des fables, la proscription platonicienne des poètes se fonde sur l’impossibilité de faire deux choses en même temps. La question de la fiction est d’abord une question de distribution des lieux. Du point de vue platonicien, la scène du théâtre, qui est à la fois l’espace d’une activité publique et le lieu d’exhibition des ,fantasmes‘, brouille le partage des identités, des activités et des espaces.“ (Rancière, Jacques: Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris: La fabrique-éditions 2000, S. 14)
8
Damit meine ich, dass es zuvörderst nicht um eine Gegenüberstellung von Entitäten geht, sondern um die Opposition von Relationen, von ‚Opposition‘ einerseits und
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Politische die eine Seite der Medaille, doch ist das Ästhetische in solcher Konzeptualisierung immer beide Seiten zugleich: ‚zugleich ein Raum öffentlicher Tätigkeit‘ – das ist es eben immer auch – ‚und ein Ort der Vorführung von „Trugbildern“‘ – das ist es überdies immer mit.9 Das Ästhetische ist nicht das Andere des Politischen, sondern es ist das Politische und noch etwas anderes, es ist ein anderer Zugriff auf das Selbe. Die Relation ist also nicht die eines binären Komplements, sondern die eines asymmetrisch ergänzenden Supplements.10 Und hinsichtlich des Ästhetischen ist diese Relation zugleich, wie im Zitat mit Bedacht zurecht vermerkt, eine dem Menschen an sich nicht verfügbare ‚Unmöglichkeit‘, eine ‚impossibilité‘.
3. Der klassische Feind der klaren Distinktionen ist das Vage. Wer die Polis ausschließlich rational begreift, ist darum bemüht, dieses Vage im Keim zu tilgen. Das Vage ist nicht operabel. Es entzieht sich dem sinnvollen, distinktiven Zugriff. Es will zu viel zugleich, indes vielleicht oftmals auch zu wenig; es zwingt sich in keine Struktur und folgt folgerecht keiner Funktion; sozial erscheint es dementsprechend nutzlos. Gleichwohl oder vielleicht auch gerade deshalb gibt es eine ganze urbane Dichtungstradition zum Vagen. Über 200 Jahre, nicht zufällig seit Beginn der Romantik, existiert der Begriff des ‚terrain vague‘; und über 200 Jahre hat sich eine Literatur zum terrain vague entfaltet, die ihren Ausgang zwar zunächst weitgehend eingeschränkt in französischsprachigem Schrifttum nimmt, doch sich seither begrifflich und konzeptuell in andere Sprachen wie auch andere Disziplinen fortentwickelt: Das terrain vague blickt gewissermaßen auf eine mediale Erfolgsgeschichte.11
‚Äquivalenz‘ andererseits; für eine Diskussion solcher Relationen sowie der Relationen von Relationen siehe E. Greber: „Oppositionen“, S. 193ff. 9
Und genau hierin läge mit Platon sein auszugrenzendes Skandalon der ‚unvernünftigen‘ Gleichzeitigkeit: gerade die Erkenntnis seiner Doppelung macht das Ästhetische unfähig für die Polis.
10 Zu einer systematischen strukturalistischen Darstellung des Oppositionskonzepts siehe Titzmann, Michael: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München: W. Fink 1977, S. 119ff. 11 Zur Aufarbeitung einer Theorie und Geschichte des terrain vague mit Blick auf die französische Literatur, aber auch auf seine disziplinären Weitungen siehe Nitsch, Wolfram: „Terrain vague. Zur Poetik des städtischen Zwischenraums in der
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Was ist ein terrain vague? Vorderhand mag ein terrain vague erscheinen wie ein vergessener, weithin unbeachtet bleibender, ja, in gewissem Sinne gar ein ‚unsichtbarer‘ Raum in oder auch am Rand der Stadt. Der Kölner Romanist Wolfram Nitsch hat das terrain vague systematisch zu bestimmen versucht als topologische Leerstelle, als ökonomische Brache, als ästhetischen Exkursionsraum, als Ort poetischer Imaginationsarbeit – und es dabei etymologisch sowohl von vacuus ‚leer‘ als auch von vagus ‚unbestimmt‘ herzuleiten gesucht.12 Dies deutet auf seine Bestimmung als ‚weiße‘, unkartierte, ‚tote Zone‘ oder auch als unbestimmter ‚Zwischenraum‘; es deutet auf seine raumsemantische Indistinktheit, sei es als ‚Leere‘ oder als ‚Doppel‘. Beides scheint erneut jeweils als die andere Seite derselben Medaille. Erscheint das terrain vague als Ort des Nichts, werden in ihm die klaren Identitäten zur Gänze getilgt; erscheint es als Ort der Unentscheidbarkeit – im Agamben’schen Sinne etwa wie eine „Zone der Ununterschiedenheit“, eine ‚zone of indistinction‘13 – spielen sich die klaren Identitäten verwirrend gegeneinander aus. Das eine folgt der Logik des Weder-noch, das andere der des Sowohl-als-auch. Gänzlich unbeschrieben oder unbeschreibbar scheint mir jedoch kein terrain vague. Gewiss mag ein solches in Relation zu umgebenden Funktionsräumen gewissermaßen ‚indistinkt‘ oder ‚leer‘ aussehen, doch trägt es zumeist auf sich eine Fülle gemischter Marken, sei es vergangener Größe, sei es rezenter Aneignung. Insofern erscheint es mir ganz nah an der oben beschriebenen Rancière’schen französischen Moderne“, in: Comparatio 5 (2013), S. 1-18; für eine im Umkreis von Wolfram Nitschs Forschungen entstandene ausführlichere und wesentlich stärker interdisziplinär ausgerichtete Darstellung siehe Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als „terrain vague“. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur (= machina, Band 12), Bielefeld: transcript 2017, dort auch Bemerkungen zum Zusammenhang von Vagheit und Romantik (S. 25ff.), etwa auch im Sinne des Chateaubriand’schen ‚vague des passions‘. 12 Siehe W. Nitsch: „Terrain vague“, S. 3ff.; zu einer weiteren Bedeutungsnotation aus dem Altnordischen vâgr ‚Welle‘ vgl. die Begriffsherleitung in J. Broich/D. Ritter: Die Stadtbrache als „terrain vague“, S. 17-23, v.a. S. 18. 13 Zum Gedanken einer Zone der Ununterschiedenheit siehe Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 25ff., der Begriff S. 29 (ich füge wegen des Verweises auf das ‚Indistinkte‘ auch die englische Übersetzung des Begriffes bei); vgl. hierzu auch die über das Problem der Souveränität hinausweisenden Überlegungen zum Nichterfüllungs- und Doppelstatus des Ausnahmezustands in Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.
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Vorstellung vom Ästhetischen. Das terrain vague wirkt mithin von Haus aus wie ein solcher ästhetischer Raum: als Ort des Fehlens klarer Distinktionen, als vermischender wie verwischender Möglichkeitsraum der Suspension endgültiger Entscheidung. Dies ließe ihn zugleich erscheinen wie eine ‚Heterotopie‘. Wolfram Nitsch hat in Anerkenntnis vermeintlich gewähnter Nähe mit guten Gründen vor vorschnellen Gleichsetzungen mit anderen Raumbegriffen gewarnt.14 So steht das terrain vague für ihn etwa im Gegensatz zum Augé’schen non-lieu aufgrund seiner anthropologischen Grundierung sowie seiner Dysfunktionalität.15 Auch gehe es nicht auf in der Utopie, weil es deren oftmals damit einhergehende karnevaleske Euphorie und Freiheitsseligkeit nicht teilt – auch wenn es temporär zuweilen damit besetzbar scheint wie im notorischen ‚Kinder- und Abenteuerspielplatz‘-Motiv. Desgleichen ist für ihn das terrain vague auch nicht automatisch eine Foucault’sche Heterotopie, wofern man diesen aus seiner Sicht „mittlerweile oft allzu weit ausgelegten Begriff“ nicht, wie er vorschlägt, einschränkt auf den jeweils spezifischen „Formtyp der chronischen Heterotopie, da er immer nur für begrenzte Zeit besteht, sowie de[n] Funktionstyp der Kompensationsheterotopie, da er die Ordnung des normalen Raums als problematisch erweist“ – allerdings im Gegensatz zum Park oder zum Friedhof nicht durch erhöhte Ordnung, sondern durch erhöhte Unordnung „als schierer Riss im Gewebe der Stadt“.16 Ich will gleichwohl noch einmal auf Foucaults Grunddefinition der Heterotopie zurückkommen, denn dieser bestimmt die Heterotopie aus funktionaler Sicht bekanntlich allgemein wie folgt: „Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.
14 Siehe W. Nitsch: „Terrain vague“, S. 4f. 15 Zum Nicht-Ort als ‚sur-modernem‘ nicht-anthropologischem, funktionalem Raum siehe Augé, Marc: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité (= La Librairie du xxe siècle), Paris: Seuil 1992. 16 Alle Zitate bei W. Nitsch: „Terrain vague“, S. 5f.; dieser ‚Riss im Gewebe der Stadt‘ würde somit noch einmal verweisen auf die oben angedeutete inverse Vermutung eines auch möglichen ‚Vordringens des unstrukturierten Bereichs in den strukturierten Bereich‘.
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Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“17
Was mich natürlich interessiert, ist das wiederum zwei Dinge ineinssetzende Wort ‚gleichzeitig‘ wie auch die Paradoxie des ‚Repräsentierens‘, ‚Bestreitens‘ und ‚Wendens‘. Mir scheint dies dem heterotopen Raum aus funktionaler Sicht dieselben Charateristika zuzuschreiben wie der Rancière’sche Passus dem Bühnenraum des Theaters als ‚einem Raum öffentlicher Tätigkeit‘ – also etwa des Repräsentierens – ‚und einem Ort der Vorführung von „Trugbildern“‘ – also des gleichzeitigen Bestreitens und Wendens der Repräsentation. In diesem Falle wären die terrains vagues der Literatur mithin nichts anderes als textuelle Kristallisierungen von im Ästhetischen imaginierten Heterotopien; sie wären selbst Räume – vielleicht wiederum eher Zugriffe – des Ästhetischen.18 Genau solches, meine ich, hat jemand wie der französische Gegenwartslyriker Jacques Réda im Sinn, wenn er als Vagant auf der Suche nach Pariser Stadt‚Ruinen‘ sich programmatisch für eine ‚Union pour la Préservation des Terrains Vagues‘ stark zu machen sucht.19 Rédas Texte sind ‚pro-menierende‘ Prosabewegungen vornehmlich durch die Stadtlandschaft von Paris mit einem ‚Ich‘, das sich 17 Foucault, Michel: „Andere Räume“, übers. v. Walter Seitter, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, 2. Aufl., Leipzig: Reclam 1991 [1967], S. 34-46, hier S. 39, seine Herv.; im Original erscheint dies als „des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées, dans lesquelles les emplacements réels, tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables“ („Des espaces autres“, in: Dits et écrits, hg. v. Daniel Défert/François Éwald, 4 Bde., Paris: Gallimard 1994, Bd. 4, S. 752-762, hier S. 755). 18 Zum Versuch einer weitreichenden, literaturwissenschaftlich ausgerichteten Ausarbeitung des Zusammenhangs von Heterotopie und Ästhetik siehe die Überlegungen bei Warning, Rainer: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: W. Fink 2009, v.a. S. 11-41; für den Gedanken einer enklavenhaften ‚heterotopen‘ Einkapselung des Auch-Möglichen in dem, was wir für das Reale halten wollen bzw. dessen Umkehrung, siehe Mahler, Andreas: „Konstruktion/Gegen/Konstruktion. Über das Imaginäre als Vermögen und als Funktion“, in: Comparatio 6 (2014), S. 87-101, v.a. S. 97ff. 19 Siehe hierzu den Text „Appuyé dans cette attitude pensive“, in: Réda, Jacques: Les Ruines de Paris, Paris: Gallimard 1993 [1977], S. 45-47. Zu den terrain vagues bei Jacques Réda siehe Nitsch, Wolfram: „Terrains vagues und Nicht-Orte. Städtische Räume in Les ruines de Paris“, in: Andreas Mahler/Wolfram Nitsch (Hg.), Rédas Paris. Topographien eines späten Flaneurs, Passau: Stutz 2001, S. 31-49; ich stütze mich im
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weder als absichtsloser ‚flâneur‘ noch als zielstrebiger ‚explorateur‘ begreift, sondern vielmehr als stets, wenn auch immer ein wenig vergeblich, hoffender, herumirrender Zeichensucher, als jemand, der nicht ausschließt, dass sich jeden Moment etwas entbergen kann, selbst wenn es sich nie ergibt: „J’étais bien cependant à la recherche de quelque chose, dont ces rues indéfiniment suivies ne me livraient de temps à autre que des signaux. Mais pour les percevoir je devais, autant que possible, affecter cette humeur rêveuse et détachée qui gouverne vaguement la promenade. Alors seulement les signaux s’enhardissent et se laissent surprendre. J’errais dans une sorte d’état second, participant à la fois de l’hypnose et de l’éveil du chasseur. A moins d’évoquer je ne sais quelle indéfinissable quête métaphysique – et d’ailleurs sans rejeter en bloc cet aspect de pareils cheminements – il me semble que le véritable objet de la recherche n’était autre que l’état où elle me plongeait.“20
Aufschlussreich erscheint die suspendierte, losgelöste Grundhaltung des ‚promeneur‘, welche ihn eben genau ‚vaguement‘ bestimmt, ihn in einen hypnoseähnlichen, ebenso ziellosen wie erwartungsfrohen ‚état second‘ versetzt, welcher selbst schon das Ziel und nicht das bloße Mittel der unternommenen Suche darstellt. Erst dann, so die Sprechinstanz des Texts, fassen die Dinge den Mut (‚s’enhardissent‘), zu Marken, zu Zeichen zu werden, auch wenn sie keine sind, sondern eben bestenfalls ‚Als-Ob-Zeichen‘.21
Folgenden auf Überlegungen, die ich zum Teil entwickelt habe in Mahler, Andreas: „Supplementäre Topographien. Rédas Kopfbahnhöfe als Spielräume des Imaginären“, in: ebd., S. 109-131, und „Imaginäre Karten. Performative Topographie bei Borges und Réda“, in: Achim Hölter/Volker Pantenburg/Susanne Stemmler (Hg.), Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst (= Urbane Welten. Texte zur literaturwissenschaftlichen Stadtforschung, Band 1), Bielefeld: transcript 2009, S. 217-239. Zu Réda siehe auch das Schlusskapitel in R. Warning: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, S. 267-314. 20 Réda, Jacques: „A propos d’une ferveur“, in: Ders. (Hg.), Ferveur de Borges, Montpellier: Fata Morgana 1987 [1986], S. 89-98, hier S. 91f. 21 Hierin liegen die Emergenzpotentiale des fiktiven Sprechakts. Folgt man der Iser’schen Triade, wonach sich das ‚Fiktive‘ darüber bestimmt, dass es mithilfe eines vertrauten ‚Realen‘ das ‚Imaginäre‘ in eine Gestalt zieht, so ‚emergiert‘ genau hierin etwas Neues, „was mit den Ausgangslagen nicht identisch ist“; zur Triade siehe Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 20, zur Emergenz als Unberechenbarkeit mit den Ausgangslagen siehe W. Iser: Emergenz, das Zitat S. 156.
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In gewisser Weise macht also die Haltung des ‚état second‘ – die Einstellung des promeneur und Sprecher-Ich – den jeweils wahrgenommenen Ort durch den Akt der Wahrnehmung potentiell erst performativ zu einem emergierenden ‚terrain vague‘. Entsprechend beginnt das vermeintliche Gründungsmanifest mit einer am Lenker des Réda’schen vélo-solex verweilenden Pose: „Appuyé dans cette attitude pensive à mon guidon, je me propose de créer l’Union pour la Préservation des Terrains Vagues. L’U.P.T.V.“22 Gleichwohl fällt der Blick sogleich auf Geeignetes: „entre l’écrasement opéré par les bulldozers et l’érection de ces Résidences qui semblent sortir d’un vieil album à la gloire de Lyautey (si bien que les hectares entiers du Quinzième réalisent l’idéal de béton colonial de Fès ou de Rabat), un temps quelquefois assez long s’écoule, pendant lequel, à travers les barrières qui se déchaussent, on voit la végétation vigoureuse des ruines qui recroît.“23
Das sich eröffnende terrain vague ist „à l’abandon“, es entfaltet sich „entre ces interstices“, es stellt sich dar als „plan de méditation“: Meditation für eine erwartete Entbergung, welche sich trotz aller textueller Operation gleichwohl nicht einstellen wird. Der von Réda äußerst geschätzte argentinische Prosaautor Jorge Luis Borges hat einmal das Ästhetische zu fassen gesucht als ‚Enthüllung einer Präsenz, das Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es gleichwohl nie kommt‘: „esta inminencia de una revelación, que no se produce, es, quizá, el hecho estético.“24 Verbunden mit Rancière, erscheint dies wie eine ‚ahnende‘ Unmöglichkeit heterotoper Doppelung – als könnte man für einen Moment auf beiden Seiten einer Medaille zugleich sein, als wäre man in der Lage, wie in einem Vexierbild für
22 J. Réda: Les Ruines de Paris, S. 45; für eine intensivere Lektüre dieses Textes siehe Krenzel-Zingerle, Veronika: „Poesie im Zwischenraum. Eine Lektüre von Rédas ,Appuyé dans cette attitude pensive‘“, in: A. Mahler/W. Nitsch (Hg.): Rédas Paris (2001), S. 77-94. 23 J. Réda: Les Ruines de Paris, S. 45f. (auch die Folgezitate); Louis Hubert Lyautey zeichnet politisch verantwortlich für die Errichtung seelenloser Betonresidenzen in Fes und in Rabat. 24 Siehe Borges, Jorge Luis: „La muralla y los libros“ (1950), in: Ders.: Prosa completa, hg. v. Carlos V. Frías, 3 Bde., Barcelona: Bruguera 1980, Bd. 2, S. 131-133, hier S. 133; der oben zitierte Band Ferveur de Borges nimmt sich aus wie dessen unbedingte Feier. Zur Verbindung von Heterotopie und Borges’ Begriff vom Ästhetischen unter dem Stichwort einer „differentiellen Epiphanie“ siehe R. Warning: Heterotopien, S. 23 (Herv. dort), zum Einbezug Rédas siehe auch ebd., S. 29.
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einen Augenblick beide Bilder (‚duck‘ und ‚rabbit‘), beide Stadt- und Textzustände (‚Strukturiertheit‘ und ‚Entropie‘) gleichzeitig zu sehen.25
4. Der programmatische Gründungstext für den Erhalt der terrains vagues endet nicht zufällig am aufgelassenen Abbildung 1: La Petite Ceinture Bahnhof an der Verzweigung der Linie Montparnasse und der so genannten ‚Petite Ceinture‘ „dans son fossé“, einer relikthaften „station campagnarde“27, auf deren letzter nutzloser Wartebank der promeneur verweilt, als warte er auf Godot. Die Petite Ceinture ist ein Musterfall des terrain vague (siehe Abb. 1). Einst Sinnbild des Funktionalismus, unabdingbares, nützliches Bindeglied zwischen den Kopfbahnhöfen der Metropole, ist sie nunmehr sichtbares Bild der Brache, des Zerfalls, Archiv A. Mahler: © Johannes Hauck26 eines Nutzloswerdens, des Prozesses fortschreitender Destrukturierung – Herausforderung für den promeneur. „L’un des plus vastes et plus secrets jardins de Paris demeure en permanence visible, voire accessible dans certaines conditions qui ne laissent pas de mettre à l’épreuve les facultés d’observation et de souplesse du promeneur.“28
25 Zur duck/rabbit-Figur siehe Gombrich, E.H.: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, Oxford: Phaidon 1988, S. 4f.; zum analogen Vorschlag eines ,Vexiertextes‘ siehe Mahler, Andreas: „Sprache – Mimesis – Diskurs. Die Vexiertexte des Parnasse als Paradigma anti-mimetischer Sprachrevolution“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 116 (2006), S. 34-47. 26 Ich danke Johannes Hauck für das Geschenk des Bildes. 27 J. Réda: Les Ruines de Paris, S. 47. 28 Der Petite Ceinture-Text findet sich in den Bahnhofstexten von Réda, Jacques: Châteaux des courants d’air, Paris: Gallimard 1986, S. 140-144, das Zitat S. 140 (ich verweise im fortlaufenden Text auf die jeweiligen Folgeseiten). Zu den topopoetischen
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Der Zugang birgt Gefahr und wird sogleich belohnt. Allein die Anlage – „le développement des deux pentes de ce parc, assez raides, offre cependant à la végétation une passable étendue de terrain“29 – erweist sich als großzügig und entbirgt ungeahnte Akazienbäume sowie den idealen Großstadtzwischenraum für ganze zivilisationsflüchtende, den Kontakt zum Menschen auf eine ‚halbe Sardinenbüchse‘ einschränkende Katzenvölker, „incapables de revenir à l’état vraiment sauvage et qui se clochardisent“. Als „petite forêt vierge“ verfügt die Petite Ceinture über nunmehr wirklich ‚unsichtbare‘ Geheimorte „[où] elle s’éclipse“30 – die Ex-Tunnel mit ungeahnten Pilzkulturen. Und sie erweist sich als Ort der Mischung überwundener Zivilisation und wiedergewonnener Natur, so dass sie dasteht wie „l’exemple [...] de reconquête accomplie par l’exubérance végétale sur un tracé colonisateur“31. Hier setzt sich nunmehr das Imaginäre in Gang: was man zu hören vermeint, sind „les rumeurs et cliquetis de trains fantômes, suggérant la persistance d’ailleurs réelle d’un mystérieux, intermittent traffic“32. Und genau hierin zeigt sich dem promeneur wiederum die paradoxale Doppelgestalt des Ästhetischen: „Tout en bas, entre deux happements d’ombre, j’ai vu luire une nuit de mai, sous des cascades de lune, les rails de cette Ceinture qui entoure la ville frénétique d’un anneau de sommeil forestier, et qui par divers embranchements la relie aux derniers réseaux de rêve de la planète.“33
Dies ist der Raum des vaganten, Text ‚machenden‘ Poeten: „Aux différentes syntaxes ferroviaires dont les rencontres, aux points de correspondance fonctionnant comme des relatifs, autorisent le flâneur megapolitain à combiner des phrases de plus en plus hardies, le raccordement de la Ceinture ajouterait en richesse et en subtilité.“34
Was der Poet mit ästhetischem Zugriff noch aushält und mit dem terrain vague ‚be-/er-schreibt‘ – die ‚Leere‘ wie auch das ‚Doppel‘ –, hat im funktionsbedachten Besonderheiten von Bahnhöfen siehe auch Lobsien, Verena O.: Jenseitsästhetik. Literarische Räume letzter Dinge, Berlin: Berlin University Press 2012, S. 388-423. 29 J. Réda: Châteaux des courants d’air, S. 140. 30 Ebd., S. 141. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 142. 34 Ebd.
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Politischen keinen Ort: „Car plus encore que son aïeul enfoui dans les cavernes, l’homme de l’informatique redoute l’inutilisé.“35 Und genau deshalb bedarf es des Erhalts der Ceinture, wenngleich vornehmlich nurmehr im Text: „Mais, quelque sort qu’ils nous réservent, tout devrait inciter à maintenir, en offrande propitiatoire aux dieux rancuniers de l’inutile, la ceinture qui entoure Paris d’un retranchement de silence et de liberté.“36
5. Das terrain vague beschränkt sich nicht auf Paris. In Paul Farleys und Michael Symmons Roberts Prosasammlung Edgelands: Journey into England’s True Wilderness gibt es ein post-zivilisatorisch insulares Parallelprojekt.37 Beide Autoren, ihrerseits Lyriker, suchen darin Orte und Gegenstände auf, an denen sich Auflösung und Verfall von Englands industrieller – und darin einstmals ‚strukturierender‘ – Größe sichtbar machen lassen. Sie gehen Phänomenen nach, die sich dem vermeintlich unverrückbaren Dogma steten Wachstums und unaufhaltsam fortschreitender Strukturierung widersetzen und darin – gleich einer Réda’schen ‚liberté‘ – Freiräume öffnen, die zivilisatorisch so mutmaßlich weder je gedacht noch je gewünscht gewesen sind. Auch ihr Projekt ist eins der Freisetzung des Imaginären. Es zeigt die Grenzen der ,klaren Aufteilung in Identitäten‘ und feiert die ‚wendende‘, ‚bestreitende‘ kopräsente Anteiligkeit der wilderness sowohl an der politischen Illusion des Öffentlichen wie auch am Geheimbereich der ‚fantasies‘. Ihre terrains vagues heißen ‚wastelands‘ und ihre Art des Zugriffs ist oftmals der Überfall, die Überraschung: „It’s always a surprise, walking along a busy city street, to find a gap in the shiny advertising hoardings or a bent-back sheet of corrugated iron which affords a view on to an open wasteland carpeted with flowers in summer, or the archaeological earthworks of new building
35 J. Réda: Châteaux des courants d’air, S. 143. 36 Ebd., S. 144. 37 Siehe Farley, Paul/Roberts, Michael Symmons: Edgelands. Journey into England’s True Wilderness, London: Jonathan Cape 2011; ich danke Felix Sprang für den Hinweis (und das Buch). Auch in der englischen Literatur geht die Vertextung des terrain vague bis weit ins 19. Jahrhundert zurück; vgl. etwa die unübersichtliche und schwer zugängliche Stadtbrache von „Tom-all-Alone’s“ bei Dickens, Charles: Bleak House, hg. v. George Ford/Sylvère Monod, New York: W.W. Norton 1977, S. 195-204, v.a. S. 197.
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work where foundations are being laid. The city, suddenly, has a new scale, an underness and overness, and the eye, having scarcely a moment to readjust from the enclosing streets and buildings, is overwhelmed. The journey to a high moor or heath in search of wilderness and communion with nature involves a slow readjustment in terms of scale and space, but a city wasteland is all the more mysterious for the manner of our encounter with it: the imagination does the travelling. As if alert to the value of the spectacle, some contractors now cut small square windows into the shield of their hoardings.“38
Was hier begegnet, ist klassisch supplementierende urbane Schockerfahrung, allerdings über an unvermutetem Ort wiederaufblitzende Natur.39 Der ‚Riss‘ eines ‚gap‘ entbirgt in einer zivilisatorisch durchstrukturierten Stadtlandschaft ebenso überraschend wie optisch überwältigend (‚the eye is overwhelmed‘) mit einem Schlag ein unerwartetes ‚Spektakel‘ ineinssetzender Vermischung topologischer ‚Geschlossenheit‘ und ‚Offenheit‘, der Vermengung eines ‚Außen‘ mit einem ‚Innen‘, der Überblendung historischer ‚underness‘ und ‚overness‘, der Gleichund Gegenüberstellung von ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ – ein quasi-präsentisches ‚open wasteland‘, zivilisatorisch-unzivilisatorisch ‚carpeted with flowers‘, mit ästhetischem Anspruch und zuweilen zusätzlich ästhetisierender Rahmung (‚square windows‘) als Einladung an die ‚Imagination‘ zu einer gleichermaßen okularen wie textuellen ‚mysteriösen‘ Reise (‚the imagination does the travelling‘) inmitten der gleichwohl nie verlassenen Stadt. Was sich entbirgt, ist ein ‚new scale‘, ein ‚readjustment in terms of scale and space‘. Sichtbarstes Symbol vegetaler Rückgewinnung des Unstrukturierten im Strukturierten – vielleicht auch sinnfälligstes metonymisches Substitut für die Bedeutung des terrain vague – ist das Erscheinen der Buddleja. Diese oftmals lediglich für sinnlos wucherndes Unkraut erachtete lateinamerikanische Variante des Sommer- oder Schmetterlingsflieders durchsetzt den Réda’schen Text.40 Und 38 P. Farley/M.S. Roberts: Edgelands, S. 136f.; der Folgetext widmet sich im Übrigen ganz in Réda’scher Manier den „Ruins“ (S. 150-160). 39 Zur urbanen Erfahrung des von ihm so transkribierten ‚Chocks‘ siehe Benjamin, Walter: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 108ff. 40 Zur buddléia bei Réda siehe etwa den Text zur „Gare Montparnasse“, wo von der „mélancolie envahissante du buddléia“ die Rede ist (J. Réda: Châteaux des courants d’air, S. 126), oder auch einen der Schalttexte in den Ruines de Paris, „Une petite porte bleue“, wo der Sprecher/Dichter in melancholisch-trauernd selbstironischer Weise noch einmal die einstmalige Inspirationskraft der Unkrautpflanze heraufzubeschwören sucht: „Où est-il/ le temps où j’ai cru m’attendrir sur les buddléias tristes/ en promeneur amateur qui de toute façon rentre au chaud/ pour rédiger son petit morceau de bravoure
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auch Farley und Simmons widmen ihm in unmittelbarem Anschluss an die oben zitierte Stelle eine eigene Reflexion: „Adam Buddle could be described as one of the chief architects of England’s edgelands. Except that he wasn’t an architect at all, but a botanist who died 300 years ago. But he did (courtesy of Linnaeus) lend his name to a plant imported from South America, a plant that has with the help of wind and weather, self-seeded across huge swathes of unchecked, uncultivated land around our towns and cities. The buddleia or ‚butterfly bush‘ has become such a significant marker of edgelands territory, that ‚kingdom of buddleia‘ is not a bad name for the largest stretches of these purple flowers, on large, open wastelands like the huge stands behind the hoardings of Albion Street just outside the centre of Wolverhampton. And that vivid purple is a perfect complement to that other dominant edgelands tone, the deep red-brown colour of rust. At its most painterly, this combination can be found where huge rust-coloured gas holders rise out of the purple jungle, and passers-by admire the beauty while holding their breath.“41
Der Vorschlag, die terrains vagues englischer ‚edgelands‘ als ‚Reiche der Buddleja‘ anzusehen, bringt mich zurück zum Ästhetischen. „Vielleicht“, so hat der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler einmal gemutmaßt, „ist ‚Literatur‘“ – und hierin zielt er aufs Ästhetische – „wie ‚Unkraut‘“.42 Keiner, so sein Argument, kann beim Jäten genau sagen, was ein anderer in seinem Garten nicht gern haben will und was doch. ‚Unkraut‘ ist genauso indistinkt wie ‚Literatur‘. Es fügt sich nicht der ‚klaren Aufteilung von Identitäten‘; im Foucault’schen Sinn ‚repräsentiert‘ es ‚nützliche‘ Pflanzlichkeit und ‚wendet‘ und ‚bestreitet‘ sie zugleich. Die Buddleja ist ein Gewächs im Heterotop. Inmitten der Zivilisation kreiert sie einen ‚Dschungel‘, mitten in urbaner Hässlichkeit ‚beauty‘, nur wenig weg vom ‚Zentrum‘ oder der realen ‚busy city street‘ ein Reich der Imagination. Vielleicht liegt genau hierin das Mysterium wie auch das ästhetische Faszinosum des heterotopen urbanen terrain vague – in der Untilgbarkeit, der zivilisatorischen Unbezähmbarkeit der stets auch mit präsent gewähnten Imagination.
bien lisse/ avec mot juste et coups opportuns d’accélération/ lyrique et chipotage à propos de virgules?“ (J. Réda: Les Ruines de Paris, S. 74f.) 41 P. Farley/M.S. Roberts: Edgelands, S. 137f. 42 Siehe Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, übers. v. Andreas Mahler, 2. Aufl., Stuttgart: Reclam 2013, S. 37f., das Zitat S. 38.
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Die Rekolonisierung der Stadt durch den postkolonialen Flaneur in L’Abyssinie von Corinne Dufosset (2016) Elena Tüting
Der Flaneur1 ist eine literarische Figur mit langer Tradition. Entstanden in der Zeit der Industrialisierung mit ihren wachsenden Metropolen hat sie sich zu einer genuin urbanen Figur entwickelt, aus deren Perspektive die Stadt und die in ihr lebenden Menschen in ihrer Dynamik erfasst werden. 2 Unter den sich wandelnden architektonischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Stadt im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert haben sich die flanierenden Figuren in Erzählungen ebenfalls verändert. Die Bewegungen dieser neuen Flaneurfiguren sind weder Symbol einer privilegierten Schicht noch veritable Verweigerungsgeste, sondern notwendige Überlebensstrategie der schwächsten Bewohnerinnen und Bewohner der Städte. Geflüchtete, Exilierte, Migrierte sowie Nomadinnen und Nomaden seien die 1
Die Mehrzahl männlicher Flaneurfiguren erklärt sich aus den Geschlechterkonventionen der Entstehungszeit der Figur, denn im 19. Jahrhundert war die Bewegungsfreiheit für Frauen im öffentlichen Raum stark eingeschränkt. Vgl. Gomolla, Stephanie: Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne, Würzburg: Könighausen & Neumann 2009, S. 40-44. In den zeitgenössischen Romanen über SDF-Figuren überwiegt ebenfalls die Präsenz männlicher Figuren. Das könnte darauf hindeuten, dass Frauen hier auch eine Sonderstellung einnehmen und entweder stärker marginalisiert und noch unsichtbarer als Männer sind oder geschützter als diese. Da ich mich im Folgenden hauptsächlich auf die männliche Traditionsfigur sowie auf männliche aktuelle Figuren beziehe, werde ich auch nur die männliche Form verwenden.
2
Vgl. ebd., S. 10ff., und Neumayer, Harald: Der Flaneur – Konzeptionen der Moderne, Würzburg: Könighausen & Neumann 1999, S. 10.
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symptomatischen Figuren der Postmoderne, wie Tim Cresswell postuliert, 3 und diese können durch ihre dynamische Daseinsweise in der Tradition der Flaneurfiguren gelesen werden. Mit einer dieser neuen Flaneurfiguren in Gestalt des obdachlosen Protagonisten des Romans L’Abyssinie (2016) von Corinne Dufosset setzt sich dieser Beitrag auseinander und fragt, wie durch dessen spezifische Perspektive als „postkolonialer Flaneur“ eine Rekolonisierung der Stadt vorgenommen wird. Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst das Konzept des postkolonialen Flaneurs ausgehend von Alexander Greer Hartwigers Definition näher beleuchten und weiter fragen: Wie passen die postkoloniale Perspektive und der Flaneur, diese urbane literarische Figur der westlichen Literatur des europäischen 19. und 20. Jahrhunderts, überhaupt zusammen? Inwiefern wird der Protagonist aus L’Abyssinie durch die Figurencharakterisierung und die spezifische Wahrnehmungsperspektive als Flaneur entworfen? Abschließend wird im Gesamtzusammenhang dieses Bandes die Funktion des postkolonialen Flaneurs als révélateur unsichtbarer Räume, Figuren und neuer Stadtbilder diskutiert.
DER POSTKOLONIALE FLANEUR Der postkoloniale Flaneur ist ein Konzept, das schon mehrfach in Bezug auf einen neuen urbanen Figurentypus der Gegenwartsliteratur vorgeschlagen wurde. Es handelt sich hierbei meist um Figuren, deren Lebensbedingungen durch postkoloniale Machtverhältnisse geprägt sind und die eine bestimmte sich in den Topos des Flaneurs einschreibende Reflektion der westlichen postimperialen Metropolen verkörpern. Alexander Greer Hartwiger bestimmt mit Blick auf den Protagonisten des angloamerikanischen Romans Open City von Tejo Cole den postkolonialen Flaneur wie folgt: „His role of detached interlocutor along with a complex genealogy suggests an insider/outsider dialectic, at once a part of New Yorks cosmopolitan society and apart from it. In this way, Julius resembles the figure of the nineteenth century flâneur but with an
3
Vgl. Cresswell, Tim: „Imagining the Nomad: Mobility and the Postmodern Primitive“, in: Georges Benko/Ulf Strohmayer (Hg.), Space & Social Theory. Interpreting Modernity and Postmodernity, Oxford: Blackwell Publishers Ltd. 1997, S. 360-379, hier S. 360.
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added critical lense that enables him to engage with the politics of a post ‚War on Terror‘ world.“4
Greer Hartwiger bezeichnet hier die Funktion der postkolonialen Perspektive als eine kritische Linse, die aus seiner besonderen Grenzposition als gleichzeitiger Außenseiter in Bezug auf seine Herkunft als nigerianisch-deutscher Immigrant auf der einen Seite und auf der anderen Seite als Zugehöriger einer gebildeten kosmopolitischen Gesellschaft, der er als Psychologiestudent an der renommierten Columbia University Medical School angehört, entsteht. Greer Hartwiger beschreibt in der Folge den postkolonialen Flaneur als Update des klassischen Flaneurs, den ich unter Hinzuziehung von Gomolla nach drei Kriterien charakterisiere: Die zufallsgeleiteten Bewegungen durch den urbanen Raum, die kritische Distanz zur Masse und die spezifische Wahrnehmung und Reflektion der Stadt und der sie Bewohnenden.5 Greer Hartwiger bezieht sich bei der Definition seines postkolonialen Flaneurs eher auf die letzten beiden Funktionen als auf die charakteristische Bewegung. Für ihn ist die wichtigste Funktion des Protagonisten von Open City, dass er durch eine kontrapunktische Lektüre des urbanen Raums die verschütteten Geschichten der marginalisierten Figuren der in der Stadt lebenden Gesellschaft sichtbar macht. „In this essay, I explore how Open City problematizes the narrative surrounding New York’s rise as a global megacity and provides a space from which to read the city contrapunctally through the histories, lives, and deaths of marginalized and disenfranchised populations alongside dominant narratives. […] I argue that the postcolonial flâneur is uniquely positioned to both excavate the disremembered roles marginalized and enslaved populations played in New York’s transformation from colonial outpost to global city, and to observe the way the current disenfranchised generations of migrants in New York haunt the optimistic narrative emanating from the cosmopolitan class of global citizens.“ 6
Der postkoloniale Flaneur dient sozusagen als Medium, durch das die vielfältigen Stimmen und Geschichten hör- und sichtbar gemacht werden, die in einem postkolonialen Verhältnis zur Metropole New York stehen und die einen Gegendiskurs zur neoliberalen Perspektive der Gewinner der Globalisierung darstellen.
4
Vgl. Greer Hartwiger, Alexander: „The Postcolonial Flâneur: Open city and the Urban Palimpsest“, in: Postcolonial Text 11:1 (2016), S. 1-17.
5
Vgl. S. Gomolla: Distanz und Nähe, S. 16.
6
A. Greer Hartwiger: „The Postcolonial Flâneur“, S. 2.
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In Bezug auf den Roman L‘Abyssinie möchte ich eine weitere Funktion des postkolonialen Flaneurs untersuchen: Meine Hypothese ist, dass Monk7, der Protagonist aus dem Roman L’Abyssinie, eine Rekolonisierung des städtischen Raums erwirkt, indem er die koloniale Perspektive umkehrt und die Stadt als unerforschten Raum imaginiert, den er sich durch seine Erkundungen aneignet. Hierbei wird der europäische urbane Raum wie in der Kolonisation durch den Protagonisten als unbesetztes Territorium dargestellt und nur aus seiner Perspektive gedeutet und konstruiert. Rekolonisierung ist in diesem Sinne also als eine Gegenbewegung oder Rückeroberung zu verstehen.
DER POSTKOLONIALE FLANEUR IN LʼABYSSINIE Der Protagonist des Romans L’Abyssinie ist ein Geflüchteter aus dem ehemaligen Abessinien, dessen Lebensbedingungen in einer unbekannten französischen Stadt über den Verlauf eines Jahres geschildert werden. Monk lebt das ganze Jahr bei allen Witterungsbedingungen in einem Zelt in einer versteckten Ecke der Stadt. Der Roman schildert sein von Kälte, Hunger und Einsamkeit geprägtes Leben und der zyklische Handlungsverlauf deutet an, dass es für ihn keinen Ausweg gibt. In dem Titel des Romans wird sowohl auf sein Herkunftsland Abessinien als auch auf den „Abyss“/„Abgrund“ hingewiesen. Abessinien konnte sich als ostafrikanisches Kaiserreich auf dem heutigen Gebiet von Eritrea und Äthiopien bis 1935 der Kolonisation widersetzen, wurde aber schließlich doch von 1936 bis 1941 vom faschistischen Italien unter Mussolini besetzt. Dieser Herkunftsort kann als Hinweis auf den widerständigen, nach Unabhängigkeit strebenden Charakter des Protagonisten dienen. Zugleich wird durch das inbegriffene „Abyss“, die mit dem Ort verbundenen tragischen, traumatischen Erlebnisse angedeutet, die auch im Roman nur in Fragmenten und Andeutungen aufblitzen. Beide Aspekte, das Widerständige und die Flucht vor einer traumatischen Vergangenheit, finden in der Bewegung des Protagonisten ihren Ausdruck. Für Monk ist das Gehen durch die Stadt eine zentrale Handlungsweise, die dazu dient, sich die Zeit zu vertreiben, sich vor dem Erfrieren zu schützen, Nahrung zu suchen oder die Stadt zu erkunden. Es sind diese weitestgehend erratischen und zufallsgeleiteten Bewegungen abseits der festgelegten Wege der
7
Der Name Monk erinnert phonetisch an das französische manque = Mangel, bzw. entspricht im Englischen dem monk = Mönch; beide Herleitungen des Namens weisen auf seine vom Mangel geprägte, asketische Lebensweise als Obdachloser in der Stadt hin.
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Mehrheitsgesellschaft, die ihn mit der topischen Figur des Flaneurs, wie Neumeyer ihn definiert8, verbinden. Gleichwohl ist die Funktion konträr: Während der Flaneur als melancholische Figur durch die Stadt streift, ist das zufallsgeleitete Gehen durch die Stadt für Monk eine Überlebensstrategie. Es ist jener existentielle Mangel einer festen Verortung in der Stadt, der sich laut de Certeau im Herumirren durch den urbanen Raum äußert und der die schwächsten der dort lebenden Menschen charakterisiert. Durch den Mangel eines Ortes in der Stadt und der daraus resultierenden Bewegung durch den urbanen Raum werden Fragen von Heimatlosigkeit, Staatenlosigkeit und Zugehörigkeit ausgehandelt. 9 De Certeau beschreibt diese Bewegungen, das Gehen durch die Stadt, als Akt des Widerstands der Schwachen gegen die Starken, die ihre Macht durch Ausgrenzen, Klassifizieren, Trennen und Kartografieren ausüben.10 Die Verbindung von Monk zu den Flaneuren sind demgemäß seine Abwege und sein zur Mehrheitsgesellschaft abweichender Bewegungsmodus. Die Lebensbedingungen des obdachlosen Monk führen dazu, dass seine Bewegungen zwar als zufallsgeleitet beschrieben werden, aber dennoch nicht als „Flanieren“ bezeichnet werden können. Seine Bewegungen durch den Raum werden mit Verben wie „marcher“ oder „errer“ beschrieben, durch die die Ausweglosigkeit und existentielle Notwendigkeit seiner Bewegungen betont werden. Besonders im Winter unter dem Einfluss der Kälte wird das Gehen zu einer unumgänglichen Überlebensstrategie: „De toute facon, les saisons étaient contre ceux qui n’avaient rien. De toute manière, c’était toujours la même litanie: marcher, marcher, marcher, par habitude, par lassitude, par hébétude. Les yeux fureteurs, inquisiteur.“11 Trotz dieses signifikanten Unterschiedes zwischen dem freiwilligen und bewussten Müßiggang des Flanierens und der notgedrungenen Bewegung der Heimatlosen bezeichnet auch Tim Cresswell Nomadinnen und Nomaden, Geflüchtete und Exilierte als die neuen Flaneurfiguren der Postmoderne, weil sie wie die Flaneure mit ihren spezifischen Bewegungen die räumlichen Machtinstrumente von Staaten und Städten unterlaufen und hinterfragen würden.12 Neben dem erratischen Bewegungsmuster gibt es eine zweite interessante Parallele zum Flaneur des späten 19. Jahrhunderts: die spatiale und urbane Wahr-
8
Vgl. H. Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, S. 11.
9
Vgl. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 197-198.
10 Vgl. De Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley: University of California Press 1984, S. 29ff. 11 Dufosset, Corinne: L‘Abyssinie, Paris: Les Éditions du Panthéon 2016, S. 71. 12 Vgl. T. Cresswell: „Imagining the Nomad: Mobility and the Postmodern Primitive“, S. 363.
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nehmung. Aus Monks Sicht wird die Stadt aus einer anderen zeitlichen und räumlichen Perspektive beschrieben und gedeutet, als sie die Mehrheitsgesellschaft einnimmt. Er durchquert leere Einkaufsstraßen in der Nacht und bei Kälte, in denen sich zu diesen Bedingungen sonst niemand aufhält, und offenbart damit einen anderen Blick auf den urbanen Raum: „Il quitta les quais, traversa un pont et s’enfonça dans une rue commerçante. Il tourna brusquement à gauche en apercevant un passage couvert. Tout était fermé. Plusieurs commerces paraissaient abandonnés, certains avaient une pancarte ‚À louer‘. Il leva le nez pour regarder le plafond. Une verrière poussiéreuse laissait filtrer une lumière blanche. Il longea les boutiques. Le passage désert semblait figé dans le temps, suspendu dans le cycle des heures. Il s’arrêta devant la devanture d’une mercerie et contempla les présentoirs de boutons, de bordures de tissus, les bobines de fil et les boîtes d’aiguilles. De vieilles publicités collées au mur jaunissaient en silence.“13
Statt sich mit den Menschenmassen tagsüber durch die Passagen treiben zu lassen, bewegt sich der Protagonist aus L‘Abyssinie durch eine einsame Einkaufsstraße und liest statt leuchtender Reklame vergilbte Schilder mit den Aufschriften „À louer“ oder „Fermé“. Die traditionellen Flaneurfiguren werden als Reflexionsmedium der modernen großstädtischen Wahrnehmungsbedingungen genutzt, durch das die Stadt und ihre Bewohnenden gelesen werden können.14 Bei ihnen stellt das Flanieren noch eine Form des Lesens der Großstadt und der in ihr Lebenden dar; sie zeigen eine Lesbarkeit des urbanen Raums, die dem Protagonisten des Romans nur noch in Fragmenten gelingt. Häufig kulminieren die Beschreibungen seiner Streifzüge durch die Stadt in Bildern, die den Orientierungsverlust der Figur kenntlich machen: „Là, c’était une route sans fin, sans queue ni tête, serpentant dans le froid.“15 In den sich endlos durch die Stadt schlingenden, labyrinthartigen Straßen verliert der Protagonist den Überblick über die Stadt und dadurch die Fähigkeit zur Entzifferung der Zeichen des urbanen Raums. Gleichwohl stellt Monk durch seine Außenseiterposition ein kritisches Reflexionsmedium in Bezug auf die Stadt und ihre Gesellschaft dar. Dies ist auch das Charakteristikum, das Greer Hartwiger für den postkolonialen Flaneur hervorhebt: die spezifische Position als gleichzeitiger Außenseiter und Insider. Auch Monk besitzt solch eine ambivalente Position in der Stadt. Auf der einen Seite erscheint ihm die Mehrheit der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner bloß als anonyme Masse, zu der er die Distanz wahrt und mit der er kaum Kontakt 13 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 65f. 14 Vgl. S. Gomolla: Distanz und Nähe, S. 11. 15 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 76.
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aufnimmt. Die in der Stadt wohnenden Menschen bleiben in den Beschreibungen der Stadt so sehr als undefinierte Masse im Hintergrund, dass sie fast nicht zu existieren scheinen. Sie werden zum Beispiel als „flot de voyageurs“16, „la foule“17 oder „cette population“18 bezeichnet. In dem Maße, wie er sich von der Masse der Stadtbevölkerung distanziert, scheint er mit dem städtischen Raum verbunden, die emotionale Bindung nimmt eine fast bedrohliche Nähe an: „Il disparaitrait un jour, fondu dans le bitume et dans les pierres de cette ville.“ 19 Ähnlich zwiespältig ist sein Verhältnis zu seinen „sœurs et frères d‘infortune“20, den anderen obdachlosen Figuren. Er ist ein geachteter und respektierter Teil ihrer Gruppe und gleichzeitig ein distanzierter Beobachter, der sich von ihnen abgrenzt: „Il les haissait presque ces corps informes qui se lovaient sur des bancs ou des coins des rues. Il les évitait, les ignorait comme s’ils pouvaient l’entraîner dans des dérives plus grandes que la sienne.“21
Im Gegensatz zu den übrigen Bewohnenden der Stadt bleiben seine Leidensgenossinnen und Leidensgenossen auf der Straße keine farblosen Nebenfiguren, sondern werden von ihm beobachtet und beschrieben. Er sticht aus der Gruppe der Obdachlosen als eine Art weise moralische Instanz hervor, dessen körperliche und mentale Stärke betont werden. Seine Position wird beispielsweise in einer Szene deutlich, in der er einen Streit um eine Schachtel Zigaretten schlichtet. Er fühlt sich stets verpflichtet die Eskalation solcher Situationen zu verhindern und sorgt für Gerechtigkeit, indem er die Zigaretten an sich nimmt, ohne aus seiner überlegenen Position Befriedigung zu ziehen: „Monk se sentit soudain fatigué de leur présence, comme à chaque fois qu’il côtoyait ses semblabes. Il sortit le paquet de sa poche, contrôla combien il en restait, en tira trois et les tendit à Nestor.“22
Er befindet sich somit in einem ähnlichen Nähe-Distanz-Verhältnis, bzw. in der Ambivalenz zwischen Insider und Outsider, zur Stadt und ihren Bewohnenden,
16 Ebd., S. 11. 17 Ebd., S. 16. 18 Ebd., S. 48. 19 Ebd., S. 21. 20 Ebd., S. 56. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 32f.
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wie es Greer Hartwiger für den Protagonisten von Open City beschreibt. Allerdings dient Monk im Unterschied zum postkolonialen Flaneur bei Greer Hartwiger nicht als Medium, durch das die Geschichten der Marginalisierten sichtbar gemacht werden, sondern die Sichtbarmachung ihrer Existenz und Lebensumstände geschieht einzig durch seine subjektive Wahrnehmung. Genauso ist auch die Darstellung der Stadt durch seine subjektive Perspektive geprägt: Sie ist zum einen durch sein Ohnmachtsgefühl beeinflusst, wodurch sich der städtische Raum zu einem unendlichen und unübersichtlichen Labyrinth auszudehnen scheint: „C’était un labyrinthe où lui, Minotaure déchu, érrait infiniment.”23 Zum anderen wird die Stadt von imaginären Naturräumen überlagert, die sich ebenfalls durch Unübersichtlichkeit und Weite auszeichnen. Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Naturräume ist ihr oppositionelles Verhältnis zum Urbanen, worin die Rekolonisierung der Stadt ihren Ausdruck findet.
DIE REKOLONISIERUNG „Der Gehende konstituiert den Raum stets mit, den er laufend durchquert. Dabei setzt sich ein Prozess räumlicher Perspektivwechsel und Standortverschiebungen in Gang, von Drehungen und Wendungen, welcher immer auch ein Denk- und Erkenntnisprozess ist.“24
Die Künstlerin Julia Krause beschreibt in diesem Zitat den Vorgang der Konstruktion des Raums durch ein gehendes Subjekt im Sinne von de Certeaus Gehen in der Stadt. Hiernach entsteht der Raum erst im Akt des Gehens, den de Certeau analog zum Akt des Sprechens konzipiert, bei dem auch erst im Moment der Artikulation die Aussage entsteht: „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist.“25 Ein gehendes Subjekt schafft somit immer einen eigenen Raum und prägt ihn durch seine Bewegungen und die Wahrnehmung. Das Gehen kann dementsprechend eine Aneignung und Umdeutung des Raums auch in der Kunst bewirken, so wie sie der Protagonist im Roman L’Abyssinie vollzieht.
23 Ebd., S. 74. 24 Julia Krause zitiert nach Drohsel, Karsten Michael: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse, Bielefeld: transcript 2016, S. 198. 25 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 189.
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„Ils machèrent un long moment, changeant de quartier, s’éloignant du centre, des quais, des avenues, des rues animées. Le cercle s’élargissait comme des ronds dans l’eau. Ils repoussaient les limites de leur territoire.“ 26
Monk lotet den Raum in seiner horizontalen Dimension durch seine Bewegungen aus und erweitert somit sein Territorium. Durch das Wort Territorium wird hierbei schon ausgedrückt, dass es sich dabei um die Eroberung und Aneignung dieses Raums handelt. Es handelt sich in diesem Zitat um Bewegungen, die sich der Logik der urbanen Struktur entziehen und wie Wasserkreise konzentrisch die Grenzen des als eigenen Raum empfundenen Territoriums vom Zentrum zu den Rändern der Stadt immer weiter ausdehnen. Es sind diese Bewegungen, die nach de Certeau eine Form des Widerstands ausdrücken, weil durch das Überschreiten von innerstädtischen Grenzen wie zum Beispiel von Stadtteilen, Hinterhöfen und verlassenen Stadtbrachen eigene Wege in den Stadttext eingeschrieben werden, die sich den vorgegebenen Bewegungsmustern widersetzen, 27 wie auch im folgenden Zitat deutlich wird: „Il entra dans des cours intérieures en ruine, fit fuir des chats errants au fond des ruelles étroites, respira l’air métallique des gares et du périphérique, sauta des palisades et des murs en briques pour explorer des chantiers et des terrains vagues.“ 28
Monk wird in diesem Zusammenhang als „explorateur“ beschrieben, der versteckte, ungesehene und verbotene Räume der Stadt erobert. Noch deutlicher wird die Eroberungsrhetorik in der nächsten Passage, in der er in einer eiskalten, verschneiten Nacht die menschenleeren Straßen auf dem Weg aus einem Café zu seinem Zelt durchquert: „Il foulait un territoire non conquis. Le tapis blanc immaculé ressemblait à un pays non exploré et lui, Monk, dernier explorateur de la jungle urbaine, s’avançait, dérisoire conquérant.“29
Der Eindruck des unerforschten Territoriums entsteht und wird durch die unberührte weiße Schneedecke verstärkt, durch die sich Monk als einziger Stadtbewohner bewegt. Die Stadt wird hier in einer kolonialen Entdeckungs-, Eroberungs- und Exotisierungsrhetorik als ein unerforschtes Land, urbaner 26 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 52. 27 Vgl. M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 190. 28 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 193. 29 Ebd., S. 69f.
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Dschungel, als „territoire non conquis“ und „pays non exploré“ bezeichnet, statt als bereits geordneter zivilisierter Lebensraum, der nach einer menschlichen Logik erschaffen wurde. Die Konstruktion der zu erobernden Regionen als unbewohnt, als „blank spaces“, ist ein strategisches Narrativ der Kolonisatoren, das sich, wie Hanne Birk und Birgit Neumann hervorheben, durch die Analyse des semantisierten Raums in der Literatur aufdecken lässt. Der „[…] Topos der „blank spaces of the earth“ (Heart of Darkness: 22), der besagt, dass Kolonisatoren das zu kolonisierende Land als unbewohnt, als terra nullius betrachten und somit implizit die autochthone Bevölkerung nicht nur ihres Landes berauben, sondern ihre Existenz insgesamt negieren: […] Die Verwandlung des Landes in einen unbewohnten Raum dient in diesem Zusammenhang dazu, die Eroberung als schlichte Besiedlung moralisch zu rechtfertigen bzw. zu verschleiern.“30
In dem vorliegenden Roman wird diese Strategie nun aus der Perspektive von Monk, dem abessinischen Migranten, angeeignet, um eine französische Stadt zu beschreiben. Er wirft den exotisierenden Blick zurück und beschreibt den urbanen Raum mit Naturmetaphern, die ihn als wild, unzivilisiert und unbewohnt beschreiben, und führt, so meine These, als postkolonialer Flaneur eine Form der Rekolonisierung der Stadt durch. Diese angedeutete Handlungsmacht wird aber sogleich durch die Bezeichnung als „dérisoire conquérant“31 relativiert, da seine Eroberung des Raums keinen spürbaren Effekt hat, sondern wie die Spuren im Schnee bald wieder verschwinden wird. Trotz der geringen Wirkungsmacht wird in einer anderen Passage noch eindrücklicher Monks starker Charakter betont, der vor allem von Widerstandskraft und Zielstrebigkeit geprägt ist. Er wird als „navigateur“ an der Spitze einer Flotte beschrieben, die sich durch den städtischen Raum pflügt: „Les lampadaires éclairaient deux navigateurs solitaires remontant les trottoirs, les avenues; l’un la tête dans les épaules filait à petits pas, l’autre marchait à pas de géant, tête de proue d’une flottille imaginaire, la tête cintrée d’un fichu claquant au vent qui se levait.“32
Auch hier wird das ambivalente Macht-Ohnmacht Verhältnis deutlich, durch das ein machtvolles Bild, wie das einer Flotte, durch Adjektive wie „solitaire“ und 30 Birk, Hanne/Neumann, Birgit: „Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie“, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT 2002, S. 115-152. 31 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 70. 32 Ebd., S. 55.
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„cintrée“ relativiert wird. Die Metapher der Flotte stellt gleichzeitig durch die militärische Herkunft des Begriffs und die Bedeutung der Seefahrt für die Kolonisation einen Bezug zur Eroberung der kolonisierten Gebiete dar und dreht diesen Vorgang um. Durch den diminutiven Begriff „flottille“ wird dieser Vorgang der Rekolonisierung satirisch verzerrt, wodurch bereits dessen Aussichtslosigkeit angedeutet wird. Monk ist der Heimatlose, der sich in ein unbekanntes Land aufgemacht hat, um sich dort ein besseres Leben zu gestalten. Allerdings scheitert der Versuch sich seinen Platz in der Stadt zu erkämpfen aufgrund seiner schwächeren Position. Einzig ein Zelt im öffentlichen Raum der Stadt gewährt ihm Schutz, das er als letzte Rettungsboje beschreibt: „Il s’y engouffrait comme si c’était sa dérnière bouée de sauvetage.“33 Seine Heimatlosigkeit und das Scheitern seines Versuchs einen festen Ort in der Stadt zu schaffen werden durch Metaphern beschrieben, die an gestrandete Abenteurer und biblische Pilger auf der Suche nach dem gelobten Land erinnern: „Seul naufragé sur son île“34 und „Pionnier sans terre promise“35. Besonders im zweiten Zitat wird an die biblischen Rechtfertigungen der Kolonisation wie die Suche nach dem gelobten Land und die Missionierung ungläubiger Völker erinnert, wohingegen in beiden wieder das letztendliche Scheitern des Findens einer neuen Heimat und einer Gemeinschaft betont wird.
IMAGINÄRE NATURRÄUME Es ist auffällig, dass die Stadt mit Bildern und Metaphern beschrieben wird, die die Binarität zwischen dem kultivierten und zivilisierten Raum der Stadt und der wilden und unkontrollierbaren Natur dekonstruieren, in dem die Stadt von diesen natürlichen Räumen wie der Wüste, dem Dschungel und dem Meer überlagert wird. Durch Monks Perspektive baut sich daher ein Gegenbild der westlichen Großstädte auf, durch das die Aspekte des Großstadtlebens sichtbar gemacht werden, die im Diskurs über die Stadt als Ort des fortschrittlichen Zusammenlebens der Menschen eher verschwiegen werden, wie zum Beispiel die existentielle Not bestimmter marginalisierter Gruppen im Vergleich zum Überfluss der übrigen Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner und die Bedrohung durch sozialen Abstieg oder Ausgrenzung.
33 C. Dufosset: L’Abyssinie., S. 70. 34 Ebd., S. 66. 35 Ebd., S. 80.
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Die Naturräume als Metaphern für die Stadt verbinden nicht nur die Opposition, in der sie zur Stadt stehen, sondern sie zeichnen sich ebenfalls durch die Analogie von Unübersichtlichkeit und Unkontrollierbarkeit aus. Die Wüste symbolisiert in Bezug auf den urbanen Raum einen kargen, leeren und unwirtlichen Raum. Der Sand der Wüste wird im urbanen Kontext zu kahlen Beton- und Asphaltflächen: „Monk s’arrêta et fut tenté d’appeler dans ce désert urbain. Qui l’entendrait? Il passa devant un grand hall où végétaient des arbres artificiels. Les feuilles vertes accrochaient la lumière, satinées et scintillantes comme des boules de Noël. Il gravit une volée de marches et regarda alentour. Qui pouvait se cacher dans ce dédale désert? […] Il était tel un naufragé en terre inconnue et hostile cherchant un signe qui puisse le guider.“36
Der Raum wird als menschenleer und lebensfeindlich beschrieben. Die Metapher der Wüste37 wird mit der des Schiffbrüchigen verbunden, wodurch das Gefühl der Heimatlosigkeit des Protagonisten Monk ausgedrückt wird. Die Bezeichnung „dédale désert“ evoziert eine weitere räumliche Metapher: die des Labyrinths. Wüste und Labyrinth stellen beide Räume der Desorientierung dar und symbolisieren in der Gegenwartsliteratur Erfahrungen der Einsamkeit, Entwurzelung und Ortlosigkeit.38 Dabei weisen beide Räume eine sehr unterschiedliche Struktur auf: Während im Labyrinth die Orientierungslosigkeit durch ein Übermaß an Strukturen entsteht, ist die Wüste ein absolut leerer strukturloser Raum. Labyrinthe sind ein von einem intelligenten Schöpfer erschaffenes Artefakt, dessen Rätsel, sprich der Ausweg aus ihm, prinzipiell zu lösen ist. Die Wüste hingegen konfrontiert ihr Gegenüber mit absoluter Sinnlosigkeit und bietet keinerlei Anhaltspunkt zur Findung eines Auswegs.39 Durch die Metapher der Wüste wird laut Schmitz-Emans die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Ichs ausgedrückt:
36 C. Dufosset: L’Abyssinie, S. 82f. 37 Die Wüste weist als Motiv in der Literatur seit der Bibel eine weit zurückführende Tradition auf, die sie als Raum der Prüfung und Askese auf dem Weg ins gelobte Land, als spirituelle Erfahrung auf dem Weg zu Erkenntnis oder als Sinnbild für die absolute Sinnlosigkeit der Existenz darstellt. Siehe hierzu: Schmitz-Emans, Monika: „Die Wüste als poetologisches Gleichnis: Beispiele, Aspekte, Ausblicke“, in: Uwe Lindemann/Monika Schmitz-Emans (Hg.), Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos, Würzburg: Könighausen & Neumann 2000, S. 127-151. 38 Vgl. M. Schmitz-Emans: „Die Wüste als poetologisches Gleichnis“, S. 128. 39 Vgl. ebd., S. 128f.
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„Der Metaphernkreis um die Wüste, das Leben in der Wüste oder ihre Durchquerung bekommt zum einen immer wieder einen auf die Existenz des Menschen bezogenen Sinn, beispielsweise wenn es um seine Einsamkeit, Entwurzelung, Unstetigkeit und Kommunikationslosigkeit geht; die Ortlosigkeit des Nomaden spiegelt das, was seit Lukàcs mit einer beliebten Formel die ‚transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Ichs‘ heißt.“40
Die Metapher der Wüste verkörpert das Lebensgefühl der Moderne, das sich durch eine tiefgreifende spirituelle Orientierungslosigkeit auszeichnet und in der der Mensch aus diesem Grund das Leben als ein sinnloses Herumirren empfindet. Dieses Gefühl der Ohnmacht gegenüber seiner Umwelt und der Eindruck des sinnlosen Herumirrens findet sich bei Monk wieder und wird durch seine Situation als obdachloser Geflüchteter noch verstärkt. Die Philosophen Deleuze und Guattari entwickelten ihr Konzept des „glatten Raums“ zur Beschreibung amorpher, unstrukturierter Räume, die dem Meer oder der Wüste entsprechen; dem gegenüber steht der „eingekerbte Raum“, das heißt der durch den Menschen kontrollierte und zivilisierte Raum, wie ihn die Stadt darstellt.41 „Eingekerbter Raum“, wie die Stadt ihn darstellt, kann sich wieder in „glatten Raum“ verwandeln, wenn der Mensch die Kontrolle über diesen Raum verliert und er durch das Gesetz der Natur zurückerobert wird. Die Bewohnenden des „glatten Raums“ sind laut Guattari und Deleuze die Nomadinnen und Nomaden im Gegensatz zu den sesshaften Bewohnenden der Stadt. 42 Aus der Perspektive des obdachlosen Monk verwandelt sich die Stadt in einen „glatten Raum“, weil sie für die im Prekariat lebenden Menschen nicht als zivilisiert und menschlich erscheint, sondern als ein Ort wie der Dschungel, in dem das Naturgesetz des „survival of the fittest“ gilt. In dem obigen Zitat wird durch die koloniale Rhetorik von „terre inconnue et hostile“ die spezifische Perspektive Monks als postkolonialer Migrant, der mit einer für ihn fremden Welt konfrontiert ist, unterstrichen. Der Ausdruck „terre inconnue“ erinnert an die Bezeichnung noch nicht erforschter und kartografierter Regionen als „terra incognita“. Durch den Begriff „naufragé“, der oft im Kontext mit Obdachlosen verwendet wird, wird der Raum des Meeres aufgegriffen. Die Stadt als Meer bietet dem Protagonisten somit keinerlei Möglichkeit Halt zu finden und er ist ihren Gewalten wie den Wellen und Strömungen hilflos ausgeliefert. Auch diese Metapher unterstreicht die Hilflosigkeit des Protagonisten und die Feindlichkeit des Raums. Die Naturräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie 40 Ebd., S. 135. 41 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 663f. 42 Vgl. ebd., S. 663f.
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sich der Unterwerfung und Kultivierung durch den Menschen verweigern und über übermächtige Kräfte verfügen, die die des Menschen übersteigen. Als dritte Naturmetapher für den städtischen Raum in L‘Abyssinie dient der Dschungel43, der, im Gegensatz zu Meer und Wüste, auch Schutz und Nahrung bieten kann, allerdings ebenso unkontrollierbar und unübersichtlich ist. In diesem Fall wird das Gefühl der Desorientierung und Machtlosigkeit nicht durch die Leere und Strukturlosigkeit des Raums ausgelöst, sondern durch ein Übermaß an wild wachsenden Strukturen in horizontaler sowie vertikaler Richtung. Der Dschungel erscheint dadurch eher als eine Metapher für die urbane Architektur und die unkontrollierbar wachsende Stadt, wohingegen Wüste und Meer eher als Metaphern für die Gefühlswelt des dieser Stadt gegenüberstehenden Subjekts gelesen werden können. Die Analyse der Stadtdarstellung unterstreicht die These, dass durch die Perspektive des postkolonialen Flaneurs bzw. postkolonialer Stadtfiguren der urbane Raum nicht mimetisch abgebildet, sondern durch die Vielfalt der Zeichen und Deutungsmuster aus Perspektive des Postkolonialismus imaginär nutzbar gemacht wird, analog zu dem, was Wachinger für die fiktionale Verarbeitung von London festgestellt hat.44 In dem untersuchten Roman entsteht durch die Perspektive des Protagonisten eine mehrdeutige Darstellung der Stadt. Die Naturmetaphern für den urbanen Raum weisen auf eine umdeutende, aneignende Imagination hin, verdeutlichen aber ebenso durch ihren spezifischen Charakter ein Gegenbild der Stadt, das die Lebensbedingungen der marginalisierten Stadtbewohnenden sichtbar macht. Aus Perspektive obdachloser und papierloser Figuren wandelt sich die Stadt in einen lebensfeindlichen und gefährlichen Raum. Gleichzeitig werden durch diese Metaphern Bezüge zu Herkunftsorten und Fluchtwegen der Figuren deutlich. Die Wüste ist für Monk nicht nur Ausdruck seiner aktuellen Lebensbedingungen, sondern auch Herkunftsort und das Meer ist 43 Der Dschungel als Metapher für die Großstadt existiert seit Ende des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel in Gustave Dorés Beschreibungen der Armenviertel von London von 1872 und Upton Sinclairs Roman The jungle von 1906 über die Ausbeutung der Arbeiter in den Schlachthöfen Chicagos. Der Großstadtdschungel steht daher häufig in Verbindung zu ärmeren Stadtvierteln, die als unkontrollierbar und gefährlich beschrieben werden und in denen das Naturgesetz des „survival oft he fittest“ gelte. Vgl. Hnilica, Sonja: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie, Bielefeld: transcript 2012, S. 111f. 44 Vgl. Wachinger, Tobias: „A city visible but unseen. Zur Funktion der Textstadt London in Salman Rushdies ‚The satanic verses‘“, in: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imaginarium, Heidelberg: Winter 1999, S. 271–287, hier S. 274.
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der konkrete Raum, den er überwinden musste, um in eine europäische Stadt zu gelangen. Dadurch wird deutlich, in welcher Weise diese polyseme Stadtdarstellung entsteht.
FAZIT Die Analyse der Textstellen hat gezeigt, inwiefern der Protagonist als sich durch den urbanen Raum bewegendes Reflexionsmedium charakterisiert werden kann, der als Grenzgänger in der Stadt versteckte Räume und unsichtbare marginalisierte Figuren sichtbar macht. Durch seine Bewegungen versucht er sich den städtischen Raum anzueignen, der aus seiner Perspektive als imaginärer unerforschter und wilder Naturraum in Form von Wüste, Meer und Dschungel erscheint. Hier findet eine Rückspiegelung der kolonialen Eroberungsrhetorik und des Blicks auf das Fremde statt, die ich als Rekolonisierung der Stadt bezeichne. Durch die Machtlosigkeit des Protagonisten gegenüber diesen unübersichtlichen und unkontrollierbaren Räumen wird allerdings unterstrichen, dass seine Versuche sich den urbanen Raum anzueignen letzten Endes immer erfolglos bleiben. Durch diese Darstellung wird das Machtgefälle zwischen Monk, dem Geflüchteten aus Abessinien, und dem urbanen Raum Frankreichs verdeutlicht: es kann nicht durch die Rekolonisierung revidiert, sondern nur sichtbar gemacht werden.
LITERATUR Birk, Hanne/Neumann, Birgit: „Go-Between: Postkoloniale Erzähltheorie“, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT 2002, S. 115-152. Cresswell, Tim: „Imagining the Nomad: Mobility and the Postmodern Primitive“, in: Georges Benko/Ulf Strohmayer (Hg.), Space & Social Theory. Interpreting Modernity and Postmodernity, Oxford: Blackwell Publishers Ltd. 1997, S. 360-379. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. — The Practice of Everyday Life, Berkeley: University of California Press 1984. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992. Drohsel, Karsten Michael: Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse, Bielefeld: transcript 2016.
106 | Elena Tüting
Dufosset, Corinne: L‘Abyssinie, Paris: Les Éditions du Panthéon 2016. Gomolla, Stephanie: Distanz und Nähe. Der Flaneur in der französischen Literatur zwischen Moderne und Postmoderne, Würzburg: Könighausen & Neumann 2009. Greer Hartwiger, Alexander: „The Postcolonial Flâneur: Open city and the Urban Palimpsest“, in: Postcolonial Text 11:1 (2016), S. 1-17, verfügbar unter https://www.postcolonial.org/index.php/pct/article/view/1970/1938 [letzter Aufruf am 20.02.2020]. Hnilica, Sonja: Metaphern für die Stadt. Zur Bedeutung von Denkmodellen in der Architekturtheorie, Bielefeld: transcript 2012. Neumayer, Harald: Der Flaneur – Konzeptionen der Moderne. Würzburg: Könighausen & Neumann, 1999. Schmitz-Emans, Monika: „Die Wüste als poetologisches Gleichnis: Beispiele, Aspekte, Ausblicke“, in: Uwe Lindemann/Monika Schmitz-Emans (Hg.), Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos, Würzburg: Könighausen & Neumann 2000, S. 127-151. Wachinger, Tobias: „A city visible but unseen. Zur Funktion der Textstadt London in Salman Rushdies ‚The satanic verses‘“, in: Andreas Mahler (Hg.), StadtBilder. Allegorie, Mimesis, Imaginarium, Heidelberg: Winter 1999, S. 271– 287.
Die sicht- und doch unsichtbare Stadt Ethnoscapes und die Funktionen von Raumkonzepten in aktuellen Texten der Afroromania Hanna Nohe
1. EINLEITUNG In italienischen Städten sind die subsaharischen Straßenverkäufer omnipräsent, die nicht nur Gegenstände, sondern teilweise sogar Bücher verkaufen. In Paris – aber nicht nur dort – leben auch viele weibliche Migranten subsaharischer Herkunft. Doch wie nehmen diese Menschen die Stadt wahr, in der sie leben? Welche Räume sind für sie zentral und welche Funktion haben diese für sie? Anhand von vier autobiografisch geprägten Texten bzw. autodiegetisch erzählten Fiktionen von mehr und weniger bekannten afrikanisch-stämmigen Autorinnen und Autoren der Gegenwart sollen im Folgenden diese Fragen nicht nur thematisch, sondern auch hinsichtlich ihrer literarischen Besonderheiten beantwortet werden. Konkret handelt es sich um La mia casa è dove sono (2010)1, eine sich als autobiografisch präsentierende Erzählung der somaliastämmigen Autorin Igiaba Scego. Die Autorin wurde zwar in Rom geboren und besitzt einen italienischen Pass2, erlebte jedoch durch die kurz zuvor erfolgte Migration der Eltern von Somalia nach Italien unmittelbar die Auswirkungen dieser Migration. In Bay
1
Scego, Igiaba: La mia casa è dove sono, Turin: Loescher 2012 [2010].
2
Vgl. Lorenzetti, Sara: „La mia casa è dove sono. La recherche di Igiaba Scego“, in: Kathrin Ackermann/Susanne Winter (Hg.), Spazio domestico e spazio quotidiano nella letteratura e nel cinema dall'Ottocento a oggi (= Civiltà italiana), Florenz: Cesati 2014, S. 127-137, hier S. 127.
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Madembas Il mio viaggio della speranza (2011)3 und Papa Ngady Fayes Se Dio vuole (2011)4 schildern die aus dem Senegal stammenden Autoren ihren Weg nach bzw. ihr Leben in Italien. Der vierte Text ist explizit fiktional, jedoch ebenfalls autodiegetisch erzählt: Des fourmis dans la bouche (2011)5 handelt von einer Malierin, die in Paris lebt, wurde jedoch von der – wie Mademba und Faye – im Senegal aufgewachsenen Schriftstellerin Khadi Hane verfasst. Die Autorin lebt inzwischen in Paris und ist also selbst migriert. Der Einbezug dieses fiktionalen Textes ermöglicht es, eine subalterne Perspektive einzubeziehen, die zwar imaginiert ist, jedoch auf realen Erfahrungen der Autorin beruht, die als Studentin in Paris bei Frauen gearbeitet hat, die aus afrikanischen Dörfern stammen. Die Protagonistin vereint der Autorin zufolge die Biografien mehrerer dieser Frauen. 6 Im Folgenden wird in einem ersten Schritt das Konzept der ethnoscapes nach Arjun Appadurai vorgestellt und in den Texten aufgezeigt, um es daraufhin in Zusammenhang mit Homi K. Bhabhas Verständnis des Subalternen zu verknüpfen. In einem zweiten Schritt werden Konzepte öffentlicher Räume diskutiert und deren Präsenz in den Texten herausgestellt. Es wird sich erweisen, inwiefern die subsaharische ethnoscape in den untersuchten Werken als eigenes Netzwerk in Erscheinung tritt, das als subalterne Stadt in der Stadt zu begreifen ist. Andererseits weist dieses Netzwerk öffentlichen Räumen eine neue Bedeutung zu.
2. ETHNOSCAPES UND SUBALTERNE: EINE STADT IN DER STADT In Modernity at large (1998 [1996]) schlägt der Ethnologe Arjun Appadurai fünf Dimensionen vor, die ihm zufolge die globalen kulturellen flows darstellen, die die heutige Welt transnational vernetzen: ethno-, media-, techno-, finance- und ideoscapes. Durch das Suffix -scape möchte er die Dynamik, Unregelmäßigkeit
3
Mademba, Bay: Il mio viaggio della speranza. Dal Senegal all'Italia in cerca di fortuna, Pontedera: Giovane Africa Edizioni 2011.
4
Ngady Faye, Papa: Se Dio vuole. Il destino di un venditore di libri, Pontedera: Giovane Africa Edizioni 2011.
5
Hane, Khadi: Des fourmis dans la bouche, Paris: Denoёl 2011.
6
Vgl. hierzu das Interview mit der Autorin, das von Palabres autour des arts aufgezeichnet und am 31.01.2012 im Internet veröffentlicht wurde: Palabres autour des arts vom 31.01.2012, verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=5Ty0 EhmzFtA.
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und Subjektivität dieser Landschaften andeuten.7 Mit ethnoscape bezeichnet Appadurai all jene Personengruppen, die sich auf globaler Ebene fortbewegen und die „constitute the shifting world in which we live: tourists, immigrants, refugees, exiles, guest workers, and other moving groups and individuals“ 8. Migrantinnen und Migranten nennt er dabei explizit als ein Beispiel der ethnoscapes. Durch derartige menschliche Bewegungsströme lösen sich kulturelle Zugehörigkeiten von einer räumlichen Zuschreibung und werden somit im Raum beweglich. „Kulturell“ definiert Appadurai dabei als relative Bezeichnung für Differenzen im Zusammenhang kollektiver Identitäten: „[...] culture is not usefully regarded as a substance but is better regarded as a dimension of phenomena, a dimension that attends to situated and embodied difference. [...] I suggest that we regard as cultural only those differences that either express, or set the groundwork of, the mobilization of group identities.“9
Durch solch eine kollektive Definition kultureller Merkmale können einzelne Subjekte sich sowohl einer Gruppe zugehörig fühlen als auch von ihr unterscheiden. Ethnoscapes sind diesem Verständnis zufolge also kulturelle Landschaften im Sinne kollektiver Merkmale. Homi K. Bhabha wiederum stellt in „Unsatisfied: notes on a vernacular cosmopolitanism“ auf globaler Ebene eine wachsende ökonomische Ungleichheit fest. Dabei verortet er jene Menschen, die ihren Lebensraum wechseln mussten, auf der untersten Stufe der Skala und bezeichnet sie als Subalterne. 10 Letztere definiert er als „those communities and individuals who have been denied and excluded from the egalitarian and tolerant values of liberal individualism”11. Subalterne stellen nach diesem Verständnis in der globalen und lokalen sozialen Struktur die sozioökonomisch Marginalisierten dar, wobei es sich um Individuen oder Kollektive handeln kann. Im Gegensatz zu Gayatri C. Spivak, die den Begriff der Subalternen geprägt hat, ihn jedoch insbesondere auf die Frauen in der stark 7
4 Vgl. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization
(= Public Worlds, Band 1), Minneapolis / London: University of Minnesota Press 1998 [1996], S. 33. 8
Ebd.
9
Ebd., S. 12f.
10 Vgl. Bhabha, Homi K.: „Unsatisfied: notes on vernacular cosmopolitanism“, in: Laura García-Moreno/Peter C. Pfeiffer (Hg.), Text and Nation: Cross-Disciplinary Essays on Cultural and National Identities, Columbia, SC: Camden House 1996, S. 191-207, hier S. 193. 11 Ebd., S. 204.
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patriarchalen indischen Gesellschaft bezieht12, gebraucht Bhabha ihn sowohl für Frauen als auch für Männer, was den hier zu untersuchenden Texten entspricht. Darüber hinaus fokussiert Bhabha in seinem Aufsatz, wie der Titel bereits andeutet, explizit den Kontext der Großstadt, was auch der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung ist. Wir werden sehen, inwiefern solche subalternen Personen oder Gruppen auch in den betrachteten Texten in Erscheinung treten. Zunächst jedoch werden wir untersuchen, inwiefern sich entsprechende ethnoscapes in den Werken wiederfinden und wie sich die Subjekte dazu verhalten. Anschließend ist zu zeigen, wie die ethnoscapes in den Texten zugleich als Räume für den Aufenthalt so genannter subalterner Personen fungieren. 2.1 Ethnoscapes in der Stadt In Scegos Werk erscheint der Titel als geradezu programmatisch für Beweglichkeit: „La mia casa è dove sono“ – mein Haus ist, wo ich bin. Das Subjekt fühlt sich in Relation zu seiner physischen Präsenz zu Hause und verortet sich unabhängig von seiner ethnischen und sozialen Zuschreibung: „alla fine sono solo la mia storia. Sono io e i miei piedi.“13 Die autodiegetische Erzählerin definiert sich durch ihre eigenen räumlichen Erfahrungen, die sie insbesondere in Rom, aber auch in Mogadischu sammelt. Allerdings überwiegt die Zeit in Rom, weshalb ihre persönliche Karte von Mogadischu durch ihre Erfahrungen an Orten in Rom überlagert wird.14 Diese räumliche Überlagerung zweier Orte als Symbol für kulturell hybride Erfahrungen, die Sara Lorenzetti unter Hinzunahme der historischen Dimension im Werk als Chronotopos bezeichnet15, kommt zugleich Appadurais Konzept der ethnoscapes nahe. Die Erinnerungen an Mogadischu, die die Protagonistin neben kurzen Besuchen in der Kindheit16 insbesondere durch die Erzählungen ihrer Verwandten wachhält17, werden auf ihrer persönlichen Karte mithilfe von Haftnotizzetteln durch jene in Rom überlagert, der Stadt, in der sie geboren wurde und aufwuchs.18 Auf diese Weise entsteht eine Karte, die sowohl 12 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: „Can the Subaltern Speak?“ in: Cary Nelson/ Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana/ Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313, und Dies.: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia & Kant 2007. 13 I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 34. 14 Vgl. ebd., S. 36f. 15 Vgl. S. Lorenzetti: „La mia casa è dove sono: La recherche di Igiaba Scego”, S. 128. 16 Vgl. I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 29. 17 Vgl. ebd., S. 26f. und 35. 18 Vgl. I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 36.
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Mogadischu als auch Rom verkörpert und somit die Migrationserfahrung widerspiegelt.19 Auch Domenica Perrone stellt diese Dopplung des Raums fest.20 Scego schreibt etwa über den Bahnhof Termini: „La stazione [Termini] è entrata nella mia vita, come nella vita di tutti i somali della diaspora romana, immediatamente. […] Negli anni Settanta i somali scendevano tutti al Salus o all'hotel Archimede. […] Allora Termini dava loro l'impressione che Mogadiscio fosse dietro l'angolo. […] Stare lì era un po' come toccare il lembo di quella madrepatria somala sempre più lontana ed estranea. Tutte quelle chiacchiere in lingua madre e quegli odori familiari erano peggio di un trip con Lsd. Immaginavi realtà parallele, dove la Somalia era il posto più bello del mondo. […] In quel triangolo di strade che comprende via dei Mille, via Magenta, via Vicenza ci sono i bar dei somali. Non sono gestiti da nessuno del Corno d'Africa. […] Ma sono diventati i luoghi di ritrovo per eccellenza (insieme ai negozi gestiti da connazionali).“21
Der Bahnhof Termini und seine Umgebung stellen einen kulturell markierten Sozialisierungsraum dar, in dem sich das Kollektiv der Somalierinnen und Somalier in Italien versammelt. Durch verschiedene Sinneseindrücke, wie sie auch Firoangelo Buonanno in Scegos Oltre Babilonia (2008) bemerkt22, – Gerüche („odori“), aber auch akustische Signale („quelle chiacchiere in lingua madre“) – entsteht der Eindruck, Somalia sei mitten in Italien („l'impressione che Mogadiscio fosse dietro l'angolo“, „come toccare il lembo di quella madrepatria somala“), was Appadurais Begriff der ethnoscapes entspricht. Auch der Ausdruck „realtà parallele“ kann als Hinweis auf das Konzept der ethnischen Landschaft gedeutet werden. Dabei erhält die Kommunikation eine bedeutende Funktion für die Aneignung von Räumen: Es sind die Gespräche unter Landsleuten, die am Bahnhof und in den umliegenden Cafés den Eindruck vermitteln, in Somalia zu sein. Die Raumaneignung wird dadurch unterstrichen, dass die Cafés keineswegs von Somalierinnen und Somaliern betrieben, jedoch durch ihre Gespräche und Präsenz von ihnen eingenommen werden. Der Aspekt des vorübergehenden Aufenthalts oder des Konsums – dazu mehr im zweiten Teil des Beitrags – tritt hier 19 Vgl. ebd., S. 35f. 20 „La geografia romana della Scego ne include sempre una africana […]“. Perrone, Domenica: „La mappa ibrida di Igiaba Scego: La mia casa è dove sono“, in: Donatella La Monaca/Domenica Perrone (Hg.), Un decennio di narrativa italiana, Acireale: Bonanno 2012, S. 123-126, hier S. 125. 21 I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 102ff. 22 Vgl. Buonanno, Fiorangelo: „La percezione della città nella letteratura italiana della migrazione“, in: Études romanes de Brno 2 (2016), S. 17-30, hier S. 21f.
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zurück zugunsten der Funktion, die stete Geselligkeit einer community zu verkörpern. In Hanes Roman Des fourmis dans la bouche findet sich ein vergleichbares Bild von der Präsenz des subsaharischen Afrika, diesmal befinden wir uns jedoch in Paris: „Le quartier ressuscitait, il embaumait la misère des pauvres. Encombrées des senteurs de Château-Rouge, mes narines frémissaient, mais je restais pendue à ma fenêtre. Ma vue se brouillait à l'éveil de notre Paris à nous. Ici, nous étions encore en Afrique. Les prémices du jour, aussi prometteurs que la veille, narguaient les oisifs, tassés sous un lampadaire, qui espéraient une embauche journalière, redoutaient en même temps un contrôle d'identité des CRS en incursion au marché Dejean.“23
Die Erzählerin beschreibt Château-Rouge als afrikanische ethnoscape in Paris – „Ici, nous étions encore en Afrique“. Durch die Pronomen „nous“, „notre“ und „ici“ drückt sie einerseits ihr Zugehörigkeitsgefühl zu diesem afrikanischstämmigen Kollektiv aus und unterstreicht andererseits seine Präsenz: Appadurais ethnoscape entsprechend, nimmt die Protagonistin Afrika in Paris wahr. Ähnlich wie Scego in La mia casa è dove sono schildert sie die Merkmale des Kollektivs durch die visuelle Beschreibung des städtischen Teilraums. Durch das Fenster beobachtet sie die Arbeitssuchenden, die zusammengedrängt unter einer Straßenlaterne stehen und in der Hoffnung auf eine Tageseinstellung zugleich die Identitätskontrolle fürchten. In dieser Schilderung klingt neben der kollektiven Identität das subalterne Moment an, das diese Figuren nach der oben angeführten Definition Bhabhas charakterisiert. In der Tat zeichnen sich die ethnoscapes in den Städten der untersuchten Texte insbesondere durch eine solche subalterne Existenz aus. Diese seien daher im Folgenden im Detail betrachtet. 2.2 Die subsaharischen ethnoscapes als Räume des Überlebens in der Stadt In Des fourmis dans la bouche beschreibt die autodiegetische Erzählerin die Wohnsituation in einer Sammelunterkunft für Einwanderer: „Pendant ce temps, au 42 de la rue de France, le doyen du conseil des Sages rassemblait tous les mâles du même village vivant à Paris, pour préparer la réunion à laquelle j'étais convoquée, sous l'escorte du vieux Jules. À cette adresse se trouvait le foyer Sonacotra, une sorte de cave à immigrés. Partout sur les murs, le temps avait laissé ses plaies, ébréchures 23 K. Hane: Des fourmis dans la bouche, S. 34.
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de la façade, cicatrices sur le ciment moribond. La bâtisse semblait devoir s'effondre d'un instant à l'autre. […] C'était là, dans cet endroit miteux, cet entassement humain haut de dix étages, qu'on allait débattre mon statut de femme. […] Du papier usagé traînait par terre à côté de sacs en plastique graisseux, d'os de poulet rongés, de crachats, de purée de kola vomie sur les murs, de chiffons d'où suintait une substance graisseuse et noire. J'écrasai un cafard du talon de ma sandale.“24
Der sogenannte „Conseil des Sages“ stellt ebenfalls eine ethnoscape dar, diesmal nicht die einer nationalen oder ethnischen Gruppe, sondern die eines einzigen Dorfes („tous les mâles du même village“). Sowohl die geografische als auch die Gender-Struktur der Herkunft – der Rat besteht ausschließlich aus Männern – wird am Zielort reproduziert. Was die Räumlichkeiten dieses Rats betrifft, steht der fiktive Straßenname des Gebäudes in symbolischem Kontrast zu der Lebensrealität seiner Bewohner: In diesem Gebäude der „rue de France“ leben ironischerweise Menschen, die gerade nicht aus Frankreich stammen. Die Bezeichnung als Keller („cave“) deutet die triste und ärmliche Situation an: Die brüchige Fassade, altes Papier, fettige Plastiktüten sowie Essensreste und Körperausscheidungen verweisen auf ihre randständige soziale Situation. In dieser Hinsicht steht die patriarchale Selbstinszenierung des Rats der Weisen in krassem Gegensatz zum tatsächlichen sozialen Prestige seiner Mitglieder in ihrem neuen Lebensraum, der französischen Gesellschaft, das jenem Subalterner gleichkommt. Das patriarchale Verhalten mag in dieser Perspektive auch ein kompensatorisches Verhalten für die soziale Erniedrigung und die möglicherweise vorhandene Angst vor Abschiebung sein. In Se Dio vuole schildert Faye seine erste Unterkunft in Italien, in der er mit anderen Senegalesen leben sollte, auf ähnliche Weise: „Nella casa in cui avrei dovuto vivere c'era chi era appena rientrato dalla fabbrica, chi si era già fatto la doccia e vestito bene, chi si preparava per andare a dormire perché aveva il turno dell'alba. Abbiamo iniziato a conversare. Loro erano avidi di notizie dal Senegal, io di sapere come si sarebbe svolta la mia vita in Italia. Mi hanno spiegato che all'inizio è difficile, che è dura, durissima per chi non ha ancora documenti. Effettivamente, in quella casa c'era anche chi stava aspettando di poter chiedere il permesso di soggiorno, senza sapere per quanto avrebbe aspettato, né per quale serie di circostanze sarebbe riuscito ad ottenerlo. La speranza, a volte, veniva meno... Nel frattempo, finchè [sic] non mi fossi trovato una attività non avrei contribuito alle spese: affitto, bollette, cibo... Di più non potevano fare per me. Non vi dico la delusione che stavo provando: l'Italia che avevo in testa non aveva niente a che vedere con quella vera. In Senegal lavoravo e mantenevo dignitosamente la mia 24 K. Hane: Des fourmis dans la bouche, S. 110f.
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famiglia, ma mi ero licenziato non appena avevo ottenuto il visto. Quel che mi si prospettava era invece il niente assoluto.“25
Die ethnoscape, die sich hier findet, umfasst das senegalesische Kollektiv in der ersten Wohnung, die den Erzähler in Mailand aufnimmt. Die Situation der aus Senegal stammenden Bewohnenden zeichnet sich einerseits durch die harten Arbeitsbedingungen aus – Schichtarbeit, womöglich auch Arbeiten am Fließband –, andererseits durch den unsicheren Status aufgrund fehlender rechtlicher Aufenthaltserlaubnis. Insofern bewegen sich die Subjekte in dieser Wohnung am unteren rechtlichen, sozialen und ökonomischen Rand der italienischen Gesellschaft. Die soziale Marginalisierung spiegelt sich in der Enttäuschung des Erzählers – „la delusione che stavo provando“ – wider, dessen Erwartungen auf eine bessere Lebenssituation im Vergleich zu seiner Herkunftsumgebung nicht erfüllt werden – „mi si prospettava […] il niente assoluto“. In Scegos La mia casa è dove sono zeigt sich die subalterne Situation vieler eingewanderter Somalierinnen und Somalier besonders in der Beschreibung der Stazione Termini: „Erano quasi tutti sconfitti i somali che bazzicavano la stazione Termini all'inizio. Gente costretta, come i miei, a lasciare tutta la propria vita all'equatore. Certo, ci si vedeva alla stazione e si diceva 'torneremo' o 'faremo'. Ma i più rimanevano lì a rimuginare sul passato. Chi era troppo stordito dal dolore cominciava a bere e si riduceva peggio di uno straccio. Era triste vedere questi fantasmi dalla pelle nera vagare per i corridoi della stazione con lo sguardo fisso e con la memoria che andava di continuo a un passato di pura gioia.“ 26
In diesem Beispiel tritt der Zusammenhang zwischen der Migration und der subalternen Existenz, wie sie Bhabha schildert, besonders deutlich hervor: Zum einen ist es die materielle Armut, die den Subjekten zu schaffen macht, zum anderen ist es das Fehlen des familiären und sozialen Netzwerks der Heimat, das sie auch psychisch schwächt – „stordito dal dolore“ – und dadurch ihr Elend verschärft – „cominciava a bere e si riduceva peggio di uno straccio“. Die sowohl ökonomisch als auch soziokulturell schwierige Situation prägt die ethnoscapes in der Stadt somit als Räume des Überlebens, die durch ihre räumlichen und kulturellen Praktiken gleichsam als eigene Stadt in Erscheinung treten. Dabei ist der Bahnhof keineswegs der einzige öffentliche Raum, der für diese Subjekte einen Lebensmittelpunkt darstellt. Im Folgenden werden wir zeigen, welche Räume in den Texten
25 P. N. Faye: Se Dio vuole, S. 40. 26 I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 104.
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für die migrierenden Subjekte von Bedeutung sind und wie sich deren Funktion für sie von jener für nicht migrierte Subjekte unterscheidet.
3. FUNKTIONEN ÖFFENTLICHER RÄUME FÜR MIGRIERENDE SUBJEKTE Für öffentliche Räume in der Stadt wurden aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Konzepte vorgeschlagen, von denen sich für die Analyse der Texte von migrierenden Subjekten aus dem subsaharischen Raum insbesondere die von Michel Foucault, Marc Augé und Zygmunt Bauman als aufschlussreich erweisen, die ich hier kurz vorstellen werde. In Des espaces autres untergliedert Michel Foucault moderne öffentliche Räume, die er als emplacements bezeichnet und als Beziehungen von Nähe zwischen Punkten oder Elementen – „relations de voisinage entre points ou éléments“27 – definiert, nach zeitlichen Aspekten in drei Typen: Je nach Dauer des Aufenthalts spricht er von emplacement de passage, de halte provisoire und de repos.28 Für erstere, die Durchgangsorte, nennt er als Beispiele Straßen und Züge, für einen vorübergehenden Aufenthalt Cafés, Kinos und den Strand sowie zum Ausruhen das Haus, das Zimmer und das Bett. Durch diese zeitliche Einteilung ergibt sich eine umgekehrte Hierarchie der Privatsphäre: Je kürzer der Aufenthalt, desto öffentlicher ist der jeweilige Raum. So zeichnen sich die Ruheorte durch einen hohen Grad an Zurückgezogenheit aus. Orte für einen vorübergehenden Halt befinden sich zwar in der Öffentlichkeit, doch wird darin meist eine gewisse Privatsphäre gesetzt: Im Café oder im Kino bleiben wir meist unter uns, obgleich wir in der Nähe anderer Menschen sitzen. Den Arbeitsplatz erwähnt Foucault in keiner der drei Kategorien. Je nach Art der Arbeit ist dabei heute der oder die Angestellte etwa häufig in einem geschlossenen Raum, jedoch meist nur halb zurückgezogen, so dass dieser Arbeitsraum wohl zwischen emplacement de halte provisoire und emplacement de repos zu verorten wäre, zumal der Aufenthalt bei der Arbeit meist länger andauert als jener in einem Café oder im Kino. Allerdings ist der Arbeitsraum des Büros kein echter, sondern eher ein entfremdeter Ruheraum. Marc Augé fokussiert in seinem Essay Non-lieux (1992) die Funktion der Räume – für die Gesellschaft und für den Einzelnen – und die Art der sozialen Interaktion. Die non-lieux definiert er, wie die Bezeichnung bereits andeutet, in
27 Foucault, Michel: „Des espaces autres“, in: Empan 54 (2004), S. 12-19, hier S. 13. 28 Vgl. ebd., S. 14.
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Opposition zum – anthropologisch bestimmten – lieu. Letzterem schreibt er zu, identitätsbildende, relationale und historische Eigenschaften zu besitzen: Er bestimmt die Identität Einzelner mit, setzt zugehörige Individuen zueinander in Beziehung, und vergangene Ereignisse werden mit ihm verbunden. 29 Insofern bezieht sich der anthropologische Ort auf ein Ereignis, einen Mythos oder eine Geschichte. Demgegenüber verfügen die non-lieux weder über identitätsbildende noch über relationale oder historische Zuschreibungen.30 Vielmehr sind sie Räume (espaces), die durch zweierlei Merkmale gekennzeichnet sind: Zum einen dienen sie bestimmten Zielen, etwa dem Transport, dem Transit, dem Kommerz oder der Vergnügung.31 Zum anderen werden sie durch die Beziehung bestimmt, die die Einzelnen zu ihnen pflegen. Allerdings fördert der Nicht-Ort ein bestimmtes soziales Verhalten: Nach dem Eintritt in diese Räume bleiben die Einzelnen allein oder, wie Augé es formuliert, „les non-lieux créent de la contractualité solitaire“32. Als Beispiele hierfür nennt er insbesondere den Flughafen, die Autobahn und das Einkaufszentrum. Allerdings betont Augé, dass es Überschneidungen zwischen Ort und Nicht-Ort gibt oder geben kann.33 Sie hängen mit der Beziehung des Einzelnen zum jeweiligen Raum zusammen: Je häufiger ein Nicht-Ort frequentiert wird, desto mehr erhält er für das einzelne Individuum identitätsbildende und relationale Merkmale und nimmt somit Züge eines Ortes an. Insofern ist die Bezeichnung stark von dem subjektiven Bezug und der Funktion des Raums für das jeweilige Subjekt geprägt. Diese Beobachtung wird für die anschließende Analyse von Bedeutung sein. Zygmunt Bauman schließlich betrachtet in seinem Buch Liquid modernity (2000) zunächst allgemein die öffentlichen Räume, um dann ihre Funktion hinsichtlich der Interaktion von Menschen mit den Räumen und zwischen den Menschen in diesen Räumen zu betrachten. Er gebraucht dafür den Begriff des „zivilen Raums“34, weil in ihm besondere Regeln gelten, die es den Subjekten ermöglichen, ihre „öffentliche[n] Images“35 zu bewahren, wenn sie den dem jeweiligen öffentlichen Raum entsprechenden Verhaltensmustern folgen. Dadurch 29 Vgl. Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité (= La librairie du XX siècle), Paris: Seuil 1992, S. 69f. 30 Vgl. ebd., S. 104f. 31 Vgl. ebd., S. 118f. 32 Ebd., S. 119. 33 Vgl. ebd., S. 134. 34 Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne (= edition suhrkamp, Band 2447), übers. v. Reinhard Kreissl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 [Original: Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000], S. 115 (Hervorhebung so im deutschen Text). 35 Ebd. (Hervorhebung so im deutschen Text).
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behalten die Einzelnen ihre „Masken“36 auf, die sie davor bewahren, sich persönlich zu entblößen, „sich vollkommen gehen lassen“37 zu müssen. Bauman greift Augés Konzept der Nicht-Orte auf, unterstreicht jedoch die konsumorientierte Komponente. Dabei unterscheidet er zwischen öffentlichen Plätzen und konsumorientierten Orten. Erstere dienen trotz der Weitläufigkeit in erster Linie dem Durchgang, sie laden kaum zum Verweilen ein.38 Letztere können im Gegensatz zu den Nicht-Orten durchaus identitätsstiftende, relationale oder historische Zuschreibungen erhalten, teilen mit den Nicht-Orten jedoch die Eigenschaft, dass sich in ihnen „Fremde […] als Fremde“39 begegnen. Sie sind in verschiedener Weise dem Konsum gewidmet, wie etwa der „Konzertsaal, das Kunstmuseum, Ferienorte, Sportanlagen, Einkaufszentren oder Cafeterias, ohne jegliche soziale Kontakte“40. Solche Orte, so Bauman, „animieren zur Aktion, nicht zur Interaktion“41. Der oder die Einzelne wird in den Räumen zwar selbst aktiv, indem er oder sie sich geistig oder körperlich betätigt, tritt jedoch nicht in sozialen Kontakt mit anderen. Obwohl die Benutzerinnen und Benutzer dieser Räume sich dort nicht allein aufhalten, sind diese so auf Anonymität angelegt, dass sie den Eindruck von Alleinsein erzeugen: Die Einzelnen werden in der Regel nicht von anderen angesprochen oder in ihrer Tätigkeit unterbrochen. Im Folgenden werden wir sehen, inwiefern Räume, wie sie von Foucault, Augé und Bauman genannt werden, in den untersuchten Texten zwar tatsächlich in Erscheinung treten, für die migrierenden Subjekte jedoch andere, oft ins Gegenteil verkehrte Funktionen annehmen. 3.1 Die Straße: ein anonymer Durchgangsort wird zum Arbeitsplatz mit persönlicher Interaktion Die Straße hat Foucault, wie oben erwähnt, als Beispiel für einen emplacement de passage, einen Durchgangsort, angeführt. In der Stadt hat die Straße in der Regel die Funktion inne, von einem Geschäft oder Café zum nächsten, also von einem emplacement de halte provisoire zum anderen zu führen, um dort einzukaufen oder eine gesellige Pause zu machen. Für Faye und Mademba hingegen stellt die Straße den Ort dar, an dem sie arbeiten, und entspricht somit einem emplacement
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd., S. 115. 39 Vgl. ebd., S. 114. 40 Ebd., S. 116. 41 Ebd. (Hervorhebung so im deutschen Text).
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de halte provisoire, jedoch mit längerem Aufenthalt, der – wie in den theoretischen Reflexionen erörtert – den modernen Arbeitsraum charakterisiert. Die ambivalente Funktion von Durchgangsort für die einen und Aufenthaltsort bzw. Arbeitsplatz für die anderen zeigt sich etwa in folgendem Satz in Se Dio vuole: „Per strada incontro gente di tutti i tipi, età, condizione.“42 Die Unterschiedlichkeit der Menschen verweist darauf, dass die Straße für sie in erster Linie die Funktion des Durchgangs erhält und somit Foucaults emplacement de passage entspricht. Der Erzähler hingegen kann die Feststellung, dort all diesen Menschen zu begegnen, nur deshalb äußern, da er selbst die Straße nicht als Durchgang, sondern als Arbeitsplatz nutzt. Insofern wird der passage für ihn zu einem halte, der in erster Linie dem sozialen Kontakt dient. Dies bestätigt auch Mademba in seinem Roman: „Lungo la strada dove io vendo i libri ci sono tante persone che mi vogliono bene. A volte dei negozianti vengono da me a chiedermi se gli cambio i soldi. Oppure facciamo due chiacchiere.“43
Hier erweist sich der Durchgangsort Straße als Arbeitsplatz für den Protagonisten: Letzterer nutzt ihre Länge für seine berufliche Tätigkeit – das Verkaufen von Büchern.44 Der emplacement de passage erhält für ihn die Funktion eines halte, der nicht nur provisorisch, sondern stetig ist. Die Verkäuferinnen und Verkäufer der anliegenden Geschäfte erkennen diese besondere Funktion an: Sie wissen, dass der Protagonist dort arbeitet, und suchen ihn gezielt auf. Wie in der Beschreibung von Foucault erwähnt, weist dieser halte einen hohen Grad an sozialer Interaktion auf, was durch die angedeuteten Gespräche („due chiacchiere“) mit den Besitzenden der benachbarten Stände hervorgehoben wird. Die Bedeutung der Straße als Sozialisationsort wird ebenfalls unterstrichen, wenn der Erzähler betont: „A me piace il mio lavoro perché amo parlare con la gente, l'essere umano è una cosa che a me piace tanto.“45 Die Tatsache, dass die Straße für die meisten
42 P. N. Faye: Se Dio vuole, S. 47. 43 B. Mademba: Il mio viaggio della speranza, S. 30. 44 William Boelhower bezeichnet den Raum, in dem sich Mademba bewegt, als „opaque social space“, in dem „contact and contrast“ stattfinden (Boelhower, William: „Speaking up, speaking out. The Figure of the Migrant as Common and Proper Name“ in: Luigi Giuliani/Leonarda Trapassi/Javier Martos (Hg.), Far Away is Here. Lejos es aquí. Writing and migrations (= Literaturwissenschaft, Band 39), Berlin: Frank & Timme 2013, S. 101-121, hier S. 114). 45 B. Mademba: Il mio viaggio della speranza, S. 31.
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Menschen nur einen Durchgangsort darstellt, ermöglicht es dem Protagonisten gerade, sich mit möglichst vielen Menschen in Verbindung zu setzen. 3.2 Der Bahnhof: ein unpersönlicher Nicht-Ort als persönlicher Ort Der Bahnhof ist, ähnlich dem Flughafen, ein Ort des Transits, an dem die Absicht des Ein-, Aus- oder Umsteigens im Mittelpunkt steht. Insofern kann der Bahnhof generell als Nicht-Ort betrachtet werden. Für die Protagonistin von Scegos Roman und ihr Umfeld jedoch stellt er geradezu den Mittelpunkt des sozialen Lebens dar: „la merce più preziosa che si trova alla stazione sono le chiacchiere. Molte diaspore, quella somala in testa, hanno fatto di questa zona di Roma il loro campo base.“46 Der Bahnhof ist der Haupt-Treffpunkt und Sozialisationsort für die aus Somalia stammenden Eingewanderten. Für sie hat er also eine relationale Funktion und entspricht somit vielmehr einem anthropologischen Ort als einem NichtOrt im Sinne Augés. In der Tat erhält Termini für die autodiegetische Erzählerin geradezu eine existenzielle Bedeutung: „Termini con il tempo è diventata […] un microcosmo di vita e morte; una galassia di affetti; un amico caro da cui non puoi prescindere; un nemico acerrimo e cattivo. Termini ti voleva bene e ti disprezzava. Termini era una speranza, ma anche l'apocalisse. A Termini potevi trovare te stesso o perderti per sempre.“47
Der Bahnhof Termini erscheint hier als ambivalenter Ort der Potenzialität („potevi“) im positiven wie im negativen Sinne. Er wird zu einem Mikrokosmos der individuellen Gefühle, die sich in der Personifizierung („un amico caro“, „un nemico acerrimo“) widerspiegeln. Somit erhält dieser Bahnhof eine individuelle Identität, die ihn von einem Nicht-Ort unterscheidet, zumal er sich auch für das ihn aufsuchende Subjekt als identitätsstiftend erweist („potevi trovare te stesso“). Zugleich wird der Bahnhof Termini mit anderen Räumen in Bezug gesetzt, die der Protagonistin verwehrt bleiben: „Non eravamo mai andati a vedere la Tosca al Teatro dell'Opera per esempio, non sapevamo il significato della parola vacanza, non facevamo shopping nei negozi sbrilluccicanti [sic] del centro. […] Però Termini c'era sempre.“48
46 I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 107. 47 Ebd., S. 103. 48 I. Scego: La mia casa è dove sono, S. 105.
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Während der konsumorientierte öffentliche Raum des Theaters und der Einkaufszone sich für die aus Somalia eingewanderten Subjekte außerhalb ihrer kulturellen und ökonomischen Reichweite befindet, wird Termini zu ihrem einzigen zugänglichen Nicht-Ort und dieser dann folglich zum Ort. Für den Bruder der Protagonistin stellen der Bahnhof und dessen Umgebung sein neues Zuhause dar: „Queste strade [intorno alla stazione Termini] per molto tempo sono state il palcoscenico di mio fratello Mohamed. Lui fu il primo tra di noi a non averne paura. Le abbracciò con trasporto e ci iniziò a questo credo laico urbano. […] La sua scuola, quella vera, è stata la strada. […] Io, mio padre e mia madre avevamo ancora molti sospetti. […] Volevamo entrare anche noi, ma con prudenza, senza lasciarci completamente andare. Invece lui grazie alla sua indole leggera ci entrò senza pregiudizi e colse da subito l'essenza di casa che questa zona emanava.“49
Bei der Protagonistin und ihren Eltern überwiegt die Angst vor fehlendem Schutz im öffentlichen Raum. Die Erzählerin gebraucht die gleiche Formulierung wie Bauman, um auszudrücken, was im zivilen Raum vermieden werden soll: „lasciarsi completamente andare“ – sich vollkommen gehen lassen. Ihrem Bruder hingegen gelingt die private Aneignung des öffentlichen Raums um den Bahnhof herum. Foucault hat das Haus als Ort der privaten Ruhe (emplacement de repos) genannt, und in der Tat gebraucht die Erzählerin die Metapher des Sich-ZuhauseFühlens, um die Atmosphäre zu umschreiben, die ihr Bruder am Bahnhof erlebt: „l‘essenza di casa“. 3.3 Der Strand: ein ziviler Raum als Raum sozialer Interaktion Neben der Straße und dem Bahnhof erhält in Fayes Text ein weiterer öffentlicher Raum, der an das Konzept des zivilen Raums nach Bauman erinnert, eine persönliche Funktion, nämlich der Strand. Zwar ist dieser außerhalb der Stadt gelegen und zählt somit streng genommen nicht zum Stadtraum. Allerdings ist er zu Urlaubszeiten das Ziel vieler Stadtbewohnerinnen und –bewohner und kann somit als Gegenpol zur Stadt betrachtet werden, der sie zugleich ergänzt. Von Foucault als Beispiel für einen halte provisoire angeführt, entspricht der Strand als Vergnügungs- und Ferienort zugleich dem zivilen Raum nach Bauman, in dem bestimmte soziale Verhaltensweisen von den Badenden als Regeln akzeptiert und befolgt werden, wie etwa das Badekostüm als Bekleidung. Auch das Ignorieren Fremder,
49 Ebd., S. 108f.
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wie es von Bauman für zivile Räume herausgestellt wird, ist dort meist gegeben: Selbst wenn sämtliche Liegestühle und Sonnenschirme belegt sind und die Menschen dicht nebeneinanderliegen, treten sie nicht miteinander in Kontakt, außer innerhalb einer bereits bestehenden Gruppe.50 Die migrierenden Subjekte hingegen nutzen diesen Raum, den der Strand bildet, für sich selbst als Arbeitsplatz. So schreibt etwa Faye: „Sono partito per Lecce i primi di luglio. […] Non avevamo intenzione di restare, ma soltanto di fermarci per l'estate.“51 Die Absicht, sich lediglich während des Sommers dort aufzuhalten, ist mit der Funktion des Strandes als Urlaubsort zu erklären. Das erzählende Subjekt verspricht sich in dieser Zeitspanne die Möglichkeit, dort als ambulanter Verkäufer Bücher zu verkaufen. Die Gegensätzlichkeit der Funktionen für die beiden Menschengruppen wird in der folgenden Feststellung deutlich: „La prima volta che sono arrivato in spiaggia pensavo che non ce l'avrei fatta a vendere. Centinaia di corpi in costume da bagno. La nudità è un qualcosa a cui io non ero abituato. […] Alla fine, però, ho imparato a muovermi con disinvoltura fra lettini e sedie a sdraio, persino durante il mese di digiuno del Ramadan...“52
Das erzählende Subjekt stellt explizit den kulturellen Unterschied zwischen dem eher freizügigen Körperkult der Aufenthaltsgesellschaft und der Körperpraxis in seiner Herkunftsumgebung fest. Insofern erscheint hier ein ziviler Code des Raums in der Aufnahmegesellschaft – jener, sich am Strand im Badekostüm bewegen zu können, – als Schock für den Erzähler. Zugleich kommt ein Lernprozess zum Ausdruck: „ho imparato“. Das Subjekt hat gelernt, sich an die neue Umgebung anzupassen. Durch die Betonung des prozesshaften Moments wird die Aneignung des öffentlichen Raumes dargestellt. Implizit kommt darüber hinaus der Gegensatz zwischen den Urlauberinnen und Urlaubern und dem erzählenden Subjekt zur Sprache. Während die Menschen im Badeanzug am Strand ihre Freizeit verbringen, geht das bekleidete Subjekt dort seiner Arbeit nach. Auch Buonanno, der den Strand anhand von Pap Khoumas und Oresta Pivettas Io, venditore di elefanti (1990) untersucht, erkennt im Strand sowohl ein Symbol der 50 Dies bedeutet indes nicht, dass der Strand nicht auch, dem anthropologischen Ort nach Augé entsprechend, historische oder identitätsstiftende Zuschreibungen erhalten könnte, etwa in Bezug auf geschichtliche Ereignisse im Zusammenhang von Eroberungen oder durch persönliche Erlebnisse wie die Ankunft von Schiffbrüchigen. In der vorliegenden Untersuchung jedoch wird der Strand in seiner Funktion als Urlaubsort betrachtet. 51 P. N. Faye: Se Dio vuole, S. 50. 52 Ebd., S. 49f.
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Marginalisierung als auch eine Verkehrung der Rollen.53 Insofern zeigt das Beispiel des Strandes als ziviler Raum, dass sich für die migrierenden Subjekte die Funktion des Raums ändert oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Für sie ist der Strand im Gegensatz zu den Urlaubenden gerade kein Raum der Privatheit und der Anonymität, sondern — mit dem Ziel, ihre Waren zu verkaufen — vielmehr ein Ort der sozialen Interaktion.
4. FAZIT Zu Beginn des Beitrags wurde die Frage aufgeworfen, wie migrierende Subjekte aus Somalia oder dem subsaharischen Raum, die in Städten der Romania leben, die jeweilige Stadt wahrnehmen und welche Räume für sie welche Funktionen erhalten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Herkunfts- und der Ankunftsraum meist subjektiv überlagern und dies literarisch durch die Fiktion von ethnoscapes dargestellt wird. Diese kulturell von der Mehrheitsgesellschaft getrennten Räume erscheinen durch ihre soziokulturelle Isolierung zugleich als eine Stadt innerhalb der Stadt, obgleich sie weder räumlich getrennt noch für Andere unzugänglich ist. Vielmehr handelt es sich meist – im Sinne von Bhabha – um subalterne, d.h. sozial marginalisierte Räume. Für die migrierenden Subjekte präsentieren sich diese als ethnoscapes, in denen eine parallele Lebenswelt entsteht, die sowohl Refugium als auch Gefahr für das Individuum bedeuten kann. Diese Kollektive sind für Außenstehende jedoch nur von außen wahrnehmbar, auch weil sie sich teils in geschlossenen Wohnräumen innerhalb der Stadt befinden. Die Literatur bietet die Möglichkeit, solche nur äußerlich sichtbaren Lebensräume und die Perspektive der darin sich bewegenden Subjekte auch von innen wahrzunehmen. Während in den autobiografisch geprägten Werken meist jene Subjekte das Wort ergreifen, deren Ankunft gelungen ist, bietet die Fiktion die Möglichkeit, auch jenen eine Stimme zu geben, deren Alltag deutlich subalterne Merkmale kennzeichnen. Auf diese Weise kann ein literarisch neuer, von marginalisierten Bewohnerinnen und Bewohnern ausgehender Blick auf die Stadt geworfen werden und somit den Räumen neue Bedeutung zukommen. Für die subalternen, migrierenden Subjekte wird die Funktion des Raums jeweils angepasst oder in ihr Gegenteil verkehrt: Was für die Mehrheitsbevölkerung Durchgangsort ist, wird für das migrierende Subjekt zum Arbeitsplatz und Aufenthaltsort; der Nicht-Ort Bahnhof wird für die somalische Diaspora zum Ort;
53 Vgl. F. Buonanno: „La percezione della città nella letteratura italiana della migrazione“, S. 27.
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der zivile und folglich solitäre Raum des Strandes wird für die ambulanten Verkäufer zum Ort sozialer Interaktion. Während diese Räume für die einen Transit und Freizeitvergnügen verkörpern, an denen die Menschen sich in erster Linie als anonym wahrnehmen, nehmen die untersuchten Subjekte in der Migration diese Nicht-Orte für sich selbst als Orte im Sinne Augés ein. Sie erleben die Räume mit einer eigenen Dynamik und erstaunlicher Stabilität. Dabei sind migrierende Subjekte keineswegs die Einzigen, für die sich die Bedeutung dieser öffentlichen Räume verkehrt. Auch für diejenigen, die in Durchgangsorten wie Zügen, Nicht-Orten wie Bahnhöfen und Flughäfen oder in zivilen Räumen wie einem Einkaufszentrum oder am Strand als Angestellte arbeiten, verändert sich die Funktion des jeweiligen Raumes. Doch selbst wenn Augé etwa die Möglichkeit der subjektiven Umdeutung solcher Räume erwähnt, bleibt ihre zentrale Rolle für marginale Subjekte bei ihm unausgesprochen. Literarische Texte ermöglichen es, auch Menschen, deren Perspektive in der extratextuellen Realität kaum sichtbar ist, in den Mittelpunkt der Wahrnehmung zu rücken und so die „unsichtbaren Städte“ in der Stadt sichtbar werden zu lassen.
LITERATUR Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization (= Public Worlds, Band 1), Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1998 [1996]. Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité (= La librairie du XXe siècle), Paris: Seuil 1992. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne (= edition suhrkamp, Band 2447), übers. v. Reinhard Kreissl, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 [Original: Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000]. Bhabha, Homi K.: „Unsatisfied: notes on vernacular cosmopolitanism“, in: Laura García-Moreno/Peter C. Pfeiffer (Hg.), Text and Nation: Cross-Disciplinary Essays on Cultural and National Identities, Columbia, SC: Camden House, 1996, S. 191-207. Boelhower, William: „Speaking up, speaking out. The Figure of the Migrant as Common and Proper Name“, in: Luigi Giuliani/Leonarda Trapassi/Javier Martos (Hg.), Far Away is Here. Lejos es aquí. Writing and migrations (= Literaturwissenschaft, Band 39), Berlin: Frank & Timme 2013, S. 101-121. Buonanno, Fiorangelo: „La percezione della città nella letteratura italiana della migrazione“, in: Études romanes de Brno 2 (2016), S. 17-30.
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Faye, Papa Ngady: Se Dio vuole. Il destino di un venditore di libri, Pontedera: Giovane Africa Edizioni 2011. Foucault, Michel: „Des espaces autres“, in: Empan 54 (2004), S. 12-19. Hane, Khadi: Des fourmis dans la bouche, Paris: Denoёl 2011. Lorenzetti, Sara: „La mia casa è dove sono: La recherche di Igiaba Scego“, in: Kathrin Ackermann/Susanne Winter (Hg.), Spazio domestico e spazio quotidiano nella letteratura e nel cinema dall'Ottocento a oggi (= Civiltà italiana), Florenz: Cesati 2014, S. 127-137. Mademba, Bay: Il mio viaggio della speranza. Dal Senegal all'Italia in cerca di fortuna, Pontedera: Giovane Africa Edizioni 2011. Palabres autour des arts vom 31.01.2012, verfügbar unter https://www.youtube. com/watch?v=5Ty0EhmzFtA [letzter Zugriff am 13.02.2020]. Perrone, Domenica: „La mappa ibrida di Igiaba Scego: La mia casa è dove sono“, in: Donatella La Monaca/Domenica Perrona (Hg.), Un decennio di narrativa italiana, Acireale: Bonanno 2012, S. 123-126. Scego, Igiaba: La mia casa è dove sono, Turin: Loescher 2012 [2010]. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia & Kant 2007. — „Can the Subaltern Speak?“ in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313.
Orillas/La Recoleta Die Zwittereinheit terrain vague/Heterotopie in den frühen Werken Jorge Luis Borges’ Irene Breuer
1. EINLEITUNG Der Beitrag widmet sich der Zwittereinheit1 zweier Phänomene: Dem Phänomen verlassener, identitätsloser, oft vergessener Räume in der Stadt, das mit dem Begriff terrain vague von den Literatur- und Kulturwissenschaften bezeichnet wird, und dem Phänomen repräsentativer und symbolischer Räume in der Stadt, die sich uns aber mit ihrer radikalen Fremdheit entziehen, das mit dem Begriff der Heterotopie von Michel Foucault beschrieben wurde. Beide Phänomene werden als Erfahrungsräume verstanden, zum einen als ein Raum, der an den Rändern und in den Lücken der urbanen Ordnung das Subjekt Erfahrungen der Fremdheit, der Schwelle und der Identitätslosigkeit unterzieht und es dazu verleitet, seine Gefühle und Emotionen kreativ auszudrücken. Zum anderen werden diese Erfahrungsräume als ein Raum begriffen, der inmitten der urbanen Ordnung das Subjekt zu einer ewigen Erinnerung inmitten einer wohlproportionierten Raumordnung verdammt. In der Lektüre von Borges wird sich die These bestätigen, dass beide Arten von Räumen – die orillas als Ränder der Stadt Buenos Aires und der Friedhof
1
Was Edmund Husserl, der Gründer der Phänomenologie, eine „Zwittereinheit“ nennt, ist eine „Einheit im Widerstreit... sich wechselseitig aufhebender sich koexistenzial ausschließender
Individuen“.
(Husserl,
Edmund:
Erfahrung
und
Urteil.
Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. v. Ludwig Landgrebe, Hamburg: Felix Meiner 1972, S. 417).
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Recoleta als Heterotopie eine Einheit im Widerstreit bilden. Heimlich vs. unheimlich, melancholisch-romantisch schön vs. trostlos und bedrohlich: Gegensätzliche Bestimmungen unterscheiden sich, indem sie sich aufeinander beziehen; sie gehören zueinander wie Licht und Schatten; sie bilden zwei Seiten derselben Medaille. Ausgehend von systematischen Überlegungen zu den spezifischen Topologien wird hier dieser Zwittereinheit terrain vague und Heterotopie in dem frühen Werk des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges nachgegangen: In ihm werden wir mit dem Kontrast konfrontiert zwischen den Vororten, ‚las orillas‘, die eine lyrische, fragile, melancholisch-romantische Natur aufzeigen, und der labyrinthischen Struktur der Stadt der ‚Unsterblichen‘, die einen monumentalen, pittoresken, fragmentarischen und unheimlichen Charakter besitzt. Dieser Kontrast wird hier an der Stadt Buenos Aires, an ihren orillas und arrabales und an ihrem Friedhof La Recoleta als paradigmatische Beispiele veranschaulicht. Denn es ist gerade an diesen Orten, wo die stark evozierende Kraft der Architektur zum Vorschein kommt. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass der scharfe Kontrast zwischen terrains vagues und Heterotopien – Erstere seien ungeplant entstandene Orte ohne inhärente Bestimmung, während Letztere eine präzise Funktion innerhalb der Stadt ausüben – im Lichte der Werke Borges präzisiert werden muss: Beide Begriffe zeigen gegensätzliche aber auch gemeinsame Bestimmungen auf, so dass sie ein diakritisches System bilden, eine Einheit, die aus Differenzen und Gemeinsamkeiten besteht. Sie zeugen nicht nur von den Widersprüchen, sondern auch von dem Reichtum unserer Erfahrungen.
2. TERRAIN VAGUE Mit dem französischen Begriff terrain vague werden verlassene, verwahrloste, oft vergessene Räume inmitten oder am Rande der Stadt bezeichnet, die im Deutschen als Brachflächen, Baulücken, Ödland, Rest- oder Zwischenräume bezeichnet werden.2 Topologisch betrachtet ist ein terrain vague ein Zwischenraum, nicht nur ein leerer, sondern auch ein verlassener Ort, eine Übergangszone zwischen öffentlichem und privatem Raum und anderen beständigeren Orten. Terrain vagues bilden nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Schwelle zwischen den
2
Ich bedanke mich hier bei Wolfram Nitsch, dessen Forschungsarbeiten über das terrain vague und persönlichen Hinweise auf weiterführende Literatur über Borges’ Raumverständnis sich für diesen Aufsatz als äußerst wertvoll und hilfreich erwiesen. S. Fn. 3 und 4.
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vergangenen und den zukünftigen Nutzungen. Sie etablieren sich zwischen den Resten menschlicher Kultur und der wuchernden Natur, was sie zu hybriden Räumen macht. Sie sind weitestgehend funktional unbestimmt, weil weder Zweck noch Besitzende erkennbar sind. Gerade wegen ihrer Zwecklosigkeit sind sie für neue Nutzungen und Aneignungen offen. Diese Orte sind also nicht nur durch ihre heterogene Erscheinungsform, sondern durch ihre Offenheit charakterisiert, so dass sie als ein „Potentialraum“3 verstanden werden können. Aufgrund der Ambiguität bzw. Unbestimmtheit ihres Sinnes können sie durch Handlungen der Benutzer zu verschiedenen Zwecken verwendet werden. Den terrains vagues wohnt auch ein Erfahrungspotenzial inne, weil sie als außerordentliche Räume im Subjekt Erfahrungen von Fremdheit oder auch von Überschreitung der in der Stadt wirkenden Normen auslösen. Ihre potentielle Offenheit macht sie einerseits zu Möglichkeitsräumen für unterschiedliche Nutzungen und kreative Aneignungen, andererseits zu Widerstandsräumen, in denen gesellschaftliche Akteure mit unterschiedlichen politischen oder wirtschaftlichen Interessen aufeinandertreffen.4 Das terrain vague erscheint als das genaue Gegenteil von „Nicht-Orten“ im Sinne des Sozialanthropologen Marc Augé, also von hyperfunktionalen aber identitätslosen Durchgangsräumen der späten Moderne, die Einsamkeit schaffen, aber auch von „anthropologischen Orten“, die dem Subjekt Begegnungen, Erfahrungen und eine „kulturelle Verbundenheit“5 ermöglichen, bzw. einen existentiellen Halt im Sinne Heideggers6 anbieten. Terrains vagues lassen sich Wolfram Nitsch zufolge zudem als „moderner Grenzfall“ der von Michel Foucault sogenannten Heterotopien betrachten. Sie entsprechen dem Typ der „chronischen Heterotopie“, weil diese nur für begrenzte Zeit bestehen, sowie dem Typ der „Kompensationsheterotopie“ im Sinn einer „Unterbietung der Ordnung“, insofern sie einen „Riss im Gewebe der Stadt“
3
Nitsch, Wolfram: „Terrain Vague“, in: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 5 (2013), S. 1-18, hier S. 4.
4
Vgl. Nitsch, Wolfram: „Terrain Vague“, in: Merkur 66 (2012), S. 628-644. Vgl. Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als „terrain vague“. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur, Bielefeld: transcript 2017, S. 11.
5
Vgl. Nitsch, Wolfram: „Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart“, in: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie. Mimesis. Imagination, Heidelberg: Winter Verl. 1999, S. 305-321, hier S. 306f.
6
Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer 1993, § 23: „Die Räumlichkeit des In-der-Welt-seins“ und § 24: „Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum“, S. 104-113.
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darstellen.7 Gerade dieses Fehlen einer von der Stadt oder der Gesellschaft auferlegten Ordnung und der Eindruck von ‚wilder Natur‘ auf den Brachflächen erzeugen einerseits die Hoffnung auf die Geborgenheit in einer natürlichen Ordnung und andererseits die Lust am Ausbruch aus jedweder Ordnung. Daher ist das terrain vague ein „Schmelztiegel“, „der Ort der Freiheit und beliebiger unbegrenzter Möglichkeiten“8. Das terrain vague veranschaulicht die Dichotomie ‚Stadt vs. Natur‘, womit in der Zeit der Aufklärung die Spannungen zwischen der Natur als natürliche Lebensweise und der Stadt als Symbol für gesellschaftliche Ordnung veranschaulicht wurden.9 Diese „grundlegende Unbestimmtheit“ kommt der surrealistischen mythologie moderne besonders entgegen. Dies zeichnet sich in Bretons Programmschrift Nadja von 1928 ab, wo ein zentraler Ort Paris, die Place Dauphine, als eine „zweideutige Zone unwiderstehlicher Anziehung wie auch unheimlicher Verfolgung“ 10 geschildert wird: „Cette place Dauphine est bien un des lieux les plus profondément retirés que je connaisse, un des pires terrains vagues qui soient à Paris. Chaque fois que je m’y suis trouvé, j’ai senti m’abandonner peu à peu l’envie d’aller ailleurs, il m’a fallu argumenter avec moi-même pour me dégager d’une étreinte très douce, trop agréablement insistante et, à tout prendre, brisante.“11
Als Schauplatz von Wahnvorstellungen, paranoider Visionen, erotischer Phantasie und Verzauberung eignet sich das terrain vague besonders gut, weil es als Überrest der vom Baron Haussmann im 19. Jh. eingeleiteten Modernisierungsmaßnahmen Paris entstand. Terrain vagues nähren die Imagination eines Spaziergängers, eines Flaneurs, ein Typus, der sich um 1800 in der Literatur bildete. 12 Zum ersten Mal taucht der Ausdruck terrain vague vor genau zweihundert Jahren in einem Werk der französischen Romantik auf, in Chateaubriands Tagebuch seiner Reise von Paris nach Jerusalem. Erst ab 1830, wahrscheinlich zuerst bei 7
W. Nitsch: „Terrain Vague“, in: Comparatio, S. 5.
8
Eisel, Ulrich/Bernard, Daniela/Trepl, Ludwig.: „Gefühlte Theorien: Innerstädtische Brachflächen und ihr Erlebniswert“, in: Zeitschrift für Semiotik 18 (1996), S. 67-81, hier S. 72f.
9
Ebd.
10 Nitsch, Wolfram: „Terrains vagues und Nicht-Orte. Städtische Räume in Les ruines de Paris“, in: Andreas Mahler/Wolfram Nitsch (Hg.), Rédas Paris. Topographien eines späten Flaneurs, Passau: Stutz 2000, S. 31-49, hier S. 42. 11 Breton, André: Nadja, Paris: Gallimard 1964, S. 93. 12 Vgl. W. Nitsch: „Terrains vagues und Nicht-Orte“, S. 42.
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Balzac und bald darauf bei Nerval, wird der Begriff auch im Hinblick auf die Peripherie und die Ruinen von Paris verwendet, wie Nitsch erklärt. 13 Als Überreste städtischer Ordnung bilden terrain vagues marginale Orte für Erfahrungen, die sich den Zwängen der durchrationalisierten Stadtordnung entziehen. So unterscheiden sich terrain vagues von anthropologischen Orten, die soziale Begegnungen und Erfahrungen ermöglichen, sowie von Nicht-Orten, die Einsamkeit und Verfremdung auslösen. Das Merkmal, das das terrain vague kennzeichnet, ist die Offenheit für unterschiedliche Aneignungen, i.e. sein ‚offenes Wesen‘: Da es ein Übergang zwischen zwei stabilen Ordnungen herstellt, nimmt es deren Bestimmungen auf, ohne darin aufzugehen: Das terrain vague bildet einen Zwischenraum für die Vermittlung zwischen Orten unterschiedlicher Qualitäten, so dass es eine dynamische und veränderliche Identität besitzt. Als sinnliche Verkörperungen nicht nur von Affekten und Erfahrungen, sondern auch von Fiktionen und Phantasievorstellungen sind terrain vagues den ‚transitorischen Räumen‘ ähnlich. Vittoria Borsò zufolge kann die Eigenschaft ‚transitorisch‘ semantisch zeitlich oder räumlich gedeutet werden. Mit der zeitlichen Semantik sind vorübergehende, kurz andauernde Phänomene oder Eigenschaften gemeint, während die räumliche Semantik ‚Durchfahrt‘ oder ‚Durchquerung‘ impliziert. So bezieht sich das Transitorische auf Zwischenstationen und Transit-Orte die von einem Zustand zum anderen führen. Wichtig ist dabei zu bestimmen, ob ein Ort wesentlich transitorisch ist, oder ob das Transitorische nur eine akzidentelle Veränderung darstellt, d.h. ob Veränderung und Prozessualität wesentliche oder akzidentelle Bestimmungen des Raumes sind.14 Gerade einige aktuelle soziologische Studien untersuchen heutzutage die Mobilität als ein Phänomen, das durch vielfältige Sinne, imaginäres Reisen, Bewegung, Austausch von Bildern und Information, Virtualität und physische Bewegung gekennzeichnet ist.15 In jedem Fall gilt es, dass die dynamischen zeitlichen und räumlichen Bestimmungen eine leibliche Erfahrung von Instabilität und Orientierungslosigkeit verursachen, so dass der Leib sich weder zeitlich noch räumlich verorten bzw. verankern kann. Wird Mobilität ausgehend von der leiblichen Verankerung am Ort verstanden, kommt statt der Opposition Mobilität-Bewegung die Interaktion zwischen Bewegung und Anbindung an konkrete Situationen in den Blick, d.h.
13 Vgl. W. Nitsch.: „Terrain Vague“ in: Comparatio, S. 9. 14 Borsò, Vittoria: „Transitorische Räume“, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie, Band 3), Berlin/Boston: de Gruyter 2017, S. 259-271, hier S. 260. 15 Vgl. Urry, John: Sociology beyond Societies. Mobilities for the twenty-first Century, London/New York: Routledge 2000.
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die soziale Beweglichkeit (z.B. bei de Certeau und Lefebvre).16 Im Unterschied zu dem terrain vague, sind transitorische Räume bewohnt und produktiv, denn in ihnen entfalten sich die Handlungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure, auch wenn sie keine Stabilität ermöglichen.
3. HETEROTOPIEN Terrain vagues und transitorische Räume unterscheiden sich wiederum von Foucaults Heterotopien, insofern diese durchweg gezielt eingerichtete Räume, jene hingegen eher zufällig, planwidrig oder eben veränderlich und instabil sind. Im Gegensatz zu den Utopien, die im Wesentlichen unwirkliche Räume sind, sind Heterotopien „ganz andere“ Orte: nämlich „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“17
Foucault entfaltet eine systematische Beschreibung des Heterotopie-Begriffs, der Warning18 zufolge auf sechs Bestimmungen beruht: • Heterotopien sind keine anthropologischen, sondern kulturelle Konstanten, die
sich historisch wandeln. Als Beispiele gelten „Krisenheterotopien“, wie Räume der Adoleszenz, des Alterns und Sterbens sowie „Abweichungsheterotopien“, wie Erholungsheime, Gefängnisse, Altenheime. • Heterotopien haben eine bestimmte Funktionsweise in der Kultur, die aber veränderlich ist, wie es z.B. die Heterotopie des Friedhofes ist, der vom Stadtzentrum an die Peripherie der Städte, aufgrund von einer neuen Einstellung zum Tode, verlagert wurde.
16 V. Borsò: „Transitorische Räume“, S. 264. 17 Foucault, Michel: „Andere Räume“, übers. v. Walter Seitter, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46, hier S. 38. 18 Warning, Rainer: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Fink 2009, S. 13.
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• Heterotopien können eine Reihe von mehreren Orten bilden, sei es eine zeitliche
Reihe wie z. B. im Kino oder eine räumliche Reihe wie in Parks oder Gärten. • Heterotopien sind an zeitliche Diskontinuitätserfahrungen bzw. an „Heterochro-
nien“ gebunden, entweder weil in ihnen eine unendliche Zeitakkumulation wie bei Museen und Bibliotheken herrscht, oder weil sie im Gegenteil eine flüchtige Erscheinung sind, wie Jahrmärkte oder Ferienorte. • Heterotopien weisen ein System von Öffnungen und Schließungen auf, die „magisch“ bzw. „illusionär“ im Sinne von Passagen als Portale zu einer anderen Realität besetzt sein können, oder Schwellen- bzw. Überschreitungserfahrungen ermöglichen, wie z. B. beim Motel als Ort der illegalen Sexualität. • Die Funktion der Heterotopie entfaltet sich zwischen zwei extremen Polen: Entweder schaffen sie einen „Illusionsraum“ oder im Gegenteil einen vollkommenen und sorgfältig geordneten Raum, dieser wäre eine „Kompensationsheterotopie“, jener eine „Illusionsheterotopie“. Diese letzten Formen der Heterotopien sind besonders relevant für die Analyse von Borges' Werken. Wie aber Rainer Warning und Jorg Dünne bemerkt haben19, verwendet Foucault den Begriff der Heterotopie wiederum in einem anderen Sinn im Vorwort zur Ordnung der Dinge von Borges. Die Sprache bzw. die Bücher bilden einen heterotopischen Ort, worin sich eine Klassifikation entfaltet, die, im Gegensatz zum traditionellen Medium Enzyklopädie, keiner logischen oder methodischen Ordnung gehorcht.20 Das Beispiel der Einteilung des Tierreichs in einer erfundenen Enzyklopädie in El idioma analítico de John Wilkins führt Foucault dazu, selbst die Sprache als einen heterotopischen Raum zu bezeichnen, der die semantische Ordnung zersetzt. Foucault setzt einen „tröstenden“ semantischen Kompensationsraum, eine Utopie, gegen einen beunruhigenden, ordnungsvernichtenden Raum der heterotopischen Sprache.21 Dünne schließt daraus, dass die Phantastik bei Borges sich nicht nur auf die Ebene der Erzählung beschränkt, sondern ebenso jene der Sprache umschließt. 22 In diesem Sinne 19 Vgl. R. Warning: Heterotopien, S. 179 und Dünne, Jörg: „Borges und die Heterotopien des Enzyklopädischen“, in: Clemens Ruthner /Ursula Reber/Markus May (Hg.), Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen: Franke Verl. 2006, S. 190-208, hier S. 191. 20 J. Dünne: Borges und die Heterotopien, S. 191. 21 Vgl.
Foucault,
Michel:
Die Ordnung
der
Dinge,
Eine
Archäologie
der
Humanwissenschaften, 3. Aufl., übers. v. Ulrich Köppe, Frankfurt: Suhrkamp 1980, S. 17-28. 22 J. Dünne: Borges und die Heterotopien, S. 191.
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bemerkt auch Borsò am Beispiel von Borges Erzählung El Aleph, dass es Borges um eine „kritische Reflexion der Komplexität nicht nur des Raums selbst, sondern auch seiner Materialisierung im Raum des Textes“ 23 geht. Denn Borsò zufolge, gehe es in seinen Texten um eine Reflexion des „Verhältnisses von Topologie und Topographie“: ‚Topologie‘ als Lehre des Raums und der „kritischen Reflexion über die Bedingungen der Produktion, der Dynamik und der Emergenz von Raum“, und ‚Topographie‘ als Szenario von Repräsentation.24 Topologie und Topografie sind in seinen Schriften untrennbar verbunden insofern es in ihnen, wie beim Aleph, zugleich um eine topologische Problemstellung, welche die „Repräsentation als das unlösbare Verhältnis zwischen Simultaneität und Chronologie bezeichnet“, wie auch um eine hermeneutische Tiefe des Textes geht.25 Narration und Raum selbst bzw. Raum des Textes oder der Sprache dürfen also bei Borges nicht als getrennte Bereiche angesehen werden, denn in ihren komplexen Beziehungen bilden sie das Reich der Heterotopie.
4. JORGE LUIS BORGES Borges' Schriften bieten an, die Grenzen des alltäglich Denkbaren zu überschreiten und den Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Wunderbarem zu überwinden. Philosophische Einsichten interessieren Borges nicht wegen der spezifischen Lösungen zu existenziellen Problemen, vielmehr konstruiert er mit ihnen vorläufige „Inventare ihrer Formen“,26 die unsere alltäglichen Gewissheiten erschüttern und zu neuen Motiven, Handlungsrichtungen und kulturellen Werten führen können. Aber diese in Worten Genettes „exzessive Idee der Literatur“, die Borges vertritt, kennzeichnet eine Tendenz der Literatur, die darauf abzielt, die Gesamtheit des Existierenden und Nicht-Existierenden zu umfassen, so als ob die Literatur sich nur als eine „totalitäre Utopie“ rechtfertigen und aufrechterhalten ließe, so Gérard Genette.27 Diesen utopischen Gehalt seiner phantastischen Weltentwürfe
23 Borsò, Vittoria: „Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift“, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 279-293, hier S. 280-282. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Barrenechea, Ana María: La Expresión de la Irrealidad en la Obra de Borges. Buenos Aires: Centro Editor de America Latina 1984, S. 82. 27 Genette, Gérard: „L’utopie Littéraire“, in: Ders., Figures I, Paris: Seuil 1966, S. 126.
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hat auch die Literaturwissenschaftlerin Beatriz Sarlo hervorgehoben. Sie bettet Borges’ Utopien in einen kulturpragmatischen Rahmen ein und entwirft den Begriff „periphere Modernität“28 bezüglich des kulturellen Lebens in Buenos Aires der 1920er und 30er Jahre, um die Besonderheiten der argentinischen Literatur und ihrer Phantastik zu beschreiben. Sarlo interpretiert Borges’ Texte im Hinblick auf eine These, die sich meines Erachtens in der Erschaffung von Kompensationsheterotopien im Sinne Foucaults veranschaulichen lässt: Sie behauptet, Borges hätte eine kulturelle Tradition für Argentinien erfunden angesichts der sozialen und medialen Erfahrung von Heterogenität; eine Erfahrung, die in Argentinien einen eigentümlichen Zusammenstoß von Immigration, Mehrsprachigkeit, sozialen Unruhen, Diversität der Kulturen in Gang setzt. Borges bewegt sich „entlang der Schneidekante von verschiedenen Kulturen, die sich in ihren Rändern berühren oder sich zurückweisen“.29 Der Kosmopolit Borges, der sich als kleines Kind mit englischen Büchern aus der Bibliothek seines Vaters gebildet hat und in seiner Jugend – während des Ersten Weltkrieges – in der Schweiz zur Schule ging, stellt sich bei seiner Rückkehr nach Argentinien in den 1920er Jahren die Frage, auf welche Weise es möglich sei, in Argentinien zu schreiben; in einem peripherischen Land, dessen eingewanderte Bevölkerung sich in einer Stadt wie Buenos Aires niedergelassen hat, welche auf dem Wege, eine Metropole zu werden, die einheimische Kultur der criollos unterdrückte und diese ausschließlich als Residuum dieses Prozesses und vor allem als Mythos der Intellektuellen noch fortbestehen ließ. Sarlo vertritt die These, dass Borges eine kulturelle Vergangenheit erfinde und eine literarische argentinische Tradition zusammenstelle. Mehr noch: Der Kosmopolitismus sei die Bedingung, die eine Strategie für die argentinische Literatur möglich mache und umgekehrt, die Umordnung der heimischen kulturellen Traditionen ermögliche es ihm, aus der ausländischen Literatur vorurteilslos Abschnitte zu wählen und sie in seiner eigenen literarischen Produktion einzugliedern. Daraus schließt Sarlo, dass Borges „ein Spiel an die Schneidekante von zwei orillas“ spiele und er deshalb ein „zweistirniger“ Autor sei, zugleich „kosmopolit und national“.30
28 Sarlo, Beatriz: Una Modernidad Periférica, Buenos Aires 1920 y 1930, Buenos Aires: Nueva Visión 1988, S. 31-69. 29 Sarlo, Beatriz: Borges, un Escritor en las Orillas. Madrid: Siglo XXI 2007, S. 6f. 30 B. Sarlo: Borges, S. 6f.
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5. LITERATUR UND STADT – DER ZWIESPALT STADT/NATUR UND ORILLAS/PAMPA In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wurde die Stadt Buenos Aires imaginär in unterschiedliche Teile geteilt: Zum einen ‚las orillas‘ (‚die Ufer‘), ein unbestimmter Ort zwischen der unendlichen Ebene – ‚la pampa‘ oder ‚el campo‘ – und der Stadt, und zum anderen die Stadt, die selbst von Brachland und Patios ‚durchlöchert‘ war. Diese Einteilung bringt einen Zwiespalt in der argentinischen Literatur hervor: Auf der einen Seite ist die Stadt ein politisches Thema, z.B. bei Sarmiento mit seiner Schrift Argirópolis (1856), worin der Autor sich zum Ziel setzt „den Krieg zu beenden, das Land zu konstituieren, den Streitigkeiten ein Ende zu setzen, abweichende Interessen in Einklang zu bringen, die jetzigen Autoritäten beizubehalten, die Grundlagen für die Entwicklung des Reichtums zu setzen, und jedem Land und verpflichteten Staat das zu geben, was ihm gebührt“.31 Für Sarmiento ist die Stadt unmittelbar verbunden mit Kultur, Republik und Institutionen. Er ist davon überzeugt, dass die Stadt der Wohnsitz der Tugend und die treibende Kraft für den Fortschritt der Zivilisation ist. Die unendliche und rurale Ausdehnung dagegen sei despotisch, gesetzlos und wild. Auf der anderen Seite vertritt die literatura gauchesca die entgegengesetzte Auffassung: Von der Stadt komme das Unheil her, das den natürlichen Rhythmus einer organischeren Gesellschaft störe Die Stadt setzt sich gegen ein utopisches Goldzeitalter – evoziert von José Hernández in seinem epischen Gedicht El Gaucho Martin Fierro (1872), das sich gegen die Europäisierung und das Buch Sarmientos Civilización y Barbarie (1845) richtet, und später von Ricardo Güiraldes in Don Segundo Sombra (1926) zurückgewonnen wird – und gegen die Ausdehnung der pampa, wo der Gaucho unter der von der Stadt verursachten Ungerechtigkeit leidet. Die Bauerngesellschaft ist integriert, während die Stadt den Menschen einem Wirbel von Individualismus, Merkantilismus und Materialismus unterwirft. 32 Borges kehrt 1921 aus Spanien zurück und ist bestrebt, Buenos Aires aus seiner Erinnerung zurück zu erobern.33 Dieses Thema spiegelt sich in der nostalgischen Atmosphäre, insbesondere in Fervor de Buenos Aires von 1923 (dt. Buenos Aires mit Inbrunst), in Luna de enfrente von 1925 (dt. Mond Gegenüber), El tamaño de mi Esperanza von 1926 und Cuaderno San Martin von 1929 (dt.
31 Sarmiento, Domingo Faustino: Argirópolis, Buenos Aires: H. Concejo Deliberante 1961 [1856], S. 16. 32 Vgl. B. Sarlo: Borges, S. 12f. 33 Vgl. zu diesem Thema: Zito, Carlos Alberto: El Buenos Aires de Borges, Buenos Aires: Aguilar u.a. 1998.
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Notizheft San Martin) wieder. In Cuaderno San Martin wird der Modernisierungsprozess thematisiert: Die Stadt hat die Ebene besiegt, die europäische Einwanderung verursacht einen demografischen Wandel der Gesellschaft, wobei die Idee einer von der Stadt abhängigen Peripherie weiter fortbesteht. In El Tamaño de mi Esperanza unter „La Pampa y el surburbio son dioses“ beschreibt Borges diesen Übergang zwischen den Vororten oder barrios von niedrigen Häusern und der dahinter liegenden Wüste der pampa. Gerade diese Kontiguität zwischen Zivilisation und wilder Ebene beeindruckt den jungen Borges, der gerade von einem Kontinent zurückkommt, wo el campo (das Land) domestiziert ist und keine weitläufigen unbevölkerten Areale mehr vor den Städten liegen: „Fui hace unos dias a Saavedra, allá por el cinco mil de Cabildo y vi las primeras chacritas y unos ombúes y otra vez redonda la tierra y me pareció grandísimo el campo.“ 34 Borges ist von den barrios von Buenos Aires fasziniert: „Donde austeras casitas apenas se aventuran, / abrumadas por inmortales distancias, / a perderse en la honda visión / de cielo y de llanura.“35 Die Ferne bildet einen bedrohlichen Raum, in dem keine Orientierung mehr möglich ist. Die Ebene ist also ‚das Andere‘ gegenüber dem beschützenden Bekannten. Die Stadt seiner ersten Gedichte ist keine lückenlos bebaute Stadt, sondern ein Buenos Aires ‚durchlöchert‘ von Brachland an seinen Ufern, ein „terreno baldío que se deshace en yuyos y alambres“.36 Es sind Stadtfetzen, Grenzlandschaften. Diese Gedichte sprechen nicht von einer sich im Werden befindlichen Großstadt, von weiten Alleen umgeben von imposanten, von europäischen Architekten errichteten Gebäuden. Borges’ Absicht war vielmehr „ein Buenos Aires zu besingen, das aus niedrigen Häusern bestand und, nach Westen oder nach Süden, aus Landhäusern mit Gittern. In jener Zeit suchte ich die Abenddämmerungen, die Vororte und das Unglück.“37 34 Borges, Jorge Luis: El Tamaño De Mi Esperanza, Buenos Aires: Seix Barral 1994 [1926]. 35 Borges, Jorge Luis: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil, (Buenos Aires mit Inbrunst. Mond gegenüber. Notizheft San Martín. Borges und ich), 3. Aufl., übers. v. Gisbert Haefs/Karl August Horst, München/Wien: Hanser 2006, S. 7-81, hier S. 10f. – Deutsche Übersetzung: „Wo karge Hütten, bedrängt von unsterblichen Fernen, / sich kaum zu verlieren wagen in der tiefen Schau / von Himmel und Ebene“. 36 Borges, Jorge Luis: „Luna de Enfrente/Mond gegenüber“, in: G. Haefs/F. Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil (2006), S. 85-122, hier S. 86f. – Deutsche Übersetzung: „Brachland, das sich auflöst zu Gestrüpp und Drähten“. 37 J.L. Borges: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 7.
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In Fervor de Buenos Aires verherrlicht Borges die unbedeutenden Dinge wegen ihrer Kargheit oder ihres Alters und verhilft ihnen dabei, ihre bedeutungsvolle Pracht durch seine Dichtkunst zurückzugewinnen: eine „Ecke mit hohen Sockeln“, ein „roter Patio“, die Zisterne als „ein umgekehrter Turm… zwischen zwei Himmeln“, „rostige Gitter“, „das verblasste Schild“. Borges verleiht der Armut dieser Ufer eine poetische Würde: „Arm zu sein impliziert einen weit unmittelbareren Besitz der Realität, eine größere Intensität des ersten herben Geschmacks der Dinge: ein Wissen, das den Reichen zu fehlen scheint, als ob alles gefiltert zu ihnen käme“, so Borges in seiner Erzählung Evaristo Carriego (1930).38 Er stilisiert somit die Lebensweise der Vorortbewohnenden: „He conmemorado con versos la ciudad que me ciñe / y los arrabales que se desgarran. / He dicho asombro donde otros dicen solamente costumbre.“39 Borges rekurriert auf das griechische Staunen, thaumezein, mit dem das philosophische Denken anfängt. Dieses Staunen ermöglicht einen ‚anderen’ Blick auf die alltäglichen Dinge, es erlaubt ihm sie zu befragen und ihre Wahrheit oder wesentliche Schönheit zu entdecken. In diesem Sinne versucht Borges, Ana María Barrenechea zufolge, sein Ideal eines poetischen Lebens in der Stadt Buenos Aires zu verwirklichen, indem er in ihr und durch sein Leben in ihr eine Antwort zu seinen philosophischen Fragen, die ewigen Probleme der Menschheit, sucht. Eine Antwort, die im Leben in der Stadt selbst zu finden sei. Seine früheren Schriften zeigen diese nicht überwundene Dualität auf. Es geht nicht darum, dass es keine – in Borges' Worten – „notwendige Verbindung“ zwischen philosophischem Denken und dem Fühlen der Stadt geben könnte. Es geht ihm vielmehr darum, dass er diese Notwendigkeit nicht auszudrücken vermag. Einerseits, weil er vielleicht das Philosophische in einer allzu vernünftigen Formulierung äußert und eben nicht als eine von Staunen erfüllten Offenbarung. Andererseits, weil er die Präsenz der Stadt in einer äußerst lokalen Beschreibungssprache zum Ausdruck bringt, wie in Luna de Enfrente und in Teilen von Cuaderno San Martin zu ersehen ist; eine
38 Borges, Jorge Luis: „Evaristo Carriego“, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil, (Evaristo Carriego. Diskussionen), übers. v. Karl August Horst u.a., München/Wien: Hanser 1999, S. 7116, hier S. 26. 39 J.L. Borges: Casi Juicio Final/Beinahe jüngstes Gericht, in: „Luna de Enfrente/Mond gegenüber“, S. 110f. – Deutsche Übersetzung: „Mit Versen habe ich der Stadt gedacht, die mich umgibt, / und der Vorstädte, die sich zerstreuen. / Ich habe Staunen gesagt, wo andere nur Gewohnheit sagen.“
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Vorgehensweise, die er selbst später verschmäht und verworfen hat. Diese Zwietracht erweist sich in der Sprache, die das einheimische und dialogische, ‚lo criollo‘, mit akzentuierten Kultismen vereint. 40 Dieser criollismo ist aber keine lokale Erscheinung. Borges öffnet den criollismo zur Welt und postuliert hiermit, so die These Jorge Panesis, „die Dimension des Anderen“. Dem criollismo liegt eine doppelte Bewegung, die jede Synthesis nichtig macht, zugrunde: erstens, eine Selbstaffektiertheit oder Kontakt mit dem Eigenem, mit der argentinischen, südamerikanischen Eigenart und mit sich selbst und zweitens, eine gleichzeitige Öffnung für das Andere, die Zukunft, die Eventualität. Hier finden wir die eigenartige Betrachtungsweise Borges’: „Das Treffen mit dem Anderen kommt seiner Auffassung vom Denken gleich“, so Panesi. Denn das Denken ist schmerzlich abwesend im criollismo: So schreibt Borges in El Tamaño de mi Esperanza: „Nuestra realidá vital es grandiosa y nuestra realidá pensada es mendiga.“41 und fügt noch hinzu: „Lo inmanente es el espíritu criollo y la anchura de su visión será el universo.“42 Panesi zufolge veräußert „das Denken oder sich mit dem Anderen inmitten des Denkens zu treffen, die Singularität nicht, vielmehr stützt sie in das Allgemeine oder Universelle ab“ 43. Wenn Denken eine Öffnung zum Anderen ist, so öffnet Borges den criollismo zur Welt. In jedem Fall schreibt Borges diese Singularität des criollismo in die ‚Ufer‘ – las orillas – von Buenos Aires ein. Dafür spiegelt er nicht einfach die Wirklichkeit, vielmehr handelt es sich um eine nostalgische Wiederentdeckung. Denn las orillas sind definiert als ein imaginärer und origineller Ort, ein Rand oder Kante der Stadt, worin die Nostalgie44 sich entfalten kann: „De la riqueza infatigable del mundo, sólo nos pertenece el arrabal y la pampa. Ricardo Güiraldes … le está rezando al llano; yo … voy a cantarlo al arrabal…“45
40 A.M. Barrenechea: La Expresión de la Irrealidad, S. 13. 41 J.L. Borges: El Tamaño De Mi Esperanza, S. 14. 42 Ebd., S. 79. 43 Panesi, Jorge: „Borges: destinos sudamericanos y destinos de la traducción“, in: William
Rowe/Claudio
Canaparo/Annik
Louis
(Hg.),
Jorge
Luis
Borges.
Intervenciones sobre pensamiento y literatura, Buenos Aires/Barcelona/México: Paidos 2000, S. 165-175, hier S. 166 und 168. 44 Vgl. Anadón, Pablo: „Jorge Luis Borges y la Nostalgia de las orillas“, in: Piedra y Canto. Cuadernos del CELIM 11-12 (2005/2006), S. 11-23. 45 J.L. Borges: La Pampa y el Surburbio son Dioses, in: El Tamaño De Mi Esperanza..
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6. BORGES: LAS ORILLAS Borges schreibt seine Literatur an der Grenze ein, eine Grenze, die keine Trennung, sondern einen Übergang zwischen zwei Wirklichkeiten meint: Es ist ein Grenzgebiet und zugleich ein Übergang zwischen Stadt und Land, ein von den Gefahren der Modernisierung geschütztes Gebiet, das Borges nostalgisch in seinen Schriften verewigen möchte. Einer ihrer Formen, abgesehen vom suburbio (Vorort), ist der barrio (Viertel), dessen Ästhetisierung auf die Vergangenheit verweist: „Alguna vez era una amistad este barrio, / un argumento de aversiones y afectos, como las otras cosas de amor; / apenas si persiste esa fe / en unos hechos distanciados que morirán: / en la milonga que de las Cinco Esquinas se acuerda, / en el Patio como una firme rosa bajo las paredes crecientes, / en el despintado letrero que dice todavía La Flor del Norte, / en los muchachos de guitarra y baraja del almacén, / en la memoria detenida del ciego.“46
Bei Borges, so Sarlo, überkreuzen sich zwei Perspektiven: eine, die nach der nicht mehr existierende Stadt fragt (und die auch nicht in der erinnerten Art und Weise existiert hat) und eine Zweite, die die Stadt nach einem grundlegenden Ideologem, las orillas (die Ufer) deutet.47 Das Gedicht A la Calle Serrano stellt beide erinnerten Städte in Kontinuität und Differenz zueinander: „Calle Serrano. / Vos ya no sos la misma de cuando el Centenario. / Antes eras más cielo y hoy sos puras fachadas. / Ahora te prestigian / El barullo caliente de una confiteria / I un aviso punzó como una injuria. / En la espalda movida de tus italianitas / No hay ni una trenza donde ahorcar la ternura.“48
46 Borges, Jorge Luis: Barrio Norte/Nordstadt, in: „Cuaderno San Martín/Notizheft San Martín“, in: G. Haefs/F. Arnold: Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Gedichte erster Teil (2006), S. 123-161, hier S. 154f. – Deutsche Übersetzung: „Irgendwann war dieses Viertel eine Freundschaft, / ein Streit von Aversionen und Neigungen, wie die anderen Liebesdinge; / kaum überdauert noch dieser Glaube / an ein paar entlegene Tatsachen, die sterben werden: / an die Milonga, die der Cinco Esquinas gedenkt, an den Patio, wie eine kräftige Rose unter wuchernden Wänden, / an das verblasste Schild, das noch immer La Flor del Norte sagt, / an die Jungs mit Gitarre und Spielkarten in der Ladenschenke, / an das gemächliche Gedächtnis des Blinden.“ 47 B. Sarlo: Una Modernidad Periférica, S. 46. 48 Borges, Jorge Luis: „A la Calle Serrano“, in: Jorge Luis Borges/Alberto Hidalgo/Vicente Huidobro (Hg.), Indice de la Nueva Poesía Americana, Buenos Aires:
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Borges Schriften bieten den Einwohnerinnen und Einwohnern Argentiniens das an, was ihnen schmerzhaft fehlt: Tradition und Verwurzelung. Wie Julio Pimentel Pinto erklärt, besteht der Versuch Borges’ darin, Orte in die Vergangenheit einzuschreiben, die das Gemeinschaftliche oder Kollektive zurückgewinnen. Borges grenzt konkrete oder subtile, imaginäre oder existierende Grenzen und Gebiete ab. Diese sind Einschreibungsorte für die verschiedenen Sinndeutungen des Kollektiven – der Argentinierinnen und Argentinier, der ‚bonaerenses‘ (der Stadtbewohner Buenos Aires’), der Vergangenheit. Borges konstituiert Gebiete, erfindet Traditionen, konstruiert ein geschichtliches Gedächtnis und bestimmt Raum und Zeit neu, um den Argentinier einerseits in den orillas zu verorten und andererseits in einer möglichen Vergangenheit zu verzeitigen. Eine aus Erinnerungen gebildete Vergangenheit, die das alltägliche Leben mit Geschichten über Messerkämpfen, Duelle und Racheakte artikuliert.49 Dabei besteht das Neue nach Sarlo darin, dass die avantgardistische Poesie einen nostalgischen Ton übernehme. Diese Erfindung Borges wird durch die Überkreuzung von zwei Tendenzen ermöglicht: Ultraismus und Criollismus, ästhetische Neuerung und Erinnerung. Der Vorort wird zur orilla, Rand der Ebene, das Brachland ist die Einfügung der pampa innerhalb des unvollständigen städtischen Rasters.50 Borges erklärt diesem Viertel, el barrio, das uns „entgleitet“, und den Ufern, las orillas, seine Liebe: „Este disperso amor es nuestro desanimado secreto.“51 Seine affektive Anbindung ist eine doppelte, je nach Bezug: In Bezug auf die Dichotomie Stadt/Land bevorzugt er die verlassenen und vom Fortschritt vergessenen orillas der Stadt. Auf die Dichotomie Ausland/Heimatland bezogen, bevorzugt er die Stadt Buenos Aires: „Esta ciudad que yo creí mi pasado / es mi porvenir, mi presente; / los años que he vivido en Europa son ilusorios, / yo estaba siempre (y estaré) en Buenos Aires.“52 Sociedad de Publicaciones El Inca 1926. – Deutsche Übersetzung: „Serrano Straße / Du bist nicht die gleiche wie bei der Jahrhundertfeier. / Früher warst du mehr Himmel und heute bist du pure Fassaden. / Jetzt verleiht dir Prestige der heiße Lärm einer Konditorei / Und ein rotes Schild als eine Beleidigung. / Auf den bewegten Rücken deiner kleinen Italienerinnen / Gibt es keinen Zopf, um die Zärtlichkeit aufzuhängen.“ 49 Pinto, Julio Pimentel: „Borges, una poética de la memoria“, in: W. Rowe/C. Canaparo/A. Louis (Hg.), Jorge Luis Borges (2000), S. 155-164, hier S. 156. 50 Ebd., S. 47. 51 J.L. Borges: Barrio Norte, in: „Cuaderno San Martin/Notizheft San Martín“, S. 154f. 52 J.L. Borges: Arrabal/Vorstadt, in: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 40f. – Deutsche Übersetzung: „Diese Stadt, die ich für meine Vergangenheit hielt, / ist meine Zukunft, meine Gegenwart; / die Jahre, die ich in Europa lebte, sind illusorisch, / immer war ich (und werde sein) in Buenos Aires.“
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Die Identität Borges beherbergt einen Zwiespalt: Zum einen ist er ein Kosmopolit, der sich in der Weltliteratur bestens auskennt, zum anderen fühlt er sich den criollos nah. Er erklärt die Viertel der Stadt Buenos Aires zu seiner einzigen Heimat, eine Heimat, die er einverleibt hat: „Las calles de Buenos Aires / ya son mi entraña. / No las ávides calles, / incómodas de turba y de ajetreo, / sino las calles desganadas del barrio, / casi invisibles de habituales…“53 Borges verankert seine poetische Identität in den Vororten. Es handelt sich um eine Identität, die von jener seiner Vorfahren abweicht: „Una amistad hicieron mis abuelos / con esta lejanía / y conquistaron la intimidad de los campos … “54 In den letzten Zeilen des Gedichts äußert er sein Bedauern, diese Vertrautheit mit dem campo verloren zu haben: „Soy un pueblero y ya no sé de estas cosas, / soy hombre de ciudad, de barrio, de calle: / los tranvías lejanos me ayudan la tristeza / con esa queja larga que sueltan en las tardes.“55 Er wird aber zu diesen „gierigen Straßen“ der Stadt am Ende seines Lebens zurückkehren wollen, um im Friedhof La Recoleta zu ruhen: „Estas cosas pensé en la Recoleta, / en el lugar de mi ceniza.“56 Es besteht jedoch eine Grenze, die er nicht zu überschreiten wagt: „El arrabal es el reflejo de nuestro tedio. / Mis pasos claudicaron / cuando iban a pisar el horizonte / y quedé entre las casas…“57 Die Vorstadt bietet ein beschützendes ‚Drinnen‘, das vor einem bedrohlichen und unbekannten ‚Draußen‘ schützt. Dennoch haben sich im Laufe von Borges’ Leben die Grenzen verschoben: 53 J.L. Borges: Las calles/Die Straßen, in: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 10f. – Deutsche Übersetzung: „Die Straßen von Buenos Aires / sind mir längst Fleisch und Blut. / Nicht die gierigen Straßen, / lästig durch Mengen und Mühsal, / sondern die müden Straßen des Viertels, / fast unsichtbar durch Gewohnheit…“). 54 J.L. Borges: Dulcia linquimus arva, in: „La Luna de enfrente/Mond gegenüber“, S. 108f. – Deutsche Übersetzung: „Eine Freundschaft schlossen meine Ahnen / mit dieser Weite / und eroberten die Vertrautheit der Felder…“ 55 Ebd. – Deutsche Übersetzung: „Ich bin ein Ortsbewohner und weiß nichts mehr von diesen Dingen, / ich bin ein Mensch der Stadt, des Viertels, der Straße: / die fernen Straßenbahnen helfen mir bei der Trauer / mit dieser langen Klage, die sie des Abends ertönen lassen.“ 56 J.L. Borges: La Recoleta/Friedhof La Recoleta, in: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 14f. – Deutsche Übersetzung: „Diese Dinge bedachte ich in der Recoleta, an der Stätte meiner Asche.“ 57 J.L. Borges: Arrabal/Vorstadt, in: „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 40f. – Deutsche Übersetzung: „Die Vorstadt ist das Spiegelbild unseres Überdrusses. / Meine Schritte zögerten, / als sie den Horizont betreten sollten, / und ich blieb zwischen den Häusern…“
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„Yo creí, durante años, haberme criado en un suburbio de Buenos Aires, un suburbio de calles aventuradas y de ocasos visibles. Lo cierto es que me crié en un jardín, detrás de una verja con lanzas, y en una biblioteca de ilimitados libros ingleses... ¿Qué había, mientras tanto, del otro lado de la verja con lanzas? ¿Qué destinos vernáculos y violentos fueron cumpliéndose a unos pasos de mí, en el turbio almacén o en el azaroso baldío?“58
In seiner Schrift Evaristo Carriego versucht Borges, Silvia Molloy zufolge, das, was „auf der anderen Seite des Lanzengitters“ liegt, aus der Perspektive eines Ichs zu verzeichnen, das ein prekäres Gleichgewicht zwischen einem Drinnen und einem Draußen hält. Die anscheinend naive Absicht einer Biografie wird in dieser Schrift umgedeutet: Es ist ein „Buch, das weniger dokumentarisch als erfinderisch ist“59, so Borges. Diese naive Biografie entpuppt sich als ein „unfreundlicher, hinterhältiger“60 Text, so Molloy: Der Hauptprotagonist der Geschichte ist von Schatten umgeben und die Darstellung seines Lebens ist nur ‚eine‘ der möglichen Biografien61, sie ist nicht die einzig mögliche, vielleicht auch nicht die wahrhaftigste. Vermutlich würde Borges sich wünschen, dass ihm auf die Art und Weise gedacht werde, wie er selbst Carriego gedenkt: „Estas borrosas imágenes suficientes de campo de a caballo, que son el fondo de toda conciencia argentina, no podían faltar en Carriego. En ellas hubiera querido vivir. Otras incidentales (de azar domiciliario al principio, de ensayo aventurero después, de cariño al fin) eran, sin embargo, las que defenderían su memoria: el patio que es ocasión de serenidad,
58 Borges, Jorge Luis: „Evaristo Carriego“, in: Ders., Obras Completas I, 1923-1949, Buenos Aires: Emecé 1996, S. 101-176, hier S. 101. – Deutsche Übersetzung: „Jahrelang habe ich geglaubt, ich sei in einem Vorort von Buenos Aires aufgewachsen, einem Vorort mit streunenden Straßen und offenkundigen Sonnenuntergängen. Tatsächlich wuchs in einem Garten auf, hinter einem Lanzengitter, und in einer Bibliothek von unzähligen englischen Büchern… Was geschah während dessen auf der anderen Seite des Lanzengitters? Welche heimlichen und heftigen Schicksale erfüllten sich einige Schritte entfernt von mir, in der schäbigen Ladenschänke oder auf dem unsicheren Brachland?“ (Dt. J.L. Borges: „Evaristo Carriego“, in: G. Haefs/F. Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil (1999), S. 7). 59 Ebd., S. 7. 60 Molloy, Sylvia: Las letras de Borges y otros ensayos, Rosario: Beatriz Viterbo 2000, S. 28. – Sie bezeichnet diese im Original als „desapacible, insidioso“. 61 Ebd.
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rosa para los días...., los hombres de la esquina rosada. Ellas lo confiesan y aluden. Yo espero que Carriego lo entendió...“62
Diese Vermutung findet ihre Bestätigung in El Tamaño de mi Esperanza, worin er zugibt, dass sein „literarisches Credo“ sich wie folgt beschreiben lässt: „Toda literatura es autobiográfica, finalmente.“63 Borges erfand für sich selbst eine Welt und ein Leben, die seinen innigsten Wünschen und Sehnsüchten entsprachen.
7. BORGES: LA RECOLETA UND DIE STADT DER ‚INMORTALES‘ In diesem Sinne ist der Friedhof La Recoleta in Buenos Aires ebenso eine verwirklichte Utopie. Im scharfen Gegensatz zu den orillas mit ihrer lyrischen, fragilen, melancholischen Natur besitzt der Friedhof einen monumentalen, pittoresken, fragmentarischen und unheimlichen Charakter. Im Zentrum der Stadt Buenos Aires einbetoniert, bildet er eine Stadt in sich von der ersteren diametral entgegengesetzter Art, ein von Mauern beschützter Bereich mit einem einzigen Eingang. Ein klassisches Portal mit der Inschrift EXPECTAMUS DOMINUM gewährt uns den Zugang. Einer mittelalterlichen Stadt gleich, wächst der Friedhof durch Überlappung, Aneinanderreihung und Verschmelzung seiner verschiedenen Bestandteile, die den Innenraum des ummauerten Gebietes lückenlos verdichten. Gleich einer Stadt, beheimatet der Friedhof Häuser – Ehrentempel, Grabplatten, Grabstätten, die die Straßen und Alleen, die grauen, trockenen plazas oder Plätze säumen. Dieser Mikrokosmos beherbergt die Helden, Aristokraten und Intellektuelle der Vergangenheit Argentiniens. In den Worten Borges:
62 J. L. Borges: „Evaristo Carriego“, S. 120. – Deutsche Übersetzung: „Diese undeutlichen, gewohnten Bilder vom Reiter in der Ebene, die der Hintergrund jedes argentinischen Bewusstseins sind, konnten bei Carriego nicht fehlen. In dieser Welt hätte er gern gelebt. Es waren jedoch andere beiläufige Umstände (zunächst vom Zufall des Wohnsitzes bestimmt, später vom Versuch des Abenteurers, zuletzt von Zuneigung), die sein Ausdenken ausmachen sollten: der Patio als Anlass zur Heiterkeit, Rose der Tage…, die Männer an der rosa Straßenecke. All diese Dinge künden von ihm und spielen auf ihn an. Ich hoffe, dass Carriego es so verstanden hat…“ (Dt. J.L. Borges: „Evaristo Carriego“, in: G. Haefs/F. Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke. Der Essays erster Teil (1999), S. 34). 63 J.L. Borges: Profesión de Fe Literaria in: „El Tamaño De Mi Esperanza“, S. 170.
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„Convencidos de caducidad / por tantas nobles certidumbres del polvo, / nos demoramos y bajamos la voz / entre las lentas filas de panteones, / cuya retórica de sombra y de mármol / promete o prefigura la deseable / dignidad de haber muerto. / Bellos son los sepulcros, / el desnudo latín y las trabadas fechas fatales, / la conjunción del mármol y de la flor / y las plazuelas con frescura de patio / y los muchos ayeres de la historia / hoy detenida y única…“64
Im Friedhof La Recoleta kommt die unmenschliche und zugleich stark evozierende Kraft der Architektur paradigmatisch zur Geltung. Diese bunte und dichte Vielfalt von Marmorplatten, eingravierten Daten, Grabinschriften, die sich wie mit einander verschweißt entlang der Straßentrasse gegen den Himmel erheben, bilden eine netzartige Struktur, die, einem Labyrinth gleich, nur Verwirrung und ein Gefühl der physischen Bedrängnis bei den Besuchenden auslöst. Diese fühlen sich selbst von diesen steinernen Wänden bedroht und bedrängt, als ob sie sich in einem zum Himmel hin offenen Grab befinden würden. Die kleinen Plätze, den kargen patios der orilla gleich, bieten die einzige Erlösung von diesen bedrohlichen und Angst einflößenden Mauern. Dieses unentwirrbare Labyrinth wird durch enge Straßen wie von offenen Wunden der Steinlandschaft durchkreuzt, die keinen erlösenden Blick zu einem möglichen Draußen anbieten; sie werden von einer bunten Vielfalt von Mauern, ägyptischen Pyramiden, griechischen Säulen und Giebeln, romanischen Bögen und Gewölben dicht umsäumt. In dieser labyrinthischen Struktur finden alle Toten ihren Platz – im Unterschied zu den Lebenden, die orientierungslos durch die engen Gassen hin und her wandern, ohne einen Ausweg zu finden. So sind die Lebenden zu Orientierungslosigkeit und Beklemmungsgefühlen verdammt, keine tröstende Natur hilft über diese unheimliche Erfahrung hinweg. In diesem Sinne gleicht der Friedhof von La Recoleta der Stadt der Unsterblichen, die Borges in seiner Erzählung Der Unsterbliche schildert.65 Der Tribun 64 J.L. Borges: La Recoleta/Friedhof La Recoleta, in „Fervor de Buenos Aires/Buenos Aires mit Inbrunst“, S. 12f. – Deutsche Übersetzung: „Überzeugt von Vergänglichkeit/ durch so viele edle Gewissheiten des Staubs / verweilen wir und senken die Stimme / zwischen den sachten Reihen der Ehrentempel,/ deren Rhetorik aus Schatten und Marmor / die erwünschte Würde, gestorben zu sein, / verheißt oder vorbedeutet. / Schön sind die Grabmäler, / das entblößte Latein, die eingemeißelten Schicksalsdaten, / die Verbindung / von Marmor und Blume / und die kleinen Plätze, mit der Frische von Patios, / und die vielen Gestern der Geschichte, / die heute verhalten und einzig sind…“ 65 Vgl. Grau, Cristina: Borges y la arquitectura, Madrid: Cátedra 1995, S. 146, woraus dieser Vergleich entstammt. Die darauf folgende Entfaltung des Vergleichs gehört zu meinen Überlegungen.
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Roms sieht in der Ferne „die Stadt der Unsterblichen, reich an Bollwerken und Amphitheatern und Tempeln“66. Bevor er sie erreichen kann, verirrt er sich in der Wüste, und im Morgengrauen träumt er „von einem winzigen glänzenden Labyrinth: Im Mittelpunkt war ein Krug; fast berühren ihn meine Hände, meine Augen sahen ihn, aber so verschlungen und verzwickt waren die Bogenlinien, daß ich wußte, eher würde ich sterben als ihn erreichen.“67 Als er aus diesem Albtraum erwacht, findet er sich, „an den Händen gefesselt, in eine längliche Nische aus Stein geworfen, nicht größer als ein gewöhnliches Grab, die oberflächlich in den Steilhang eines Berges gegraben war“68. Hier beschreibt Borges die unheimliche Erfahrung desjenigen, der in einem offenen Sarg unbeweglich und machtlos dem sich nähernden Tod ins Gesicht sieht. Nachdem er sich befreien kann, versucht der Tribun, dieser unheimlichen unterirdischen Stadt zu entfliehen: „Vergebens schritt ich sie ab; der schwarze Grundsockel wies nicht die kleinste Unregelmäßigkeit auf; die immergleichen Mauern schienen kein einziges Tor zuzulassen.“69 In diesem Labyrinth war „die Stille … feindlich und fast vollkommen; in diesem tiefen Netzwerk aus Stein war nichts zu vernehmen außer einem unterirdischen Wind…“70 Eine furchterregende, bedrohliche Atmosphäre herrscht in diesen Gemächern, aus denen eine Flucht unmöglich scheint: „Am Ende eines Ganges versperrte mir unvermutet eine Mauer den Weg; ein fernes Licht fiel auf mich. Ich hob die geblendeten Augen: Schwindeln in höchster Höhe sah ich ein kreisförmiges Stück Himmel von solcher Bläue, dass es mir Purpur hätte erscheinen können.“71 Schließlich gelingt ihm die Flucht in die Stadt der Oberfläche: „Ich sah Kapitelle und Säulenringe, dreieckige Giebelfelder und Gewölbe, wirren Prunk von Granit und Marmor. So war mir beschieden, aus der blinden Region schwarzer, verwickelter Labyrinthe zu der strahlenden Stadt emporzusteigen.“ 72 Die Erfahrungen, die Borges hier so lebendig beschreibt, könnten ebenso im Friedhof La Recoleta gemacht werden: Die unterirdische Stadt der Toten, die sich als ein dunkles, steinernes Labyrinth aus Nischen und Särgen gleich den römi66 Borges, Jorge Luis: „El Inmortal/Der Unsterbliche“ in: „Das Aleph“, in: Gisbert Haefs/Fritz Arnold (Hg.), Jorge Luis Borges. Gesammelte Werke, Der Erzählungen erster Teil (Universalgeschichte der Niedertracht, Fiktionen, Das Aleph), 3. Aufl., übers. v. Karl August Horst/Wolfgang Luchting/Gisbert Haefs, München/Wien: Hanser 2000, S. 249-388, hier S. 250. 67 Ebd., S. 252. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 254. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 255. 72 Ebd.
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schen Katakomben erstreckt, wird von der strahlenden Stadt der Lebendigen verhüllt. Im Falle der Recoleta aber ist die unterirdische Stadt der Toten von einer ähnlichen labyrinthischen Stadt aus Stein bedeckt, die nicht weniger tot ist, und wo der Himmel, ein Riss inmitten der stummen Steine, gleich einem von Steinen umrahmten Trugbild des wahren Himmels zu sein scheint. Beide Städte sind im selben Maße heillos unmenschlich und unheimlich. Beide halten die Erinnerungen an die Toten wach, mit dem Unterschied, dass in der oberen Stadt nur eine steinerne Inschrift wie ein stilles Zeichen an die unsichtbaren Toten erinnert.
8. DIE ZWITTEREINHEIT TERRAIN VAGUE/HETEROTOPIE BZW. LAS ORILLAS/LA RECOLETA Borges schreibt seine Literatur in den orillas der Stadt Buenos Aires ein, in ein Grenzgebiet, das zugleich einen Übergang zwischen zwei Wirklichkeiten darstellt: Es ist ein Grenzgebiet der Stadt Buenos Aires und zugleich ein Übergang zwischen Stadt und Land, ein von den Gefahren der Modernisierung geschütztes Gebiet, das Borges nostalgisch in seinen Schriften verewigen möchte. Topologisch ist diese orilla ein Zwischenraum, aber, im Unterschied zu den terrain vagues, weder ein leerer oder verlassener Ort, noch ein transitorischer Übergang zwischen zwei beständigeren Realitäten. Die orillas sind auch keineswegs hybride Räume; vielmehr haben sie eine eigenständige Identität, die sich von derjenigen der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner oder derjenigen der Bewohnenden der pampa stark unterscheidet. Keine Unbestimmtheit bzw. Ambiguität des Sinnes ist hier zu verzeichnen, vielmehr drückt sich diese Singularität in einer eigentümlichen Ästhetik aus, die feste Charakterzüge besitzt. Das alltägliche, das habituelle und die von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst übersehenen Schätze ihres Daseins sind ästhetisch erhoben: Das Schöne liegt nicht im Prunk der Schilder und der detailverzierten Gebäude der Stadt, sondern in den nicht angeberischen, einfachen und vergänglichen Ritualen und Traditionen der orillas. Die Schönheit liegt in der kargen Würde einer Ecke mit hohen Sockeln, eines roten Patios, einer Zisterne, eines rostigen Gitters, eines verblassten Schilds, eines patios, das einen Feigenbaum umgibt und den Himmel umrahmt. Den orillas wohnt somit eine melancholisch-romantische Schönheit bei. Das Potenzial der orillas besteht nicht nur in ihren Nutzungsmöglichkeiten, sondern vor allem in ihrer Offenheit gegenüber der Imagination: In den orillas kann jede und jeder die imaginären Erinnerungen lagern, die von einer vergangenen Realität nostalgisch erzählen. Sie können als ein Grenzfall der Heterotopien im Sinne Foucaults verstanden werden, als Heterochronien, da sie nur so lange
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bestehen, bis die Modernisierungsprozesse der Stadt sie ergreifen. Sie sind ebenso ein Schmelztiegel, nicht als Ort der Freiheit, sondern als Ort, wo Einheimische und Eingewanderte friedlich koexistieren können. Das Andere ist nicht das Fremde, sondern die Stadt oder das umgebende Land: In dieser Hinsicht bilden die orillas einen Schutzort, der der Bedrohung nicht nur der Stadt oder der Natur, sondern ebenso der des unaufhaltsamen Fortschritts – zumindest für eine gewisse Zeit – standhalten kann. Den terrain vagues gleich, bilden die orillas Gebiete, die sich den Zwängen der durchrationalisierten Stadtordnung entziehen. Daher werden sie von den Einwohnerinnen und Einwohnern gemäß ihrer eigenen Vorstellungen und Traditionen ersonnen: Sie sind frei geschaffene Landschaften, die Erinnerungen speichern können. Mit den transitorischen Räumen teilen sie die Eigenschaft, dass sie bewohnt sind, jedoch sind sie kein vorübergehendes oder kurz andauerndes Phänomen Ihr Erfahrungspotenzial besteht darin, eine Erfahrung der Unbeweglichkeit in der Zeit zu ermöglichen, eine gefühlte Ewigkeit, als ob die Zeit zu einem Stillstand gekommen wäre. Diese Chronotopie hält den Fortschritt und die Veränderungen an ihrer Grenze ab. Sie ist ein Speicherort für die nostalgischen Träume und Wünsche der Stadtbewohner, die sich nach einer unwiederbringlichen Vergangenheit sehnen: In den Augen des Dichters konstituieren sie eine verwirklichte Utopie. Der Friedhof La Recoleta ist ebenso eine verwirklichte Utopie: die Stadt der Toten inmitten der Stadt der Lebenden. Er ist das genaue Gegenbild der orillas: unheimlich, trostlos, unveränderlich: nur eine ‚tote‘ Inschrift auf den Steinen erinnert an die Menschen, die einst in der Stadt der Lebenden hausten. Dieser Friedhof ist kein Übergangsort zwischen zwei Realitäten, er bildet vielmehr einen Ort außerhalb aller Orte und eine Zeit außerhalb aller Zeiten, eine räumliche und zeitliche Heterotopie inmitten der Stadt Buenos Aires. Der Gegensatz lebt aber von der Beziehung: La Recoleta und die orillas, terrain vague und Heterotopie bilden eine Zwittereinheit, die von ihrer Zugehörigkeit zeugt: Wie aus dem oben Dargestellten hervorgeht, zeigen beide Begriffe gegensätzliche aber auch gemeinsame Bestimmungen auf, so dass sie ein diakritisches System bilden, eine Einheit, die aus Differenzen besteht. Sie ergänzen und kompensieren sich gegenseitig, nicht nur indem sie einander die Grenzen aufzeigen, sondern indem sie sowohl von den Widersprüchen unserer Auffassung von Leben und Tod als auch von dem weiten Entfaltungsraum unserer Erfahrungen zeugen.
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Unsichtbare Zeitgeschichte. Bahnhöfe – Randzonen – politische Chiffren
Neapel zwischen De- und Regeneration Projektionen der Stadt in Ermanno Reas Napoli Ferrovia Tobias Berneiser
In seiner Studie Mediterranean Crossings. The Politics of an Interrupted Modernity hebt der in Neapel lehrende Kulturwissenschaftler Iain Chambers hervor: „In Naples you are constantly aware of not simply living an urban experience, but also of living urban life as a problem, as an interrogation, as a provocation. […] Naples presents itself as a critical city.“1 Eine Reflexion der kritischen Entwicklung und urbanen Kultur Neapels findet besonders innerhalb literarischer Diskursformen statt, was die große und stetig zunehmende Anzahl an neapolitanischen „Stadttexten“ bekundet, in denen Neapel „ein – über referentielle bzw. semantische Rekurrenzen abgestütztes – dominantes Thema ist, also nicht nur Hintergrund, Schauplatz, setting für ein anderes dominant verhandeltes Thema“2. Ein Beispiel für die literarische Erkundung städtischen Lebens in Neapel stellt der im Jahr 2007 erschienene Roman Napoli Ferrovia von Ermanno Rea dar, der im vorliegenden Beitrag exemplarisch für die Wirkung von Literatur als poietisches Medium der Raumauslegung untersucht wird.3 Der Protagonist und 1
Chambers, Iain: Mediterranean Crossings. The Politics of an Interrupted Modernity, Durham/London: Duke University Press 2008, S. 80.
2
Der hier verwendete Begriff des „Stadttextes“ entstammt den von Andreas Mahler eingeführten Kategorisierungen für Formen diskursiver Stadtkonstitution. Vgl. Mahler, Andreas:
„Stadtexte
–
Textstädte.
Formen
und
Funktionen
diskursiver
Stadtkonstitution“, in: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 11-36, hier S. 12. 3
In Anlehnung an Birgit Neumann werden literarische Werke im vorliegenden Beitrag „als poietische Medien der Raumaneignung, -auslegung, und -schaffung verstanden, die die Raumanordnungen ihrer Zeit und die ihnen eingeschriebenen Werte darstellen, reflektieren, permanent neu setzen und gegebenenfalls auch transformieren.“ Vgl.
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Erzähler dieses neapolitanischen Stadttextes problematisiert das Leben in seiner Heimatstadt Neapel nach langjähriger Abwesenheit, sucht nach Erklärungen für den von ihm konstatierten Niedergang der Stadt und spekuliert mit seinem Freund Caracas bei gemeinsamen Spaziergängen durch das neapolitanische Bahnhofsviertel über die zukünftige Entwicklung Neapels. Im Anschluss an eine Einordnung des Romans in den Rahmen einer neapolitanischen Tradition kritischer Stadthinterfragung soll im Folgenden untersucht werden, wie Rea über die literarische Diskursivierung und symbolische Aufladung des urbanen Raums in Napoli Ferrovia die Emblematik einer Stadt in der Krise entwirft, um abschließend die im Roman artikulierten Ideen für eine Überwindung der urbanen Krise herauszuarbeiten.
1. NEAPEL ALS STADT DER KRISE Kritische Stimmen neapolitanischer Intellektueller aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (A. M. Ortese, R. La Capria, E. Rea) Der Historiker Antonio Ghirelli wählt für das die Nachkriegszeit, und hierbei insbesondere die Fünfzigerjahre, behandelnde Kapitel seiner Geschichte Neapels einen kurzen und prägnanten Titel: Il massacro urbano.4 Als ein an Neapel verübtes ‚Massaker‘ fasst er die in den etwa fünfzehn Jahren nach Kriegsende erfolgten stadtplanerischen Fehlentscheidungen auf, deren Auswirkungen Ghirelli gar noch gravierender für die urbane Entwicklung einstuft als die durch Bombardements entstandenen Kriegsschäden.5 Gemeint sind die aus einem Netz von
Neumann, Birgit: „Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur: Raumkonzepte der (Post-)Kolonialismusforschung“, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 115-138, hier S. 117. 4
Vgl. Ghirelli, Antonio: Storia di Napoli, Torino: Einaudi 2015, S. 529-545.
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„La premessa per realizzare il massacro di Napoli è la totale mancanza di una disciplina urbanistica. Funzionari governativi, amministratori comunali, architetti, ingegneri, giuristi, il fior fiore dei professionisti e dei docenti universitari, si lasciano mobilitare e corrompere per fornire giustificazioni alla violazione delle leggi e dei regolamenti, delle norme piú elementari di ogni convivenza civile. Tecnici ed urbanisti si assumono la responsabilità di un saccheggio che infligge alla città danni infinitamente piú gravi di quelli provocati dai bombardamenti angloamericani e dalle devastazioni germaniche“ (Ebd., S. 539).
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korruptionsverdächtiger Baupolitik und Immobilienspekulationen hervorgegangenen Veränderungen des neapolitanischen Stadtbildes im Zuge der Amtsphase des populistischen Bürgermeisters Achille Lauro (1952-1958), durch die riesige Bauprojekte an der Peripherie vorangetrieben und die zuvor noch vereinzelt landwirtschaftlich genutzten Hügel des Stadtrandes mit Betonbauten übersät wurden. Die vornehmlich investitionsmotivierten Baumaßnahmen haben sowohl das Stadtbild als auch die gesellschaftliche Struktur Neapels massiv beeinflusst, denn die Verteilung größerer Bevölkerungsteile vom Stadtkern auf die Ränder der Stadt hat in den nachfolgenden Jahrzehnten das Entstehen jener sozialen Brennpunkte gefördert, für die die neapolitanische Peripherie heutzutage bekannt ist. Aber auch das städtische Zentrum selbst hat unter den urbanistischen Veränderungen der Fünfziger- und Sechzigerjahre gelitten, zumal die Konzentration auf neue Bauprojekte jenseits des historischen Zentrums zu einer vollkommenen Vernachlässigung des sanierungsbedürftigen Stadtkerns beitrug.6 Eine künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Phase neapolitanischer Stadtgeschichte stellt der neorealistische Film Le mani sulla città von Francesco Rosi aus dem Jahr 1963 dar: Am Beispiel des skrupellos agierenden Grundstücksspekulanten Eduardo Nottola werden die korrupten Machenschaften neapolitanischer Politiker kritisiert, die ihre Bauspekulationen befördern, um sich selbst zu bereichern und dabei jegliche Rücksicht auf Menschenleben verloren haben. Die von Rosi filmisch veranschaulichten Bedrohungen für Neapel, die – dem Titel entsprechend – ‚Hand an die Stadt anlegen‘, werden auch von der neapolitanischen Intellektuellenszene der Fünfzigerjahre äußerst kritisch aufgenommen und in verschiedenen literarischen Publikationen verarbeitet. In diesem Zusammenhang kann auf die mit Rosi im Rahmen der bedeutenden, zwischen 1945 und 1947 in Neapel erscheinenden Kulturzeitschrift Sud zusammenarbeitende Anna Maria Ortese (1914-1998) und ihr Werk mit dem aussagekräftigen Titel Il mare non bagna Napoli (1953) hingewiesen werden. Die hier versammelten Erzählungen behandeln die unmittelbar auf das Kriegsende folgenden Jahre und illustrieren ungemein hoffnungslos-pessimistische Bilder einer in ihrem Elend versinkenden Nachkriegsstadt, von der sich, dem Titel gemäß, das Meer distanziert hat.7 Der 6
Zur städtischen Expansion im Zuge der Baupolitik Achille Lauros und speziell zu den Folgen für Neapels Centro storico vgl. Dines, Nick: Tuff City. Urban Change and Contested Space in Central Naples, New York: Berghahn Books 2015, S. 35-36.
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Zu Anna Maria Ortese im Allgemeinen vgl. bücher, Maria E.: Schreiben als Arbeit an der Sprache. Das literarische Werk von Anna Maria Ortese, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Speziell zu Il mare non bagna Napoli vgl. Baldi, Andrea: „Infelicità senza desideri: Il mare non bagna Napoli di Anna Maria Ortese“, in: Italica 77 (2000), S. 81-104.
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letzte in Il mare non bagna Napoli enthaltene und Il silenzio della ragione betitelte Text stellt außerdem eine aus Orteses eigener Perspektive geschilderte Bestandsaufnahme der jungen neapolitanischen Intellektuellenszene dar. Das Kapitel über ‚Das Schweigen der Vernunft‘ fand bei den darin erwähnten literarischen Weggefährten und Weggefährtinnen der Autorin – darunter u.a. Domenico Rea, Michele Prisco, Raffaele La Capria, Luigi Incoronato und Luigo Compagnone8 – zumeist negativen Anklang und brachte Ortese zahlreiche Vorwürfe einer Überzeichnung der neapolitanischen Verhältnisse ein. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Il mare non bagna Napoli als womöglich am häufigsten angeführtes Werk zur Veranschaulichung der Krisenstimmung in den Nachkriegs-jahren der süditalienischen Metropole gilt.9 Ein weiterer Autor, der in fiktionalen und essayistischen Opera das soziale Klima seiner Heimatstadt Neapel in der zweiten Jahrhunderthälfte ausgiebig untersucht hat, ist der in Orteses kritischem Porträt der neapolitanischen Nachkriegsintellektuellen ebenfalls auftretende Raffaele La Capria. Sein mit Abstand bekanntester und erfolgreichster Roman Ferito a morte (1961) verarbeitet die Enttäuschungen einer Generation junger Neapolitanerinnen und Neapolitaner, die nach Kriegsende auf eine Verbesserung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Neapel vertrauen, deren Hoffnungen und persönliche Wünsche jedoch keine Erfüllung finden. Für den 1922 geborenen La Capria, der auch am Drehbuch von Rosis Le mani sulla città mitschrieb, lässt sich das ambivalente Verhältnis von Subjekt und Stadt, konkret die Hass-Liebe zu der zugleich schön und lebens-
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Für eine Einführung in das literarische Werk der neapolitanischen Schriftstellergeneration der Nachkriegsjahre vgl. die Bonner Dissertationsschrift von Izzo, Sergio: Neapel sehen und sterben. Zur Darstellung der parthenopeischen Stadt in der italienischen Nachkriegsliteratur, Diss. phil., Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn 2009. Einen hervorragenden Überblick liefert auch Silvia Contarini: „Narrare Napoli, anni Cinquanta: Domenico Rea, Anna Maria Ortese, Raffaele La Capria, Erri De Luca“, in: Marie-Hélène Caspar (Hg.), Napoli e dintorni, Nanterre: Centre de recherches italiennes 2003, S. 159-172.
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Dies bekundet auch ein anlässlich des vierzigjährigen Publikationsjubiläums von Il mare non bagna Napoli abgehaltener Kongress, dessen Beiträge sich mit der neapolitanischen Literatur der vorausgehenden vier Jahrzehnte auseinandersetzen. Vgl. Tortora, Giuseppe (Hg.): Il risveglio della ragione. Quarant’anni di narrativa a Napoli, 1953-1993 (Atti del Convegno „Il Mare Non Bagna Napoli“, 15 aprile 1993), Cava dei Tirreni: Avagliano 1994.
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widrig wahrgenommenen Metropole Neapel, als zentrales Thema seines Gesamtwerks anführen.10 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist vor allem der 1986 publizierte, ausführliche Essay L’armonia perduta, der an die fiktional verarbeitete Thematik von Ferito a morte anknüpft, indem er die städtische Identität der Neapolitanerinnen und Neapolitaner, ihre napoletanità, analysiert, um dabei ‚die unsichtbare Stadt‘, „la città invisibile nascosta dietro quella visibile che tutti conosciamo“,11 sichtbar zu machen. Den Ausgangspunkt für La Caprias Betrachtung der neapolitanischen Kultur und Geschichte bildet eine Unterbrechung innerhalb des Verlaufs städtischer Historie: „Ad un certo momento, nel passato prossimo o in quello più lontano, per ragioni note o misteriose, c’è stato un blocco. Un blocco che non riguarda solo la storia degli eventi, ma proprio il processo di crescita della società; riguarda la lingua che rimane fissata a modi di pensare, parole, strutture, non più adeguate alle nuove realtà che si presentano e ai suoi nuovi problemi da affrontare; riguarda la visione del mondo, il sentimento della vita, che si chiudono nell’autocontemplazione o nella paura di cambiare, così tipica di quei luoghi e di quelle civilità dove tutto è accaduto ed è più forte la persistenza del passato nel presente.“ 12 10 Vgl. hierzu D’Orlando, Vincent: „La cipolla e il funambolo. Napoli, la città-testo di Raffaele La Capria“, in: Paolo Grossi (Hg.), Raffaele La Capria. Letteratura, senso comune e passione civile. Atti del convegno internazionale dell’Università de Caen (1819 maggio 2001), Napoli: Liguori Editore 2002, S. 105-121. 11 La Capria, Raffaele: „L’armonia perduta“, in: Ders., Napoli. L’armonia perduta – L’occhio di Napoli – Napolitan graffiti, Milano: Mondadori 2009, S. 21-170, hier S. 25 (Kursivierung im Original). 12 Ebd., S. 34. Den epistemologischen Bruch für diesen kulturgeschichtlichen Stillstand Neapels macht La Capria an einem historischen Wendepunkt fest, nämlich dem Jahr 1799: Nachdem sich die mediterrane Metropole im 18. Jahrhundert zu einem kulturellen Zentrum der europäischen Aufklärungsbewegung entwickelt hat, das mit der Ankunft napoleonischer Truppen zu Beginn des Jahres den Status einer unabhängigen Republik gewinnt, werden die aufklärerischen und progressiven Ideale verfolgenden Patrioten bereits im Sommer 1799 durch die reaktionäre Gegenrevolution monarchistischer Truppen und die von ihnen aufgewiegelten Volksmassen blutig niedergeschlagen sowie der Parthenopäischen Republik ein rasches Ende bereitet. In der Argumentation seines keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebenden Essays werden die bürgerkriegsähnlichen Eskalationen des Sommers 1799, in dessen Folge ein großer Teil der republikanisch gesinnten Angehörigen der aufklärerischen Aristokratie sowie des Großbürgertums in Neapel getötet wird, von La Capria zum historischen Trauma für die neapolitanische Zivilisation bestimmt. Somit erklärt er die hieran anschließende Geschichte der städtischen Kultur als einen ständigen Konflikt der
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La Caprias Rekonstruktion eines „inconscio collettivo dei napoletani“13 bezieht dialektale Entwicklungen und literarische Strömungen zwischen 1800 und 1945 ein und versucht auf diese Weise zu ergründen, wie Neapel – gleich den bedeutenden Städten der antiken und spätantiken Kultur – zu „una grande capitale della decadenza“14 wurde, in der die Geschichte stehen und die dem Geist des Fortschritts gegenüber verschlossen blieb. Lassen sich Verlust, Nostalgie und die Hinterfragung des Lebens in Neapel als durchgängige Themen im Gesamtwerk La Caprias ausmachen, so gilt dies ebenso für den wenige Jahre später geborenen Ermanno Rea (1927-2016).15 Genauso wie La Capria verlässt der gebürtige Neapolitaner Rea gegen Ende der 1950er Jahre die Heimatstadt, tritt in den folgenden Jahrzehnten hauptsächlich mit journalistischen Arbeiten in Erscheinung und wendet sich erst im Laufe der Neunzigerjahre der Gattung des Romans zu. Als sein bekanntestes Werk ragt der 1995 veröffentlichte Roman Mistero napoletano. Vita e passione di una comunista negli anni della guerra fredda hervor: Der in Form eines Tagebuchromans angelegte Text verknüpft autobiografische sowie journalistisch-dokumentarische Elemente und hat die Rückkehr eines nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Neapel heimkehrenden und mit Ermanno Rea selbst zu identifizierenden Erzählers zum Gegenstand, dessen Absicht es ist, die Hintergründe zum drei Jahrzehnte zurückliegenden Suizid einer früheren Freundin aufzudecken. Bei dieser handelt es sich um die in den Fünfzigerjahren gemeinsam mit Rea in der neapolitanischen Redaktion der kommunistischen Tageszeitung L’Unità arbeitende Francesca Spada, die sich 1961 das Leben nahm.16 In Mistero napoletano geht es aber keineswegs um die gesellschaftlichen Klassen, der sich in der Angst der Piccola Borghesia, d.h. des ‚Kleinbürgertums‘, vor den populären Massen äußere, und im 19. Jahrhundert zur Ausbildung des kulturellen Identifikationsmusters der Napoletanità geführt habe, die über kulturelle Ausdrucksformen auf eine künstliche Wiederherstellung der ‚verlorenen Harmonie‘ in Neapel ziele. 13 Ebd., S. 165. 14 Ebd., S. 39. 15 Zu Ermanno Rea und seiner literarischen Auseinandersetzung mit der Stadt vor dem Hintergrund der Neapel-Romane des letzten halben Jahrhunderts vgl. neuerdings Cannavacciuolo, Laura: Napoli Boom. Il romanzo della città da Ferito a morte a Mistero napoletano, Napoli: Alessandro Polidoro Editore 2019, S. 129-144. 16 Dass Francesca Spada als emblematische Figur für die Krise der politischen Linken im Neapel des Kalten Krieges gedeutet werden kann, lässt sich auch mit dem zwei Jahre nach Mistero napoletano erschienenen Episodenfilm I Vesuviani (1997) belegen: In der von Mario Martone gedrehten Episode La Salita begegnet der von Toni Servillo verkörperte sozialistische Bürgermeister Neapels dem Geist Francesca Spadas.
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Darstellung eines Einzelschicksals, sondern vielmehr ist das Werk als zeitgeschichtliches Dokument zur Rekonstruktion des politischen und gesellschaftlichen Klimas im Neapel der ersten Jahre des Kalten Krieges konzipiert. Während der Erzähler seine früheren Wirkungsstätten als Redaktions-mitglied von L’Unità und Mitglied der Kommunistischen Partei aufsucht, noch lebende Kontakte aus vergangenen Tagen wiedertrifft und das Tagebuch Francescas liest, begibt er sich auf eine Spurensuche, in deren Folge er nicht nur die innere Zerrissenheit der neapolitanischen Fraktion des P.C.I. (Partito Comunista Italiano), sondern auch – an Ghirellis und La Caprias Diagnosen eines zeitlichen Stillstandes in Neapel anknüpfend – die destruktive Atmosphäre seiner Heimatstadt aufdeckt. Das aus dieser Atmosphäre resultierende Zerstörungspotential für alle nach Individualität strebenden Menschen vergleicht er mit der Wirkung von Sauerstoffmangel in einem Aquarium: „[P]erché si uccise Francesca? Una scorciatoia potrebbe essere la seguente: si uccise perché, come un pesce in un acquario stagnante, sentì venirle meno via via l’ossigeno. L’acquario ovviamente è la metafora dietro la quale si nasconde la città, Napoli, la metropoli cupa e melmosa degli anni quaranta e cinquanta.“17
Mistero napoletano wurde auch gemeinsam mit Reas später erschienenen Romanen La dismissione (2002) und Napoli Ferrovia (2007) als ‚neapolitanische Trilogie‘ unter dem Titel Rosso Napoli. Trilogia dei ritorni e degli addii (2009) veröffentlicht, weil alle drei Werke die Entwicklung der Stadt Neapel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fokussieren.18 Im Falle von La dismissione wird zudem ökonomischen sowie ökologischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit gewidmet,19 denn der ‚Abbau‘ bezieht sich auf das 1991 stillgelegte IlvaStahlwerk im westlichen Stadtviertel Bagnoli: Der für das korrekte Demontieren
17 Rea, Ermanno: Mistero napoletano. Vita e passione di una comunista negli anni della guerra fredda, Milano: Feltrinelli 2014, S. 13-14. 18 Der in der ohnehin recht spärlichen Forschungsliteratur zu Ermanno Rea bisher einzige deutschsprachige Beitrag von Antonella Ippolito nimmt eine aufschlussreiche Untersuchung der Stadtdarstellungen in den drei Romanen vor. Vgl. Ippolito, Antonella: „Zur Darstellung der Stadtlandschaft Neapels bei Ermanno Rea“, in: Cornelia Klettke/Georg Maag (Hg.), Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden globalen Problem, Berlin: Frank & Timme 2010, S. 265-280. 19 Zu der mit Lesererwartungen spielenden Inszenierung des Verhältnisses von Natur und Technik in La dismissione vgl. ebd., S. 268-271.
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des Komplexes sowie die Übersendung seiner Bestandteile nach China verantwortliche Techniker Vincenzo Buonocore entwickelt ein obsessives Verhältnis zu den an ihn gestellten Aufgaben, was durchaus – wie Antonella Ippolito angemerkt hat – an „eine Art privater Künstler-Neurose“20 erinnert. In Chung Fu, einem Vertreter der chinesischen Käufer des Stahlwerks, findet er einen Freund, mit dem er Spaziergänge durch Neapel unternimmt. Der Stadtrundgang wird in La dismissione jedoch nicht nur als „il modo giusto per leggere il cuore di una città“21 präsentiert, denn die Erkundung des städtischen Raums und seiner Geschichte löst zudem die Reflexion und Erschließung der persönlichen Vergangenheit des Protagonisten und Erzählers aus. Der Spaziergang durch den urbanen Raum stellt auch in Reas Nachfolgeroman Napoli Ferrovia ein zentrales Motiv dar. Wie in La dismissione handelt es sich bei dem Spaziergängerpaar von Napoli Ferrovia um einen in Neapel geborenen Erzähler und einen im Ausland geborenen Freund, anstelle eines fiktiven Protagonisten greift Rea jedoch erneut das bereits in Mistero napoletano eingeführte Konzept einer auf ihn selbst zurückverweisenden Erzählinstanz auf. Die Stadt ist in den Ausführungen des etwa achtzigjährigen Erzählers – Rea selbst wurde im Publikationsjahr 80 Jahre alt – nicht bloß Schauplatz seiner gegenwärtigen Erlebnisse und Begegnungen sowie seiner Erinnerungen an die Jahre der Kindheit und der anfänglichen Karriere als Journalist. Des Weiteren lassen sich die städtische Kultur, die krisenhafte Entwicklung der Stadt nach dem Krieg und die Frage nach der Möglichkeit eines Lebens in ihr als zentrale Themen des Romans wahrnehmen. Der Titel Napoli Ferrovia verweist auf das neapolitanische Bahnhofsviertel und damit auf jenen urbanen Raum, in dem der Erzähler nicht nur aufwuchs, sondern der eine repräsentative Funktion im Rahmen von Reas Diskursivierung der Stadt erhält. Die Streifzüge durch die Ferrovia bestreitet die Erzählinstanz nicht alleine, sondern sie wird von einem Mitte fünfzigjährigen gebürtigen Venezolaner namens Caracas begleitet, der in jenem Viertel zu Hause und mit dem dortigen Leben bestens vertraut ist. Der urbane Führer erweist sich für den etwa ein Vierteljahrhundert älteren Journalisten nicht nur als praktischer Helfer, um sich im Bahnhofsmilieu zurechtzufinden, sondern seine Funktion wird zu Beginn folgendermaßen verdeutlicht: „Quando conobbi Caracas per la verità non mi passò neppure per la testa che potesse essere lui l’uomo che cercavo, vale a dire colui che avrebbe dovuto aiutarmi a ritrovare la città e il mio passato.“ 22 Das Projekt des Erzählers, die Stadt bei ihrem Durchschreiten an der Seite des Kameraden
20 A. Ippolito: „Zur Darstellung der Stadtlandschaft Neapels bei Ermanno Rea“, S. 267. 21 Rea, Ermanno: La dismissione, Milano: Feltrinelli 2014, S. 239. 22 Rea, Ermanno: Napoli Ferrovia, Milano: Feltrinelli 2016, S. 17.
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Caracas ‚wiederzufinden‘, unterliegt einer regelrechten „città-ossessione“23, unter deren Einfluss er versucht, mit seinen den Roman bildenden tagebuchähnlichen Aufzeichnungen das von Hass und Liebe zugleich geprägte Verhältnis zur Heimatstadt zu ergründen. Parallel dazu geht es ihm aber auch darum, die Spuren zu verfolgen, die Neapel in der Vergangenheit in jene von sozialer Ungleichheit, hoher Arbeitslosigkeit und brutaler Kriminalität geprägte Stadt verwandelt haben, die sie heute ist.
2. DAS NARRATIV DES SCHEITERNS IN EINER DEGENERIERTEN STADT Zur Überlagerung von materiellem und symbolischem Stadtraum in Napoli Ferrovia „[Q]uesta città“, so erklärt der Erzähler an einer Stelle des Romans, „trabocca di passato, ne è impregnata in tutte le sue pietre“24. Der materielle Stadtraum Neapels, dem die Historie in seine Bausubstanz ‚imprägniert‘ bzw. ‚eingeschrieben‘ sei, wird in Napoli Ferrovia „als Form der Verdichtung und Vergegenständlichung der Geschichte, als greifbare[r] Träger von Zeichen und Spuren“25, d.h. als Speichermedium urbaner Historie konzipiert, die der Protagonist bei seinen Stadtwanderungen entschlüsselt und in Form seiner den Roman darstellenden Aufzeichnungen verschriftlicht. Wenn Rea die Stadt Neapel im Medium der Erzählliteratur als Erinnerungsraum26 konstituiert, so werden individuelle Erinnerungen aus der Biografie des Erzählers sowie Erinnerungen an kollektiv wahrnehmbare Begebenheiten der städtischen Geschichte zusammengeführt. Das Verhältnis von Stadt und Subjekt findet insofern eine besondere Akzentuierung, als der urbanen Topografie das Potential zugewiesen wird, Angebote für eine
23 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 22. 24 Ebd., S. 346. 25 Assmann, Aleida: „Geschichte findet Stadt“, in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 13-27, hier S. 16. 26 Zur
literarischen
Konstruktion
von
Erinnerungsräumen
vgl.
Rupp,
Jan:
„Erinnerungsräume in der Erzählliteratur“, in: W. Hallet/B. Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur (2009), S. 181-194.
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identitäre Selbstverortung des Subjekts bereitzustellen.27 Der identitäre Selbsterkenntnisprozess mittels urbaner Erfahrungen kommt beispielsweise zur Geltung, wenn die Erzählinstanz von ihrem Kameraden Caracas zum Gebäudekomplex Carminiello geführt wird: „[I]l Carminiello fa parte insomma di quell’immaginario topografico […] che mi ha accompagnato per la vita e mi ha identificato. In certo senso potrei dire che io sono quell’icona. Che io sono il Carminiello con le sue mura spellate, la sua desolante nudità, il suo tufo che emerge come carne viva dopo la patologica caduta degli intonaci, simbolo insieme di miseria, incuria e rassegnazione. […] Lungo le strade e stradine che lo circondano non c’è nulla che non racconti di un dopoguerra non ancora finito.“28
Die Identifikation mit dem jahrhundertealten Gebäude geht mit einer Anthropomorphisierung des Carminiello einher, dessen ‚lebendiges Fleisch‘ einerseits für den Körper des mittlerweile achtzigjährigen Protagonisten steht, andererseits wird sein Zerfall als „simbolo di miseria, incuria e rassegnazione“ gewertet, also jenes ‚Elends‘ und jener ‚Resignation‘, die den Erzähler Neapel auch noch heute als Nachkriegsstadt wahrnehmen lassen, deren Zustand genauso von angrenzenden Straßen ‚erzählt‘ werde. Reas Symbolisierungspraxis für den urbanen Raum lässt sich sehr gut am Beispiel der italienischen Piazza – jenem urbanen Ort, dessen erinnerungstheoretische Bedeutsamkeit beispielsweise Mario Isnenghi in seinen Studien zu Italiens
27 So erinnert sich der Erzähler beispielsweise an seine Jugendjahre als Mitarbeiter der Zeitung L’Unità und seinen ersten Fotoapparat, mit dem er tagsüber Bilder der Stadt aufnahm, „modella perfettamente disinibita nel dolore e nella gioia, sempre piena di scorci ineffabili, di volti intensamente espressivi, di situazioni paradossali“ (E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 245), dessen Abzüge er sich am Abend in Ruhe anschaute: „Ogni fotografia costituiva un passo avanti nel processo di conoscenza di me stesso attraverso la città. O forse della città svestita, penetrata, scandagliata dai miei occhi insaziabili. Eccola, la mia vocazione. Lettore di romanzi o fotografo, ero un voyeur“ (ebd.). Der fotografisch eingefangene, voyeuristische Blick auf urbane Szenen wird als ein Mittel der Selbsterkenntnis beschrieben, das Medium der Fotografie kann an dieser Stelle aber auch als Äquivalent zum ebenfalls städtische Bilder dokumentierenden Medium der Literatur gelesen werden, sodass die Passage zugleich über einen autoreferentiellen Charakter verfügt. Zur intermedialen Erzählweise in Napoli Ferrovia vgl. A. Ippolito: „Zur Darstellung der Stadtlandschaft Neapels bei Ermanno Rea“, S. 271-273. 28 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 257-258.
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„luoghi della memoria“29 herausgearbeitet hat – illustrieren. Eine besondere Bedeutung wird in Napoli Ferrovia der sog. Piazza Mercato beigemessen, die – wie ihr Name bereits besagt – einen Marktplatz darstellt und von der Erzählinstanz sowohl für die persönlich-subjektive als auch für die kollektiv-urbane Geschichte mit einer klaren Repräsentationsfunktion ausgestattet wird: „Piazza Mercato, nel mio immaginario, è il simbolo di una sconfitta che riguarda non soltanto il mio privato familiare ma temo la città nel suo insieme.“30 Als ‚Symbol der Niederlage‘ lässt sich an diesem Platz eine Geschichte des Scheiterns ablesen, die für den Erzähler auf der individuellen Ebene das wirtschaftliche Scheitern des dort seine Geschäfte treibenden Vaters und auf der kollektiven Ebene das Schicksal der Stadt Neapel verkörpert. Der städtische Niedergang wird dabei in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und dessen politischen, wirtschaftlichen sowie kulturellgesellschaftlichen Nachwirkungen verankert. Für die Piazza Mercato, die somit stellvertretend für die gesamte Stadt steht, greift Reas Erzählinstanz auch auf das aus Mistero napoletano bekannte Bild des umgekippten Gewässers zurück: Anstelle eines Aquariums ist hier jedoch von „uno stagno d’acqua verminosa“ 31, also einem ‚umgekippten Teich‘ die Rede. Der Rückgriff auf die Wassermetaphorik zur Verbildlichung der Degeneration lässt sich mit dem Status Neapels als Mittelmeermetropole in Beziehung setzen, sodass der Protagonist die Enteignung der Stadt von ihrer merkantilen Potenz mit der an Orteses Il mare non bagna Napoli erinnernden Metapher des „furto del mare“32, dem ‚Raub des Meeres‘ erklärt, der die Stadt sowohl ihrer Vergangenheit entrissen als auch ihre Zukunft verstellt habe: „napoletani, non c’è mare per i vostri sogni, non c’è porto, non c’è industria, non c’è commercio; la città non vi appartiene, è una necessità strategico-militare, è proprietà esclusiva della guerra fredda.“33 Im Neapel-Bild des Erzählers hat die Stadt in der Folge des Zweiten Weltkrieges eine Transformation erfahren, die sie von einer mediterranen Handelsstadt in einen vom NATO-Kommandobereich AFSOUTH34 aufgezwungenen Stützpunkt im geopolitischen Machtgefüge des Kalten Krieges verwandelt habe:
29 Vgl. Isnenghi, Mario: „La piazza“, in: Ders. (Hg.), I luoghi della memoria. Strutture ed eventi dell’Italia unita, Bari: Laterza 2010, S. 41-52. 30 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 287. 31 Ebd., S. 301. 32 Ebd., S. 302. 33 Ebd., S. 256. 34 Die Allied Forces Southern Europe (AFSOUTH) der NATO hatten von 1951 bis 2004 ihr Hauptquartier nahe Neapel. Als Nachfolger wurde 2004 das Allied Joint Force Command Naples aktiviert.
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„la città sequestrata dalla guerra fredda; le fabbriche che smobilitavano; la vita mercantile che languiva; il porto sottrato all’economia perché base strategica della sesta flotta americana e del Comando interalleato attraverso il quale l’Occidente teneva ininterrotamente sotto controllo il bacino del Mediterraneo e tutto il naviglio sovietico.“35
In einer an Edward W. Saids „imaginative Geographie“36 erinnernden Weise konzipiert Rea eine Verflechtung von Macht und mediterranem Raum, in der Neapel durch eine von den NATO-Streitkräften ausgehende Verfügungsgewalt in die Rolle einer subalternen Stadt gedrängt wird, und schreibt sich in einen kolonialen Diskurs ein, wenn auf „un ruolo coloniale, subalterno, marginale della città, reso ancora più visibile da una sorta di rassegnazione collettiva“37 verwiesen wird. Die schon in Mistero napoletano thematisierte „occupazione di Napoli, e soprattutto del suo porto, da quelle forze di guerra americane“ 38, gibt die ideologische Haltung der an das langjährige P.C.I.-Mitglied Rea angelehnten Erzählerfiguren beider Romane zu erkennen und entwirft Neapel als Opfer der Aufrüstungsbestrebungen der westlichen, insbesondere amerikanischen Militärmacht. 39 Dass der Kalte Krieg auch in der Gegenwart in seiner Heimatstadt noch nicht beendet und sie weiterhin aus politischer und wirtschaftlicher Perspektive als ‚Kolonialstadt‘ einzustufen sei, erklärt er seinem Freund Caracas mit einer anderen in Neapel 35 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 144. 36 Vgl. hierzu B. Neumann: „Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonialer Literatur“, speziell S. 117-120. 37 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 144. 38 E. Rea: Mistero napoletano, S. 256. Zu ergänzen wären an dieser Stelle auch die in Mistero napoletano von Reas Parteifreunden diskutierten Spekulationen um eine Rolle des Bürgermeisters Achille Lauro als Machtinstrument der US-amerikanischen Außenpolitik: „Ci dichiarammo convinti che Lauro era nient’altro che un docile strumento nelle mani degli americani, un sindaco-Cia costruito su misura dai servizi segreti durante la sua prigionia a Padula“ (ebd., S. 50). 39 Neapels Opferrolle im Kalten Krieg geht in den Ausführungen des Protagonisten so weit, dass er eine sich in ‚unsichtbaren Mauern‘ widerspiegelnde gesellschaftliche und ideologische Spaltung der Stadt ausmacht, die er der Spaltung Berlins durch die Berliner Mauer gegenüberstellt: „La città era spaccata in due: chi non stava con noi era contro di noi. Nessuno si accontentava della diversità politica, la pretendeva totale. Il muro di Berlino arriverà molto più tardi e avrà la misera consistenza della pietra e del cemento laddove il muro ideale che attraversò Napoli (Napoli più che altrove, dico io), proprio perché non si toccava, non aveva alcuna consistenza materiale, divaricò la società in due emisferi quasi senza più comunicazione tra loro, come separati da un filo ad alta tensione“ (ebd., S. 197-198).
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verbreiteten Ökonomie: „Forse, Caracas, la droga a Napoli fu fatta arrivare di proposito. Quale strumento migliore per tenere in pugno un territorio? […] Per inchiodarlo al suo ruolo di ‚colonia‘ della guerra fredda e di terra di rapina da parte della razza padrona del Nord?“40 Die Liste der von außen auf Neapel einwirkenden und die Stadt destabilisierenden Machtstrukturen wird somit durch die die Mittelmeermetropole als Umschlagplatz für den internationalen Drogenhandel nutzenden Kräfte ergänzt, die innerhalb der politischen Topografie des Erzählers in jenen den subalternen Süden ausbeutenden Ländern des Nordens zu verorten sind. Wenn die Piazza Mercato mit einem ‚madigen Teich‘ oder ganz Neapel mit „un grande lago inquinato“41, also einem ‚verunreinigten See‘42, verglichen wird, zeichnet sich eine Verbildlichungstendenz ab, die die Stadt als morbiden Lebensraum inszeniert. Die Morbidität Neapels wird in Napoli Ferrovia jedoch nicht nur über die metaphorischen Diskursivierungen der Stadt in den Ausführungen des Erzählers vermittelt, sondern die Symbolisierung eines als krankhaft wahrgenommenen Raums erfolgt ferner über die Gestaltung der Romanfiguren. Parallel zu seinen Reflexionen über das Schicksal Neapels schildert der Erzähler auch die Lebensgeschichte seines Weggefährten Caracas, die über mehrere Jahrzehnte hinweg von der Obsession für eine Frau geprägt war. Die komplizierte und für ihn leidvolle Beziehung zu seiner heroinabhängigen Freundin Rosa La Rosa war zugleich von Liebe und Hass erfüllt. Im Anschluss an die erst nach mehreren Anläufen erfolgte Trennung beschäftigt er sich in seinen Erinnerungen immer noch mit ihr, sodass Caracas’ und Rosas Beziehung gleichzeitig das obsessive Verhältnis der Erzählinstanz zu Neapel evoziert. Dies wird umso deutlicher, wenn der Erzähler seinem Kameraden Rosas destruktiven Charakter mit der Opferrolle Neapels zu erklären versucht: „Caracas, amico mio, come te lo devo dire che Rosa La Rosa è una specie di vittima di guerra? Rosa La Rose è Napoli. Bella e dannata alla stessa maniera.“43 Die Personifizierung Neapels durch die drogenabhängige Rosa lässt sich zu der seit dem Altertum gängigen, insbesondere im Rahmen der christlichen Tradition gepflegten Bildverknüpfung von städtischem Raum und 40 E. Rea: Mistero napoletano, S. 169. 41 Ebd., S. 198. 42 Die Metapher der Stadt als ‚verunreinigter‘ oder ‚umgekippter See‘ wird noch näher erläutert: „Il lago inquinato sperimenta una vertiginosa, assurda crescita biologica. L’inquinamento è supernutrizione e questa genera molta più vita del necessario, sempre più vita, con il risultato che ogni equilibrio si sgretola, le alghe si moltiplicano, i pesci ingrassano indebitamente, l’eccesso trionfa dappertutto, trasformando l’implacabile necrosi in un apparente pantagruelico carnevale“ (ebd., S. 199). 43 Ebd., S. 170.
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weiblichem Geschlecht in Bezug setzen, die von Sigrid Weigel als „weibliche Stadtallegorie“44 untersucht wurde. Die Gleichsetzung des urbanen Raums mit der ‚schönen und zugleich verfluchten‘ Frau steht für ein erotisiertes Verhältnis zwischen (männlichem) Subjekt und Stadt, sie zeugt aber vor allem von einer signifikanten Praxis der Diskursivierung von Neapel: Reas Stadttext semantisiert den urbanen Raum nicht nur über die Äußerungen seines Erzählers, sondern auch durch die Konzeption seiner Figuren, indem Handlungstragende als Verkörperungen Neapels oder subjektiver Bindungen an die Stadt angelegt sind. Was im Falle von Rosa La Rosa als Repräsentantin einer im Drogensumpf untergehenden Krisen-Stadt inszeniert wird, erweist sich bei ihrem langjährigen Partner Caracas, der zweiten Hauptfigur des Romans, etwas komplexer. Bereits die Wahl des auf seine Geburtsstadt verweisenden Namens suggeriert eine Lektüre, die seinem Charakter ein verstärktes Repräsentationspotential für die diskursive Ausformung von Stadtbildern in Napoli Ferrovia beimisst. Dabei bildet nicht nur seine gescheiterte Beziehung zur Neapel verkörpernden Rosa La Rosa das gestörte Verhältnis des Erzählers zu dessen eigener Geburtsstadt ab, vielmehr noch lässt sich seine Funktionsweise für den Roman als eine Figur deuten, in der sich die Erzählerstimme spiegelt, um das Wesen ihrer Heimatstadt näher zu egründen: „Non aveva alcun dubbio che avrei scritto un libro su di lui [Caracas]. Su di lui e su di me. Il suo e il mio passato. E, in mezzo, quel comune patrimonio di pietre e di tradizioni chiamato città.“45 Der Verdacht, dass es sich bei Caracas um eine Projektion des Erzähler-Protagonisten und nicht um eine neben ihm existierende Person handelt, drängt sich dem Leser schließlich gegen Ende des Romans auf, als die Wahrhaftigkeit seiner Existenz auf fiktionsironische Weise betont wird: „Chi mi conosce sa che non mento: non ho inventato nulla. Figurarsi un personaggio come Caracas!“46 Berechtigterweise hat Ippolito in Bezug auf seine Charakterisierung von „klischeehaften Merkmalen in einer grotesk-parodistischen Verzerrung“ gesprochen,47 denn der venezolanische Immigrant verfügt nicht nur über eine polizeilich bekannte Vergangenheit als Skinhead in der neapolitanischen Neo-Nazi-Szene, sondern wird im Verlauf der Romanhandlung als angehender Konvertit zum Islam vorgestellt, der plant, Neapel zu verlassen, um für ein Leben in einer muslimischen Glaubensgemeinde nach Nordafrika überzusiedeln. Schließlich muss Caracas’ Rolle als Cicerone für den Erzähler bei seiner Erkundung der Ferrovia, des neapolitanischen Bahnhofsviertels hervorgehoben werden, das niemand so gut 44 Vgl. Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 149-179. 45 Ebd., S. 334. 46 Ebd., S. 357. 47 A. Ippolito: „Zur Darstellung der Stadtlandschaft Neapels bei Ermanno Rea“, S. 267.
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kenne wie er. Indem er Caracas mit einem ‚Astronauten‘ des Ferrovia-Universums vergleicht, durch den ‚neue Welten‘ erschlossen würden,48 zeigt er zugleich auf, wie sein venezolanischer Freund für ein anderes Bild der Stadt und eine neue Vision für Neapel stehen kann.
3. DAS NEAPOLITANISCHE BAHNHOFSVIERTEL ALS RAUMKULTURELLER GEGENENTWURF Der Ausblick auf eine Mittelmeermetropole kultureller Pluralität Die bereits durch den Titel als zentral für den Roman herausgestellte städtische Zone der Ferrovia wird in Neapel als Bezeichnung für die in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs gelegenen Straßen, die Piazza Garibaldi sowie die angrenzenden Gebiete Vasto, La Duchesca und den nördlichen Teil von Mercato verwendet.49 Als zentraler Verkehrs- und Knotenpunkt stellt der Bahnhofsvorplatz für die meisten Neapel-Besuchenden den ersten Kontakt mit dem städtischen Raum her, was nicht nur für Zugreisende gilt, sondern auch Flugreisende einschließt, da sich hier eine der wenigen innerstädtischen Haltestellen des Bus-Shuttles vom Flughafen aus befindet. Der urbane Transitort der Ferrovia bildet außerdem den Lebensraum für einen großen Teil der in Neapel lebenden Immigrierten mit außereuropäischer Herkunft, vereinzelt auch als extracomunitari bezeichnet.50 Die Piazza Garibaldi, auf der Neapolitaner und Neapolitanerinnen mit und ohne Migrationshintergrund sowie internationale Reisende in erhöhtem Maße aufeinandertreffen, lässt sich somit als ein zentraler interkultureller Begegnungsort innerhalb der Metropole wahrnehmen. Das im öffentlichen Diskurs tradierte Bild des seit 1914 unter dem Namen „Piazza Garibaldi“ bekannten Bahnhofsvorplatzes hat seit
48 „La Ferrovia è una sconfinata ragnatela siderale e Caracas assomiglia a un astronauta perennemente impaziente di scoprire nuovi mondi“ (A. Ippolito: „Zur Darstellung der Stadtlandschaft Neapels bei Ermanno Rea“, S. 9). 49 Zur Geschichte der Ferrovia, vor allem zur Piazza Garibaldi und ihrer Bedeutung für den öffentlichen Raum Neapels vgl. N. Dines: Tuff City, S. 171-225. 50 Nick Dines hat auf die problematische und ambivalente Verwendung des extracomunitari-Begriffs hingewiesen. Als am stärksten vertretene außereuropäische Herkunftsländer von Einwanderinnen und Einwanderern in Neapel gelten Sri Lanka, die Philippinen, die Kapverdischen Inseln, die Dominikanische Republik, Somalia, Tunesien, Peru, Albanien, China, Algerien, Polen, die Ukraine, Senegal, Äthiopien, Brasilien und die Länder des ehemaligen Jugoslawien (vgl. ebd., S. 192-193).
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Kriegsende unterschiedliche Formen angenommen: Nick Dines hat in seiner urbanistischen Studie zum neapolitanischen Stadtzentrum anhand von Presseberichten unterschiedlicher Jahrzehnte herausgearbeitet, wie die Piazza Garibaldi in den Sechzigerjahren einerseits auf Grund der das Bahnhofsmilieu prägenden illegalen Aktivitäten des Schwarzmarkthandels und der Prostitution zu einem Faszinosum des Ruchlosen für einen bürgerlich-folkloristischen Blick, und andererseits zu einem Identifikationsort für die neapolitanische Arbeiterklasse werden konnte, sodass sich die Piazza ab den 1970er Jahren auch wiederholt zu einem Ausgangspunkt für Demonstrationen und Protestmärsche entwickelte. 51 Im Zuge des im Jahr 1994 in Neapel stattfindenden G7-Gipfels und den im Vorfeld debattierten Organisationsmaßnahmen, die eine Verweisung der im historischen Zentrum tätigen Straßenverkäuferinnen und Straßenverkäufer an die Peripherie vorsahen, geriet die Piazza stärker in den Fokus politischer Interessen. Angesichts der Funktion des Platzes als sozialer Treffpunkt sowie als geschäftlicher Ort mit zahlreichen Straßenständen, die mehrheitlich von Händlerinnen und Händlern mit Migrationshintergrund geführt werden, hat sich um die Jahrtausendwende in den Medien ein Diskurs etabliert, der die Piazza Garibaldi und die Ferrovia stärker an die Immigrationsthematik knüpft. Gerade deshalb muss betont werden, dass Themen wie der Schwarzmarkthandel oder andere kriminelle Aktivitäten auf dem Bahnhofsvorplatz wesentlich häufiger von der Tagespresse behandelt werden als eine Auseinandersetzung mit den Lebensumständen der dort ansässigen Zugewanderten.52 Eine Ausnahme hierzu bildet eine im Jahr 2006 erschienene, von der Fondazione Premio Napoli herausgegebene Publikation, die den Anspruch erhebt, auf die Probleme der in Neapel lebenden und auch vereinzelt angesichts ihres juristischen Status als vor dem Gesetz ‚unsichtbar‘ eingestuften Immigrantinnen und Immigranten aufmerksam zu machen.53 Der Titel des Bandes erweist sich als programmatisch: Voci e volti dei nuovi napoletani. Il futuro comincia alla Ferrovia: scene da una metropoli alla ricerca di una nuova identità. Der Diskurs eines unter kulturellen, ethnischen oder nationalen Gesichtspunkten Fremden wird überwunden durch die terminologisch assimilierende Erfassung der Immigrierten als ‚neue Neapolitaner‘. Die „nuovi napoletani“ werden darüber hinaus an die Identität der Stadt gebunden und der von ihnen besonders frequentierte Raum des Bahnhofsviertels als Ausgangspunkt für das zukünftige Neapel bestimmt. Dies
51 Vgl. N. Dines: Tuff City, S. 182-183. 52 Zur Repräsentation der Piazza Garibaldi in der Presse um 2000 vgl. ebd., S. 203-208. 53 Rea, Ermanno et al.: Voci e volti dei nuovi napoletani. Il futuro comincia alla Ferrovia: scene da una metropoli alla ricerca di una nuova identità, Roma: Fandango Libri 2006.
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spiegelt sich in einem ebenfalls in diesem Sammelband als Beitrag veröffentlichten Decalogo wider, der unter Berufung auf das italienische Asylrecht sowie ethisch-politische Verpflichtungen an ein Konzept Neapels als Willkommensstadt für Zugewanderte aus aller Welt erinnert und in diesem Rahmen „pluralità culturale e intreccio etnico“ als „una grande fonte di ricchezza sia etica che materiale“54 herausstellt. Die einzelnen Artikel des ‚Dekalogs‘ enthalten außerdem die Forderungen nach einem Wahlrecht für Immigrierte, der direkten Staatsbürgerschaft für in Italien geborene Immigrantenkinder und der Gewährleistung demokratischer Rechte für die ‚neuen Neapolitaner‘. Zugunsten einer besseren Vertretung der in Neapel lebenden Zugewanderten solle zudem eine Consulta permanente eingerichtet werden, um sich ihrer Probleme zu widmen. Der Band, der zusammen mit Antonio Capuanos Dokumentarfilm über das Bahnhofsviertel Bianco e Nero alla Ferrovia veröffentlicht wurde, enthält u.a. Artikel der Anthropologen Marino Niola und Adelina Miranda sowie der Soziologin Anna Mara Zaccaria, und beginnt mit einem einleitenden Beitrag von Ermanno Rea, der die kulturelle Bedeutung der Ferrovia für die gesamte Stadt betont: „oggi è impossibile pronunciare a Napoli la parola Ferrovia senza evocare la sua incontenibile pluralità linguistica, gastronomica, etnografica che prefigura, attraverso il destino di un quartiere, quello di tutta la città.“55 Wenn Rea, in Einklang mit den anderen Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes, das Schicksal und die Zukunft Neapels ausgehend von dem sich durch kulturelle Pluralität auszeichnenden Bahnhofsviertel reflektiert, so setzt er sich bereits ein Jahr vor der Publikation von Napoli Ferrovia mit Gedanken über eine regenerative Entwicklung der Stadt auseinander, die er in seinem Roman weiter ausführt. Dass sich Reas Roman als literarische Fortschreibung des in Voci e volti dei nuovi napoletani artikulierten Engagements für die ‚neuen Neapolitaner‘ lesen lässt, wird gegen Ende von Napoli Ferrovia durch einen intertextuellen Bezug auf den oben genannten Decalogo deutlich, als dessen Verfasser sich der Erzähler zu erkennen gibt: „Su un piccolo manifesto al muro lessi ad alta voce il primo articolo di una sorta di decalogo. Diceva: ‚Noi, cittadini napoletani sia di remota che di recente anagrafe, diciamo a quanti sono alla ricerca di una nuova patria: le porte della nostra casa comune sono aperte; tutti coloro che vogliono farsi a loro volta napoletani sono i benvenuti…‘. […] Era vero, quelle parole le avevo scritto io. Fanno parte di una mia visione. Un sogno. Napoli, 54 Rea, Ermanno: „Decalogo“, in: E. Rea et al. (Hg.), Voci e volti dei nuovi napoletani (2006), S. 12-17, hier S. 13. 55 Rea, Ermanno: „Ci vediamo alla Ferrovia“, in: E. Rea et al. (Hg.), Voci e volti dei nuovi napoletani (2006), S. 5-11, hier S. 6.
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metropoli meticcia che cuce insieme tutta l’umanità, altro che centodiciannove idiomi soltanto. Un’infinità di idiomi…“56
Der ‚Traum‘ von einer kulturell und ethnisch hybriden Metropole, einem ‚vervielfältigten‘ Neapel – „Napoli che si moltiplica, si fa mondo, si tinge la pelle, che si fa nera o albina indifferentemente, ma restando sempre se stessa“ 57 –, ist für den Erzähler des Romans realisierbar, wenn sich die Politik zu einer unbegrenzten, jedoch nach genauen Regeln konditionierten Einwanderung durchringen kann.58 Die Vision von Reas Erzählerstimme korrespondiert auch mit einer Entwicklung Neapels, die Marino Niola ein Jahr zuvor in Voci e volti dei nuovi napoletani für die Zukunft der Stadt in Aussicht gestellt hat: „È bello immaginare la Napoli del futuro come un ponte tra le sponde opposte che si affacciano sul mare nostrum. Solo così la ex capitale potrà cancellare quell’ex che la archivia nel verbale polvoroso di una storia dimessa, e ridiventare capitale del Mediterraneo, crocevia di traffici e di umanità. Patria elettiva per tutti coloro che, al di là dell’anagrafe, la riconosceranno come casa comune e contribuiranno, con l’apporto della loro differenza, a declinare al futuro la sua vocazione di città mondo. Di città umanissimamente plurale.“59
Niolas Verknüpfung einer inter- bzw. multikulturellen Metropole mit dem Bild Neapels als „capitale del Mediterraneo“ findet sich ebenso in Napoli Ferrovia, wenn der Protagonist seinem Freund Caracas die im 13. Jahrhundert von Karl I. von Anjou60 vorgesehene Rolle Neapels erläutert, nämlich „quello della cittàporto dedita a scambi, commerci, affari. Insomma una sorta di città-dialogo nel cuore del Mediterraneo“61. Das Konzept der mediterranen ‚Dialog-Stadt‘ bildet ein Gegenmodell zu der im Roman beklagten Isolierung einer peripheren, historisch stehengebliebenen Metropole und wird von Reas Erzähler als Ziel für einen Ausweg aus der urbanen Krise aufgezeigt. Der ‚Raub des Meeres‘ als Denkbild für 56 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 346. 57 Ebd., S. 129. 58 „Accoglienza illimitata, ma in un regime di controllo rigoroso del fenomeno migratorio. Insomma, aperte a tutti, ma a precise condizioni, sottostando a regole capaci di mettere la comunità al riparo da abusi, prepotenze, sfruttamenti“ (ebd., S. 346-347). 59 Niola, Marino: „Il lievito del futur“, in: E. Rea et al. (Hg.), Voci e volti dei nuovi napoletani (2006), S. 18-32, hier S. 32. 60 Zu Karl I. von Anjou und seiner Macht über den Mittelmeerraum vgl. Borghese, Gian Luca: Carlo I d’Angiò e il Mediterraneo. Politica, diplomazia e commercio internazionale prima dei Vespri, Rom: École française de Rome 2008. 61 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 291.
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die degenerierte Stadt ohne Zukunftsperspektiven kann durch eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Öffnung Neapels hin zum mediterranen Raum überwunden werden, wodurch es möglich wird, den Begriff des mare nostrum für die plurikulturelle Gemeinschaft der neapolitanischen Stadtkultur neu zu konnotieren. Dieser Vorschlag repräsentiert nicht nur die Botschaft von Napoli Ferrovia, sondern ebenso die Überzeugung der Verfasser des zitierten Decalogo für ein neues Neapel: „È nostra convinzione che il futuro di Napoli stia essenzialmente nella sua capacità di aprirsi sempre più all’universo geo-politico circostante – Mediterraneo, Nord Africa, Medio Oriente – attraverso una fitta rete di collegamenti anche umani, oltre che economici e culturali.“62
4. FAZIT MIT OFFENEM ENDE Ausgehend von der besonderen Rolle, die der Ferrovia in Reas Roman zugewiesen wird, lässt sie sich als ein raumkultureller Gegenentwurf zum Bild der gescheiterten Stadt deuten. Indem der Erzähler ihre eigene Ordnung als zukünftige Ordnung für den sie umschließenden Stadtraum Neapels präsentiert, wird der Ferrovia ein utopisches Potential zugewiesen. Einerseits repräsentiert sie als Bahnhofsviertel und interkultureller Begegnungsort einen Transitraum, 63 dessen Dynamik die Wahrnehmungen Neapels als statische und in ihrer Entwicklungsfähigkeit blockierte Stadt kontrastiert. Andererseits steht die Ferrovia-Zone auf Grund ihrer Charakterisierung als kulturell hybrider Raum für eine Weiterentwicklung der neapolitanischen Kultur und ein für die Zukunft anvisiertes Modell städtischer Identität.64 Dieses Zukunftsmodell urbaner Entwicklung beruft sich auf die den
62 E. Rea: „Decalogo“, S. 15. 63 Zur literarischen Konstruktion von Transiträumen im Allgemeinen vgl. Gerhard, Ute: „Literarische Transit-Räume. Ein Faszinosum und seine diskursive Konstellation im 20. Jahrhundert“, in: Sigrid Lange (Hg.), Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film, Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 93-110. Zum Bahnhof als Transitraum in der italienischen Literatur vgl. speziell Goldmann, Julius: „Luoghi di transizione, ‚eterotopie‘ e ‚non-luoghi‘ – Osservazioni sulla rappresentazione letteraria della stazione“, in: Études Romanes de Brno 37 (2016), S. 45-56. 64 Indem die Ferrovia bereits jetzt auf Grund ihrer kulturellen Heterogenität einen Gegenraum zu anderen Vierteln der Stadt darstellt, lassen sich auch Bezüge zum ursprünglich von Michel Foucault geprägten heterotopischen Raumkonzept herstellen, wenn „Heterotopien […] dementsprechend als die Vorhöfe aufgefasst werden, die einen Übergang zu einer heterogenen Gesellschaft einleiten“ (vgl. Tafazoli, Hamid/Gray,
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Mittelmeerraum auszeichnende kulturelle Pluralität 65 und projiziert eine neue Rolle der Stadt, die als ‚Dialog-Stadt‘ für den mediterranen Raum über zentrale geopolitische sowie wirtschaftliche Funktionen verfügt, durch die Neapel das Image einer historisch stehengebliebenen Stadt hinter sich lassen könnte. Wie aussichtsreich seine Vision für eine Regeneration Neapels ist, mag der Erzähler jedoch zu Ende des Romans nicht abschätzen. Er entscheidet sich gegen einen Hauskauf in seiner Geburtsstadt, verlässt Neapel erneut, verliert den Kontakt zu Caracas und rechtfertigt das offene Ende mit der Form seines Werks: „Il bello delle cronache-diario è proprio questo: non concludono, sono navi senza porto, conoscono le procelle e basta.“66
LITERATUR Assmann, Aleida: „Geschichte findet Stadt“, in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 13-27. Baldi, Andrea: „Infelicità senza desideri: Il mare non bagna Napoli di Anna Maria Ortese“, in: Italica 77 (2000), S. 81-104. Borghese, Gian Luca: Carlo I d’Angiò e il Mediterraneo. Politica, diplomazia e commercio internazionale prima dei Vespri, Rom: École française de Rome 2008. Brunner, Maria E.: Schreiben als Arbeit an der Sprache. Das literarische Werk von Anna Maria Ortese, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Cannavacciuolo, Laura: Napoli Boom. Il romanzo della città da Ferito a morte a Mistero napoletano, Napoli: Alessandro Polidoro Editore 2019. Chambers, Iain: Mediterranean Crossings. The Politics of an Interrupted Modernity, Durham/London: Duke University Press 2008. Contarini, Silvia: „Narrare Napoli, anni Cinquanta: Domenico Rea, Anna Maria Ortese, Raffaele La Capria, Erri De Luca“, in: Marie-Hélène Caspar (Hg.), Napoli e dintorni, Nanterre: Centre de recherches italiennes 2003, S. 159-172. Richard T.: „Einleitung: Heterotopien in Kultur und Gesellschaft“, in: Dies. (Hg.), Außenraum – Mitraum – Innenraum. Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 7-34, hier S. 16-17). 65 Für einen Überblick über die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem mediterranen Kulturraum vgl. Richter, Elke: „(Kultur)Theorien des Mittelmeers“, in: Elisabeth Arend/Elke Richter/Christiane Solte-Gresser (Hg.), Mittelmeerdiskurse in Literatur und Film, Frankfurt am Main: Lang 2010, S. 299-311. 66 E. Rea: Napoli Ferrovia, S. 341.
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Temporalité précaire et prostitution ‚gay‘ L’adolescence et les lieux d’ombre de la vie citadine dans L’Homme blessé de Patrice Chéreau/Hervé Guibert (1983) Verena Richter
Il s’agit d’une passion, celle qu’un adolescent éprouve pour un autre homme. Ce n’est pas un film sur l’homosexualité. C’est le récit d’une passion et c’est un apprentissage: apprentissage de la vie, de la trahison, aimer celui qui trahit, aller au bout de la relation amoureuse et du danger. P. Chéreau/H. Guibert1
INTRODUCTION Une gare nocturne, des toilettes fréquentées par des homosexuels, un hôtel de passe, une fête foraine, une boîte de nuit, un parking où des couples vont faire l’amour, une villa énigmatique et un appartement familial „dans la banlieue d’une grande ville“2: c’est ainsi que nous pourrions décrire, en quelques mots, la géographie diégétique de L’homme blessé, film de Patrice Chéreau sorti en 1983 et dont le scénario est co-signé par l’écrivain Hervé Guibert. En grande partie, il s’agit des lieux d’une promiscuité sexuelle, notamment du milieu homosexuel, souvent invisible dans la journée et, de nuit, seulement visible aux yeux de ceux 1
Chéreau, Patrice/Guibert, Hervé: L’homme blessé. Un film de Patrice Chéreau (Dossier de presse), Paris: Gaumont A.J.O. 1982, p. 1.
2
Chéreau, Patrice/Guibert, Hervé: L’homme blessé. Scénario, Paris: Éditions de Minuit 1983, p. 9.
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qui en connaissent les codes. C’est le jeune protagoniste Henri, un prototype d’adolescent, qui entre progressivement dans ce monde, découvrant ainsi les existences et les lieux cachés de la ville. Surtout la gare est décisive à cet égard: il y croise Bosmans, un homme âgé qui prétend être marié, mais qui semble plutôt profondément attiré par les jeunes prostitués qui y traînent; il y fait aussi la connaissance de Jean, un homme d’une violence brutale à qui le lie dorénavant une attirance passionnelle – un coup de foudre irrémédiable. Tourné en 1982 et sorti en salle l’année suivante, ce film ne saurait être entièrement dissocié des événements qui bouleverseront profondément le milieu homosexuel au cours des années 1980, à savoir les premiers cas recensés et médiatisés du SIDA ayant pour conséquence la fin de la période d’insouciance de la décennie précédente et un nouveau renforcement de la stigmatisation de ce milieu.3 Vue sous cet angle, la dimension tragique et sombre du film, l’image d’une homosexualité noircie4 et l’évocation des lieux situés à la marge de la société semblent les tristes signes annonciateurs d’une maladie qui fera des ravages parmi toute une partie de la population.5 Il faut cependant se méfier d’une telle lecture qui ferait de L’homme blessé un ‚film SIDA‘ avant la lettre6 – voire, à bien y regarder, l’homosexualité n’en constitue même pas l’intérêt principal.7 Ce qui se 3
Cf. Martel, Frédéric: Le rose et le noir. Les homosexuels en France depuis 1968, Paris: Éditions du Seuil 2008, p. 319-346.
4
Cf. Brassart, Alain: L’homosexualité dans le cinéma français, Paris: Nouveau monde 2007, p. 138; Feger, Anne-Gaëlle: „Le tabou de l’homosexualité (Tenue de soirée de Bertrand Blier, L’homme blessé de Patrice Chéreau, J’embrasse pas d’André Techiné)“, dans: CinémAction 107 (2003), p. 130-135, ici p. 134; Delabre, Anne/Roth-Bettoni, Didier: Le cinéma français et l’homosexualité, Paris: Danger public 2009, p. 161.
5
L’infection par le VIH ne dépend certes pas de l’orientation sexuelle, mais dans les années 1980, en France, on constate parmi les homosexuels un grand nombre d’infectés et, par conséquent, de morts (cf. F. Martel: Le rose et le noir, p. 448-449), dont le coscénariste Guibert qui fera d’ailleurs du SIDA l’un des principaux sujets de son œuvre.
6
Voir notamment Naguschewski, Dirk: „Versehrte Männer. Figurationen des Homosexuellen
im
französischen
Kino“,
dans:
Freiburger
Schriften
für
GeschlechterStudien 21 (2007), p. 207-227, ici p. 211. 7
Et ce contrairement à ce que la plupart des études parues sur L’homme blessé pourraient faire croire: cf. Philbert, Bertrand: L’homosexualité à l’écran, Paris: Henri Veyrier 1984, p. 136; F. Martel: Le rose et le noir, p. 313-316; A.-G. Feger: Le tabou de l’homosexualité, p. 134; Lambert, David: „De L’homme blessé à Drôle de Félix. Évolutions des représentations de l’homosexualité masculine dans le cinéma français“, dans: Multitudes 11 (2003), p. 159-168, ici p. 160-162; D. Naguschewski: Versehrte
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trouve cependant au centre du film, c’est en réalité l’histoire d’un adolescent qui part à la découverte d’une passion violente et de la sexualité tout court. C’est ce récit d’initiation autour duquel les différents lieux s’assemblent et auquel sont notamment liées les zones d’ombre de la ville, le film s’inscrivant ainsi dans la tradition narrative du récit d’apprentissage et, en particulier, dans celle du roman et du film d’adolescence. En mettant l’âge de l’adolescence en rapport avec des lieux en marge de la société, espaces habités par des existences plutôt marginalisées à la construction identitaire difficile, le film évoque en effet un paradigme topologique qui est constitutif des représentations ‚artistiques‘ de l’adolescence en général. Souvent, les jeunes protagonistes se trouvent liés à des lieux tels que le cimetière comme dans Le jeune Werther (1992/93) de Jacques Doillon. Sur la voie de la maturité, ils cherchent à sortir de la banlieue comme dans Terrain vague (1960) de Marcel Carné ou La Haine (1995) de Mathieu Kassovitz. Ils traversent des terrains vagues comme dans ce même film de Carné ou comme dans Punk (2011) de Jean-Stéphane Sauvaire. Afin d’examiner de près ce rapport dans L’homme blessé, nous procéderons d’abord à un approfondissement du lien qui existe entre les mises en scène de l’adolescence et les représentations littéraires et cinématographiques des lieux urbains à la marge de la société. Ensuite, nous nous pencherons sur la gare – lieu central du film où se déroulent ses principaux évènements –, les souterrains et les sous-sols, la fête foraine, la boîte de nuit et le parking, tout en concluant sur les caractéristiques temporelles de la mise en scène et de la mise en image. Enfin, nous mettrons ces lieux en rapport avec le parcours de maturation d’Henri, en nous référant au récit d’initiation comme modèle sémiotique de la composition du sujet, et nous étudierons de plus près les différents types d’hétérotopies s’y rapportant. Nous verrons que c’est par l’intermédiaire du protagoniste que nous découvrons les lieux d’ombre de l’espace urbain et que l’image d’une homosexualité noircie qui y est liée se trouve reléguée au second plan, servant de prime abord comme métaphore du passage dangereux d’un adolescent à l’âge adulte.
L’ADOLESCENCE ET LES LIEUX MARGINAUX DE LA VILLE Michel Foucault et Iouri Lotman ont, indépendamment l’un de l’autre, mis en lumière le rapport entre l’adolescence et les lieux d’altérité. Dans son célèbre essai
Männer,
p. 208-212;
A.
l‘homosexualité p. 226-228.
Delabre/D. Roth-Bettoni:
Le cinéma
français
et
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sur les ‚hétérotopies‘, le premier cite ainsi les adolescents comme exemple d’êtres que les sociétés repoussent dans ces ‚espaces autres‘: „[L]e collège, sous sa forme du XIXe siècle, ou le service militaire pour les garçons ont joué certainement un tel rôle, les premières manifestations de la sexualité virile devant avoir lieu précisément ‚ailleurs‘ que dans la famille. Pour les jeunes filles, il existait, jusqu‘au milieu du XXe siècle, une tradition qui s‘appelait le ‚voyage de noces‘; c‘était un thème ancestral. La défloration de la jeune fille ne pouvait avoir lieu ‚nulle part‘ et, à ce moment-là, le train, l‘hôtel du voyage de noces, c‘était bien ce lieu de nulle part, cette hétérotopie sans repères géographiques.“8
Quant à Lotman, il considère que les jeunes font partie des groupes qui sont relégués aux marges de la société et sont ainsi littéralement marginalisés. Comme les sans-abris et les toxicomanes, ils se trouvent à la périphérie d’une sémiosphère dont le centre est constitué par la vie ‚normale‘.9 Or, dans leurs essais, les deux auteurs se réfèrent à la réalité extratextuelle qui n’est pas à confondre avec l’espace fictionnel des représentations artistiques. Ces dernières constituent des systèmes modélisants secondaires10 et donc des interprétations du monde extratextuel11 procédant au moyen d’un langage de relations spatiales12, comme Lotman l’explique dans La structure du texte artistique. C’est à cet égard que les deux modèles topologiques mentionnés nous intéressent. Par leur intermédiaire, les modelages secondaires des textes ‚artistiques‘ nous parlent du statut que nous attribuons aux adolescents au sein de nos sociétés occidentales. Par un tel modelage secondaire, leur localisation dans des ‚espaces autres‘ ou en marge d’une sémiosphère reflète l’anormalité que nous accordons à ces jeunes gens en chemin vers l’âge adulte depuis la constitution de cette catégorie au milieu du XIXe siècle.13 En effet, l’adolescence est une construction discursive étroitement liée à l’avènement du pouvoir disciplinaire pendant ce siècle. De plus en plus 8
Foucault, Michel: „Des espaces autres“, dans: Dits et écrits 1954-1988, t. IV (19801988), Paris: Gallimard 1994 [1967/1984], p. 752-762, ici p. 757.
9
Cf. Lotman, Iouri: La sémiosphère, Limoges: Presses Universitaires de Limoges 1999, p. 35-36.
10 Cf. Lotman Iouri, La structure du texte artistique, Paris: Gallimard 1973, p. 36-40. 11 Cf. ibid., p. 299-309. 12 Cf. ibid., p. 310-311. 13 Pour ce qui suit cf. Richter, Verena: Zwischen Institution und Individuum. Inszenierungen von Adoleszenz in den Filmen von François Truffaut und Louis Malle, Paderborn: Wilhelm Fink 2019, chapitre 1.2., où je l’explique plus en détail, en me référant notamment à Thiercé, Agnès: L’histoire de l’adolescence 1850-1914, Paris:
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considérée comme un âge qui concentre toutes les caractéristiques de l’anomalie, l’adolescence est facilement mise en relation à cette époque avec d’autres individus considérés comme ‚anormaux‘ comme le criminel, le fou, l’homosexuel et l’onaniste. C’est surtout la sexualité adolescente qui se trouve au centre de l’attention et de la surveillance: en tant que sexualité naissante qui n’a pas encore atteint sa maturité, elle apparaît particulièrement incontrôlable.14 La masturbation notamment susciterait de nombreuses ‚anomalies‘.15 En conséquence, les parents et les éducateurs doivent l’encadrer et l’endiguer pour ne pas mettre en péril la santé du futur adulte.16 La famille bourgeoise faisant partie de cet espace de surveillance, elle repousse les premières manifestations de la sexualité juvénile en dehors de ses confins, dans des hétérotopies17 – si ce ne sont les adolescents eux-mêmes qui cherchent ces ‚espaces autres‘ où ils trouvent un terrain de déploiement. Malgré l’image de plus en plus positive qui se développe à l’aube du XXe siècle, jusqu’à présent, nous continuons à concevoir l’adolescence comme un âge en proie à la folie et à la délinquance. En 2014 encore, de manière ironique, Michel Fize résume le côté négatif de cet univers discursif dans l’Antimanuel d’adolescence en soulignant qu’on „présente l’adolescence comme une période de tumultes, l’âge des tempêtes, une ‚vie en désordre‘ qu’il faudrait inlassablement ‚redresser‘. L’‚ado‘ serait un provocateur ‚par nature‘, un incorrigible opposant; à cet instant, l’identité négative n’est plus très loin. Drogué, suicidaire, anorexique, fugueur, révolté, déprimé et délinquant, l’adolescent serait tout ou partie de cela. [...] En somme, l’adolescence serait – et ne pourrait être que – le royaume de la pathologie ou de l’anormalité sociale.“18
Cette crise d’adolescence est cependant de plus en plus considérée comme constituant une étape essentielle du développement des jeunes dans leur passage à l’âge adulte. Selon Anna Freud, il s’agit d’un comportement anormal
Belin 1999; Foucault, Michel: Les anormaux. Cours au Collège de France 1974-1975, Paris: Gallimard 1999; et Foucault, Michel: Le pouvoir psychiatrique. Cours au Collège de France 1973-1974, Paris: Gallimard 2003. 14 Cf. A. Thiercé: L’histoire de l’adolescence, p. 53. 15 Cf. M. Foucault: Les anormaux, p. 226, 259. 16 Cf. A. Thiercé: L’histoire de l’adolescence, p. 53. 17 Cf. M. Foucault: Des espaces autres, p. 757 (comme cité ci-dessus). 18 Fize, Michel: Antimanuel d’adolescence. Toute la vérité, rien que la vérité sur les adolescents, Paris: Marabout 2014, p. 11.
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nécessaire.19 En 2005, par exemple, Stéphane Clerget résume cet aspect dans le titre de son manuel d’éducation: Adolescents. La crise nécessaire20. Considérées sous un tel angle, les mises en scène littéraires et filmiques de l’adolescence témoignent en même temps d’un intérêt particulier pour les représentations des lieux d’ombre – c’est-à-dire des hétérotopies plutôt cachées, invisibles et des lieux marginaux – des ‚villes textuelles‘21 dont il est question ici. C’est surtout à partir des années 1950 que les récits d’adolescence se situent de plus en plus dans les villes:22 dans The Catcher in the Rye de J.D. Salinger, roman d’adolescence paru en 1951, le protagoniste Haulden Caulfield parcourt le quartier new-yorkais de Manhattan; dans Les Quatre cents coups de François Truffaut, film sorti en 1959, le jeune Antoine Doinel déambule dans les rues d’un Paris nocturne. Pour revenir aux films mentionnés dans l’introduction, nous pouvons constater qu’il s’agit là surtout des espaces urbains que les jeunes protagonistes parcourent et que nous découvrons avec eux – y compris des lieux en marge de la société comme le cimetière et la banlieue, mais aussi des chronotopes du seuil comme le terrain vague, qui est susceptible de revêtir une telle fonction.23 Enfin, ils nous confrontent à des êtres marginalisés comme la famille juive qui constituent aussi des points centraux du parcours de maturation des adolescents dans les représentations ‚artistiques‘.
19 Freud, Anna: „Adolescence“, dans: Joseph Weinreb (éd.), Recent developments in psychoanalytic child therapy, New York: International Universities Press 1960, p. 1-24. 20 Clerget, Stéphane: Adolescents. La crise nécessaire, Paris: Marabout 2005. 21 Nous entendons par ‚villes textuelles‘ des villes constituées par et dans un texte (souvent fictionnel) en tant que résultat d’un processus d’imagination (cf. Mahler, Andreas: „Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, dans: id. (éd.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg: C. Winter 1999, p. 11-36, ici p. 12). 22 Wagner, Annette: Postmoderne im Adoleszenzroman der Gegenwart. Studien zu Bret Easton Ellis, Douglas Coupland, Benjamin von Stuckrad-Barre und Alexa Hennig von Lange, Frankfurt a.M./New York: Peter Lang 2007, p. 81. 23 Cf. Nitsch, Wolfram: „Terrain vague: poétique des espaces urbains intermédiaires dans la littérature française contemporaine“, dans: Viatica 2 (2015), en ligne sur http://viatica.univ-bpclermont.fr/l-art-des-autres/varia/terrain-vague-poetique-desespaces-urbains-intermediaires-dans-la-litterature-francaise-contemporaine, p. 3.
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LIEUX D’OMBRE ET TEMPORALITÉ PRÉCAIRE: LA GÉOGRAPHIE DIÉGÉTIQUE DU FILM Dans L’homme blessé, c’est surtout la gare nocturne d’une ville provinciale qui sert de point de départ à l’initiation du jeune protagoniste Henri. En premier lieu, c’est un lieu de rencontre, de passage et d’attente. Toute la famille y arrive avec une heure d’avance quand la mère, le père et Henri accompagnent sa sœur pour son départ. Une fois dans la salle d’attente, ils apprennent que le train a une heure de retard, ce qui signifie pour eux une heure d’attente de plus. Si la gare peut être qualifiée de lieu de passage en raison du va-et-vient des voyageurs, l’attente y ajoute une dimension temporelle et la transforme en chronotope: cette attente peut se comprendre comme passage temporel entre deux temps, deux moments dont on a quitté l’un sans pour autant avoir atteint l’autre.24 Il s’agit d’une temporalité précaire, instable qui s’oppose à la succession chronométrique des moments. Lieu de rencontre dans la mesure où des gens issus de milieux divers s’y croisent quotidiennement, la gare permet la rencontre entre le monde de cette famille qui prend le train et le monde qui habite et occupe cette gare. En attendant, la nuit tombe, ce qui permet à Henri de découvrir la vie nocturne de la gare – une vie plutôt invisible pendant la journée: il s’agit du milieu criminel et surtout du milieu de la prostitution ‚gay‘ dans lequel l’adolescent s’insère peu à peu. Selon Lotman, la nuit représente la frontière temporelle d’une sémiosphère.25 „Le ‚monde de la nuit‘ citadin réside […] à la frontière d’un espace culturel, ou au-delà. Ce monde travesti présuppose un anti-comportement.“26 Ce monde est étroitement lié au personnage de Jean pour qui Henri éprouve une passion qui le mène de plus en plus souvent à la gare et qui le fait quitter progressivement „le monde ordinaire“27 du noyau familial. Il est frappant de constater lors du visionnage du film et à la lecture du scénario que l’action se déroule principalement dans des passages souterrains et des soussols situés dans la gare ou dans ses environs proches. Ainsi Henri rencontre-t-il Jean la première fois près des consignes automatiques dans un sous-sol. Leur
24 Cf. Dücker, Bruckhard: „Zeit“, dans: Ansgar Nünning (éd.), Metzler Lexikon Literaturund Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart: Metzler 2008, p. 719-720, ici p. 719. 25 Cf. I. Lotman: La semiosphère, p. 36. 26 Ibid. 27 Chéreau, Patrice/Guibert, Hervé: „L’Homme blessé. Synopsis du film“, dans: Fonds Patrice Chéreau, Paris: Cinémathèque Française 1981-1983, Chéreau 25-B14.
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deuxième rencontre a lieu dans des toilettes d’hommes qui se situent dans un souterrain et qui, en tant que ‚toilettes gay‘, servent de lieux de drague au milieu homosexuel. C’est aussi dans un passage souterrain qu’il arrive finalement à embrasser un autre homme dont on ne sait pas trop s’il s’agit d’un prostitué ou non. Enfin, dans un autre passage souterrain, il croisera Bosmans. Celui-ci le conduira chez lui où il retrouvera Jean. Au même titre que la nuit, nous pourrions associer le souterrain à l’obscurité, à quelque chose qui est caché et marginalisé. S’agissant majoritairement de passages, les souterrains renvoient en même temps à la gare comme lieu de passage par excellence. Outre la gare, ses souterrains et ses sous-sols, plusieurs autres endroits révèlent la géographie propre à ce monde. Avant de le conduire chez lui pour retrouver Jean, Bosmans conduit Henri sur un parking situé sur une colline. Le quinquagénaire fait un petit détour en voiture pour lui montrer cet endroit très particulier où des couples hétérosexuels se garent pour faire l’amour. En regardant et en écoutant ces scènes d’amour, Bosmans fait remarquer à Henri : „Tu vois, écoute, tu vois, ce sont des couples, des couples normaux.“28 Chéreau s’inspire ici d’une scène vue à Naples en Italie, comme l’explique le réalisateur dans une interview en 2009, „un pays où quand on a une copine et on veut faire l’amour avec elle, on ne peut pas l’amener chez ses parents, voilà. Donc, on fait l’amour dans la voiture en mettant des journaux.“29 Tout comme la gare nocturne, le parking (tout aussi nocturne) donne lieu à un amour clandestin et précaire, repoussé en dehors de l’espace familial et aux marges de la société dans un lieu d’altérité. Il s’agit d’une hétérotopie ‚sans repères géographiques‘ au sens foucaldien du terme: les exemples du train et des noces donnés par le philosophe dans son essai30 renvoient tous à un mouvement spatial et donc au voyage, de même que les voitures en tant que véhicules et le parking comme lieu d’une halte temporaire dans le film. Reste à savoir comment comprendre la réplique de Bosmans selon laquelle il s’agit de ‚couples normaux‘. En quoi consiste cette ‚normalité‘ et à quoi s’opposet-elle? Dans le contexte du film, on serait tenté de l’assimiler à une opposition entre un milieu homosexuel masculin et l’hétérosexualité, d’autant que le parking se trouve sur une colline, le haut, s’opposant aux souterrains et aux sous-sols d’en bas, où sont situés les lieux de la drague homosexuelle. Dans les sous-sols se trouve pourtant également un bordel où des femmes attendent des hommes. Loin 28 L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 01.13.01-01.13.16. 29 „Entretien avec Patrice Chéreau (Partie I)“ (FR 03/09/2009, Patrice Chéreau/JeanMichel Frodon), supplément de: L’homme blessé, DVD de 2009 [original: FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau], 00.16.12-00.16.18. Sans cette précision, la scène reste pourtant assez énigmatique – un cas exemplaire d’espace blanc. 30 M. Foucault: Des espaces autres, p. 757.
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d’être opposés, les deux lieux font alors plutôt partie d’un même espace auquel appartient également la gare nocturne: celui de l’amour clandestin et d’une sexualité reléguée aux confins de l’espace familial, en marge de la société. Si l’on suit la remarque de Chéreau, les couples y passent pourtant une durée limitée avant de repartir dans leurs familles, tandis que Bosmans, vieux célibataire habitant seul dans sa villa, reste lié à la marginalité. Apparaît ensuite une fête foraine „placée sur un terre-plein à la périphérie d’une zone industrielle“31, comme l’indique le scénario. Nous pouvons donc parler d’une double mise en marge de ce lieu où Henri passe uniquement en compagnie ou à la recherche de Jean. Près de la fête foraine, il y a une boîte de nuit qui sert en même temps de bordel.32 À la fin du film, dans son sous-sol, Henri retrouve Jean complètement nu, endormi par des somnifères. Il le tue après avoir embrassé tout son corps. Cet „Eros-center banal“, cet „enfer bien ordinaire“33, tel que le scénario le décrit, constitue le nœud hétérotopique du film – nous y reviendrons dans la troisième partie de notre contribution. Par le sous-sol et par le milieu de la prostitution, elle est en relation avec la gare et ses passages souterrains, ses soussols et les prostitués qui s’y trouvent. Bien qu’il ne soit pas visible dans le film même, mais uniquement mentionné dans le scénario, un terrain vague, autre lieu de passage signe d’une temporalité précaire, se trouve à proximité, non loin de la fête foraine.34 Cette temporalité précaire va de pair avec un dérèglement du temps qui s’annonce dès le début du film: c’est le temps des vacances d’été, tout le monde part et la vie ralentit progressivement – il s’agit d’une interruption de la vie normale, voire d’une hétérochronie qui constitue le cadre temporel des événements. Le lendemain du départ de la sœur d’Henri et donc de la longue attente à la gare, la mère constate que sa montre est de nouveau arrêtée, comme si elle s’accordait à la mesure du temps des vacances et de l’attente. Ce dérèglement du temps se fait également sentir au niveau de la mise en image. Souvent, le déroulement du temps est assez difficile à déterminer. Henri retourne-t-il à la gare le lendemain ou une 31 P. Chéreau/H. Guibert: L’homme blessé. Scénario, p. 47. 32 P. Chéreau/H. Guibert: „L’Homme blessé. Synopsis du film“. 33 Cf. ibid. 34 Wolfram Nitsch décrit le terrain vague comme „lieu provisoire“ et, notamment, comme „un espace urbain essentiellement intermédiaire“ (W. Nitsch: Terrain vague, p. 2). Comme le montrent Jacqueline Broich et Daniel Ritter, le concept du terrain vague est étroitement lié aux représentations de l’enfance et de l’adolescence dans la littérature et le cinéma (cf. Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als ‚terrain vague‘. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur, Bielfeld: transcript 2017, p. 58-72).
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semaine plus tard? Après avoir embrassé l’autre garçon, croise-t-il Bosmans pendant la même nuit ou quelques jours plus tard? Le film, souligne Chéreau, „est situé dans une alternance décalée […] comme dans des décalages d’horaire, quelle nuit ou quel jour c’est, on ne sait pas – quel lendemain de quelle veille“35. À ce dérèglement du temps correspond le dérèglement voire l’éclatement de l’espace diégétique. Nous avons certes décrit les différents lieux du film, cependant leur localisation n’est pas toujours tout à fait claire. Le spectateur n’arrive pas facilement à créer une image homogène de la gare, il n’en aperçoit que des bribes. S’y ajoute le fait que les scènes dans la gare sont tournées à la gare du Nord à Paris, mais aussi dans une gare lyonnaise.36 En conséquence, même un spectateur des années 1980 qui aurait bien connu cette gare parisienne et aurait été éventuellement à même de la reconnaître devait probablement avoir du mal à se repérer dans les images. De cette manière, la référence à un lieu réel est partiellement suspendue. Il en résulte un éclatement spatial qui n’est cependant pas dû exclusivement aux différents lieux de tournage,37 mais qui s’inscrit dans le film lui-même par un montage privilégiant la juxtaposition aux transitions du découpage classique: ainsi, quand Henri et Jean passent de la gare à la fête foraine, Henri le suit et continue de l’interroger. Or tandis que le dialogue et le mouvement des personnages sont de l’ordre d’un découpage classique qui devrait également impliquer une continuité du lieu, celui-ci change, et au lieu de la gare, tout à coup, nous nous trouvons dans la fête foraine.38 Illustration 1: Devant la gare
Illustration 2: dans la fête foraine
Source: L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.27.36 et 00.27.41 35 Festival de Cannes: Marco Ferreri et Patrice Chéreau (Le cinéma des cinéastes), France Culture, 19/06/1983. 36 Cf. Lericq, Mathieu: „L’homme blessé. La caméra dans la plaie“, dans: MarieFrançoise Lévy/Myriam Tsikounas (éds.), Patrice Chéreau à l’œuvre, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2016, p. 187-190, ici p. 189. 37 Cf. ibid. 38 L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.27.30 – 00.27.45.
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Dans une autre scène, Henri, qui est à la recherche de Jean, passe également de la gare à la fête foraine. Nous le voyons sortir de la gare en courant (3) et, tout à coup, toujours en courant, nous le retrouvons sur les lieux de la fête foraine (4). 39 Illustration 3: Henri à la gare
Illustration 4: Henri à la fête foraine
Source: L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.57.48
UN PARCOURS D’INITIATION ET DES HÉTÉROTOPIES ‚SANS REPÈRE GÉOGRAPHIQUE‘ La géographie diégétique de L’Homme blessé constitue donc un univers assez complexe dont l’analyse, loin d’être considérée comme une fin en elle-même, doit être mise en rapport avec le sujet du film, c’est-à-dire avec le parcours d’initiation d’Henri par l’intermédiaire duquel le processus de maturation de celui-ci se trouve mis en scène. Dans quelle perspective le film présente-t-il ce récit d’initiation, et de quelle manière le passage de l’adolescence à l’âge adulte est-il représenté? Au début des années 1970, dans son étude sur The Catcher in the Rye de J.D. Salinger, l’américaniste Peter Freese propose un modèle narratif constituant la base sémiotique des récits d’adolescence – ainsi que, comme le montrent des travaux plus récents, des récits d'apprentissage en général. 40 En se référant notamment au modèle des rites de passage d’Arnold van Gennep41, Freese résume ce modèle en trois étapes: le départ, le passage pendant lequel a lieu la transformation, et la réintégration.42 Ces trois étapes peuvent se réaliser au moyen d’un voyage spatial 39 L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.57.43-00.57.50. 40 Cf. Born, Stefan: Allgemeinliterarische Adoleszenzromane. Untersuchungen zu Herrndorf, Regener, Struck, Kehlmann und anderen, Heidelberg: C. Winter 2015, p. 29-33. 41 Cf. van Gennep, Arnold: Les rites de passage, Paris: Picard 2011, p. 21. 42 Cf. Freese, Peter: Die Initiationsreise. Studien zum jugendlichen Helden im modernen amerikanischen Roman, Tübingen: Stauffenburg 1998, p. 153-155.
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qui renvoie au processus de maturation du protagoniste. Souvent, ce voyage est symbolisé par l’image d’une descente (aux enfers), d’un voyage nocturne (sur la mer) ou d’un trajet périlleux.43 Ce modèle constitue également la base de notre film. C’est le temps des grands départs en vacances. C’est la sœur qui part, certes, mais son frère Henri fait également sa valise au début du film. Pendant qu’elle part en Allemagne, lui part à la découverte d’un autre monde, de la vie nocturne de la gare ainsi que, suite à la rencontre de Jean, d’une passion violente qui va le faire basculer et dont „il va ressortir totalement transformé“44: il s’agit d’un „coup de foudre comme initiation au malheur“45, comme Chéreau et Guibert l’indiquent dans le dossier de presse du film, sous-entendant ‚au malheur de l’amour‘. La gare, nous l’avons qualifiée de lieu de passage, d’un passage spatial tout comme d’un passage temporel. Elle représente un chronotope du seuil qui donne lieu à un passage vers un monde dont l’altérité s’oppose au milieu de la petite bourgeoisie dont Henri est issu et qu’il va quitter progressivement. Il s’agit donc d’un départ d’un milieu connu pour un ‚pays‘ étranger et ‚étrange‘ en même temps. Le film reprend ce thème du voyage à d’autres moments: ainsi le générique nous montre-t-il au début la famille allant en bus à la gare. Après sa première rencontre avec Jean, Henri, l’air mécontent et pensif, passe la soirée à la maison. Sensible à sa morosité, sa mère lui propose de partir également en vacances. Henri refuse, mais peu de temps après, en ouvrant la fenêtre, il dit – plus à lui-même qu’à elle – „Moi, j’y vais, j’y vais […] je sais pas, je sors, je sors.“46 Après avoir quitté l’appartement, il suit les voies ferrées jusqu’à la gare.47 L’errance d’Henri en direction de la gare nocturne au début, puis son errance lorsqu’il est à la recherche de Jean se rapportent également au voyage: il s’agit de l’errance possible d’un jeune en transition vers la maturité. Les différents lieux décrits dans la première partie de notre contribution sont toujours à mettre en rapport avec ce récit d’initiation. La gare comme lieu de passage et chronotope du seuil sert en même temps de lieu de passage d’un âge à un autre. Elle constitue le point de départ de la transformation d’Henri qui se traduit notamment par un changement de vêtements 48: seul dans l’appartement d’Elisabeth et Jean, il échange sa chemise, son pantalon et ses chaussures contre le t-shirt, le jean et les santiags de ce dernier. Le dérèglement du temps et de l’espace reprend le thème de l’errance du jeune protagoniste. L’éclatement de l’espace 43 Cf. P. Freese: Die Initiationsreise, p. 138-141. 44 P. Chéreau/H. Guibert: L’homme blessé (Dossier de presse), p. 17. 45 Ibid., p. 1. 46 L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.18.33-00.18.45. 47 Cf. ibid., 00.19.02-00.19.56; P. Chéreau/H. Guibert: L’homme blessé. Scénario, p. 36. 48 Cf. P. Freese: Die Initiationsreise, p. 155.
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et la temporalité précaire reflètent l’identité précaire, instable, flottante de l’adolescent. Compte tenu du modèle sémiotique d’initiation avancé par Freese, l’hétérotopie et les lieux marginaux mis en scène dans le film se prêtent à une double lecture. D’une part, en les référant directement au récit d’initiation, ils n’apparaissent que comme l’image actualisée de ses différentes images symboliques: ainsi les soussols et les souterrains renvoient-ils à l’image de la descente, et la gare nocturne à l’image du voyage nocturne. Par ailleurs, van Gennep appelle la deuxième étape de l’initiation ‚rite de marge‘ parce que le néophyte était partiellement exclu de la communauté et devait donc passer une période en marge de celle-ci.49 Cette marginalisation nécessaire à la réintégration est ainsi conservée dans le modèle sémiotique et se trouve reconfigurée dans le film par le biais de ces lieux. En outre, il faut également les lire sous l’angle de la constitution discursive de l’adolescence au XIXe siècle et du caractère anormal que l’on attribue à cet âge depuis cette époque.50 Par l’intermédiaire de l’image de la gare nocturne, de la prostitution gay et des hétérotopies du parking et de la boîte de nuit dans laquelle Henri tue Jean, l’adolescence est en même temps désignée comme l’âge par excellence de l’anomalie que nous avons décrite dans la première partie de notre contribution. Elle est un âge de crise, en proie à des comportements ‚anormaux‘ comme la délinquance et la folie, mais aussi un âge qui a besoin d’un tel comportement pour passer à la maturité. En passant, ou plus précisément en voyageant par ces lieux, Henri passe alors métaphoriquement par un tel comportement anormal pour atteindre l’âge adulte. Au vu de ce constat, il est intéressant de revenir à la boîte de nuit, au parking et à la gare, et surtout au rapport entre ces trois lieux bien particuliers. Comme nous l’avons souligné, ils ont en commun de donner un espace à un amour clandestin, et, plus précisément, à une sexualité reléguée en dehors de l’espace familial et aux marges de la société. Cette sexualité se manifeste de différentes manières: dans la boîte de nuit en tant que prostitution – de prime abord – hétérosexuelle, sur le parking en tant que sexualité juvénile et dans la gare nocturne en tant que prostitution homosexuelle, mais, du point de vue d’Henri, également comme le 49 A. van Gennep: Les rites de passage, p. 22, 97-164. 50 Même si nous nous trouvons face à des phénomènes similaires, dans la mesure où, dans les deux cas, des jeunes en passage vers la maturité sont marginalisés et, en fait, relégués dans des hétérotopies (sur la fonction des hétérotopies dans des sociétés dites „primitives“ cf. M. Foucault: Des espaces autres, p. 756sq.), cela ne veut pas dire que les deux pratiques sont à ramener aux mêmes origines. L’adolescence dont parle Foucault par rapport aux sociétés „primitives“, n’a rien à voir avec l’adolescence telle que nos sociétés occidentales la conçoivent à partir du XIXe siècle.
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désir naissant d’un adolescent qui se situe en dehors de l’espace de la famille nucléaire, tout comme les couples faisant l’amour sur le parking. À y regarder de plus près, ces deux lieux ont en effet plusieurs points en commun: tout d’abord, ils constituent des lieux de passage parce que le parking peut également être considéré en quelque sorte comme un lieu d’initiation pour les jeunes couples qui s’y rencontrent. Ensuite, ils constituent des lieux de voyage et, en ce sens, des hétérotopies ‚sans repère géographique‘ car, en fin de compte, la gare nocturne doit également être considérée comme un ‚espace autre‘ du même type: de même que la boîte de nuit, elle sert de lieu de prostitution. Ce lieu de passage et d’initiation revêt donc également une dimension hétérotopique. Enfin, contrairement à la boîte de nuit qui constitue une hétérotopie parfaitement aménagée et circonscrite dans un lieu propre51 – et, c’est dans ce sens qu’elle représente le nœud hétérotopique du film –, le parking et la gare nocturne n’existent comme hétérotopies qu’en fonction de leurs usagers.52 En effet, la gare est de prime abord un lieu de voyage et non de drague clandestine. C’est dans la nuit, qui autorise un ‚anti-comportement‘53, que la gare se remplit de plus en plus de ‚tapins‘ et de leurs clients et qu’elle se transforme manifestement en un lieu – ou plus précisément, pour reprendre la terminologie de Michel de Certeau, en un ‚espace‘ – de la prostitution, et, ainsi, en une hétérotopie. Il en va de même pour le parking: ce n’est que pendant la nuit que nous le voyons comme le lieu d’un amour clandestin; il est probable que, pendant la journée, il sert simplement de parking. Au coucher du soleil, il est détourné par un ‚anti-comportement‘. C’est en ce sens aussi – et non seulement par rapport au voyage – que nous pouvons comprendre ces deux lieux comme hétérotopies sans ‚repère géographique‘, c’est-à-dire comme espaces hétérotopiques ne disposant pas d’un lieu propre. Ils représentent ainsi les lieux de ‚nulle part‘ de l’adolescence que Foucault mentionne, tout en reflétant en même temps, comme le passage et les terrains vagues, l’instabilité et la précarité propres à cet âge qui ne trouve littéralement plus de repères.
51 Dans ce qui suit, nous nous rapportons aux „pratiques d’espace“ décrites par Michel de Certeau (cf. de Certeau, Michel: Arts de faire. L’invention du quotidien 1, Paris: Gallimard 1990, p. XLIV-LI, 137-191) et en particulier à la distinction qu’il fait entre „lieu“ et „espace“ (cf. ibid., p. 172-175). 52 De façon similaire, Wolfram Nitsch constate au sujet du terrain vague que celui-ci „constitue un ‚espace autre‘ d’un genre particulier qui n’acquiert ce statut que par certaines pratiques.“ (W. Nitsch: Terrain vague, p. 3). 53 Cf. I. Lotman: La sémiosphère, p. 36 (comme cité ci-dessus).
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EN GUISE DE CONCLUSION L’Homme blessé présente ainsi un cas exemplaire d’un film d’adolescence qui lie la mise en scène du passage à la maturité à l’anomalie et à la marginalité que le jeune protagoniste doit vivre. Cela ne veut pas dire que l’aspect de l’homosexualité serait complètement à négliger dans le film, d’autant que ce que le spectateur perçoit, ce sont évidemment des corps d’hommes qui se désirent mutuellement. Mais nous ne pouvons pas non plus réduire le film à une telle lecture. Ce que représente le milieu homosexuel par rapport à Henri dans L’homme blessé, c’est par exemple le terrain vague et la banlieue pour les jeunes protagonistes d’autres films que nous avons mentionnés dans l’introduction: ainsi, à la fin de Terrain vague, les deux adolescents Dan et Lucky doivent quitter la ‚zone‘ et un terrain vague reflétant l’instabilité et la dangerosité de l’adolescence pour atteindre la maturité. À partir des années 1980, dans la littérature et le cinéma ‚beur‘ portant sur des adolescents, la négociation des identités transculturelles 54 et la marginalisation d’une partie de la population se superposent aux problèmes d’identité et au type d’anormal attribués à cet âge. 55 Ce qui est particulièrement intéressant dans L’homme blessé par rapport à d’autres films mettant en scène des adolescents – qu’il nous soit permis de l’évoquer, à défaut de le développer ici – c’est le jeu et l’échange des regards mis en scène et en image dans le film. La découverte de Bosmans et de Jean est notamment liée au regard d’Henri, ce qui est partiellement souligné par des changements dans la profondeur de champ – par exemple quand il rencontre Jean pour la première fois (5 et 6).56 Dans L’Homme blessé, c’est par le regard de l’adolescent que nous, spectateurs, sommes impliqués dans un monde qui nous reste souvent invisible.
54 Cf. Struve, Karen: Écriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen, Tübingen: Narr 2009. 55 Il est possible de mettre en parallèle la peur que suscite cette jeunesse des quartiers sensibles avec la peur que suscitait déjà les adolescents du sous-prolétariat au tournant du siècle dernier ou, de même, les J3 et, comme dans le film de Carné, les blousons noirs dans l’après-guerre (cf. Bantigny, Ludivine: Le plus bel âge? Jeunes et jeunesse en France de l’aube des ‚Trente Glorieuses‘ à la guerre d’Algérie, Paris: Fayard 2007, p. 123, 140), et qui n’est qu’un autre visage de l’anomalie, concentré sur un groupe particulier. 56 L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.08.11-00.08.15.
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Illustrations 5 et 6: la première rencontre de Jean et Henri
Source: L’homme blessé (FR 1982/1983, R: Patrice Chéreau), 00.08.11 et 00.08.12
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Sprechende Städte Zur Lesbarkeit urbaner Räume im Werk Cécile Wajsbrots Melanie Koch-Fröhlich
ALLGEGENWÄRTIGE ERINNERUNG Betrachtet man das umfassende Erzählwerk der zwischen den Metropolen Paris und Berlin hin- und herpendelnden literarischen Grenzgängerin Cécile Wajsbrot aus raumästhetischer Perspektive, so richtet sich der Blick unweigerlich auf die Stadt. Kaum ein Roman der französischen Gegenwartsautorin polnisch-jüdischer Herkunft, in dem die Stadt nicht als hochgradig semantisierter Schwellenort in Erscheinung tritt und die sie durchquerenden Wege- und Bewegungsmuster nicht auf die seelische Gestimmtheit des Flaneurs verweisen. Urbane Mikrokosmen wie die Metro, das Museum, der Park, die Immobilienagentur oder das Café konfrontieren die Figuren mit der Frage nach den Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen des sozialen Miteinanders. Zugleich tritt die Stadt für jenes der Künstlerin durch das großväterliche Schicksal, dem Tod in Auschwitz im Jahr 1942, in die Wiege gelegte Geschichtsbewusstsein ein, das sie zu einem regelrechten Ort der – um mit dem Geschichtswissenschaftler Fernand Braudel zu sprechen – langen Dauer1 werden lässt. Mit dem vorliegenden Beitrag soll die in Nation par Barbès (2001), Mémorial (2005), Conversations avec le maître (2007) und zuletzt Totale Eclipse (2014) entfaltete Poetik der Stadt auf ihre komplexe Semantik und spezifische Raumzeitlichkeit hin untersucht werden. Besonderes Augenmerk verdienen dabei folgende Fragen: Auf welche Weise reflektiert der urbane Raum die gleichermaßen für Wajsbrots Werk- und Familiengeschichte wesentliche Dialektik von Erinnerungspflicht und Erinnerungslast, von Geschehenem und noch Kommendem, von
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Vgl. Braudel, Fernand: Ecrits sur l‘histoire, Paris: Flammarion 1969.
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Selbstfindung und Selbstverlust? Welchen Beitrag leisten Wajsbrots Choreografien der Stadt zu jener im poetischen Manifest Pour la littérature formulierten Forderung nach einer Form des Romans, die der Schnelllebigkeit der Gegenwart die Distanz und Besonnenheit wahrende Interpretationsschärfe einer dezidiert dem Leben und den Grundfragen des Menschseins zugewandten Literatur entgegensetzt? Zwei komplementäre Thesen werden für diesen die triadische Beziehung zwischen einer Ästhetik des Raums, des Lebens und der Zeit beleuchtenden Themenkomplex leitend sein: 1. Die von Wajsbrot zunächst literaturtheoretisch skizzierten Raum-ZeitModelle finden Eingang in ihre späteren fiktiven Bilder der Stadt. 2. Die im Schreiben der Autorin inszenierten Stadtlandschaften verräumlichen jene Grundfragen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens – ob in individuellen Kleinstgebilden oder in gesamtgesellschaftlichen Formationen –, die Wajsbrot in ihren literaturtheoretischen Reflexionen als Kernthemen des Romans ausweist. Zweifellos gehört die 1954 als Tochter jüdisch-polnischer Emigranten in Paris geborene Wajsbrot jener nachgeborenen Generation von Autorinnen und Autoren an, deren Texte den Zwiespalt von Nutzen und Sinnlosigkeit des Erinnerns, von Macht und Ohnmacht des Gedenkens, aber auch die Forderung nach Rückbesinnung mit besonderem Nachdruck thematisieren.2 Mit anderen jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern des 20. und 21. Jahrhunderts teilt Wajsbrot den unstillbaren Wunsch nach Vergegenwärtigung und Versprachlichung einer Vergangenheit, die über das Paradox, dem Unsagbaren eine Stimme zu verleihen, generationsübergreifend bewahrt werden müsse. Hinzu kommt, dass das individuell Erlebte auf eine das kollektive Gedenken über Jahrzehnte hinweg blockierende Mauer des Schweigens gestoßen war.3 Es war jene nur schwer zu ertragende
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Einen hervorragenden Überblick über Wajsbrots ungemein vielseitiges Schaffen bietet Herbert Huesmann, der mit seinem jüngst erschienenen Buch eine längst fällige Dissertation zu Leben und Schreiben der Autorin vorlegte: Huesmann, Herbert: Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Eine literarische Suchbewegung (= lendemains 43), Tübingen: Narr Francke Attempto 2017.
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Zur erst unter Jacques Chirac einsetzenden Kehrtwende in Frankreichs offiziellem Gedächtnisdiskurs vgl. etwa Michel Lantelme: „Entre la célèbre oraison funèbre de Jean Moulin prononcée en 1964 par André Malraux, alors ministre des Affaires culturelles, et le discours du Vel’ d’Hiv de Jacques Chirac, en 1995, on mesure tout le chemin parcouru, du mythe d’une France résistante à la reconnaissance de la participation de
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Diskrepanz zwischen dem elterlichen, mit Gräueltaten gespickten récit familial und dem mythisch verklärten récit collectif, so formulierte es Wajsbrot in einem Brief an die unter Pétain ins algerische Exil flüchtende Schriftstellerin Hélène Cixous, die am Anfang ihres sich nahezu aufdrängenden Schreibens stand: „Cet abîme entre les deux récits, longtemps je n’ai pas su comment le combler, me réfugiant sans doute aussi pour cela dans le silence, l’absence de parole, et peutêtre est-ce cet abîme que je cherche à franchir par l’écriture.“4 In der Folge wagte die Autorin immer wieder den schwierigen Spagat zwischen Verstummen und Erzählen, zwischen einer übersättigten Erinnerung5 und einem retour en arrière, der wieder und wieder nach Aussprache verlangt. In seinem mit zahlreichen literarischen Querverweisen unterfütterten Buch Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung wirft der Schweizer Philosoph Emil Angehrn die auch für Wajsbrots Erzählungen bedeutsame Frage nach einer stets der Zukunft zugewandten Erinnerung auf: „Erinnerung verbleibt nicht in sich, in der Zuwendung zu dem, was war. Gerade die Besinnung auf das entzogene Vergangene hat mit Nachdruck dessen unterdrückte, doch konstitutive Verweisung auf das Zukünftige herausgestellt.“6 Wie zermürbend die Beschäftigung mit der Vergangenheit sein kann, unterstreicht Wajsbrot in ihrem 2005 erschienenen Roman Mémorial, in dem sich die anonym bleibende Ich-Erzählerin auf die unter dem Mantel des Schweigens verdeckten Spuren ihrer nach Polen führenden Familienwurzeln begibt: „Le souvenir, me disais-je, est le pire poison, il nous fait vivre dans d’autres temps mais notre temps, pensais-je, n’est pas déraciné et repose sur les ramifications du passé qui nous enserrent comme les lianes d’une forêt vierge – comment s’en délivrer.“7
Andernorts wiederum ist die in diesem Zitat pflanzenmetaphorisch zur Geltung gebrachte Verflechtung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weitaus positiver semantisiert. So behält in dem 2014 publizierten Roman Totale Eclipse der Gedanke einer prospektiven Rückschau auf Versäumtes und Gescheitertes das letzte Wort und damit eine Erinnerung, die den vorwärtsgewandten Blick gen cette même France à la déportation des Juifs.“ Lantelme, Michel: Figures de la repentance: littérature et devoir de mémoire, Paris: Garnier 2016, S. 19. 4
Cixous, Hélène/Wajsbrot, Cécile: Une autobiographie allemande, Paris: Bourgois 2016, S. 75.
5
Der Begriff spielt an auf: Robin, Régine: La mémoire saturée, Paris: Stock 2003.
6
Angehrn, Emil: Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung, Frankfurt a. M.: Klostermann 2017, S. 152.
7
Wajsbrot, Cécile: Mémorial, Paris: Zulma 2005, S. 79.
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zukünftige Chancen lenkt. Dieser im Text am Lebensalltag einer wieder einmal namenlos bleibenden Fotografin subtil nachverfolgte Entwicklungsprozess soll in aller Kürze skizziert werden: Zunächst von der Unerreichbarkeit einer im Roman poetisch als „faiseur de pluie“ apostrophierten Männerbekanntschaft bitter enttäuscht, zeigt sich die Künstlerin im weiteren Verlauf der Erzählung zuversichtlich, dass jene fotografisch gebannte Rückensilhouette, die sich Aufnahme um Aufnahme ein Stück weiter von der Kamera entfernt, nicht als Erinnerungsspur der Kränkung, sondern als eine der Hoffnung überleben wird – als ein Andenken nämlich, das künstlerische Kreativität verheißt: „Il est parti – le faiseur de pluie n’est plus qu’un souvenir, c’est fait, je ne croyais pas que ce serait si facile. Certes j’en garde une trace, dans l’appareil que je tiens à la main, mais cette trace n’est plus l’objet précieux que je croyais posséder, elle est l’instrument d’un travail, la base fragile que je vais devoir transformer pour acquérir le droit d’apparaître dans le champ des œuvres véritables.“8
Mit diesem vorerst letzten Teilstück der mit Conversations avec le maître (2007) einsetzenden und derzeit noch unabgeschlossenen Romanpentalogie,9 die thematisch um die bildenden Künste kreist, beweist Wajsbrot ein weiteres Mal ihr Talent für psychologisierende Stadtentwürfe. Unverkennbar trägt dort das die schwankende Gefühlswelt des Ichs nach außen tragende Paris die Züge all jener Metropolen des 21. Jahrhunderts, die dem Halt suchenden Individuum mit beängstigendem Gleichmut und kühler Anonymität begegnen – das Porträt eines urbanen Raums, in dem sich vermeintlich stabile Wegmarkierungen buchstäblich verwässern: „Au-dehors le monde fluctuait. Aquatique, ondoyant – un rideau de pluie aurait mis en accord ma vision troublée et les rues, les avenues.“10 Die am eigenen Leib verspürte Unsicherheit aber schärft das Bewusstsein für die prekäre Existenz all jener, denen die Straßen der Stadt nur behelfsmäßig und vorübergehend Schutz gewähren können. Mehr noch: Die eigens erfahrene Schwäche sensibilisiert das Ich für jene Wajsbrots Schreiben leitmotivisch durchquerende Botschaft, wonach eine globalisierte Welt vor globalisiertem Elend nicht die Augen verschließen darf und dass über den Globus zerstreute Orte und Gesellschaften, die auf den ersten Blick keinen unmittelbaren Zusammenhang erkennen lassen, über vergleichbare Erfahrungen des Leids aneinander gekettet sind – eine Interdependenz, die allein 8
Wajsbrot, Cécile: Totale Eclipse, Paris: Bourgois 2014, S. 204.
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Neben Totale Eclipse sind bislang erschienen: Wajsbrot, Cécile: Conversations avec le maître, Paris: Denoël 2007; Wajsbrot, Cécile: L’île aux musées, Paris: Denoël 2008 und Wajsbrot, Cécile: Sentinelles, Paris: Bourgois 2013.
10 C. Wajsbrot: Totale Eclipse, S. 97.
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schon klimatischer Natur ist: „Parfois le vent du sud souffle sur Paris, apportant le sable du désert.“11 So nimmt es auch nicht wunder, dass Bruce Springsteens The Ghost of Tom Joad – jener sozialkritische Song, der von den Wirtschaftsflüchtlingen der US-amerikanischen Great Depression Ende der 1920er erzählt – in der Hauptfigur augenblicklich Assoziationen an die das Paris des 21. Jahrhunderts besiedelnden Immigranten weckt. Dem von Springsteen besungenen Niedergang Youngstowns – einst pulsierendes Herz der US-Stahlindustrie, heute Zentrum jenes wirtschaftlich brachliegenden Rostgürtels, in dem Trumps Wahlkampfslogan des Make America Great Again auf besonders fruchtbaren Boden fiel – verhilft die Erzählerin im Pariser Stadtbild zu neuer Aktualität: „Youngstown n’est pas seulement dans l’Ohio, elle est partout, même à Paris, même dans ce quartier aisé, puisque ce matin, sous la pluie, il y avait un homme assis sur un duvet mouillé et plus loin, un autre, une valise posée à côté, prêt à partir ou venant d’arriver.“12
Intertextuelle Assoziationsschleifen wie diese signalisieren in rezeptionsästhetischer Hinsicht noch mehr. In ihrer Gesamtheit betrachtet bilden sie ein engmaschiges Netz aus Querverweisen, das den Leser und die Leserin implizit dazu animiert, den bei Wajsbrots Romanfigur systematisch inszenierten Suchmaschinenreflex13 zu imitieren und somit die dem Buch zugrunde liegende Verflechtungslogik im Internet eigenständig fortzusetzen. All diese mit der Lebenswirklichkeit der Fotografin verwobenen Geschichten tangieren jene grundlegenden Fragen, die das Gesamtwerk der Autorin unermüdlich stellt: Wie verhält sich die Vergangenheit zu unserem individuellen Zeiterleben und welche Konsequenzen für unsere unmittelbare Gegenwart ergeben sich aus der bewussten Vergegenwärtigung dessen, was war? Den Versuch einer Antwort skizziert aus literaturtheoretischer Perspektive der 1999 entstandene und erst 2014 in deutscher Übersetzung als Verteidigung des Romans vorgelegte Essay Pour la littérature, dessen palimpsestartige Raum-Zeit-Modelle jenes innere Strukturprinzip antizipieren, das für Wajsbrots literarisches Schaffen maßgeblich wurde.
11 Ebd., S. 62. 12 Ebd., S. 48. 13 Ein Beispiel unter vielen: Immer wieder geht das vor dem Bildschirm sitzende Ich den in Liedform vertonten Geschichten nach: „Mais plus que les circonstances disputées de la naissance d’une chanson, c’est la situation qui compte, ce qu’elle évoque et qui unit les Ulysses et les aèdes – par-delà le temps. Tous ceux qui, écoutant une chanson, entendent le récit de leur vie.“ Ebd., S. 199.
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POUR LA LITTÉRATURE: FÜR EINEN DIALOG ZWISCHEN LITERATUR UND LEBEN Über weite Strecken übt dieser knappgehaltene Text, dessen Kernbotschaft der deutsche Titel weitaus klarer vorgibt als das französische Original, scharfe Kritik an den Begründern des Nouveau Roman: Mit ihrer enthistorisierenden, am Primat des Signifikanten ausgerichteten écriture – bei Wajsbrot negativ konnotierter Gegenbegriff zu einer lebensorientierten littérature – hätten die Nouveaux Romanciers die schon von Staatsseite praktizierte Politik des Wegsehens in der Literatur salonfähig gemacht. Bereits mit ihrem zwei Jahre zuvor erschienenen Buch La trahison,14 das diese kollektive Praxis des Verdrängens auf die individuelle Erlebensebene eines ehemaligen Radiojournalisten überträgt, setzte Wajsbrot ein deutliches Signal wider das Vergessen. Darin sieht sich der Protagonist in der Begegnung mit der Rundfunkredakteurin Ariane Desprats unvermittelt der Erinnerung an die 1940 inhaftierte Jüdin Hanna ausgesetzt und macht dabei die schmerzliche Erfahrung, dass selbst das Vergessen keine Gewähr für dauerhaftes Verschwinden ist. Dies erklärt mithin, weshalb der Historiker Otto Gerhard Oexle diese um das komplementäre Aufeinanderbezogensein von Erinnern und Vergessen kreisende Geschichte in den geistesgeschichtlichen Kontext einer bis heute unabgeschlossenen wissenschaftlichen Problemgeschichte einspannt.15 Wenngleich Wajsbrots programmatische Missbilligung des en bloc als geschichtsfeindlich abgestraften Nouveau Roman wohl zu pauschalisiert ausfällt,16 so steht doch außer Frage, welch hohes historisches Reflexionsvermögen die Autorin der Literatur abverlangt. Wesentlich für das noch Folgende erscheint mir die in Wajsbrots Forderung nach einer lebensnahen Literatur mitschwingende Funktionsbestimmung des Romans: In einer Welt, in der das Primat der Schnelllebigkeit und des flüchtigen Augenblicks unseren Alltag dominiere, vollziehe die Literatur eine heilsame Rückwärtsbewegung, die es erlaube
14 Wajsbrot, Cécile: La trahison, Cadeilhan: Zulma 1997. 15 Vgl. Oexle, Otto Gerhard: „Geschichten von Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison“, in: Roswitha Böhm/Margarete Zimmermann (Hg.), Du silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot (= Formen der Erinnerung, Band 37), Göttingen: V & R Unipress 2010, S. 143-154. 16 So finden Werke mit stark historischer Prägung, die jene Strömung hervorgebracht hat – allen voran Claude Simons autobiografisch gefärbten Romane L’Acacia und Les Géorgiques – in Pour la littérature keinerlei Berücksichtigung.
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„d’embrasser du regard l’étendue de ce qu’on veut raconter et qui lui donne une perspective. La durée de ce qui est saisi, la distance temporelle dans laquelle on écrit et le désir de dire autre chose que la chose qu’on paraît raconter – d’aller plus loin qu’une simple transcription – créent tout ensemble un relief qui fait du récit non pas un texte linéaire […], mais un texte littéraire où l’expérience humaine s’est déposée.“17
Anstelle eines mimetischen Abbilds der Realität – „une simple transcription“ – schlage uns der Roman eine die Lebenserfahrung des Schreibenden miteinbeziehende vorreflektierte Deutung vergangener Geschehnisse vor. Was in Wajsbrots Essay noch auf der Metaebene erörtert wird, trägt in der Prosasammlung Berliner Ensemble eine klare ästhetische Handschrift. Eklatanter noch als Paris, so sieht es zumindest die beide Metropolen gleichermaßen gut kennende Autorin, trage die ehemals geteilte deutsche Hauptstadt der Symbiose von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft architektonisch Rechnung. Mit ihrem komplexen Nebeneinander von geschichtsbeladenen Orten der Erinnerung einerseits und zukunftsweisenden Baustellen andererseits verkörpere die Stadt die in Wajsbrots Schreiben permanent ins Gedächtnis gerufene Hybridität von Raum und Zeit auf besonders augenfällige Art und Weise: „[…] par la présence du passé, des plaques commémoratives rapportant les événements les plus sombres et par la croyance – concrétisée par le nombre de grues et de chantiers – en un avenir.“18 Wurde in der Einleitung Braudels diachrones Geschichtsverständnis evoziert, so geschah dies nicht ohne Grund, scheint doch das ihm zugrunde gelegte Zeitmaß der langen Dauer – übertragen auf die Literatur – für Wajsbrots Stadtnarrative symptomatisch zu sein: „Le temps de la littérature n’est pas l’urgence, le temps de la littérature n’est pas le présent. La littérature travaille dans la durée, elle travaille pour la durée, elle est à l’opposé de l’éphémère et de l’actualité. La littérature a besoin de vacance, de silence et vide, la littérature a besoin d’être injoignable, de ne pas répondre à chaque appel pour pouvoir répondre à l’appel majeur de la vie.“19
Es handelt sich hier, so glaube ich, um einen methodologischen Schlüsselsatz, in dem der von Wajsbrot an die Literatur herangetragene Anspruch kulminiert. Und in der Tat scheint es, als lege Wajsbrots Plädoyer für eine im wahrsten Sinne des Wortes mit Leben erfüllte Literatur das theoretische Fundament jener philologischen Debatte, die Ottmar Ette mit seiner 2007 in Lendemains abgedruckten 17 Wajsbrot, Cécile: Pour la littérature, Cadeilhan: Zulma 1999, S. 34. 18 Wajsbrot, Cécile: Berliner Ensemble, Berlin: éditions la ville brûle 2015, S. 8. 19 C. Wajsbrot: Pour la littérature, S. 39.
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Programmschrift Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft20 entfachte und die seither rege fortgesetzt wird. Wajsbrots lebenswissenschaftliches Interesse an der Literatur21, so ist jedenfalls festzuhalten, stellt die produktionsästhetisch bedeutsame Frage nach jenem Raum-Zeit-Gefüge, das die Stadt dem aufmerksamen Flaneur enthüllt: „Alors comment écrire, comment dire ce qu’on a à dire? […] D’abord, il me semble que dans mes livres, cela passe par un ancrage, qu’il y a, à chaque fois ou presque, un lieu – au sens large du terme. [...] En même temps, ce lieu n’est pas donné, il est gagné (ou perdu), il est parcouru, constitué ou reconstitué. L’ancrage dans le lieu permet un ancrage dans le temps, car le lieu – souvent une ville – est imprégné de ce qui s’y est produit à différentes périodes et ce sont ces strates temporelles qui lui donnent existence.“ 22
Spätestens seit Henri Lefebvre ist bekannt, dass die durch soziale Interaktionsmechanismen der Ein- und Ausgrenzung modellierbare Gestalt des Raums einem steten Wandel unterworfen ist. Das von Wajsbrot dem Raum zugewiesene Bewegungselement – „il est parcouru, constitué ou reconstitué“ – ist zweifellos als eine ebensolche Gesellschaftsdynamik zu verstehen. Um die uns hier interessierende Kreuzung zwischen temporaler und spatialer Ebene einerseits und deren Kopplung an die im urbanen Raum ausgehandelten Fragen des sozialen Miteinanders andererseits an einem Textbeispiel zu illustrieren, erscheint mir der 2001 erschienene Roman Nation par Barbès von besonderem Erkenntniswert.
20 Vgl. Ette, Ottmar: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France 32 (2007), S. 7-32. 21 Schon Ette hat mit Blick auf Wajsbrots Literaturverständnis konstatiert: „Damit aber […] wird von der Literatur – aber auch für die Literatur – die ästhetische Gestaltung eines Lebenswissens eingefordert, das in seiner Vieldimensionalität und Polysemie ein lebendiges und gesellschaftlich verantwortliches Verhältnis zu den unterschiedlichen Aspekten des Lebens und Überlebens entfaltet.“ Ette, Ottmar: ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005, S. 55. 22 So Cécile Wajsbrot in einem Gespräch mit Dominique Dussidour: „En littérature, il n’est pas d’autre urgence que l’urgence d’écrire…“, in: RemueNet. Dossier Cécile Wajsbrot (2005), verfügbar unter http://remue.net/spip.php?article1107.
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DREHSCHEIBE MÉTRO: NATION PAR BARBÈS Im Mittelpunkt der sich überwiegend in Paris zutragenden Handlung stehen drei Schlüsselfiguren, deren auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Lebenswege sich eines Tages unvermutet kreuzen: In der Pariser Metro, Knotenpunkt der im Roman aufeinander zubewegten Handlungsfäden, stößt der großbürgerliche Geschichtsstudent Jason auf die aus einfacheren Verhältnissen stammende Léna. Der ersten zufälligen Begegnung folgen weitere Treffen, doch nur zögerlich kommen sich die beiden näher, was größtenteils Lénas familiären Gefühlsverwicklungen – der Verantwortungspflicht gegenüber der mit ihr unter einem Dach lebenden pflegebedürftigen Mutter – geschuldet ist. Als das ohnehin schon fragile Duo die aus Bulgarien illegal eingewanderte Aniela kennenlernt, löst diese vermeintlich bedeutungslose Begebenheit eine einschneidende Krise aus, an der die Liebesbeziehung zerbrechen wird. Schon mit dem topografisch indizierten Titel erhebt die Verfasserin Anspruch auf eine raummetaphorisch gesteuerte Intrige, die in Nation par Barbès Stück für Stück an Intensität und Dramatik gewinnt: Kapitel um Kapitel entfaltet das die Stadt tentakelartig umschlingende Metronetz seine weitgreifende Symbolik, indem es als urbaner Mikrokosmos die Funktions- und Ausschlussmechanismen des ihn umgebenden sozialen Makrokosmos miniaturhaft widerspiegelt. Bereits das Incipit nutzt den raummetaphorischen Effekt einer solchen mise en abyme: „Le quai du métro ressemblait à un vaste débarcadère où venaient échouer ceux qui avaient embarqué pour un plus long voyage et qui se voyaient obligés d’interrompre leur périple pour une raison qui leur échappait.“23 Eindeutig suggeriert die verwendete Lexik des Scheiterns („échouer“, „se voyaient obligés“, „interrompre“, „pour une raison qui leur échappait“), dass die von der Metro auf den Bahnsteig geschwemmten Fahrgäste ihre Reise nur widerwillig unterbrechen und den damit verbundenen Zeitverlust nolens volens akzeptieren. Jedenfalls klingt in Wajsbrots Beschreibung eines lediglich provisorischen Transitorts deutlich jene Funktionsbestimmung nach, die Marc Augés Konzept des postmodernen Raums für öffentliche Transportmittel jedweder Art vorgesehen hat: Als unpersönliche, in der Regel durch den Erwerb eines Fahrscheins den Nutzerinnen und Nutzern zugänglich gemachten Nicht-Orte („non-lieux“), differenziert er diese von den in hohem Maße identitäts- und beziehungsstiftenden lieux anthropologiques: „Si un lieu peut se définir comme identitaire, relationnel et historique, un espace qui ne peut se définir ni comme identitaire, ni comme
23 Wajsbrot, Cécile: Nation par Barbès, Cadeilhan: Zulma 2001, S. 7.
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relationnel, ni comme historique définira un non-lieu.“24 Den konstatierten Analogien zum Trotz trifft Augés Raumdichotomie auf Wajsbrots Metro nur bedingt zu, entpuppt sich doch diese zugleich als ein hochgradig sozialer Ort, der unzählige Begegnungen ermöglicht sowie Jasons und Lénas behutsam fortgesetzten Rendezvous eine vertraute Kulisse bieten kann. Gleichwohl operiert der Text auf fast schon zynische Art und Weise mit Augés Konzept eines vertraglich in Kraft gesetzten Arrangements, weil ebendieses besondere Nutzungsverhältnis der an jenem Tag versehentlich ohne gültigen Fahrschein reisenden Aniela zum tödlichen Verhängnis wird. Denn als die illegal im Land lebende Protagonistin in eine jener Fahrscheinkontrollen gerät, die ihr fremdländisches Aussehen noch begünstigt, sieht die augenblicklich von Panik erfasste Bulgarin keinen anderen Ausweg aus der ihr drohenden Identitätskontrolle als die suizidale Flucht in den dunklen Metroschlund. Verwehrt bleibt der ohne gültige Papiere nach Frankreich gereisten Immigrantin damit jener für den Nicht-Ort typische Verhaltenskodex, der bei Augé auf die erbrachte Ausweispflicht erfolgt: das unversehrte Wiedereintauchen in die anonyme Menschenmasse der urbanen Unterwelt.25 Den von Jason und Léna erfahrenen sozialen Charakter der Metro rückt Aniela in ein anderes Licht, indem sie das zwischen unter- und überirdischen Trassen alternierende Streckennetz als textumgreifendes Sinnbild für die Spaltung der Gesellschaft begreift. Besondere Geltung erlangt diese allegorisch vermittelte Sozialkritik immer dann, wenn die Diskrepanz zwischen Anielas mythisch verklärter Frankophilie und der harten Realität nahezu unüberbrückbar erscheint: „Aniela n’arrivait pas à rassembler en une vision unique la ville du dessus et celle du dessous, c’était comme s’il y avait deux sortes de personnes, deux sortes de population, les gens d’au-dessus et les gens d’en dessous, qui ne se croisaient jamais, qui s’ignoraient, et que, malgré les marches et les escalators, malgré les tourniquets, les guichets, les billets, il était impossible de passer d’un monde à l’autre et que les uns – à ciel ouvert – se promenaient, heureux de vivre tandis que les autres – dans les tunnels – étaient accablés, asservis. Elle entrevoyait là quelque chose d’effrayant, une vérité qu’elle n’était pas prête à formuler et qui touchait, au-delà de Paris et du choix de l’exil, au fondement de la vie.“26
24 Augé, Marc: Non-lieux: introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992, S. 100. 25 „Le passager ne conquiert donc son anonymat qu’après avoir fourni la preuve de son identité, contresigné le contrat en quelque sorte. […] Le contrôle a priori ou a posteriori de l’identité et du contrat place l’espace de la consommation contemporaine sous le signe du non-lieu: on n’y accède qu’innocent.“ Ebd., S. 128f. 26 C. Wajsbrot: Nation par Barbès, S. 101.
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Derlei ambivalent besetzte urbane Transitorte sind in Wajsbrots Texten Legion. Man betrachte etwa das Beispiel jener in Conversations avec le maître inszenierten Immobilienagentur, die in diesem ebenfalls in Paris angesiedelten Roman den mondänen Kontrastort zur prekären Wohnsituation einer – wieder einmal – osteuropäischen Immigrantin bildet und damit eine deutlich topografisch markierte Grenze innerhalb des Stadtraums zeichnet: „Nous sommes de part et d’autre d’une vitre et cette vitre nous sépare physiquement, moralement – d’un monde à l’autre, y a-t-il un passage?“27 Konfrontiert mit jenem Migrationsschicksal, das sie hinter dem sehnsuchtsvollen Blick der regelmäßig vor der Fensterscheibe des Immobilienbüros innehaltenden Besucherin vermutet, appliziert die Erzählerin den in Wajsbrots Texten leitmotivisch zirkulierenden Begriff der errance nicht ohne Selbstironie auf das eigene Tun: „Et moi, me disais-je, je m’occupe de réguler les migrations éphémères que sont les changements de domicile et les déménagements.“28 Längst sind die sogenannten Transitorte – urbane Chiffre für eine prekäre Raum- und Zeitwahrnehmung – den ein Gefühl von Zugehörigkeit suggerierenden lieux anthropologiques zahlenmäßig überlegen. Mit dieser thematischen Profilierung reihen sich Wajsbrots Erzählungen in jenen literarischen Prekaritätsdiskurs ein, der mit Roswitha Böhm und Cécile Kovacshazy als charakteristisch für die heutige Zeit gelten kann: „Or, si la précarisation du monde du travail est bien un phénomène dépassant les frontières de l’Hexagone [...], c’est aussi un sujet de prédilection d’un nombre grandissant d’auteurs et d’artistes francophones contemporains s’interrogeant sur les possibilités de sa représentation et de sa symbolisation.“29
Der beschriebene soziologische Wandel – weg von der errance als Zwangsmobilität einer sozialen Minderheit hin zur Bewegungsform der modernen Gesellschaft schlechthin – drückt vielen Texten der Autorin seinen topografischen Stempel auf. So etwa in Mémorial, als die Ich-Erzählerin ihre ins polnische Kielce führende Reise aufgrund einer Zugverspätung unversehens unterbrechen muss. In Gedanken versunken auf dem Bahnsteig harrend, verleiht sie dem durch das Warten ausgelösten Zustand der Verunsicherung eine gänzlich andere Sinndimension:
27 C. Wajsbrot: Conversations avec le maître, S. 46. 28 Ebd., S. 157. 29 Böhm, Roswitha/Kovacshazy, Cécile: „La précarité et les arts au XXIe siècle: quelques réflexions“, in: Dies. (Hg.), Précarité. Littérature et cinéma de la crise au XXIe siècle (= lendemains 38), Tübingen: Narr Francke Attempto 2015, S. 9-21, hier S. 9.
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„[…] l’incertitude, la nôtre, n’était pas grave mais renvoyait à des situations qui, au lieu de se soustraire, s’ajoutaient, à des situations d’errance, comme si l’errance, au lieu de disparaître, devenait un mode d’être, une façon d’exister qui passait, d’époque en époque, de pays en pays, […].“30
Wajsbrots errance-Rhetorik wurzelt in der Tradition und geht doch neue Wege, indem die Künstlerin diesem in der jüdischen Literatur auf eine Jahrtausende alte Geschichte zurückblickenden Schlüsselbegriff gesamtmenschheitliche Geltung beimisst. Doch wenden wir uns erneut Nation par Barbès und den von der Metro beherrschten Stadtbildern zu. Schon der elliptisch gehaltene Romantitel führt in jenen epochenübergreifenden Geschichtsraum ein, der – und die Namen der beiden Metrostationen Nation und Barbès sind hierfür sichtbarer Beweis – bis in das heutige Paris hineinragt. Neben dieser Deutung lassen die im Titel lose miteinander verknüpften Orte noch eine zweite Lesart zu, die – darin der topografischen Symbolik der Erzählung folgend – eine ganze Nation durch das Prisma der Metro brennpunktartig in den Blick nimmt. Denn vielfach schlägt der Text den Umweg über die von Jason an Léna weitergegebene Historie ein, um all jene sozialen Mängel ans Licht zu befördern, die auch gegenwärtig noch immer nicht behoben sind: „[…] il y avait bien longtemps que les bancs avaient disparu, pour éviter que les sans-abri, les SDF, les clochards, ceux qui changeaient de nom selon les époques mais pas de vie, ne puissent venir s’y endormir.“31
Ein derartiges Schichtgefüge, zusammengesetzt aus auf unterschiedliche Epochen verweisenden Stadtgedächtnissen, darf als charakteristisches Raummuster für Wajsbrots Erzählungen gelten. Dies ist auch der Grund, weshalb die Stadtbilder der Autorin nur zurecht mit dem Epitheton des Palimpsests versehen worden sind.32 Isoliert nebeneinanderstehenden Erinnerungsorten wird man im Werk der Autorin daher kaum begegnen. Vielmehr schaffen Wajsbrots Texte hochgradig 30 C. Wajsbrot: Mémorial, S. 21. Ähnlich ergeht es Wajsbrots Protagonistin in L’Île aux musées. Auch sie nimmt die errance als eine anthropologische Konstante wahr: „[…] nous [les hommes] sommes un lieu de passage.“ C. Wajsbrot: L’Île aux musées, S. 129. 31 C. Wajsbrot: Nation par Barbès, S. 7. 32 Oster, Patricia: „‚Transfuges‘ entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs im Werk Cécile Wajsbrots“, in: Roswitha Böhm/Stephanie Bung/Andrea Grewe (Hg.), Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr Francke Attempto 2009, S. 237-256, hier S. 237.
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komplexe Erinnerungsstrukturen, die jenen knotenförmigen Gebilden nachempfunden scheinen, die der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in der Überzeugung formte, dass unterschiedliche Erinnerungskulturen, anstelle einander auszuschließen, auf produktive Art und Weise miteinander zu verknüpfen seien. Konträr zur Negativvision eines Kampfes der Erinnerungen plädiert der Verfasser für „a pluralized conception of history and memory, one that investigates the points of contacts between distinct legacies of historical trauma, and in so doing, illuminates the layered structure and unpredictable energy of collective memory.“33
Umgemünzt auf die Literatur erweist sich die Denkfigur der Erinnerungsknoten für Wajsbrots Texte als ungemein strukturgebend. In Nation par Barbès etwa übt sie großen Einfluss auf den Ausgang der dort erzählten Liebesgeschichte aus: Während der sonst so geschichtsgierige Jason in Anielas Freitod lediglich ein bezugsloses Einzelschicksal, das es schnellstmöglich zu verdrängen gilt, erkennen möchte, weist Léna den mit dieser Reaktion verbundenen Ausdruck von Apathie mit Entschiedenheit zurück. Mehr noch: Jasons lapidarer Aufruf zum Vergessen – „essayons d’oublier“34 – wirkt auf sie, die Anielas Tod global denkt und darin ein gesamtgesellschaftliches Desaster sieht, wie ein unverzeihbarer Affront: „La mort d’Aniela atteignait d’autres lieux que cette portion de rail où elle avait vu son corps recroquevillé, elle s’étendait à toute la ligne, à l’ensemble du réseau, à Léna, à Jason, à tous les gens indifférents au sort des autres ou concernés quand il était trop tard.“ 35
FAZIT UND AUSBLICK Beide hier untersuchten Themenkomplexe – Wajsbrots literaturtheoretische Reflexionen zu Raum und Zeit sowie die These vom Roman als Verhandlungsort des zwischenmenschlichen Miteinanders – sind folglich an der Strukturierung des urbanen Raums maßgeblich beteiligt. Wollte man die hochgradig semantisierten
33 Rothberg, Michael et. al. (Hg.): Noeuds de mémoire: multidirectional memory in postwar French and Francophone culture, New Haven: Yale University Press 2010, S. 2. 34 C. Wajsbrot: Nation par Barbès, S. 187. 35 Ebd., S. 188.
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Stadtlandschaften der Autorin ihrer Funktionalität nach untergliedern, so ließe sich folgende Dreiteilung ausmachen: 1. Sozialräume: Wajsbrots urbane Räume sind in permanenter Bewegung begriffen. Lefebvres dynamischem Raumverständnis folgend gestalten sie sich durch soziale Beziehungen und Konflikte, die der Roman raumchoreografisch erfasst und sichtbar macht. 2. Erinnerungsräume: Die von der Autorin gezeichneten Stadtlandschaften konstituieren sich über einen kontinuierlichen Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Demnach ist die räumlich verankerte Erinnerung stets an gegenwärtige Bedürfnisse gebunden und trägt zugleich als Zukunftsverweis den Wunsch nach Wandel in sich. 3. Emotionsräume: Wajsbrots buchstäblich sprechende Städte tragen das Innenleben der Protagonisten nach außen und geben somit Aufschluss über die seelische Gestimmtheit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Werfen wir zu guter Letzt einen Blick über das Werk der Autorin hinaus: All jene Wajsbrots Schreiben durchziehenden Narrative der Verflechtung, die das individuell Erlebte einem größeren Geschichtskontext zuführen und somit die private Erinnerung vervielfachen, sind dem französischen Roman des extrême contemporain alles andere als fremd. Ja, es scheint geradezu, als sehe die gegenwärtige Literatur einer ihrer Dringlichkeiten darin, Geschichte – hierin das Verstrickungsmuster von Rothbergs Erinnerungsknoten imitierend – in einem komplexen Perspektivenspiel verflechtend abzubilden, womit stets die Frage nach der ethischen Dimension einer per se gegenwarts- und zukunftsorientierten Erinnerung einhergeht. Zwar kehrt die Vergangenheit nicht auf identische Art und Weise wieder, doch täte man gut daran, ihre Tücken, Gefahren und Risiken nicht als obsolet zu schelten – so die metaphorisch verhüllte Warnung, mit der Eric Vuillard seine 2017 mit dem Prix Goncourt prämierte Erzählung L’ordre du jour über den 1938 gewaltsam vollzogenen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich beschließt: „On ne tombe jamais deux fois dans le même abîme. Mais on tombe toujours de la même manière, dans un mélange de ridicule et d’effroi. […] Et l’Histoire est là, déesse raisonnable, statue figée au milieu de la place des Fêtes, avec pour tribut, une fois l’an, des gerbes séchés de pivoines, et, en guise de pourboire, chaque jour, du pain pour les oiseaux.“ 36
36 Vuillard, Eric: L’ordre du jour, Arles: Actes Sud 2017, S. 150.
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Gerade im Hinblick auf den dem französischen Roman im 21. Jahrhundert vielfach attestierten retour à l’Histoire37 scheint Wajsbrots in Pour la littérature geäußerter Wunsch nach einer geschichtsbewussten Literatur Gehör gefunden zu haben.
LITERATUR Primärliteratur Cixous, Hélène/Wajsbrot, Cécile: Une autobiographie allemande, Paris: Bourgois 2016. Vuillard, Eric: L’ordre du jour, Arles: Actes Sud 2017. Wajsbrot, Cécile: Berliner Ensemble, Berlin: éditions la ville brûle 2015. — Conversations avec le maître, Paris: Denoël 2007. — La trahison, Cadeilhan: Zulma 1997. — L’Île aux musées, Paris: Denoël 2008. — Mémorial, Paris: Zulma 2005. — Nation par Barbès, Cadeilhan: Zulma 2001. — Pour la littérature, Cadeilhan: Zulma 1999. — Sentinelles, Paris: Bourgois 2013. — Totale Eclipse, Paris: Bourgois 2014. Sekundärliteratur Angehrn, Emil: Sein Leben schreiben. Wege der Erinnerung, Frankfurt a. M.: Klostermann 2017. Augé, Marc: Non-lieux: introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992. Böhm, Roswitha/Kovacshazy, Cécile: „La précarité et les arts au XXIe siècle: quelques réflexions“, in: Dies. (Hg.), Précarité. Littérature et cinéma de la crise au XXIe siècle (= lendemains 38), Tübingen: Narr Francke Attempto 2015, S. 9-21. Braudel, Fernand: Ecrits sur l‘histoire, Paris: Flammarion 1969.
37 Beispielhaft sei verwiesen auf: Jablonka, Ivan: L’Histoire est une littérature contemporaine. Manifeste pour les sciences sociales, Paris: Seuil 2014 und: Viart, Dominique/Vercier, Bruno (Hg.): La littérature française au présent: héritage, modernité, mutations, Paris: Bordas 2008.
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Dussidour, Dominque: „En littérature, il n’est pas d’autre urgence que l’urgence d’écrire…“, in: RemueNet. Dossier Cécile Wajsbrot (2005), verfügbar unter http://remue.net/spip.php?article1107 [letzter Aufruf am 6.9.2018]. Ette, Ottmar: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France 32 (2007), S. 7-32. — ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005. Huesmann, Herbert: Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Eine literarische Suchbewegung (= lendemains 43), Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. Jablonka, Ivan: L’Histoire est une littérature contemporaine. Manifeste pour les sciences sociales, Paris: Seuil 2014. Lantelme, Michel: Figures de la repentance: littérature et devoir de mémoire, Paris: Garnier 2016. Oexle, Otto Gerhard: „Geschichten von Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison“, in: Roswitha Böhm/Margarete Zimmermann (Hg.), Du silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot (= Formen der Erinnerung, Band 37), Göttingen: V & R Unipress 2010, S. 143-154. Oster, Patricia: „‚Transfuges‘ entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs im Werk Cécile Wajsbrots“, in: Roswitha Böhm/Stephanie Bung/ Andrea Grewe (Hg.), Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr Francke Attempto 2009, S. 237-256. Robin, Régine: La mémoire saturée, Paris: Stock 2003. Rothberg, Michael et. al. (Hg.): Noeuds de mémoire: multidirectional memory in postwar French and Francophone culture, New Haven: Yale University Press 2010. Viart, Dominique/Vercier, Bruno (Hg.): La littérature française au présent: héritage, modernité, mutations, Paris: Bordas 2008.
Ricardo Piglias La ciudad ausente Die „abwesende Stadt“ als Chiffre für den totalitären Staat Matthias Hausmann
EINFÜHRUNG UND THESENBILDUNG Andreas Mahler definiert jene Werke als „Stadttexte“, in denen „die Stadt ein [...] unkürzbarer Bestandteil“1 ist. In dieser Perspektive ist Ricardo Piglias 1992 erschienener Roman La ciudad ausente ohne Zweifel ein Stadttext, nimmt die Stadt, in der die Handlung angesiedelt ist, doch eine zentrale Rolle ein, auf die schon der Titel unmissverständlich verweist. Dieser Titel deutet indes zugleich an, dass es sich um eine außergewöhnliche Form von Stadttext handelt, da der so wichtige Schauplatz nahezu ungreifbar bleibt – die Stadt ist in vielerlei Hinsicht tatsächlich abwesend, oder um es mit den Begrifflichkeiten dieses Bandes zu fassen: Sie bleibt weitgehend unsichtbar. Diese Unsichtbarkeit der Stadt trotz ihrer immensen Bedeutung ist, so der Grundgedanke unserer Ausführungen, als Chiffre für das totalitäre Regime zu lesen, vor dessen Hintergrund sich der Plot entfaltet und das für diesen Plot zwar eine überragende Rolle spielt, doch in keiner Weise greifbar wird. 2 Dabei erweist sich diese zu vertiefende Ungreifbarkeit als Strategie des Autors, die Erfahrung
1
Mahler, Andreas: „Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 11-36, hier S. 12.
2
Vgl. dazu insbesondere Page, Joanna: „Writing as resistance in Ricardo Piglia’s La ciudad ausente“, in: Bulletin of Spanish Studies 81 (2004), S. 343-360, hier S. 347: „The state portrayed in the novel is a nameless and faceless regime, almost entirely invisible.“ und S. 357: „the depiction of an invisible but all-powerful, total state“ (Hervorhebungen M.H.).
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totalitärer Herrschaftsformen literarisch auszudrücken, was die eine Seite der Medaille seines Romans bildet. Die andere ist die Möglichkeit, Widerstand gegen ein solches Regime zu leisten, was wiederum aufs Engste mit der Literatur verbunden ist, wobei sich in beiden Fällen ein Rückgriff auf die Phantastik als wesentlich erweist, wie wir zu zeigen beabsichtigen. Daran, dass die Literatur, oder genauer: das Erzählen, eine Schlüsselrolle in La ciudad ausente einnimmt, kann kein Zweifel bestehen, da sich die Handlung um die Geschichte, Funktionsweise und Wirkung einer Erzählmaschine entspinnt. Deren Geheimnisse zu ergründen, ist die Aufgabe des Journalisten Junior, der für seine Zeitung die titelgebende Stadt durchstreift. Diese Stadt ist einerseits eindeutig als Buenos Aires zu erkennen, andererseits ist von Anfang an eine starke Verfremdung zu konstatieren, zu der wesentlich gehört, dass keinerlei zeitliche Situierung möglich ist: Die chronologischen Angaben sind bewusst widersprüchlich und sperren sich gegen eine Einordnung in die der Leserschaft bekannte geschichtliche Realität.3 Zusammen mit den stets nur fragmentarischen Anspielungen auf die Stadt, in die viele fiktive Gebäude eingewoben sind, stellt sich für die Lesenden fortwährend die Frage, ob sie sich nun in einem realen Buenos Aires befinden oder nicht;4 es entsteht eine Unentscheidbarkeit, welche eine für die Deutung des klar als Genremischung konzipierten Textes wesentliche Verbindung zu jener Gattung eröffnet, bei der er massive Anleihen macht: der Phantastik, 5 3
So wird einmal gesagt, die Handlung spiele 15 Jahre nach dem Mauerfall (vgl. Piglia, Ricardo: La ciudad ausente, Barcelona: Anagrama 2003, S. 144), während die Erwähnung von Michael Jordans Engagement bei den Chicago Bulls (ebd., S. 86) eine frühere Handlungszeit anzudeuten scheint, die ihrerseits von anderen Angaben (etwa denen der Informantin Julia) konterkariert wird. Vgl. dazu auch Reati, Fernando: Postales del porvenir. La literatura de anticipación en la Argentina neoliberal (1985-1999), Buenos Aires: Biblos 2006, der festhält, die Handlung sei „ambientada en un tiempo impreciso“ (ebd., S. 129) und ergänzt, diese „imprecisión cronológica“ sei „intencional“ (ebd., S. 130).
4
Vgl. dazu Linda Simonis’ Charakterisierung der titelgebenden „ciudad ausente“ als Stadt, „deren Status […] auf eigentümliche Weise changiert, insofern sie zwischen realhistorischer Referenz – Buenos Aires während der Militärdiktatur – und imaginärem Phantasiegebilde in der Schwebe gehalten wird“ (Simonis, Linda: „Projekte und Umschriften der Abwesenheit. Ricardo Piglias La ciudad ausente im Horizont der Begriffstradition“, in: Tina-Karen Pusse (Hg.), Rhetoriken des Verschwindens, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 15-31, hier S. 21).
5
Die Bedeutung der Phantastik für den Roman wird nicht zuletzt durch die eingeschobene Geschichte La nena verdeutlicht, die eine klare metaliterarische Ebene hat und auf die Konstruktion des Textes als Ganzes verweist. In dieser wird die
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deren hervorragendstes Kennzeichen eben jene Unentscheidbarkeit ist, wie Todorov in seinen bekannten Ausführungen darstellt.6
DIE PHANTASTIK ZUR DARSTELLUNG EINES TOTALITÄREN REGIMES Ein Grund für die Anleihen, die Piglia für La ciudad ausente bei der Phantastik macht, erhellt sich durch folgende treffende Beschreibung des Genres durch Neus Rotger: „No hay espacio […] ni para la decisión ni para el azar: todo parece obedecer a una causalidad oculta que actúa con independencia de la razón. […] los personajes quedan reducidos al nivel de simples juguetes del destino.“7 Genau dieser Eindruck, nur ein ohnmächtiges Spielzeug zu sein, das der Gnade einer höheren Macht hilflos ausgeliefert ist, kennzeichnet auch das Lebensgefühl vieler Menschen in einem totalitären Regime, die sich von einer „causalidad oculta“ beherrscht sehen, da sie regelmäßig mit Verhaftungen, Hinrichtungen und Morden konfrontiert werden, die sich aus ihrem Kenntnisstand nicht erklären lassen. 8 Daraus resultiert eine grundlegende Verunsicherung, 9 die solche Regime ebenso wie die phantastische Literatur kennzeichnet, weshalb die Phantastik derart geeignet scheint, die unheimlich-bedrohliche Atmosphäre eines totalitären Terrorregimes einzufangen. Aus diesem Grund greift Piglia, ein dezidierter Gegner der
„Geschichte von Statue und Ring“ erzählt, ein Stoff, der gerade in der phantastischen Literatur eine lange Tradition hat. 6
Vgl. Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fatastique, Paris: Seuil 1970, insbesondere S. 29: „Le fantastique occupe le temps de cette incertitude ; dès qu’on choisit l’une ou l’autre réponse, on quitte le fantastique […]“ und S. 36: „L’hésitation du lecteur est donc la première condition du fantastique.“ (kursiv im Original).
7
Rotger, Neus: „Fronteras rotas: Una aproximación a la literatura fantástica“, in: Ana María Morales/José Miguel Sardiñas (Hg.), Rumbos de lo fantástico. Actualidad e historia, Palencia: Cálamo 2007, S. 233-244, hier S. 239.
8
Zudem verweist die „causalidad oculta“ erneut auf das uns in diesem Band interessierende Thema der Unsichtbarkeit, zumal das Regime selbst in Piglias Roman gänzlich ungreifbar bleibt und allein durch Polizisten und Folterknechte repräsentiert wird, deren leitende Hintermänner unbenannt und unbekannt bleiben.
9
Vgl. Morello, Henry James: „Time and Trauma in Ricardo Piglia’s The Absent City“, in: The Comparatist 37 (2013), S. 219-233, hier S. 228: „the expectation of safety is destroyed by the repressive state; the police grab seemingly random people off the street in front of witnesses“.
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Testimonialliteratur,10 auf dieses Genre zurück, um die Erfahrungen der Zeit nach dem „golpe militar“ fühlbar zu machen. Denn dass das argentinische Militärregime der Imagination Pate stand, wird nicht nur durch die extratextuelle Tatsache nahe gelegt, dass Piglia die Konzeption des Romans im Jahre 1982 und somit während der Militärdiktatur begann,11 sondern vor allem durch bedeutsame Elemente des Plots, die unmissverständlich auf diese dunkelste Epoche der jüngeren argentinischen Geschichte verweisen: Dies gilt insbesondere für die Internierung Elenas in eine vorgebliche Klinik, die sich rasch als hermetisch abgeriegeltes Folterzentrum erweist. Elena wird dort Verhören unterzogen, die informierte Lesende unmittelbar mit dem Vorgehen in den Geheimgefängnissen der Junta assoziieren müssen,12 vor allem da explizit von Elektroschocks gesprochen wird, welche die Foltermethode der „picana“ evozieren,13 und überdies ein Offizier in Marineuniform erwähnt wird14, welcher auf das wichtigste Folterzentrum der Diktatur, die ESMA, hindeutet. Generell wird ein Klima der totalen Überwachung und unerbittlichen Unterdrückung heraufbeschworen, das an Argentinien in den Jahren 1976-1983 denken lässt. Dies wird schon direkt zu Anfang deutlich, als Renzi, der Junior in die 10 Piglias Gegnerschaft gegen jede Form der realistischen Literatur bedingt auch in Teilen seine Bewunderung für Macedonio Fernández, dem er mit seinem Roman ein Denkmal setzt: „hay una relación con el modelo macedoniano de que la realidad no puede ser contada con los registros de la literatura realista.“ (Cselik, Ágnes: „Estructura narrativa de la novela La ciudad ausente de Ricardo Piglia“, in: Otro Lunes. Revista Hispanoamericana de Cultura 5 (2008) verfügbar unter http://otrolunes.com/archivos/05/html/ unos-escriben/unos-escriben-n05-a18-p01-2008.html). 11 Vgl. Quijano Velasco, Mónica: „Convergencias genéricas: anticipación y enigma en La ciudad ausente de Ricardo Piglia“, in: Cuadernos Americanos: Nueva Epoca 148 (2014), S. 87-104, hier S. 87. 12 Darauf weist allein schon die doppelt erwähnte Aufforderung „Quiero nombres y direcciones.“ des vermeintlichen Arztes Arana hin, wobei die Wiederholung zugleich das Insistieren während eines Verhörs evoziert (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 79/80). 13 Dies gilt umso mehr, als auf S. 160 ausdrücklich die „picana“ und ihre Einführung als Folterinstrument in Argentinien angesprochen werden. Zur bewussten Nähe zu den Folterungen während der Militärdiktatur vgl. Kantaris, Geoffrey: „Holograms and Simulacra: Bioy Casares, Subiela, Piglia“, (2001), verfügbar unter http://www.latinamerican.cam.ac.uk/culture/simulacra/ sowie Folger, Robert: „Der geschundene Körper und die (Ohn-)Macht des Erzählens in Ricardo Piglias La ciudad ausente“, in: Kurt Hahn/Matthias Hausmann/Christian Wehr (Hg.), ErzählMacht. Narrative Politiken des Imaginären, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 163-182, hier S. 179. 14 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 72.
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Zeitung einführt, alle dort Arbeitenden als „prisonieros“ bezeichnet.15 Die anderen Journalistinnen und Journalisten sind ihrerseits zunächst davon überzeugt, dass Junior für die Polizei arbeite, da anfänglich jede neue Bekanntschaft des Spitzeldienstes verdächtigt wird.16 Dieser Eindruck einer fortwährenden Überwachung wird weiterhin dadurch genährt, dass in der Stadt, auch bei Tag, durchgehend die Lichter brennen. Diese – wie auch spätere – Indizien für eine allumfassende Bespitzelung der Bürgerinnen und Bürger sind stets nur en passant in die Schilderungen eingeflochten, wodurch das Bild des totalitären Staats höchst beiläufig entsteht. Damit weist Piglia auf ein Wesensmerkmal der Militärdiktatur hin, das sich erneut mit der hier vorgestellten These und dem Thema des Bands verbindet und das der Autor in nicht-fiktionalen Überlegungen zum Regime beschreibt, als er den „efecto siniestro de esa doble realidad que era la clave de la dictadura“ festhält: „La amenaza explícita pero invisible que fue uno de los objetivos de la represión.“17 Diese scheinbar beiläufige Beschreibung verdeutlicht überdies, dass sich alle Figuren längst an diesen Zustand gewöhnt haben. Hier kann man auf die vorher erwähnte bewusst unklare Zeitlichkeit zurückzukommen, denn diese bedient in diesem Kontext noch einen Nebeneffekt: Sie verweist gleichermaßen auf den Versuch totalitärer Regime, eine eigene Zeitlichkeit zu etablieren, wie, und dies wohl noch entschiedener, auf das Gefühl der vermeintlichen Endlosigkeit solcher Regime aus Sicht der Unterdrückten. Eine Strategie, um auf diese scheinbar endlose Willkürherrschaft18 zu reagieren, ist die Verstellung, die zu einem allgemeinen Verhaltensmuster geworden ist, wie Junior anmerkt: „Cada uno fingía ser una persona distinta.“19 Doch diese 15 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 10. 16 Dieses Gefühl, unter permanenter Überwachung zu stehen, wird nicht nur wenig später in einem Dialog von Renzi und Junior, in welchem sie ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass jeder für die Polizei arbeite (vgl. ebd., S. 17), erneut aufgenommen, sondern auch in der eingelegten Geschichte Nudos blancos mehrfach thematisiert (vgl. etwa S. 74: „Nos vigilan a todos.“ sowie S. 77: „Tal vez era un policía. Todos trabajan para los servicios...“). Schließlich greift auch Russo in seinem Gespräch mit Junior den Topos der unaufhörlichen Überwachung auf (ebd., S. 143): „hay micrófonos y cámaras ocultas y policías por todos lados, todo el tiempo nos vigilan y nos graban.“ 17 Piglia, Ricardo: „Los relatos sociales“, in: Ders. (Hg.), Crítica y ficción, Buenos Aires: Seix Barral (2000), S. 109-116, hier S. 115 (Hervorhebung M.H.). 18 Die Willkürherrschaft prägt insbesondere das Schicksal Russos, der „sin motivo“ von der Polizei gesucht wird, wie seine Frau ausführt (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 115). 19 Ebd., S.14. Dass dies zu einem gewohnheitsmäßigen Verhalten geworden ist, wird schon durch die Tatsache nahegelegt, dass Elena während ihres erzwungenen Klinikaufenthalts nahezu wörtlich dasselbe sagt (S. 75: „Todos fingen y son otros.“).
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Taktik des Widerstands führt, gemeinsam mit dem Verdacht, von Polizeispitzeln umgeben zu sein, zugleich dazu, dass alle allen misstrauen. Hier – wie auch in anderen Aspekten, die noch erörtert werden, – wirkt Piglias Roman wie eine fiktionale Ausarbeitung der Thesen Hannah Arendts zum totalitären Staat. Diese hält unter anderem fest, dass „[d]ieser universalen Verdächtigkeit [...] ein nicht weniger universales Mißtrauen [entspricht], das mehr als alles andere alle menschlichen Beziehungen in der totalitären Gesellschaft unterminiert“20, was man in Piglias Text veranschaulicht sieht, indem allumfassendes gegenseitiges Misstrauen die Atmosphäre der kaum greifbaren Stadt bestimmt und „[j]eder [...] gleichsam zum Polizeiagenten seines Nächsten geworden“ ist.21 Überdies führt uns dieser ausgeprägte Argwohn aller gegenüber allen zur Gattung der Phantastik zurück, denn in seinem Versuch, die Theorie Todorovs zu präzisieren und fortzuführen, schlägt Uwe Durst u.a. vor, den Aspekt des Zweifels von der problematischen Kategorie des impliziten Lesers auf die Erzählinstanz(en) zu übertragen, und hält fest: „Die Destabilisierung des Erzählers […] ist die Basis phantastischer Literatur.“22 Eine derartige „Destabilisierung“ ist in La ciudad ausente bei allen auftretenden Figuren, die nahezu alle auch als Erzähler fungieren, stark ausgearbeitet. So bezeichnet etwa Junior seine Kontaktleute als „una serie de maniácticos“23, und schon die erste Informantin, die wir kennenlernen, scheint diese Vorbehalte zu bestätigen: Lucía, die Junior in einem abgedunkelten Hotelzimmer trifft, räumt ein, dass sie früher heroinabhängig war und jetzt Alkoholikerin ist. Zudem bezeichnet sie sich selbst als „medio loca“24, was ihre ohnehin schon prekäre Glaubwürdigkeit noch weiter in Misskredit bringt und starke Zweifel an ihren Ausführungen aufkommen lässt. 25
Endgültig belegen Russos Erläuterungen, wie (überlebens-)wichtig und weit verbreitet das Sich-Verstellen in der diegetischen Welt ist (S. 115). 20 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M.: EVA 1955, S. 682. 21 Ebd. 22 Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur, 2. Aufl., Berlin: LIT 2007, S. 198. 23 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 13. 24 Ebd., S. 28. 25 Diese Zweifel gelten auch für eine der zentralen Figuren des Widerstands, den Ingenieur Russo, der von vielen als verrückt angesehen wird (ebd., S. 107). Dass er überdies in einer Nervenheilanstalt war, da er einen unerklärlichen Mord verübt hat (vgl. S. 108/110), taucht den Widerstand insgesamt in ein problematisches Licht und bereitet negative Deutungen (der Widerstand als unmenschlich oder als reine Täuschung, vgl. unten) vor.
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Auch der Protagonist selbst kann von derartigen Vorbehalten an seiner Zuverlässigkeit nicht ausgenommen werden, worauf bereits die Charakterisierung durch seinen Kollegen Renzi hindeutet, der ihn zu Beginn des Textes als „loco“ bezeichnet.26 Diese Fremdcharakterisierung scheint sich in vielen der Verhaltensweisen Juniors zu bestätigen, der nicht nur zu Gewaltausbrüchen neigt,27 sondern generell oft ein reichlich seltsames Verhalten an den Tag legt, das Zweifel an seinem Geisteszustand nährt. So ist man geneigt zu konstatieren, dass keiner Figur in der fiktionalen Welt zu trauen ist, wodurch sich einerseits die Phantastik als Darstellungsmodus besonders anbietet und andererseits insinuiert wird, dass diese universelle Unsicherheit eine unmittelbare Folge des totalitären Regimes ist.
SPRACHLOSIGKEIT UND TRAUMATA Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit aller auftretenden Figuren ist umso wichtiger, da fast alle von ihnen auch Erzählinstanzen sind. Dabei wird von Anfang an eine extreme Verschachtelung der Erzählungen inszeniert, die als wesentliches Strukturprinzip des Romans zu bezeichnen ist. Immer wieder wird erzählt, was von anderen erzählt wurde, die es wiederum von anderen Personen erfahren haben, wobei die Überlagerung der Stimmen oft derart kunstvoll erfolgt, dass mehrfach nicht mehr klar auszumachen ist, wer gerade spricht. Im Lichte der getroffenen Beobachtungen ist diese Struktur als Spiegelung der Furcht der Figuren lesbar, die sich vor Verfolgungen durch das Regime schützen wollen, indem
26 Ebd., S. 10. Renzis Zweifel an Juniors geistiger Gesundheit werden später sogar noch stärker prononciert, als er festhält (ebd., S. 11): „El padre de Junior era como Junior, un delirante y acomplejado [...] Quería [...] vivir como un lunático en un mundo desconocido.“ 27 So quält er die Katze des Hotelconcierge (ebd., S. 20), was auf die späteren Folterungen des Regimes vorverweist und eine von vielen Spiegelungen bedeutet, die den Text durchziehen.
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sie eindeutige Stellungnahmen vermeiden und sich stets hinter anderen verschanzen. Diese Furcht kulminiert schließlich in einer allgemeinen Sprachlosigkeit, die Junior28 konstatiert: „Nadie decía nada.“29 Dieser Kommentar verdeutlicht eine wesentliche Facette der Stadtdarstellung in Piglias Text, der immer wieder vor Augen führt, dass sein dystopisch-verzerrtes Buenos Aires eine genuin der Stadt zukommende Aufgabe nicht mehr erfüllen kann: Diese Stadt ist kein Kommunikationsraum mehr. Hier lohnt es erneut, auf die Thesen von Hannah Arendt zurückzukommen, die sich als wertvoller Schlüssel zu Piglias Roman und dessen Darstellung des Totalitarismus erweisen. 30 Arendt beschreibt luzide, wie der Mensch der Kommunikation mit seinen Mitmenschen bedarf und eben dies durch das totalitäre Regime verhindert wird, da man sich aufgrund des Klimas der alles durchdringenden Angst nicht mehr traut, mit den anderen zu sprechen.31 Genau dies ist in Piglias Buenos Aires festzustellen, das zu einem sprachlosen Raum geworden ist, welcher die grundlegende
28 Oder der Erzähler? Hier sieht man sich vor einem von zahlreichen Beispielen einer bewussten Verunklarung der diegetischen Ebenen, da es unmöglich scheint, diese Aussage der Figur Junior oder dem Erzähler sicher zuzuweisen. 29 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 14. Dies verweist bereits auf die Traumata, auf die wir gleich noch näher eingehen, wobei der enge Zusammenhang zwischen Angst und Trauma von Morello herausgestellt wird, der verdeutlicht, dass sich gewissermaßen eine Angstspirale bildet und die Furcht vor weiteren Traumata zum Verstummen führt (H. Morello: „Time and Trauma“, S. 221): „If the person (or the state) on whom (on which) the trauma sufferer depends suspects that they are retelling those memories, the sufferer’s treatment may become harsher or may even result in death.“ 30 Dass Piglia die Darstellung eines totalitären Staats im Sinn hatte, legt u.a. ein Kommentar aus seinem vorhergehenden Roman Respiración artificial nahe, in welchem Kafkas Prozeß als der Roman par excellence über ein totalitäres Regime gewertet wird (Piglia, Ricardo: Respiración artificial, Barcelona: Anagrama 2001, S. 210): „Esta novela presenta de un modo alucinante el modelo clásico del Estado convertido en instrumento de terror. Describe la maquinaria anónima de un mundo donde todos pueden ser acusados y culpables, la siniestra inseguridad que el totalitarismo insinúa en la vida de los hombres.“ Eben diese Elemente, die auch ein Herzstück der Überlegungen Arendts bilden, setzt Piglia nun seinerseits in La ciudad ausente um, was die Frage berechtigt scheinen lässt, ob er mit diesem Roman auch Kafka nacheifern und seine eigene Darstellung des Staatsterrors liefern will. Dies scheint umso stichhaltiger, als weitere Verbindungen zu Kafka aufscheinen, auf die wir noch eingehen werden. 31 Vgl. H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 689f.
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Isolierung der Menschen manifest werden lässt, die nach Arendt ein zentrales Charakteristikum des sich auf den Terror stützenden totalitären Staats darstellt: „Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Frei-heit alle Beziehungen zwischen den Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert.“32 Diese komplette Isolation, „die Erfahrung der Verlassenheit“, die man mit Arendt als „Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins“ in totalitären Regimen werten kann,33 stellt Junior bei den Bewohnenden seiner Stadt fest, wenn er kommentiert: „Todos parecían vivir en mundos paralelos, sin conexión.“34 Just in diese Lücke zwischenmenschlichen Kontakts stößt die Erzählmaschine, deren Vorgehen auf den folgenden Seiten näher erläutert wird, wobei direkt eine von vielen letztlich unaufgelöst bleibenden Fragen vorausgeschickt sei, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängt und die Ambivalenzen des Textes schlaglichtartig beleuchtet: Kann eine Maschine menschliche Kommunikation ersetzen und, mehr noch, kann sie einen echten Beitrag zur Aufarbeitung menschlicher Traumata leisten? Denn dass es dem Text wesentlich um Traumata geht, wird von Seite zu Seite offenkundiger, werden doch seine Leserinnen und Leser immer unmissverständlicher darauf gestoßen, dass in dem kommentierten aus Angst geborenen „Nicht-Sagen“ zugleich ein „Nicht-Sagen-Können“ mitschwingt, das auf eine weitere unmittelbare Folge des Militärregimes verweist und aus anderer Perspektive erklärt, warum so viele Figuren schweigen. Junior ist fortwährend mit Traumata konfrontiert, da seine Informantinnen und Informanten nicht nur allesamt unzuverlässig, sondern in der Regel auch schwer traumatisiert sind (wobei zweiteres ersteres bedingt). Hierfür können wir auf die erste Informantin, Lucía, zurückkommen, die nicht nur ein paradigmatisches Beispiel für eine unzuverlässige Erzählerin ist, sondern zugleich extreme Gewalterfahrungen erlebt hat, wie ihr von Narben übersäter Körper bezeugt35 – und hierin, und weniger in Alkoholoder Drogenexzessen, muss man den Grund für ihre unzusammenhängenden Äußerungen sehen. Das hier nur angedeutete Trauma wird in den von der Maschine produzierten Geschichten deutlicher, wobei die erste wiedergegebene einen eigenen Blick verdient, da sie das eben thematisierte „Nicht-Sprechen-Können“ besonders prononciert. Sie wird von Juniors Kollegen Renzi als Geschichte „de un hombre
32 Ebd., S. 745 (Kursivierung im Original). 33 Vgl. ebd., S. 750. 34 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 14. 35 Ebenso ist später Julias Körper voller Narben, was für systematische Folterungen weiter Teile der Bevölkerung spricht
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que no tiene palabras para nombrar el horror“36 eingeführt, was sich in der Erzählung unmittelbar bestätigt, in welcher der Ich-Erzähler auf die Probleme verweist, die eigene Geschichte zu erzählen. Dabei legt sein nachfolgender Bericht nahe, dass es vor allem das Grauen ist, das er erleben musste, das ihm die Fähigkeit zur genauen Erzählung genommen hat. Hiermit ist ein grundlegendes Thema des Romans angesprochen, der zu verdeutlichen sucht, wie Traumata den Menschen die Sprache rauben. Daher ist es wichtig, dass diese Geschichte von einem „testigo“ erzählt wird, der gar nicht in der Lage ist, wirklich Zeugnis abzulegen – und schon gar nicht, die Urheber der Verbrechen zu benennen. Man sieht sich wie in der Rahmenhandlung mit einer anonymen Gewalt konfrontiert, und es tritt erneut zutage, dass die Sprachlosigkeit, die zur „unsichtbaren Stadt“ wie dem „unsichtbaren Regime“ im Roman führt, eine (bewusst nahezu „wortlose“) Antwort Piglias auf das Problem darstellt, Traumata in Worte zu fassen.37
DER KAMPF GEGEN DIE ETABLIERUNG EINER EINZIGEN, MONOLITHISCHEN WAHRHEIT Wird mithin die Unfähigkeit, dem erlebten Schrecken Ausdruck zu verleihen,38 bereits in der ersten eingelegten Geschichte deutlich, so legt der Text parallel eine Gegenstrategie gegen die diesen Schrecken permanent hervorbringenden Machthabenden nahe: Die sich überallhin ausbreitende Sprache, die einen dezidierten Gegenpol zum Schweigen bildet, wird zu einem Mittel gegen das Regime, ja zum einzigen Gegenmittel. Damit muss man auf die Erzählmaschine blicken, die einen zentralen Pfeiler des Regimes attackiert, für das die alleinige Existenz seiner Version der Wahrheit überragende Bedeutung besitzt. Dies belegt paradigmatisch die Aussage eines Polizeibeamten gegenüber Junior, in welcher eine prononcierte Isotopie der Wahrheit und Realität ausgestellt und auf der Seite der staatlichen Institutionen verortet wird, während alles Gegenläufige nur „fantasía“ sein könne:
36 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 17. 37 Damit greift Piglia ein Thema auf, das er in seinem vorangegangenen Roman Respiración artificial bereits angesprochen hatte (R. Piglia: Respiración artificial, S. 214f.): „¿Cómo hablar de lo indecible? Ésa es la pregunta que la obra de Kafka trata.“ Überdies scheint so auch erneut der schon erwähnte Kafka-Bezug auf, der in La ciudad ausente stark ausgeprägt ist (vgl. dazu Anm. 30 oben). 38 Vgl. dazu auch die Ausführungen Robert Folgers, der den Roman als „eine Inszenierung des Scheiterns des Narrativen im Angesicht dessen, worüber man nicht sprechen kann“ sieht (R. Folgers: „Der geschundene Körper“, S. 164).
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„La policía [...] está completamente alejada de las fantasías, nosotros somos la realidad y obtenemos todo el tiempo confesiones y revelaciones verdaderas. Sólo estamos atentos a los hechos. Somos servidores de la verdad.“39 Gegen diese Implementierung einer einzigen, monolithischen Wahrheit seitens der Herrschenden wendet sich die Erzählmaschine, die mit ihrem unaufhaltsamen polyphonen Strom von Geschichten diejenigen Facetten ins Spiel bringt, die sonst keinen Raum mehr haben.40 In diesem Zusammenhang kommt der dystopischen Verfremdung von Buenos Aires erneut Bedeutung zu, da diese an Orwells 1984 denken lässt, wo bekanntermaßen eine Sprache vorgeführt wird, die jedwede Zweideutigkeit verhindert, um keinerlei Angriffsmöglichkeit gegen die eine eingeführte „Wahrheit“ zu erlauben. So weit ist es zwar in Piglias diegetischem Universum noch nicht, aber die Absicht der dort herrschenden Machthaber ist dieselbe, weshalb sie die letzte verbliebene Widerstandsstimme eliminieren wollen. Da sie zunächst keine Möglichkeit finden, die Maschine abzuschalten, bringen sie sie in ein Museum, was eine interessante Verbindung zu Überlegungen von Michel de Certeau eröffnet, der ausführt, dass „là où les récits disparaissent (ou bien se dégradent en objets muséographiques), il y a perte d’espace: privé de narrations [...], le groupe ou l’individu régresse vers l’expérience, inquiétante, fataliste, d’une totalité informe, indistincte, nocturne“41. Eben dies kann man in Piglias Roman feststellen, in dem die Machthabenden alles versuchen, um Literatur zu „musealisieren“ und ihrer Kraft zu berauben. Der Hinweis auf Certeau scheint auch von daher angezeigt, da die Gegnerinnen und Gegner des Regimes mit dem Erzählen eine explizit von ihm genannte „Taktik“ einsetzen, um sich gegen das Regime und dessen Strategie zu behaupten, welche überdies auf Überlegungen Hannah Arendt verweist. Diese merkt an, dass der Terror das Vergessen erzwingt,42 was die unbedingte Notwendigkeit einer Gegenstimme indiziert. Als diese Gegenstimme fungiert die Erzählmaschine, die eine „batalla narrativa“ gegen das Regime führt,43 wobei ein Kommentar Juniors zu einer ihrer Geschichten (La nena) als Aussage zu ihrer generellen Funktion lesbar wird. Denn 39 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 96. 40 Natürlich ist hier auch die Tätigkeit Juniors zu erwähnen, der nicht zufällig Journalist ist und damit einen Beruf ausübt, dessen Wesenskern darin besteht, vereinheitlichenden Diskursen entgegenzuwirken und seine Stimme zu erheben, wo die Machthaber Schweigen einfordern. 41 De Certeau, Michel: L’invention du quotidien 1. Arts de faire, Paris: Gallimard 1990, S. 182 (Hervorhebung M.H.). 42 Vgl. H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 700. 43 M. Quijano: „Convergencias genéricas“, S. 93.
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wenn der Journalist festhält, dass „[n]arrar era darle vida a una estatua, hace vivir a quien tiene miedo de vivir“44, so gilt das mit-nichten nur für die kommentierte Geschichte, sondern für die Maschine an sich, die denen Mut gibt, die diesen schon verloren haben, und vor allem denen eine Sprache leiht, die keine mehr haben – wobei sich das Wort „estatua“ auf die Traumatisierten beziehen lässt, die nicht mehr zum sprachlichen Ausdruck finden, und mithin die Statuen der metadiegetischen Ebene die allumfassende, durch Traumata ausgelöste Aphasie der intradiegetischen Ebene spiegeln.45 Diesen traumatisierten Personen gibt die Maschine neue Hoffnung, indem sie das Regime mittels Erzählungen destabilisiert. Dabei ist entscheidend, dass ihr endloser Strom produzierter Geschichten es dem Staat nicht mehr erlaubt, zwischen dem „Wahren“ und dem „Falschen“ zu trennen,46 wie etwa der Museums-wächter Fuyita erläutert: „La máquina ha logrado infiltrarse en sus redes, ya no distinguen la historia cierta de las versiones falsas.“47 Gerade indem die Geschichten der Maschine „borran las fronteras entre lo verdadero y lo falso“48, stellen sie ein Problem für den Staat und sein Bestreben dar, nur eine anerkannte Realität zu etablieren, in der unzweideutig klar ist, was wahr und was falsch ist,49 denn eine solche setzt die Möglichkeit voraus, überhaupt zwischen wahr und falsch entscheiden zu können, wie Joanna Page richtig feststellt:
44 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 59. 45 Hier ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Einteilung der Erzählebenen in Extra-, Intra- und Metadiegese in Piglias Roman nur eine notwendigerweise unpräzise Annäherung sein kann, da die Ebenen bewusst verschwimmen und oft nicht mehr genau zu greifen ist, was auf welcher Ebene liegt. Dies wird insbesondere durch den unten zu vertiefenden Zweifel verschärft, ob nicht die vermeintliche Rahmengeschichte selbst nur eine Erzählung der Maschine ist. Zum anderen ist zu ergänzen, dass man gerade La nena auf Traumata und ihre Überwindung beziehen kann, da im Zentrum der Erzählung die ewige Wiederholung der immer selben Geschichte steht – und Wiederholung ist zentral für den Rekonstruktionsprozess, der Traumata überwinden lässt (vgl. H. Morello: „Time and Trauma“, S. 226: „Reconstruction begins with repetition.“). 46 Diese Trennung zwischen „wahr“ und „falsch“ kontrollieren die staatlichen Behörden beständig, wofür die „Routinefrage“ nach dem Sieger im Malvinaskrieg das eindrücklichste Beispiel darstellt (vgl. R. Piglia: La ciudad ausente, S. 94). 47 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 63. 48 M. Quijano: „Convergencias genéricas“, S. 98. 49 Dass dies das erklärte Ziel des Staates ist, wird u.a. durch eine Aussage von Russo klar: „Tienen todo controlado y han fundado el Estado mental [...] que es una nueva etapa en la historia de las instituciones. El Estado mental, la realidad imaginaria, todos pensamos
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„It is not simply in the state’s interests to insist upon its own versions of truth as being ‚real‘ and others ‚false‘, but also to maintain the principle that allows any such distinction to be made. Thus resistance cannot simply take the form of denouncing the state’s versions as fictitious rather than real, as this complies with the very distinction imposed by the state.“50
Eben dies verhindert die Maschine, da durch ihren Fluss von Geschichten laut Simonis „die Differenz von Original und Kopie, von Fakten und Fiktion, verwischt, ja ununterscheidbar wird“51. Und dieses Kriterium des „Ununterscheidbaren“, das die Geschichten zu einem so mächtigen Widerstandsinstrument macht, bringt uns zur Gattung der Phantastik zurück. Diese unterläuft durch ihr originäres Wesen Binarismen wie die für den totalitären Staat notwendige scharfe Trennung von „richtig“ und „falsch“ und präsentiert unentscheidbare Varianten, wodurch sie sich als besonders geeignet erweist, um „totalitäre Einheitsdiskurse“ zu unterminieren. Damit dient die Phantastik also einerseits als Darstellungsmodus der Auswirkung des Regimes, wird aber andererseits ebenso als Mittel des Widerstands gegen ein solches präsentiert.
DIE AMBIVALENZEN DER ERZÄHLMASCHINE In diesem Zusammenhang wollen wir noch einmal auf das Verunklaren des Handlungsorts und die mit ihm verbundene nicht nachvollziehbare Chronologie der Haupthandlung zurückkommen: Hier finden sich eben jene „imprecisiones“, die auch die von der Maschine produzierten Binnengeschichten charakterisieren, wie Junior bemerkt: „Las imprecisiones formaban parte de la construcción de la historia. No se podía ajustar a un tiempo fijo y el espacio era indeciso y a la vez detallado con precisión minuciosa.“52 Genau dies gilt für den Roman als Ganzes, dessen Handlungszeit nicht zu fassen ist und dessen Handlungsort zwar einerseits ein mit vielen Details beschriebenes Buenos Aires zu sein scheint, sich aber dennoch gegen eine Festlegung auf diesen konkreten Ort sperrt.
como ellos piensan y nos imaginamos lo que ellos quieren que imaginemos.“ (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 144). 50 J. Page: „Writing as resistance“, S. 347. 51 L. Simonis: „Projekte und Umschriften“, S. 29. Diese Unentscheidbarkeit der Geschichten der Maschine wird bereits anhand der ersten eingelegten Geschichten vorgeführt, über die Renzi sagt: „Alguno dicen que es falso, otros dicen que es la pura verdad.“ (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 17). 52 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 100.
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Wenn man auf diese, auch in vielen anderen Punkten spürbare, Verbindung der Binnengeschichten mit dem Roman blickt, muss man sogleich anmerken, dass die Phantastik ihren Höhepunkt in der die Binnenerzählungen hervorbringenden Maschine erreicht: Sie ist das wichtigste phantastische Element des Romans, erst sie rechtfertigt überhaupt seine Einordnung in das Genre der Phantastik, denn die bisher so oft beschworene Unentscheidbarkeit muss nach Todorov ja zwischen zwei Optionen bestehen, von denen die eine nicht mit den uns bekannten Naturgesetzen vereinbar ist, und eben dies gilt für die Existenz der Maschine in der evozierten Form: Eine Mensch-Maschine-Kombination, die die Seele einer verstorbenen Frau enthält und dieser ein ewiges Leben erlaubt, das mit einem ewigen Erzählen einhergeht, widerspricht unseren Kenntnissen und ist nur als ein Eintreten des Übernatürlichen in unsere Welt zu werten. Dass dieser „wunderbaren“ Erklärung eine rationale gegenübersteht, wird weiter unten ausgeführt, doch vorher sei erläutert, dass auch die Maschine – analog zu der Stadt, in der sie sich befindet, und dem Regime, gegen das sie sich wendet – „unsichtbar“ bleibt: Sie wird nie näher beschrieben, und ihre äußerliche Form bleibt ebenso unklar wie ihr Funktionsmechanismus.53 Dabei deutet diese Vagheit der äußeren Gestalt wie der inneren Struktur der Maschine bereits einige wesentliche Ambivalenzen an, die sich mit ihr verbinden.54 Zunächst ist zu nennen, dass sich die Maschine ob ihres erzählerischen Widerstands und ihres weiblichen Ursprungs literaturhistorisch natürlich mit Scheherazade verbindet, die überdies im Text explizit genannt wird.55 Allerdings führt Piglia eine Änderung gegenüber dem Hypotext ein, die kaum überschätzt werden kann: Triumphiert die Scheherazade von Tausendundeiner Nacht am Ende und beginnt eine neue, friedliche und freudvolle Existenz, so bleibt dies Piglias Erzählmaschine auf radikale Weise verwehrt: Ihre Existenz ist eine einzige Qual ohne jede Hoffnung auf Besserung. Ihre schrecklichen Erfahrungen werden insbesondere in einer der eingelegten Geschichten offengelegt, die ihr eigenes Schicksal andeutet und dabei zugleich die Unterdrückung durch den Staat am deutlichsten zutage treten lässt: In Los nudos blancos wird die schon einmal kurz erwähnte Elena vorgestellt, eine Frau, die glaubt, ihr Gehirn (oder gar ihre Seele) 53 Zwar gibt es einige Definitionsversuche und Metaphern für die Maschine, wie diejenigen von Renzi und Macedonio (ebd. S. 17 und S. 41f.), aber diese erklären letztlich nichts. 54 Vgl. auch Mesa Gancedo, Daniel: Extraños semejantes. El personaje artificial y el artefacto narrativo en la literatura hispanoamericana, Zaragoza: Prensas Univ. de Zaragoza 2002, S. 326: „La ambigüedad tiñe tanto el relato de los orígenes como la descripción de la forma de la máquina (¿humana o no?).“ 55 Vgl. R. Piglia: La ciudad ausente, S. 46.
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sei in eine Maschine eingepflanzt worden, und die Experimente an ihrem Gehirn durch den diabolischen Arzt Arana erdulden muss. Dieser nutzt ihren traumatisierten Zustand, der derartige Eingriffe begünstigt, wie Morello hervorhebt: „memory is vulnerable to manipulation under the best circumstances but all the more so when an individual or community has suffered from a traumatic event that creates gaps in their personal and/or the collective narrative.“56 Im Lichte der besprochenen Facetten des Regimes kann dies nicht anders gedeutet werden, als dass der Geist der Therapierten dergestalt kontrolliert werden soll, dass keinerlei Abweichungen von der vom Regime als „real“ vorgegebenen Wahrheit mehr möglich sind.57 Diese bewusste Manipulation der Persönlichkeitsstruktur kann erneut mit den großen Anti-Utopien in Zusammenhang gebracht werden, und speziell mit der finalen OP in Samjatins Wir, in der jegliches individuelles Gedankengut vernichtet wird. Dass die anfangs für das Regime so bedrohlich scheinende Maschine derartigen Qualen ausgesetzt ist, ja dass man auch ihr ein Trauma attestieren muss, verdeutlicht schließlich ihr finaler Monolog, der programmatisch mit der übergroßen Angst einsetzt, die ihre Existenz bestimmt: „est[oy] demasiado asustada“58. Wenig später erklärt die Maschine, dass „en el recuerdo [...] hay que evitar ciertos lugares a medida que se atraviesa el pasado con el ojo de la cámara, quien se mira en esa pantalla pierde la esperanza“59, was nur allzu deutlich auf tief greifende traumatische Erfahrungen verweist. Diese Traumata, die die Maschine in gewisser Weise mit den machtlosen Verfolgten des Regimes gleichsetzt, säen einen ersten Zweifel an ihrer scheinbaren Machtposition und rücken überdies die bedeutenden Ambivalenzen noch stärker ins Licht, welche sich mit ihr verbinden. Deren wichtigste ist unauflöslich mit ihrer Hauptaufgabe, dem Erzählen, verknüpft: Dieses ist nämlich nicht nur die Form des Widerstands, wie sie ihn vorführt, sondern
56 H. Morello: „Time and Trauma“, S. 223. Daher wendet sich Arana auch speziell den Erinnerungen seiner Opfer zu (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 71): „Hay que actuar sobre la memoria.“ 57 Dies kann wiederum direkt mit der argentinischen Militärdiktatur in Zusammenhang gebracht werden, wie eine Aussage Morellos verdeutlicht („Time and Trauma“, S. 223): „During the Dirty War in Argentina, the state apparatus, with its policy of imprisonment, exile, and murder, had a monopoly on information and could easily manipulate it to fill the fissures caused by traumatic events, thereby creating false history.“ 58 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 156. 59 Ebd., S. 159.
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gleichermaßen die Waffe des bekämpften Regimes, mit dem dieses die für seinen Fortbestand essentielle einheitliche „Wahrheit“ konstruiert.60 Darauf verweist Piglia selbst mit Nachdruck in nicht-fiktionalen Texten, die sich gleichsam wie Ergänzungen seines Romans lesen; so führt er in einem Interview, das in seine wichtige Sammlung Crítica y ficción integriert ist, aus, dass der Staat – gerade in einer Diktatur – zu „una máquina de hace creer“ wird,61 womit er das Konzept der Fiktionen hervorbringenden Maschine, das in seinem Roman auf der Seite des Widerstands steht, auf der Seite der totalitären Macht verortet.62 Diese Verbindung von essayistischen Überlegungen in der außerfiktionalen Welt und Aspekten des Romans, die die Ambivalenz des Erzählens in La ciudad ausente scharf ausleuchtet, setzt sich darin fort, dass Piglia in diesem für seine Poetik höchst erhellenden Interview festhält, dass die Fiktionen, die ein Staat bewusst produziert, der eigentlichen Literatur, zumindest der argentinischen, in vielen Fällen überlegen seien: „Por momentos la ficción del Estado aventaja a la novela argentina. Los servicios de información manejan técnicas narrativas más novelescas y eficaces que la mayoría de los novelistas argentinos.“63 Dieser Gedanke findet sich, nur wenig abgewandelt und sogar noch ausgeweitet, in La ciudad ausente, als die Maschine selbst die ihr überlieferte Überzeugung äußert, dass „la policía y la denominada justicia han hecho más por el avance del arte del relato que todos los escritores a lo largo de la historia“ 64, womit aufscheint, dass die Lügen und manipulierenden Wahrheitskonstruktionen totalitärer Machthabender der sich im Wesen der, ja von einem großen Autor entworfenen, Maschine kondensierenden Literatur ein entscheidendes Stück voraus sein könnten – und mithin ein weiterer schwerer Zweifel an den Erfolgsaussichten ihres erzählerischen Widerstands gesät wird. 60 Vgl. speziell zu dieser Problematik den Aufsatz von Joanna Page, die auf die generelle Ambivalenz des Erzählens in Piglias Roman hinweist und u.a. festhält (J. Page: „Writing as resistance“, S. 349): „Language and the act of narration are, for Piglia, intrinsically undecidable in precisely this manner. [...] Language kills, but also, paradoxically, revives.“ In dieser Ambivalenz folgt Piglia – wie so oft – Macedonio Fernández, denn dieser zeige, wie „[l]a novela mantiene relaciones cifradas con las maquinaciones del poder, las reproduce, usa sus formas, construye su contrafigura utópica.“ (Piglia, Ricardo: „Ficción y política en la literatura argentina“, in: Ders., (Hg.), Crítica y ficción (2000), S. 130). 61 R. Piglia: „Los relatos sociales“, S. 113. 62 Dies ist überdies ein weiteres Indiz für die unten angesprochene Möglichkeit, dass die Maschine nur eine Erfindung des Regimes ist. 63 R. Piglia: „Los relatos sociales“, S. 114. 64 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 158.
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Diese generelle Ambivalenz des Erzählens lässt nach den genauen Umständen der Erfindung der Maschine fragen, und in einer aufmerksamen Lektüre wird Macedonios Versuch, seine Frau durch die Transferierung ihrer Erinnerungen in eine Maschine vor dem Tod zu bewahren, nicht allein als Ausdruck bedingungsloser romantischer Liebe und als Akt des Widerstands gegen das Regime verstehbar,65 sondern offenbart höchst problematische Aspekte, was wiederum nicht zuletzt durch einen Vergleich mit einer der eingelegten Geschichten, in diesem Fall La nena verständlich wird, wie Joanna Page festhält: „As the child is in many senses Elena’s double, we might also draw a parallel with Elena’s own predicament. Macedonio’s revival of her in the form of the storytelling machine is a morally undecidable act: he condemns her to inhabit the space of his memory of her and to narrate, in spite of herself.“66
Es wäre möglich, sogar noch einen Schritt weiterzugehen, denn der Text deutet einen weiteren impliziten Ursprung einer Erzählmaschine an: Wie Robert Folger scharfsichtig herausarbeitet, verwandelt die Folter (die den Roman leitmotivisch durchzieht, auch wenn sie ihm stets nur implizit eingeschrieben steht 67) den Körper des Opfers mittels der durch grausame Schmerzen erpressten Geständnisse in eine Erzählmaschine.68 Aufgrund dieser Deutung ist zudem so bedeutsam, dass die Erzählmaschine eben keine reine Maschine ist, sondern von einem Menschen, einem Körper ausgeht, wie gerade Los nudos blancos unterstreicht, wo dem Körper kapitale Bedeutung zukommt.69 Diese Bedeutung des Körpers wird im Roman selbst angesprochen und in einen Gegensatz zur reinen Erzählung gebracht, als 65 Wie Russo hervorhebt: (R. Piglia: ebd., S. 142f.): „Hay que resistir. Nosotros tratamos de construir una réplica microscópica, una máquina de defensa femenina, contra las experiencias y los experimentos y las mentiras del Estado.“ 66 J. Page: „Writing as resistance“, S. 350. 67 Explizit nennt sie allein Russo, nämlich als Höhepunkt der staatlichen Politik, alles über jeden zu erfahren (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 143: „La tortura es la culminación de esa aspiración al saber.“), und in der Folge durchzieht das Wort „tortura“ seine Ausführungen, wodurch es zum Ende des Romans besonderes Gewicht bekommt. 68 Zu dieser Deutung vgl. R. Folger: „Der geschundene Körper“, S. 173. In diesem Licht bekommen die eingelegten Geschichten in Teilen ein anderes Gesicht, denn wenn in La nena das titelgebende Mädchen wiederum mit einer Maschine verglichen wird, so spiegelt dies die Erzählmaschine und die Verdinglichung der Frau, die mit der Folter verbunden werden kann, zumal die Geschichte sich gänzlich um den Versuch dreht, das Mädchen „zum Sprechen zu bringen“. 69 Vgl. auch H. Morello: „Time and Trauma“, S. 225.
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Russo festhält: „Pero la vida no está hecha sólo de palabras, está también por desgracia hecha de cuerpos.“70 Mithin wäre zu fragen, ob Macedonios Handlung nicht nur „indecidable“ ist, sondern gar deutlich zum negativen Pol ausschlägt, was eine Parallele zwischen dem Vorgehen Macedonios und dem Aranas zu bestätigen scheint, die der Text aufbaut, wie Folger ausführt: „Die Erschaffung seiner Maschine ist also nur durch die Zerstörung des ursprünglichen Körpers möglich. Nur so sind er und seine Helfer in der Lage, eine Maschine zu erschaffen, die in seinem Sinne eine Gegenrede zum Wahrheitsdiskurs des Regimes produziert. Macedonio und sein Team sind somit unheimliche Doppelgänger des Doktor Arana und seiner Gehilfen.“71
Eine solche Deutung kann sich darauf stützen, dass Arana, wie oben bereits angedeutet, Elena eine „memoria artificial“ einpflanzen will,72 was letztlich nichts anderes ist als das Projekt Macedonios.
LA CIUDAD AUSENTE UND DIE DETEKTIVLITERATUR: WEITERE DEUTUNGEN Diese These ist eine von mehreren, die die Lesenden wie Detektive zu entschlüsseln haben, wobei ihnen diese Rolle des bzw. der Ermittelnden auch bei der Deutung der eingelegten Geschichten, ihres Zusammenhangs mit der Haupthandlung sowie den kaum zu überblickenden Facetten dieser Haupthandlung zukommt. Dies betont das Genre der Detektivliteratur, in das sich Piglias Roman einschreibt, wobei die tiefere Bedeutung dieser Gattungswahl wohl in der Aktivierung der Lesenden liegt, die diese impliziert. Der aktive Part der Leserschaft, den Piglias Roman dezidiert einfordert, ist dabei auch als Gegenbild zum monolithischen Diskurs zu sehen, den das Terrorregime in seinem Roman, wie jedes totalitäre Regime, einführen will, womit der Suche nach der Wahrheit, die dem Krimi sui generis zugrunde liegt, eine besondere Bedeutung zukommt. Zugleich liegt eine solche Aktivierung auch dem Phantastischen zugrunde, das aufgrund seiner Struktur die Leser und Leserinnen zu einer Entscheidung für die eine oder die andere evozierte Lösung zwingen will. Auch daher verknüpft Piglia wohl die beiden
70 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 139. 71 R. Folger: „Der geschundene Körper“, S. 181. 72 M. Quijano: „Convergencias genéricas“, S. 96.
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Formen,73 die schon vom Freund und Schriftstellerpartner seines Vorbilds Borges, Bioy Casares, als eng zusammengehörig ausgewiesen wurden. 74 Damit noch einmal zurück zur Phantastik und zur Erzählmaschine, deren rationale Erklärung es nachzuliefern gilt. Zunächst ist indes zu ergänzen, dass es innerhalb des Romans unentscheidbar bleibt, ob der „erzählerische Widerstand“ der Maschine am Ende Erfolg zeitigen und etwas am Regime ändern wird, es vielleicht gar stürzen kann. Auch wenn wir, als Leserschaft an Happy Ends gewöhnt und als Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler stets begierig, von der Wirksamkeit der Literatur zu hören, darauf hoffen mögen, dass die Erzählungen der Maschine triumphieren – eine Sicherheit haben wir nicht, und die oben schon angesprochenen Gründe sowie die niedergedrückte Stimmung der Bevölkerung – wie auch der Maschine selbst! – scheinen eher auf das Gegenteil hinzudeuten. In diesem Licht ist auf eine letzte perfide Verunklarung hinzuweisen, die die Maschine endgültig in die Sphäre des Phantastischen setzt, da sie eine rationale Erklärung dieses Apparats einführt, dessen Geschichte und Funktionsweise so viele übernatürliche Elemente aufzuweisen scheinen, und mithin den anderen Pol des Spektrums des Phantastischen besetzt: Über der gesamten Geschichte hängt 73 Was er in seinem Text nicht zuletzt dadurch ausstellt, dass die erste Geschichte, mit der die Maschine gefüttert wird, eine von Poe ist, und mithin des Meisters dieser beiden Gattungen, wie etwa Borges und Bioy Casares in einem Kurzporträt des Amerikaners in ihrer Antología de la literatura fantástica herausstellen: „Inventó el género policial; renovó el género fantástico.“ (Bioy Casares, Adolfo/Borges, Jorge Luis/Ocampo, Silvina (Hg.): Antología de la literatura fantástica, Barcelona: Edhasa 2011, S. 421). Piglias eigene Erläuterung zum Wesen des Phantastischen stellt ebenso die Nähe zum Krimi (durch die Betonung der „investigación“) heraus sowie den Aspekt des Aktivierens der Lesenden (Interview mit Piglia in Macedo Rodríguez, Alfonso: „Literatura fantástica y realismo: Estética y sociedad en la narrativa de Ricardo Piglia“, in: Latinoamérica. Revista de estudios Latinoamericanos 56 (2013), S. 245-272, hier S. 269): „la cuestión de la incertidumbre entre ficción y realidad es un poco el paso que podríamos empezar a dar para definir lo fantástico [...]. Lo fantástico tiende a poner esa relación [entre ficción y realidad] como un elemento de investigación porque, en definitiva, la pregunta siempre es: ¿pero esto sucede o no? Esto me parece que es la pregunta de lo fantástico.“ 74 „[Y]o pienso que hay una relación estrecha entre lo fantástico y lo policial. Ambos géneros presentan situaciones bastante inverosímiles. Además, tanto el uno como el otro requieren de un argumento muy preciso que se atenga a una estructura también muy precisa.“ (Roffé, Reina, „Entrevista con Adolfo Bioy Casares“, in: Cuadernos Hispanoamericanos 609 (2001), S. 35-43, hier S. 36).
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nämlich, wie Joanna Page sehr richtig betont, der Zweifel, ob es die Maschine in der beschriebenen Funktion überhaupt gibt oder ob sie nicht nur eine Erfindung des Regimes ist, um die Bevölkerung ruhig zu stellen: „Implicit throughout the novel is the ominous possibility that the narrative-machine and Russo’s entire project of resistance are merely themselves stories generated by the state to pacify its citizens and to provide an illusion of a spiritual and ethical metanarrative by which they may live their lives.“75
Nicht zuletzt die eingangs erwähnte Überzeugung der Figuren, von Polizeispitzeln umringt zu sein, nährt den Verdacht, alles sei nur eine konzertierte Verschwörung der omnipräsenten Staatsmacht. Dadurch wird erneut die Verbindung zu den großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts, speziell 1984 ersichtlich, denn auch dort ist der vermeintliche Widerstand bekanntermaßen nur eine Schimäre, welche die Allmacht des Regimes umso deutlicher bekräftigt.76 La ciudad ausente vermeidet zwar einen derart eindeutigen Ausgang, dennoch darf man keinesfalls die Möglichkeit übersehen, dass der erzählerische Widerstand nicht erfolgreich oder gar nur illusorisch sein könnte. Diese These führt fast zwangsläufig zu einer nächsten, nämlich, dass die Geschichte um Juniors Recherche und mithin der Roman, den wir gerade lesen, selbst nichts anderes ist als eine weitere Geschichte der Maschine, worauf insbesondere hindeutet, dass Junior im Museum, in dem Artefakte vieler Geschichten der Maschine ausgestellt sind, auch sein eigenes Treffen mit Lucía vor sich sieht. Diese enigmatische Episode wirft nicht nur einmal mehr die Frage auf, in welchem Hierarchie-Verhältnis die eingelegten Erzählungen und die Rahmengeschichte stehen, sondern wäre als weiteres übernatürliches Ereignis zu werten, ließen wir nicht die Erklärung zu, dass sich alles nur innerhalb des Kosmos der Maschine abspielt. Dafür spricht auch, dass Russo am Ende seines Gesprächs mit Junior eben dieses Gespräch als „réplica“ bezeichnet und damit in direkte Verbindung mit den Geschichten der Maschine bringt, und diese ihrerseits in ihrem den Roman beschließenden Monolog Aspekte der zuvor von ihr selbst hervorgebrachten Erzählungen mit solchen der vermeintlichen Rahmenhandlung in einem Atemzug nennt, was nahezulegen scheint, dass sich alle auf derselben Ebene befinden. Ebenso weisen die oben genannten „imprecisiones“ in diese Richtung, die wie 75 J. Page: „Writing as resistance“, S. 357. 76 In einer solchen Perspektive wäre Russos bereits zitierte Aussage „Nosotros tratamos de construir […] una máquina de defensa femenina contra las experiencias y los experimentos y las mentiras del Estado“ (R. Piglia: La ciudad ausente, S. 142f.) nichts anderes als just eine weitere „mentira del Estado“ (ebd.).
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gesehen konstitutiv für die von der Maschine geschaffenen Geschichten sind, aber in derselben Weise die „Haupthandlung“ charakterisieren. 77 Im Lichte des in diesem Bande verhandelten Themas sei schließlich noch eine Deutung angeführt, der in Piglias vielschichtigem Roman höchste Bedeutung zukommt. So ist die bereits mehrfach erwähnte Spannung zwischen „anwesend“ und „abwesend“ als kaum zu übersehende Chiffre für die desaparecidos zu deuten. Hier kann man auf die bereits angesprochene erste eingelegte Geschichte zurückkommen, denn diese ist noch in einer weiteren als der erwähnten Hinsicht paradigmatisch für den Roman, da sie schon aufgrund der sie in jeder Zeile durchziehenden Gewalt und der zahllosen Toten direkt auf die historische argentinische Erfahrung zu beziehen ist, vor allem aber auf die desaparecidos verweist. Wenn nämlich Macedonio im späteren Verlauf des Romans zu Russo sagt, dass „la ausencia es una realidad material, como un pozo en el pasto“78, wird eine Verbindung zu der von etlichen derartiger „pozos“ berichtenden ersten Geschichte aufgespannt, und mithin die sich in ihm befindenden Leichen mit dem Konzept der „materiell“ spürbaren „ausencia“ verknüpft, welche die Erfahrung der Hinterbliebenen der desaparecidos aufnimmt, die niemals sicher sein können, ob ihre Kinder, Verwandten oder Freunde nicht vielleicht doch noch leben. Dabei ist dieser alles durchdringende Zweifel einmal mehr auf die Gattung der Phantastik zu beziehen, die Piglia so intensiv in seinen Roman einbringt. Zugleich legt sein Text nahe, dass – aller nur allzu verständlichen Hoffnung zum Trotz – letztlich doch fast sicher war, dass die geliebten Menschen nicht zurückkehren würden, was vor allem die Aussage einer Romanfigur andeutet, die festhält, dass „lo más difícil de entender es lo que todo el mundo sabe. El secreto está a la luz y por eso no lo vemos.“79 Wiederum erläutert Piglia dies in nicht-fiktionalen Texten als grundlegendes Charakteristikum der argentinischen Militärdiktatur, die eine Erzählung geprägt habe, die „una realidad criminal, de cuerpos mutilados y operaciones sangrientas“ verdeckte und doch „al mismo tiempo la aludía explícitamente. Decía todo y no decía nada.“80 Und damit findet sich das Thema des Bandes auf wenige Worte konzentriert, eine Unsichtbarkeit, die doch nur allzu sichtbar ist – und die in La ciudad ausente von der immer sichtbaren und doch nie greifbaren Stadt verkörpert wird. 77 Piglia stützt diese Deutung in einem Interview: „Y aquí le voy a decir algo: yo pienso que el narrador investigador, Junior, es también un personaje de la máquina; me parece que ella construyó ese personaje que viene a salvarla.“ (zit. nach A. Cselik: „Estructura narrativa“). 78 R. Piglia: La ciudad ausente, S. 152 79 Ebd. S. 109. 80 R. Piglia: „Los relatos sociales“, S. 114.
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LA CIUDAD AUSENTE UND INVASIÓN Gerade die letztgenannte Dimension soll in einem abschließenden Vergleich erneut aufgegriffen werden, um die erarbeiteten Ergebnisse weiter zu konturieren, wobei sich Hugo Santiagos Film Invasión, der in Zusammenarbeit mit Borges und Bioy Casares entstanden ist, dafür geradezu anbietet.81 Ein Vergleich von Invasión und La ciudad ausente wird schon dadurch angeregt, dass dem in Piglias Roman eine so zentrale Rolle einnehmenden Macedonio Fernández in Invasión eine deutliche Hommage erwiesen wird.82 Vor allem aber zeichnet sich dieser klassische Film der argentinischen Kinogeschichte ebenfalls dadurch aus, dass er in einer verfremdeten Stadt spielt, die einerseits Buenos Aires ist, andererseits aber auch nicht,83 und dass der Handlungsort mithin, obgleich er immer wieder aufgerufen und sogar an einer Karte veranschaulicht wird, ungreifbar bleibt. Dabei trägt dies in Invasión wiederum entscheidend zur phantastischen Komponente bei – die Phantastik entwickelt sich nicht zuletzt durch die Ungreifbarkeit der Stadt sowie der Menschen, die sie bewohnen, jedoch scheinbar kein Interesse an der Verteidigung ihres Wohnorts zeigen. Die ersten Bilder des Films scheinen eindeutig Buenos Aires zu zeigen, aber das unmittelbar danach auftauchende Insert „Aquilea 1957“ widerspricht dem visuellen Eindruck sofort. Damit zeigt sich bereits zum Auftakt, dass Santiago den dem Film, der abgesehen von gewissen Fantasy-Genres in der Regel auf real existierende Bilder zurückgreifen muss, scheinbar so immanent eingeschriebenen Realismus mit einer Gegenstrategie unterläuft,84 die als „des-realización“ des
81 Zur Kooperation zwischen Hugo Santiago, Borges und Bioy Casares für diesen Film vgl. Aguilar, Gonzalo/Jelicié, Emiliano: Borges va al cine, Buenos Aires: Libraria 2010, S. 160-171. 82 Die Figur des Don Porfirio ist an der Person von Macedonio Fernández orientiert, wie die Forschung inzwischen mehrfach hervorgehoben hat. Interessanterweise betont dies ebenfalls Piglia, was bereits ein großes Interesse seinerseits an Santiagos Film nahelegt (vgl. A. Macedo Rodríguez: „Literatura fantástica y realismo“, S. 255, nota 18). Damit ist in beiden Werken der wichtigste Kopf und Organisator des Widerstands, dessen ambivalentes Potential wir am Ende dieses Beitrags noch einmal ansprechen, mit Macedonio Fernández verbunden. 83 Vgl. Oubiña, David: „Monstrorum Artifex. Borges, Hugo Santiago, y la teratología urbana de la invasión“, in: Variaciones Borges 8 (1999), S. 69-81, hier S. 75: „Aquilea es y no es Buenos Aires.“ 84 Dieser hier bereits ersichtliche Kampf gegen den Realismus verbindet die Macher von Invasión wesentlich mit Piglia und spricht zusätzlich für den hier unternommenen
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konkret aufgenommenen Handlungsorts bezeichnet werden kann.85 Zu dieser muss insbesondere die Stadtkarte gezählt werden, welche immer wieder ins Bild rückt und als Ausgangspunkt für die strategischen Aktionen des Widerstands dient, die dieser an immer neuen (Grenz-)Orten der Stadt durchführt, welche stets mit Erwähnung ihrer jeweiligen Lage in den Film eingelassen sind und doch kein Gesamtbild entstehen lassen – ganz im Gegenteil: Die Kombination der Orte scheint zusehends unmöglich und lässt das Publikum desorientiert zurück. Eine ähnliche Verzerrung wie für den Ort ist ebenso für die Handlungszeit zu konstatieren, denn das anfangs aufgerufene Jahr 1957 wird nur wenige Minuten später durch ein Element unterlaufen, das lange von der Kamera eingefangen wird und daher die Zusehenden offensichtlich auf diesen Widerspruch hinstoßen will: Borges’ Band El hacedor wird ins Bild gerückt,86 der erst 1960 erscheint, womit die Handlungszeit bewusst verunklart wird. Mithin können wir in Santiagos Film just jene „imprecisiones“ beobachten, die in Piglias Roman explizit erwähnt werden und diesen charakterisieren. Dass Piglia sich an dem berühmten Film seiner Landsleute, und gerade deren Verfremdung von Buenos Aires, orientiert und auch daher die Phantastik als einen wesentlichen Teil seiner Genremischung wählt,87 liegt nicht nur von daher nahe,
Vergleich. Vgl. dazu insbesondere die Analyse von David Oubiña, der die Bedeutung Bressons, dessen langjähriger Assistent Santiago war, hierfür hervorhebt und betont, dass sich bei allen Unterschieden die Kunstauffassungen Bressons und Borges’ (und wir können ergänzen: Bioys und Piglias) in einem Punkt treffen: „Sin duda el común denominador entre ambas [tradiciones estéticas, de Borges y de Bresson] es el rechazo del realismo entendido como ideología estética de reproducción.“ (D. Oubiña: „Monstrorum Artifex“, S. 70). 85 Vgl. Cerdá, Marcelo F.: „Invasión. El sitio del lector“, in: Afuera. Estudios de crítica cultural 6 (2009), S. 1-8, verfügbar unter http://www.revistaafuera.com/NumAnterio res/pagina.php?seccion=Cine&page=06.Cine.Cerda.htm&idautor=128, hier S. 1 („Que Aquilea es una ciudad inventada a partir de la desrealización de Buenos Aires queda claro de modo inmediato.“) und D. Oubiña: „Monstrorum Artifex“, S. 75 („Gracias al carácter analógico de la imagen fílmica, el cine ha sido particularmente sensible al realismo. […] Invasión no intenta en ningún momento borrar las huellas del referente sino que todo su esfuerzo apunta desrealizarlo.“). Gerade um den so oft mit dem Film verbundenen Realismus zu konterkarieren, ist die totale Abstraktion des Films von Santiago, Bioy und Borges so wichtig. 86 Invasion (ARG 1969, R: Hugo Santiago), 10:34. 87 Dass die Propagierung einer neuen Phantastik ein Ziel des Films ist, betont Borges nachdrücklich: „Quiero dejar escrito que no se parece a ningún otro film y que bien
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da Borges sein erklärtes Vorbild ist,88 sondern vor allem, da beide Werke einen Widerstand gegen einen erdrückend überlegen scheinenden Gegner inszenieren, wobei diesem Widerstand eine ewige Komponente eingeschrieben scheint.89 Diese vermeintliche Apotheose eines ewigen Widerstands wird aber in beiden Fällen maßgeblich konterkariert, indem sein Erfolg höchst zweifelhaft scheint und vor allem, und dies ist entscheidend, dem Widerstand seinerseits eine unmenschliche Komponente zumindest potentiell eingeschrieben steht, 90 die ihn jedes vorbehaltlosen Heroismus beraubt. So sehen wir zwei höchst ambige Werke, die just aus ihren Ambivalenzen ihren besonderen Wert ziehen. Dabei dient die scheinbar so präsente, jeweils jedoch letztlich unsichtbare Stadt, die in beiden Werken den zentralen Hintergrund bildet, dazu, das Geschilderte übertragbar zu machen, ihm universale Geltung zu verschaffen.
puede ser el primer ejemplo de un nuevo género fantástico.“ (Stiletano, Marcelo: „Hugo Santiago, en versión completa“, in: La Nación vom 18.04.2002, S. 6). 88 Dies wird gerade in seinem Essay-Band Crítica y ficción deutlich, der von Bewunderung für Borges gleichsam durchzogen ist. Auch in La ciudad ausente gibt es unübersehbare Anspielungen auf sein Vorbild, von denen lediglich eine erwähnt sei: In der eingelegten Geschichte La isla ruft die Erzählung um einen wohl nicht zufällig Nolan heißenden Protagonisten und einen chiffrierten Verrat deutlich Borges’ cuento „Tema del traidor y del héroe“ auf. 89 Dieser endlose Widerstand wird in Piglias Roman speziell durch die letzten Worte deutlich, die Russo an Junior richtet (vgl. R. Piglia: La ciudad ausente, S. 154f.), sowie durch den folgenden Monolog der nicht zum Schweigen zu bringenden Maschine, der mit einem affirmativen „sí“ endet. Santiagos Film erzeugt die Idee der nicht endenden résistance mit seiner berühmten Sequenz nach dem Insert „Fin“, in welcher die filmisch vielfach multiplizierten Kämpfer „del Sur“ nahelegen, dass das kurz zuvor eingeblendete „Ende“ vielleicht für den Film, keinesfalls aber für den Kampf gegen die Invasoren gilt. 90 Dies ist in Invasión etwa am Verhalten Herreras zu erkennen, der – abgesehen vom Vorspann – die ersten Tötungen des Films begeht und dabei offenkundig Freude empfindet (Invasion (ARG 1969, R: Hugo Santiago), 25:24-25:33) sowie an den Kampfhandlungen auf der kleinen Insel, bei denen Don Porfirios Männer den Invasoren in Sachen Grausamkeiten in keiner Weise nachstehen.
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Unsichtbare Städte. Energien – Wolken – Atmosphären
Die Abgründe und Monster von Paris in Umberto Ecos Roman Il cimitero di Praga (2010) Monika Schmitz-Emans
1. IL CIMITERO DI PRAGA – EIN PARIS-ROMAN Umberto Ecos sechster und vorletzter Roman Il cimitero di Praga führt zwar den Namen der Stadt Prag aus guten Gründen im Titel, ist aber, zumindest zu weiten Teilen, ein Paris-Roman. Seinen Haupthandlungsstrang bildet die hauptsächlich in Paris spielende Geschichte der Fälschung eines tatsächlich existierenden Dokuments: der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“.1 Fiktiv ist zwar die Figur des Fälschers Simon Simonini, aber seine Geschichte wurde im Rekurs auf Faktuales konstruiert. Denn der gebürtige Piemonteser Simonini, der seine frag-
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Die etappenreiche Genese der „Protokolle“, zu deren Rekonstruktion Eco selbst als Historiker (unter Betonung vor allem der literarischen Anregungen) beigetragen hat, wird im Roman selbst nacherzählt, wobei dessen Hauptfigur funktional die Stelle nicht ganz aufgeklärter Zwischenglieder einnimmt. Wichtige Quellen für Ecos Auseinandersetzung mit der Geschichte der „Protokolle“ waren u.a.: Cohn, Norman: Warrant for Genocide: The Myth of the Jewish World Conspiracy and the Protocols of the Elders of Zion, New York: Harper & Row 1966 und Rollin, Henri: L’Apocalypse de notre temps. Les dessous de la propagande allemande d’après des documents inédits, Paris: Gallimard 1939. – Zum Thema vgl. auch: Eco, Umberto: Costruire il nemico e altri scritti occasionali, Mailand: Bompiani 2011. (Dt. Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2014), S. 9-36.
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würdige Karriere als Spitzel, Mörder und Fälscher früh beginnt, lässt sich schließlich in Paris nieder. Hier kommen seine spezifischen Fähigkeiten besonders zur Entfaltung – wenn auch im Dunkel des nicht-öffentlichen, intransparenten Teils der Zeitgeschichte und im Zwielicht obskurer Kontakte und Kreise. Simonini geht in einer versteckt liegenden Wohnung in einem von Haussmanns städtebaulichen Reformen nicht erfassten Milieu seiner professionellen Fälschertätigkeit nach (so etwa dem Fingieren von Testamenten) und handelt nebenher mit geweihten Hostien für okkulte Zirkel. Sein Hauptwerk werden dann die „Protokolle“, wofür er andere um ihre Ideen bestiehlt und seinerseits dann ebenfalls bestohlen wird. Er wird gerade anlässlich dieses Projekts in die aktuelle Szene der Agenten und Geheimdienste, ein ihm als solches bereits geläufiges Milieu, hineingezogen. Doch er unterhält auch zu allerlei anderen Kreisen Kontakte, trotz oder auch wegen seines zurückgezogenen Lebens (denn seine Dienste werden gern insgeheim in Anspruch genommen). Dazu gehören wohlsituierte und reputierliche Pariser verschiedener Stände und Berufsgruppen – ebenso wie allerlei zwielichtige Gestalten. Über politische und kulturelle Aktualitäten in Paris ist Simonini gut informiert. Insgesamt bieten Simoninis Pariser Erfahrungen, aber auch seine indirekt erworbenen Kenntnisse, daher Anlass zu einem vielschichtigen Porträt der Stadt, in welcher er lebt: ihrer Bevölkerungsgruppen, Milieus, Sozialstrukturen, ihrer kulturellen Aktivitäten und Massenmedien sowie insgesamt ihrer politischen und kulturellen Geschichte seit dem mittleren 19. Jahrhundert.2 Wie schon in anderen Romanen orientiert sich Eco in seinem Paris-Roman vor allem an Gattungsmerkmalen des Historischen Romans. Als Theoretiker und Praktiker der Intertextualität erweist er im Cimitero der Paris-Literatur vielfältige Reverenzen, insbesondere Victor Hugos NotreDame de Paris, aber auch den Werken Balzacs, Zolas, Sues und anderer. Doch auch diskursgeschichtliche Paris-Reminiszenzen sind prägend, ist Paris doch u.a. signifikant für die zur Handlungszeit stattfindende Genese der Psychoanalyse. Ecos Protagonist ist eine gespaltene Persönlichkeit, also ein Doppelgänger im modernespezifischen Sinn. Seine seit Jugendjahren neurotische Person hat in Paris ein Alter Ego von sich abgespalten, das komplementär zu dem, was Simonini als sein eigenes Leben erfährt und memoriert, ein Eigenleben führt – ähnlich dem Eigenleben, das Mr. Hyde in R. L. Stevensons Roman von 1886 hinter dem Rücken Doktor Jekylls führt. Unruhezustände und äußere Indizien machen Simonini auf sein anderes Ich aufmerksam, das er bald als die Person eines Abbé mit dem sprechenden Namen „Dalla Piccola“ identifiziert. „Dalla Piccola“ lebt, ebenfalls zurückgezogen, in einer Wohnung, die mit der Simoninis 2
Die aus Simoninis Optik erfasste Zeitspanne umgreift u.a. die Ereignisse um die Pariser Kommune und die Inbetriebnahme der Pariser Metro.
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durch einen geheimen Gang verbunden ist. In der Topografie des baulich intransparenten Pariser Mietshauses bespiegelt sich insofern der psychische Zustand des Protagonisten. Als „Simonini“ stattet der Protagonist den Räumen seines Doppelgängers während dessen Schlafenszeiten Besuche ab; als „Dalla Piccola“ besucht er im Gegenzug „Simonini“. Intransparent für sich selbst, lässt Simonini sich allerdings (trotz antisemitischer Reserven) auf ein Gespräch mit dem in Paris praktizierenden „Doktor Fröide“3 ein und beginnt daraufhin Aufzeichnungen über sich und sein Leben zu führen, von denen er sich mehr Klarheit verspricht. Für den Romancier Eco ist diese ‚autobiografische‘ Konstruktion nicht allein ein guter Anlass, Simonini seine Lebensphasen vor der Pariser Zeit rückblickend erzählen zu lassen, sondern er lässt zudem seinen gespaltenen Protagonisten einen analog gespaltenen Text verfassen. Weite Teile des Romans bestehen aus Simoninis fiktivem Selbstprotokoll, aber Dalla Piccola beginnt ebenfalls zu schreiben, und die beiden einander bespitzelnden Teil-Ichs lesen und kommentieren im Folgenden wechselseitig ihre Aufzeichnungen, vor allem, um dem jeweils anderen zu widersprechen. Als dritte Stimme hält die einer namenlosen Herausgeberinstanz die in Bruchstücken vorliegenden (und einander in manchem widersprechenden) Selbstdarstellungen der Doppelgänger zusammen und ergänzt, was zum Verständnis wichtig ist. Was die Doppelfigur Simonini/Dalla Piccola von Doctor Jekyll und Mr. Hyde unterscheidet, ist die Unmöglichkeit, sie als Personifikationen der ‚hellen‘ und der ‚dunklen‘ Seite einer gespaltenen Figur zu betrachten: Dalla Piccola ist ein ebensolcher Dunkelmann wie Simonini; beide maskieren, verkleiden, verstellen sich. Kostüme, Perücken, Schminke, einstudierte Haltungen und verschiedene Formen der Verstellung spielen in ihrem Leben eine zentrale Rolle. Das Bewusstsein, etwas zu verbergen zu haben, bestimmt das Leben beider. Entsprechend sind auch die Texte beider Erzählerinstanzen als ‚maskierte‘ Texte zu lesen. Auf mehreren Ebenen steht Il cimitero di Praga im Zeichen des Kontrasts von Vorder- und Rückseiten, wobei die Wahrnehmung des „Vorne“ und des „Hinten“ jedoch standortabhängig erscheint. Der Protagonist, seine Wohnung und sein Erzählerbericht sind gespalten, wobei von der einen Seite aus gesehen die jeweils andere als dunkel, mysteriös, schwer zugänglich, rätselhaft, verschlüsselt erscheint. Solche Verrätselung erscheint allerdings als prinzipiell durchschaubar: Dalla Piccolas ‚Charakter‘ ergibt sich für den Psychologen aus Simoninis Geschichte und seinem ‚Charakter‘; die jeweils andere Wohnung kann von ihrem Pendant her erreicht, das mehrteilige Manuskript als Ensemble aus Teilen gelesen 3
Sigmund Freud wirkte zur fraglichen Zeit in Paris. Anspielungen auf Freud und die Psychoanalyse bilden einen wichtigen Subtext des gesamten Romans.
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werden. Zwar mag aus einer bestimmten momentanen Perspektive ein Teil der Wirklichkeit ‚hell‘, der andere ‚dunkel‘ erscheinen, aber es kommt nur auf die Beleuchtung an, dies zu verändern. Analog dazu ist in der seltsamen Geschichte des Helden zwar von allerlei Intrigen und Geheimnissen die Rede, von Fälschern, Betrügern, Dunkelmännern, Geheimdiensten und Okkultisten – aber im Prinzip scheinen all diese Finsternisse in Reichweite möglicher Aufhellung, Enträtselung, Entzifferung. Die Doppelgängerfigur ist nicht abgründig, sondern als zweiseitige Klischeefigur angelegt, die als solche konstruiert wurde und durchschaut werden soll. Für das zweiseitige Paris gilt Analoges. Ecos Roman setzt insgesamt auf die Auflösbarkeit von Rätseln, auf Demystifizierung, auf die Demontage von Mystifikationen und Selbstmystifikationen. Dies zeigen die entlarvende Rekonstruktion der „Protokolle“ als Fake und die psychoanalytisch grundierte Doppelgängergeschichte um Simonini wie auch andere Entlarvungsgesten. Er setzt, anders gesagt, auf Aufklärung. Auch darum ist Paris ein besonders naheliegender Schauplatz – hier als Kapitale der lumières.
2. DIE DUNKLE KEHRSEITE DER GLANZVOLLEN METROPOLE In der (realen) Geschichte der „Protokolle“, deren Fake-Status bereits 1920 nachgewiesen wurde (was ihre weitere Wirkungsmacht nicht verhindert hat), spielt Paris eine mutmaßlich zentrale Rolle. Der Text hat Anregungen verschiedener Textquellen aufgenommen, ist also insgesamt eine Art intertextueller Montage. Zumindest Indizien sprechen dafür, dass er in Paris entstand, wo die fraglichen Schriften alle verfügbar waren. Angelegt als das fiktive autobiografische Porträt eines gespaltenen Helden, dessen Teil-Ichs beide ein Doppelleben führen, ist Il Cimitero de Praga nicht minder konsequent das Porträt einer Stadt mit ‚doppeltem‘ Leben – zumal, da er in der Ära der städtebaulichen Reformen Haussmanns spielt, an die mehrfach ausdrücklich erinnert wird. Ein altes, mittelalterlichdunkles und ein neues helles Paris erscheinen in dieser Ära als Antagonisten, und es entspricht einem geläufigen Topos, dies als „Fortschritt“ zu beschreiben. Kritischeren (und späteren) Betrachtern bleibt es vorbehalten, in der Genese einer modernen Metropole auch anderes zu sehen und etwa das sich ausbreitende Glas, scheinbares Sinnbild der Transparenz, als Material komplexer Verspiegelungen (d.h. optischer Illusionen und Mystifikationen) in den Blick zu nehmen. In der sich modernisierenden Wissenschafts- und Kulturmetropole Paris erscheint die Unterscheidung einer hellen, ‚offiziellen‘ und in mancher glanzvollen Seite von einer verborgenen, ‚inoffiziellen‘ und düsteren Seite zwar näher zu liegen als bei dem insgesamt obskuren Protagonisten. Allerdings illustriert die
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Romanfabel, dass und wie beide Seiten verbunden sind, analog zur Doppelwohnung der Protagonisten: Die offizielle Politik und das öffentlich beobachtbare Handeln von Regierenden wie von Bürgern beziehen wegweisende Impulse aus dunklen Kanälen, werden heimlich motiviert durch intransparente Interessen – in Paris wie in anderen Teilen der Welt. Ein Bindeglied zwischen dem Obskuren und dem Sichtbaren (der ‚offiziellen‘ Weltgeschichte), das den Roman stofflich stark prägt, ist etwa die Geschichte des Antisemitismus und konkreter die der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“. Das angeblich authentische und aus dem Dunkel ans Licht gezogene Dokument einer jüdischen Weltverschwörung ist nicht das, als was es vielen erscheint. Insgeheim stecken hinter seiner Genese wie hinter seinen Inhalten ganz andere Faktoren als die, auf welche es vermeintlich deutet. Die Abfassung der „Protokolle“ (die ja angeblich ein konspiratives Geheimnis aufdecken) ist eine böse Parodie echter Aufklärung, ein mystifizierender Fake zu verleumderischen Zwecken. Über solche „Aufklärung“ muss wiederum aufgeklärt werden. Aber auch andere (gerade in der Romanliteratur vielfach thematisierte) Teilungen der Welt in eine helle und eine dunkle Zone werden handlungstragend und bestimmen die Atmosphäre von Ecos Roman. Da ist die Spannung die zwischen bürgerlicher und gesetzlich geregelter Sphäre auf der einen Seite, dem Milieu der „Unterwelt“ auf der anderen Seite,4 da ist die damit eng verbundene, aber nicht deckungsgleiche Differenz zwischen den Wohlhabenden und den Armen, zwischen denen, die vom ‚Licht‘ des Fortschritts und ihrer öffentlichen Wahrnehmbarkeit profitieren, und denen, die im Dunkeln bleiben. Spannungen bestehen auch zwischen Organen von Wissenschaft und Aufklärung einerseits, Vertretern von Okkultismus und Obskurantismus andererseits. Wiederum allerdings gibt es keine trennscharfe Grenze; ein sich als wissenschaftlich gebender Okkultismus kontaminiert gerade zur Handlungszeit des Romans andere Wissensbestände. Die vordergründig mit Aufklärung konnotierten Instanzen (wie etwa Wissenschaft, Politik und Presse) sind teilweise über ‚dunkle Kanäle‘ mit der anderen Seite, mit Aberglauben und düsteren Motiven, verbunden – und setzen auf die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit. All dies verbindet sich im Roman mit der Darstellung von mehrschichtig semantisierten Räumen, Schauplätzen und semantisch aufgeladenen Raumstrukturen. Ein programmatisches Beispiel für das erzählerische Spiel mit Spannungen zwischen dem Offenkundigen und dem Verborgenen, dem Offiziellen und dem 4
Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831) mit seiner Schilderung des UnterweltMilieus von Verbrechern und Gauklern hat hier wichtige Impulse geliefert (vgl. beispielsweise Hugo, Victor: Notre-Dame de Paris, 1842, hg. v. Samuel Silvestre de Sacy, Paris: Gallimard 2002).
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Inoffiziellen, dem Bürgerlichen und der „Unterwelt“ bietet der Romananfang. Unter dem Kapitel-Titel Il passante che in quella grigia mattina5 wird als erstes das Pariser „malviventi“6 porträtiert, lokalisiert an der Place Maubert, im Mittelalter das „centro di vita universitaria“7, dann „luogo dell’esecuzione capitale“8 für freie Denker, in der Gegenwart der Erzählung (1897) von den „risparmiato dagli sventramenti del barone Hausmann“9. „[…T]ra un groviglio di vicoli maleodoranti, tagliati in due settori dal corso della Bièevère, che laggiù ancora fuoriusciva da quelle viscere della metropoli dove da tempo era stata confinata, per gettarsi febbricitante, rantolante e verminosa nella vicinissima Senna. Da place Maubert, ormai sfregiata dal boulevard Saint-Germain, si dipartiva ancora una ragnatela di straducole […] disseminate di sordidi hotel […].“10
Die Erzählung folgt (ähnlich der Figur eines detektivischen Beobachters) dem eingangs imaginierten „Passanten“ in die „Impasse Maubert“, eine bis 1865 „Culde-sac d’Amboise“ genannte Sackgasse, einstmals Standort einer Verbrecherspelunke und Schauplatz finsterster Machenschaften … „[…] tapis-franc (nel linguaggio della malavita, una bettola, un’osteria d’infimo rango, tenuta ordinariamente da un pregiudicato, e frequentata da forzati appena usciti dal bagno penale), ed era rimasto tristemente famoso anche perché nel XVIII secolo vi sorgeva il
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Eco, Umberto: Il cimitero di Praga, Mailand: Bompiani 2010, S. 7. Deutsche Übersetzung: „Der Passant, der an jenem grauen Morgen“ (Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2011, S. 7).
6
Ebd. Deutsche Übersetzung: „Ganovenmilieu“ (ebd.).
7
Ebd. Deutsche Übersetzung: „Zentrum des universitären Lebens“ (ebd.).
8
Ebd. Deutsche Übersetzung: „Pranger-, Folter- und Hinrichtungsstätte“ (ebd.).
9
Ebd. Deutsche Übersetzung: „Planierungen des Barons Haussmann verschont“ (ebd.).
10 Ebd., S. 7-8. Deutsche Übersetzung: „[…] ein Gewirr übelriechender Gassen, zerschnitten vom Lauf der Bièvre, die damals dort aus den Eingeweiden der Metropole herauskam, in denen sie so lange eingepfercht gewesen war, um sich fiebernd, gurgelnd und voller Würmer in die nahe Seine zu ergießen. Von der Place Maubert, die heute durch den Boulevard Saint-Germain verunstaltet wird, gelangte man damals in eine Vielzahl enger Sträßchen […] in denen es allerlei schmutzige kleine Hotels gab […].“ (S. 7-8). Die ‚Eingeweide der Metropole‘ zitieren das Bild vom „Bauch von Paris“ (in Anlehnung an Zola’s Le ventre de Paris, vgl. Zola, Emile: Le ventre de Paris, Paris: G. Charpentier 1878 [1873]).
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laboratorio di tre celebri avvelenatrici, ritrovate un giorno asfissiate dalle esalazioni delle sostanze mortali che distillavano sui loro fornelli.“ 11
… und weiter zu einem Trödelladen mit wenig ‚transparentem‘ stark verschmutztem Schaufenster und verschlossener Tür, 12 dessen erbärmliche Aus-lagestücke an die düsteren Seiten des Pariser Lebens, an Armut, Not, Pfändungen erinnern,13 dann weiter ins Gebäude hinein und zu einer Wohnung – es ist die Simoninis –, deren Ausstattungsstücke teils auf Geheimnisse hindeuten (so ein Schreibtisch mit Rolltür und vielen Fächern, aber auch eine den Spieltisch stützende Sphinx.)14 An diesem in mehr als einer Hinsicht zwielichtigen Ort angekommen, lässt der Rahmenerzähler die Leserschaft den schreibenden Simonini entdecken. 15 Die versteckte Pariser Wohnung ist eine Metonymie für das zwielichtige Paris und eine Binnenspiegelung der Welt des Romans. Simonini selbst wird sich (der konstruierten Situation gemäß fortan vom Lesenden gleichsam insgeheim beobachtet) im zweiten Kapitel dann auf den Weg zu etwas machen, was für ihn selbst bisher im Dunkel lag und auch nie recht durchsichtig wird: zum Apartment Dalla Piccolas am Ende eines von der eigenen Wohnung ausgehenden Gangs. Sein Weg führt ihn an Requisiten der Verkleidung und Verstellung vorbei;16 das Kapitel heißt, dazu passend, Chi sono?17
11 U. Eco: Il cimitero, S. 8. Deutsche Übersetzung: „[…] tapis-franc […] (so hieß im Jargon des Milieus eine Spelunke, eine Kaschemme untersten Ranges, die gewöhnlich von einem Ex-Häftling geführt und von frisch aus dem Knast Entlassenen frequentiert wurde) und die auch deshalb zu traurigem Ruhm gelangt war, weil sich dort im 18. Jahrhundert das Laboratorium dreier berühmter Giftmischer befinden hatte, die eines Tages tot darin aufgefunden worden waren, erstickt von den Ausdünstungen der Substanzen, die sie auf ihren Brennern destilliert hatten.“ (Dt. S. 8). Mit Blick auf andere Beziehungen zu Il nome della rosa (1980; s.u.) fällt die frühe Präsenz des dort handlungstragenden Gift-Motivs auf. Antizipatorisch erscheint das Motiv des Zugrundegehens an eigenen Untaten mit Blick auf Simoninis Tod als Bombenattentäter. 12 Vgl. Ebd., S. 8. (Dt. S. 8). 13 Vgl. ebd., S. 9. (Dt. S. 9). Man befindet sich in einer „Rue des boutiques obscures“; Simonini kann Patrick Modianos Roman von 1978 natürlich nicht kennen, wohl aber kennt ihn Eco. 14 Vgl. U. Eco: Il cimitero, S. 9. (Dt. S. 9). 15 Vgl. ebd., S. 10. (Dt. S. 10). 16 Vgl. ebd., S. 32. (Dt. S. 32). 17 Ebd., S. 11. Deutsche Übersetzung: „Wer bin ich?“ (Dt. S. 11).
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„[…] tutto mi appariva quotidiano, famigliare. Eppure sentivo intorno a me come l’odore di qualcosa di sinistro, che mi sfuggiva. Sono risalito nello studio e ho notato che, coperta da un tendaggio, sul fondo c’era una porta. L’ho aperta già sapendo che sarei entrato in un corridoio talmente buio da doverlo percorrere con una lampada. Il corridoio assomigliava al magazzino di accessori di un teatro, o al retrobottega di un rigattiere del Tempio. Ai muri erano appesi gli abiti più disparati […]. In fondo, una coiffeuse simile a quella dei camerini da commedianti […].“18
Hier geht es nicht nur um allerlei Requisiten fürs Rollenspiel; die Textpassage besteht gleichsam selbst aus abgelegten Kleidungsstücken und Versatzstücken eines Spiels: Eco benutzt für seine Sujets, Motive, Suggestionen und (oft spannungssteigernden) Erzählstrategien den Fundus der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts – und zwar bewusst und absichtsvoll. (Auch in dieser Hinsicht ‚spielt‘ sein Roman im 19. Jahrhundert.) Der Protagonist Simonini ist nicht nur eine zwielichtige, sondern auch eine intertextuelle Gestalt, montiert aus allerlei StoffResten. Sein Lebensraum sind die Mystères de Paris.19 Dass sich für Eco gerade der Handlungsort Paris besonders anbietet, um eine Geschichte über die Komplementarität zwischen hellen und dunklen Orten, Begebenheiten, Handlungen und Motiven zu erzählen, bestätigt der Roman durchgängig. Das 9. Kapitel trägt unter eben diesem thematischen Vorzeichen den Titel Parigi20. Angelegt als Teil von Simoninis Aufzeichnungen, datiert auf den 2. April 1897, zeichnet es einen Weg durch das zwielichtige Paris nach: in ein billiges Restaurant, wo alle Gäste so betrunken zu sein pflegen, dass Simonini nicht befürchten muss, wiedererkannt zu werden,21 wo es ein Hinterzimmer gibt, in dem
18 Ebd., S. 32. Deutsche Übersetzung: „[…] alles erschien mir normal und alltäglich. Und doch war mir, als spürte ich rings um mich den Geruch von etwas Unheilvollem, das sich mir entzog. Ich ging wieder ins Studio hinauf und bemerkte, dass hinter einem Vorhang an der Rückwand eine Tür war. Schon beim Öffnen wusste ich, dass ich in einen Korridor treten würde, der so dunkel war, dass man eine Lampe brauchte. Der Korridor glich dem Kostümmagazin eines Theaters oder dem Hinterzimmer eines Trödlers am Carreau du Temple. An den Wänden hingen die verschiedensten Kostüme […]. Weiter hinten stand eine pettineuse ähnlich dem Schminktisch in Schauspielergarderoben […].“ (Dt. S. 32). 19 Eugène Sues Roman Les mystères de Paris wird von Eco aus verschiedenen Anlässen thematisiert, auch im Cimitero (zu inhaltlichen Bezügen vgl. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Paris: Éditions Gallimard 2009 [1842-1843]). 20 U. Eco: Il cimitero, S. 189. Deutsche Übersetzung: „Paris“. (Dt. S. 189). 21 Vgl. ebd., S. 189. (Dt. S. 189).
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die Betrunkenen schlafen und die Wände voll mit vorwiegend obszönen Kritzeleien sind,22 wo er eine Absinthtrinkerin trifft und sich selbst betrinkt. Er erreicht dabei einen Zustand der Benebelung, der ihm zum Schreiben günstig erscheint, insofern er sich „ricordare poco e male“23 möchte. Die folgenden Erinnerungen sind räumlich und zeitlich als Abstieg ins zunehmend Finstere angelegt; sie handeln vom Schattenreich der Metropole, rückblickend auch von Simoninis „prime settimane all’inferno“24 von Paris,25 vom Kontrast zwischen den gutbürgerlichen und gutgekleideten Pariserinnen, die auf den Boulevards flanieren, und deren ärmlichen Pendants (den „le parigienne, come dire, per male“ 26), von Kurtisanen und Prostituierten – und von der Etablierung des bereits auf eine beachtliche Verbrecherkarriere zurückblickenden Simonini als professioneller Pariser Fälscher. Die Metropole erscheint in den Erinnerungen Simoninis als Schauplatz verschiedener Kontraste; als Gourmet erörtert er vor allem die Diskrepanz zwischen der ärmlichen Hungerküche und den exquisiten Tempeln der haute cuisine.27 Wohin im Folgenden Simoninis Weg durch Paris ihn auch führt: Er bewegt sich zwischen gehobenem und unterstem Milieu – und auf den Bahnen derer, die hier zu wechseln gewohnt sind: der Geheimdienste, der Betrüger, der Gewaltverbrecher mit harmloser Außenseite, der Okkultisten. Er selbst hält es dabei entschieden dem verunklärenden Zwielicht und dem Schutz der Dunkelheit. Fortschritt, Modernisierung und Technisierung, vor allem die Elektrifizierung der Metropole und ihre Haussmannsche Restrukturierung, sind ihm suspekt. 28 Zu den prägnant geschilderten Unterwelten gehört die Kanalisation, jenes Gewirr an Kanälen, das den Unrat von Paris aufnimmt und auf unsichtbaren Wegen mit sich nimmt – und das sich auch unterhalb des Hauses mit Simoninis Wohnung erstreckt. „Quando avevo comperato e la bottega e l’appartamento al piano superiore, il proprietario mi aveva mostrato un botola che si apriva sul pavimento della cantina. ‚Troverete alcuni 22 Vgl. U. Eco: Il cimitero, (Dt. S. 189). 23 Ebd., S. 190. Deutsche Übersetzung: „wenig und schlecht erinnern“ (Dt. S. 190). 24 Ebd., S. 192. Deutsche Übersetzung: „ersten Wochen in der Hölle“ (Dt. S. 191). 25 Wieder ein vertrauter Topos, der mit Paris assoziiert ist: die „Saison“ in der Hölle. (Nach Arthur Rimbaud: „Une saison en enfer“, vgl. beispielsweise Rimbaud, Arthur/Forestier, Louis/Char, René: Poésies: Une saison en enfer; Illuminations, Paris: Gallimard, 1973 [1873]). 26 U. Eco: Il cimitero, S. 192. Deutsche Übersetzung: „schlechtbürgerliche Pariserinnen“. (Dt. S. 192). 27 Vgl. ebd., S. 195. (Dt. S. 195). 28 Vgl. ebd., S. 279. (Dt. S. 279).
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scalini‘, aveva detto, ‚e all’inizio non avrete il coraggio di scenderli perché vi sentirete svenire dalla gran puzza. Ma talora sarà necessario. […] Ora il barone Haussmann ha finalmente costruito un buon sistema fognario a Parigi, ma serve per lo più a far defluire le acque, e gli escrementi se ne vanno per conto proprio, […]. Però si discute se non si debba definitivamente adottare il sistema di tout-à-l’égout, vale a dire se nelle grandi fogne non debbano solo confluire le acque di scarico ma anche tutte le altre immondizie. […]‘.“29
So seien alle neueren Häuser durch Tunnel mit den Abwässerkanälen verbunden. Der unter Simoninis Haus ist aber schmaler, als es der Norm entspricht.30 Die Leute können, so erfahren wir anlässlich der kleinen Führung durchs Pariser Kanalsystem, ihre Abfälle in die Kanalisation werfen, aber dies wird nicht kontrolliert. Der Wohnungsverkäufer macht Simonini zudem darauf aufmerksam, dass unterirdische Kanäle auch anderen Zwecken als der Wasserableitung dienen können: „D’altra parte questo accesso alle fogne potrebbe avere i suoi vantaggi. Viviamo in tempi in cui ogni dieci e vent’anni a Parigi c’è una rivoluzione o un tumulto, e una via di fuga sotterranea non fa mai male.“31 Dass die Figur hier sogar selbst auf einen Beispielfall aus Hugos Les Misérables verweist, betont einmal mehr die intertextuelle Faktur der Unterweltbilder im Roman. Die Kanäle stehen zugleich in einer Analogie zu dem (verborgenen) ‚Kanal‘ zwischen Simonini und Dalla Piccola. Denn wie ersterem schließlich bewusst wird, hat er als Simonini einen Abbé namens Dalla Piccola 29 Ebd., S. 267. Deutsche Übersetzung: „Als ich den Laden und die Wohnung im ersten Stock gekauft hatte, war der Vorbesitzer mit mir in den Keller gegangen und hatte mir eine Falltür gezeigt, die sich dort im Boden öffnete. / ‚Da werden Sie ein paar Stufen finden‘, hatte er gesagt, ‚und am Anfang werden Sie nicht den Mut haben, da hinunterzusteigen, denn Sie werden fürchten, dass der große Gestank Sie ohnmächtig werden lässt. Aber manchmal wird es notwendig sein. […] Jetzt hat der Baron Haussmann endlich ein gutes Kanalisationssystem in Paris gebaut, aber es dient hauptsächlich dazu, das Wasser abfließen zu lassen, und die Exkremente gehen ihre eigenen Wege; […]. Aber zur Zeit diskutiert man, ob es nicht besser wäre, endgültig das System des tout-àl’égout anzunehmen, soll heißen, dass in den großen Kanälen nicht nur das Abwasser, sondern auch aller andere Unrat zusammenfließen soll. […]‘“ (S. 266-267). 30 Ein metaphorisch signifikantes Detail, insofern es dem verklemmten Simonini im Horizont eines psychoanalytischen Bildes auch in übertragenem Sinn nicht gelingt, abzuführen, was da abgeführt werden sollte: seine Triebe. 31 Ebd., S. 268. Deutsche Übersetzung: „Übrigens könnte dieser Zugang zu den Kloaken auch Vorteile haben. Wir leben in Zeiten, in denen alle zehn bis zwanzig Jahre in Paris eine Revolution oder ein Aufstand ausbricht, da kann ein unterirdischer Fluchtweg nie schaden.“ (Dt. S. 267).
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ermordet,32 weil dieser ihm gefährlich geworden war, und die Leiche dann unterhalb seines Wohnhauses in der Kanalisation versteckt. Seine unbewusste und quälende Erinnerung an den Vorfall hat dazu geführt, dass für ihn sein Alter Ego den Namen seines Opfers trägt: Dalla Piccola.33
3. KULTURELLE UND MENTALE DUNKELZONEN Ein anderes, auf eigene Weise mit „Dunkelheit“ assoziiertes Milieu ist das der Okkultisten. Wie schon in Il pendolo di Foucault (1988)34 prägt dieses Handlung und Atmosphäre des Romans in erheblichem Maße. Verschiedene Episoden spielen im Umfeld spiritistischer und satanistischer Bekanntschaften Simoninis, der hieraus u.a. manch anregenden Impuls für seine Fälschertätigkeit bezieht. Ein ganzes Kapitel schildert Una notte a messa35 (so der Titel von Kapitel 24) und bietet – der Konstruktion nach ein Teil von Dalla Piccolas Aufzeichnungen – vielfältige, auf historische Quellen gestützte Einblicke in die eklektizistischen Vorstellungswelten der einschlägigen Zirkel. Deren Rituale sind als die finsteren Gegenstücke zu denen der offiziellen Kirche konzipiert, eben als ‚nächtliche‘ oder ‚schwarze‘ Messen, aber auch als Gegenstücke zu wissenschaftlichen (psychologischen und medizinischen) Hypnose-Praktiken, insofern hier wie dort Personen in Trance versetzt und zur Artikulation bewusstseinsferner Mitteilungen angeregt werden. Der insgesamt mit reproduzierten Bildmaterialien aus dem späteren 19. Jahrhundert recht großzügig ausgestattete Roman bietet gerade mit Blick auf okkultspiritistisch-satanistische Vorstellungsbilder allerlei Anschauungsmaterial. Wie 32 Vgl. U. Eco: Il cimitero, S. 269. (Dt. S. 269). 33 Natürlich ist er zugleich ein freudianisch konnotiertes ‚kleines‘ Ich. 34 Il pendolo di Foucault verweist durch seinen Titel auf das berühmte Pendel des Physikers Léon Foucault zur Demonstration der Erdrotation (im „Musée des Arts et Métiers“); dass zudem an Michel Foucault gedacht wird, entspricht einer intendierten Polysemie. Obwohl die Hauptfiguren des pendolo aus Italien kommen, ist Paris ein wichtiger Schauplatz – und zwar als Zentrum okkulter Umtriebe und Verbrechen. Siehe Eco, Umberto: Il pendolo di Foucault, Mailand: Bompiani 1988. (Dt. Das Foucaultsche Pendel, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 1989); vgl. Bauco, Luigi/Milloca, Francesco: Das Geheimnis des Pendels entschlüsselt. Zu Umberto Ecos neuem Weltbestseller ‚Das Foucaultsche Pendel‘, hg. u. übers. v. Jakob Haselhuber, München: W.Heyne 1990 [Original: Dizionario del pendolo di Foucault. A cura di Luciano Turrini, Ferrara: Gabriele Corbo Editore 1989]. 35 U. Eco: Il cimitero, S. 443-465. Deutsche Übersetzung: „Eine nächtliche Messe“. (Dt. S. 441-463).
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die quellenbasierten Berichte, so wirken auch die Bildmaterialien bei aller antiaufklärerischen Finsternis doch zugleich grotesk, ja auf skurrile Weise komisch, etwa wenn sie ziegenbockartige Teufelserscheinungen oder seltsam verrenkte Körper zeigen. Als ein exemplarischer Fall gegenaufklärerischer Tendenzen erscheinen Eco Verschwörungstheorien als Produkt und als Stimulus finsterer Prognosen; die im Il nome della rosa thematisch zentrale Apokalypse eröffnet im Grunde bereits die Serie entsprechender Weltuntergangsphantasien. Das Zeitalter der Lichter und der wissenschaftlich-technologische Fortschritt haben die Disposition zum Glauben ans Dunkel nicht verringert, sondern eher noch erhöht, wie gerade Il cimitero di Praga illustriert. Eco verweist in einem Interview mit Thomas Stauder exemplarisch darauf, dass gerade „in einer Zeit des Positivismus wie dem 19. Jahrhundert […] der Wahn von der jüdischen Weltverschwörung so weite Verbreitung fand”36 und nimmt damit die Thematik des Cimitero vorweg.37 In historischen Ausführungen zur Geschichte der Verschwörungstheorien spielt Frankreich bei Eco eine Schlüsselrolle. Die von Eco in verschiedenen Texten thematisierten Beispiele reichen von den frühneuzeitlichen Esoterikern bis zu den antisemitischen Produkten à la „Protokolle“. Gerade in Paris entwickelt sich ein kontinuierlicher Strang lügenhaft-fiktionaler Weltlesemuster, beginnend bei Philipp dem Schönen, der die Templer als Geheimbund verfolgte, über den Mythos um frühneuzeitliche Geheimbünde und ihr okkultes Wissen – bis zu modernen Verschwörungsphantasien.38 36 Stauder, Thomas: Gespräche mit Umberto Eco, Münster: LIT 2004, S. 250. 37 „Der Positivismus des Ottocento hat Persönlichkeiten wie Arthur Conan Doyle hervorgebracht, der tagsüber die Abenteuer des auf kühle Rationalität setzenden Detektivs Sherlock Holmes erzählte und der abends zu spiritistischen Sitzungen ging. Eine derartige Haltung war unter den Gelehrten der damaligen Zeit keineswegs selten; ihre durch die Naturwissenschaften geschulte Nüchternheit kompensierten sie häufig durch den Glauben an die Prophezeiungen des Tarocks oder der Astrologie.“ (Stauder, Thomas/Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag, in: Thomas Stauder (Hg.), Gespräche mit Umberto Eco aus drei Jahrzehnten, Berlin: LIT 2012, S.245-284, hier S. 250f.). 38 „Der Anfang liegt weit zurück, am Beginn des 14. Jahrhunderts, als der französische König Philipp der Schöne den Orden der Templer zerstörte. Seit damals hat man nicht aufgehört, von einem heimlichen Weiterleben des Ordens zu fabulieren, und noch heute können Sie über dieses Thema Dutzende von Büchern in den mit ‚Esoterik‘ oder ‚New Age‘ beschrifteten Abteilungen der Buchläden finden. Im 17. Jahrhundert kam eine andere Geschichte hinzu, die der Rosenkreuzer, einer Bruderschaft, die ihren ersten Auftritt auf der historischen Bühne in Gestalt der Beschreibungen hatte, welche die sogenannten Rosenkreuzer-Manifeste von ihr gaben […].“ (Eco, Umberto: Im Wald der
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Die Geschichte der fingierten jüdischen Weltverschwörung ist die konsequente Fortsetzung davon.39 Bietet Paris schon als Großstadt mit einer kriminellen Unterwelt, als Treffpunkt von Agenten und anderen Dunkelmännern, als Metropole mit weitläufiger Kanalisation wie als Zentrum spiritistisch-okkulter Strömungen einen besonders ergiebigen Schauplatz für Episoden, die im Dunkeln, in säkularen Unterwelten spielen (ganz zu schweigen von den psychoanalytisch ausgeloteten und dabei diskursiv konstruierten Untergründen der Psyche), so kommt ein weiteres Motiv gerade dieses Schauplatzes hinzu: Hier entsteht in den allerletzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine der ersten Untergrundbahnen. Durch die Metro verlagert sich ein Teil der Stadt auch ganz ‚offiziell‘ in den Untergrund. Und so dringt zum einen die moderne Technik in einen Bezirk vor, der lange vorrangig mit gegenaufklärerischen, fortschrittsfeindlichen, okkulten Umtrieben assoziiert war. Wird damit das Reich der Dunkelheit kleiner? Mitnichten – denn wie Ecos Roman in Erinnerung ruft, ist gerade die Untergrundbahn seit ihrer Entstehungszeit ein von Terroristen geschätzter Ort, um finstere Pläne ins Werk zu setzen. Noch in der Frühzeit des Metro-Netzes werden die ersten Attentate geplant, im Roman (und nicht nur dort) nicht zuletzt verknüpft mit antisemitischer Hetzpropaganda – nämlich zur (gefälschten) Illustration der angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Der antisemitisch programmierte Simonini, der seine Informationen gern aus einem (historisch-faktualen) Hetzblatt namens „La Libre Parole“ bezieht, stellt bezeichnenderweise zwischen dem hier zu erschließenden Untergrund, dem obsessiv entfalteten Vorstellungshorizont um ein globales jüdisches Komplott und eigenen verschwörerischen Handlungsoptionen schnell eine Beziehung her.
Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen, übers. v. Burkhardt Kroeber, München/Wien: Hanser 1994, S. 174). 39 Eco hat den historischen Kontext neuerer Verschwörungstheorien mehrfach beleuchtet und prägende Tendenzen herausgearbeitet, so in der Schrift „Im Wald der Fiktionen“: Warnende Verschwörungstheorien, die sich an die Idee der Existenz einer Geheimgesellschaft knüpften, entstehen zur Zeit der französischen Revolution. 1797-1798 verfasst der Abbé Barruel (der auch im „Cimitero“ erwähnt wird) seine „Mémoires pour servir à l’histoire du jacobinisme“ – wie Eco sagt, „als Antwort auf die Französische Revolution“ – „ein dem Anschein nach historisches Werk, das sich jedoch wie ein Schauerroman liest“ (U. Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 176). – Geheimagenten verfassen für Napoleon einen Bericht, der auf die Angaben des Marquis de Luchet und des Abbé Barruel zurückgreift. 1806 bekommt Barruel einen Brief des Hauptmanns Simonini (also einer Person, deren Namen Eco für seinen „Cimitero“-Protagonisten übernimmt), der die Juden ins Spiel bringt (vgl. ebd., S. 177).
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„[…] solo in questi ultimi tempi si sono iniziati i primi lavori di scavo per una linea Porte de Vincennes-Porte de Maillot. […] già si è costituita una compagnia del Metro e da più di un anno la Libre Parole ha iniziato una campagna contro i molti azionisti ebrei che vi appaiono. Mi pareva dunque utile legare il complotto ebraico alle metropolitane, e pertanto avevo proposto: ‚In quel tempo tutte le città avranno ferrovie metropolitane e passaggi sotterranei: da questi faremo saltare in aria tutte le città del mondo, insieme alla loro istituzioni e ai loro documenti.‘“40
Gezielt unklar ist, ob Simonini mit dem In-die-Luft-Jagen hier einen diskursiven Baustein für die „Protokolle“ meint oder die Planung eines realen Attentats. (Bei ihm geraten Fiktion und Faktuales ja regelmäßig durcheinander.) Den ernüchternden Einwand seines Gesprächspartners, des Dunkelmanns Golowinski, die fingierte Prager Friedhofsversammlung datiere doch hinter den Metrobau zurück, so dass letzterer nicht als Bestandteil des Fakes der jüdischen Weltverschwörung brauchbar sei, kontert Simonini mit dem Reiz von ‚Prophetien‘41 (diese Spielform der Fake-Produktion wird in Ecos letztem Roman Numero Zero wieder auftauchen42). Simonini endet, wie der Roman suggeriert, als Bombenattentäter, doch sein dunkles Geschäft wird von anderen fortgesetzt. Die Metro, Produkt fortschrittlicher Technologie, rationales Beförderungsmittel und Prestigeobjekt einer Metro-Pole, ist zum Schauplatz neuartiger Schrecken geworden. Simoninis (bzw. Ecos) Paris ist insgesamt, unbeschadet der vielen ihm zugrundeliegenden Anleihen an historisch-faktuale Quellen ein romanhaftes Paris, reichlich bevölkert von typenhaften und teilweise aus anderen Texten geborgten Gestalten. Auf ostentative Weise sind das ‚dunkle‘ und das ‚helle‘, offizielle Paris samt ihren zwielichtigen Übergangszonen aus Topoi, Zitaten, Quellen zusammenmontiert. Damit wiederholt sich am „Paris“ des Romans eben das, was Ecos Diagnosen zufolge den Umgang mit historischen Fakten prägt: Sie sind das 40 U. Eco: Il cimitero, S. 496. Deutsche Übersetzung: „[…] vor kurzem hatte man mit den Ausschachtungsarbeiten für die Linie von der Porte de Vincennes zur Porte Maillot begonnen. […] schon hatte sich eine Compagnie du Métropolitain gegründet, und seit über einem Jahr führte La Libre Parole eine Kampagne gegen die vielen jüdischen Aktionäre, die sich dort engagierten. Daher schien es mit nützlich, das jüdische Komplott [also den Fake der „Protokolle“] mit der Pariser Métro zu verbinden, und so schlug ich vor: ‚Bald werden in allen Städten Untergrundbahnen gebaut sein; von denen aus werden wir alle Städte in der Welt in die Luft jagen, samt ihren Einrichtungen und Dokumenten.‘“ (Dt. S. 493). 41 Vgl. ebd., S. 498. (Dt. S. 494). 42 Vgl. Eco, Umberto: Numero Zero, Mailand: Bompiani 2015. (Dt. Nullnummer, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2015).
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Produkt intertextueller Basteleien. Genau dies wird am (historischen!) Beispiel der „Protokolle von Zion“ ja exemplarisch nachverfolgt.
4. SLAPSTICKS IM ZWIELICHT. DIE LÄCHERLICHKEIT DES DUNKLEN Wirken Ecos Dunkelmänner gerade in ihrer Klischeehaftigkeit oft grotesk, karikaturenhaft, manchmal bei aller Gefährlichkeit albern, so gestalten sich ihre intentionalen wie ihre nichtintentionalen Handlungen wiederholt grotesk, ja slapstickhaft, begonnen bei der schmuddeligen Atmosphäre der Wohnung Simoninis und seinen seltsamen Werbemaßnahmen für die eigene konspirative Handelsware (er handelt mit entweihten Hostien, die er in einem Tabernakel aufbewahrt) – bis hin zu den seltsamen okkulten Übungen, denen sich die Diaboliker und Hysterikerinnen hingeben. Die düstere Szene um die Leichenbeseitigung des von Simonini ermordeten ‚echten‘ Dalla Piccola erscheint einerseits als eine Unterwelt-Szene, andererseits als makaber-groteskes Zitat ähnlicher Szenen, wie sie übrigens auch aus Filmen bekannt sind.43 Der Mörder reiht bei der Schilderung der Kanaltour ein zynisches Klischee ans andere. „Era la prima volta che dovevo far scomparire il corpo di qualcuno che avevo ucciso, perché con Nievo e con Ninuzzo la faccenda si era risolta senza che dovessi preoccuparmene […]. Mi rendevo ora conto che l’aspetto più irritante di un omicidio è l’occultazione del cadavere, e dev’essere per questo che i preti sconsigliano di uccidere, tranne naturalmente in battaglia, dove I corpi si lasciano agli avvoltoi. Mi sono strascicato il mio defunto abate per una decina di metri, e tirarsi dietro un curato tra gli escrementi non solo miei ma di chissà chi prima ancora di me, non è cosa gradevole ancor più se si deve raccontarla alla propria vittima – mio Dio, che sto scrivendo?“44 43 „Si trattava solo di fare scomparire quella salma importuna.“ (U. Eco: Il cimitero, S. 266). Deutsche Übersetzung: „Jetzt musste ich diese lästige Leiche nur noch irgendwie loswerden.“ (Dt. S. 266). – wie ein Krimischurke des 20. Jahrhunderts kommentiert Simonini seine Situation nach der Ermordung Dalla Piccolas. 44 Ebd., S. 268-269. Deutsche Übersetzung: „Es war das erste Mal, dass ich die Leiche eines von mir Getöteten verschwinden lassen musste, denn bei Nievo und Ninuzzo hatte die Sache sich ohne mein Zutun erledigt [es handelt sich um frühere Mordopfer Simoninis (MSE)] […]. Jetzt im Nachhinein mache ich mir bewusst, dass der schwierigste Teil bei einem Mord das Verbergen der Leiche ist, das muss wohl der Grund
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Die folgenden statistischen Informationen über das Aufkommen von Tierkadavern in der Pariser Kanalisation (bis hin zu einer Boa Constrictor) liest sich, zumal da sie die Form einer Liste hat, wie eine makabre Kontrafaktur der Listen in Rabelais’ Geschichten über „Gargantua“ und „Pantagruel“ (1532-1564), stellt also eine weitere Hommage an die Tradition des Paris-Romans dar. Wie in Rabelais’ Texten die Listenform das strukturelle Analogon zu auch inhaltlich exzessiven Bildern darstellt, so auch hier, in Simoninis Bericht über Kanalisation, Leichenbeseitigung und Exkremente. Während aber bei Rabelais Aspekte und Spielformen von Körperlichkeit tendenziell positiv semantisiert sind,45 bietet Ecos KanalSzene das düstere Gegenstück hierzu: wiederum Eingeweide – aber abstoßende. Düster, und doch grotesk-komisch – wie auch die Passagen zu einem anderen Gegenstand, der ebenfalls in an sich bereits skurriler Abundanz dargestellt wird: Simoninis teils abstruse antisemitische Phantasien und Klischeevorstellungen, die sich als eine besonders finstere Liste durch den ganzen Roman ziehen, sich mit seiner grotesken Misogynie verbinden und in der Zwangsvorstellung gipfeln, mit einer Jüdin ein Kind zu zeugen oder gezeugt zu haben. Simonini wirkt abstoßend, aber er ist in all seiner Verschrobenheit auch lächerlich, lächerlich wie die düsteren Räume, Szenarien, Projekte, in denen er seine Spuren und (um im Rabelaisinspirierten Bildhorizont zu bleiben) seine schriftstellerischen Exkremente hinterlässt, lächerlich als aus Zitaten montierte Klischeefigur, lächerlich durch seine eigene Stereotypie sowie durch die Stereotype, die er selbst ständig reproduziert. So wenig komisch also der zentrale historische Referenz-Stoff – die Genese der „Protokolle“ im Kontext der Ausprägung des modernen Antisemitismus – ist, so viel Anlass bietet der Roman doch, sich daran zu erinnern, dass die Aufklärung bei Eco, und nicht nur bei ihm, mit dem Lachen einhergehen kann, ja sollte. Humor und Groteske erscheinen als mächtige Verbündete der Aufklärung im Kampf gegen mancherlei Finsternisse, intellektuelle wie moralische und politische.
dafür sein, warum die Pfarrer davon abraten, jemanden zu töten, außer natürlich im Krieg, wo man die Toten für die Geier liegenlässt. Ich schleppte meinen Toten noch gut zehn Meter weiter, und einen Abbé hinter sich her durch Exkremente zu schleifen, die nicht nur die eigenen sind, sondern von wer weiß wem stammen, ist keine angenehme Beschäftigung, schon gar nicht, wenn man sie dem eigenen Opfer erzählen muss – mein Gott, was schreibe ich da?“ (Dt. S. 268). 45 Sie stehen für Vitalität, Abundanz, Lebensfreude, auch und gerade wenn dabei gefressen, defäkiert und allerlei Körperliches auf eine drastische Weise ausgestellt wird, die normalerweise als unappetitlich gilt.
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5. ENTDÄMONISIERUNG DES ‚FINSTEREN‘ ALS BEITRAG ZUR AUFKLÄRUNG Dies beginnt programmatisch schon mit Ecos erstem Roman, Il nome della rosa (1980), der eine Kriminalgeschichte, also die Geschichte eines Aufklärungsprojekts, darstellt und damit einem im 19. Jahrhundert profilierten Genre, dem Kriminalroman verpflichtet ist, der für Eco ein ‚metaphysisches‘ Modell darstellt, weil es um Wahrheitssuche geht.46 Der Detektiv Guglielmo de Baskerville ist als Typus ein literarisches Zitat aus der Kriminalliteratur wie sein finsterer Gegenspieler Jorge von Burgos, eine Leihgabe aus der Gothic Novel. Zwischen Guglielmo (dem Aufklärer) und Jorge (dem „Orthodoxen“, dem „Dogmatiker“) entbrennt ein programmatischer Streit über die Funktion und die Legitimität des Lachens. William ergreift die Partei des Lachens, weil er dessen subversive Effekte schätzt und es als befreiend empfindet; Jorge hält jede Form der Lachkultur für frevlerisch (im besten Fall für läppisch), weil sie Autoritäten und damit bestehende Machtstrukturen in Frage stellt. Die Hypotexte, auf die Eco sich stützt – wiederum ostentativ zitierend – sind bestens bekannt. Rabelaissche Phantasien haben im Roman deutliche Spuren hinterlassen, und Michail Bachtin als Rabelais-Interpret bietet mit seiner Ästhetik eine zweite prägende Referenzebene.47 Auf für Eco impulsgebende Weise hat Bachtin den Zusammenhang zwischen Literatur und Karneval, Literatur und Lachkultur erörtert. Literatur erscheint aus seiner Sicht als eine Relativierung von Autoritäten, als Destabilisierung von Hierarchien, also von Macht. Diese Macht beruht (wie Ecos Roman modellhaft illustriert) maßgeblich auf der Verwaltung und Kontrolle von Geheimnissen, ja auf deren Produktion. Im Roman dreht sich der Konflikt zwischen Guglielmo und Jorge, Aufklärung und Obskurantismus bekanntlich um ein solches ‚produziertes‘ Geheimnis (das Verstecken eines Buchs), sowie um das Lachen und das Lächerliche (es geht um ein Buch über die Komödie), genauer: um deren subversives Potenzial. Jorge erkennt die Macht des Lachens – und lehnt sie ab.48 Daraus resultieren bekanntlich
46 Vgl. Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 1984, hier bes. das Kapitel: „Die Metaphysik des Kriminalromans“, S. 63-67. 47 Vgl. Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankf./M: Suhrkamp 1979. 48 „[…] Il riso libera il villano dalla paura del diavolo, perché nella festa degli stolti anche il diavolo appare povero e stolto, dunque controllabile. Ma questo libro potrebbe insegnare che liberarsi della paura del diavolo è sapienza. Quando ride, mentre il vino
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im Roman die Todes- und sonstigen Unglücksfälle zu erheblichen Teilen, steht an ihrem Ausgangspunkt doch das Verschwindenlassen des Aristotelischen Buchs über die Komödie. Das Böse ist nicht nur humorlos, sondern humorfeindlich – und darum umso böser. Guglielmo hingegen agiert als Apologet des Lachens und reißt gelegentlich Witze, wenngleich harmlose. Im Showdown-Dialog mit dem als Mörder enttarnten Jorge malt Guglielmo sich aus, wie er das Böse – Jorge – der Lächerlichkeit preisgeben möchte. Dazu gehört neben der physischen Demütigung die Entauratisierung. „Il diavolo non è il principe della materia, il diavolo è l’arroganza dello spirito, la fede senza sorriso, la verità che non viene mai presa dal dubbio. […] Tu sei il diavolo e come il diavolo vivi nelle tenebre. […] Io ti odio, Jorge, e se potessi ti condurrei giù, per il pianoro, […] la faccia dipinta come un giocoliere e un buffone, perché tutto il monastero ridesse di te, e non avesse più paura.“49
Als Hanswurst würde Jorge niemandem mehr Angst einjagen – genau diese Grundidee erscheint aufgegriffen in der Darstellung Simoninis, des ideologischen gli gorgoglia in gola, il villano si sente padrone, perché ha capovolto i rapporti di signora: ma questo libro potrebbe insegnare ai dotti gli artifici arguti, e da quel momento illustri, con cui legittimare il capovolgimento.“ (Umberto Eco: Il nome della rosa, Mailand: Bompiani 1980, S. 478). Deutsche Übersetzung: „[…] Das Lachen [so Jorge im Sinne Bachtins, wenn auch aus einer anti-bachtinianischen Haltung heraus (MSE)] befreit den Bauern vor seiner Angst vor dem Teufel, denn auf dem Fest der Narren erscheint auch der Teufel als närrisch und dumm, mithin kontrollierbar. Doch dieses Buch [gemeint ist das 2. Buch der Aristotelischen Poetik über die Komödie und das Lachen (MSE)] könnte lehren, dass die Befreiung von der Angst vor dem Teufel eine Wissenschaft ist! Der lachende Bauer, dem der Wein durch die Gurgel fließt, fühlt sich als Herr, denn er hat die Herrschaftsverhältnisse umgestürzt. Doch dieses Buch könnte die Wissenden lehren, mit welchen Kunstgriffen, mit welchen schlagfertigen und von diesem Moment an auch geistreichen Argumenten sich der Umsturz rechtfertigen ließe!“ (Umberto Eco: Der Name der Rose, übers. v. Burkhardt Kroeber, München/Wien: Hanser 1982, S. 603). 49 Ebd., S. 481. Deutsche Übersetzung: „‚[…] der Teufel ist nicht der Fürst der Materie, der Teufel ist die Anmaßung des Geistes, der Glaube ohne ein Lächeln, die Wahrheit, die niemals vom Zweifel erfasst wird. […] Du bist der Teufel, du lebst wie der Teufel im Finstern. […] Ich hasse dich, Jorge von Burgos, und wenn ich könnte, würde ich dich hinunterführen und über den Hof treiben, […] das Gesicht bemalt wie ein Narr und Hanswurst, damit alle im Kloster über dich lachen und keine Angst mehr haben. […]‘“ (Dt. S. 607).
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Wegbereiters antisemitischer Hetze, als Hanswurst. Die Entdämonisierung des Bösen ist für Eco ein wichtiges Hilfsmittel, wenn nicht gar der entscheidende Schritt bei der Bekämpfung des historischen Übels in seinen verschiedenen Spielformen. Entdämonisierung beginnt bei der Entlarvung, wie sie die Aufklärung betreibt, bei der Demaskierung der Urheber von Gewalt, der Schuldigen an Unglück und Unfreiheit.50 Dazu gehört insbesondere die Aufklärung darüber, wie ‚Feinde‘ konstruiert werden, um (aus Eigennutz) Gewalt zu säen. 51 Aber mit Enttarnung allein ist es noch nicht genug: Das unter der Maske auftauchende Gesicht muss zudem ausgelacht werden, um den Bann seiner Aura zu brechen. Entdämonisierung, das heißt daher wiederholt (schon in Il nome della rosa): Über das Böse lachen, es der Lächerlichkeit aussetzen und es dadurch relativieren, verkleinern, depotenzieren.
6. PARIS UND SEINE MONSTER: LITERATUR, KARNEVAL, DISKURSKRITIK ‚Monster‘ und Monsterdiskurse spielen in Ecos Projekt einer Entdämonisierung von Macht und Gewalt eine Schlüssel-Rolle. Ein weiteres starkes Motiv für Ecos Entscheidung, seinen „Prag“-Roman in Paris spielen zu lassen, sind daher die Pariser Monster. Mit Paris assoziativ aufs engste verknüpft sind die mittelalterlichen Monsterfiguren an der Kathedrale von Notre-Dame, aber auch Victor Hugos Gestalt des Quasimodo, der den gotischen Wasserspeiern ähnlich ist und dem Eco in der Figur des Salvatore in Il nome della rosa einen Doppelgänger verschafft. Den fabelhaften Monstern der Antike und des Mittelalters ist eine Reihe von Schriften Ecos gewidmet, insbesondere diverse Kapitel in La storia della brutezza.52 Auch als Romanstoff erweisen sich die Monster als ergiebig: Der 50 Das hier gemeinte (und so bekämpfte) Böse ist – so eine entscheidende Implikation – keine transzendente (metaphysische) Instanz, sondern ein innerweltliches Phänomen respektive eine innerweltliche Kraft. ‚Böse‘ sind Menschen, wenn sie es denn sind, als Angehörige dieser Welt, die deren Gesetzen (vor allem auch psychologischanthropologischen) sowie jeweils spezifischen kulturellen Prägungen unterliegen. Wie es immanent zu ‚bösen Handlungen‘ kommt oder manchmal schon gekommen ist, das muss aufgeklärt werden. 51 Ecos letzter Roman, „Numero Zero“ thematisiert unter diesem Aspekt die Massenpresse in der Ära Berlusconi, ihre Verstrickung in politische Machtkämpfe und ihre Pseudo-Informationen (vgl. U. Eco: Numero Zero). 52 Eco, Umberto: Storia della brutezza. A cura di Umberto Eco, Mailand: Bompiani 2007. (Dt. Die Geschichte der Hässlichkeit, übers. v. Friederike Hausmann, Petra Kaiser und
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Romanheld Baudolino, ein sympathischer Dokumentenfälscher, der auf eine Fülle monströser Erscheinungen aus der kollektiven Imagination zurückgreift, um das imaginäre Reich des Priesterkönigs Johannes auszustatten, berichtet ausführlich von seinen eigenen Begegnungen mit solchen ‚Monstern‘, wobei Faktuales und Fiktionales ineinander übergehen. Baudolino bezieht seine Inspiration vor allem aus einer Pariser Bibliothek; in Paris hat er seine Studien absolviert. Die grotesken, oft skurrilen, manchmal komischen Monster kollektiver Phantasien und einzelner Texte erscheinen im Kontext von Ecos historischkulturwissenschaftlichen Recherchen als entdämonisiert: als Produkte kulturspezifischer kollektiver Imaginationen. Analoges gilt auch für Teufels- und Höllenvorstellungen, für Tiermenschen, Dämonen sowie für andere historisch angstbesetzte Spielformen des Monströsen. Diverse Romane Ecos verfolgen eine analoge Strategie der Entdämonisierung, indem sie monströse Gestalten auftreten lassen, diese historisch kontextualisieren, dadurch depotenzieren – und oftmals lächerlich machen. Diese Art der Verbindung zwischen Lachhaftem und Monströsem interessiert den Aufklärer Eco besonders. Die skurril-monströsen Figuren bei Rabelais nehmen in der Storia della brutezza entsprechenden Raum ein. Sie sind ja bereits karnevaleske, literarisierte Monster. Ecos Entdämonisierungsprogramm bezieht sich nicht nur auf antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Mischwesen und groteske Erscheinungen, sondern auch auf einen auf eigene Weise mit Paris assoziierten Monstertypus: das ‚monstre moral‘, das Sittenmonster. In seiner Pariser Vorlesung über „Die Anormalen“53 hatte Michel Foucault in den 1970er Jahren solche Formen des Monströsen erörtert, die nicht über physische Missbildungen oder hybride Körperlichkeit bestimmt sind. Das monstre moral, so Foucaults These, entstehe in der Moderne und löse das Körpermonster als dominanten Monstertypus tendenziell ab. 54 ‚Sittenmonster‘ sind der Straftäter, der Tabuverletzer, aber auch der skrupellose Egoist, der Kannibale und der Inzestuöse. Zugleich ist der solcherart Anormale (z.B. der Verbrecher) „ein alltägliches Monster, ein banalisiertes Monster, […] ein blasses
Sigrid Vagt, München: Hanser 2007), vgl. u.a. Kap. IV: „Monster und Wunder“, Abschn. 1: „Wunderzeichen und Fabelwesen“. 53 Foucault Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankf./M.: Suhrkamp 2007. Foucault setzt sich mit dem Thema „Monster“ – als einer Form der Anormalität – aus der Sicht des Sozialphilosophen und Diskursanalytikers auseinander. Das Monströse ist aus der Perspektive Foucaults ein diskursives Produkt, und anormal ist das, worüber als über etwas Anormales gesprochen und geschrieben wird. 54 Ebd., S. 108-142.
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Monster“55 – ein ‚Simonini‘, wie mit Blick auf Ecos Paris-Roman gesagt werden kann.56 Il cimitero di Praga zitiert und karnevalisiert auch das Sittenmonster, um ihm zumindest die Aura des Faszinosums zu nehmen – und damit den Anteil an Macht, der auf solcher Faszinationskraft beruht. Dunkelmann Simonini ist kein schillernder großer Verbrecher, sondern ein schmieriger Clown, der in und von dunklen Kanälen lebt. Die im Cimitero di Praga entfalteten Themen sind Fremdenhass, Rassismus, Diffamierung, Antisemitismus und Terrorismus; die damit inszenierte Leitthese ist die einer für die Moderne charakteristischen (sekundären) Identitätsbildung auf der Basis von Feindbildern.57 Ecos Dekonstruktionsversuch dieses Prozesses setzt bei der Karnevalisierung des Bösen an. Die Geschichte Simoninis ist übrigens die Komplementärgeschichte zu der Baudolinos. Versucht Baudolino auf der Basis seiner Pariser Bibliothekslektüren, die Geschichte durch seine Erfindungen zum Guten zu beeinflussen, so handelt Simonini aus egoistischen und egozentrischen Motiven und freut sich an dem Unheil, das er stiftet. Aber hier wie dort ist Paris (genauer: eine Pariser Bibliothek) für die sich entfaltenden Monsterimaginationen entscheidend.
55 M. Foucault: Die Anormalen, S. 78. 56 In Gestalt von Verschwörern, Betrügern und Mördern bestimmen die sozialen Monster bereits die Fabel von „Il pendolo di Foucault“ (1988). Dieser kritisch-aufgeklärte Roman über Esoterik und Okkultismus warnt vor dem Irrationalismus in seinen diversen Spielformen. Verbrechen und Gewalttaten sowie Formen des politischen Radikalismus, Terrorismus und Faschismus prägen die Handlung nachhaltig. – „Numero Zero“ (2015) widmet sich weiteren gesellschaftlichen Monstrosiäten. Seine Kernthemen sind Korruption, Erpressung, Verleumdung und die unkontrolliert wuchernde Macht eines Medienimperiums à la Berlusconi. In manchem liegt eine ähnliche Konstruktion wie in „Il pendolo di Foucault“ vor, vor allem, wenn sich Fiktionen verselbständigen und ihr destruktives Potential entfalten; Ähnlichkeiten bestehen auch zum „Cimitero di Praga“: Skandale, Diffamierungen, erpresserisch genutzte Fiktionen prägen Ecos Romane über die eigene Zeit. Selbst – ja gerade – das Projekt ‚Aufklärung‘ wird in „Numero Zero“ durch Pseudo-Enthüllungen pervertiert. 57 U. Eco: Costruire il nemico, S. 9-36. Zum Thema ferner: Eco, Umberto: A passo di gambero. Guerre calde e populismo mediatico. Mailand: Bompiani 2006 (Dt. Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus, übers. v. Burkhart Kroeber. München/Wien 2007).
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7. ECOS ROMAN-PARIS UND SEINE UNTERWELTEN Eco zitiert und montiert in seinen Romanen Paris-Bilder und -Stereotype, so wie er Monsterbilder und -stereotype zitiert und montiert. Paris figuriert als Hauptstadt der Aufklärung und der Gegenaufklärung (so etwa als Zentrale von Verschwörungen, Geheimbünden, aber auch als Ort der Erfindung von Schein-Verschwörungen); eine direkte Linie führt vom Pendolo di Foucault zum Cimitero di Praga. Paris ist Hauptstadt der Moderne in ihren erhellenden und finsteren Spielformen – und zwar physisch wie kulturell. Und es ist intellektuelles Zentrum einer Gegenwart mit obskurantistischen Neigungen (siehe Il Pendolo di Foucault) ebenso wie der die aufklärerische Denktradition fortsetzenden Diskurskritik. Paris bietet nicht nur viele (von Eco einfallsreich genutzte) Anlässe, Variationen über den Kontrast von Hell- und Dunkelzonen zu erfinden und als Pendant des Lichts, der Aufklärung, der Modernisierung und der Transparenz entsprechende Unterwelten zu präsentieren. Auch der „Prag“-Roman selbst hat eine Ober- und eine Unterseite; letztere wird gebildet aus Zitaten, Topoi, literarischen und anderen Reminiszenzen, aus einem breiten Unterstrom an Material. Il Cimitero di Praga, so lässt sich bilanzieren, korrespondiert thematisch, motivisch und hinsichtlich seiner intertextuellen Faktur deutlich mit anderen Romanen Ecos und sonstigen Schriften. Der Roman spielt nicht nur großenteils in Paris (das in Baudolino und im Pendolo di Foucault bereits handlungstragend war), sondern er enthält, intertextuell und interpiktural aus vielerlei Materialien montiert, auch eine Fülle von Paris-Topoi, zu denen literarische Reminiszenzen (Rabelais, Victor Hugo etc.) gehören (die auch für andere Romane wichtig sind). Insbesondere wird ein dunkles, ‚rückseitiges‘, inoffizielles Paris dargestellt, das von zwielichtigen Gestalten bevölkert ist und den Rahmen für abseitige Verhaltensweisen, Lebensformen und Verbrechen bietet – eine bei aller Abseitigkeit doch ‚realistische‘ Romanwelt, die zum Anlass einer Thematisierung der spannungsvollen Relation von Faktualem und Fiktionalem wird – und eine Fälschergeschichte zu erzählen (wie in anderen Romanen auch). Die Darstellung obskurer und verborgener urbaner Schauplätze steht bei Eco aber in einem noch umfassenderen Kontext. Es handelt sich um hochgradig metaphorische Wohnund Handlungsräume von Repräsentanten finsterer Politiken und Diskurse, gipfelnd in antisemitischer Hetzpropaganda als dem Produkt eines Paris der Hinterzimmer und im sich anbahnenden Metro-Terror als Metonymie für die Gefährdung von Kultur, Zivilisation und Gesellschaft ‚von unten‘ her. Die Darstellung jener Schattenzonen fügt sich in den Rahmen von Ecos facettenreicher Auseinandersetzung mit Monsterkonzepten und Monstrifizierungsdiskursen, mit den Dunkelzonen der Macht und den Möglichkeiten von Aufklärung.
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Dies fügt sich in sein in fiktionalen, wissenschaftlichen und essayistischen Texten profiliertes Entdämonisierungsprojekt, das insgesamt auf karnevalistische Strategien setzt, selbst, ja gerade da, wo es ‚finster‘ wird. Vor allem bei der Rekonstruktion des ‚sozialen Monsters‘ Simonini kommt ein auch andernorts als Remedium gegen Gewalt und Dogmatismus geschätztes Mittel ins Spiel: der Humor. Ecos Pastiche-Paris mit seinen räumlichen und diskursiven Finsternissen wird komisch überzeichnet, und diese Verulkung des Dunkelmännertums ist mit Strategien anderer Romane vergleichbar, die auf Analoges zielen: auf eine Ridikülisierung des Bösen, des vermeintlich Unheimlichen und dadurch scheinbar, aber nur scheinbar Unangreifbaren.
LITERATUR Primärliteratur Eco, Umberto: Baudolino, Mailand: Bompiani 2000. (Dt. Baudolino, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2001). — Il cimitero di Praga, Mailand: Bompiani 2010. (Dt. Der Friedhof in Prag, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2011). — Il nome della rosa, Mailand: Bompiani 1980. (Dt. Der Name der Rose, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 1982). — Il pendolo di Foucault, Mailand: Bompiani 1988. (Dt. Das Foucaultsche Pendel, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 1989). — Numero Zero, Mailand: Bompiani 2015. (Dt. Nullnummer, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2015). Sekundärliteratur Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Rainer Grübel, Frankf./M: Suhrkamp 1979. Bauco, Luigi/Milloca, Francesco: Das Geheimnis des Pendels entschlüsselt. Zu Umberto Ecos neuem Weltbestseller ‚Das Foucaultsche Pendel‘, hg. u. übers. v. Jakob Haselhuber, München: W.Heyne 1990. [Original: Dizionario del pendolo di Foucault. A cura di Luciano Turrini, Ferrara: Gabriele Corbo Editore 1989]. Cohn, Norman: Warrant for Genocide: The Myth of the Jewish World Conspiracy and the Protocols of the Elders of Zion, New York: Harper & Row 1966.
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Eco, Umberto: A passo di gambero. Guerre calde e populismo mediatico, Mailand: Bompiani 2006. (Dt. Im Krebsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus. übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien 2007). — Costruire il nemico e altri scritti occasionali, Mailand: Bompiani 2011. (Dt. Die Fabrikation des Feindes und andere Gelegenheitsschriften, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 2014). — Einführung“, in: Will Eisner: Das Komplott. Die wahre Geschichte der Weisen von Zion, München: DVA 2005 [Original: The Plot. The Secret Story of the Protocols of the Elders of Zion, New York/London: WW Norton & Company 2005]. — Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. HarvardVorlesungen, übers. v. Burkhardt Kroeber, München/Wien: Hanser 1994. — Nachschrift zum Namen der Rose, übers. v. Burkhart Kroeber, München/Wien: Hanser 1984. — Storia della brutezza. A cura di Umberto Eco, Mailand: Bompiani 2007. (Dt. Die Geschichte der Hässlichkeit, übers. v. Friederike Hausmann, Petra Kaiser und Sigrid Vagt, München: Hanser 2007). Foucault Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (19741975), Frankf./M.: Suhrkamp 2007. Hugo, Victor: Notre-Dame de Paris, 1842, hg. v. Samuel Silvestre de Sacy, Paris: Gallimard 2002 [1831]. Rimbaud, Arthur/Forestier, Louis/Char, René: Poésies: Une saison en enfer; Illuminations, Paris: Gallimard, 1973 [1873]. Rollin, Henri: L'Apocalypse de notre temps. Les dessous de la propagande allemande d'après des documents inédits, Paris: Gallimard 1939. Stauder Thomas: Gespräche mit Umberto Eco, Münster: LIT 2004. Stauder, Thomas/Eco, Umberto: Der Friedhof in Prag, in: Thomas Stauder (Hg.), Gespräche mit Umberto Eco aus drei Jahrzehnten, Berlin: LIT 2012, S. 245284. Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Paris: Éditions Gallimard 2009 [1842-1843]. Zola, Emile: Le ventre de Paris, Paris: G. Charpentier 1878 [1873].
Autopsie des Unsichtbaren Das energetische Feld des Londoner Ostens in Iain Sinclairs Lud Heat André Otto
Noch bevor Iain Sinclair mit seinen Prosatexten zum wohl bekanntesten Psychogeografen Londons wurde, entwickelte er im gegenkulturellen Kontext der 1970er Jahre in Lud Heat (1975) seinen psychogeografischen Ansatz als eine textuelle Archäologie, die das periphere Londoner East End auf verborgene mythologische und energetische Konstellationen absucht und neu schreibt. In einer diskursiven Collage, die u. a. zwischen lokal- und kunstgeschichtlichem Essay, Tagebuch und Lyrik wechselt, kartiert Lud Heat das East End ausgehend von Nicolas Hawksmoors Kirchen. Diese Kartierung geht jedoch programmatisch über den topografischen Raum hinaus, indem sie sich nicht nur auf die möglichen okkulten und mythischen Dimensionen der architektonischen und urbanistischen Pläne Hawksmoors bezieht, sondern den topografischen Raum als topologisches Feld entwirft, das sich über energetische Relationen zwischen der Stadtmaterie und historisch sowie ontologisch verschiedensten Diskursen etabliert. Während Hawksmoors Kirchen die topografischen Orientierungspunkte des Textes darstellen, steht im Zentrum des Textes, wie ich zeigen will, das Konzept der Autopsie als Programm eines Selbst-Sehens, das paradoxerweise eine über die Sichtbarkeit hinausgehende Raumkonstitution bedeutet. Dieses Programm manifestiert sich zunächst in Form von Tagebucheinträgen und Gedichten, die Sinclairs Tätigkeit als kommunaler assistant gardener dokumentieren und so einen ganz handfesten landschaftspflegerischen Umgang mit den Orten Hawksmoors darstellen. Zugleich verbinden sie diese jedoch zu einem ‚autoptischen‘ Parcours, der in das Geflecht der Orte einen Untergrund unsichtbarer Diskurse und Prätexte einschreibt, der von der ägyptischen Mythologie über William Blake bis hin zur Gegenkultur der 1970er Jahre reicht.
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Epistemologisch ist dies hochgradig prekär, denn in der Annäherung an die materiellen Orte entwickelt Sinclair eine spekulative Topo-Grafie, die die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren produktiv macht. Im Gestus der Offenlegung mythischer und historischer Schichten betreibt Sinclair eine MythoHistoriografie, die die ontologische Differenz zwischen Mythischem und Geschichtlichem ebenso kontinuierlich transgrediert wie die zwischen topografischer Materialität und diskursiv-symbolischer Rekonfiguration. Daher ist vor allem auch die multiple diskursive und mediale Form des Textes selbst entscheidend. Durch das Nebeneinander dokumentarischer, essayistischer und poetischfragmentarischer Textualität ebenso wie Fotografien und Zeichnungen oszilliert Sinclairs Psychogeografie beständig zwischen topologisch-relationaler De- und topografischer Reterritorialisierung.1 In ihr scheint die spannungsvolle Öffnung auf das „heart of the mystery“ 2 des Londoner East End auf, die der Text als Autopsie des Unsichtbaren performiert.
LONDONER PSYCHOGEOGRAFIE Ab den 1990er Jahren und besonders um die Jahrtausendwende avanciert der bis dahin eher nur eingeweihten gegenkulturellen Kreisen bekannte Iain Sinclair, der im Eigenverlag Albion Village Press sich und andere avantgardistische Mitstreiter veröffentlichte und eine Zeit lang als Buchhändler arbeitete, gleichsam zum inoffiziellen Stadtschreiber Londons. Diese Entwicklung setzt langsam ein mit seinem Jack the Ripper-Roman White Chappell, Scarlet Tracings von 1987, nimmt dann Fahrt auf mit dem mehrfach prämierten zweiten Roman Downriver von 1991 und vor allem mit dem Essayband Lights out for the Territory: 9 Excursions in the Secret History of London von 1996 und kulminiert hinsichtlich der Öffentlichkeitswirksamkeit 2002 in jenem spektakulären Projekt urbanistischer Erkundung, das London Orbital mit seiner Wanderung entlang der M 25, des neu eröffneten Londoner Autobahnrings, darstellt. Daneben verfolgt Sinclair mit befreundeten Künstlern intermediale Projekte wie Liquid City mit Marc Atkins oder Rodinsky’s Room mit Rachel Lichtenstein und gibt einflussreiche Anthologien wie
1
Siehe dazu auch Hay, Duncan: Form, Place, and Memory. Materialist Readings of Iain Sinclair’s London Writing, Dissertation, Manchester 2012, S. 70: „Lud Heat is composed from a diverse collection of materials, and whilst the overall structure is provided by a loosely chronological diary format, the work includes drawings, photographs, and a wide range of different literary forms and linguistic registers.“
2
Sinclair, Iain: Lud Heat, Cheltenham: Skylight Press 2012, S. 85.
Autopsie des Unsichtbaren | 263
Conductors of Chaos von 1996, die die zeitgenössische Entwicklung der experimentellen englischen Dichtung dokumentiert, und London: City of Disappearances von 2006 mit unterschiedlichsten Prosapassagen und Essays zur Londoner Stadtentwicklung heraus. Im Zuge dessen wird Sinclair zur wohl bekanntesten Figur einer literarischen Strömung, die in ihrer Auseinandersetzung mit dem urbanen Raum Londons programmatisch zwischen Fiktionalem, Mythografischem und Dokumentarischem oszilliert. Diese wird ebenfalls ab den 1990er Jahren als Psychogeografie bezeichnet, wobei Sinclair selbst diese Denomination für sich nur zögerlich in Anspruch nimmt. Dass es sich um alles andere als eine einheitliche Strömung handelt, zeigt sich bereits daran, dass unter dem Begriff neben Sinclair so unterschiedliche Autoren zusammengefasst werden wie die radikalen Avantgardisten J. G. Ballard und Stewart Home mit seiner London Psychogeographical Association, der graphic novelist Alan Moore oder Peter Ackroyd und Will Self.3 Die Bezeichnung als inoffizielle Stadtschreiber trifft aber auf alle zu und kann in verschiedener Hinsicht die Spezifik der Londoner Psychogeografie verdeutlichen. Ursprünglich geht der Begriff der Psychogeografie auf die französischen Situationisten um Guy Debord zurück. Debord definiert ihn 1955 in seiner Introduction à une critique de la géographie urbaine als die Untersuchung der „lois exactes, et des effets précis“ der Geografie auf das „comportement affectif des individus“.4 Viel mehr als um ein bloßes Studieren ging es den Situationisten jedoch um eine spezifische Raumpraxis, die auf eine Wiederaneignung des urbanen Raums und dessen Veränderung im Zuge dieser Aneignung zielte. Bereits die Selbstbezeichnung als ‚Internationale‘ verweist dabei auf den politisch revolutionären Anspruch dieser Praxis und ihre marxistisch-utopische Ausrichtung. Ziel dieser Praxis ist die Neuaufteilung des Raumes durch die systematische Provokation und die Schaffung bestimmter situativer Parameter, wie sie etwa die psychogeografischen Spiele der Woche vorgaben. Durch die Verfahren des détournement, dem parasitären Gebrauch vorgefundener Raumelemente, und des dérive, dem Umherschweifen, das sich nicht an die raumlogistischen Vorgaben halten, sondern der „ligne de plus forte pente“5 folgen soll, wird der urbane Raum in einer Art und Weise erfahrbar, die unvorhersehbare emotionale Effekte zeitigt, und dadurch zugleich auf entscheidende Weise neu geordnet. 3
Zur Einführung in die Psychogeografie und ihre heterogenen Ausprägungen siehe Coverley, Merlin: Psychogeography, Harpenden: Pocket Essentials 2010.
4
Debord, Guy-Ernest: „Introduction à une critique de la géographie urbaine“, in: Les lèvres nues 6 (1955), S. 11-15, hier S. 11.
5
Ebd., S. 13. Für Debords Theorie der dérive siehe außerdem Debord, Guy-Ernest: „Théorie de dérive“, in: Les lèvres nues 9 (1956), S. 6-10.
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Die damit einhergehende Durchbrechung einer durch die kapitalistische Konsumgesellschaft instituierte Betäubung des Individuums und die bewusste Konfrontation des Einzelnen mit der Komplexität und Schichtung des urbanen Raumes kennzeichnen ebenso die Psychogeographie Sinclairs. Dies wäre die erste Dimension des Inoffiziellen. So richtet sich Sinclairs Stadtrekonstitution in den 1990er und 2000er Jahren vor allem gegen die spätkapitalistisch-postindustriellen Entwicklungen Londons, die er als direkte Folge des Thatcherismus betrachtet. 6 Im Unterschied zu den französischen Vorgängern hat die Londoner Psychogeographie im Gefolge Sinclairs einen ganz anderen temporalen Vektor und eine andere Medialität. Es geht ihr weniger um die Projektion einer Praxis, die den städtischen Raum in seiner funktional-topographischen Gestalt revolutionär umformen will. Sinclairs Wanderungen greifen zwar das absichtslose Umherschweifen der Situationisten auf, das neue topographische Muster und Verbindungen in die Stadt einschreibt, doch betreibt Sinclair dies dezidiert als Leser und Schreiber. Indem er die Figur des Flaneurs, die gebunden ist an die Großstadt des Industriekapitalismus, uminterpretiert als einen Stalker, der sich gerade nicht von der hyperfunktionalen postindustriellen Metropole leiten und verleiten lässt, verfolgt er in seinen Erkundungen des Londoner Territoriums letztlich ein Verzeichnen der „disappearances“, die in der bereits erwähnten psychogeographischen Anthologie London charakterisieren als city of disappearances.7 Dieses Schreiben ist zugleich entdeckend und bewahrend, bezieht sich also sowohl auf Vergangenes als auch auf den Umgang damit für die Zukunft. Vor allem jedoch bestimmt es sich als eine Spurensuche, der es um die Zeichen eines anderen, inoffiziellen und verborgenen London geht und das dessen komplexe Schichtungen
6
Siehe dazu vor allem die überaus bissig-satirischen Texte in Sinclair, Iain: Lights Out for the Territory. 9 Excursions in the Secret History of London, London et. al.: Penguin 2003. Für Sinclairs Auseinandersetzung mit den urbanen Folgen des Thatcherismus und Sinclairs „notion of exorcizing Thatcherism through the act of writing“ in seinen narrativen Texten siehe außerdem Murray, Alex: Recalling London. Literature and History in the work of Peter Ackroyd and Iain Sinclair, London: Continuum 2007, S. 66.
7
Sinclair, Iain: London. City of Disappearances, London: Penguin 2006. Unter dem zentralen Aspekt des Spektralen hat dies wirkmächtig Julian Wolfreys beschrieben. Vgl. Wolfreys, Julian: Writing London, Bd. 2: Materiality, Memory, Spectrality, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, S. 180f.: „Location is everything, but place remains obscure, difficult to approach and comprehend. London is a place of absent figures, whether buildings or poets, its history being a ‚deleted history‘.“ (Das Zitat im Zitat entstammt Sinclairs und Mark Atkins’ Liquid City, London: Reaktion Books 1999, S. 38).
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genealogisch zusammenträgt.8 Zugleich erstellen die Texte dabei erst jenes Gefüge, in dem sich unterschiedliche Ontologien und Zeitlichkeiten transversal kreuzen, indem sie die Londoner Topographie mit einer dezidiert spekulativen oder gar apokryphen Historiographie sowie Mythographie überlagern.9 Sie werden dadurch zu „test-sites of historical reconstruction“, die laut Bond „the unacknowledged labour involved with the production of cultural works“ aufzeigen.10 Anders als in der revolutionären Praxis der Situationisten bildet Sichtbarkeit bei Sinclair und der Londoner Neuauflage der Psychogeographie in zweifacher Weise das prekäre Zentrum des Schreibens. Einerseits bedingt sie eine Hermeneutik der Stadt in ihrer Zeichenhaftigkeit und medial-diskursiven Konstituiertheit, andererseits konzentriert sich die Londoner Psychogeographie in besonderer Weise vor allem auf eine Gegengeschichte im Zeichen des Okkulten. 11 In ihm verbindet sich das Verborgene mit dem Dunklen und seiner transhistorischen Persistenz. Dem liegt eine Konzeption des Ortes als Träger gewaltsamer Energien zugrunde, die unterschiedlichste historische und ontologische Schichten der Stadt miteinander verbinden und von der Vergangenheit auf die Gegenwart ausstrahlen. Den zentralen mythographisch-paranoischen Ankerpunkt für London bietet die
8
Zur
politischen
Dimension
dieser
multiplen
und
medienbewussten
Praxis
differenzieller Ortsschreibung siehe ebd., S. 162: „Informed by a belief that poiesis is also, always, a praxis, and that writing is always capable of engaging in acts of affirmative resistance when opening itself to the multiple voicings of the city's historical and cultural others, Sinclair's modes of presentation, urban staging, and mapping interrupt normative models of urban representation, engaging, it might be added, in a kind of terrorist warfare with all representations of the city.“ 9
Robert Bond charakterisiert Sinclairs mytho-historiografische Verfahren vor der Folie von Walter Benjamins Historiografie in „Speculating Histories: Walter Benjamin, Iain Sinclair“, in: Historical Materialism: Research in Critical Marxist Theory 14.2 (2006), S. 3-27, hier S. 8, entsprechend: „Sinclair’s momentum of assembly darts between its historical materials, constructing affiliations between textual sources or historical contexts rather than cordoning them off within a linear array of individuated tableaux: Jack the Ripper, Holmes and Watson, the Elephant Man.“
10 Ebd., S. 13. 11 Daher auch die Begeisterung für William Blake und Thomas de Quincey, dessen Texte als erste Manifestationen einer Londoner Psychogeografie betrachtet werden. Zur Geschichte der Psychogeografie und ihrer Vorläufer siehe vor allem das Kapitel London and the Visionary Tradition, in: M. Coverley: Psychogeography, S. 31-56.
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Faszination mit Jack the Ripper und dem East End 12 als verschobenen Zentrum Londons. Sichtbarkeit ist dabei aber gerade nicht die Voraussetzung des Schreibens; vielmehr wird ihre Befragung zur Möglichkeit einer alternativen Konstitution des urbanen Raums. Sie setzt in David Ashfords Worten auf die „interstitial zones of private meaning and esoteric knowledge, privileging aspects of place that are not reducible to economics“13, um so nach Phil Barker dem „‚objective‘ panoptical mapping“ einer funktionalen urbanen Oberfläche „the private cognitive maps of our customized cities“14 entgegenzusetzen und die Logik und Logistik der spätkapitalistischen customization zu durchbrechen. Ich will im Folgenden zeigen, wie diese Form des mapping in Sinclairs frühem Buch Lud Heat programmatisch zu einer Einschreibung von Verbindungslinien führt, die eine Autopsie des urbanen Raums als energetisches Feld vornimmt. Dabei stellt die Autopsie mehr als eine primär objekt-bezogene analytische Operation der Offenlegung dar. Vielmehr verweist sie auf ein Programm des Selbst-Sehens, das einerseits verortet und verkörpert ist und andererseits Subjekt und Objekt des verkörperten Sehens in einem Prozess der textuellen Relationierung transformiert. Auf diese Weise performiert die autoptische Einschreibung just den suggestiven Bindestrich im Titel dieses Bandes, insofern es in seiner Auseinandersetzung mit London um die Verknüpfung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren geht. Sinclair 12 Diese Faszination erscheint in den späteren Texten zunehmend gebrochen und weicht einer Kritik an der Kommerzialisierung jenes London Gothic, die Teil hat an der von Sinclair
angeprangerten
Gentrifizierung
Ostlondons.
Für
eine
kritische
Auseinandersetzung mit dem Gothic Revival, zu dem Sinclair mit Lud Heat einen der Ur-Texte beigetragen habe, und dessen Anteil an diesen Prozessen der urbanen Neuordnung siehe Luckhurst, Roger: „The contemporary London Gothic and the limits of the ,spectral turn‘“, in: Textual Practice 16.3 (2002), S. 527-546, hier S. 529: „The poet, novelist and essayist Iain Sinclair has generated a tangle of these occulted causalities, often marking out trajectories through the East End of London. With undecidable intent (he is a dead-pan mythographer), Sinclair claims to unearth hidden lines of force and meaning – most notoriously in his poem sequence on the secret significances of Hawksmoor’s churches, Lud Heat, undoubtedly one of the ur-texts for this resurgence of London Gothic since its publication in 1975.“ 13 Ashford, David: „The Ghost in the Machine: Psychogeography in the London Underground 1991-2007“, in: Literary London: Interdisciplinary Studies in the Representation of London 6.2 (2008), S. 2, verfügbar unter http://www.literarylondon. org/london-journal/september2008/ashford.html. 14 Baker, Phil: „Secret City. Psychogeography and the End of London“, in: Joe Kerr/Andrew Gibson (Hg.), London from Punk to Blair, London: Reaktion Books 2003, S. 323-333, hier S. 324.
Autopsie des Unsichtbaren | 267
entwirft ein poetologisches Programm ritueller Autopsie, durch das die medialen Bedingungen der Differenz von Sichtbarem und Unsichtbarem befragt und in ein hochgradig differenzielles textuelles Gefüge15 überführt werden.
TOPOLOGISCHE KARTIERUNGEN Lud Heat selbst unterlag lang dem Spiel des Okkulten. 1975 von Sinclair im Eigenverlag veröffentlicht, kursierte es lange Zeit vor allem als Legende. 16 Doch auch die Wiederveröffentlichung bei Vintage17 gab den Text nicht in seiner Gänze zu sehen, fehlten doch in dieser Paperback-Version die Abbildungen, die einen entscheidenden Teil der Hybridität des Textes und seiner autoptischen Stadtrepräsentation ausmachen. Die mediale Unverfügbarkeit trug jedoch zu einem Kultstatus bei, der sich mit Sinclairs mythografischem Zugang zum Londoner Osten verband. Dieser Zugang macht Lud Heat bis heute zu einem entscheidenden Vorläufer der Londoner Psychogeografie, während das Kultische selbst zu einem zentralen Moment der psychogeografischen Ästhetik des Inoffiziellen und Apokryphen wurde. Besonders der erste und letzte Teil des Buches sind modellbildend für Sinclairs spätere Methode. So entwickelt der letzte Teil, „Running the Oracle“, Sinclairs Form des dérive, wohingegen der erste Essay, „Nicholas Hawksmoor, His Churches“, eine alternative Topologie als Topografie der okkulten Geschichte Londons entwirft. Mit einer gewissen Ausschließlichkeit hat sich die Rezeption auf den ersten Essay mit seiner Überlagerung unterschiedlicher historischer und ritueller Dimensionen in der Neuorganisation Londons entlang
15 Ich verwende den Begriff im Sinne von Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris agencement. Für eine knappe Definition siehe Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris: Minuit 1980, S. 15: „Un agencement est précisément cette croissance des dimensions dans une multiplicité qui change nécessairement de nature à mesure qu'elle augmente ses connexions.“ 16 Vgl. dazu auch R. Luckhurst: „The contemporary London Gothic“, S. 529, der in seiner wenig wohlwollenden Lektüre von der Opazität des Textes spricht (und es letztlich auch beim Ausdruck einer eher hilflosen Verwunderung ob der Undurchsichtigkeit der Sinclairschen Ziele belässt): „This opaque text, published by Sinclair’s own Albion Press, gained kudos from its programmatic re-functioning by Peter Ackroyd in Hawksmoor in 1985 (Lud Heat gained even more kudos from being impossible to get hold of until its mass market reissue in 1995 – it worked its effect as a rumour as much as an actually read text).“ 17 Sinclair, Iain: Lud Heat and Suicide Bridge, London: Vintage 1995.
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okkulter Kraftlinien konzentriert. Dies liegt nicht zuletzt an Peter Ackroyds Wiederaufnahme, Ausweitung und Popularisierung von Sinclairs Thesen zu Nicholas Hawksmoors Ostlondoner Kirchen in seinem Roman Hawksmoor.18 Zugleich sind diese Thesen allerdings auch allzu leicht anbindbar an eine kommerzialisierende Folklore des Londoner East End, zu der Sinclair zu seinem eigenen Leidwesen nicht unwesentlich beigetragen hat. Ich werde hier jedoch weniger auf die okkulten Theorien und die psychogeografischen Mystifizierungen eingehen, wie sie im bekanntesten Teil von Lud Heat im Rahmen eines antikapitalistischen Gegendiskurses entwickelt werden. Stattdessen geht es mir um die grundlegende Problematisierung der Un-Sichtbarkeit und ihre medialen Manifestationsformen in einem heterogenen textuellen Gefüge. Dies betrifft zunächst die Textgestalt ebenso wie die Makrostruktur, die beide immense Probleme der generischen Zuordnung aufwerfen. Das auch textgenetisch nachzuweisende Grundgerüst des Textes basiert auf Sinclairs Tätigkeit als assistant gardener für den Tower Hamlets Bezirk im Jahr 1974 und verzeichnet Sinclairs Erfahrungen bei der Pflege der Grünflächen in den östlichen Stadtteilen Londons. Der Text folgt damit einem topografischen Parcours, der von der Arbeit und der Stadtverwaltung vorgegeben ist und dessen Stationen im Wesentlichen die Londoner Kirchen und ihre Friedhöfe bilden. Dieser wird in datierten Tagebucheinträgen sowie in Form einer Dichtung vertextet, die sich in ihrer Versstruktur und Anordnung an der amerikanischen Neo-Avantgarde und spezifischer an Ed Dorn, vor allem aber an Charles Olson und seiner Konzeption des projective verse und der composition by field19 orientiert. Sie sieht den Vers als am Atem orientierten Ausdruck energetischer Einheiten, während die Verse untereinander ein Feld entstehen lassen, das die größtmögliche topologische Spannung erzeugen und für energetische Entladungen sorgen soll. In diesem Sinne wird die freie Form des Gedichts laut Olson zur höchsten Form der Bindung und resultiert aus dem energetischen Gehalt.20 Sinclair setzt dies nun aber noch in 18 Ackroyd, Peter: Hawksmoor, London: Abacus/Sphere Books 1990. Zur Rolle Ackroyds siehe nochmals das Zitat aus Luckhurst in Anm. 16. 19 Siehe vor allem Charles Olsons Manifest „Projective Verse“, in: Ders., Collected Prose, hg. v. Donald Allen/Benjamin Friedlander, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1997, S. 239-249. Für eine Einordnung von Olsons überaus einflussreicher Poetik in die Transformation poetischer Topografie von einer traditionelleren poetry of place zu einer poetry of site siehe Shaw, Lytle: Fieldworks. From Place to Site in Postwar Poetics, Tuscaloosa: University of Alabama Press 2013. 20 Vgl. C. Olson: „Projective Verse“, S. 243f.: „every element in an open poem (the syllable, the line, as well as the image, the sound, the sense) must be taken up as participants in the kinetic of the poem just as solidly as we are accustomed to take what
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einem ganz anderen Sinne um, lagert er doch an diese Tagebucheinträge in Dichtung und Prosa, die zudem zwischen der ersten und dritten Person changieren, Essays an.21 Diese erzeugen aufgrund ihrer formalen und inhaltlichen Heterogenität eine Spannung, die die Frage nach den Bezügen der einzelnen Textteile zueinander ebenso aufruft wie zu den dead hamlets Londons, die der Untertitel als Gegenstand des Buches ausweist. Was die unterschiedlichen Teile des Textes transversal organisiert, ist das Nachspüren einer energetischen Spannung. Das energetische Feld der Textualität wird damit zum Ausdruck einer Energie, die Sinclairs London topologisch organisiert. Composition by field überlagert sich hier mit dem topologischen Feld der Stadt, sodass die aufzeichnende Repräsentation der Stadt ununterscheidbar wird von einer alternativen poetisch-mythografischen Topo-Grafie. Lud Heat verweist demnach sowohl auf die Hitze, die Sinclair während seiner Arbeit als Stadtpfleger erfährt, als auch auf die Reibungsenergie eines Stadtschreibens22, das den urbanen Raum Londons mit historischer und ontologischer Alterität auflädt und diese Alterität zugleich als konstitutiv für London beschreibt. Ich werde dies zunächst am Verhältnis der drei zentralen Essays zueinander nachzeichnen, von denen der erste, wie bereits erwähnt, die Anordnung von Hawksmoors Kirchen behandelt, die anderen beiden hingegen den Film The Act of Seeing with One’s Own Eyes des amerikanischen Experimentalfilmes Stan Brakhage sowie eine Installation des befreundeten Künstlers und Dichters Brian Catling, der zudem für die Illustrationen und Karten in Lud Heat verantwortlich zeichnet. we call the objects of reality; and that these elements are to be seen as creating the tensions of a poem just as totally as do those other objects create what we know as the world. // The objects which occur at every given moment of composition (of recognition, we can call it) are, can be, must be treated exactly as they do occur therein and not by any ideas or preconceptions from outside the poem, must be handled as a series of objects in field in such a way that a series of tensions (which they also are) are made to hold, and to hold exactly inside the content and the context of the poem which has forced itself, through the poet and them, into being.“ 21 Siehe auch Bond, Robert: Iain Sinclair, Cambridge: Salt Books 2005, S. 50: „Olson’s idea of the poem as an energy system capable of incorporating ‚anything‘ – narrative elements included – is in tune with Sinclair's actual assembly of his entire text. The prose pieces were in fact produced as supplements to the poetic work diary, and so can be viewed as narrative additions grafted into the ‚events‘ of a poetic energy system“. 22 Zu den systematischen Dimensionen der literarischen Diskursivierung städtischer Räume siehe Mahler, Andreas: „Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie – Mimesis – Imagination, Heidelberg: Winter 1999, S. 11-36.
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Im bekanntesten und wirkmächtigsten Teil des Buches, dem Hawksmoor-Essay, unterbreitet Sinclair vor allem eine Theorie über die urbanistische Anordnung von Hawksmoors Architektur, mit der er versucht habe, London nach uralten religiösen Prinzipien neu zu organisieren und dabei die okkulten Kräfte, die den Ort ausmachen, aufzunehmen und zu bannen. Sinclair zeichnet hier Verbindungslinien ein oder nach – die Ambivalenz ist entscheidend für die Psychogeografie insgesamt –, die sowohl die Kirchen als auch Hawksmoors Pyramiden oder die Londoner Obelisken in verschiedene Konstellationen bringen und entsprechende Kraftfelder ausdrücken.23 Diese richtet er nach Alfred Watkins’ esoterischer Vorstellung der ley lines24 aus, Achsen von spiritueller Signifikanz und Kraft, die topografische Punkte miteinander verbinden. Allerdings bezeichnet Sinclair diese später zum Grundstock psycho-geographischer Mythografie aufsteigenden ley lines hier signifikanterweise noch als nome lines25 – woran das zweite zentrale Verfahren des Essays ersichtlich wird. Denn nome lines sind altägyptische Demarkationslinien, die die 36 altägyptischen Distrikte (nomes26) trennten. Dass Sinclair diesen Begriff gebraucht, ist alles andere als zufällig, entfaltet er anhand Hawksmoors doch zugleich eine Archäologie des Londoner Ostens, die die Spuren der Stadtarchitektur mit historisch unterschiedlichen Ausbrüchen der gewaltsamen Kraft des Ortes überlagert. Darüber hinaus bezieht er aber etwa die legendären Ratcliffe Highway Morde von 1811 und die Taten des Ripper auf noch tiefere historische Schichten, in denen große Teile des Londoner Ostens als römische Begräbnisstätte dienten. Die römischen Riten schließlich erlauben eine Überblendung mit altägyptischen Prinzipien, die wiederum in Hawksmoors Pyramiden und den Londoner Obelisken energetisch konserviert seien. Ich kann dieses archäologisch-mythografische Beziehungsgeflecht hier nicht im Einzelnen nachverfolgen. Entscheidend für mich ist allerdings, in welchem
23 Siehe dazu auch A. Murray: Recalling London, S. 105: „The first section of the book, entitled ‚Nicholas Hawksmoor, His Churches‘, outlines an occult mythology for the city in which works of fiction, historical events and architecture coalesce to form a pattern of energy whose effects still direct the city. In this constellation, works of fiction are read in the same way as Hawksmoor’s churches and historical events such as Jack the Ripper. There is no attempt to privilege one medium over another, for it all equates to a ‚geometry of opposition‘ that underscores an alternative history of the city.“ 24 Watkins, Alfred: The Old Straight Track. Its Mounds, Beacons, Moats, Sites and Mark Stones, London: Abacus 1975 (1925). Zur Wiederentdeckung Watkins’ im Kontext der Psychogeografie siehe M. Coverley: Psychogeography, S. 51-54. 25 I. Sinclair: Lud Heat, S. 19. 26 OED s.v. „nome“, 2.
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Verhältnis diese apokryphe Archäo-Genealogie27 Londons zur Sichtbarkeit steht und wie sich für Sinclair dabei der gegenwärtige urbane Raum als Gefüge unterschiedlichster medialer und historischer Schichten konstituiert, die jedoch nicht einfach nur als Spuren präsent sind, sondern eine fortlaufende Interaktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart bedeuten. Denn nicht nur durch die Vielzahl der Paratexte, die jedem Kapitel vorangestellt sind und die Vorläufer der Psychogeografie versammeln, verweist der Text von Beginn an auf das Problem der Repräsentation. Auch der Auftakt des Textes stellt London unmittelbar als ein Phänomen der Darstellung aus und markiert dies über eine doppelte mediale und historische Differenz, die die Sichtbarkeit und Ordnung der Stadt betrifft: „The old maps present a sky-line dominated by church towers; those horizons were differently punctured, so that the subservience of the grounded eye, & the division of the city by nome-wound, was not disguised.“28 Damit ist bereits impliziert, was der Text sich selbst als Aufgabe setzt: die erneute Offenbarung einer räumlichen Verteilung, die um ihre topologischen Linien als historische Wunden einer archaischen (und damit nicht-historischen) Gewaltsamkeit weiß. Ausgehend von der Karte unternimmt der Text Beschreibungen der Kirchen Hawksmoors sowie eine erste Skizze möglicher Relationen zwischen ihnen: „We can mark out the total plan of the churches on the map & sift the meaning. We can produce the symbol of Set, instrument of castration or tool for making cuneiform signs.“29 Sie kulminiert in der Zurückweisung des szenografischen Zugangs aufgrund der zu 27 Der hier zugrundeliegende Begriff der Genealogie entspricht dem vom Nietzsche hergeleiteten Verständnis Michel Foucaults (siehe etwa Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve 1976). Es kann daher nicht deutlich genug betont werden, dass Sinclair die Grenze zwischen materiellem urbanen Raum und der diskursiven Konstitution Londons bewusst und programmatisch immer wieder verwischt. Die Psychogeografie insgesamt stellt eine entsprechende Subversion traditioneller, objektivistischer Zugänge zur Geografie dar und nähert sich eher einem poststrukturalistischen Verständnis, wie es beispielsweise der Humangeograf Kevin Hetherington mit Blick auf den Ort oder Edward W. Soja im Anschluss an Lefebvre mit seiner Trias von perceived, conceived und lived space für den urbanen Raum entwickeln. Siehe Hetherington, Kevin: „In Place of Geometry: The Materiality of Place“, in: Kevin Hetherington/Rolland Munro (Hg.), Ideas of Difference. Social Spaces and the Labour of Division, Oxford: Blackwell 1997, S. 183199; Soja, Edward W.: Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, Oxford, Malden: Blackwell 2000 und Lefebvre, Henri: La production de l’espace, Paris: Ed. Anthropos 1974. 28 I. Sinclair: Lud Heat, S. 19. 29 Ebd., S. 18.
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großen Detail- und Möglichkeitsdichte: „The scenographic view is too complex to unravel here, the information too dense, we can only touch on a fraction of the possible relations.“30 Statt jedoch Ebenen und Komplexität zu reduzieren, wird nun die von Hawksmoors Werken geschaffene „enclosure“ und „shape of fear“ 31 durch weitere Londonrepräsentationen stratifizierend angereichert. Neben Swedenborg und Blake bezieht sich Sinclair hier vor allem auf de Quinceys Text über die RatcliffeHighway-Morde, um dann anhand verschiedener anderer Texte die These jener Kirchen als Kultstätten zu entwickeln, die London mit dem antiken Rom und Ägypten verbinden. Diese These folgt auf einen entscheidenden Einschnitt, mit dem die Diskussion des Ratcliffe-Highway-Falles unterbrochen wird und mit dem neuerlich die Notwendigkeit eines anderen Zugangs gegen das Verschwinden der Spuren im gegenwärtigen Stadtbild vermerkt wird: „These facts fade. The big traffics slam by. A work ethic buries ancient descriptions.“32 Es ist nun wichtig, dass der Text hiernach mit einer ersten Datierung fortsetzt: „February 4, 1974, & I endure an apocalyptic dream of the moon disk growing, crashing down on the city, burying itself in the tower of St. Anne’s, Limehouse.“33 Damit beginnt Sinclair, die Stadtrepräsentationen mit datierten, verorteten und persönlich perspektivierten Erfahrungen und Spekulationen zu komplementieren, um hinter die panoramatische Oberfläche des Vergessens und einer zu einheitlichen Repräsentationslogik zu gelangen. Denn wie Sinclair bereits kurz zuvor für de Quincey zeigte, entgingen diesem die wichtigsten Hinweise, weil er nicht selbst vor Ort war: „The essay, a brilliant narrative of high journalism & spine-tickling, was obviously assembled at a distance, by purely psychic connection. It did not grow from direct observation of the ground – so that the major visual clue was missed.“34 Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit eines Selbst-Sehens, das bereits in diesem ersten Essay als „rites of autopsy“35 benannt wird und im Folgenden nicht nur anhand der Aufzeichnungen als Aushilfsgärtner, sondern auch mittels der subjektiven Annäherungen an Brakhage und Catlin umgesetzt wird. Dass es sich
30 I. Sinclair: Lud Heat, S.18. 31 Ebd., S. 15. 32 Ebd., S. 28. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 24. 35 Ebd., S. 29.
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dabei nicht um ein positivistisches Unterfangen der Dokumentation des Sichtbaren36 handelt, wird ebenfalls bereits an dieser Stelle deutlich, geht es doch zugleich um eine makrokosmische Projektion, die sich bewusst auf ein transhistorisches Nachzeichnen von Möglichkeiten – „It is enough to sketch the possibilities.“37 – einlässt: „I associate the churches with rites of autopsy on a more than local scale.“38 Sinclairs Konzept der Autopsie stellt mithin eine stets medial gebrochene Aushandlung jenes Binde- und Trennstrichs im Titel dieses Bandes dar. Es verbindet, wie im Kontext dieser ersten Nennung, anhand der Ritualität verschiedene historisch-mythologische Schichten und Räume39 und überblendet dadurch das zeitgenössische London mit dem London Blakes, de Quinceys, Defoes oder Hawksmoors und der Nekropolis, als die die Römer London betrachteten – „The Romans regarded east London not as a place for the living but as a necropolis for the dead.“40 –, sowie ägyptischen Begräbnisriten und Gottheiten: „And I connect the present churches to this mood. Relate them to the four Egyptian protectorgoddesses, guardians of the canopic jars.“41 Sinclair ist sich sehr wohl bewusst, dass dieses Verzeichnen von Verbindungsmöglichkeiten und die spekulativ-schichtende Anreicherung42 immer auch die 36 J. Wolfreys: Writing London, S. 180, charakterisiert Sinclairs Zugang als „guerilla documentary“, die durch das Verzeichnen einer konstitutiven „dislocation within location“ die „invisible confluence within any given site“ (S. 173f.) offenbart. 37 I. Sinclair: Lud Heat, S. 18. 38 Ebd., S. 29. 39 Siehe dazu auch R. Bond: Iain Sinclair, S. 44: „Throughout Lud Heat, Sinclair is keen to uncover corrupted or obscured religious traditions so as to assert the existence of ‚bands of continuing ritual‘“ (S. 7). 40 I. Sinclair: Lud Heat, S. 29. 41 Ebd. 42 Für
die dezidiert
spekulative
Ausrichtung
von Sinclairs historiografischer
Epistemologie siehe R. Bond: „Speculating Histories“, S. 12: „Sinclair’s transcendental view of history as a rearrangeable, transformable ,infinite net of dividing events, operating at different time-speeds‘, frequently finds expression in descriptions of a speculative mode of historical contemplation which can reconstruct the store of diverging moments, through a form of retrospective prophecy.“ Durch diesen spekulativen Umgang mit den Materialien und Texten der Stadt wird der Text zur „testsite“ für eine gleichsam gegenverwirklichende historische Rekonstruktion, die vergangene Schichten bewahren kann, indem sie sie in einer Dialektik aus Transzendenz und materieller Verortung (verstanden als medialer Prozess kultureller Produktion) gerade aus der Logik des Historischen und dessen vermeintlichen Determinismus herauslöst: „It is precisely when Sinclair develops his transcendental
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Gefahr des Überdrehens und des Abgleitens in paranoide madness läuft. Dies wird in einem Meta-Kommentar nicht nur explizit eingestanden: „The speed of the track increases & information fattens to excess. It is the greasy slope of madness, time-bends, over stimulated blood hooks at the high air.“ 43 In gewisser Weise ist es geradezu diese Gefahr, die der Text sucht, weil sie einerseits die Möglichkeit einer Affizierung bietet, durch die der Text selbst Teil jener ritualisierten archaischen Wiederholungen wird, die sich dem Rationalen entziehen und daraus ihre energetische Macht beziehen. Andererseits wird durch die epistemologische Verwischung der Grenze zwischen Archäologie, imaginativer Prophetie und pseudo-seherischem Wahnsinn just die Frage nach der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Textes aufgeworfen. In der imaginativen Transgression des sowohl topographisch gegebenen als auch diskursiv repräsentierten Raumes wird die Differenz zwischen materieller Sichtbarkeit und textueller Manifestation des Virtuellen immer wieder problematisiert. Vor allem reflektiert die Autopsie dabei aber die eigene Metaphorizität ebenso wie die konstitutive Metaphorizität jedes textuellen Sehens.
SELBST-SEHEN Besonders deutlich wird dies an der Doppeldeutigkeit des Sinclair’schen Autopsiebegriffs. Diese resultiert aus der doppelten Referenz der Autopsie, die sich sowohl auf das Subjekt als auch das Objekt bezieht. Andrew Crozier hat das im Klappentext der Skylight-Press-Ausgabe treffend zusammengefasst, wenn er die Autopsie beschreibt als ein „undertaking which is both an investigation of the body of the world inherited from the past, and a seeing with one’s own eyes what its condition owes to wider influences“. In der grundlegenden Doppeldeutigkeit, die nach meiner These zentral für Sinclairs Stadtschreibung ist, verbindet sich das Selbst-Sehen demnach mit der sezierenden Freilegung von materiellen und diskursiven Stadt- und Körperschichten, deren Bestandteilen und Verknüpfungen. In aller Drastik leitet Sinclair dieses Verfahren von Stan Brakhages Film The Act of Seeing with One’s Own Eyes44 her, dem er den zweiten Essay widmet und
view of history, hypothesising the status of socially prophetic, speculative texts as testsites of historical reconstruction – ‚undercover reportage, transcripts of reality‘ – that he foregrounds, most materialistically, the unacknowledged labour involved with the production of cultural works.“ (ebd., S. 13). 43 I. Sinclair: Lud Heat, S. 37. 44 The Act of Seeing with One’s Own Eyes (USA 1971, R: Stan Brakhage).
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den er dabei einer sehr spezifischen Lektüre unterzieht. Zunächst stellt die Besprechung dieses Films den großen Fremdkörper im Text dar, scheint der Film in seiner Dokumentation von Autopsien der Pittsburgher Pathologie doch wenig mit dem urbanen Raum und noch weniger mit der Geographie Londons zu tun zu haben. So gibt es in dem Film keinerlei Aufnahmen des städtischen Außenraums, die den Ort situieren würde. Alles bleibt auf den Raum der Pathologie begrenzt, in dem die Autopsien vorgenommen werden. Die von Mahler systematisch herausgearbeiteten Verfahren der Stadtrepräsentation über Referenz (auch die Verortung in Pittsburgh wird im Film selbst nicht ersichtlich) und Semantik (etwa durch typische urbane Elemente)45 bleiben somit aus. Dennoch ist der Film aber zum einen Teil von Brakhages Pittsburgh-Trilogie, in der er neben der städtischen Pathologie in Eyes und Deus Ex die Polizei und ein städtisches Krankenhaus unter die Linse nimmt und sich damit dem Raum der Großstadt über drei ihrer biopolitisch zentralen Institutionen nähert. Zum anderen ist Brakhages Ästhetik selbst der eigentliche Bezugspunkt. Dessen Oeuvre insgesamt kann wohl als eine der radikalsten Untersuchungen des Films als spezifisch visuelles Medium gelten.46 So ist auch The Act of Seeing ein extremes Austesten des Sehens und der Sichtbarkeit.47 Ohne jeden Ton und ohne Handlungslogik cadriert der Film auf verschiedenste Weisen, oft jedoch in desorientierenden Close-Ups, Autopsien, wobei die Struktur des Films chronologisch dem epistemologischen Prozess des fortschreitenden Vordringens von den anfänglichen äußeren Untersuchungen der Leichen bis zur Entleerung und Untersuchung des Körperinneren folgt. Im Zuge dessen wirft der Film in seiner visuellen Explizitheit nicht zuletzt die Frage nach der Belastungsgrenze der Zuschauer auf und wendet somit den Titel auf die unterschiedlichen pragmatischen und medialen Dimensionen des Films zurück. Denn es geht nicht nur auf der Ebene der dargestellten Körperuntersuchungen um die Epistemologie des Sehens. Vielmehr wird das Problem des eindringenden Blickes und seiner affektiven Zumutungen ebenso für die technischen Bedingungen des 45 Siehe A. Mahler: „Stadttexte – Textstädte“, S. 14ff. 46 In Metaphors on Vision konstatiert Stan Brakhage die Notwendigkeit der Entwicklung eines „optical mind“ für eine Erkenntnis, die über die Sprache hinausgeht und auf „visual communication“ beruht. Vgl. Metaphors on Vision, Film Culture, Inc. 1963, s. p. (in Auszügen wieder abgedruckt in Brakhage, Stan: Essential Brakhage. Selected Writings on Filmmaking, hg. v. Bruce R. McPherson, New York: documentext 2001, S. 11-71, hier S. 12). 47 Zu Brakhages aisthetischer Herangehensweise und deren Überblendung von Philosophie und Ästhetik siehe Magrini, James: „The Philosophical Act of Seeing With One’s Own Eyes: The Silent Films of Stan Brakhage“, in: Film-Philosophy 17.1 (2013), S. 424-445.
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Films als Medium der (unkommentierten) Sichtbarmachung und für das Selbstsehen der Rezipienten gestellt. So kulminiert das Spiel mit den unterschiedlichen Perspektiven und Cadrierungen einerseits etwa in Aufnahmen, in denen eine extra für diese Zwecke und diesen Film konstruierte mobile Linse durch die Augenhöhlen eines gerade entleerten Schädels blickt. Andererseits testen Aufnahmen, die den Menschen als fragmentierte körperliche Masse zeigen, wenn etwa Kopfhäute maskenhaft über das Gesicht gezogen, Schädeldecken entfernt und Gehirne entnommen werden, bei den Zuschauern ganz bewusst die Grenze des Blickes und ihres skopischen Begehrens. Sie konfrontieren den Rezipientenblick immer wieder mit der Frage, welche Bilder er/sie gerade noch aushält, wie lange er/sie (noch) hinschauen kann und regen damit zugleich eine Reflexion über die Motivation an, sich auf diese Grenzerfahrung einzulassen.48 Dabei subvertiert Brakhages Film das visuelle Dispositiv eines szientifischen Autopsiebegriffs, wenn dieser auf die affektive Unbefangenheit der Selbstblickenden und ihre bezeugende Funktion für die analytische Herausarbeitung und Etablierung des Faktischen zielt. Demgegenüber stellt der Film anhand der Autopsie die mediale Konstitution des Blicks in den Vordergrund und zeigt eine Materialität, die auf die affektive Körpererfahrung der Rezipienten ausgreift. Im Oszillieren zwischen dem morbid-voyeuristischen Verlangen hinzuschauen und der verstörenden Kapitulation des Wegsehens im Angesicht der detaillierten, klinisch kalten Bilder lässt Brakhages Film beim Publikum die Affektivität des Visuellen zur Körpererfahrung werden. Entscheidend in Sinclairs Lektüre des Films ist jedoch, dass er die wiederholten Akte der Autopsie als rituelle Handlungen liest (und darin Brakhages eigener
48 Für Testa, Bart: „Seeing with Experimental Eyes: Stan Brakhage’s The Act of Seeing with One’s Own Eyes“, in: Barry Keith Grant/Jeannene Sloniowski (Hg.), Documenting the Documentary. Close Readings of Documentary Film and Video, Detroit: Wayne State University Press 2014, S. 269-285, hier S. 277, ergibt sich daraus die moralische Funktion des Films. Diese bestünde aber gerade in der Notwendigkeit des Sehens, der filmischen Performanz, dass das Publikum sich dem Blick nicht entziehen kann. Durch die Frequenz und relative Dauer der immer wieder neu herausfordern-den Bilder werden die Zuschauenden für Testa in die Position gebracht, immer wieder dies sehen zu müssen: „Brakhage times and paces the shots, and frames sequences, so that non remains long enough or repeats often enough to desensitize the viewer. We are never allowed to get used to the film’s imagery, to watch it as part of a procedural routine, and so not see it. The act of seeing, its shock and troubling power, is constantly renewed. Indeed, the images are so relentlessly literal and, in the main, so clearly shot that all there seem to be in this film are successive acts of seeing, and seeing this.“
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Theorie zum Film und zur Partizipation der Zuschauer folgt 49), die das vermeintlich objektivistische, sezierende Sehen an archaische kultische Muster anschließen. Das Selbst-Sehen erscheint somit als eine Praxis, die gerade nicht die objektivierende skopische Distanz etabliert, sondern den Blick in eine Beziehung zu seiner räumlich-sozialen Eingebundenheit und zum Unsichtbaren bringt. Distanz kollabiert dabei sowohl phänomenologisch als auch transhistorisch in der Wiederkehr archaischer Ritualität und Gewaltsamkeit. Auf dieser Basis werden Brakhages wiederholte visuelle Akte des Eindringens in die menschlichen Körperkammern für Sinclair zum Modell des eigenen Vorgehens. Seine erste Umsetzung findet diese Programmatik in seinem Essay zur „double-chamber / presented by the sculptor, B. Catling, / at the Royal College of Art, June 1974“50. Zweimal begeht Sinclair diese Rauminstallation, am 10. und 15. Juni, zweimal dringt er in eine gedoppelte Kammer vor, die er gleichsam durch Brakhages Linse liest: „The autoptic instinct is a genuine concern; we meet again that skull-horn glimpsed in Brakhage’s film.“51 So, wie Catlin die archaischen rituellen Kräfte Ägyptens mit diesem Werk in sich entdeckt, erfährt nun auch Sinclair im Akt des Selbst-Sehens jenes räumliche Gefüge Catlins, das verschiedenste Materialen versammelt, als ein rituell organisiertes Vordringen in Orthaftigkeit selbst, also in das Wesen des Ortes und des Verortetseins. Im Zentrum der Kammern entdeckt er die Vereinigung von sichtbarem Raum, dessen heterogenen Objekten und der Kraft des unsichtbaren Geheimnisses: „It is place. The object and the chamber are truly one. We have ascended into the heart of the mystery, pushed through the valves of muscle, and seen the impurities burnt off.“52 Wichtiger ist jedoch das zentrale Kippen zwischen den beiden Dimensionen des Autoptischen, die das Werk Sinclair erfahren lässt. Denn das verortete Sehen einer über zwei Kammern gestaffelten Offenlegung des Ortes mündet in Sinclairs Erfahrung von Catlins Installation in einer Selbstautopsie des Sehenden, während der er durch die Heterogenität der Materialien und durch die körperlichen impurities hindurch ins eigene Mysterium vordringt. In der Folge gilt es, diesen Ritus von dem klar umgrenzten Ort innerhalb Londons und dem institutionellen Rahmen der Ausstellung auf die urbane Erfahrung selbst zu übertragen als eine autoptische Körpererfahrung im urbanen Raum. Am Ende des Textes wird Sinclair nach einer geradezu manischen Wanderung in einem Londoner Bunker ankommen, der nicht nur auf die pyramidale Struktur von 49 Siehe Brakhage on Film (USA 1965, R: Arnold Gassan/Carlos Steegmiller) sowie J. Magrini: „The Philosophical Act of Seeing“, S. 427. 50 I. Sinclair: Lud Heat, S. 76. 51 Ebd., S. 77. 52 Ebd., S. 85.
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Catlins doppelter Kammer sowie metonymisch auf all die kleinen Pyramiden Hawksmoors verweist, sondern zum pyramidalen a-zentrischen Zentrum wird, das die Spuren Ägyptens als obersten Ausdruck einer archaisch-rituellen Energie in London bündelt. Doch Voraussetzung dafür ist die Spurensammlung als Aushilfsgärtner und ein damit verbundenes Stadterleben, das in seiner Körperlichkeit das Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren zum konstitutiven Problem macht.
DER SONNENSTICH DES HARKENDEN Neben all der mikrostrukturellen Fragmentarität, der Diskurscollage, der Aufsplittung der Äußerungsinstanz in autodiegetisches und heterodiegetisches Sprechen53 gibt sich der Textkörper auch makrostrukturell als offen. Denn Lud Heat besteht nur aus Book One und suggeriert damit eine Serie, die nicht folgen wird. Das tatsächlich vorhandene erste Buch ist mit The Muck Rake betitelt. Diese Formulierung entstammt wiederum John Bunyans A Pilgrim’s Progress und die entsprechende Passage ist Lud Heat noch vor dem Beginn von Book One als Paratext vorangestellt. Bunyan entwickelt anhand eben jener Mistharke eine Allegorie des richtigen Sehens, das zwischen dieser Welt und der Welt Gottes zu vermitteln hätte. In diesem Kontext steht die Mistharke für ein Sehen, das sich ausschließlich nach unten auf den Boden richtet und sich in den Details der Welt verliert, die es mit der Harke um sich versammelt. Es ist ein Sehen mit dem „carnal mind“54, das sich seiner göttlichen Eingebundenheit und Aufgabe nicht bewusst ist und von dem es sich daher zu befreien gilt. Die Allegorie schließt entsprechend mit der Anrufung: „Oh, deliver me from this muck-rake.“55 Voller Ironie wird für Sinclair aber gerade die Arbeit mit der Harke zur Voraussetzung einer Autopsie des urbanen Raums, die diesen nicht panoptisch erfasst und transzendental übersteigt. Vielmehr verweist Sinclair mit Bunyan
53 Siehe dazu auch D. Hay: Form, Place, and Memory, S. 69, der sehr gut die textuellen Verfahren zur Unterwanderung biografischer Autorschaft im Sinne der Betonung differenzieller Textualität und die daraus hervorgehende Aktivierung des Lesers herausarbeitet: „the apparently autobiographical character of the work is undercut by the dissolution, decentring or problematisation of the singular authorial voice, that we see the poem shift responsibility for the production of meaning away from the poet/subject and towards the reader.“ 54 I. Sinclair: Lud Heat, S. 11. 55 Ebd.
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einerseits auf die konstitutive Fragmentarität des irdischen Sehens,56 andererseits aber vor allem über die Form der Allegorie selbst auf die Metaphorizität eines textuellen Sehens. Im Gegensatz zu Bunyan affirmiert Sinclair just die Differenzialität des urbanen Raums und die Komplexität seines Gefüges. Der autoptische Zugang versammelt Fragmente, die in ihrer Konstellation den Blick freigeben können auf die Verbindung des Sichtbaren und Unsichtbaren. Dies erfolgt jedoch nicht im christlichen Blick nach oben oder in der Hoffnung auf panoptische Transzendenz. Vielmehr induziert die Arbeit mit der Mistharke bei Sinclair zunächst hay fever57 und sodann einen Sonnenstich. Aber erst indem die Sonne auf ihn hernieder brennt, eröffnen sich ihm im halluzinatorischen Sehen andere Zusammenhänge: „The sun tho’ must be the final agent in this fable; must be given, even here, its fee.“58 Sinclair tritt ein in eine Autopsie, die zugleich die Autopsie seiner selbst ist, mit der sich die Sonne in seinen Körper stechend einschreibt, seine körperliche Intaktheit aufhebt und ihn damit in seiner Individualität entgrenzt: „It is a total sun surgery. […] This is a cosmogonic surgery: way beyond his control. The patients are not individual, are a strata that curves through the alternating times of the earth.“59 Durch das autoptische Erleben der Stadt bündelt sich [in ihm] Lud Heat als Überhitzung und hat [er] Teil an einer archaischen Energie, „invaded by the planetary beams focussed by these pyramids“60. Ausgerichtet auf die Sonne wird er Teil eines pyramidalen Raums, der ihn nicht nur von Kopf bis Fuß zwischen Sonne und Erde einspannt, sondern ihn auch ins autoptisch entworfene Netz der Londoner Pyramiden und ihrer Bezugsgrößen im alten Ägypten einbindet. Derart gehen Sinclairs textuelle rites of autopsy ein in das Gefüge der diversen historischen, diskursiven und mythischen Raumpraktiken, verknüpfen sie miteinander und bestellen ihren urbanen Raum als energetisches Feld differenzieller 56 Vgl. D. Hay: Form, Place, and Memory, S. 61: „Whilst Bunyan’s text suggests to the reader that in order to gain spiritual insight one must turn away from material things, the parallel between Sinclair and Bunyan’s ,man of this world‘ and the subtitle of the first book of Lud Heat identify the work itself with precisely these.“ 57 Im Unterschied zum deutschen Wort ‚Heuschnupfen‘ betont die englische Bezeichnung die fiebrige Er- und Überhitzung, die für Sinclairs Überlagerung mit der Kraft und Energie der Sonne und deren Einschreibung in den Körper entscheidend ist und die immersive Dimension seines mytho-historiografischen Selbst-Sehens des Ortes betont. Zum „specific historical consciousness that comes from immersive historical inquiry“ siehe auch A. Murray: Recalling London, S. 152. 58 I. Sinclair: Lud Heat, S. 109. 59 Ebd., S. 106f. 60 Ebd., S. 108.
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Spannung. Indem Lud Heats Autopsie des Unsichtbaren sich mit der Harke dem Sonnenstich aussetzt, kann es den widerständigen, un-sichtbaren muck medialer Binde- und Trennstriche in die Oberfläche des Sichtbaren eintragen, „groundheld, muddy in motive“61.
LITERATUR Primärliteratur Ackroyd, Peter: Hawksmoor, London: Abacus/Sphere Books 1990. Sinclair, Iain: Lights Out for the Territory. 9 Excursions in the Secret History of London, London et. al.: Penguin 2003. — London. City of Disappearances, London: Penguin 2006. — Lud Heat, Cheltenham: Skylight Press 2012. — Lud Heat and Suicide Bridge, London: Vintage 1995. Sekundärliteratur Ashford, David: „The Ghost in the Machine: Psychogeography in the London Underground 1991-2007“, in: Literary London: Interdisciplinary Studies in the Representation of London 6.2 (2008), S. 2, verfügbar unter http://www.lite rarylondon.org/london-journal/september2008/ashford.html [letzter Aufruf am 21.09.2018]. Baker, Phil: „Secret City. Psychogeography and the End of London“, in: Joe Kerr/Andrew Gibson (Hg.), London from Punk to Blair, London: Reaktion Books 2003, S. 323-333. Bond, Robert: Iain Sinclair, Cambridge: Salt Books 2005. — „Speculating Histories: Walter Benjamin, Iain Sinclair“, in: Historical Materialism: Research in Critical Marxist Theory 14.2 (2006), S. 3-27. Brakhage, Stan: Essential Brakhage. Selected Writings on Filmmaking, hg. v. Bruce R. McPherson, New York: documentext 2001. Coverley, Merlin: Psychogeography, Harpenden: Pocket Essentials 2010. Debord, Guy-Ernest: „Introduction à une critique de la géographie urbaine“, in: Les lèvres nues 6 (1955), S. 11-15. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris: Minuit 1980.
61 I. Sinclair: Lud Heat, S. 135.
Autopsie des Unsichtbaren | 281
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Meteorologische Spurensuche in Paris 1 Katia Harbrecht
METEOROLOGISCHE SPURENSUCHE Krimi: Stadt – Regen – Mord. Es ist eine scheinbar unumstößliche Tatsache, dass diese Begriffe zusammengehören. Denn der Regen ist Teil einer oftmals mit dem Kriminalroman assoziierten Atmosphäre von Unüberschaubarkeit, nächtlichen Schatten und nassen Straßen einer kalten Großstadt. Aber der Regen ist nicht nur bloßes Dekorelement des Hintergrundes, so eine These dieses Aufsatzes. Auch Keunen, der den „endlose[n] Regen“2 als charakteristisch für den Kriminalroman betrachtet,3 sieht im Regen ein Element der Großstadtdarstellung, der zu ihrer
1
Die Ausführungen stützen sich auf Forschungsergebnisse der Verfasserin im Rahmen eines Dissertationsprojektes mit dem Arbeitstitel Heiter bis tödlich – Meteorologische Phänomene im französischen Kriminalroman. Das Projekt widmet sich dem Wetter im französischen Kriminalroman (vgl. Harbrecht, Katia: Heiter bis tödlich – Meteorologische Phänomene im französischen Kriminalroman. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Bremen: Stand 2018). Die Mystères de Paris und die Reihe der Nouveaux Mystères de Paris wurden für diesen Beitrag ausgewählt, weil sie eine interessante Verbindung zwischen Stadt und Wetter aufweisen.
2
Keunen, Bart: „Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität“, in: Matteo Colombi (Hg.), Stadt-Mord-Ordnung. Urbane Topographien in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa, Bielefeld: transcript 2012, S. 29-53, hier S. 38.
3
Ebd. Keunen bezieht sich auf Blanc (Polarville) und geht in der Übertragbarkeit des Wetters davon aus, dass es „die Ausdruckswahrnehmung doch auf dieselbe Art und Wiese“ anzusprechen vermag und somit auch auf den von ihm untersuchten Fälle von Heinichen und Krajewski beziehungsweise auf die Kriminalliteratur bezogen werden kann (ebd.).
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„bedrohlichen Unvorhersehbarkeit“4 beitrage, und „verregnete […] Straßen“ eine Komponente des Settings, welche zeigten, dass „Großstadtdarstellungen Gefühle der Machtlosigkeit“ zum Ausdruck brächten. Diese sich „unter anderen Umständen […] entziehenden Phänomene wie Moral oder ‚Zeitgeist‘“5 würden erst durch den Regen greifbar. Neben dieser Funktion des Regens ist scheinbar bereits die quantitative Relation von Stadt6 und Regen derart auffallend, dass der Soziologe Jean-Noël Blanc in seiner Arbeit zur Stadt im polar konstatiert: „La météorologie manque de clémence dans les villes du polar. C’est peu de dire qu’il pleut systématiquement. En vérité, c’est un déluge qui s’abat sur les rues et les immeubles. [...] La norme est la pluie, l’anormal est le beau temps.“ 7 Mit dieser Feststellung wäre Blanc zufolge der Regen ein Grundprinzip im Kriminalroman. Diese Annahme soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Regnet es tatsächlich oft? Ist der Regen wirklich symptomatisch? Woher kommt die Verbindung zwischen Regen, Stadt und Kriminalroman? Gibt es hierzu möglicherweise literarische Indizien? Im Rahmen der folgenden kleinen meteorologischen Spurensuche wird einer potentiell reziproken Relation von Stadtrepräsentation und Wetter in zwei Schritten nachgegangen: zunächst mit Blick auf die Anfänge des französischen Kriminalromans und der Wirkung der Stadt auf das Wetter am Beispiel von Eugène Sues Les Mystères de Paris (1842-1843), sodann mit der Wirkung des Wetters auf die Stadt am Beispiel von Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris (1954-1959).
4
B. Keunen: „Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität“, S. 38.
5
Ebd., S. 49.
6
Erinnert sei daran, dass die Entwicklung des Kriminalromans u.a. mit der Entwicklung der Metropolen verbunden wird. Zur Verbindung Großstadt und Kriminalroman exemplarisch: Wilczek, Reinhard: Von Sherlock Holmes bis Kemal Kayankaya: Kriminalromane im Deutschunterricht, [Stuttgart]: Klett/Seelze: Kallmeyer 2007; Nusser, Peter: Der Kriminalroman, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2003; Colombi, Matteo: „Der ost- und mitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Mord-Ordnung (2012), S. 11-27; Wigbers, Melanie: Krimi-Orte im Wandel: Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze in Kriminalerzählungen von der Romantik bis in die Gegenwart, Würzburg: Könighause & Neumann 2006; Blanc, Jean-Noël: Polarville. Images de la ville dans le roman policier, Lyon: Presses universitaires de Lyon 1991; Schmidt, Jochen: Gangster, Opfer, Detektive: eine Typengeschichte des Kriminalromans, Hillesheim: KBV 2009, bes. S. 55-59.
7
J. Blanc: Polarville, S. 72.
Meteorologische Spurensuche in Paris | 285
DER REGEN IN DEN MYSTÈRES DE PARIS Die Mystères de Paris erscheinen vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 im Journal des Débats und sind zu dieser Zeit eine Sensation. Sie begeistern nicht nur in Paris, sondern in weiten Teilen Europas und den USA. Einen wesentlichen Anteil an ihrem Erfolg haben Anekdoten- und Mythenbildungen, etwa von vermeintlich Tausenden von Leserbriefen oder von Schlägereien in Buchläden beim Erscheinen der Gesamtausgabe; aber auch die Herausbildung einer der ersten Fanfiktionkulte trägt hierzu bei.8 In der Folge finden sich bereits während der Publikationszeit nachahmende Mysterienerzählungen wie The mysteries of London von George Reynolds.9 Bedeutend werden die Mystères de Paris literaturgeschichtlich, weil sie die Entwicklung einer neuen Gattung maßgeblich beeinflussen:10 Sie „ont représenté une évolution du roman populaire ayant largement facilité, par le climat et les personnages, l’éclosion du roman policier. Les premiers ‚grands‘ du policier français devront beaucoup à Eugène Sue [...].“11 Retrospektiv sind die Mystères de Paris „ein direkter Vorläufer des Thrillers“ 12 und ziehen „eine gerade Linie zu den James Bond-Filmen unserer Tage“.13
8
Vgl. Bachleitner, Norbert: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland, Amsterdam/Atlanta: Editions Rodopi B.V. 1993, S. 89f; Weber, Tanja: „Un-/endliche Geheimnisse. Die kulturelle Adaption von Sues Les Mystères de Paris“, in: Birgit Wagner (Hg.), Bruch und Ende im seriellen Erzählen: vom Feuilletonroman zur Fernsehserie, Göttingen: V&R Vienna University Press 2016, S. 45-69, hier S. 45; Weber, Tanja: Kultivierung in Serie: kulturelle Adaptionsstrategien von fiktionalen Fernsehserien, Marburg: Schüren 2012, S. 210f.
9
Vgl. auch: Kalifa, Dominique: Crime et culture au XIXe siècle, Paris: Librairie Académique Perrin 2002, S. 40f; T. Weber: „Un-/endliche Geheimnisse.“, S. 46.
10 Als Vorläufer stellen die Mystères de Paris noch keinen Kriminalroman sui generis, sondern weisen eine hohe generische Ambiguität auf, sodass sie je nach Perspektive als Schauer-, Abenteuer-, Sozial-, Familien-, Stadtroman oder Melodrama erscheinen. Vgl. T. Weber: „Un-/endliche Geheimnisse.“, S. 66 11 Jacques Laurent zitiert nach Bourdier, Jean: Histoire du roman policier, Paris: Éd. de Fallois 1996, S. 29. 12 Mahrenholtz, Katharina/Parisi, Dawn: Krimi!: Mord und Totschlag in der Literatur, Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, S. 21. 13 Neuschäfer, Hans-Jörg: „Eugène Sue, ‚Die Geheimnisse von Paris‘“, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft 1, Hamburg: Rowolt Taschenbuch 1981, S. 173-191, hier S. 182f.
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Bezüglich der Mystères de Paris wird der These nachgegangen, dass Wetterlagen nicht nur die Qualität eines Ortes beeinflussen können,14 sondern diese Relation auch vice versa vorstellbar ist und die Verknüpfung Regen und Kriminalität mit spezifischen Stadtbewertungen zusammenhängt; in diesem Fall fungiert die Cité von Paris als Trigger für ‚kriminelle‘ Assoziationen und Konnotationen. Für die Mystères de Paris geht die Analyse von einer besonderen Reziprozität zwischen Stadt und Wetter aus, die zu einer Übertragung der ‚kriminellen‘ Konnotation auf das Wetter führt. Das Beispiel der Mystères de Paris erscheint besonders fruchtbar, da sie auf der Entwicklungslinie vom Schauerroman zum Kriminalroman ein Bindeglied darstellen und ihnen ein gewisser architextueller, und damit potentiell meteorologischer ‚Modellcharakter‘, zugeschrieben werden kann. Für das Zusammenspiel von Stadt und Wetter in den Mystères de Paris werden drei Aspekte als relevant angenommen: Die Publikationsform, der Romananfang sowie der Topos Cité. Die Publikationsform legt in diesem Fall eine besondere Basis für die Verbindung von Fiktion und Realität, denn die Mystères de Paris erscheinen als Feuilleton unter dem Rez-de-Chaussée.15 Hierdurch stehen sie nach Bachleitner in einer engen Relation zum eigentlichen Nachrichtenteil, sodass es verstärkt zu einer (potenziellen) Verwischung der Trennlinie von Reali-
14 Durch das Wetter bzw. die Wetterlage kann die Wahrnehmung eines Ortes beeinflusst werden und damit ausschlaggebend für dessen multisensorische Qualität sein. So können veränderte Lichtzustände oder Humiditätsereignisse, wie Nebel oder Regen, relevant für die Perzeption sein, und dependent von der Wetterlage ein Ort etwa finster und bedrohlich oder lichterfüllt und erquicklich erscheinen. In diesem Sinne ist das Wetter essenziell für die atmosphärische Wirkung. Die explizite Darstellung von Witterungsverhältnissen im Roman ist entsprechend potenziell in der Lage, etwa das Setting zu einer Atmosphäre zu formen, einen gestimmten Raum zu konstruieren oder Stimmungen zu vergegenwärtigen und zu modulieren. Der Wettereindruck in seiner Gesamtschau wird hierbei meist durch ein Element bestimmt, „gewissermaßen als Grundtönung. Am deutlichsten wird das beim Ausdruck regnerisches Wetter. Dieser Ausdruck meint [...], [...] dass es sich um eine Wetterlage handelt, bei der Regen alles andere dominiert.“ (Böhme, Gernot: „Das Wetter und die Gefühle. Für eine Phänomenologie des Wetters.“, in:
Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als
Atmosphären: Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin: Akademie-Verlag 2011, S. 153-167, hier S. 166.) 15 Durch einen langen Strich wurde bzw. wird das Feuilleton vom Politikteil getrennt und erhielt die Bezeichnung rez-de-chaussée.
Meteorologische Spurensuche in Paris | 287
tät und Fiktion resp. einer Wechselwirkung zwischen „Nachrichten und Romanfiktion, die in einer Zeitschrift undenkbar wären,“ kommt.16 Die Inkorporation von realistischen Elementen wirkt dabei, so Bachleitner, besonders „illusionsbildend“.17 Um die meteorologisch-urbane Relation zu skizzieren, wird der Fokus auf den Romananfang gelegt. Im Kontext der Rezeptionsästhetik kann der Einflechtung des Wetters an dieser Stelle eine besondere Relevanz zugeschrieben werden, die sich mit Torgovnik anschaulich fassen lässt: „beginnings and endings remain in the memory and decisively shape our sense of a novel as a whole.“18 Als illusionsbildende Elemente, im Sinne Bachleitners, sind hinsichtlich des Romananfangs gerade der Ort und das Wetter wirksam. Die folgende Passage des Handlungsbeginns zeigt den Schwerpunkt, der auf diesen beiden Elementen liegt: „Le 13 décembre 1838, par une soirée pluvieuse et froide, un homme d’une taille athlétique, vêtu d’une mauvaise blouse, traversa le pont au Change et s’enfonça dans la cité, dédale de rues obscures, étroites, tortueuses, qui s’étend depuis le Palais de Justice jusqu’à Notre Dame. Le quartier du Palais de justice, très circonscrit, très surveillé, sert pourtant d’asile ou de rendez-vous aux malfaiteurs de Paris. N’est-il pas étrange, ou plutôt fatal, qu’une irréstible attraction fasse toujours graviter ces criminels autour du formidable tribunal qui les condamne à la prison, au bagne, à l’échafaud!
16 Bachleitner,
Norbert:
Fiktive
Nachrichten.
Die Anfänge des
europäischen
Feuilletonromans, Würzburg: Könighausen & Neumann 2012, S. 10. 17 Ebd., S. 13. Bachleitner bezieht sich auf Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden: Springer 1995, S. 99 sowie zitierend auf: Gumbrecht, Hans Ulrich: „Fiktion und Nichtfiktion“, in Helmut Brackert/Eberhard Lämmert (Hg.), Funk-Kolleg Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1976, 2 Bde., Bd.1, S. 188-209, hier S. 202. Zur Effektivität der Verwischung von Realität und Fiktion sei veranschaulichend angemerkt, dass Sues Held Rodolphe Graf Gerolstein für real gehalten worden sei und Bittstellungen erhalten habe; über seinen Widersacher, den verbrecherischen Notar Ferrand, hätte Entsetzen in der Notarkammer geherrscht, sodass dessen Ausschluss aus selbiger gefordert worden sei (vgl. N. Bachleitner: Fiktive Nachrichten, S. 89). 18 Torgovnik, Marianna: Closure in the Novel, Princeton, NJ: Princeton University Press 1981, S. 3f. Vgl. einführend zur Bedeutung des Erzählanfangs Krings, Constanze: „Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses“, in: Peter Wenzel (Hg.), Einführung in die Erzähltextanalyse: Kategorien, Modelle, Probleme, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004, S. 163-179, hier S. 163.
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Cette nuit-là, donc, le vent s’engouffrait violement dans les espèces de ruelles de ce lugubre quartier: la lueur blafarde, vacillante des réverbères agitées par la bise, se reflétait dans le ruisseau d’eau noirâtre qui coulait au milieu des pavés fangeux. Les maisons, couleur de boue, étaient percées de quelques rares fenêtres aux châssis vermoulus et presque sans carreaux. Des noires, d’infectes allées conduisent à des escaliers plus noirs, plus infectes encore et si perpendiculaires, que l’on pouvait à peine les gravir à l’aide d’une corde à puits fixée aux murailles humides par des crampons de fer. Le rez-dechaussée de quelques-unes de ces maisons était occupé par les étalages de charbonniers, de tripiers ou de revendeurs de mauvaises viandes. Malgré le peu de valeur de ces denrées, la devanture de presque toutes ces misérables boutiques était grillagée de fer, tant les marchands redoutaient les audacieux voleurs de ce quartier. L’homme dont nous parlons, en entrant dans la rue aux Fèves, située au centre de la cité, relantit beaucoup sa marche: il se sentait sur son terrain. La nuit était profonde, l’eau tombait à torrents, de fortes rafales de vent et de pluie fouettaient les murailles. Dix heures sonnaient dans le lointain à horloge du Palais de Justice. [...] Cet homme repris de justice [...] inspirait une grande terreur dans le quartier. [...] Et il donna dans l’ombre [...] un si violent coup de poing à cette malheureuse, qu’elle poussa un cri de douleur aigu.“19
Ein für die Leserschaft noch unbekannter Mann, der als kriminelles Subjekt erscheint, eilt in einer Dezembernacht 1838 in die Cité. Dieser Bereich von Paris wird als abstoßend und kriminelles Areal beschrieben: Es ist kalt, regnerisch und windig. Was passiert, ist erst einmal nicht viel – interessant ist aber gerade, wo es passiert: in der Cité von Paris. Denn im Hinblick auf die These, dass die Stadt einen Effekt auf das Wetter hat, ist gerade diese Verortung bedeutsam, weil die Cité auf der Ebene der Diegese zwei historische Konnotationen des Ortes aufgreift: scil. Kriminalität und Schauerlichkeit.20
19 Sue, Eugène: Les Mystères de Paris, Paris: Éditions Gallimard 2009, S. 37f. 20 Ein weiterer Einflussbereich, der sich in der Stadt-Wetter-Darstellung zeigt, ist die Cholera sowie hiermit verbunden der Tod. Vgl. hierzu Hülk, Walburga: Als die Helden Opfer wurden: Grundlagen und Funktion gesellschaftlicher Ordnungsmodelle in den Feuilletonromanen „Les mystères de Paris“ und „Le juif errant“ von Eugène Sue, Heidelberg: Winter 1985, S. 103f.
Meteorologische Spurensuche in Paris | 289
DIE CITÉ ALS ORT DER KRIMINALITÄT UND SCHAUERLICHKEIT Zeitgenössisch wird das Areal der Cité nach James mit Verbrechen und Gefahr verbunden und ist ein Ort, der Ängste erzeugt: „The streets of the Cité are the district of ‚la bourse ou la vie‘ which [...] were associated only with their reputed violence. [...] his [Sues] description in this heart of darkness had clear roots in reality.“21 Diese Vorstellung wird, so Kalifa, durch den kulturellen Diskurs der Zeit verstärkt und aufrecht erhalten:22 „Circulant de la presse aux enquête sociales [...] ces représentations bâtissent un modèle cohérent et persistent, qui fait de la Cité [...] l’espace presque naturel du crime.“23 Im kulturellen Diskurs wirke die Cité gar als „imaginaire criminel du XIX siècle.“24 Parallel existiert im zeitgenössischen Diskurs eine zweite Perspektive. Das Gebiet zeichnet sich durch eher verwinkelte Straßen, feuchte Wände und morastige Wege und Häuser aus, die so gebaut sind, dass kein Sonnenlicht in die engen Straßen fällt. Dies führt, wie es der Historiker Louis Chevalier formuliert, zu einer spezifischen Sicht der oberen Schichten auf die Cité,25 und diese sei „truly worth of the gothic treatment“26. Der historische Ort birgt somit in sich Reminiszenzen an den Schauerroman. Dieses Moment wird auf der Ebene der Diegese eingesetzt: Die räumlichen Elemente, die den Schauerroman kennzeichnen, etwa Ruinen und dunkle, labyrinthische Gänge, werden aufgegriffen und mit der Cité verknüpft. Mit Heidenreich lässt sich entsprechend für den Romananfang festhalten, dass 21 James, Sara: „Detecting Paris: the character of the city in Eugène Sue’s Les Mystères de Paris“, in: Modern & contemporary France: the journal of the Association for the Study of Modern & Contemporary France 8 (2000), S. 305-313, hier S. 307. Vgl. zur Stadt bei Sue auch Fornasier, Jean/West-Sooby, John: „Aux origines du roman criminel. Eugène Sue et les mystères de la Seine“, in: Australian Journal of French Studies Vol XLIII, Nr. 1 (2006), S. 3-12; Kalifa, Dominique: „Les lieux du crime. Topographie criminelle et imaginaire social à paris au XIXe siècle“, in: Sociétés & Représentations 17 (2004), S. 131-150. 22 Dies geschieht amüsanterweise nicht zuletzt durch die Zeitungen, d.h. möglicherweise auch durch die Mystères de Paris selbst. 23 D. Kalifa: Crime et culture au XIXe siècle, S. 22. 24 Ebd. Nicht von ungefähr ermittelt Poes Dupin in Paris und nicht etwa in Chicago. 25 Und damit der wohlsituierten Leserschaft. 26 Chevalier, Louis: Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXe siècle, S. 27. Zitiert nach S. James: „Detecting Paris: the character of the city in Eugène Sue’s Les Mystères de Paris“.
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durch sie der Eindruck von „Verfall und Gefahr [erzeugt wird]. Es ist die Intention erkennbar, über die Beschreibung der Örtlichkeit Distanz zur hellen Alltagswelt herzustellen und die ‚andere‘ Welt des Schauerromans aufzubauen.“27 Wettertechnisch spannend ist, dass im Schauerroman die Wirkung des Ortes abhängig von Naturphänomenen ist. Denn die Szenerie des Schauerlichen konstituiert sich erst, wenn die „Requisiten mit der Natur verbunden sind.“ 28 Dieses Moment zeigt sich entsprechend in den Mystères de Paris. Durch Regen, Wind und Nacht wirkt der Ort unwirtlich und gefahrvoll. Unmittelbar, als der noch unbekannte Mann die Cité betritt, wird es dunkel, die Laternen schaukeln im Wind,29 der Regen scheint die Straßen aufzulösen. Das Wetter steigert sich sukzessiv vom harmlosen Umstand („pluvieuse et froid“) zur Personifizierung bzw. Anthropomorphisierung, und Regen wie Wind nehmen die Rolle eines eigenständigen und geradezu gewalttätigen Akteurs ein, sodass „de fortes rafales de vent et de pluie fouettaient les murailles“. Hierdurch entstehen ein (leicht) fantastisches Moment sowie durch die Personifizierung und die Konzentration auf Wetter und Ort der Eindruck, der Wind führe die Leserschaft ins Zentrum der Cité und nicht der unbekannte Mann, der erst am Ende des oben zitierten Text-auszugs wieder in den Fokus rückt. Die Eröffnungsszene rekurriert mithin auf die Genretradition des Schauerromans, der vor der Publikation der Mystères de Paris en vogue war und von dem sie die „Metaphernfront“30 des Wetters übernimmt. Durch die genretypische Dar-
27 Heidenreich, Peter: Textstrategien des französischen Sozialromans im 19. Jahrhundert am Beispiel von Eugène Sues „Les mystères de Paris“ und Victor Hugos „Les misérables“, München: Tuduv-Verlagsgesellschaft, 1987, S. 142; 66f. 28 Klein, Jürgen: Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, S. 258. Der „Schauerbereich ‚Unwetter‘“ gründet sich in der literarischen Tradition, wobei die Gothic Novel einen festen Zusammenhang zwischen Unwetter und folgendem Schauergeschehen prägte, sodass die Naturphänomene eine „unbestimmte Schauerantizipation“ auslösten. Auslöser seien hierbei: jagende Wolken, Nebel, Wind, Wolkenbruch, Sturm, Orkan, Gewitter und deren Ankündigung durch dunkle Wolkenwände. Vgl. Trautwein, Wolfgang: Erlesene Angst – Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhundert: systematischer Aufriss; Untersuchungen zu Bürger, Maturin, Hoffmann, Poe und Maupassant, München: Hanser 1980, S. 37. 29 Die Laternen können parallel auf den Kontext der Kriminalität bezogen werden, da ein Grund für ihre Installation wenige Jahre vor Handlungsbeginn die Bekämpfung der angestiegenen Kriminalitätsentwicklung war. 30 Vgl. Schärf, Christian: Spannend schreiben. Krimi, Mord- und Schauergeschichten, Mannheim: Duden 2013, S. 22.
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stellung des Wetters wird die Cité intradiegetisch zum schauerlichen Ort und verweist hierdurch auf die extratextuellen Konnotationen des Areals, wie sie James und Chevalier explizieren. Für die Relation von Wetter und Stadt ist elementar, dass parallel die zweite historische Konnotation der Cité aufgegriffen wird und entsprechend ebenfalls eine Verbindung zum extratextuellen Ort gezogen wird. Auffallend ist hierbei die auf der Textebene suggestiv angelegte Präsentation der Cité: Während die Koordinatenpunkte Pont-au-change, Palais de Justice und Notre Dame nur genannt werden, informiert gleich der zweite Absatz scheinbar sachlich über die Bewohnenden (Asyl für verbrecherische Figuren, Anziehung von Kriminellen, Diebe und Diebinnen des Stadtviertels), wodurch die kriminelle Dimension der Cité konstituiert wird. Auf der Textebene werden damit parallel sowohl der Moment des Schauerlichen, als auch die Dimension der Kriminalität in Verbindung zur Cité aufgebaut. Der zeitgenössische Diskurs intensiviert hierbei die Wirkung beider Facetten durch die entsprechende Konnotation der Cité.
ZUSAMMENSPIEL VON CITÉ UND WETTER Welche Bedeutung hat nun die Reziprozität zwischen Wetter und Stadtviertel? Durch den Topos der Cité werden beide historisch konnotativen Ebenen der Schauerlichkeit und der Kriminalität des Stadtareals wirksam. Auf der Textebene moduliert das Wetter in einem ersten Schritt den Eindruck eines schauerromantischen Ortes. Diese Dependenz zwischen Wetter und Ort stellt gleichsam eine Basis für die zweite Verbindung: Denn während der Ort durch das Wetter beeinflusst erscheint, ist auffallend, dass bezüglich des Ortes selbst dessen kriminelle Facette hervorgehoben und auch die Figur als kriminelles Subjekt charakterisiert wird („il se sentait sur son terrain“). An dieser Stelle wird der Textaufbau konstitutiv. Verknüpft werden Wetter und Ort mittels der Alternanz, d. h. dem oszillierenden Textaufbau, bei dem Ort wie Wetter sukzessiv aufgebaut sind, sodass sich ein Muster aus Wetter und Ort abzeichnet. Dieses Muster wird anhand von Abbildung 1 veranschaulicht:
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Abbildung 1: Schaubild zum Verknüpfungsmuster von Cité und Wetter Wetter: Als Teil des atmosphärischen Hintergrundes. Cité: Präsentation als schauerliches und kriminelles Areal. Wetter: Personifikation des Wetters, Darstellung des Wetters als „violemment“. Cité: Beschreibung als desolat, heruntergekommen und leibliche Bedrohung über die Assoziation zur Cholera „infectes“ sowie erneute kriminelle Verbindung. Identifizierung des Mannes als kriminelles Subjekt durch die Verbindung zum Ort („terrain“). Dies trägt zur kriminellen Verbindung bei.
Quelle: eigene Grafik
Wetter: Kulminationspunkt. Der Regen peitscht gleichsam gewalttätig gegen die Mauern des Stadtviertels. Dies fällt relativ mit dem gewalttätigen Übergriff des Mannes gegen die Frau zusammen, sodass eine Verbindung zwischen Wetter und Figurenebene entsteht.
Aus der Alternanz entsteht eine Wechselwirkung, aus der eine Rückkopplung des Ortes auf das Wetter resultiert. Der Nexus zur Kriminalität, der dem Raum inhärent ist, wird auf das Wetter, insbesondere den Regen übertragen. 31 Die hier entstehende Relation von Regen und Kriminalität bleibt markanterweise im weiteren
31 In gewisser Weise ließe sich konstatieren, dass hier die Basis für eine Veränderung auf der sekundärmotivlichen Ebene geschaffen wird. Vgl. zum Motiv Wolpers, Theodor: „Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung“, in: Ders. (Hg.), Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung: Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1998-2000, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 41-112, bes. S. 88f und 106; vgl. weiter: Wolpers, Theodor: „Zum Verhältnis von Gattungsund Motivinnovation: Einzelergebnisse und eine Systematik motivwissenschaftlicher Typenbildung“, in: Ders. (Hg.), Gattungsinnovation und Motivstruktur: Bericht über Kolloquien der Kommission für Literaturwissenschaftliche Motiv- und
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Roman erhalten (ca. 1214 Seiten und über ein Jahr Publikationszeit, 1842-1843). Bis auf eine Ausnahme regnet es konstant über die ersten 21 Kapitel. Selbst in einer meteorologischen Ausnahme im Kapitel Promenade bleibt die Verbindung auffallend bestehen und wird im Gespräch manifestiert.32 Signifikant ist bezüglich des Konnex von Regen, Cité und Kriminalität zum einen, dass die Cité zunächst als Ausgangspunkt für die Kriminalität fungiert, jedoch mit der Erweiterung des Figurenpanoramas als Handlungsmittelpunkt weitestgehend aufgegeben wird. Zum anderen werden die Wetterlagen ab dem zweiten Teil33 der Mystères de Paris zwar differenzierter und weisen mitunter spezifische Relation zu den einzelnen Figuren auf – indes bleibt der Zusammenschluss von Regen und Kriminalität bestehen, etwa während der Bestrafung (Blendung) des Verbrechers Duresnel. Die individuelle Relation der Figuren zum Wetter zeichnet sich in der Folge auch an den Kriminellen ab, so beeinflusst etwa die Dichotomie von Winterkälte und Wärme auf dem sog. Mustergut den Läuterungsprozess Duresnels nach dessen Blendung.34 Auch die Bestrafung und der sich hieraus entwickelnde Wahn des master criminals Ferrands werden psychisch wirksam eng mit einer Unwetterlage verknüpft.35 In den Mystères de Paris wird eine nachhaltige Relation, insbesondere von Regen und Kriminalität, aufgebaut, der ein gewisser Modelcharakter inhärent zu sein scheint. Sie findet sich im Speziellen etwa bezüglich der Nouveaux Mystères de Paris, der Kriminalromanreihe von Léo Malet, die ca. 100 Jahre nach den Mystères de Paris erscheint. Hat sich entsprechend die geschaffene Verbindung zwischen Stadt (Paris) und Wetter (Regen) über einen langen Zeitraum erhalten?
Themenforschung 1986-1989, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, S. 172-225, S. 209f. 32 Zur Veranschaulichung: Auf einer sonnenbeschienenen Wiese während einer Landpartie findet ein überraschendes Treffen der Figuren statt. Der Chourineur berichtet, dass er die Planung eines Mordanschlages gegen den Helden Rodolphe Graf Gerolstein beobachtet hat. In seinem Bericht erwähnt der Chourineur immer wieder den Regen, der während des von ihm belauschten Gesprächs fiel. Eigentlich ist dies für die reine Informationsweitergabe irrelevant. Es greift damit aber die angelegte Verbindung zwischen Regen und Verbrechen auf und manifestiert diese. Vgl. E. Sue: Les Mystères de Paris, Kapitel: La surprise. 33 Gemeint ist hier ab dem Kapitel: Le départ. 34 Vgl. E. Sue: Les Mystères de Paris, Kapitel: La punition; La nuit; Le Rêve; Bicêtre; Le maître d’école. 35 Vgl. ebd., Kapitel: Luxurieux point ne seras; Le guichet; Furens amoris; Les visions. Vgl. hierzu auch K. Harbrecht: Heiter bis tödlich (Stand 2018).
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DIE WETTERSYSTEME DER NOUVEAUX MYSTÈRES DE PARIS Nestor Burma ist der Held der Nouveaux Mystères de Paris (1954-1959). Mit Burma schreibt Léo Malet den ersten „roman noir français“36, überführt damit die amerikanische hard-boiled novel à la Chandler und Hamett in eine französische Form und ebnet der neuen Strömung des néo-polar bzw. des roman noir den Weg.37 Die Idee zur Serie, bei der Paris eine Schlüsselrolle einnehmen soll, kommt Malet 1954 bei einem Spaziergang: „... devant le paysage parisien qui s’offre à ma vue – le métro aérien sur le pont de Passy, la Seine, la tour Eiffel – [...] L’idée me vint d’une série de romans policiers se passant chacun dans un arrondissement [...]. Ce serait [...] le roman en vase clos, mais en plein air.“38
Hierüber können zwei Perspektiven für die Relation Stadt und Wetter innerhalb der Nouveaux Mystères de Paris abgeleitet werden, nämlich Paris in seiner Gesamtheit sowie jedes Arrondissement einzeln als singulärer Teilbereich. Beide Perspektiven können, so die Annahme, als Grundlage für ein Wettersystem der Stadt fungieren. Aber, und so ließe sich eine entsprechende These formulieren, die Wahl der Perspektive hat Konsequenzen für die Wirkung des Wetters auf die Stadt. Die erste Perspektive beleuchtet die Stadt als Gesamtkonzept innerhalb der Serie unter dem Einfluss des Regens und knüpft an die Ausführungen von Rohlff an. Diese geht davon aus, dass der Regen die Wetterlage innerhalb der Nouveaux Mystères de Paris darstellt, und konstatiert apodiktisch: „Schönes Wetter ist eher
36 Dulout, Stéphanie: Le roman policier, Toulouse: Éditions Milan 1995, S. 30. Mit 120 rue de la Gare. Vgl. Malet, Léo: 120 rue de la Gare, Paris: Editions S.E.P.E. 1943. 37 Auch dieser wird tendenziell mit dem Regen verbunden; so konstatiert Flückiger anschaulich: „Der ‚Schwarze Krimi‘ erzählt von einzelgängerischen Männern, die rastlos durch die nachtschwarzen Strassen einer kalten Grossstadt streifen, zur Unterstreichung der Tristesse oft bei Dauererregen.“ (Flückiger, Alex: Lexikon der internationalen Krimiautoren: von Agatha Christie bis Donna Leon, Ed McBain bis Henning Mankell, Georges Simenon bis Minette Walters, Eric Ambler bis Tom Clancy - die volle Dröhnung, Norderstedt: Books on Demand 2005, S. 8). 38 Malet, Léo : La vache enragée, Paris: éditions Hoëbeke 1988 S. 195f., zitiert nach: De Vallerin, Gilles Gudin/Bouchard, Gladys: Léo Malet revient au bercail, Arles: Actes Sud 2007, S. 111.
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die Ausnahme [...], Regen die Norm.“ 39 Das Wetter wirke sich auf die Stadt und ihre Wahrnehmung aus und fördere deren illisibilité sowie atmosphärisch eine negative Markierung der Stadt.40 Darüber hinaus konstatiert Rohlff: „Es handelt sich hier [in den Nouveaux Mystères de Paris] um die Darstellung einer Stadt, die selbst flüssig wird, sich auflöst und zerrinnt, bis nichts Festes, Greif- und Lesbares übrig bleibt.“41 Hieraus ließe sich folgern, dass in den Nouveaux Mystères de Paris der Regen Einfluss nimmt auf die topografische, topologische und letztlich semantische Ebene der Stadt; durch ihn kommt es zu einer Transformation der Stadt und letztlich zu ihrer Auflösung.
REGENSTATISTIK FÜR DIE NOUVEAUX MYSTÈRES DE PARIS Unter Berücksichtigung der Verbindung zwischen Regen und Kriminalität, wie sie in den Mystères de Paris besteht, liegt die Annahme nahe, dass eine solche Verbindung in den Nouveaux Mystères de Paris aufgegriffen wurde. Allerdings fällt bei der Lektüre einiger Romane wie Micmac moche au Boul’ Mich’42 auf, dass nicht der Regen das primäre Wetterphänomen ist, sondern Schnee. In Les Rats de Montsouris43 oder Corrida aux Champs-Élysées regnet es wenig oder sogar gar nicht. Vor dem Hintergrund einer regeninduzierten Auflösung der Stadt wirken diese Titel irritierend, und werfen die Frage auf, wie oft es in den Nouveaux Mystères de Paris tatsächlich regnet. Um dies zu beantworten, wurden die Wetter und Regenstellen erhoben und zur Veranschaulichung im nachstehenden Diagramm zusammengefasst.44
39 Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux mystères de Paris in der Tradition von Kriminalund Parisroman, Regensburg: Roderer 1996, S. 180. 40 Ebd., S. 179f. 41 Ebd., S. 181. 42 Malet, Léo: Micmac moche au Boul’Mich’, Paris: Editions Robert Laffont 1957, neu u.a.: Fleuve Noir 1999. 43 Ders.: Les Rats de Montsouris, Paris: Editions Robert Laffont 1955, neu u.a.: Presse de la Cité 1989. 44 Die Fundstellen erfassen hierbei das gesamte Semantikfeld zum Bereich Regen, d.h. bspw. sowohl pluie, il pleut, als auch bruine etc.
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Abbildung 2: Übersicht der Romane mit Darstellung des Regenanteils
Quelle: eigene Erhebung
Ausgehend von der für die Stadtwahrnehmung bedeutenden Feststellung des Regens als Norm erstaunen nicht nur die Fälle, in denen es gar nicht regnet, sondern auch der geringe Regenanteil insgesamt. Dieser liegt nach der obenstehenden Darstellung bei 20 %. Relevanter als nach der Quantität zu fragen, scheint es daher zu untersuchen, in welchen Momenten (bspw. der Handlung oder bezüglich der Figurenrelation) der Regen überhaupt fällt und welche Funktion er dabei einnehmen kann. Exemplarisch wird dies für den Roman Pas de bavards à la Muette skizziert.45 Im Anschluss an die Neufokussierung der Funktion des Regens, der wohl nur gefühlt omnipräsent ist, kann die zweite Perspektive des Zusammenspiels von Wetter und Stadt expliziert werden.
45 Kurzfassung des Falles nach Alfu: „Engagé pour retrouver la fille de la riche Mme Ailot, Burma découvre que celle-ci a été autrefois la maîtresse d’un truand devenu collabo, dont les anciens complices tentent, par l’intermédiaire du fils, André, de retrouver un trésor de guerre. [...] Mais il est à noter que l’atmosphère de luxe du XVIe arrondissement ne lui [Burma] convient visiblement pas.“ Alfu: Léo Malet: parcours d'une œuvre, Amiens: Encrage 1998, S. 138f.
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DER REGEN IN PAS DE BAVARDS A LA MUETTE Nestor Burma lenkt in Pas de bavards à la Muette selbst die Aufmerksamkeit – wenn auch mokant – auf das Phänomen, dass der Regen an die Figur des verdächtigen Chauffeurs Yves Bénech gebunden zu sein scheint: „Cet Yves Bénech devait être une variété de tempestaire. Il amenait la flotte avec lui et il suffisait de le quitter pour qu’elle cesse.“46 Über den Regen zieht Burma ferner Rückschlüsse bezüglich des Verhaltens der Figur: Burma geht davon aus, dass Bénech schuldig am Diebstahl zum Nachteil von Madame Ailot ist. Wenn nun der Chauffeur Bénech sein Hotelzimmer bei starkem Regen verlässt, so vermutet Burma einen sehr triftigen Grund, und dieser ist für den Detektiv von krimineller Natur: „Il est vrai que l’averse de tout à l’heure [...] n’incitait guère à la promenade. Raison de plus pour supposer que si Yves Bénech en entreprenait une, de solides raisons l’y poussaient. Très bien raisonné.“47 Durch das Wetter wird der Eindruck einer kriminellen Implikation Bénechs lanciert. Dieser Eindruck wird bestärkt, als Bénech sich eine regennasse Treppe zunutze macht, um Burma, der ihm wie eine Klette folgt, hinunterzustoßen und damit abzuschütteln. Mittels des Regens und der hiermit verbundenen Wetterbewertung48 – Regen verweist auf den schlechten Charakter einer Figur49 – wird mit den Leseerwartungen gespielt und letztlich Leserschaft wie Detektiv auf eine falsche Spur gelenkt. Denn andere mögliche Gründe für Bénechs Spaziergang durch den Regen, wie etwa eine Verabredung mit seiner Geliebten, werden durch die aufgebaute suggestiv kriminelle Verbindung zum Regen verdeckt. So führt Burmas scheinbar logische Schlussfolgerung der (Wetter-) Fährte in die Irre. Gelöst von der suggestiven Wetterdeutung Burmas wird die explizite Verbindung des Regens zu Bénech zur dienenden meteorologischen Spur. Quantitativ liegt der Regenanteil in Pas de bavards à la Muette bei ca. 12 %, wobei auffallend ist, dass es nur in den Kapiteln regnet, in denen Bénechs präsent ist und etwa mit Burma zusammentrifft. Meteorologischer Schlüssel zur Lösung des Falles bildet ebenfalls die von Burma explizierte Relation des Regens zu Bénech. Allerdings
46 Malet, Léo: Pas de bavards à la Muette, Paris: Robert Laffont 1956, neu: Fleuve Noir 1994, S. 44. 47 Ebd., S. 45. 48 Vgl. zur Wetterbewertung Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, Göttingen: Wallstein Verlag 2011, S. 72. 49 Zugegeben: Moralisch mag Bénech vielleicht kein Unschuldslamm sein, doch ist er, wie sich herausstellt, am Diebstahl unschuldig und vielmehr eine der Spielfiguren von Mme Ailot, die ihn wie ihre Nichte als Bauernopfer für ihre Pläne einsetzt.
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pointiert expressis verbis wie der weitere Handlungsverlauf zeigt: An einem Abend wird Burma von seiner Klientin, Madame Ailot, in ein leerstehendes Haus geführt, wo er scheinbar Ohrenzeuge des Mordes an Bénech wird. Spannend ist hierbei der implizite Informationsgehalt, nämlich die subtile Fortsetzung der Relation von Regen zur Figur Bénechs, denn zum vermeintlichen Zeitpunkt des Mordes regnet es (bereits) nicht mehr. Sobald die Verbindung Bénech-Regen als meteorologischer Hinweis entschlüsselt ist, bildet die Abwesenheit des Regens ein Indiz dafür, dass Bénech zu diesem Zeitpunkt bereits tot ist und die Szene für Burma als (vermeintlicher) Zeuge des Mordes inszeniert ist. Wie sich herausstellt, steht letztlich Burmas Klientin Madame Ailot hinter dem Mord an Bénech. Als meteorologisch subtil erweist sich damit ferner, dass es nach Bénechs Tod in Kapitel sechs zwar nach Regen aussieht, es aber nicht regnet – dafür wird just an dieser Stelle über den Mord am Chauffeur im Radio berichtet. Die literarische Darstellung des Wetters nimmt zudem ab diesem Moment quantitativ zwar ab, doch durch den Wegfall des Regens verdeutlicht sich, dass das Wetter Burmas Ermittlung, die nun gezielter geführt wird, transzendiert. Beispielhaft zeigt sich dies an folgender Wetterdarstellung: „Les nuages qui, un peu plus tôt, menaçaient étaient allés crever honteusement ailleurs. La nuit commençante était douce; une belle nuit de printemps en perspective.“50 Im Anschluss an diese exemplarische Darstellung einer Funktion des Regens wird die zweite Perspektive der Relation von Wetter und Stadt fokussiert.
DAS WETTER DER ARRONDISSEMENTS Bei Betrachtung der einzelnen Arrondissements fällt zum einen auf, dass sich jedes Arrondissement durch besondere Charakteristika auszeichnet, die sich in den Nouveaux Mystères de Paris als quasi individuelle Form des Verbrechens oder Themenkomplex eines Falles niederschlagen: Bspw. wird in Fièvre au Marais ein Opfer in einem Brennofen verbrannt oder in Le soleil naît derrière le Louvre spielt der Diebstahl eines Raffael-Gemäldes aus dem Louvre eine Rolle. Zum anderen wird deutlich, dass bestimmte Wetterphänomene in einzelnen Stadtarealen ausgeschlossen sind, wie etwa der Regen aus dem 2. Arrondissement (Des kilomètres des linceuls) und dem 8. Arrondissement (Corrida aux ChampsÉlysées) oder in Burmas Wahrnehmung die Sonne aus der Rue de la Saïda (Les Eaux troubles de javel) und zunächst aus dem 13. Arrondissement (Brouillard au pont de Tolbiac). Andere meteorologische Phänomene hingegen erscheinen (fast)
50 L. Malet: Pas de bavards à la Muette, S. 119.
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ausschließlich in einem Arrondissement, wie etwa der Schnee in Micmac moche au Boul’ Mich’ oder der Nebel in Brouillard au pont de Tolbiac.51 In diesem Fall wird bspw. Burmas negative Sicht auf das 13. Arrondissement über die Wetterapperzeption deutlich, denn er schließt ein elementares Wetterelement aus und konstatiert meteorologisch-lokal determinierend:52 „Sale coin, nom de Dieu! Je n’y viendrai donc jamais un jour où il y aura du soleil? Nous arrivons Place d’Italie. Un brouillard sournois, à l’image de quelques ombres que l’on surprenait à s’engager furtivement dans le boulevard de la Gare, s’effilochait aux branches dégarnies des arbres du square central et des terre-pleins en bordure.“53
Grundlegend für die Bedeutung des Nebels in diesem Fall ist die Relation zu Burmas Jugend, die an das 13. Arrondissement gebunden ist und welches Burma (aus distanzierter Perspektive und womöglich gerade wegen seiner hier verlebten Jugendzeit bei den Vegetaliern) verabscheut. Der im 13. Arrondissement vorherrschende Nebel, der den Stadtteil bedrohlich erscheinen lässt und zunächst zu dessen Unlesbarkeit führt,54 resultiert aus der besonderen Thematik, nämlich der bisherigen Verdrängung bzw. nicht gelungenen Auseinandersetzung Burmas mit seiner Jugend und seine darauf beruhende Verbindung zum aktuellen Fall. Die Wirkung des Nebels auf die Stadt erscheint hier abhängig von Burmas individueller Disposition. In dieser erhält der Nebel eine metaphorische Qualität, die ausschlaggebend für die Wirkung auf den Ort ist. Pointiert ließe sich formulieren, dass der Nebel eine externalisierte Gefühlswetterlage darstellt, die sich über das Stadtbild legt – respektive die Nicht-Auseinandersetzung mit dem Stadtteil der Jugend zu einer spezifischen (Apperzeption der) meteorologischen Phänomene
51 Nebel findet sich nur in Brouillard au pont de Tolbiac sowie vereinzelt in Le soleil naît derrière le Louvre und Du rébecca rue des Rosiers. 52 Kurzfassung des Falles nach Alfu: „Appelé par l’un d’entre eux, Burma découvre que l’agression du garçon de recette Daniel, perpétrée avant guerre, était le fait de plusieurs anciens compagnons du Foyer végétalien. L’un d’eux été trahi par les autres et, les ayant récemment retrouvés, a voulu se venger. Parallèlement, le détective ne pourra sauver la jeune gitane Belita, victime des siens.“ Alfu: Léo Malet, S. 139. 53 Malet, Léo: Brouillard au pont de Tolbiac, Paris: Robert Laffont 1956, neu: Fleuve Noir 2007, S. 55. 54 Vgl. zur Unlesbarkeit der Stadt durch den Nebel Rohlff, Sabine: Léo Malets Nouveaux Mystères de Paris, S. 179f. Rohlff überträgt die Funktion des Nebels allerdings auf die auf die gesamte Stadt.
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führen muss. Deutlich wird Burmas symptomatische Wetterwahrnehmung besonders an der Veränderung: Als sich Burmas Perspektive und Stimmung wandeln,55 kann sich erst das Wetter und dessen Apperzeption verändern, was wiederum zu einer Beeinflussung der Wahrnehmung des Viertels führt: „Il faisait frisquet, mais on n’aurait certainement pas de brouillard, aujourd’hui. [...] Un soleil jaune léchait les acacias décharnés de la rue de Tolbiac. Des passants pressés allaient à leurs occupations. Comme partout ailleurs. [...] C’était un arrondissement, un quartier semblable aux autres [...].“56
Die Wahl des Wetters ist damit in den einzelnen Fällen nicht arbiträr.
PARIS UND DIE DRÜCKENDE ATMOSPHÄRE EINER SOMMERNACHT Es liegt mithin die Annahme nahe, dass jedes Arrondissement in besonderer Relation zu seinem Wetter steht und dabei eine jeweils übergeordnete Thematik für die Darstellung und Funktion des Wetters bedeutend ist.57 Dies zeigt sich bei anhaltender Hitze in Corrida aux Champs-Élysées.58 Die Hitze des Sommers spielt in diesem Fall zusammen mit der Thematik der Cineastik, unter dem Fokus von Künstlichkeit, Schein und Sein. Unter dieser wirkt sich Burmas Apperzeption des Wetters auf die Stadtwahrnehmung aus. Dies lässt sich an der Darstellung resp. Apperzeption des Wetters und der Stadt während eines Abendspaziergangs
55 Nach der Nacht mit Belita, der er u.a. Geschichten aus seiner Zeit bei den Vegetaliern und seiner Jugend im 13. Arrondissement erzählt und sich so gleichsam ‚therapeutisch‘ mit seiner Vergangenheit aussöhnt. 56 L. Malet: Brouillard au pont de Tolbiac, S. 99. 57 In Pas de bavards à la Muette ist dies übrigens auch so, die besondere Funktion zeichnet sich hier über eine spezifische Relation zwischen Wetter und Eifelturm ab. 58 Malet, Léo: Corrida aux Champs-Élysées, Paris: Robert Laffont 1956, neu: Fleuve Noir 1993. Der Regenanteil liegt hier übrigens bei 0%. Kurzfassung des Falles nach Alfu: „Nestor Burma se retrouve dans l’univers des trafiquants de drogue en fréquentant des gens de cinéma, dont le producteur Henri Laumier qui aurait voulu acheter un procédé de prise de vues révolutionnaire avec l’argent obtenu grâce à un stock de drogue récupéré accidentellement. Toutefois les truands ne lui laissent pas la vie, même si Burma réussit à les faire arrêter. Nestor Burma [...] revient ici en plein cœur du 7e art, dans l’arrondissement des producteurs (le VIIIe).“ Alfu: Léo Malet, S. 138.
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Burmas mit dem Journalisten Marc Covet veranschaulichen. Nach der gemeinsam besuchten Filmpremiere herrscht die drückende Atmosphäre einer Sommernacht: „Pas un pouce d’air, comme on dit. Les arbres sous lesquels nous passions s’érigeaient dans une immobilité de décor de théâtre. [...] Aucune fraîcheur n’en montait. Dans la perspective, les signalisations vertes et rouges du Pont des Invalides se reflétaient en zigzag [...], dans l’onde noire [Seine]. A intervalles réguliers, le phare tournant de la tour Eiffel balayait le ciel clair de Paris.“59
Die Natürlichkeit von Flora, Fauna, Nacht und Stadtraum wird aufgehoben: Durch die Reziprozität von Naturphänomenen und Stadt entsteht eine spezifische Wahrnehmung: Die Stadt erscheint als Inszenierung. Die Nacht auf den ChampsÉlysées wird durch die künstlichen Lichter zum Tag, die Hitze lässt die Luft stehen und erstarren, sodass die Bäume sich wie Kulissen zum Himmel recken. Die Naturelemente, Wasser und Himmel, werden durch die künstlichen Lichter der Stadt beleuchtet und in Szene gesetzt, sodass fast alles andere in vollkommener Dunkelheit versinkt. Diese Stadtwahrnehmung bildet den Rahmen für Burmas Ermittlung im Filmmilieu. Zudem ist diese Apperzeption der Stadt nach der Filmpremiere, wo Burma bereits auf die ‚Täterin‘ trifft, retrospektiv als Hinweis auf den Mord als (inszenierten) Selbstmord lesbar.60 Durch die Relation von Wetter und Stadt und dessen Wahrnehmung durch Burma wird kontrastiv der Ort herausgehoben, der sich durch eine gewisse Natürlichkeit auszeichnet: der „Tatort“ bzw. der Moment des Dahinscheidens der Schauspielerin Lucie Ponceau. Am Park Monceau ist es sommerlich heiß. Es wird allerdings keine drückende Hitze, sondern eher die idyllische Impression einer Sommernacht aufgebaut. Im Gattungskontext des Kriminalromans ist das Naturbild parallel als Transzendierung der Ereignisse lesbar: „Rien que le silence. Une brise se leva, le rompant. Les arbres du Parc Monceau murmurèrent, mécontents d’être dérangés dans leur rêverie. Ce vent était tiède.“61 Diese Wetterdarstellung stellt eine Analogie dar: Der Wind stört die Ruhe – wie auch der Regisseur Lucie Ponceau in ihrer Zurückgezogenheit und Träumerei von vergangenen Zeiten störte, als ihre Schauspielkarriere auf dem Höhepunkt war. Durch das Engagement
59 L. Malet: Corrida aux Champs-Élysées, S. 28f. 60 Burma muss im Verlauf seiner Ermittlung erkennen, dass Lucie Ponceau in den Selbstmord getrieben wurde, die von ihm verehrte und geschätzte Schauspielerin, die einzige mit wahrem Talent im ganzen Fall, damit auf perfide Art ermordet wurde. 61 L. Malet: Corrida aux Champs-Élysées, S. 43.
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wurde sie wieder mit der Realität und Selbstzweifeln konfrontiert.62 In ihrem Haus am Parc Monceau finden Burma und Covet im Schlafzimmer die sterbende Mademoiselle Ponceau. Dieser Moment wird durch die Naturphänomene gestimmt: „Par la fenêtre ouvert sur la nuit, pénétrait l’odeur végétale du Parc Monceau.“63 Die omnipräsente Hitze der Sommernacht wird in diesem Moment relevant, denn durch die Wärme entfalten die Pflanzen erst ihren Duft. Die Hitze wird daher nicht nur haptisch und visuell wirksam, sondern auch olfaktorisch relevant: Auch hier beeinflussen die Temperaturen der Sommernacht die Wirkung des Ortes; allerdings wirken diese hier angenehmer: Durch die Bäume des Parks ist es lauer als in den Straßen der Stadt und durch die Luftbewegung dringen die durch die Wärme entstehenden Pflanzendüfte in das Zimmer. Durch seine assoziative Wirkung birgt das Wetter einen wesentlichen Anteil an der Inszenierung des (Tat-)Ortes als Topos der sog. ‚Schönen Frauenleiche‘.64 Die Implikation der Natur beim Tod von Lucie Ponceau kann als herausragendes Element der Wetterstruktur innerhalb des Textes gesehen werden, da die Stadt und andere Orte als artifiziell konzipiert und von Burma ebenso empfunden werden. Der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Natur wird besonders in den Momenten deutlich, in denen Figuren, die direkt oder indirekt am Tod Lucies schuldig sind, versuchen, sich durch Ventilatoren künstliche Kühlung zu verschaffen – was aber nicht zu gelingen scheint und den Aspekt von Künstlichkeit und Schein noch hervorhebt: „Les baies étaient ouvertes sur le parc, mais la bise qui agitait le journal que le producteur était en train de lire à mon entrée provenait d’un ventilateur invisible“65 oder: „(Il s’interompit, se leva et alla changer l’orientation du ventilateur, en bougonnant.) ... Quelle chaleur ! ... (Il revient s’asseoir, épongeant les plis de son cou massif à l’aide d’un mouchoir de soie jaune.) ...“66 Die durch das Wetter aufgebaute Wirkung des Arrondissements und die in diesem liegenden Orten führt nicht nur zu einer spezifischen Wahrnehmung des Stadtareals, sondern verbindet sich auch mit anderen Komponenten, wie etwa der übergeordneten Thematik des Kriminalfalles, der Figuren Disposition, der Fallentwicklung oder der Dichotomie von Opfern und Täterfiguren. 62 Markant erscheint hier die Hervorhebung des Windes als „tiède“; im Kontext des weiteren Verlaufs ließe sich dies als Hinweis deuten, dass Lucie Ponceau noch lebt und noch nicht tot ist. 63 L. Malet: Corrida aux Champs-Élysées, S. 47. 64 Zur Schönheit der weiblichen Leiche: Bronfen, Elisabeth: Nachwort in: Die schöne Leiche: Texte von Clemens Brentano, E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Arthur Schnitzler und anderen, München: Goldmann 1992, S. 376-429. 65 L. Malet: Corrida aux Champs-Élysées, S. 61. 66 Ebd., S. 78f.
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METEOROLOGISCHE SPURENSICHERUNG Krimi: Stadt – Regen. Wie gezeigt wurde, ist dieser Nexus (k)eine Illusion. Für die Suche nach einem möglichen Ursprung der Verbindung von Stadt, Regen und Kriminalität wurde mit den Mystères de Paris ein Vorläufer des französischen Kriminalromans beleuchtet und gefragt, ob die Verknüpfung Regen und Kriminalität mit spezifischen Stadtbewertungen zusammenhängt. Ausgehend von der These, dass Wetterlagen nicht nur die Qualität eines Ortes beeinflussen, sondern vice versa Orte ihre spezifischen Konnotationen auf das Wetter übertragen können, wurde der Romananfang und dessen Reziprozität von Cité und Regen vor dem Hintergrund der Trias aus Genrebezüglichkeit (Schauerromantik), Histoire und zeitgenössischer Konnotation der Cité als kriminelles Areal untersucht. Hierbei zeigte sich eine Übertragung der Konnotationen und Assoziationen bezüglich des Stadtteils auf das Wetter. Ein abschließender Blick auf die Mystères de Paris veranschaulicht die Aufrechterhaltung der Verbindung von Regen und Kriminalität sowie die Lösung der Relation vom originären Bezugspunkt, und damit ihre Verselbstständigung. Als Vorläufer des Kriminalromans kann bei den Mystères de Paris ein Modellcharakter vermutet werden, in dessen Folge die Assoziation Regen und Kriminalität für den Kriminalroman eine gewisse Substanzialität entwickelt hat. Exemplarisch wurden die Nouveaux Mystères de Paris, die ca. 100 Jahre nach den Mystères de Paris erschienen, dahingehend befragt, welche Relevanz dem Regen zukommt und welche Relation hier zwischen Stadt und Wetter besteht. Eine quantitative Auswertung veranschaulichte allerdings den geringen Regenanteil innerhalb der Reihe, womit dem Regen nicht mehr die Präsenz zukommt wie vergleichsweise zu Beginn der Mystères de Paris. Vielmehr scheint es zudem sinnvoll, nicht nach Quantität zu suchen, sondern individuelle Wetterfunktionen aufzudecken. Bezüglich der Wechselwirkung von Wetter und Stadt offenbarte sich, dass unterschiedliche Perspektiven auf die Stadt ein divergierendes Verständnis der Wetterfunktionen bedingen. Die Perspektive auf Paris als Ganzes unter Einwirkung des Regens führt zu einer Transformation der Stadt und ihrer Auflösung. Die Betrachtung der einzelnen Arrondissements, was die besondere Konzeption der Reihe berücksichtigt, konturiert hingegen eine meteorlogische Besonderheit der Nouveaux Mystères de Paris: Jedes Arrondissement verfügt über ein eigenes Wettersystem, welches jeweils mit Komponenten, wie der Thematiken der Kriminalfälle oder der Figuren, verknüpft ist und sich auf die Wahrnehmung resp. Wirkung des Arrondissements selbst auswirkt. Ob es sich hierbei um ein
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Klimasystem-Modell handelt, das nachfolgende in Paris spielende Kriminalromanreihen verwenden, ist eine spannende Frage. Die Reihe von Cara Black um die Privatdetektivin Aimée Leduc scheint dies bspw. aufzugreifen. 67
LITERATUR Alfu: Léo Malet: parcours d'une œuvre, Amiens: Encrage 1998. Bachleitner, Norbert: Der englische und französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts und seine Rezeption in Deutschland, Amsterdam/Atlanta: Editions Rodopi B.V. 1993. — Fiktive Nachrichten. Die Anfänge des europäischen Feuilletonromans, Würzburg: Könighausen & Neumann 2012. Blanc, Jean-Noël: Polarville. Images de la ville dans le roman policier, Lyon: Presses universitaires de Lyon 1991. Böhme, Gernot: „Das Wetter und die Gefühle. Für eine Phänomenologie des Wetters.“, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären: Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin: Akademie-Verlag 2011, S. 153-167. Bourdier, Jean: Histoire du roman policier, Paris: Éd. de Fallois 1996. Bronfen, Elisabeth: Nachwort in: Die schöne Leiche: Texte von Clemens Brentano, E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Arthur Schnitzler und anderen, München: Goldmann 1992, S. 376-429. Colombi, Matteo: Stadt-Mord-Ordnung. Urbane Topographien in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa, Bielefeld: transcript 2012. — „Der ost- und mitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region“, in: Ders. (Hg.), Stadt-Mord-Ordnung (2012), S. 11-27. Delius, Friedrich Christian: Der Held und sein Wetter, Göttingen: Wallstein Verlag 2011. De Vallerin, Gilles Gudin/Bouchard, Gladys: Léo Malet revient au bercail, Arles: Actes Sud 2007. Dulout, Stéphanie: Le roman policier, Toulouse: Éditions Milan 1995. Flückiger, Alex: Lexikon der internationalen Krimiautoren: von Agatha Christie bis Donna Leon, Ed McBain bis Henning Mankell, Georges Simenon bis Minette Walters, Eric Ambler bis Tom Clancy – die volle Dröhnung, Norderstedt: Books on Demand 2005.
67 Die Reihe ist bei Soho Press (New York) erschienen. Murder in the Marais von 1998 ist der erste Band.
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Meteorologische Spurensuche in Paris | 307
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Wolkenstädte Vom Babel-Phantasma Hugos zu den Cloud Cities Saracenos André Weber
EINLEITUNG Das atmosphärische Phänomen der Wolke gehört zu jenen Objekten, die jeden Versuch einer eindeutigen Bestimmung komplizieren, da sie sich nie in einem fertigen Zustand, sondern stets in einem Werden befinden, wodurch immer wieder neue Erscheinungsformen generiert werden. Diese Eigenschaft und die enigmatische Schwebelage im Zwischenraum von Himmel und Erde haben den Menschen von jeher fasziniert und dazu angeregt, sich auf vielfältige Weise mit dem Phänomen der Wolke auseinanderzusetzen. In welcher Form diese Auseinandersetzung aber auch immer stattgefunden hat, so setzt sie zunächst voraus, dass der Blick nach oben gerichtet wird. Das Hinaufschauen in den Wolkenhimmel ist eine Geste, die das Träumerische, das Visionäre symbolisiert, wenn Menschen ihren Blick von der sie unmittelbar umgebenden Wirklichkeit lösen und sich ihrer Imagination überlassen. Die kreative Gestaltungsdynamik der Einbildungskraft wird den Betrachtenden durch die Wolken gespiegelt und nimmt auf diese Weise Form an. Wolken sind, um mit Gaston Bachelard zu sprechen, eine „matière d’imagination“1, die den gleichsam demiurgischen Impulsen der Einbildungskraft nachgeben.2 Ästhetischen Modellierungen der Wolke in der Kunst und der Literatur kommt damit die Bedeutung eines Mediums zu, in dem ein historisches 1
Bachelard, Gaston: L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement, Paris: Librairie Générale Française 2007 [1943], S. 239.
2
Ein sinnfälliges Beispiel für diese alltägliche und gemeinhin bekannte Erfahrung beim Betrachten von Wolken liefert eine berühmte Sequenz aus Shakespeares Hamlet, dort heißt es: Hamlet: „Do you see yonder cloud that’s almost in shape of a camel? Polonius: By the mass, and ‘tis like a camel, indeed. Hamlet: Methinks it is like a weasel.
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imaginaire gespeichert ist. Eine Analyse künstlerischer Wolkeninszenierungen vermag mithin ein Wissen über das Ungesagte und das Unsagbare zutage zu fördern, ein Wissen über Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte, die der Mensch im Rahmen der jeweils gültigen epistemologischen Voraussetzungen seiner Zeit in den Wolkenhimmel projiziert hat.3 Nicht selten referenzieren diese Projektionen den menschlichen Lebensraum. Vom aristophanischen ‚Wolkenkuckucksheim‘ bis hin zum virtuellen Raum der cloud dient die Wolke den Menschen schon immer als Projektionsfläche für Visionen des Zusammenlebens, des sozialen Raums oder ganz konkret auch der Stadt. Dieses Bildgefüge von Stadt und Wolke soll im Folgenden in diachroner Perspektive und unter dem Aspekt seines Funktionswandels genauer untersucht werden. Welche Stadtbilder entwerfen wir Menschen, die unseren Blick zu unterschiedlichen Zeiten von der uns unmittelbar umgebenden urbanen Wirklichkeit lösen und nach oben in die Wolken richten? Welche Funktion erfüllt die auf die Wolke übertragene Stadtvision im Kontext der jeweiligen ästhetischen Produktionsbedingungen? Was sagt sie über die Wahrnehmung der Stadt aus und inwiefern gestalten ästhetische Inszenierungen dieses Zusammenhangs möglicherweise einen Wandel der städtischen Raumwahrnehmung selbst mit? Im Folgenden werden Texte von Victor Hugo, Charles Baudelaire und Paul Valéry in den Blick genommen, in denen die Stadt und die Wolke auf unterschiedliche Art und Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei ist von Hugo zu Valéry eine fortschreitende Nivellierung des räumlichen Distanzverhältnisses von unten und oben zu beobachten. Die genannten Autoren, so die heuristische These, gestalten damit einen ästhetischen Aneignungsprozess mit, der über eine Polonius: It is backed like a weasel. Hamlet: Or like a whale? Polonius: Very like a whale.“ (Shakespeare, William: Hamlet, III/2, hg. v. Horace Howard Furness, Philadelphia: Lippincott 1905 [1603], S. 271f.). 3
Als ein literarisches Exempel für die Funktion der Wolke als eine Projektionsfläche für das Begehren sei die Szene aus Schillers Drama Maria Stuart angeführt, wo die gefangene Königin ihren starken Wunsch nach Freiheit auf die vorüberziehenden Wolken projiziert: „Eilende Wolken! Segler der Lüfte! / Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte! / Grüßet mir freundlich mein Jugendland! / Ich bin gefangen, ich bin in Banden, / Ach, ich hab keinen andern Gesandten! / Frei in Lüften ist eure Bahn, / Ihr seid nicht dieser Königin untertan.“ (Schiller, Friedrich: Maria Stuart, Stuttgart: Reclam 1990 [1800], S. 69). Zur Wolke als Projektionsfläche von Intensitäten vgl. die auf den simulationsästhetischen Ansatz von Cornelia Klettke rekurrierende Konzeption der Wolke als Dispositiv bei Weber, André: Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant im Spiegel des sich wandelnden Wissenshorizontes, Berlin: Frank & Timme 2012.
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kontinuierliche Annäherung von Stadt und Wolke schließlich einmündet in die architektonische Vision der Wolke als Stadt bei Tomás Saraceno.
VICTOR HUGO In seinem von 1828 bis 1829 entstandenen sechsteiligen Gedichtzyklus Soleils couchants4 rückt Hugo Paris ins Zentrum einer visionären Schau, die einen Konflikt zwischen romantischer Welterfahrung und moderner Großstadtwirklichkeit enthüllt. Bezeichnenderweise befindet sich das lyrische Ich auf einer Zwischenposition über der Stadt und unter dem Wolkenhimmel. 5 Sein Blick richtet sich auf Paris: „Et là-bas, allumant ses vitres étoilées, Avec sa cathédrale aux flèches dentelées, Les tours de son palais, les tours de sa prison, Avec ses hauts clochers, sa bastille obscurcie, Posée au bord du ciel comme une longue scie, La ville aux mille toits découpe l’horizon.“6
Der Blick von einem höheren Standpunkt über die Metropole scheint zunächst der romantischen Perspektive des „vol d’oiseau“ zu entsprechen, offenbart aber anders als in Notre-Dame de Paris nicht das harmonische Ideal des mittelalterlichen Paris,7 sondern eine dissonante, gleichsam moderne Stadterfahrung. An die Stelle der einst so einheitlichen Architektur ist eine Pluralität der Formen getreten, 8 die
4
Hugo, Victor: „Soleils couchants“, in: Ders., Feuilles d’automne, hg. v. Franck Laurent, Paris: Librairie Générale Française 2000 [1831], S. 362-369.
5
Hugo inszeniert hier ganz bewusst eine Schwellenerfahrung, wie bereits schon der Titel zu verstehen gibt. Vgl. dazu Warning, Rainer: „Schwellenerfahrung und Epochenschwelle. Hugo, Soleils couchants und Baudelaire, Les deux crépuscules de la grande ville“, in: Ders., Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg i.Br.: Rombach 1997, S. 179-218.
6
V. Hugo: „Soleils couchants“, II, v. 7-12.
7
In Notre-Dame de Paris (1831) erscheint Paris dem Erzähler als „masse d’harmonie“ (Hugo, Victor: Notre-Dame de Paris. 1482, hg. v. Marius-François Guyard, Paris: Garnier 1959, S. 146) bzw. als „mer d’harmonie“ (ebd., S. 163).
8
Vgl. dazu auch ebd. S. 160: „Le Paris actuel n’a donc aucune physionomie générale. C’est une collection d’échantillons de plusieurs siècles, et les plus beaux ont disparu.“
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sich in der Wahrnehmung des Betrachtenden zu dem unheilvollen Bild einer langen, den Horizont zerteilenden Säge verdichtet. Mit dem Blick in den Wolkenhimmel lässt Victor Hugo das lyrische Ich zu dem konkreten Stadterlebnis in ein Verhältnis reflexiver Distanz treten und es auf mythischer Ebene entscheidend weiterbeurteilen. Angesichts des friedlichen Abendhimmels sieht sich das lyrische Ich zunächst noch in kosmischer Harmonie mit der Natur vereint: „J’aime les soirs sereins et beaux, j’aime les soirs.“9 Diese Idylle wird jedoch alsbald durchkreuzt durch das Formenspiel der Wolken, dessen suggestive Kraft die Imagination des lyrischen Ichs anregt. Interessanterweise sind es keine Bilder der zuvor postulierten romantischen Korrespondenzerfahrung, sondern, im Gegenteil, phantasmagorische Figuren der Gewalt und der Zerstörung. Diese kulminieren schließlich in dem Erscheinen eines furcht-erregenden Wolkenpalastes („L’édifice effrayant des nuages“ 10), der im fünften Teil des Zyklus als „édifice de nuées“11 erneut auftaucht und dort explizit als die mythische Stadt Babel identifiziert wird. „Quelquefois, sous les plis des nuages trompeurs, Loin dans l’air, à travers les brèches des vapeurs Par le vent du soir remuées, Derrière les derniers brouillards, plus loin encor, Apparaissent soudain les milles étages d’or D’un édifice de nuées! Et l’œil épouvanté, par delà tous nos cieux, Sur une île de l’air au vol audacieux, Dans l’éther libre aventurée, L’œil croit voir jusqu’au ciel monter, monter toujours, Avec ses escaliers, ses ponts, ses grandes tours, Quelque Babel démesurée!“12
Der entsetzte Betrachter erkennt in den „nuages trompeurs“ das architektonische Monstrum Babels, dessen Treppen, Brücken und Türme sich scheinbar endlos in den Himmel fortsetzen. Die trügerischen Wolkengebilde werden für das lyrische Ich also unvermittelt zur Projektionsfläche seiner traumatisierenden Erfahrung der
9
V. Hugo: „Soleils couchants“, I, v. 1.
10 Ebd., v. 26. 11 Ebd., V, v. 6. 12 Ebd., V, v. 1-12.
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modernen Großstadt Paris, die unverkennbarer Auslöser der Vision ist und im Spiegel derselben eine mythische Exaltation ins Infernalische erfährt. Das romantische Ich der Soleils couchants vermag es nicht, die moderne Erscheinung der Großstadt in eine neue lyrische Sprache zu übersetzen. Stattdessen besinnt es sich mit dem abschließenden sechsten Gedicht auf die bewährte, romantische Idealisierung der göttlichen Natur und ihrer sich in einem ewigen harmonischen Kreislauf vollziehende Selbsterneuerung. Baudelaire erst wird es gelingen, die Großstadt unter den gewandelten Bedingungen der Moderne zu poetisieren, wobei ihm die Wolke und der Nebel als nun freilich von jeglicher metaphysischen Determiniertheit befreite Phänomene zu ästhetischen Modellen werden.13
CHARLES BAUDELAIRE Der Titel des Gedichts Paysage, mit dem Baudelaire ab 1861 die Sektion „Tableaux parisiens“ seiner Fleurs du Mal eröffnet, überrascht zunächst, evoziert er doch im Gegensatz zu der postulierten Stadtthematik einen gleichsam bukolisch-romantischen Topos. Tatsächlich geht es Baudelaire hier um die Inszenierung eines poetologischen Prinzips, das von dem Anspruch der mimetischen Nachbildung der Wirklichkeit losgelöst ist und Kunst vorrangig als Schöpfung des schreibenden Ichs definiert. Gegenstand des Gedichts ist der künstlerische Schaffensprozess, der Stadtlandschaften als Resultat einer die Realität transformierenden Traum- und Imaginationstätigkeit entstehen lässt. Im Kontext dieser Poetik wird der Nebel für Baudelaire ästhetisch als ein Schleierphänomen relevant, das Zerrbilder aus „Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritation und imaginären Supplementen“14 entstehen lässt. Infrastrukturell unterliegt dem Gedicht Paysage die Intensität des Wunschtraumes, die durch das initiale „Je veux“15, das gegen Ende noch in „ma volonté“16 nachhallt, und die dreimalige Aufnahme des Verbs „rêver“ in den Versen 3, 8 und 17 markiert ist. In diesem Kontext ist auch der Nebel zu lesen, der in Paysage eine Metapher für die traumähnliche Wahrnehmungsqualität ist, insofern als er hier durch seinen wirklichkeitsentstellenden Charakter den ‚verklärten‘ Blick auf die
13 Vgl. A. Weber, Wolkenkodierungen, S. 229-288. 14 Oster-Stierle, Patricia: Der Schleier im Text, München: Fink 2002, S. 9. 15 Baudelaire, Charles: „Paysage“, in: Ders., Œuvres complètes, hg. v. Yves-Gérard Le Dantec, Paris: Gallimard 1961, S. 78, v. 1. 16 Ebd., v. 24.
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Stadt Paris garantiert, den schon Walter Benjamin evoziert hat17. Wie im Salon de 1846, wo Baudelaire den Nebel mit dem Traum vergleicht („brumes flottantes comme un rêve“18), wird dieser in Paysage als ein Phänomen aufgerufen, das wie der Traum die Wirklichkeit verschleiert und die Wahrnehmung derselben verfälscht mit der Folge, dass der Eindruck von etwas Neuem entsteht. Dieses wird in diesem Fall als wohltuend empfunden, wie Vers 9 belegt: „Il est doux, à travers les brumes, de voir naître.“ Das, was das Ich durch den Nebel, das heißt in seiner Träumerei, entstehen sieht, ist ein ‚Paradis Artificiel‘, eine ideale Traumlandschaft, die von der äußeren Realität unabhängig ist und allein dem Begehren des Träumenden entspricht. Die Wirklichkeit wird transformiert und erhält ein neues, übernatürliches Gefüge. Die Schornsteine und Glockentürme der Stadt werden in der Wahrnehmung des Träumers zu Schiffsmasten 19, wodurch der Wunsch einer Evasion aus dem Hier und Jetzt verbildlicht wird; der Industrierauch zieht wie ein Fluss in den Himmel20, und während der unwirtlichen Jahreszeit lässt das Ich durch die Kraft seiner Imagination den Frühling entstehen21. Der Nebel fungiert dabei als das Medium, das die Entstehung künstlicher Idealwelten im Geiste ermöglicht und zugleich gewissermaßen einen Raum bildet, der das lyrische Ich vor der vielfältig ‚schockierenden’ Großstadtwirklichkeit mit ihren „aveugles“, den „petites vieilles“, den „sept vieillards“ und dem „cygne évadé“ schützt. Umberto Eco wird diesen Aspekt der Baudelaireschen Nebelmetaphorik in einem Artikel zu seinem Buch Nebbia von 2009 wieder aufgreifen und aktualisieren: „Nella nebbia sei al riparo del mondo esterno, a tu per tu con la tua interiorità […]. La nebbia è uterina. Ti protegge.“22
17 Vgl. Benjamin, Walter: „Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, 1/2, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 79-989, hier S. 418: „Viele Gedichte nehmen Wolkenmotive auf [von der Verklärung von Paris in Le Paysage nicht zu sprechen]“. 18 Baudelaire, Charles: „Salon de 1846“, in: Ders., Œuvres complètes (1961), S. 874-952, hier: S. 937. 19 C. Baudelaire, „Paysage“, v. 7. 20 Ebd., v. 11. 21 Ebd., v. 24. 22 Eco, Umberto: „Perché amo la nebbia che ci protegge dal mondo“, in: La Republicca vom 25.11.2009, verfügbar unter http://ricerca.repubblica.it/repubblica/archivio/ repubblica/2009/11/25/perche-amo-la-nebbia-che-ci-protegge.html.
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PAUL VALÉRY Wie schon für Hugo und Baudelaire auf der Epochenschwelle zwischen Romantik und Moderne, wird auch für den Wegbereiter der Postmoderne Paul Valéry fünfzig Jahre nach den Fleurs du Mal Paris zur Herausforderung für das Denken und die Repräsentation. In seinem Essay Présence de Paris (1937) setzt sich Paul Valéry mit dem Problem der intellektuellen Bewältigung der Stadt Paris auseinander, die sich durch ihre Inkommensurabilität und Mannigfaltigkeit einer Darstellung im Modus der Eigentlichkeit schlechterdings entzieht. Sie löst eine Vielzahl von Gefühlen des Scheiterns aus: das Gefühl der Verunsicherung („Voici […] me décourager […]“23, „Comment songer à vaincre […] un tel monstre […]?“24), der Orientierungslosigkeit („Je me perds […]“25) und der Beklemmung („PARIS occupe, obsède, assiège mon esprit“26). Der Wunsch, Paris über das logischdiskursive Denken zu erfassen, erweist sich mithin schlechtweg als ein „absurde désir“27. Es sind die unermessliche Größe, die rhizomatische Struktur und die von der Menge an Lebewesen kontinuierlich produzierten Geräusche, Bewegungen, Spannungen, Beziehungen, Konsequenzen und Wechselwirkungen „qui font concevoir cette ville énorme comme une nébuleuse d’événements, située à l’extrême limite de nos moyens intellectuels“28. Die Konzeption von Paris als ein aus der städtischen Ereignisvielfalt konstituiertes Wolkenphänomen,29 das sich bei Valéry als „état […] d’impression informe,
23 Valéry, Paul: „Présence de Paris“, in: Ders., Œuvres, Bd. II., hg. v. Jean Hytier, Paris: Gallimard 1960, S. 1011-1015, hier S. 1012. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 1013 (Hervorhebung im Original). 27 Ebd., S. 1012. 28 Ebd., S. 1014. 29 Die Identifizierung von Paris mit einem Wolkenphänomen ist bei Valéry durchaus rekurrent. Vgl. z.B. den Bericht des „ami“, der sich in Monsieur Teste der Hauptstadt nähert: „Il me semblait que nous avancions vers un nuage de propos. Mille gloires en évolution, mille titres d’ouvrages par seconde paraissaient, périssaient indistinctement dans cette nébuleuse grandissante“ (Valéry, Paul: „Monsieur Teste“, in: Ders., Œuvres, Bd. II. (1960), S. 11-75, hier S. 48). Ferner auch: „Nous approchions de la nuée“ (ebd., S. 51).
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de pressentiment intellectuel inorganisé“30 mit dem Topos des Unsagbaren bzw. Nicht-Darstellbaren verbindet, beruht auf der als zutiefst beunruhigend empfundenen Erfahrung der Unmöglichkeit, der Dynamik und Komplexität des Großstadtlebens kraft des Geistes Herr zu werden. Bei Valéry ist die Wolke eine wiederkehrende Metapher für das amorphe Phänomen der Großstadt.31 Diese verfügt, wie die Wolke, nicht über klar konturierte, sondern lediglich über diffus vibrierende und zerklüftete Randzonen. Außerdem zeichnen sich beide durch eine unfassbare Masse von sich kontinuierlich verändernden Details aus, die eine rationale Beschreibung schlicht unmöglich macht. Mit der Identifizierung der Großstadt als Wolke bei Valéry erscheint nun auch das erkenntnistheoretische Problem des lyrischen Ichs bei Hugo angesichts der modernen Großstadt in einem neuen Licht: Wie die Wolke ist die moderne Metropole ein fraktales Phänomen – schon Hugo hat das zerklüftete Stadtprofil von Paris mit dem einschlägigen Bild der Säge erfasst – und Formen dieser Art entziehen sich einer Beschreibung mit den klassischen Kategorien Euklidischer Geometrie. Die zeitgenössische Stadtarchitektur trägt diesen Einsichten und gewandelten ästhetischen Bedürfnissen bereits Rechnung. 2014 wurde in Paris der „Jardin des nuages“ eröffnet, ein strukturoffener Garten auf dem Dach der Tour D2 in La Défense (Abb. 1). 2016 folgte in Rom die „Nuvola“, ein Kongresszentrum, das sein Erbauer Massimiliano Fuksas als „fließenden Raum“ 32 konzipiert hat (Abb. 2). Anthony Béchu, der Architekt des Pariser Wolkengartens, äußert sich zu dieser Entwicklung wie folgt: „Die cartesische Welt weicht gerade einer fraktalen Welt,
30 Valéry, Paul: „L’idée fixe ou Deux hommes à la mer“, in : Ders., Œuvres, Bd. II. (1960), S. 195-275, hier: S. 226. Die Wolke versinnlicht bei Valéry das der Sagbarkeit schlechthin Entzogene: „– quelque… nuage, (ma foi, je ne sais comment dire)“ (ebd.). 31 Aus diesem Grund haben Wissenschaftler im 19. Jahrhundert auch gerne die Unterstützung von Poeten in Anspruch genommen, um die Wolken zu beschreiben. Vgl. Weber, André: „Physikalisches Wissen und ästhetische Darstellung in Sur les nuages (1888) von Guy de Maupassant“, in: Cornelia Klettke/Georg Maag (Hg.), Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden globalen Problem (Akten der Sektion 2.6. auf dem 31. Deutschen Romanistentag 2009 in Bonn), Berlin: Frank & Timme 2010, S. 113-133. 32 Vgl. Müller-Meiningen, Julius: „Ein spektakuläres Wolkenkuckucksheim“, in: Badische Zeitung vom 26.10.2016, verfügbar unter http://www.badische-zeitung.de/ ausland-1/ein-spektakulaeres-wolkenkuckucksheim--129054908.html.
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in der Worte wie teilen, tauschen, gemeinsame Nutzung, Kommunikation und Innovation der Leitfaden unserer Arbeit als Architekten sein werden.“33 Abbildung 1: Tour D2, Jardin des nuages
Quelle: Mario Roberto Durán Ortiz, commons.wikimedia.org
Abbildung 2: La nuvola
Quelle: Raptchatre, commons.wikimedia.org
33 Vgl. das Interview mit Anthony Béchu in dem Dokumentationsfilm „Sur les toits des villes, Paris“, in: Arte TV vom 12.09.2016, verfügbar unter https://www.youtube.com/ watch?v=t_hKgL81-Yc.
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TOMÁS SARACENO Diesem Leitfaden scheint auch der argentinische Künstler und Architekt Tomás Saraceno zu folgen, der mit seinem Projekt Cloud Cities die Vision der schwebenden Stadt verfolgt und damit weit über alles bisher Realisierte hinauszugehen beabsichtigt. Saraceno spricht bereits vom „Aerozän“ 34, vom Zeitalter der Luft, in dem der Mensch in Zeiten von Globalisierung, Klimawandel und Bevölkerungswachstum beginnt, die Atmosphäre als Lebensraum zu nutzen. Folglich hat er als Alternative zu irdisch verankerten Aufenthaltsorten damit begonnen, fliegende Wohn- und Lebensräume zu entwerfen. Diese würden aus ultraleichten, mobilen Modulen bestehen und über den traditionellen Städten schweben, wo sie, vom Wind angetrieben, immer neue Verbindungen eingehen. In seinen Ausstellungen macht er seine Vision sinnlich erfahrbar, indem er begehbare Sphären aus Plastikplanen konstruiert, die in feinen Netzstrukturen befestigt in den jeweiligen Museen schweben. In diesen neuartigen Räumen treten Menschen auf einem unsicheren, da durchsichtigen und vor allem beweglichen Terrain miteinander in Beziehung. Durch Positionsverschiebungen der Besucher verändert sich die Oberflächenstruktur einer Sphäre, Bewegungen übertragen und multiplizieren sich auf dem weichen Untergrund, so dass jede individuelle Aktion eine Auswirkung auf das Kollektiv hat, die koordiniert und ausbalanciert werden muss. Die Wolkeninstallation Saracenos wird somit gleichsam zu einem Experimentierfeld, das ein neues Wissen erfahrbar macht – ein Wissen über soziale Interaktion, weltweite Zusammenarbeit und alltägliche Lebensstrategien in einer sich zunehmend globalisierenden Welt. Und in der Tat ist das Projekt Saracenos mehr als nur ästhetisch motiviert, sondern hat auch eine politische und ökologische Dimension: Er erkennt in den Wolken das „Prinzip eines neuen Urbanismus“35,
34 Ein Projekt Saracenos, das in Fortsetzung der Cloud Cities die „thermodynamische Transformation der Beziehung der menschlichen Gesellschaft zu Erde und Sonne“ formuliert, trägt den Titel Aerocene, womit er das Zeitalter der Luft ausruft (Schipper, Esther: „Tomás Saraceno – Aerocene“, in: KunstBerlin vom 06.04.2016, verfügbar unter https://kunstberlin.info/esther-schipper-tomas-saraceno-aerocene/; vgl. ferner Herold, Richard: „Schwebend in eine bessere Zukunft“, in: Schweizer Radio und Fernsehen vom 07.06.2017, verfügbar unter www.srf.ch/kultur/kunst/schwebend-ineine-bessere-zukunft, sowie die Seite „Fly with Aerocene Pacha“, verfügbar unter www.aerocene.org). 35 O.A.: „Tomás Saraceno. Spinnennetze, Seifenblasen und Wolkenstädte“, in: Baunetzwoche 240 (2011), S. 4-22, verfügbar unter www.baunetz.de/meldungen/ Meldungen-BAUNETZWOCHE_240_2323995.html, hier S. 10.
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der nicht nur dem Mobilitätsbedürfnis moderner Gesellschaften in einer globalisierten Welt mehr entgegenkommt als die unbeweglichen Betonstädte, sondern der darüber hinaus eine ökologische Notwendigkeit besitzt. Denn irgendwann wird, so meint Saraceno, sich der Zustand unseres Planeten so verändert haben, dass der Mensch andere Biosphären benötigt, die nicht mehr auf unserer Erde liegen. In der Wolke findet Saraceno ein Modell, mit dem er die Bedeutung von Territorium und Grenze in unseren heutigen urbanen Gesellschaften untersuchen und Möglichkeiten nachhaltiger Entwicklung menschlichen Lebensraumes ausloten kann.36
SCHLUSS Die Beispiele haben gezeigt, dass wir Menschen zu unterschiedlichen Zeiten unseren urbanen Lebensraum in den Wolken gespiegelt und damit unsere auf die Stadt bezogenen Ängste, Wünsche, Träume oder Visionen visualisiert und reflektiert haben. Die Motivation dazu war in allen Fällen verschieden und bedingt durch den jeweiligen historisch-epistemologischen Bezugsrahmen. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass der Mensch die Wolke im Laufe der Zeit aus ihrer metaphysischen Verankerung gelöst und immer mehr auf sein eigenes Maß heruntergezogen hat, bis er sie schließlich sogar im Rahmen visionärer Stadtkonzeptionen imitieren konnte. Bei Hugo bestand noch eine unüberbrückbare Distanz zwischen der realen Stadt auf der Erde und der mythischen in den Wolken. Befreit von den metaphysischen Implikationen der Hugoschen Romantik, wird die Wolke bzw. der Nebel bei Baudelaire zu einem ästhetischen Modell des Ephemeren und der Imagination im Kontext der Poetisierung der modernen Großstadt. Paul Valéry projiziert seine Erfahrung der Unsagbarkeit angesichts der Komplexität der Stadt Paris auf die Wolke, die für ihn eine erkenntnistheoretische Metapher wird. Die Stadt kann Valéry nur noch im Bild der Wolke fassen. In den experimentellen Visionen Tomás Saracenos wird die Stadt dann selbst als Wolke gedacht. Meteorologische Aspekte begründen hier ein neues Paradigma der Architektur, in dem das Irdische zugunsten des Atmosphärischen als Wohn- und Lebensraum verlassen wird.
36 Vgl. Schlüter, Katharina: „Tomás Saraceno. Cloud Cities“, in: Universes in Universe vom November 2011, verfügbar unter https://universes.art/de/magazin/articles/ 2011/tomas-saraceno.
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LITERATUR Primärliteratur Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. v. Yves-Gérard Le Dantec, Paris: Gallimard 1961. — „Paysage“, in: Ders., Œuvres complètes (1961), S. 78-79. — „Salon de 1846“, in: Ders., Œuvres complètes (1961), S. 874-952. Hugo, Victor: Notre-Dame de Paris. 1482, hg. v. Marius-François Guyard, Paris: Garnier 1959. — „Soleils couchants“, in: Ders., Feuilles d’automne, hg. v. Franck Laurent, Paris: Librairie Générale Française 2000 [1831], S. 362-369. Schiller, Friedrich: Maria Stuart, Stuttgart: Reclam 1990 [1800]. Shakespeare, William: Hamlet, III/2, hg. v. Horace Howard Furness, Philadelphia: Lippincott 1905 [1603]. Valéry, Paul: Œuvres, Bd. II., hg. v. Jean Hytier, Paris: Gallimard 1960. — „L’idée fixe ou Deux hommes à la mer“, in: Ders., Œuvres, Bd. II. (1960), S. 195-275. — „Monsieur Teste“, in: Ders., Œuvres, Bd. II. (1960), S. 11-75. — „Présence de Paris“, in: Ders., Œuvres, Bd. II. (1960), S. 1011-1015. Sekundärliteratur Bachelard, Gaston: L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement, Paris: Librairie Générale Française 2007 [1943]. Benjamin, Walter: „Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, 2 Bde, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 79-989. Damisch, Hubert, „Architektur zum Verschwinden bringen? Eine Fabel“, in: Stephan Kunz/Johannes Stückelberger/Beat Wismer (Hg.), Wolkenbilder. Die Erfindung des Himmels, München: Hirmer 2005, S. 219-229. Eco, Umberto: „Perché amo la nebbia che ci protegge dal mondo“, in: La Republicca vom 25.11.2009, verfügbar unter http://ricerca.repubblica.it/ repubblica/archivio/repubblica/2009/11/25/perche-amo-la-nebbia-che-ciprotegge.html [letzter Aufruf am 06.02.2018]. Febel, Gisela/Struve, Karen: „La ville imaginée – L’imaginaire de la ville. Einleitende Überlegungen zu Stadtkonstruktionen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik“, in: Dies. (Hg.), Dossier:
Wolkenstädte | 321
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(Hg.), Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania. Eigentliches und uneigentliches Schreiben zu einem sich verdichtenden globalen Problem, (Akten der Sektion 2.6. auf dem 31. Deutschen Romanistentag 2009 in Bonn), Berlin: Frank & Timme 2010, S. 113-133. — Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant im Spiegel des sich wandelnden Wissenshorizontes, Berlin: Frank & Timme 2012.
Stadtwahrnehmung, Wettergeschehen und Lebensperspektive in Breslau während des Holocaust Eine Lektüre der Tagebücher von Willy Cohn Annelies Augustyns
Heute ist übrigens ein herrlicher warmer Tag, ein Tag wie geschaffen, um glücklich zu sein. Für uns Juden in Deutschland gibt es solches Glück nicht! Willy Cohn1
EINFÜHRUNG Wetterwahrnehmung steht nicht selten in einem engen Zusammenhang mit der politischen Lage und der inneren Stimmung. Dies gilt auch und gerade in Zeiten extremer Verhältnisse und für marginalisierte oder ausgeschlossene Gruppen in der Stadt. Im vorliegenden Beitrag gilt das Interesse der Wahrnehmung des Wetters in Breslau aus jüdischer Perspektive während des Dritten Reiches. Anhand einer Analyse der Tagebücher von Willy Cohn, der als Mitglied der jüdischen Bevölkerung die zunehmenden Einschränkungen des Lebensraums Stadt und den Aufstieg des Faschismus beobachtet, soll die dokumentarische und die metaphorische Funktion des Wetters als Ausdruck von Stadtwahrnehmung und Schwinden der Lebensperspektive untersucht werden. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, wie die jeweilige Wetterlage den Alltag des Tagbuchschreibers – vielleicht unbewusst – bestimmt. Danach wird spezifisch auf Cohns Tagebücher fokussiert 1
Cohn, Willy: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums, 1933-1941, hg. v. Norbert Conrads, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006, S. 23 (29. März 1933).
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und es werden häufig vorkommende Funktionen der Wetterdarstellungen analysiert. Es wird dargestellt, wie oft Cohn in jedem Jahr auf die Wetterlage verweist und ausgeführt, welche Funktionen von Wetter am häufigsten vorkommen. Insbesondere findet sich die Wetterlage als Teil dokumentarischen Schreibens, als Mittel des „effet de réel“, als Element, das Einfluss hat auf das alltägliche Leben (z.B. bei der Benutzung bestimmter Transportmittel, bei Ausflügen und anderen Aktivitäten usw.) sowie auf die Lebensperspektive und die innere Stimmung des Tagebuchschreibers. Es wird gezeigt, inwiefern das Wetter Teil der ästhetischen und politischen Stadtwahrnehmung ist und wie es als Flashbackauslöser fungiert. Ein solcher Fokus ist in der Erforschung von Holocaustliteratur eher ungewöhnlich, da Wetterinformationen scheinbar unwichtige Nebeninformationen darstellen. Gerade die vorliegenden Tagebücher Cohns bieten jedoch einen Einblick in die Art, wie das Wetter seine Lage – sowohl physisch als auch seelisch – tiefgehend beeinflusst und zu einem wichtigen Topos wird. Breslau, die Stadt mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde im Deutschen Reich nach Berlin und Frankfurt, in der die Juden sowohl wirtschaftlich, kulturell als auch sozial gut integriert waren, wurde 1945 in einen Trümmerhaufen verwandelt. Die Stadt wurde als einer der letzten Orte Deutschlands als Festung benutzt und war „bis zum Letzten gegen den erwarteten sowjetischen Ansturm zu verteidigen“2. In der Krisenzeit des Dritten Reiches schrieben viele Betroffene ein Tagebuch. Dies gründet sich darin, dass „die Jahre des Dritten Reiches für viele Zeitgenossen mit einschneidenden Veränderungen und Brüchen im Lebensalltag verbunden waren, die nach Vergegenwärtigung, Reflexion und Erklärung verlangten“3. Das Tagebuch bietet sich für diese Reflexion als eine bevorzugte Gattung an. Einer der Augenzeugen, der von 1933 bis 1941 ein Tagebuch schrieb und alle Ereignisse genau notierte, war Willy Cohn, der oft mit Victor Klemperer verglichen wird. Wenn Letzterer als wichtigster Chronist der jüdischen Gemeinde Dresdens betrachtet wird, so gilt Cohn als der wichtigste Chronist Breslaus.4 Cohn 2
Thum, Gregor: Die fremde Stadt: Breslau 1945, München: Pantheon 2006, S. 19.
3
Bajohr, Frank: „Das ‚Zeitalter des Tagebuchs‘? Subjektive Zeugnisse aus der NS-Zeit. Einführung“, in: Frank Bajohr/Sybille Steinbacher (Hg.), „… Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 15), Göttingen: Wallstein Verlag 2015, S. 7-21, hier S. 7.
4
Vergleiche in diesem Kontext: Laqueur, Walter: „Three Witnesses: The Legacy of Viktor Klemperer, Willy Cohn, and Richard Koch“, in: Holocaust and Genocide Studies 10 (1996), S. 252-266; Walch, Teresa: „Review of Cohn, Willy; Conrads, Norbert (ed.), No Justice in Germany: The Breslau Diaries, 1933-1941“, in: H-German
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wurde 1888 in der schlesischen Hauptstadt geboren und war Lehrer am Johannesgymnasium – der ersten pluralistischen Schule Breslaus5 –, Wissenschaftler und überzeugter Zionist. Er hatte insgesamt fünf Kinder, von denen er drei retten konnte, indem er sie nach Paris und Palästina schickte. Sein Wunsch war es, Erez Israel mit aufzubauen und seine Kinder dort zu vereinen. Dies gelang aber aus verschiedenen Gründen nicht: Die Verbundenheit zu seiner Heimatstadt, zur deutschen Kultur und Literatur erschwerte seine Auswanderung und seine Frau Gertrud vertrug das palästinensische Klima nicht.6 Außerdem standen ihm in Palästina keine Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung und er fand keine Aufnahme in einem Kibbuz. Dies führte dazu, dass er in Breslau blieb, wo er am 21. November 1941 zusammen mit seiner Frau und den zwei jüngsten Töchtern, Susanne und Tamara, von den Nationalsozialisten festgenommen, am 25. November nach Kaunas in das besetzte Litauen deportiert und am 29. November zusammen mit 2000 Juden aus Breslau und Wien erschossen wurde. Cohns Tagebücher mit dem Titel Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933-1941, die seit 2006 gedruckt vorliegen und als „zeitgeschichtliche Sensationen“7 bezeichnet werden, bieten einen bedeutenden Einblick ins alltägliche Leben der Breslauer Juden während des Dritten Reichs zwischen 1933-1941. In seinen täglichen Aufzeichnungen verdeutlichen sich die Veränderungen der Stadt und die sich zuspitzende Lage der Juden, bis kein Ausweg mehr möglich ist. Um seine prekäre Lage und diejenige der Juden im Allgemeinen zum Ausdruck zu bringen, benutzt Cohn verschiedene Bilder und ̶ H-Net Reviews vom Oktober 2014, verfügbar unter https://networks.h-net.org/ node/35008/reviews/49785/walch-cohn-and-conrads-no-justice-germany-breslaudiaries-1933-1941. 5
Van Rahden, Till: Jews and other Germans: Civil Society, Religious Diversity, and Urban Politics in Breslau, 1860-1925, Madison: The University of Wisconsin Press 2008, S. 134-158.
6
Trudi fühlte sich – so wird sie in seinen Tagebüchern genannt – nicht glücklich in diesem Land. Vgl.: „Ich glaube ja nicht, daß sich Trudi zu einer Übersiedlung nach Giwath Brenner wird entschließen können. Das Klima sagt ihr ja auch wenig zu. Unsere ganze Einstellung zu den Dingen ist auch eine gänzlich verschiedene; Trudi kann meine etwas romantische Auffassung nicht begreifen und sieht die Dinge viel nüchterner, mir tut das oft weh, aber ich sehe keine Möglichkeit, es zu ändern!“ W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 403 (2. April 1937).
7
Dorn, Christian: „Ein Jude, der Deutschland liebte: Das Tagebuch des Willy Cohn – Die Qual eines deutschen Patrioten und gläubigen Juden“, in: Junge Freiheit vom 21.11.2008, verfügbar unter https://jungefreiheit.de/service/archiv?artikel=archiv08/ 200848112161.htm.
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Metaphern. So nutzt er oft auf das Bild einer Mausefalle: „Jedenfalls trübe Zeiten, besonders für uns Juden! Aber man sitzt in der Mäusefalle“8, oder er referiert auf das Mittelalter: „Die Zeiten des Mittelalters werden übertrumpft!“ 9 und vergleicht die Stadt mit einer Geisterstadt: „Wenn man schon sehr lange während der Verdunklung nicht in der Stadt war, so kommt das einem alles sehr gespenstisch vor.“10 Bei einer Lektüre seiner Tagebücher fällt darüber hinaus auf, dass Cohn sich nicht nur solcher Metaphern bedient, sondern auch wiederholt auf die herrschende Wetterlage verweist: „Ich bin vorgestern pünktlich um halb sechs in Breslau angekommen; Trudi hat mich mit Ruth an der Bahn erwartet; wegen des Schneetreibens sind wir mit einem Auto nach Hause gefahren!“ 11 Dies ist der erste Eintrag seiner Tagebücher unter nationalsozialistischer Herrschaft. Schon ganz am Anfang verweist Cohn damit auf die Wetterlage und setzt dies bis zum Ende fort. Ausdrücke wie ‚Die Sonne scheint herrlich‘, ‚die Mailuft gestern war sehr angenehm‘ usw. besagen auf dem ersten Blick nichts Besonderes, sodass ihnen meistens keine Aufmerksamkeit zukommt. In Cohns Tagebüchern aber hat die Wetterlage meistens eine wichtige Bedeutung. Ziel dieses Beitrages ist es daher zu untersuchen, welche Rolle die Beobachtung des Wetters für die Stadtwahrnehmung und die eigene Lebensperspektive zu einer Zeit spielt, in der die Lebenslage für die Juden immer bedrohlicher wurde.
ALLGEMEINE ÜBERLEGUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON WETTER UND PSYCHE Dass das Wetter einen Einfluss auf den Menschen ausübt, ist allgemein bekannt, wie etwa Karin Becker und Olivier Leplâtre unterstreichen: „[il y a] un lien intime entre l’ambiance atmosphérique et l’individu exposé à ses effets. Cette nouvelle ‚météo-sensibilité‘ dépend d’une analyse vigilante du ‚moi météorologique‘ de là naît la célèbre formule du ‚baromètre de l’âme‘, qui suggère la possibilité de mesurer 8
W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 6 (30. Januar 1933). Vgl. auch folgende Einträge: Ebd., S. 66 (6. August 1933); Ebd., S. 67 (10. August 1933); Ebd., S. 534 (7. November 1938); Ebd., S. 541 (13. November 1938); Ebd., S. 567 (17. Dezember 1938); Ebd., S. 608 (28. Februar 1939); Ebd., S. 615 (15. März 1939).
9
Ebd., S. 978 (8. September 1941). Vgl. auch folgende Einträge: Ebd., S. 24 (1. April 1933); Ebd., S. 39 (4. Mai 1933); Ebd., S. 576 (31. Dezember 1938).
10 Ebd., S. 876 (3. Dezember 1940). Vgl. auch folgenden Eintrag: Ebd., S. 767-768 (17. März 1940). 11 Ebd., S. 1 (11. Januar 1933).
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assez précisément les variations auxquelles la pluie et le beau temps soumettent l’organisme et les états d’âme du sujet.“12
Der Ausdruck „baromètre de l’âme“ pointiert hier den Einfluss des Wetters auf die menschliche Gemütslage. Auf das Wetter wird in der Sprache bereits in vielen idiomatischen Wendungen angespielt: ‚etwas liegt in der Luft‘, ‚jemanden wie Luft behandeln‘, ‚du bist mein Sonnenschein‘, usw. Schauen wir uns daher einige Ausdrücke an, derer sich Cohn mehrmals in seinen Tagebüchern bedient: „Man sprach so über die Fragen, die in der Luft liegen“ 13; „[Susannchen] ist unser Sonnenschein, für den wir gar nicht dankbar genug sein können.“14 Auf seine Kinder verweist er meistens mit dem positiv konnotierten Attribut „sonnig“15 bzw. mit Substantiven wie „Sonnenschein“, „Sonnenstrahl“16. Cohn erwähnt zudem oft, wie das Wetter draußen ist, ohne weiter darauf einzugehen: „Heute vormittag war es wärmer“ 17; „Kaffee im Garten, ziemlich kühl, Mendelssohns nahmen daran teil“18; „heute vormittag den Propheten Micha gelernt, später an die Luft gegangen, es war so herrliches Wetter.“ 19 Solche Wettererwähnungen als Teil des „effet de réel“ kommen insgesamt 156 Mal vor, d.h. Cohn beschreibt (fast) jeden Tag die Ereignisse, seine Sorgen, das Straßenbild aber auch die jeweilige Wetterlage. Dass Wetterphänomene auch ambivalente Funktionen haben können, sieht man z.B. bei Ignatz Bubis, der sich auf folgende Weise an seine Jugend in der schlesischen Hauptstadt erinnert: „Die Zeit in Breslau kann keine sehr fröhliche Zeit für mich gewesen sein, sonst hätte ich andere Erinnerungen. Aber es ist, als
12 Becker, Karin/Leplâtre, Olivier: „Introduction. La brume et le brouillard: deux ‚météores‘ énigmatiques dans l’histoire de la science, de la littérature et des arts“, in: Dies. (Hg.), La brume et le brouillard dans la science, la littérature et les arts, Paris: Hermann Éditeurs 2014, S. 11-54, hier S. 34. 13 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 128 (1. Februar 1934). 14 Ebd., S. 383 (4. März 1937). 15 Vgl. folgende Einträge: Ebd., S. 6 (29. Januar 1933); Ebd., S. 202 (19. Januar 1935). 16 Vgl. folgende Einträge für Ausdrücke mit sowohl „Sonnenschein“, als auch „Sonnenstrahl“: Ebd., S. 16 (3. März 1933); Ebd., S. 383 (4. März 1937); Ebd., S. 432 (11. Mai 1937); Ebd., S. 520 (4. März 1938); Ebd., S. 610 (4. März 1939); Ebd., S. 910 (4. März 1941). 17 Ebd., S. 2 (16. Januar 1933). 18 Ebd., S. 226 (13. Mai 1935). 19 Ebd., S. 566 (14. Dezember 1938).
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sähe ich diese ersten acht Jahre meines Lebens wie durch eine Nebelwand.“20 Das atmosphärische Phänomen des Nebels sorgt dafür, dass die Sicht des Menschen beeinträchtigt wird; es ist eine „für das Auge undurchdringliche Trübung der Luft“21. Das Bild des Nebels hebt hier deutlich die „Verschleierungsfunktion“22 bzw. „Wirklichkeitsverfremdung“23 des Nebels hervor, was zu einem Gefühl der Unsicherheit beim beobachtenden Subjekt führt. Welche Gefühle die wechselnden Wetterlagen in Breslau über das realistische Schreiben hinaus spezifisch bei Willy Cohn hervorrufen, wird in den folgenden Abschnitten analysiert. Dafür wird auf spezifische Wetterbilder eingegangen.
JAHRESÜBERBLICK UND QUANTITATIVE ANALYSE Der in Tabelle 1 erfasste Jahresüberblick veranschaulicht, wie oft Cohn pro Jahr auf das Wetter verweist. Tabelle 1: Überblick – Wetterelemente pro Jahr in Cohns Tagebüchern
Quelle: Eigene Erhebung. 20 Bubis, Ignatz (mit Sichrovsky, Peter): „Damit bin ich noch längst nicht fertig“: die Autobiographie, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1996, S. 22. 21 Artikel „Nebel“ im Duden: https://www.duden.de/rechtschreibung/Nebel [letzter Zugriff am 24.02.2020]. 22 Weber, André: „Die Stadt und der Nebel. Zur ästhetischen Funktion eines Bildgefüges in Les sept vieillards von Charles Baudelaire“, in: Kilian Sven Thorsten (Hg.), Stadtdispositive der französischen Literatur, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013, S. 3-18, hier S. 5. 23 Ebd., S. 12.
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Gleichzeitig gilt es, einen quantitativen Überblick mit Auswertung der Wetterelemente zu geben (Tabelle 2, s.u.). Eine quantitative Analyse zeigt einerseits deutlich, dass die Wetterbezüge häufig in den Tagebüchern auftauchen und als Topos betrachtet werden können. Andererseits kann auf dieser Basis aufbauend auf die verschiedenen Funktionen der Verweise auf das Wetter eingegangen werden, die im Folgenden dann genauer analysiert werden. Tabelle 1 zeigt, wie oft pro Jahr in den Tagebüchern auf das Wetter verwiesen wird. Man bemerkt einen leichten Rückgang in den Jahren 1934, 1936, 1938 und 1939. Diesbezüglich ist anzumerken, dass es in den ersten Jahren – 1934, 1936 und 1938 – einige Aufzeichnungslücken gibt. So fehlen die Einträge vom 6. Februar bis zum 12. Juni 1934. Auch im Jahre 1936 fehlen Einträge, genauer diejenigen zwischen dem 1. Januar und dem 10. März, dem 6. April und dem 4. Mai und vom 3. Oktober bis zum 9. November 1936, weil Teile des Tagebuchheftes verloren gingen. Dasselbe gilt für 1938: hier gibt es eine Lücke von mehr als sieben Monaten (vom 18. März bis zum 27. Oktober 1938). Weil Cohn sonst öfter auf die jeweilige Wetterlage verweist, ist es sehr wahrscheinlich, dass er dies auch an den fehlenden Tagen gemacht hat. Die Abnahme im Jahre 1939 – hier gibt es keine Überlieferungslücke – ist augenfällig und mag auf eine Verschiebung seiner Eindrücke verweisen: Wenn die Wetterlage vor allem am Anfang seiner Aufzeichnungen betont wird, so erklärt sich dies, weil es zu dieser Zeit gewaltige Veränderungen im Stadtbild gibt, und die Wetterlage Cohns Gefühle in diesem Kontext verstärkt bzw. beeinflusst. Nach der Reichskristallnacht und im Jahr des Kriegsausbruches (September 1939) werden die jeweiligen Wetterverhältnisse weniger betont. Ein Erklärungsansatz besteht darin, dass sich Cohn am Anfang die veränderten neuen Eindrücke sorgfältig notieren wollte. Am Ende aber, vor allem 1939, bemerkt man, dass er sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, was den Rückgang der Wetterelemente erklären könnte. Gerade weil das öffentliche Leben nach 1933 zunehmend von den Nationalsozialisten bestimmt wird und die Juden verdrängt werden, bemerkt man in Cohns Tagebüchern seit 193524 sehr deutlich diese Einschränkung in seinem Leben: Er geht weniger auf die Straße, schreibt mehr in sein Tagebuch, ordnet seine eigene Bibliothek und seine Briefmarkensammlung usw. Ende 1938, nach der Reichskristallnacht, spricht er sogar von einer Art „Stubenarrest“ 25, den er sich auferlegt. Außerdem ist es ihm nicht mehr möglich, Vortragsreisen zu machen. Da er nicht mehr oft draußen ist, macht die Wetterlage keinen Teil der direkten äußerlichen Wahrnehmungen aus. Er fokussiert sich stattdessen mehr auf 24 „Ich habe mir eine andere Welt aufgebaut“, vgl. W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 239 (10. Juni 1935). 25 Ebd., S. 541 (13. November 1938).
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sich selbst und seine wissenschaftlichen Arbeiten, was ihn „über vieles hinwegbringt“26. Andererseits sticht ins Auge, dass er ab 1939 zunehmend auf Zeitungsnotizen verweist und die weltpolitische Lage beurteilt. Der Herausgeber der Tagebücher, Norbert Conrads, bemerkt dazu Folgendes: „Für Willy Cohn müssen die sieben Monate [die fehlen], in denen er natürlich weiter Tagebuch geführt hat, eine Zeit bitterer Klärung gewesen sein. Mehr als zuvor wurde ihm die Aussichtslosigkeit seiner Breslauer Existenz bewußt, aber ebenso seine Berufung, alle Erfahrungen und Gefühle festhalten zu müssen. Hatte er bisher seine Aufzeichnungen mehr aus langjähriger Gewohnheit geführt, so empfand er sich seit 1938 zunehmend als Beobachter und Chronist seiner Zeit.“27
Conrads bemerkt diese Veränderung in den Tagebucheinträgen Cohns, der sich mehr und mehr mit dem Kriegsgeschehen befasst und alles für die Nachwelt als „getreuer Chronist“28 aufzeichnen möchte. Im Jahre 1941, das Jahr von Cohns Deportation, gibt es einen bemerkenswerten Anstieg der Verweise auf die jeweilige Wetterlage. Es herrscht ein „furchtbarer Kriegswinter“ 29, der dazu führt, dass viele Menschen erfrieren und sterben. Zu dieser Zeit wird auch bekannt gemacht, dass viele Leute nach Tormersdorf übergesiedelt werden müssen. Bei solch schlechten Wetterbedingungen erscheint dem Tagebuchschreiber eine Deportation noch schlimmer. Cohn befürchtet, dass er und seine Familie auch deportiert werden. Dies wird Mitte November noch deutlicher, als er die Nachricht erhält, dass er seine Wohnung verliert: „In dieser Jahreszeit, wo eine böse Kälte eingesetzt hat, ist das doppelt grausam.“30 Die herrschende Wetterlage kennzeichnet hier mehr als je zuvor seine schwindende Lebensperspektive. Die Aufzeichnungen enden am 21. November 1941 mit der Deportation Cohns nach Kaunas.
26 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 691 (13. September 1939). 27 Conrads in ebd., S. 528. 28 Ebd., S. 698 (25. September 1939). 29 Ebd., S. 886 (3. Januar 1941). 30 Ebd., S. 1008 (15. November 1941).
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Tabelle 2: Quantitative Analyse der Funktionen der Wetterwahrnehmung
Quantitative Analyse "Effet de réel" Alltag (Transportmittel, Todesfälle, Kleidung, Ausflüge usw.) Lebensperspektive und innere Stimmung Ästhetischer Eindruck Flashbackauslöser Quelle: eigene Erhebung
Die Graphik zur quantitativen Analyse der Wettererwähnungen (Tabelle 2) zeigt, dass insgesamt in den Tagebüchern 336 Mal auf das Wetter verwiesen wird. Dabei ist das Wetter 156 Mal als Element eines „effet de réel“ dargestellt.31 Das von Roland Barthes geprägte Konzept des ‚Wirklichkeitseffekts‘ erlaubt es, das Vorhandensein von beschreibenden Elementen zu rechtfertigen, die scheinbar keinen funktionalen Wert für den Fortgang der Geschichte haben. Ihre Aufgabe ist es, die Verbindung zwischen dem Text und der konkreten realen Welt zu bekräftigen, was gerade bei der dokumentarischen Absicht der Tagebücher von zentraler Bedeutung ist. Dass das Wetter oft erwähnt wird, liegt daher auf der Hand, weil, wie Ulrike Vedder und Sabine Kalff schreiben, „Wetter und Träume zu den infiniten Gegenständen [eines Tagebuchs] zählen“32. Den anderen Verweisen auf das Wetter kommt immer eine unterschiedliche Funktion zu, wie z.B. die Charakterisierung des Alltags, wenn es die Wahl der benutzten Transportmittel und Kleidung bestimmt (103 Mal). 41 Mal wird auf das Wetter als kontrastiv bzw. analog zur persönlichen Gefühlslage verwiesen, 32 Mal wird das Wetter in Verbindung zu einem ästhetischen Bild gebracht und gelegentlich, wenn auch deutlich seltener,
31 Barthes, Roland: „L’effet de réel“, in: Ders., Œuvres complètes. Bd. III: 1968-1971, hg. v. Eric Marty, Paris: Seuil 2002, S. 25-32, hier S. 26. 32 Kalff, Sabine/Vedder, Ulrike: „Tagebuch und Diaristik seit 1900. Einleitung“, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI 2 (2016), S. 235-242, hier S. 237.
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lediglich vier Mal, funktioniert das Wetter als Flashbackauslöser bzw. als Auslöser von Erinnerungen. Auf diese verschiedenen Funktionen soll im Folgenden näher eingegangen werden.
ALLTAG Wie schon im ersten Eintrag seines Tagebuches deutlich wurde (vgl. oben – bei Schneetreiben wird das Auto genommen), bestimmt das Wetter sehr oft die Wahl des Transportmittels. Auch im folgenden Eintrag ist dies der Fall: „Ernst ist heute in seinem Palästinakurs, ich lasse ihn jetzt auch mit der Straßenbahn fahren, weil es zu kalt ist!“33 Daneben steht die Wetterlage in Verbindung mit den Aktivitäten der Cohns; so lieben sie Ausflüge bei schönem Wetter, weil die Sonne sie dann „lockt“34 und sie zur Entspannung mit ihren Kindern einige Stunden Schlitten fahren wollen: „Auch heute noch starkes Schneetreiben, wir wollen gerade mit Ernst und Ruth Schlitten fahren!“35 Andererseits ist der harte Winter von 1933, 1940 und 1941 sehr trübe angesichts der Geld- und Kohlennot der Juden und bestimmt ihre Kleidungswahl, wie in den folgenden Zitaten ersichtlich wird: „Es waren unzählige Menschen da, aber im Ganzen vielleicht nur 40 Centner Kohle, bei diesem Wetter ist Kohlenmangel noch schlimmer fast als Nahrungsmangel.“ 36 Oder: „[…] nachher noch Kiddusch gemacht; ich habe mir wieder den Pelz angezogen; der Winter ist endlos.“37 Auch sterben unter diesen winterlichen Bedingungen mehr Leute, was dazu führt, dass die Stadt in einen Leichenhaufen verwandelt wird, wie Walter Tausk (1890-1941) – ein anderer wichtiger Breslauer Chronist, der ebenfalls Tagebücher aus der Hitlerzeit hinterließ – verzeichnet: „Die Kälte und Kohlennot haben ein erschreckliches Ansteigen der Todesfälle mit sich gebracht: Erkältungskrankheiten, Selbstmorde wegen der Kälte, Krankheiten wie Tuberkulose der Lungen, die durch Kälte hier und dort begünstigt wird, stehen obenauf. Und da der
33 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 110 (5. Dezember 1933). 34 Ebd., S. 792 (11. Mai 1940). 35 Ebd., S. 3 (22. Januar 1933). 36 Ebd., S. 743 (19. Januar 1940). 37 Ebd., S. 777 (6. April 1940).
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Boden über einen Meter gefroren ist, häufen sich die Leichen in den Leichenhallen aller Friedhöfe und können nicht bestattet werden.“38
Wenn die Juden ab 1938 nicht mehr die Möglichkeit haben, irgendwo einzukehren, trägt das (schlechte) Wetter dazu bei, dass sie weniger ausgehen und sich mehr in sich selbst zurückziehen, so lesen wir z.B.: „Gestern war den ganzen Tag sehr böses Wetter, so daß wir alle nicht ausgingen“39, oder: „So ging ich bei schönem Wetter bis nach den Gräbschener Friedhöfen: der Weg strengte mich sehr an, da man sich nirgends setzen und auch nirgends einkehren kann. Die innere Stimmung stand in stärkstem Widerspruch zu dem schönen Herbsttag.“40 In dem hier zitierten Eintrag vom 11. November 1938 sticht aber noch etwas Anderes ins Auge: Die Wetterverhältnisse (schöner Herbsttag) stehen im Gegensatz dazu, wie sich die Juden innerlich fühlen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fand die Reichskristallnacht statt, in der unzählige jüdische Geschäfte, Synagogen, Häuser usw. zerstört wurden. Dies sorgte für eine beklemmende und negative Stimmung in der jüdischen Gemeinschaft. Weil das Wetter aber ziemlich gut ist, werden für Cohn seine pessimistischen Gefühle umso deutlicher: Wenn er normalerweise ausgeht und die schönen Herbsttage genießt, steht diesmal das Wetter im schärfsten Gegensatz dazu, wie er sich im Moment fühlt. Das Wetter wird hier ex negativo auf die eigene innere Stimmung bezogen, so dass Cohn durch die zur Stimmung konträren Wetterlage noch stärker mit der eigenen hoffnungslosen Lage konfrontiert wird.
LEBENSPERSPEKTIVE UND INNERE STIMMUNG Am Tagebucheintrag nach der Reichskristallnacht verdeutlicht sich, dass das Äußere – die Wetterlage – als Gegensatz zum Inneren – der Lebensperspektive und der inneren Stimmung – fungiert. Solche Beispiele finden sich noch oft in den verschiedenen Einträgen, so auch im folgenden Eintrag: „Heute ist übrigens ein herrlicher warmer Tag, ein Tag wie geschaffen, um glücklich zu sein. Für uns Juden in Deutschland gibt es solches Glück nicht!“41 Am 5. Mai 1933 drückt Cohn die verzweifelte Stimmungslage der Juden in Breslau auf sehr poetische Weise
38 Tausk, Walter: Breslauer Tagebuch 1933-1940, hg. v. Ryszard Kincel, Berlin 2000, S. 252f. (12. Februar 1940). 39 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 995 (20. Oktober 1941). 40 Ebd., S. 538 (11. November 1938). 41 Ebd., S. 23 (29. März 1933).
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mit dem Verb „blühen“ aus, das er einmal positiv und einmal negativ besetzt: „Draußen blüht alles, aber es ist schwer, auch unsere Seele zum Blühen zu bringen!“42 Andere Beispiele adressieren den Kontrast direkt wie etwa: „Es blüht alles märchenhaft, aber das steht in einem großen Kontrast zu dem, wie es in uns innerlich aussieht“43 oder: „Draußen lacht die Sonne im Gegensatz zu dem allen!“44 Die Kluft zwischen der schönen Wetterlage und der beunruhigenden Lebensperspektive wird im Verlauf der Tagebücher immer deutlicher. Auch im folgenden Eintrag findet sich dieser Gegensatz: „Heute waren wir einmal leichtsinnig. Im Hinblick auf den schönen Sommervormittag hat mich Trudi verführt, mit ihr nach Scheitnig zu fahren; […] Die Gärten an der Jahrhunderthalle sind von einer seltenen Schönheit. An dem Lokal der S.A. im alten Generalkommando steht angeschrieben: Juden betreten dieses Lokal auf eigene Gefahr! Als ob jemals ein Jude auf den Gedanken gekommen wäre, in dieses Lokal zu gehen. In der Straßenbahn noch Professor Weiss getroffen, der zu diesem Schild sagte: das müssen sie vor sich selbst verantworten.“45
Obwohl am Anfang alles friedlich aussieht, was durch den schönen Sommervormittag noch verstärkt wird, steht dieses heitere Bild im scharfen Gegensatz zu dem Schild, worauf zu lesen ist, dass Juden das Lokal nicht betreten dürfen. Dadurch werden sie mit ihrer Lage in der Stadt konfrontiert, die immer unsicherer und instabiler wird. Außerdem wird das Schild zum Sinnbild der Indifferenz der übrigen Welt gegenüber dem Schicksal der Juden. Solche Stellen tauchen nicht nur in den Tagebüchern Cohns auf, man findet sie zum Beispiel auch im Breslauer Tagebuch von Walter Tausk: „Dann pilgerte ich an einem warmen Sonntagabend gegen fünf Uhr mal raus, um mir die bis dahin völlig unbekannte Gegend an der Strehlener Chaussee anzusehen. Ich ging gemächlich und war nach fünfundvierzig Minuten vor dem Konzentrationslager angelangt, um nicht vorbeizugehen, sondern bald wieder kehrtzumachen. Was ich sah, inmitten eines prachtvollen Sommersonntags, war kümmerlich. Das Lager sah aus wie ein ‚Schützengraben in der Hauptstellung‘: ein Drahtverhau, als läge man vor Verdun. An der Chaussee und hinter dem Tor ein Haufen von Polizei und SA-Leuten, mit Karabinern und Revolvern, Wache stehend, aber dabei den Sonntag genießend. Drei alte Wellblechbaracken gleich vorn zur Linken in einer Reihe und im Hintergrund dieses ‚Käfigs‘, der viel zu klein war, eine 42 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 40. 43 Ebd., S. 41 (7. Mai 1933). 44 Ebd., S. 543 (14. November 1938). 45 Ebd., S. 264 (22. August 1935).
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Wolke von grauem Zeug: die Gefangenen, die sich ausruhten oder eventuell ‚Belehrung‘ hatten. Mit dem Ausdruck ‚kümmerlich‘ ging ich wieder heim und hatte nur einen Wunsch: nicht in diesen Käfig zu kommen.“46
Die harmonische Szenerie, in der Tausk an einem sonnigen Abend einen Spaziergang macht, steht im völligen Gegensatz zu dem, was er sieht: Das grausame Bild des Lagers Dürrgoy, das er mit einem Käfig vergleicht, und das erschreckende Bild der Inhaftierten, die sich in eine graue Wolke verwandelt haben, was die trostlose Lage betont. Dieses auf den ersten Blick kontradiktorische Bild (schönes Wetter – grausame Lage) macht einen tiefen Eindruck auf Tausk, weshalb er beschließt, sich von allem fernzuhalten, sodass er nicht in dieses Lager gerät. Dies erinnert an Andrew Charlesworths Perspektive, der über den noch heute verstörenden Eindruck der Konzentrationslager, besonders wenn man sie im Sommer besucht, Folgendes sagt: „There is already an unreality about the place, particularly when one visits it a day in summer with the sun shining, the birds singing, the green carpet of grass, the surreal landscape of the remnant chimneys of the huts burnt by the S.S. during their retreat.“47
Da man mit der Sonne eine harmonische Atmosphäre assoziiert, steht dies in einem scharfen Kontrast zum Grauen des Ortes. Ein solcher Gegensatz zwischen Wetter und Gefühlslage kommt insgesamt fünfzehn Mal in Cohns Tagebüchern vor. Neben diesen kontrastiven Inszenierungen des Wetters, die Cohn mit seiner hoffnungslosen Lage konfrontieren, stimmt die Wetterlage auch oft mit Cohns Gefühl überein: „Trübes Osterwetter, draußen die Stimmung so, wie bei den meisten im Herzen!“48 Oder: „Es ist jetzt ein trübseliges Wetter draußen, aber umso stärker zieht man sich auf sich selbst zurück, entwickelt sein inneres Leben.“49 In solchen Fällen entspricht das Wetter der inneren Stimmung des Tagebuchschreibers. Cohn war sich schon am Anfang bewusst, dass er sich besser aus dem städtischen Leben, das für ihn als Jude durch Chaos und Unsicherheit
46 W. Tausk: Breslauer Tagebuch 1933-1940, S. 105-109 (Ende August 1933). 47 Charlesworth, Andrew: „Towards a Geography of the Shoah“, in: Journal of Historical Geography 18.4 (1992), S. 464-469, hier S. 468. 48 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 770 (24. März 1940). 49 Ebd., S. 299 (19. November 1935).
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gekennzeichnet war, zurückzieht und das Private immer zentraler wird. So bemerkt er am 10. Juni 1935: „Ich habe mir eine andere Welt aufgebaut.“50 Und am 23. März 1936 schreibt er: „Wir leben unser privates Dasein.“ 51 Dieser Rückzug auf sich selbst wird durch das Wetter noch verstärkt; Cohn notiert: „Mit dem Scheitern der intellektuellen Beherrschung des großstädtischen Chaos wird das Denken beziehungsweise das Ich letztlich auf sich selbst zurückgeworfen.“52 Als Cohn sich schon depressiv fühlt – in seinem Tagebuch betont er mehrmals, dass er sich nicht mehr imstande fühle auszuwandern, dass er zu alt und zu krank sei –, verstärkt die Wetterlage seine negativen Gefühle. Solche Stellen verdeutlichen, dass die Wahrnehmung der Wetterlage und die eigene Lebensperspektive oft in enger Verbindung stehen. Des Öfteren – präzise gesagt 26 Mal – findet man eine solche Inszenierung des Wetters in Analogie zur persönlichen Gefühlslage. Die negative Wetterlage wird in diesem Fall von Cohn benutzt, um der lebensbedrohlichen Situation der Juden in Deutschland mehr Ausdruck zu verleihen. In diesem Kontext verweist Cohn oft auf das Bild eines Gewitters bzw. auf gefährlich und bedrohlich erscheinende Wolken: „Für 1938 hängen gewaltige Wolken am Himmel. […] Wie schön wäre es, wenn wir endgültig hinübergehen könnten.“53 Oder: „Außenpolitisch scheint sich, soweit man das aus den Zeitungen ersehen kann, ein ziemliches Unwetter um Deutschland zusammenzuziehen.“54 Und: „Am Horizont der Weltpolitik zieht sich ein schweres Gewitter zusammen!“ 55 Diese Wetter-Bilder sind Ausdruck der instabilen politischen Lage und haben insofern eine wichtige Funktion: Einerseits unterstreicht der Kontrast die Drastik. Auf diese Weise wird sich Cohn noch mehr seiner prekären Lage und der der jüdischen Gemeinde im Allgemeinen bewusst. Andererseits entwickelt er einen Gegendiskurs: gerade weil die Lage immer bedrohlicher wird und das Wetter drastisch darauf hinweist, wird Cohn sich zunehmend von der Außenwelt abschließen und mehr und mehr auf sich selbst fokussieren. Sein eigenes Haus, seine Familie und seine wissenschaftlichen Arbeiten bilden für ihn ein „Gegenstück zu den düster gezeichneten politischen Ereignissen“56
50 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 239. 51 Ebd., S. 315. 52 A. Weber: Die Stadt und der Nebel, S. 5. 53 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 513 (6. Februar 1938). 54 Ebd., S. 62 (22. Juli 1933). 55 Ebd., S. 267 (28. August 1933). 56 Steuwer, Janosch: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen: Wallstein 2017, S. 526.
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Was in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden muss, sind die Einträge von Wetterbeobachtungen, die mit dem Dritten Reich im Allgemeinen und mit Hitler im Besonderen in Verbindung stehen: „Heute kommt der Führer; es ist herrliches Wetter, früher hätte man gesagt Kaiserwetter! […] Um dem ganzen Betrieb etwas zu entgehen, bin ich heute dorthin gegangen, wo Juden wirklich erwünscht sind, auf den Friedhof Lohestraße.“57 Wenn solch gutes Wetter früher bei Besuchen von Staatsoberhäuptern ideal gewesen wäre und der Ausdruck „Kaiserwetter“ auf Feierlaune und Freude verweist, benutzt Cohn das Bild hier auf ironische Weise, denn er ist sich bewusst, dass der Besuch Hitlers keine gute Nachricht bedeutet und dass die Juden sich am besten fernhalten sollten. Ferner steht die Sonne, als Symbol des Lebens kontrastiv zum Friedhof, der mit dem Tod assoziiert ist. Obwohl Cohn Hitler gelegentlich eine herausragende Position in der Geschichte zuerkennt („Die Größe des Mannes, der der Welt ein neues Gesicht gegeben hat, muß man anerkennen“58), freut er sich, wenn zumindest das Wetter nicht den Feierlichkeiten entspricht und diese sprichwörtlich ins Wasser fallen; er schreibt: „Überall Hakenkreuzbinden, aber das Wetter ist wenigstens nicht besonders schön-“59 Cohn vermutet sogar, dass Wotan, besser bekannt als Odin, der höchste germanische Gott, höchstpersönlich Hitlers Kampagne vereiteln möchte: „Ernst soll morgen eine Wanderung haben, vielleicht verregnet sie, die Sonnenwendfeier heute abend ist auch verregnet! Wotan hat dieses Feuer vielleicht nicht gewollt!“60 Dieser ironische Wunsch stimmt mit Cohns Stimmung überein: wenn die jüdische Lage jämmerlich aussieht, so scheint es doch, als ob gerade der germanische Schicksalsgott Wotan Hitlers Kampagne und Feiern missbilligt und mit Regen straft. Solche Tagebucheinträge, bei denen das Wetter mit der prekären Lebensperspektive des Tagebuchschreibers und der Lage der Juden im Allgemeinen übereinstimmt bzw. einen Kontrast zur faschistischen Feierlaune darstellt, kommen insgesamt 41 Mal vor.
57 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 314 (22. März 1936). 58 Ebd., S. 703 (7. Oktober 1939). Ein möglicher Erklärungsversuch liegt darin, dass für ihn als bekennender Zionist die Schaffung eines eigenen Staates Israel für alle Juden im Mittelpunkt steht und er in dieser nationalen Anstrengung Parallelen zum Nationalismus des Deutschen Reiches sieht. 59 Ebd., S. 37 (1. Mai 1933). 60 Ebd., S. 55 (24. Juni 1933).
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ÄSTHETISCHER EINDRUCK Das Wetter steht nicht nur in Verbindung mit der politischen Lage und der zunehmenden Einschränkung des Aktionsradius der jüdischen Bevölkerung in der Stadt, sondern bietet manchmal einen schönen Anblick und ist deshalb auch Teil des ästhetischen Stadt- und Landschafts-Eindrucks. Auffallend ist, dass Cohn in der Wetterbeschreibung oft besonders schöne Bilder benutzt, wenn er aus der Stadt Breslau hinausgeht und sich in der Natur aufhält, so z.B. hier: „und in langer sausender Fahrt ging es durch das verschneite Dresden heraus. Der Wischer konnte den vielen Schnee kaum von der Scheibe fortbringen! Es war eine Märchenfahrt!“61 Während sich die Stadt für Cohn zu einer ‚no-go Zone‘ wandelt, in der er ständig mit dem nationalsozialistischen Terror konfrontiert wird, so bleibt die Natur friedlich und ruhig. So notiert er am Tag des Ermächtigungsgesetzes: „Mit Ernstl nach Hause gefahren, man vermeidet dadurch die innere Stadt! Heute ist ja der Nationalismus bis zur Siedehitze gesteigert!“ 62 und am 11. November 1938 heißt es: „Die Stimmung auf der Straße ist wohl eine durchaus antisemitische.“63 Wenn er irgendwo anders ist, beschreibt er hingegen diese Orte meist in positive Weise: „die Sonne verklärt die Berge, diese von mir so geliebten Berge der Grafschaft!“64 Die gute Wetterlage trägt, selbst wenn es kalter Winter ist, zum positiven ästhetischen Eindruck bei: „Am Vormittag bin ich allein den Weg nach Olbersdorf gegangen zwischen den hohen Tännchen, diesen Weg, den ich so besonders liebe; der Boden war gefroren und an den Bäumen hingen weiße Perlen gefrorenen Wassers. Es ist friedlich und ruhig, und die Natur läßt alles in einer gewissen Distanz erscheinen!“65
Cohn spricht in diesem Eintrag sogar von „Perlen gefrorenen Wassers“, die Eiskristalle an den Zweigen, die bei frostkaltem Wetter entstehen, tragen zur Schönheit der Landschaft bei, woraus sich ein harmonisches und friedliches Bild ergibt. Diese positiven Bilder von Schönheit nimmt der Tagbuchschreiber vor allem in der Natur wahr, aber wir finden sie auch, wenn der Chronist zur Dominsel geht. Auf dieser Insel befindet sich die Dombibliothek, einer der letzten Plätze in Breslau, wo Cohn noch willkommen ist. Wenn er dahin geht, beschreibt er die
61 W. Cohn: Kein Recht, nirgends., S. 107 (27. November 1933),(Hervorhebung A.A.). 62 Ebd., S. 21 (21. März 1933). 63 Ebd., S. 539. 64 Ebd., S. 371 (21. Dezember 1936). 65 Ebd. (20. Dezember 1936).
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Insel als schön und die Wetterlage scheint immer einen positiven Einfluss auszuüben: „Heute früh nach der Ferienpause wieder einmal in der Dombibliothek gearbeitet; es war trotz vielen Heizens recht kalt, einen herrlichen Anblick bot die Dominsel im winterlichen Schneeschmuck.“ 66 Dieser friedliche Eindruck – Cohn spricht sogar von „Schmuck“ trotz Kälte und Schnee – beeinflusst seine Gefühle in diesem Stadtteil auf positive Weise. Die sonst oft negativen Beschreibungen machen hier beinahe euphorischen Bildern Platz67 und erzeugen so kurzzeitig ein positives ästhetisches Bild.
FLASHBACKAUSLÖSER Wenn Willy Cohn vor 1938 oft im Dezember im Ausland war, so ist dies ab diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Mit Sehnsucht denkt er zurück an die glückliche Zeit in der Natur bei seinen Kindern: „Vor vier Jahren habe ich mich mit Wölfl in St. Gallen getroffen; wie schön war es da. Vor drei und zwei Jahren war ich in Landeck. Auch das war es ganz herrlich im Winterwald! Nun zehrt man von der Erinnerung, und manchmal hat man auch eine ganz leise Hoffnung auf die Zukunft, von der man nicht weiß, ob sie sich realisieren wird oder ob vorher die Welt in Flammen aufgeht, so wie es jetzt im Invalidendom in Paris brennt.“ 68
Einige Zeilen zuvor hatte er noch bemerkt, wie gefährlich die Lage in der Stadt ist, und dann erinnert er sich unvermittelt an die schönen Zeiten im herrlichen Winterwald, die er so gerne noch einmal erleben möchte. Was hier auffällt, ist wiederum der von Cohn eingesetzte scharfe Gegensatz: Er kontrastiert den kalten Winterwald mit den brennenden Kriegsfeuern in Paris und in der Welt. Dieser Kontrast unterstreicht wiederum die eigene ‚brenzlige‘ Lage. Auch wenn er sieht, wie die Schneemassen fallen und die nicht verfolgten Menschen zum Wintersport fahren, bemerkt er: „Viele Erinnerungen steigen da auf. Long, long ago.“69 Das Wetter bildet hier wie die Madeleine bei Proust einen Zugang zu den Erinnerungen. Die winterliche Wetterlage, kombiniert mit dem
66 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 887 (7. Januar 1941). 67 Dies sagen auch Karin Becker und Olivier Leplâtre über den Nebel: „les qualifications péjoratives […] font place à des évocations euphoriques.“ Vgl. K. Becker/O. Leplâtre: Introduction. La brume et le brouillard, S. 18. 68 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 572 (24. Dezember 1938). 69 Ebd., S. 578 (31. Dezember 1938).
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Ende des Jahres, wo Cohn immer auf das vergangene Jahr zurückblickt, löst eine gewisse Nostalgie und Traurigkeit aus.70 Eine ähnliche Wehmut findet sich auch an der Stelle, wo Cohn an die Reichsgründung und die preußischen Könige denkt. Als Historiker weiß er, dass die Juden unter preußischer Herrschaft gut behandelt wurden und unter besseren Verhältnissen lebten. Zu diesem Zeitpunkt war die jüdische Gemeinschaft Breslau offiziell anerkannt und bekam einen eigenen Rabbi; es wurden zwei große Synagogen – die Storch-Synagoge (1827/28) und die Neue Synagoge (1872) – erbaut, das jüdische theologische Seminar (1854 gegründet) war eine weltberühmte Einrichtung usw. Während er daran zurückdenkt, rieselt draußen der „Regen melancholisch“ herab: „Man hat schon eine ganze Menge Geschichte miterlebt. Was war nicht schon einmal alles groß und was ist nicht wieder vergangen! Jetzt leben wir neben der Geschichte, an der wir auch einmal lebendigen Anteil hatten! Über jeden geht das Schicksal hinweg; man muß nur zu tragen verstehen. Draußen rieselt heute der Regen melancholisch; im Innern aber ist es einsam, man zieht sich immer mehr auf sich selbst zurück.“ 71
Der Regen trägt zu seiner wehmütigen Stimmung bei und lässt ihn wiederum an frühere, bessere Zeiten denken. Regen steht zudem für einen gewissen Kreislauf der Geschichte und die unveränderliche Natur, die menschliche Ereignisse mit melancholischer Gleichgültigkeit an sich vorüberziehen lässt.
FAZIT Cohn verweist in seinem Tagebuch insgesamt 336 Mal auf die jeweils vorherrschende Wetterlage. Als Ergebnis der Analyse kann man feststellen, dass das Wetter mehrfach kodiert ist72 und eine ambivalente Funktion hat. Sehr oft wird auf die jeweilige Wetterlage als Teil des Alltags verwiesen und Cohn versucht, in seinem Tagebuch so viel wie möglich realistisch aufzuzeichnen. Man kann also sagen, dass das Wetter sowohl referentiell im Zuge dokumentarischen Schreibens verwendet wird, als auch als „effet de réel“ gebraucht wird, um die Präzision des Chronisten zu betonen. Cohn beschreibt aber nicht nur die Wetterverhältnisse zur
70 Vgl. K. Becker/O. Leplâtre: Introduction. La brume et le brouillard, S. 20. 71 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 587-588 (18. Januar 1939). 72 Vgl. K. Becker/O. Leplâtre: Introduction: La brume et le brouillard, S. 21, 33. Becker und Leplâtre stellen dies spezifisch für den Nebel fest, es gilt hier jedoch auch für andere Wetterphänomene.
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Erzielung eines realistischen oder dokumentarischen Effekts, sondern diese haben oft eine indexikalische oder sogar metaphorische Funktion. So bestimmt die Wetterlage alltägliche Handlungen und Aktionsradien wie Transportmittel, Aktivitäten, Kleidung usw. und weist damit auf die zunehmende Einschränkung der Lebensmöglichkeiten von Juden in der Stadt hin. Zudem wird die Wetterlage mit der Lebensperspektive von Cohn und der jüdischen Bevölkerung in Verbindung gebracht: Dies kann sowohl eine Verstärkung der eigenen Gefühlslage bewirken, als auch einen Kontrast mit der eigenen Situation verdeutlichen. Daneben steht das Wetter manchmal in Verbindung mit positiven Bildern, die vor allem die Natur und bestimmte Stadtteile, die den Juden noch zugänglich sind, schöner darstellen. Gelegentlich löst das Wetter beim Tagebuchschreiber Flashbacks aus. Diese Funktion des Wetters ist vor allem als Erinnerungsauslöser an bessere Zeiten zu verstehen. Cohns häufige Verweise auf die Wetterlage machen deutlich, dass das Wetter eine bedeutsame Rolle für die Stadtwahrnehmung und seine eigene bedrohte Lebensperspektive in dieser Stadt spielt, oder wie Becker und Leplâtre feststellen: „L’écriture littéraire transcrit non une observation objective ou rationnelle du météore, mais une approche plus sensuelle, intuitive, subjective, reflétant la perception de son effet par l’individu.“73 Viele von Cohns Verweisen auf das Wetter sind also nicht bloßes Dekor oder dokumentarische Aufzeichnung, denn das Wetter übernimmt eine wichtige metaphorische Funktion in seinen Tagebüchern, insbesondere in der Zeit in Breslau und als Teil der jüdischen Gemeinde. Wenn Cohn mehr und mehr auf „böses Wetter“74 oder ein „Gewitter“75 verweist, das sich um Deutschland balle und das Netz zusammenziehe,76 so gilt dies auch für seine eigene Lage und diejenige der Juden im Allgemeinen. Wo sie vor dem Dritten Reich im städtischen Leben Breslaus integriert waren, beschreibt Cohn nicht zuletzt anhand von Wetterwahrnehmungen, wie sich ihr Aktionsraum allmählich verengt, bis die stete Bedrohung zur Deportation und zum Tod führt.
73 Ebd., S. 39. 74 W. Cohn: Kein Recht, nirgends, S. 995 (20. Oktober 1941). 75 Ebd., S. 625 (2. April 1939). 76 Ebd., S. 657 (18. Juni 1939).
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LITERATUR Bajohr, Frank: „Das ‚Zeitalter des Tagebuchs‘? Subjektive Zeugnisse aus der NSZeit. Einführung“, in: Frank Bajohr/Sybille Steinbacher (Hg.), „… Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 15), Göttingen: Wallstein Verlag 2015, S. 7-21. Barthes, Roland: „L’effet de réel“, in: Ders., Œuvres complètes. Bd. III: 19681971, hg. v. Eric Marty, Paris: Seuil 2002, S. 25-32. Becker, Karin/Leplâtre, Olivier: „Introduction. La brume et le brouillard: deux ‚météores‘ énigmatiques dans l’histoire de la science, de la littérature et des arts“, in: Dies. (Hg.), La brume et le brouillard dans la science, la littérature et les arts, Paris: Hermann Éditeurs 2014, S. 11-54. Bubis, Ignatz (mit Sichrovsky, Peter): „Damit bin ich noch längst nicht fertig“: die Autobiographie, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1996. Charlesworth, Andrew: „Towards a Geography of the Shoah“, in: Journal of Historical Geography 18.4 (1992), S. 464-469. Cohn, Willy: Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums, 1933-1941, hg. v. Norbert Conrads, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006. Dorn, Christian: „Ein Jude, der Deutschland liebte: Das Tagebuch des Willy Cohn – Die Qual eines deutschen Patrioten und gläubigen Juden“, in: Junge Freiheit vom 21.11.2008, verfügbar unter: https://jungefreiheit.de/service/archiv? artikel=archiv08/200848112161.htm [letzter Zugriff am 26.07.2018]. Kalff, Sabine/Vedder, Ulrike: „Tagebuch und Diaristik seit 1900. Einleitung“, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVI 2 (2016), S. 235-242. Laqueur, Walter: „Three Witnesses: The Legacy of Viktor Klemperer, Willy Cohn, and Richard Koch“, in: Holocaust and Genocide Studies 10 (1996), S. 252-266. O.A.: „Nebel“, Artikel im Duden: https://www.duden.de/rechtschreibung/Nebel [letzter Zugriff am 24.02.2020]. Rahden, Till van: Jews and other Germans: Civil Society, Religious Diversity, and Urban Politics in Breslau, 1860-1925, Madison: The University of Wisconsin Press 2008. Steuwer, Janosch: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933-1939, Göttingen: Wallstein 2017. Tausk, Walter: Breslauer Tagebuch 1933-1940, hg. v. Ryszard Kincel, Berlin 2000. Thum, Gregor: Die fremde Stadt: Breslau 1945, München: Pantheon 2006.
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Autorinnen und Autoren
Augustyns, Annelies, studierte deutsche und französische Literatur und Linguistik an der Universität Antwerpen. 2016 begann sie ein Doppeldoktorat an den Universitäten Antwerpen und Vrije Universiteit Brüssel. In ihrem Dissertationsprojekt Städtische Erfahrung im Dritten Reich: eine topopoetische Analyse deutschjüdischer autobiographischer Literatur aus Breslau analysiert sie Tagebücher und Autobiografien aus Breslau im Hinblick auf räumliche Verhältnisse. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die deutsch-jüdische Literatur sowie HolocaustLiteratur, jüdische Geschichte und Kultur, autobiografisches Schreiben und Räumlichkeit. Zuletzt erschien Deux diaristes à Breslau sous le Troisième Reich: Walter Tausk et Willy Cohn – Lecture et comparaison de leurs journaux intimes, in der Revue belge de philologie et d’histoire / Belgisch tijdschrift voor filologie en geschiedenis (forthcoming 2020). Berneiser, Tobias, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität Siegen. Er studierte Romanistik und Anglistik an der GoetheUniversität Frankfurt, wo er im Jahr 2016 mit einer Arbeit über die französische Cervantes-Rezeption im späten 18. Jahrhundert promovierte. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Kulturtransferforschung, urbane Räume und Kulturen in der Literatur, Intertextualität und Intermedialität sowie die bukolische Tradition in den romanischen Literaturen. Aktuell widmet er sich einem Habilitationsprojekt zur Repräsentation der Neapolitanischen Revolution von 1799 in literarischen und filmischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts. Breuer, Irene, Architektin (1988) und Licenciada en Filosofía (2003) – äquiv. zu MA Philosophie – an der Universidad de Buenos Aires, Argentinien. 1991 bis 2002: Freiberufliche Architektin und Professorin im FB Architektur an der Universidad de Buenos Aires, u.a. Promotion in Philosophie (2012) an der Bergischen
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Universität Wuppertal. 2012 bis 2017: Lehrbeauftragte an der BUW für Geschichte und Theorie der Architektur und danach im Bereich Theoretische Philosophie und Phänomenologie. Derzeit: Arbeit an einem Forschungsprojekt, das sich der Rezeption der deutschen anthropologischen Philosophie in Argentinien widmet. Febel, Gisela, Promotion zum französischen Gegenwartsroman, Habilitation über Poetik und Rhetorik um 1500. Seit 1999 Professorin für Romanistik/ Literaturwissenschaft und eine der Gründerinnen des Instituts für postkoloniale und transkulturelle Studien (INPUTS) und der Verbundforschungsinitiative Worlds of Contradiction (WoC) an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Moderneforschung, Kulturtheorie, Literaturen der Gegenwart, Frühe Neuzeit, postkoloniale Studien, Intermedialität und Bild-Text-Relationen, Gedächtnistheorien, Beziehungen von Philosophie und Literatur. Veröffentlichungen: Monographien zu Poesie der Neuzeit, Mythos und Nouveau Roman, Aphoristik; Übersetzungen von französischer Gegenwartslyrik und -philosophie; Editionen u.a. zu Rhetorik der Moderne, Zeit- und Bildtheorien von Mittelalter und Neuzeit, lateinamerikanischer Gegenwartslyrik, europäischem Film, transkulturellem Schreiben, Aufklärungsrezeption und Humanismus-Konzepten sowie zu Stadtrepräsentationen in der Literatur. Harbrecht, Katia, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen. Sie hat Frankoromanistik, Hispanistik sowie Transnationale Literaturwissenschaften in Bremen studiert und mit einer Arbeit zu saisonalen Konzeptionen und Aspekten des Raumes in Mankells Wallander Romanen abgeschlossen. Von 2017 bis 2019 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fokusprojekt „Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur“ tätig. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der französischen Literaturwissenschaft der Universität Bremen. Ihr Promotionsprojekt Heiter bis tödlich befasst sich mit Facetten, Strukturen und Funktionen des Wetters in französischen Kriminalromanen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hausmann, Matthias, vertritt aktuell eine Professur für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. 2017 wurde er mit einer Arbeit zu den Verbindungen des literarischen Schaffens von Adolfo Bioy Casares mit dem Kino in Wien habilitiert, nachdem er 2008 mit einer Studie über französische AntiUtopien im 19. Jahrhundert an der Universität Erlangen-Nürnberg promoviert worden war. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die französische Litera-
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tur des 19. bis 21. Jahrhunderts, die lateinamerikanische Narrativik des 20. Jahrhunderts, Stadtdarstellungen, die Phantastik und das Groteske in Literatur und Film sowie intermediale Relationen zwischen Literatur, bildender Kunst, Comic und Film. Unter seinen jüngeren Publikationen finden sich Inszenierte Gespräche (Berlin 2014, gemeinsam mit Marita Liebermann), Das Groteske in der spanischen und lateinamerikanischen Literatur (2016, zusammen mit Jörg Türschmann) und La literatura argentina y el cine – El cine argentino y la literatura (2019, zusammen mit Jörg Türschmann). Hennig, Matthias, lebt als Literaturwissenschaftler, Autor und Journalist in Berlin. Studium der Germanistik, Romanistik, Komparatistik und Philosophie in Leipzig und Berlin. Abschluss an der FU Berlin als Magister Artium. Stationen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsstipendiat und Lehrbeauftragter an der Universität Trier und an der Freien Universität Berlin. Promotion am PeterSzondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin und an der Universität Bern (Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2015. Veröffentlichungen v.a. zur literarischen Anthropologie, zur literarischen Moderne sowie zu ästhetischen und raumtheoretischen Fragestellungen. Aufsätze u.a. zu Autoren wie Calvino, Butor, Borges, Michaux, Bloch, Nietzsche, Herder und Ungaretti. https://matthiashennig.com/ Koch-Fröhlich, Melanie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2015 promovierte sie an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zum Gesamtwerk des jüdischen Schriftstellers Albert Cohen. Ihre Forschungsinteressen gelten jüdischem Schreiben im 20. und 21. Jahrhundert sowie der Literarisierung von (Familien-)Geschichte im französischen Gegenwartsroman. Mahler, Andreas, lehrt Systematische und Englische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Veröffentlichungen zur Literaturtheorie, Raum und Stadttexten, zum Komischen und zum Satirischen sowie zu den europäischen Literaturen der frühen Neuzeit. Nohe, Hanna, Romanistin an der Universität Bonn, mit Forschungsgebieten in der spanischen, französischen und italienischen Literatur, promovierte im Rahmen des Trinationalen Graduiertenkollegs „Grundungsmythen Europas in Literatur, Kunst und Musik“ zu kulturellen Identitäten im fingierten orientalischen Reisebriefroman der europäischen Aufklärung an den Universitäten Bonn, Paris-
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Sorbonne und Florenz bei Mechthild Albert und Michel Delon. Unter dem Titel Fingierte Orientalen erschaffen Europa erschien die Arbeit 2018 bei Fink in der Reihe Laboratorium Aufklärung. Momentan arbeitet sie zur sozio-ökonomischen Perspektive des migrierenden Subjekts in aktueller Literatur aus dem Globalen Süden in romanischen Sprachen. Otto, André, wurde promoviert mit einer Arbeit zu Undertakings. Fluchtlinien der Exklusivierung in John Donnes Liebeslyrik, die 2014 bei Fink in München erschien. Er hat spanische Literaturwissenschaft an der LMU München gelehrt, war wissenschaftlicher Mitarbeiter für englische Literaturwissenschaft an der FU Berlin und hat zur Zeit eine Gastprofessur für Englische Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit und ihrer Vorgeschichte an der HU zu Berlin inne. Sein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Formen und Funktionen asignifikanten Schreibens in experimenteller britischer Prosa des 20. Jahrhunderts. Weitere Schwerpunkte liegen auf raumtheoretischen und epistemologischen Fragestellungen in der Lyrik des 17. und 20. Jahrhunderts sowie auf post-industriellen Texträumen. Zuletzt hat er gemeinsam mit Judith Frömmer den Band Humanistische Ökonomien des Wissens als Sondernummer der Zeitsprünge 21 (2017) herausgegeben. Richter, Verena, maître de langue an der École normale supérieure Paris. Studium der Romanistik, Germanistik und Musikwissenschaft an den Universitäten Leipzig, Bergamo und Montpellier. 2012 bis 2015 Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Persönlichkeitsbildung im Spannungsfeld von Individuum und Institution“. 2014 bis 2016 Lehrbeauftragte/wissenschaftliche Mitarbeiterin in Romanischer Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. 2016 Promotion ebendort mit der Arbeit Zwischen Institution und Individuum. Inszenierung von Adoleszenz in den Filmen von François Truffaut und Louis Malle (Wilhelm Fink 2019). Schwerpunkt im Bereich des französischen Kinos, Stadt im Film und zur Darstellung von Adoleszenz in Literatur und Film der Romania. Derzeit Arbeit zum Mittelmeer als Erinnerungsraum im französischen Essayfilm und zur Topik der Erinnerung in Texten von Juan José Saer. Schmitz-Emans, Monika, ist seit 1995 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die allgemeine Literaturtheorie und Poetik, Abhandlungen zu Werk und Poetik einzelner Autoren der deutschen, italienischen, französischen und englischen Literatur, Beiträge zur komparatistischen Stoff-, Motiv und Einflussforschung auf dem Feld der euro-
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päischen und amerikanischen Literatur, Studien zu Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Literatur und bildender Kunst, Literatur und Musik sowie Spezialuntersuchungen zu Themen der Poetik und Erzähltheorie sowie der Reflexion von Geschichte und Geschichtlichkeit im literarischen Medium. Zuletzt erschien bei Olms Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur – Fallstudien und Poetiken. Struve, Karen, arbeitet derzeit als Research Managerin im „Anxiety Culture“Forschungsprojekt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Sie wurde 2007 an der Universität Bremen mit einer Arbeit zur transkulturellen écriture beur promoviert (ausgezeichnet mit dem Prix Germaine de Staël 2008), leitet zwei Forschungsprojekte zu Stadtnarrationen und Literaturvermittlung und habilitierte sich 2018 mit einer postkolonialen Studie zur französischen Aufklärung (ausgezeichnet mit dem Elise Richter-Preis 2019). Ihre Forschungs-, Lehr- und Publikationsschwerpunkte liegen in der postkolonialen und poststrukturalistischen Literatur- und Kulturtheorie, den frankophonen Literaturen des 18. bis 21. Jahrhunderts sowie der italienischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Tüting, Elena, hat 2015 an der Universität Bremen den Masterstudiengang „Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater und Film“ abgeschlossen. Im Juli 2016 wurde sie im Rahmen eines Brückenstipendiums zur Promotion von der Zentralen Forschungsförderung der Universität Bremen als Doktorandin im Fokusprojekt „Entzauberte Städte. Urbaner Raum und Migration in der französischsprachigen Gegenwartsliteratur“ tätig. In ihrer Dissertation mit dem Titel Illegale Stadtnomad_innen. Urbane Räume in der littérature SDF Frankreichs beschäftigt sie sich mit der Konstruktion und Wahrnehmung urbaner Räume aus der Perspektive der Obdachlosen (SDF) in französischsprachigen Gegenwartsromanen. Seit November 2017 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der französischen Literaturwissenschaft der Universität Bremen. Weber, André, studierte Romanistik an der Universität zu Köln und der Université Paul Valéry Montpellier III und promovierte an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zu Wolkenkodierungen bei Hugo, Baudelaire und Maupassant im Spiegel des sich wandelnden Wissenshorizontes von der Aufklärung bis zur Chaostheorie (erschienen bei Frank & Timme, Berlin). Es folgte eine Assistenz bei Prof. Dr. Gesine Müller (Potsdam/Köln) sowie eine Mitarbeit im internationalen Kolloquium zum Thema „Nuages Romantiques – Des Lumières à la Modernité“ (Université Paris-Sorbonne). Er hat Artikel zu Baudelaire, Maupassant und Zola auf Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
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