Die Theologie Calvins im Rahmen der europäischen Reformation [1 ed.] 9783666501838, 9783525501832


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Die Theologie Calvins im Rahmen der europäischen Reformation [1 ed.]
 9783666501838, 9783525501832

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Christian Link

Die Theologie Calvins im Rahmen der europäischen Reformation

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Reformed Historical Theology Herausgegeben von Herman J. Selderhuis In Zusammenarbeit mit Emidio Campi, Irene Dingel, Benyamin F. Intan, Elsie Anne McKee, Richard A. Muller, and Risto Saarinen

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Christian Link

Die Theologie Calvins im Rahmen der europäischen Reformation

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Matthäus Merian, Genf, Kupferstich, 1642 (Ausschnitt, bearbeitet; deutsche Privatsammlung). Das Umschlagsbild zeigt einen Teil von Genf mit der Kirche St. Pierre, in der Calvin jahrzehntelang gepredigt hat; dazu in der linken oberen Bildecke das Motto der Genfer Reformation: „Post Tenebras Lux“, „Nach der Finsternis (erstrahlt) das Licht“. Satz: le-tex publishing services, Leipzig Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197–1137 ISBN 978–3–666–50183–8

Inhalt

Vorwort ................................................................................................

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I. Historische und theologische Voraussetzungen 1. Calvin als Reformator Westeuropas .................................................. Einleitung ................................................................................ 1.1 Der reformatorische Aufbruch in Krisen- und Umbruchszeiten ...... 1.2 Der theologiegeschichtliche Ort Calvins: Zweite oder Dritte Reformation?................................................................... 1.3 Die religionspolitische Situation in Frankreich .............................. 1.4 Das humanistische Erbe ............................................................. 1.5 Die Auseinandersetzung mit den „Nikodemiten“........................... 1.6 Calvin als Ökumeniker ..............................................................

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2. Methodische und hermeneutische Überlegungen .............................. 39 A. Methodische Anfragen ..................................................................... 2.1 Eine neue Sicht auf Calvin: Zur neueren Forschungsgeschichte ....... 2.2 Die Arbeit an Methodenfragen ................................................... 2.3 Die Schriften der Straßburger Jahre .............................................

39 39 43 49

B. Hermeneutische Entscheidungen ..................................................... Einleitung ................................................................................ 2.4 Die Vorrede zur Olivetan-Bibel (1535) ......................................... 2.5 Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis ........................................ 2.6 Das Problem der natürlichen Gotteserkenntnis ............................. 2.7 Die Ehre Gottes......................................................................... 2.8 Meditatio vitae futurae – Die Betrachtung des zukünftigen Lebens .. 2.9 Calvins Theologie des Bundes ..................................................... 2.10 Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament: Israel und die Kirche .......................................................................... 2.11 Calvins Schrifthermeneutik: Die Autorität der Bibel ......................

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6

Inhalt

II. Gegenstandsfelder der Theologie 3. Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung..................................... Einleitung ................................................................................ 3.1 Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis ................................ 3.2 Der Streit um die Trinität ........................................................... 3.3 Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes .......... 3.4 Vorsehung zwischen Natur und Geschichte .................................. 3.5 Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung.......................

115 115 116 133 144 154 168

4. Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung ............................ Einleitung ................................................................................ 4.1 Das Gesetz als Verfassung des Bundes.......................................... 4.2 Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz .......................... 4.3 Calvins Christologie ..................................................................

185 185 186 197 204

5. Das christliche Leben....................................................................... Einleitung ................................................................................ 5.1 Das verborgene Wirken des Heiligen Geistes ................................ 5.2 Der Glaube ............................................................................... 5.3 Rechtfertigung .......................................................................... 5.4 Heiligung: Das christliche Leben ................................................. 5.5 Die christliche Freiheit ............................................................... 5.6 Das Gebet ................................................................................ 5.7 Prädestination und Erwählung....................................................

227 227 228 239 247 260 276 284 294

III. Gestalt und Auftrag der Kirche 6. Die Reform der Kirchenverfassung ................................................... Einleitung ................................................................................ 6.1 Die Kirche als Gemeinschaft der Erwählten .................................. 6.2 Unsichtbare und sichtbare Kirche ................................................ 6.3 Die Kennzeichen (notae) der Kirche ............................................ 6.4 Kennzeichen als Handlungsfelder des gegenwärtigen Christus ........ 6.5 Die Verfassung der (Genfer) Kirche ............................................. 6.6 Exkurs: Die Kirchenzucht........................................................... 6.7 Die Sakramente......................................................................... 6.8 Die Taufe.................................................................................. 6.9 Das Abendmahl ........................................................................

311 311 313 315 325 326 328 335 338 343 349

Inhalt

7. Die Kirche und der Magistrat: eine wechselseitige Verpflichtung......... 7.1 Das bürgerliche Regiment (politica administratio)......................... 7.2 Exkurs: Die Frage nach der besten Verfassung............................... 7.3 Die bürgerlichen Gesetze (usus politicus) ..................................... 7.4 Die Grenzen des bürgerlichen Regiments: das Problem des Widerstands ........................................................................

359 362 366 367 370

IV. Die geschichtlichen Wirkungen der Genfer Reformation 8. Calvin und der „Calvinismus“............................................................ Einleitung ................................................................................ 8.1 Der innerkirchliche Aspekt: a) Europa ......................................... 8.2 Der innerkirchliche Aspekt: b) Nordamerika ................................ 8.3 Der politische Aspekt................................................................. 8.4 Der ökonomische Aspekt ........................................................... 8.5 Der kulturelle Aspekt .................................................................

379 379 381 384 387 389 391

Abkürzungsverzeichnis.......................................................................... 395 Literatur ............................................................................................... 397 Personenregister .................................................................................. 405 Sachregister ......................................................................................... 409

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Vorwort

Das Calvin-Jubiläumsjahr 2009 hat eine Fülle sehr erhellender Einzelstudien und Sammelbände zu Themen, markanten Einflüssen und Neuorientierungen des Genfer Reformators herausgebracht vor allem auf dem Gebiet der biographischen und historischen Forschung. Zu dem Versuch einer Bilanz dessen, was man dabei gewonnen, von welchen Ansätzen man sich aber hat trennen müssen, ist es dabei jedoch noch nicht gekommen. Diese Lücke möchte die hier vorliegende Arbeit ausfüllen. Sie muss deshalb über Einzelbeobachtungen hinausgehen und den Gesamtentwurf noch einmal vor Augen führen. Denn wie Geschichte von jeder Generation faktisch neu geschrieben wird, so sollten in einer veränderten Epoche auch die sie prägenden Entwürfe und ihre vorwärts weisenden Ideen neu zur Diskussion gestellt werden. Die „Klassiker“, die in dieser Richtung gearbeitet haben, Karl Barth (1922), Wilhelm Niesel (1938) oder François Wendel (dt. 1968), liegen heute jedoch bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Zu den interessantesten und lehrreichsten Büchern, die mich zu diesem Versuch angeregt haben, gehört die kritische Darstellung des amerikanischen Theologen Richard A. Muller.1 Sie trägt den polemischen Titel „Der unangepasste Calvin“ (The Un-accomodated Calvin, 2000). Seine Spitze aber richtet sich dabei nicht etwa gegen den Autor des 16. Jahrhunderts, sondern gegen seine älteren und modernen Interpreten, die ihn – so der Vorwurf – theologischen Zeitströmungen und Moden – sei es Schleiermacher, die Postmoderne, ein sapientiales oder existentielles Interesse – anzupassen versucht haben. Im Zentrum dieser Kritik steht vielleicht nicht zufällig die von Barth inspirierte Calvin-Renaissance der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie verbindet sich mit einer energischen Abkehr von der jahrzehntelang geübten dogmatischen Interpretation und trifft damit zweifellos eine gegenwärtige Tendenz der Forschung, die Suche nach dem „historischen“ Calvin. Ihr geht es darum, eine „theologische Tradition“ zu begründen, die ihn unter Verzicht auf (ohnehin unerreichbare) „endgültige“ und in diesem Sinne „dogmatische“ Urteile dort verortet, wo er mit Sicherheit zu finden sei, im Kontext des 16. Jahrhunderts: „There where is text, there is hope.“ Der Gewinn dieser und anderer hochgelehrter Studien ist nichtsdestoweniger ein überraschend neuer Blick auf Calvin, der sich, so muss man wohl sagen (wofür es in älteren Auslegungen wenig Ansatzpunkte

1 R.A. Muller, The Unaccomodated Calvin. Studies in Foundation of a Theological Tradition, New York – Oxford 2000.

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Vorwort

gibt) einer Neuentdeckung der von Calvin selbst entwickelten und angewandten Methoden verdankt. Hier ist in den letzten Jahrzehnten tatsächlich viel in Bewegung gekommen. Am augenfälligsten ist schon die unübersehbare Aufmerksamkeit, die die CalvinForschung im angelsächsischen Raum gefunden hat. Ohne die Perspektiven der dort lebenden Autoren zu berücksichtigen, lässt sich ihr gegenwärtiger Fragestatus kaum angemessen beschreiben. Schon die Forschungsschwerpunkte haben sich verlagert. Meinte man früher die Institutio (1559) als Schlüssel zum Verständnis der Theologie Calvins nehmen zu können, so fragt man heute, ob ihre (auch systematisch) wichtigen Entscheidungen nicht vielmehr dort gefallen sind, wo seine Lebensarbeit ihr unbestreitbares Zentrum hat, in der exegetischen und homiletischen Arbeit an seinen Kommentaren und Predigten. Sie als Basis seiner (auch systematischen) Schriften ausdrücklich sichtbar zu machen, ist eines der Ziele der hier versuchten Interpretation. Das muss die Institutio nicht entwerten, die man heute noch als Calvins „Opus magnum“ zitiert. (B.G. Armstrong, 1986). Auch hier haben sich Blickrichtung und Interesse jedoch verschoben. Der Straßburger Aufenthalt (1539–1541) – die Zusammenarbeit mit Martin Bucer, die beginnende Freundschaft mit Melanchthon, insbesondere aber die Fertigstellung des Römerbrief-Kommentars (1540) – hat sich in der Wahrnehmung heutiger Interpreten als eine Art Wasserscheide zwischen den frühen und den späteren Calvin gelegt. Ging man früher von einer einheitlichen, wenn auch stetig erweiterten Konzeption dieses Riesenwerkes aus, so spricht man heute von einer (bis dahin kaum wahrgenommenen) Zäsur zwischen der ersten Baseler (1536) und der zweiten Straßburger (1539) Ausgabe. Der ursprünglich katechetische, auf die Frömmigkeit ihrer Leser zielende Entwurf ist zu einer methodisch ausgewiesenen Anleitung zur Lektüre und zum Studium der Bibel umgeschmolzen worden. Aus der elementaren Einführung in die christliche Lehre ist ein höchst anspruchsvoller Leitfaden des Schriftverständnisses geworden, den Calvin selbst auch seinen heutigen Interpreten an die Hand gibt. Aus diesem Grund habe ich denn auch ein besonderes Gewicht auf Fragen der Methodik und Hermeneutik gelegt. Und wie steht es mit der inhaltlichen Ausrichtung? Die Suche nach dem „historischen“ Calvin und seinem Vertrauen auf die theologische und epistemologische Relevanz der spät-mittelalterlichen Traditionen hat gleichsam nebenbei eine neue Aufmerksamkeit für die Erbschaft Augustins und des weit weniger bekannten Duns Scotus geweckt. Schon daraus geht hervor, dass man die Institutio nicht gut als ein System im neuzeitlichen Sinne bezeichnen kann. Das zieht erst mit Coccejus in die Theologie ein. Sie hat, was schon frühere Interpreten gesehen haben, kein Materialprinzip und deshalb auch keine inhaltlich-dogmatisch bestimmbare Mitte, nach der man im 19. Jahrhundert so lange – aber eben vergeblich – gesucht hat. Vielmehr wird man sie – darin entspricht sie der Vielfalt ihrer biblisch-exegetischen

Vorwort

Basis – als eine Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken interpretieren und in den Kontext der Reformation hineinstellen müssen. Das macht sie zu einem im gegenwärtigen Sprachgebrauch – nun doch! – dogmatisch ausgerichteten Entwurf. Dessen Eigenart aber erschließt sich erst dann, wenn man darauf achtet, welche gesellschaftlichen und kirchlichen Herausforderungen Calvin darin aufnimmt und anspricht, von denen man mit Recht gesagt hat, dass erst sie seine Theologie „welt- und geschichtsfähig“ gemacht haben. Dies vor Augen hat die nun folgende Darstellung vor allem ein Ziel, das eine „Zeitansage“ aus dem Jubiläumsjahr ihren Beiträgen vorangestellt hat, „Calvin neu zu entdecken“. Um diese hier nur thesenhaft vorangestellten Zusammenhänge argumentativ zu entfalten, habe ich Calvin ausführlicher als die meisten meiner Vorgänger im wörtlichen Zitat zur Sprache kommen lassen. Wo immer möglich, habe ich dabei auf die (gegenüber der Werkausgabe [CO] leichter zugängliche) zweisprachige Neukirchener Studienausgabe (CStA) verwiesen, in der die angegebenen Stellen punktgenau verifiziert werden können. Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle Michael Weinrich für seinen Freundesdienst. Er hat das Manuskript in seine Ferien mitgenommen, es vom ersten bis zum letzten Satz durchgesehen, mich auf notwendige Ergänzungen, auch Streichungen und Änderungen hingewiesen und mir aus dem Abstand des Lesers geholfen, den Zusammenhang des Ganzen deutlicher sichtbar zu machen. Danken möchte ich ebenso Ulrike und Jürgen Ebach, die mit einem namhaften Druckkostenzuschuss die Veröffentlichung in schwieriger Zeit ermöglicht haben, und nicht zuletzt auch dem Verlag, namentlich Izaak de Hulster und seinem Team, für die ebenso zügige wie erfreuliche Zusammenarbeit. Bochum, im Februar 2021

Christian Link

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I.

Historische und theologische Voraussetzungen

1.

Calvin als Reformator Westeuropas

Einleitung Die Reformation ist ein europäisches Ereignis. Dass sie dazu werden konnte und über die Wittenberger Ausstrahlungen hinaus auch in Frankreich, den Niederlanden, England und schließlich auch in Amerika Wurzeln schlagen konnte, ist das Werk von Theologen der „Zweiten Reformation“, ein Begriff, der deutlich zum Ausdruck bringt, dass es sich um die Fortsetzung eines bereits begonnenen Prozesses handelt. Zu den vorwärts drängenden Kräften dieses Prozesses gehört, was den Radius seiner Wirkungen anlangt, an erster Stelle Johannes Calvin (1509–1564) , gut 25 Jahre jünger als Luther. Seine Theologie ist von ihren ersten Anfängen an eine ausgesprochen streitbare Auseinandersetzung mit Gegnern aus dem religiösen und politischen Spektrum. Das hängt mit den besonderen Bedingungen zusammen, unter denen sie sich – zunächst in Frankreich, dann in Genf – behaupten musste. Nicht nur die veränderte historische Situation, sondern, was fast noch mehr zählt, der sozial und kulturell ganz anders bestimmte Raum, in dem er zu wirken hatte, stellen sie vor Aufgaben und Herausforderungen, die mit dem Aufbruch der deutschen und Schweizer Reformation kaum vergleichbar sind. Dafür bringt sie Erfahrungen und Themen ein, die auf eine fortgeschrittene Zeit hinweisen: einmal das Bewusstsein christlicher Fremdlingschaft – auch Calvin hat wie viele seiner Gemeinden sein Land als Flüchtling verlassen müssen –, auf der andern Seite eine Öffnung zur Welt und ihren in einer Zeit des Umbruchs anstehenden Gestaltungsaufgaben bis hin zu Fragen der neu aufkommenden, frühindustriellen Geld- und Wirtschaftsordnung, die sich in der Landstadt Wittenberg noch nicht als ein drängendes Problemfeld melden konnten. Es sind auf den ersten Blick scheinbar locker nebeneinander stehende Aspekte, die man berücksichtigen muss, um die besondere Situation zu beschreiben, in der Calvins Theologie entstanden ist und in die hinein sie ihrerseits sprechen will. Das soll in einem ersten Kapitel geschehen, weil sich aus ihnen das Bild zusammensetzt, in das auch die charakteristischen Züge der „Zweiten Reformation“ hinein gehören. Was sie verbindet, ist von außen gesehen die große politische Krise, die Frankreich im 16.Jahrhundert durchlebt, das Land, in dem Calvin aufgewachsen ist, das sich wie kein zweites in Europa dem Humanismus und der aus Italien kommenden Renaissance geöffnet und das zugleich am zähesten an dem „alten“ Glauben römischer Provenienz festgehalten hat. Ohne den Konflikt mit dem Königtum, der sich in einer beispiellosen Verfolgung der neu gewonnenen Protestanten entlud (den Luthériens“, wie man sie nannte), ist Calvins Werdegang, seine Bedeutung

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Calvin als Reformator Westeuropas

für den reformatorischen Aufbruch in einer religiösen Umbruchszeit gar nicht zu verstehen. Zu verstehen ist sie allerdings auch nicht ohne seine Teilnahme an den großen kulturellen Strömungen seiner Zeit, die ihn zu einem anerkannten Repräsentanten des zeitgenössischen Bildungsideals und zu einer für seine Zeitgenossen anziehenden Gestalt gemacht haben. Er hat die epochalen Leistungen der humanistischen Bewegung, die Wiederentdeckung von Grammatik und Rhetorik, als exegetische Methoden in der Bibelauslegung verankert. Als Anwalt der Verfolgten hat er diese Gaben und Fähigkeiten in den Dienst der neu gegründeten Gemeinden gestellt. Sein Brief an Kardinal Sadolet, der die Genfer in den Schoß der alten Kirche zurückführen wollte, auch sein Mahnschreiben an Kaiser Karl V., sind Verteidigungsschriften, wie die Reformation sie kein zweites Mal hervorgebracht hat. Die Leidenschaft, aber auch die Härte, mit der er die Auseinandersetzung mit Gegnern führt, die Klarheit der Begriffe, die Schärfe seiner Argumentation, mit der er unter seinen Anhängern, aber auch in dem großen Kreis der noch Unentschiedenen und Zweiflern für den neuen Glauben wirbt, haben ihn zu einem der meistgelesenen theologischen Schriftsteller des 16.Jahrhunderts gemacht. Dazu gehören nicht zuletzt auch die methodischen und hermeneutischen Entscheidungen, von denen im weiteren Verlauf noch die Rede sein wird. Auf diesem Hintergrund sind die Abschnitte des nun folgenden Kapitels zu lesen, die die Herausforderungen sichtbar machen sollen, die ihm auf diesem Boden zugewachsen sind.

1.1

Der reformatorische Aufbruch in Krisen- und Umbruchszeiten

Die schönsten Blüten des reformatorischen Aufbruchs hatte Deutschland mit dem Übertritt ganzer Städte und Territorien zum „neuen Glauben“ gesehen. Mit der Wiederentdeckung der paulinischen Rechtfertigung, dem Ruf zur „christlichen Freiheit“ und der damit ausgelösten Neugestaltung der Gottesdienste verbunden mit einer durchgreifenden Erneuerung des Gemeindelebens war der entscheidende Durchbruch gelungen. Das war in Frankreich, dem frühen Wirkungsfeld Calvins, vom ersten Augenblick an anders. Hier wurde der gemeindebildende Aufbruch überschattet von Ereignissen, die man nur als Negativposten der Reformation verbuchen kann. Da waren auf der einen Seite die Kreise der „Libertins“, die aus der christlichen Freiheit sehr andere Konsequenzen zogen als der von Luther inspirierte Calvin und sie mit jeder Art von Freizügigkeit verwechselten, auf der anderen Seite die humanistisch gebildeten „Intellektuellen“, die mit der reformatorischen Bewegung sympathisierten, unter dem Druck der staatlichen Repression aber nicht wagten, sich offen zum „neuen Glauben“ zu bekennen. Calvin hat sie als „Nikodemiten“ – Leute, die wie die biblische Gestalt des Nikodemus (Joh 3) nur des Nachts zu Jesus kamen – scharf angegriffen und ihnen in flammenden Streitschriften ein

Der reformatorische Aufbruch in Krisen- und Umbruchszeiten

bis heute nachdenkenswertes Denkmal gesetzt.1 Hinzu kam – nun von außen – die Gründung des Jesuitenordens (1540) und die Eröffnung des Konzils von Trient (1544) mit seinen antiprotestantischen Canones. Die Gegenreformation setzte ein, die weite für die Reformation gewonnene Gebiete wieder unter die Observanz der „alten Kirche“ zurückführte. Das ist die Situation, in die Calvin als Reformator hineingewachsen ist und in der er versucht hat, die auseinander strebenden kirchlichen Kräfte noch einmal zu bündeln. Die Gemeinden, mit denen er es zu tun hatte, deren Weg er mit zahlreichen Gelegenheitsschriften nicht nur zu theologischen, sondern oft genug auch zu politischen Fragen begleitete, fanden sich von Anfang an in der Situation einer bedrängten Minderheit vor. Es waren im heutigen Sprachgebrauch Untergrundkirchen, die sich namentlich in Frankreich blutigsten Verfolgungen ausgesetzt sahen. Sie haben sich zum Teil später – Flucht und Vertreibung hinter sich – im Rheinland, in Frankfurt und andernorts als „Kirchen unter dem Kreuz“ behauptet.2 Diese aufreibende Zeitgenossenschaft ist der ständig präsente Hintergrund, auf dem man Calvins Theologie lesen muss. Nicht zuletzt sind seine Predigten ein Beleg für den klar erkennbaren Zusammenhang, den er zwischen der historisch ihm zufallenden Last und dem theologisch Prinzipiellen sah. Schließlich spielt noch ein zweiter Faktor eine nicht unwichtige Rolle: In der Welt, in der Calvin zu wirken hatte, kündigt sich in mannigfachen philosophischen und religiösen, vor allem aber in politischen und wirtschaftlichen Bewegungen der Anbruch der Neuzeit an. In der Auseinandersetzung mit beiden, sich widerstrebenden, aber einander auch wechselseitig stützenden Strömungen, der Gegenreformation und einer neu sich etablierenden Stadtkultur, hat er an der Erneuerung der Kirche und ihrer Botschaft gearbeitet – gegen das sich selbst bestätigende Mittelalter und gegen das erwachsende Selbstbewusstsein des neuzeitlichen Menschen. Die gelebte Verbindung von Theologie und Zeitgenossenschaft macht die mit Recht oft betonte Modernität Calvins aus. Er kann sich anders als Luther nicht mehr des „lieben jüngsten Tages“3 getrösten, an dem Gott selbst sein Reich vollenden wird; er muss sich der Flut seiner Gegner und Widersacher entgegen stellen, und so bekommt der Protestantismus mit ihm und durch ihn eine neue Qualität. In seiner konzentrierten, auf die reale Welt eingestellten Form wird er zu jener geschichtlich ernst zu nehmenden Größe, die nun auch ihren spezifischen Gefährdungen, der Verweltlichung und der Politisierung, ausgesetzt ist. Er hat sich auf die Realgeschichte des 16. Jahrhunderts eingelassen und sie, wie das Beispiel Genfs mit seinen nachweisbaren 1 Excuse de Iehan Calvin à Messieurs les Nicodemites (1544), in: CO 6, 593–614; CStA 4, 222–265. Dazu: H. Scholl, Reformation und Politik, Stuttgart 1976, 66–86. 2 B. Gassmann, Ecclesia Reformata. Die Kirche in den reformierten Bekenntnisschriften, Freiburg 1968, 160–169, 186–196. 3 M. Luther, WAB 9, 175.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Fernwirkungen belegt, nicht nur Geschichte erlitten, sondern auch geschrieben und gemacht. Man begreift auf diesem Hintergrund, dass Calvin in seiner theologischen Arbeit andere Akzente gesetzt hat als der zeitlebens von ihm hoch verehrte Luther. Dass der Gerechte aus Glauben lebt, ist das große Thema der Wittenberger Reformation. Wie man aber diesen Glauben bewährt, wie man ihn angesichts wachsender Konflikte mit einem wieder erstarkenden Katholizismus und nicht abreißender Kontroversen auch in den eigenen Reihen lebt: das ist das Calvin neu gestellte Problem. Es sind die Themen der Vorsehung und Erwählung (Prädestination), die Betonung des unverbrüchlichen Bundes, den Gott mit seiner Gemeinde geschlossen hat, auch die ganz andere Aufmerksamkeit auf das Wirken des Heiligen Geistes, die seinem ausgebreiteten Schrifttum das unverwechselbare Profil geben – Themen, die sozusagen von sich her den Schritt vom Glauben ins Leben selbstverständlich und unvermeidbar machen und die nun auch Fragen der Ethik ein zunehmendes Gewicht einräumen.

1.2

Der theologiegeschichtliche Ort Calvins: Zweite oder Dritte Reformation?

In der neueren Reformationsforschung sind viele der bis dahin unbestrittenen Thesen in Frage gestellt worden. Dazu gehört auch die bekannte Alternative, ob man die Reformation als Ausläufer des Mittelalters oder aber als Aufbruch in die Moderne zu verstehen habe. Sie hält einer genauen historischen Nachfrage nicht stand. Man kann etwa Luthers Angriff auf die nominalistischen Schulhäupter der via moderna – exemplarisch dokumentiert in dem emphatischen Ausruf: „O stulti, o Sawtheologen!“4 – nicht als Abbruch, und das hieße ja als einen voraussetzungslosen Neubau von Wissenschaft, Theologie und Glauben interpretieren. Schon die Suche nach einer Umbruchstelle, einer „Grenzscheide zwischen Mittelalter und Neuzeit“, die man traditionell um das Jahr 1500 ansetzt, ist „problematisch geworden“. Stattdessen geht man heute von der „inneren Einheit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“ als „gesichertem Ergebnis der Forschung“ aus5 , und das gilt mutatis mutandis auch für Calvin.6 Starke modernisierende Wirkungen – man denke an die Ordensreformen oder die neuen religiösen Bewegungen der via

4 Römerbrief-Vorlesung 1515/16, WA 56, 274. 5 H.A. Oberman, Werden und Wertung der Reformation. Thesen und Tatsachen, in: Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986 (15–31), 17. 6 Ein Kernpunkt der Diskussion ist hier seine Stellung zu Duns Scotus: F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen 1968, 106–108; vgl. auch R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin, New York 2000, 40ff, 174ff.

Der theologiegeschichtliche Ort Calvins

moderna – sind bereits vom Spätmittelalter ausgegangen, das man statt als „Herbst“ (Huizinga) eher als Frühling anzusprechen hätte. Selbst Luthers bahnbrechende Lehre vom „Priestertum aller Gläubigen“ ist keine revolutionär neue Erkenntnis; sondern „wurzelt in spätmittelalterlichen Entwicklungen“.7 Kann man – so wird heute sehr viel intensiver gefragt – die Entzweiung der abendländischen Christenheit überhaupt allein auf dogmatische Streitigkeiten zurückführen? Wodurch also hat die Reformation ihre große Breitenwirkung erzielt? Rein theologisch, im Rückzug auf eine bloße „Ideenwelt“, gleichsam abgekoppelt von den realen und rauen Bedingungen der Lebenswelt – das wusste auch die ältere Forschung – lassen sich diese Fragen gar nicht beantworten. Es war jedenfalls ein einleuchtender Vorschlag von Heiko A. Oberman, die traditionelle Geisteswissenschaft als „Geschichte der Bewältigung wechselnder Lebensbedingungen“ aufzufassen und durchzuführen8 , nicht zuletzt, um den Weg der Reformation von Wittenberg nach Genf verständlich zu machen, ein Weg, der sich immer noch am besten am Wahlspruch der niederländischen Königin Emma nachzeichnen lasse: Palma sub pondere crescit – nur unter Druck und Verfolgung wächst die reformatorische Bewegung. Zu diesen Bedingungen aber gehören nicht nur die neuen theologischen, sondern auch die sozialen und politischen Gestaltungskräfte der Epoche. Diese drei Faktoren lassen sich so wenig voneinander trennen wie nach heutiger Einsicht der historische Zusammenhang von Spätmittelalter, Renaissance und Reformation. Oberman spricht vom „Resonanzpotential für die Erklärung der [reformatorischen] Breitenwirkung“: „Theologie“ wird aus Schulen, Klöstern und Universitäten in die Gassen und Rathäuser hineingetragen. Sie wird zur „Sache einer neuen Öffentlichkeit“.9 Allerdings wird man im Blick auf die sozialen und politischen Kräfte auch nur von Bedingungen sprechen können, obwohl es in umgekehrter Richtung durchaus nachweisbare Auswirkungen der neuen Theologie auf Lebensformen, Mentalitäten und Einstellungen der neu sich formierenden Gemeinden gab und gibt. Es ist gerade Calvin gewesen, der theologisch und institutionell „die tragfähigste Basis für eine umfassende Beeinflussung der Gesellschaft gelegt hat“.10 Man muss nicht erst an die umstrittene Max-Weber-These denken, sondern findet das beweiskräftigste Zeugnis in der Prägung des nüchternen Lebensstils, der Ausdauer und Selbstdisziplin, sowie der selbstverständlich wahrgenommenen Verantwortung für das eigene Leben und das der Gesellschaft in den frühen calvinistischen Gemeinden durch die dort geübte Kirchenzucht.

7 Vgl. dazu H. Schilling, Luther, Loyola, Calvin und die europäische Neuzeit in: Archiv für Reformationsgeschichte 85, 1994 (5–31), 19. 8 H.A. Oberman, Werden und Wertung (Anm. 5), 19. 9 H.A. Oberman, Die Reformation als theologische Revolution, a.a.O. (Anm. 5), 287. 10 H. Schilling, a.a.O. (Anm. 7), 25.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Aufschlussreich ist ein weiterer bedenkenswerter Interpretationsvorschlag Obermans. In Deutschland spricht man von der zweiten Reformation, wenn man an die Ausstrahlungen Genfs auf die lutherisch geprägten Gemeinden am Niederrhein, in der Pfalz, in Hessen-Nassau oder in Bremen denkt11 , die sich seit dem Osnabrücker Friedensvertrag (1648) zur Reformierten Kirche zusammengeschlossen haben. Auf die Reformation der Lehre folgt die Reformation des Lebens. Nachdem die jüngere Forschung den Zeitraum dieser theologischen Aufbrüche unter Einbeziehung des Spätmittelalters erheblich erweitert hat – er umfasst als long reformation eine Spanne, die von etwa 1450 bis 1650 reicht12 – ist Oberman dazu übergegangen, von drei Reformationen zu sprechen, die ihrerseits auf „drei verhüllte Revolutionen“ zurückgehen.13 Da ist zunächst der Konziliarismus, ein „unerlässlicher Interpretationsrahmen für den frühneuzeitlichen Parlamentarismus“, aus dessen Ideengut sich das moderne Widerstandsrecht entwickelt hat (289f.). Ihm folgt in weitem Abstand die Emanzipation des städtischen Bürgertums, die in Zürich und Straßburg, in Wittenberg, Nürnberg und anderen Reichsstädten der nun Zweiten Reformation Luthers und Zwinglis den Boden bereitet hat, ihrer Absicht nach aber über die Grenzen der Stadt hinaus auf Universalität drängt (291f.). Von beiden als ein eigener Typus markant unterschieden, etabliert sich in Genf als Dritte und zwar radikalste Spielart der Reformation der „republikanische Calvinismus“ (294)14 , seiner Zielgruppe entsprechend als „Reformation des Refugiés“ apostrophiert: „Das Rathaus der Stadtreformation wurde zum Rüsthaus für die Flüchtlingsreformation“. Damit sind Eigenart und Stoßrichtung dessen, was Calvin meinte und wollte, was ihn als Theologen eigener Prägung und weltweiter Wirkung auszeichnet, sehr genau getroffen. Die Notwendigkeit und die nach Straßburger Vorbild in Genf tatsächlich durchgesetzte einer vom Rat und somit von obrigkeitlichem Einfluss und Zugriff unabhängigen eigenen kirchlichen Verfassung und Ordnung ergeben sich daraus von selbst. Ebenso wichtig ist ein zweites mit der Existenz der Flüchtlinge sich fast zwangsläufig einstellendes Phänomen, auch wenn diese Fremdlinge zum großen Teil in Genf eine neuen Heimat fanden: der „Exodus aus der Stadt“ (296). Genf ist „nicht [wie Zürich] corpus christianum, sondern vielmehr […] Brückenkopf

11 B. Gassmann, Ecclesia Reformata (Anm. 2), bes. 186–196. 12 So T. Brady/H.A. Oberman u. a. (Hg.), Handbook of European History, 1400–1600 2 Bde., Grand Rapids 1996; vgl. E. Campi, Was the Reformation a German Event?, in: P. Opitz (Hg.), The Myth of the Reformation, Göttingen 2013 (9–31), 21. 13 H.A. Oberman, Eine Epoche – Drei Reformationen, a.a.O. (Anm. 12), 283–299. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf diesen Abschnitt. 14 Oberman beruft sich auf eine ältere Arbeit von H. Baron, Calvinist Republicanism and Its Historical Roots, in: Church History 8 (1939), 30–42. Vgl. auch R.M. Kingdon, Was the Protestant Reformation a Revolution? The Case of Geneva, in: Church, Society and Politics. Studies in Church History 12 Oxford 1975, 203–222.

Die religionspolitische Situation in Frankreich

für die Verbreitung des regnum Christi“ (295), und das in einem Ausmaß und mit einer Vitalität, dass die Reformation nicht nur die Grenzen der Stadt durchbrechen, sondern auch nördlich der Alpen in den Niederlanden, in England und Schottland und in ersten Ansätzen sogar in Polen Fuß fassen und zuletzt auch aus Europa ausbrechen konnte. Oberman zitiert mit Recht das Gebet, mit dem Calvin seine Predigten zu beschließen pflegte: „Nicht uns allein verleihe Gott seine Gnade, sondern allen Völkern und Nationen“ (295). Diese Erfahrung des von innen „erzwungenen“ Auszugs aus der „Cité de Dieu“ schlägt sich theologisch besonders in drei Bereichen nieder, in denen die Dritte Reformation ihre eigenen Wege geht: einmal im Verhältnis zu den Juden, indem sie – in heutigem Sprachgebrauch – an dem ungekündigten Israel-Bund festhält, sodann in der Lehre vom politischen Widerstand, die keiner demokratischen Legitimation bedarf, sondern die Konsequenz der von Gott zur Pflicht gemachten Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit zieht15 , und nicht zuletzt im Verständnis der Prädestination, die zwar das selbstverständliche Korrelat der Rechtfertigungslehre bleibt, darüber hinaus aber den „gottgewollten Zug [des] Evangeliums aus der Stadt zum Territorium und dann von Land zu Land“ erklärt und zugleich begründet (298). Mit Wittenberg verbunden bleibt die Genfer Reformation weiterhin durch das programmatische dreifache „sola“ (sola gratia, sola fide, sola scriptura). Doch zeigt sich im Verständnis der „Schrift“ wiederum eine charakteristische Differenz, die auf dem Feld der Ethik, namentlich in politischen Fragen, zu durchaus verschiedenen Handlungsanweisungen führt. Denn sie ist im oberdeutschen und Schweizer Raum auch „Gesetz“. Sie wird nicht im Licht des „solus Christus“ interpretiert und somit nicht durch die scharfe Unterscheidung von Gesetz und Evangelium neu qualifiziert, sondern meint die verbindliche, gerade auch im Alte Testament formulierte Weisung Gottes, die nicht nur in der Christengemeinde, sondern auch in Staat und Gesellschaft als Gottesrecht proklamiert wird. Was Calvin damit seinen Gemeinden zugemutet hat, zeigen seine schweren Auseinandersetzungen mit der Genfer Bürgerschaft. Es fragt sich aber, ob ohne diese Zumutungen und die damit einhergehende Strenge die Dritte Reformation jene Gestaltungskräfte hätte freisetzen können, die sie zu weltgeschichtlicher Wirksamkeit befähigt hat.

1.3

Die religionspolitische Situation in Frankreich

Die deutsche Reformation vollzog sich weitgehend im Windschatten der großen Politik. Sie fand ihre wirksamste Unterstützung bei den um ihre Unabhängigkeit

15 So rechnet die Confessio Scotica auch den gewaltsamen Widerstand gegen willkürliche Tyrannen („tyrannidem opprimere“, Art. XIII, BSRK 255.3) zu den „guten Werken“. Vgl. dazu Kapitel 2.3.

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Calvin als Reformator Westeuropas

vom Kaiser kämpfenden Fürstentümern und Territorien. Sie blieb Sache und Angelegenheit einzelner „Länder“. Das war in Frankreich – ungeachtet der großen Aufgeschlossenheit hoher Adels- und Beamtenkreise – vom ersten Augenblick an anders. Hier geriet die Reformation ins Zentrum der Weltpolitik, in deren Mitte Frankreich stand. Sie fiel in eine große politische Krise Europas: Das bisher beschränkte Königtum hatte sich aus dem Lehensstaat zur absoluten Monarchie heraufgearbeitet. Territoriale Gewalten fielen gegenüber der königlichen Macht nicht mehr ins Gewicht. So musste sich das Schicksal der Reformation an der Krone entscheiden. Wie aber hätte sich das Königtum, das ganz von zentralistischen Motiven bestimmt war, mit einer geistigen Bewegung befreunden könne, die in offenkundiger Opposition gegen den Kaiser (Karl V.) stand und noch dazu unübersehbar demokratische Züge trug? König François I. galt als ein ausgesprochener Förderer des französischen Humanismus. Das erklärt seine zunächst aufgeschlossene Haltung gegenüber allen Bestrebungen einer Kirchenreform. Erasmus hat ihm seine Paraphrase des MarkusEvangeliums gewidmet (1523); Lambert von Avignon richtet sein Plädoyer für eine Erneuerung der Kirche, die „Déclaration de la règle de Cordelier“ (1524) an ihn. Zwingli folgt mit der Dedikation seines „Commentarius de vera ac falsa religione“ (1526), und zehn Jahre später wendet sich Calvin mit einem ausführlichen Widmungsschreiben seiner Institutio (1536) wiederum an ihn. Der König hat Humanisten wie Briçonnet und Lefèvre trotz ihrer evangelischen Neigungen beschützt und ist als politischer Gegner der Habsburger mehrfach mit den deutschen Protestanten in Verbindung getreten. Er ließ mit Bucer in Straßburg verhandeln, holte ein Gutachten Melanchthons ein und lud beide, vermittelt durch den Bischof von Paris, sogar offiziell zu einem Religionsgespräch nach Frankreich ein. Die unerbittlichen Gegner jeder Neuerung, die gemeinsam mit Moritz von Sachsen diesen Plan scheitern ließen, saßen in der Theologischen Fakultät und im Parlament von Paris, vor allem aber in Gestalt seines Kanzlers Duprat in der unmittelbaren Umgebung des Königs. Dem wiederum war aus Gründen der Staatsraison an der Erhaltung und der Einheit der französischen Nationalkirche alles gelegen, insbesondere an der ungeschmälerten Geltung der „gallikanischen Freiheiten“ (1407), die ihm einen weitgehenden Einfluss auf die Besetzung kirchlicher Stellen sicherten. So nahm das politische Frankreich die „Luthériens“ überwiegend nur im Zerrspiegel des radikalen Täufertums als potentielle Umstürzler jeder staatlichen Gewalt wahr. Hinzu kam – ein wichtiger mentalitätsgeschichtlicher Unterschied –, dass sich der neue Glaube anders als in Deutschland nicht als Anwalt breiterer Volksschichten gegen soziale Missstände, ein erpresserisches Ablasswesen oder gegen eine allgemein empfundene Verkommenheit von Klerus und Mönchtum artikulierte. Vereinzelte leidenschaftliche Ausbrüche gegen die bisherigen Heiligtümer stießen im Volk kaum auf Verständnis. Die „unteren Klassen“, urteilt der Kirchenhistoriker Karl Müller, „die in Deutschland das erste mächtige Vordringen der Bewegung tru-

Die religionspolitische Situation in Frankreich

gen, haben in Frankreich die alte Religion am zähesten geschützt. Der Krone hätte also für jeden Versuch, sich auf die Seite der Neuerung zu stellen, jede Unterlage im Volk gefehlt“.16 Daher die ambivalente Stellung des Königs. Solange sich die Reformation als Angelegenheit einiger progressiver Intellektueller abtun ließ, ließ er sie gewähren. Sobald sie sich breitere Schichten eroberte und zu einem politisch unkalkulierbaren Faktor wurde, den das Königtum seinen eigenen Zielen nicht mehr einordnen konnte, wurde er ihr Feind. Es bedurfte nur einer unbesonnenen provokativen Aktion ihrer Anhänger, um eine beispiellose Verfolgung auszulösen.17 Man beschuldigte die „Luthériens“ der Verschwörung gegen die öffentliche Ordnung und die Religion. François I. ordnete im Parlament die strenge Bestrafung der Schuldigen an, von denen fünfzig auf der Stelle, weitere dreihundert im Januar 1535 in die Gefängnisse geworfen wurden. Ein Edikt desselben Monats verfügte nicht nur die Verbannung der Häretiker, sondern ihre Vernichtung (extermination). Die Verfolgung setzte mit einer Schonungslosigkeit und Härte ein, die sich allenfalls mit den dunkelsten Zeiten der Inquisition vergleichen lässt: „Alle Schrecken der rohen Gewalt, des Hasses, des gräulichsten Verrates, der Flammen und des Schwertes wurden gegen die andersgläubigen Untertanen Frankreichs in einem Grade losgelassen, dass dem übrigen Europa sich das Haar sträubte und das Blut in den Adern gerann.“18 Das war die Stunde, in der sich Calvin, inzwischen selber zum Flüchtling geworden, zum Eingreifen genötigt sah. Die falschen Verleumdungen, vor allem das unvorstellbare Ausmaß der Blutzeugen und Märtyrer ließen ihn an die Öffentlichkeit treten. Im Rückblick auf diese Jahre schrieb er: Mir schien, ich müsste mich mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft dagegen erheben, andernfalls wäre mein Verhalten unentschuldbar, denn wenn ich schwiege, würde ich als treulos erfunden […] Und das war der Grund, der mich bewog, meine Institutio zu veröffentlichen. Erstens um mit meiner Erwiderung auf die von den anderen ausgestreuten bösartigen Vorwürfe die verletzte Ehre meiner Brüder zu verteidigen, deren Tod dem Herrn kostbar war, dann aber auch, damit die andern Völker wenigstens von einigem Mitleid und Sorge zu ihnen erfüllt würden, umso mehr, als dieselben Grausamkeiten bald auch gegen viele andere arme Menschen verübt werden konnten.19

Calvin tritt als ein ebenso leidenschaftlicher wie glänzender Anwalt für die verfolgten Evangelischen in Frankreich ein. Als Redner appelliert er an die öffentliche 16 K. Müller, Kirchengeschichte II/1, Tübingen 1911, 489. 17 Zur sogenannten „Plakataffäre“ vgl. B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1995, 108–114. 18 C.B. Hundeshagen, Calvinismus und staatsbürgerliche Freiheit (hg. von L. Wyss), Zollikon – Zürich 1946, 23. 19 Vorrede zum Psalmenkommentar 1557, CO 31, 23f; CStA 6, 27.28–28.4).

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Meinung, die es in dieser Sache damals durchaus schon gab, als Doktor der Rechte wendet er sich an die Jurisdiktion des Königs, als humanistisch gebildeter Christ erinnert er den Herrscher an die oberste Tugend gerechter Machtausübung, die Clementia. Sein erstes und wichtigstes Ziel ist die Rehabilitierung der Gefangenen, Verbannten und Ermordeten: Durchmustert unsere Sache nach allen Seiten, tapferster König, und haltet uns für nichtswürdiger als irgendeine Verbrecherbande, wenn Ihr nicht zuverlässig in Erfahrung bringt, dass wir alle allein deshalb leiden und mit Schmähungen überhäuft werden, weil wir ‚unsere Hoffnung auf den lebendigen Gott setzen’ [1 Tim 4,10], weil wir glauben das sei ‚’das ewige Leben: den allein wahren Gott und den er gesandt hat, Jesus Christus zu erkennen’ [Joh 17,3]. Um dieser Hoffnung willen werden einige von uns in Ketten gelegt, andere mit Ruten gepeitscht, andere zum Gespött durch die Straßen geführt, andere entsetzlich gefoltert, wieder andere können nur flüchtend davon kommen. Mangel an den notwendigsten Dingen drückt uns alle, wir werden mit den schrecklichsten Verwünschungen verflucht, mit Lästerungen zerfleischt, auf unwürdigste Weise behandelt.20

Diese Situation unnachsichtiger Verfolgung unterscheidet die reformierten Anfänge am tiefsten von der Reformation in Deutschland und in der Schweiz. Dort konnte sie sich mit der weltlichen Obrigkeit verbünden und ist durch sie groß geworden. Hier musste sie sich gegen den Trend der Zeit und einen mit allen Mitteln unterdrückenden Staat behaupten. Die evangelischen Gemeinden Frankreichs waren gezwungen, „ohne den Staat ja gegen ihn zu leben“.21 In Flüchtlingsgemeinden (Straßburg, London, Frankfurt oder Wesel) haben sie sich zum Teil neu organisieren können. Denn wollten sie unter solchen Bedingungen nicht einfach in Rechtlosigkeit versinken, so mussten sie sich selbst Lebensraum verschaffen. Das gab dem französischen Protestantismus ein kämpferisches Gepräge: die Kirche Calvins ist die alttestamentliche ecclesia militans. Man kann dieses Widmungsschreiben eine klassische Apologie nennen. Das ist sie zweifellos, aber sie ist zugleich mehr als das. In sieben Thesen fasst sie die katholische Polemik gegen die reformatorische Bewegung zusammen, um deren Einwände – ihre Lehre sei „neu“, „zweifelhaft“, entbehre aller beglaubigenden „Wunder“ – Punkt für Punkt zu widerlegen. Den zentralen Vorwurf, von der apostolischen Lehrnorm abzuweichen, gibt sie an ihre Gegner zurück, indem sie unter Berufung auf die Kirchenväter als unverrückbare „Grenzsteine“ die Forderungen der Reformation geltend macht: die Feier des Abendmahls „unter beiderlei Gestalt“,

20 Widmungsschreiben der Institutio (1536): Epistula nuncupatoria, CO 1, 13; CStA 1.1, 75.28–76.6. 21 H. Scholl, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten Stuttgart 1976, 50.

Die religionspolitische Situation in Frankreich

die Freigabe der Priesterehe und nicht zuletzt die Anerkennung Christi als einzige Autorität in allen Fragen der Lehre und Lebensführung. Mit dieser Kirche – hier geht Calvin zum Angriff über – liegen wir nicht im Streit. Sie lebt und wird leben, solange Christus zur Rechten des Vaters regiert. Das ist die Situation, in der er im Basler Exil seine erste Institutio (1536) fertig gestellt hat. Was im Widmungsschreiben – die Not der Gegenwart vor Augen – in scharfen Anklagen und Thesen formuliert wird, ist hier in einer schon damals bewunderten klaren systematischen Form ausgearbeitet. Sie hat als eine erste umfassende Gesamtdarstellung reformatorischer Theologie in kurzer Zeit weite Verbreitung gefunden. Einstweilen hat sie jedoch nur ein begrenztes Ziel. Sie will die bedrängten „Luthériens“ knapp und präzise über die Grundlagen des neuen Glaubens unterrichten. Es sind denn auch vor allem Luthers Schriften, insbesondere die Entscheidungen des Kleinen Katechismus, die Gerüst und Gliederung dieses Entwurfs in seiner Abfolge bestimmen: Gesetz (Dekalog), Glaubensbekenntnis, Gebet (Vaterunser) und Sakramente. Über diese Vorlage hinausgehend, aber an Luthers ‚Hauptschriften’ von 1520 orientiert, schließt sich der große Traktat über die christliche Freiheit an, der die Unabhängigkeit der kirchlichen von der politischen Gewalt proklamiert. Hier ging es um eine zentrale, bis weit in die Genfer Zeit heftig umstrittene Forderung. Weniger beachtet, aber charakteristisch schon für dieses Erstlingswerk, sind theologische Akzentsetzungen, die dem von Zwingli beeinflussten oberdeutschen Raum entstammen, so die Unterscheidung von Gottesdienst und Götzendienst22 , die Bedeutung des Bilderverbots, der Zusammenhang von Rechtfertigung und „anfangender“ Heiligung, die später breit ausgearbeitete Erwählungslehre und der in der Folgezeit immer wichtiger werdende Bundesgedanke als quasi rechtliche Klammer zwischen Gott und Mensch. Auf Zwingli dürfte auch die Betonung der „nicht sichtbaren“ verborgenen Kirche zurückgehen, die, wie schon das Widmungsschreiben festhält, zu allen Zeiten – angefangen bei Elia und Jeremia – den Vorwurf, Aufruhr zu stiften und das Volk ins Verderben zu führen, auf sich gezogen hat. Man erkennt ihre „wahre“ Gestalt an der Predigt des Wortes und am rechtmäßigen Gebrach der Sakramente.23 Peter Opitz spricht von einer „kreativen Synthese der grundlegenden reformatorischen Einsicht“ aus der Wittenberger wie aus der Zürcher Reformation.24

22 Dazu: E. Saxer, Aberglaube, Heuchelei und Frömmigkeit. Eine Untersuchung zu Calvins reformatorischer Eigenart, Zürich 1970. 23 So die Calvin wohlbekannte Confessio Augustana (1530), Art. VII. 24 P. Opitz, Leben und Werk Johannes Calvins, Göttingen 2009, 41.

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Calvin als Reformator Westeuropas

1.4

Das humanistische Erbe

Beginn und Ausbreitung der Reformation in Frankreich kann man ohne die Wirksamkeit humanistischer Kreise nicht verstehen. Von besonderer Bedeutung ist die Gestalt des Lefèvre d’Etaples (ca.1455–1536) und die von ihm geschaffene Verbindung von Humanismus und Biblizismus. Aus dem Kreis seiner theologischen Schüler, die sich nach der Verurteilung durch die Pariser Fakultät um Bischof Briçonnet von Meaux sammelten (1520), stammen Gerard Roussel (späterer Bischof von Oloron), Guillaume Farel, Calvins engster Mitarbeiter, der Hebraist François Vatable, nicht zuletzt auch der Psalmendichter Clément Marot und andere, ohne deren Wirksamkeit man das starke Echo Calvins kaum verstehen kann. Hinzu kommt, dass der französische Humanismus in König François I. (1515–1547) seinen prominentesten Förderer gefunden hatte. Auf ihn geht die Gründung des späteren Collège de France als Gegengewicht zur ‚reaktionären’ Sorbonne zurück sowie die Berufung des Humanisten Guillaume Budé zu dessen erstem Leiter. Er schützte die Männer der neuen Bildung vor kirchlichen Anfeindungen, und auch seine zunächst tolerante Haltung gegenüber dem von Osten eindringenden Luthertum ist durch seine Beziehungen zum Humanismus bestimmt. Vor allen Dingen aber wurde seine Schwester Margarete von Angulême, die spätere Königin von Navarra, in allen künftigen Kämpfen und Verfolgungen eine wirksame Fürsprecherin der kirchlichen Reformkreise. In diesem humanistischen Klima hat Calvin seine intellektuelle Prägung bekommen.25 Schon als Schüler am Pariser Collège de Marche ist er durch seinen Lehrer Maturin Cordier aufs lebendigste mit dieser Strömung der Renaissance in Berührung gekommen. Er hat Cordier später seinen Kommentar zum I. Thessalonicherbrief gewidmet und ihn aus Dankbarkeit als Ratgeber und Organisator der höheren Schulen nach Genf geholt. Man streitet darüber, ob der Einfluss des nominalistischen Theologen John Mair (Major), in dessen Vorlesungen er in den anschließenden Jahren auf dem Collège de Montaigu mit der ockhamistischen Auslegungstradition bekannt gemacht wurde, auf ihn vielleicht noch nachhaltiger gewesen sei. Wir wissen jedoch, dass er in dieser Zeit einen regen Kontakt mit seinem für den in Blüte stehenden Humanismus begeisterten Vetter Olivetan unterhielt und sich einem Kreis gleichgesinnter älterer Gelehrter angeschlossen hat, unter denen ihm Guillaume Cop, Freund und Briefpartner von Budé und Erasmus (Vater des wegen seiner Rektoratsrede von 1533 berühmten Nicolas Cop), besonders nahe gestanden hat. In diesem für alle neuen Ideen aufgeschlossenen

25 Dazu: F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, dt.: Neukirchen 1968, 6–23, sowie Ch. Burger, Calvin und die Humanisten, in: H. Selderhuis (Hg), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 137–143, dort weitere Literatur.

Das humanistische Erbe

Kreis muss er bereits Schriften Lefèvres, Luthers und Melanchthons kennen gelernt haben. „Wir müssen uns Calvin“ schreibt François Wendel, „gegen Ende seines Pariser Aufenthalts als einen dieser katholischen Humanisten vorstellen, […] denen die Wiederherstellung der Wissenschaften unendlich viel wichtiger war als die Angriffe gegen das römische Dogma.“26 Sein Studium führte ihn zunächst nach Orléans. Dort lehrte der von ihm hochgeschätzte, wohl beste französische Jurist seiner Zeit, Pierre de L’Estoile, der trotz seiner konservativen Haltung durchaus offen war für humanistische Forschungen. Hier lernte er seinen Griechischlehrer Melchior Volmar aus Rottweil kennen, einen entschiedenen Anhänger der Reformation, der offen für seine evangelischen Überzeugungen eintrat. Er galt als Mittelpunkt einer Gruppe, in der Gedanken und Schriften Luthers aufgenommen und erarbeitet wurden. Man hat ihn deshalb immer wieder als den entscheidenden Anreger genannt, der Calvins Wendung hin zur protestantischen Theologie und Frömmigkeit, das Rätsel seiner „subita conversio“, zumindest vorbereitet hätte. Es gibt jedoch keine einzige Notiz von seiner Hand, auch nicht in dem später Volmar zugedachten Widmungsschreiben zum zweiten Korintherbrief27 , die eine derart entscheidende Rolle dieses Lehrers bestätigen oder auch nur glaubhaft machen könnte. Dagegen scheint auch zu sprechen, dass die Freundschaften, die er auf seiner nächsten Station, dem 1529 vollzogenen Wechsel nach Bourges, mit François Daniel oder Nicolas Duchemin (dem Adressaten eines der beiden „Sendschreiben“28 ) schloss, ihn nur noch enger mit jungen humanistischen Gelehrten verbanden. Andererseits hatte er zu dem dorthin neu berufenen brillanten Vertreter des italienischen Humanismus, Andrea Alciati, trotz dessen formvollendeten lateinischen Vorlesungen ein eher distanziertes Verhältnis. Vor allem aber war er noch im Winter 1531/32 mit der Fertigstellung seines Erstlingswerkes, einem Kommentar über Senecas, von Erasmus neu edierter Schrift De Clementia befasst, einer Abhandlung, die ihn als Vertreter der Stoa-Renaissance auf der Höhe humanistischer Auslegungsmethoden zeigt, und ihn nicht nur damals in die Reihe namhafter Humanisten einrücken ließ, sondern die auch in der neueren Forschung wegen ihrer Gelehrsamkeit und ihres Stils ein breiteres Echo gefunden hat.29 Denn sachlich geht es in dieser Schrift um die Kardinaltugend der Herrscher, die Milde. Hier wird dem Tyrannen, der „gegen den Willen seiner Untertanen regiert oder seine Macht schrankenlos ausübt“, förmlich der Prozess gemacht. Von den bedrückenden Zeitumständen, die eben dies angesichts der rücksichtslosen Verfolgung der Protestanten durch François I. erfordert hätten, ist in diesem Werkstück jedoch noch mit keinem Wort die Rede. 26 27 28 29

F. Wendel, Ebd. 8. Epistola dedicatoria, CO 12, 364f. Epistolae Duae (1537) I: Gegen „Gottlose Bräuche und Riten“, CO 5, 239–278; CStA 1.2, 276–304. Vgl. dazu F. Wendel, a.a.O. (Anm. 25), 14–16.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Ein unkritischer oder gar blinder Anhänger des Humanismus und seiner stoischen Tugendlehre ist Calvin nie gewesen Das Ideal der Leidenschaftslosigkeit (Apathie), der Gleichgültigkeit gegenüber den wirklichen Bedürfnissen des Menschen und der öffentlichen Meinung, hat er sich nie zu eigen gemacht. Dennoch war die intensive Berührung mit dieser modernen Zeitströmung mehr als eine Episode. Calvin ist „immer mehr oder weniger der Humanist des Jahres 1532 geblieben“.30 Einen dramatischen Bruch mit dem Humanismus, wie ihn Luthers Schrift De servo arbitrio (1525) dokumentiert, hat er nicht vollzogen. Er hat das von Budé, Erasmus und Valla entwickelte Instrumentarium der neuen Wissenschaft, namentlich die wiederentdeckte Rhetorik und Topik, bewusst in den Dienst seiner Schriftauslegung und Hermeneutik gestellt und sich erstaunlich entspannt auf den Dialog mit anderen wissenschaftlichen Bemühungen eingelassen. Selbst als er schon längst in das reformatorische Lager übergewechselt war, hat er den Wahrheitsanspruch profaner „heidnischer“ Erkenntnisbemühungen anerkannt, ihn im Zeichen des Heiligen Geistes sogar ausdrücklich verteidigt und ausgerechnet im Kapitel über den unfreien Willen Sätze formuliert, die Luther nie über die Lippen gekommen wären: Sooft wir heidnische Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit entgegen. Daran erkennen wir, dass der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen […], dass er aber auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben ausgerüstet ist. Bedenken wir nun, dass der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten – sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes […]. Wie auch? Wollen wir etwa leugnen, dass den alten Rechtsgelehrten die Wahrheit geleuchtet habe, wo sie doch mit solcher Gerechtigkeit die bürgerliche Ordnung und Disziplin beschrieben haben? Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur blind gewesen? […] Nein, wir können die Schriften der Alten hierüber nicht ohne große Bewunderung lesen. […] So wollen wir nicht übersehen, dass diese Fähigkeiten herrlichste Gaben des Geistes Gottes sind, die er zum gemeinen Besten des Menschengeschlechts nach seinem Willen austeilt ]…] Da hat nun keiner zu fragen Anlass: Was haben denn die Gottlosen, die Gott völlig fern stehen, mit dem Heiligen Geist zu schaffen?31

Dieses Plädoyer ist im Geist des Humanismus geschrieben, dessen Einfluss sich, wie zu zeigen sein wird, in seinen späteren dogmatischen Erörterungen mühelos

30 Ebd. 19. 31 Inst II, 2,15; OS III, 258. 10–22.und 38–259.2.

Die Auseinandersetzung mit den „Nikodemiten“

nachweisen lässt, etwa in der Darstellung der Schöpfung als „Theater der Herrlichkeit Gottes“, in der Aufgliederung der Seelenvermögen in seiner Anthropologie oder in dem weltflüchtigen Ton seiner Eschatologie.

1.5

Die Auseinandersetzung mit den „Nikodemiten“

Während sich Calvin nach seiner Rückkehr aus Straßburg bei der Durchsetzung der Kirchenordnung, den Ordonnances Ecclésiastiques (1541), nach innen an seine Genfer Gemeinde wendet, gibt es in den 40er Jahren eine zweite Front, an der er sich (diesmal auch geographisch) nach außen herausgefordert sieht. Es geht um die stetig wachsende protestantische Bewegung in Frankreich, der neben Kreisen des Adels und der hohen Beamtenschaft auch aufgeschlossene humanistische Kreise nahe standen. Doch unter diesen Anhängern der ersten Stunde – zu ihnen gehörten neben Vertretern der Reformkatholiken (wie der ehemaligen Calvin-Freunde Nicolas Duchemin und Gerard Roussell) – gab es auch viele, die angesichts der drohenden Verfolgung weiter an der alte Kirche meinten festhalten zu können, den offenen Bruch mit ihr jedenfalls nicht riskierten. Calvin verglich diese Zögernden und Unentschlossenen, die ihre Überzeugung noch nicht mit allen Konsequenzen auch zu leben vermochten, in einer ironischen Anspielung mit der biblischen Gestalt des Nikodemus (Joh 3), der aus Furcht vor den Juden nur des Nachts zu Jesus kam. Damit war der Name geboren, mit dem er sie fortan bezeichnete. Ein genaues Bild dieser „nikodemitischen“ Gruppen, geschweige denn eine Identifikation, lässt sich – ebenso wie im Fall der hart angegriffenen Libertins – aus Calvins Traktaten bis heute nicht gewinnen.32 Schon Zeitgenossen wandten ein, dass diese polemischen Schriften der komplizierten Situation dieser Menschen kaum gerecht würden, weshalb sich in Calvins Darstellung die dort Angegriffenen nicht verstanden fühlten oder überhaupt nicht wiedererkannten. Indessen ist auch jenseits dieser historischen Zusammenhänge die Bedeutung dieser Auseinandersetzungen nicht leicht zu überschätzen. Sie hat das kämpferische Profil insbesondere der hugenottischen und frühen reformierten Gemeinden nachhaltig geprägt.33 Vor allem aber hat das im Zentrum dieser Kontroversen stehende offene Bekenntnis – verstanden als Test auf die Glaubwürdigkeit christlicher Existenz – den Weg der evangelischen Theologie und Kirche in den folgenden Jahrhunderten bis hin zur Konfrontation mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus maßgeblich

32 Vgl. hierzu die einschlägige detaillierte Studie von H. Scholl, Reformation und Politik (Anm. 21), 68–74. 33 Vgl. R. von Thadden/M. Magdelaine (Hg), Die Hugenotten, München (2.Aufl.) 1976.

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Calvin als Reformator Westeuropas

bestimmt.34 Das Programm der in diesen Jahren verfassten Streitschriften steckt bereits in dem Bibelzitat, das Calvin den schon erwähnten Sendschreiben als Motto vorangestellt hat: „Wie lange wollt ihr auf beiden Seiten hinken? Wenn der Herr Gott ist, stellt euch auf seine Seite, wenn aber Baal, so folget ihm!“ (1 Kön 8,21) Er will die Fronten klären, den Bruch mit Gottesdienst und Kultus der römischen Kirche vollziehen und versucht dieses Ziel mit einem Kunstgriff zu erreichen, der Stilisierung der katholischen Gebiete als Ägypten und Babylon, dem Inbegriff des Heidentums.35 Sein Angriff richtet sich gegen „abergläubische“ Zeremonien und Bräuche, die exemplarisch an der katholischen Messe, in Sonderheit an der Lehre von der Transsubstantiation vorgeführt werden: Mit Zeremonien, denen auch nur die leiseste Spur eines Frevels anhaftet, komm so wenig in Berührung wie mit einer Giftschlange […] Darunter rechne ich die Bilderverehrung, den Empfang der letzten Ölung , die Besprengung mit Weihwasser und dergleichen mehr. (Ebd. CO 5,253, CStA, 291.7–14)

Und im Blick auf das Abendmahl: Die frevelhafte Abgötterei liegt offen am Tage: Man bildet sich ein, das Brot nehme göttliche Natur an. Um es an Gottes Stelle anzubeten, wird es emporgehoben und von allen verehrt […] An Gottes Stelle, sage ich, wird eine Brotkruste zur Schau gestellt, angerufen und verehrt. Ja, man glaubt sogar an sie als wäre sie Gott! Das ist selbst den Heiden von keinem ihrer Bilder je in den Sinn gekommen! (Ebd. CO 5,257, CStA 1.2, 295. 2–11.)

Man begreift die Schärfe dieser Polemik, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich das Schicksal der Reformation in diesen Jahren an der Haltung Frankreichs entschied. Das deutsche Luthertum war – namentlich nachdem Tode Luthers (1546) – zu sehr mit eigenen inneren Lehrstreitigkeiten beschäftigt, als dass es die Kraft hätte aufbringen können, in diese Auseinandersetzungen, erst recht in die Herausforderungen der beginnenden Gegenreformation, auch nur als ein Orientierung gebender Pol einzugreifen. Im Ergebnis jedenfalls hat Calvins Abgrenzung gerade auch vom französischen Reformkatholizismus stärker als die Schüler Luthers oder die oberdeutschen Theologen in Straßburg den point of no return sichtbar gemacht und damit das konfessionelle Zeitalter heraufgeführt, zugleich freilich viele Blüten-

34 Dazu: M. Weinrich, Unbequeme, weil konsequente Theologie, in: Ders./U. Möller, Calvin heute, Neukirchen 2009, 79–95. 35 Epistolae Duae, CO 5,239; CStA 1.2, 277. 9 und 36.

Die Auseinandersetzung mit den „Nikodemiten“

träume, denen man im Blick auf eine erneuerte Kirche bis dahin guten Gewissens noch hatte nachhängen können, endgültig zerstört. Neu sind in diesen spannungsvollen Kontroversen nicht so sehr die Sachargumente. Calvin verweist mit Recht auf die Institutio, in der dies alles sorgfältiger und ausführlicher dargelegt sei. Neu sind die Konsequenzen, die hier für Gestalt und Aufbruch der Kirche mit prophetischem Selbstbewusstsein gezogen werden. Die beiden Sendschreiben sind nur ein Anfang. 1543 folgt die Schrift: „Was soll ein gläubiger Mann unter der Herrschaft des Papsttums machen?“36 , mit der Calvin auf die Anfrage eines uns unbekannten französischen Landsmannes reagiert. Dieser „keine Traktat“ ist in Ton und Inhalt kaum von dem Sendschreiben an Duchemin unterschieden, aber –man spürt die fortgeschrittene Stunde – im Sachargument härter. Calvin gibt einen vierfachen Rat: 1.Wenn möglich auswandern. 2. Vollständiger Rückzug aus dem „papistischen“ Gottesdienst. 3. Sündenbekenntnis, wenn einer doch noch die Messe besucht, damit das Gewissen nicht einschläft, und 4. beständige Bitte, dass Gott selbst einen Weg zeige, wo menschliche Weisheit keinen mehr sieht. Die Teilnehme an der römischen Messe – das ist der harte Kern – wird zum casus conscientiae erklärt, an dem sich jetzt Wahrheit und Glaubwürdigkeit der reformatorischen Bewegung entscheiden. Vollends die ein Jahr später von Genf ausgehende Schrift mit dem ironischen Titel: „Entschuldigungsschreiben an die Herren Nikodemiten“ (1544)37 , das vielleicht persönlichste, in pointiertem Ich-Stil verfasste Dokument Calvins, das alle Register der Überführung , der Überredung, des Bußrufs, auch des brillanten Humors zieht, hat hier ihr Zentrum und weist zugleich darüber hinaus. Es geht um den hohen Preis des Leidens, der in Frankreich für den Abschied von der Messe zu zahlen ist. Lässt er sich länger noch rechtfertigen? Vom sicheren Genf aus lasse sich, so die Gegner, wohlfeil gegen die „prudence charnelle“ anpredigen, aber in Paris? Calvin lenkt ein. Aus Unbedachtsamkeit soll sich niemand ins Leiden stürzen. Aber, so der Einwand: „Wenn wir mit Gott einen Vertrag schließen wollten, nichts für sein Wort zu erdulden: hieße das nicht, Christus umzuformen, um ihn so zu haben, wie es unser Fleisch gelüstet?“38 Christentum ohne Bekennen und darum ohne Leiden ist ein Phantom. Man wird diese kompromisslose Haltung nicht als Gesinnungsterror verdächtigen dürfen. Es ging Calvin um das Leben der Verfolgten: „Heute gibt es in jeder Ratsversammlung drei bis vier dieser Nikodemiten, die es zulassen, ohne ein Wörtlein zu sagen, dass ein armer Christ grausam zum Tode verurteilt wird. Und

36 « Que doit faire un homme fidèle entre les papistes ? », CO 6,540–579. 37 «Excuse de Jehan Calvin à Messieurs les Nicodemites » (1544), CO 6, 592–614; CStA 3, 222–265. Vgl. dazu die lehrreiche Analyse von H. Scholl, Reformation und Politik (Anm. 21), 70f. 38 Ebd. CO 6, 603f; CStA 3,245. 6–9.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Gott will doch, dass keiner von ihnen einem solchen Urteil zustimmt.“39 Es ist die Märtyrertheologie der Alten Kirche, die hier noch einmal ihre Stimme erhebt. Was ist der Ertrag dieser mühsamen Auseinandersetzungen? An erster Stelle dies: Calvin hat das Bekenntnis als Lebensvollzug der Gemeinde wieder entdeckt und zur Geltung gebracht. Es schließt Wahrheit und Existenzform zu einer unauflösbaren Einheit zusammen und zielt so auf die Gestalt der sichtbaren Kirche. Calvin hat es als Ausdruck ihrer Freiheit begriffen. Denn seine Freiheit realisiert der Christ, indem er seine Identität und ‚Ganzheit’ im Wort Gottes findet und als dessen Anspruch zum Zuge bringt: „Entweder wir sind ganz Gottes oder nur zum Teil. Gehören wir ihm ganz, dann wollen wir ihn auch ehren mit Körper und Geist.“40 In diesem Sinne führt „wahre Frömmigkeit zu wahrem Bekennen.“41 Für die Lebenspraxis bedeutet das: Was uns eben noch freigestellt war und im Blick auf unseren Glauben zu den „gleichgültigen Dingen“ (Adiaphora) gehörte, wird nun zu dem Ort an dem sich Wahrheit und Lüge scheiden. Hier gilt die Regel: Denn wie unsere Freiheit der Liebe unterworfen werden muss, so muss die Liebe selbst wiederum der Reinheit des Glaubens untergeordnet werden. Gewiss soll auch hier der Liebe Rechnung getragen werden, aber – [das ist die neue Erkenntnis] nur bis zum Altar!42

In dieser Erkenntnis und ihrer geschichtlichen Durchsetzung liegt der theologische Ertrag dieser mühsamen Jahre. Angewandt auf die Situation des französischen Protestantismus: Wird durch politischen Druck das Bekenntnis der Christen zum Schweigen gebracht, dann sind Fragen, die unter anderen Umständen zu den „Adiaphora“ gehören, nicht länger beliebig entscheidbar. Diese Konsequenz, für die man später den Begriff des Status confessionis geprägt hat, macht die im Wortsinn bahnbrechende, nämlich die den Weg der Reformation zu einer dauerhaften neuen Gestalt führende Bedeutung der nikodemitischen Schriften aus. Dennoch bleiben im Rückblick auf dieses schwierige Jahrzehnt einige Fragen offen: Hätte (und hat es faktisch) zur Restitution der Kirche in Frankreich nicht noch andere Wege gegeben als den calvinischen Kollisionskurs, der am Ende das konfessionelle Zeitalter herbeigeführt hat? Schwer zu beurteilen ist auch, ob der Vorwurf an die Humanisten, mit ihrer kritisch abwartenden Haltung Gottes Ehre zu verraten, den Nerv der Sache trifft. Calvin hat sich dazu hinreißen lassen, Rabelais, den herrlichsten aller Satiriker, einen Atheisten zu nennen, ein Urteil, das die Forschung inzwischen korrigiert hat. Hier zeigt sich etwas von der menschlichen 39 Ebd. CO 6, 609; CStA 3, 257. 40 Excuse CO 6, 593; CStA 3, 225. 22–24. 41 Begleitbrief (zu einer Sammlung seiner Streitschriften) an M. Luther, den dieser freilich nie erhalten hat: CO 12,7; CStA 8,100. 17f. 42 Inst III, 19,13; OS IV, 292. 19–22.

Die Auseinandersetzung mit den „Nikodemiten“

Grenze der Reformation und Calvins im Besonderen. „Über Calvins NikodemitenSchriften liegt die Tragik jener Zeit“, resümiert Hans Scholl, „die darin bestand, dass sich die humanen Kräfte nicht überzeugend und die Massen prägend artikulieren konnten und dass andererseits die religiöse Glaubensgewissheit nur zu leicht in theologischen Dogmatismus oder gar unversöhnlichen Fanatismus ausartete.“43 Nicht zu unterdrücken ist auch eine weitere Frage: War der Leidensweg der frühen reformierten Gemeinden – angefangen von der Verfolgung durch die französischen Könige bis zur Bartholomäusnacht in Paris (1572) – notwendig? Es war die Kirche Calvins, die ihn gegangen ist, und sie wäre ihn vermutlich kaum gegangen, hätte Calvin in seinen Schriften sie nicht mit jener Leidenschaft zum öffentlichen Bekenntnis aufgerufen und sie dadurch in einen absehbaren Konflikt mit der staatlichen Gewalt geführt. Denn durch die Entprivatisierung des Bekennens, sein Drängen auf ein öffentliches Bekenntnis, hat er den gallikanischen Staat, der die Kirche unter allen Umständen an die Krone binden wollte, politisch gespalten und in die tiefste Krise des Jahrhunderts geführt.44 Ein Zeugnis aus dem Jahr 1550 belegt, dass dies nicht einfach wider besseres Wissen geschah. Calvin berichtet von einem Gespräch mit dem Bischof Aquila, das 1540 stattfand: Der Bischof wollte mir das Herz brechen. Er sagte, wenn wir bei unserer Lehre blieben, sei es unmöglich, dass dies nicht im Waffenlärm ende. Sei aber einmal Krieg, dann sei es aus mit den schönen Künsten und Wissenschaften. Es bleibe dann nur noch Barbarei […] und die Religion, die wir verteidigten, gehe unter mit dem Rest.45

Wo also lag das Problem dieses Weges? Von heute aus gesehen, möchte man urteilen: darin, dass er den Konflikt nicht als das ansprach, was er war, als einen politischen Konflikt. Seine Streitschriften geben sich als rein religiöse Literatur aus. Tatschlich aber versuchte er, die Krone durch den protestantischen Adel einzukreisen. Er rief zum Bekenntnis auf, ohne zugleich die Herrschaftsverhältnisse in Frankreich in Frage zu stellen. Doch welcher Theologe des 16.Jahrhunderts hätte dies – Römer 13 vor Augen – vermocht? „Dieses Macht und Ordnungsdenken“, fasst Scholl zusammen, „verbunden mit einem Bekennen, das dieses Denken eigentlich sprengt, musste zur ausweglosen politischen Krise Frankreichs führen. […] Sobald gewichtige Teile der Machtausübenden im Sinne Calvins gegen den papistischen Gottesdienst Stellung bezogen, musste aus dem alttestamentlichen

43 H. Scholl, Reformation und Politik (Anm. 21), 77. 44 Ebd. 77. 45 Calvin, Trois Traités, Ed „Je sers“ (hg. von A.M. Schmidt), Paris 1934, 291.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Ruf: ‚Wie lange wollt ihr auf beiden Seiten hinken?’ das satanische Entweder-Oder des Bürgerkriegs werden.“46

1.6

Calvin als Ökumeniker47

Ein Begriff der Ökumene, wie er sich in den Einigungsbemühungen der Kirchen im letzten Jahrhundert herausgebildet hat, stand Calvin noch nicht zur Verfügung. Insofern läuft man leicht in Gefahr, Fragen an ihn heranzutragen, die er selbst gar nicht gestellt hat. Mit ihrem Problem jedoch sah er sich umso deutlicher konfrontiert. Denn es ist das Faktum der Reformation, das die Kirche gespalten hat, auch wenn er selbst diesen Vorwurf energisch bestritten hat. „Das schrecklichste aller Verbrechen“, argumentiert er gegen Kardinal Sadolet, „ist dies, dass wir uns daran gemacht hätten, Christi Braut zu zerreißen. Wenn das wahr wäre, gälten wir mit Recht Euch und der ganzen Welt für verloren“, und so gibt er den Vorwurf an Rom zurück:„Ich aber behaupte, die Zerspaltung, die Ihr uns fälschlicherweise vorwerft, ist bei Euch offen zu sehen und zwar […] sogar an Christus selbst.“48 . Calvin hat die notwendige und faktisch vollzogene Trennung auf die sozusagen radikalste Formel gebracht: Wenn die Kirche ihre Einheit um eines anderen Zieles willen verfolgt als der gemeinsamen Verantwortung für ihre Wahrheit und ihren Auftrag, dann gibt sie sich selbst auf. Deshalb stehen wir bis heute vor dem ökumenischen Problem: dem Widerspruch zwischen dem Bekenntnis zur Einheit der Kirche und der Wirklichkeit einer zerspaltenen Christenheit. Auch diesen Widerspruch hat Calvin schärfer empfunden als andere. Das nötigte ihn – und verbindet ihn auf paradoxe Weise mit Rom –, die Schranken einer Nationalkirche hinter sich zu lassen. Umso wichtiger war ihm der Konsens mit Luther und den Lutheranern: „Nichts wird lebhafter mein Wunsch sein, um nichts werde ich stärker besorgt sein, als dass ich mit allen deutschen Kirchen, die den Ruhm Christi und seines Heiligen Evangeliums verkündigt haben, auf alle Weise in Einigkeit leben darf.“49 Man hat

46 H. Scholl, a.a.O. 78. 47 Dazu: W. Nijenhuis, Calvinus oecumenicus. Calvijn en de Eenheid der Kerk in het Licht van zijn Briefwisseling, ’s Gravenhage 1959; G.W. Locher, Calvin, Anwalt der Ökumene, Zollikon 1960; J. Dempsey Douglass, Calvin in ecumenical context, in: D.K. McKim (Hg.), The Cambridge Companion to John Calvin, Cambridge 2006, 305–316; M. Weinrich, Johannes Calvin als Ökumeniker der Reformation, in: T. Jähnichen u. a. (Hg.) Calvin entdecken: Wirkungsgeschichte–Theologie–Sozialethik, Münster 2010, 81–101. 48 Ad Sadoleti Epistolam (1539), CO 5, 415; CStA 1.2, 425. 8–10 und 26–28. Nicht weniger scharf äußert er sich im Mahnschreiben an Karl V.; dazu: M. Weinrich (Anm. 34), 82f. 49 Zit. n. A.L. Herminjard, Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Bd. V, Nieukoop 1965,5.

Calvin als Ökumeniker

sein Widmungsschreiben an die Prediger von Sachsen (1556) zu den „eindrucksvollsten ökumenischen Dokumenten des 16. Jahrhunderts“ gezählt.50 Dort heißt es: Von dem einen Gott und der wahren rechten Art, ihm zu dienen […], wird ja überall bei uns die gleiche Lehre verkündet: Den einen Gott, unseren Vater, rufen wir im Vertrauen auf denselben Mittler an. Der gleiche Geist der Gotteskindschaft ist uns ein Unterpfand unseres zukünftigen Erbes, durch das gleiche Opfer hat Christus uns alle versöhnt […]. Da wäre es doch wunderlich, wenn Christus, den wir als unseren Frieden preisen, nicht auch dies bewirkte, dass wir auch auf Erden brüderlich Frieden halten.51

Bereits damals war Genf zu einem Zentrum der europäischen Ökumene geworden, zunächst rein äußerlich durch die Aufnahme evangelischer Flüchtlinge aus Frankreich, England, Schottland, den Niederlanden und Italien, weit bedeutsamer jedoch durch die Gründung der Akademie (1559), die eine große internationale Hörerschaft anzog und zum Ausgangspunkt einer ausgedehnten Korrespondenz mit Kirchen und Theologen auf dem ganzen Kontinent wurde. Calvin wendet sich mit seinen Briefen, Ratschlägen und Ermahnungen an nahezu alle damals bekannten Länder und Fürstenhäuser. Er korrespondiert mit den Flüchtlingsgemeinden in London, Wesel und Frankfurt, schreibt an den englischen König Edward VI. und beredet mit dem Erzbischof Thomas Cranmer aus Canterbury Pläne zu einem evangelischen Konzil: „Um der Einheit der Kirche willen“, schreibt er nach England, „wollte ich mich’s nicht verdrießen lassen, zehn Meere, wenn’s sein muss, zu durchqueren.“52 Er muss dieses Ansinnen aus gesundheitlichen Gründen und Rücksicht auf seine Genfer Gemeinde absagen, schaltet sich aber literarisch und brieflich umso intensiver in die osteuropäischen kirchlichen Fragen ein.53 Seine Korrespondenz ist ein ebenso lebendiger wir genauer Spiegel der kirchengeschichtlichen Bewegungen des so zerrissenen 16. Jahrhunderts: Die vergeblichen Unionsverhandlungen mit Rom, die erbitterten innerevangelischen Streitigkeiten um das Abendmahl, das Martyrium der Hugenotten – alles, was das Jahrhundert bewegt, ist in diesen Briefen präsent, auch die flankierenden Ereignisse der Weltpolitik, von denen er oft nur aus zweiter oder dritter Hand Kenntnis haben konnte. Wir sehen es mit den Augen Calvins, nicht in der Perspektive des objektiven Historikers, sondern dessen, der nach Kräften einzugreifen, zu helfen und zu vermitteln versucht. Das macht Calvin zu einem der ersten Ökumeniker des 50 W. Nijenhuis, Art. Calvin, TRE 7, Berlin/New York 1981, 568–592. hier: 577. 51 Widmungsschreiben zur „Secunda defensio […] contra Westphalum“ (5. Januar 1556), CO 9,17–19 (Schwarz 2, 339) 52 Brief an Thomas Cranmer, Ende April 1552, CStA 8, 207, 17–19 (Schwarz 2, Nr. 339) 53 Dazu ausführlich CStA 8 (Ökumenische Korrespondenz), 252–283.

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Calvin als Reformator Westeuropas

Protestantismus, der, das Ganze im Auge behaltend, sich noch einmal bemüht, die auseinanderstrebenden Kräfte zu einen. Anders als Luther und Bullinger, die sich von einem Austausch mit den römischen Kontrahenten nichts mehr versprachen, hat Calvin, damals als Delegierter Bucers, an den Religionsgesprächen der frühen 40er Jahre in Frankfurt (1539), Hagenau (1540) Worms (1540) und Regensburg (1541) teilgenommen. Eine Grenze der Verständigung sah er nur den Wiedertäufern und Antitrinitariern gegenüber. Seine ausführlichen brieflichen Berichte (vornehmlich an Farel) zeigen, mit welcher Aufmerksamkeit er nicht nur die theologischen Kontroversen, sondern auch ihre politischen Randbedingungen, die Interessen des Kaisers und der Landesfürsten, insbesondere die oft unmittelbar drohende Kriegsgefahr, verfolgt hat. So steht der Bericht über den Frankfurter Konvent ganz im Zeichen der gespannten äußeren Situation: „Die Unseren stellten Artikel auf, in denen sie zeigten, wie sie nur wider ihren Willen auf Kriegsgedanken gekommen sind, legten aber auch das erlittene Unrecht dar, das sie zu solchem Plan getrieben hatte.“54 Auch aus Hagenau erfährt man: „Ein Teil unserer Gegner verlangt nichts anderes als Krieg.“ Immerhin ist auch von kleinen theologischen Konzessionen (Priesterehe, Laienkelch) die Rede. Vor allem ist die aufgeschlossene Haltung des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied Calvin nicht entgangen: „Er (der Erzbischof) begreift sogar, dass die Kirche Reformen nötig hat, und sieht wohl, dass wir in der Wahrheit den anderen überlegen sind.“55 Aus Worms – „alle Schuld wurde uns zugeschoben“ – weiß er von Annäherungen der Brandenburger und Pfälzer in der Rechtfertigungsfrage zu berichten und lernt zu seiner Freude Melanchthon von einer anderen mutigen Seite kennen: „Er ist ein ganz anderer, als er vor vier Jahren war.“56 Insgesamt jedoch sind es ernüchternde Erfahrungen, die Calvin auf diesem frühen „ökumenischen“ Terrain macht. Kein Wunder, dass seine Erwartungen an das Konzil von Trient (1545) gegen Null gingen. Hinter all diesen Bemühungen steht zuletzt die Frage nach dem Verständnis der ökumenischen Einheit.57 Weinrich stellt zu Recht fest, dass es hier um ein anderes Konzept der Ökumene geht als jenes, um das wir uns heute auf dem Weg des Ausgleichs von Lehrdifferenzen oder der Suche nach gemeinsamen Stellungnahmen zu gesellschaftlichen bzw. politischen Fragen im Zeichen einer Konsens-Ökumene bemühen. Während wir hier nach unserer Verantwortung für die sichtbare Einheit der Kirche fragen, geht es Calvin in erster Linie um eine unseren Bemühungen

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Brief an Farel vom 16 März 1539,; CO 10/2, 327; zitiert in: CStA 8, 12. Brief an du Tailly vom 28. Juni 1540; CO 11, 66; zit. in CStA 8,12. Brief an Farel, Dezember 1540, CO 11, 139; Schwarz 2, Nr. 61). M. Beintker, Calvins theologisches Denken als ökumenische Herausforderung, in: M. Weinrich/ U. Möller (Hg.), Calvin heute, Neukirchen-Vluyn 2009, 151–167; Chr. Link, Calvin. Reformator Westeuropas, Bielefeld 2016, 104ff.

Calvin als Ökumeniker

vorausliegende Einheit, die „als solche nicht sichtbar wird und gerade deshalb von den Kirchen in ihrer Bedrängnis umso entschlossener zu bekennen ist“.58 Weinrich weist auf sieben ökumenische Kriterien hin, an deren wichtigste hier erinnert sei. Unaufgebbar ist die Katholizität, die weit über das Merkmal einer auf Rom fixierten Kirche hinausgeht und nicht an eine menschliche Institution gebunden werden kann. Calvin greift schon in der ersten Institutio (1536) mit Augustin auf die biblische Bestimmung dieses göttlichen Zusammenschlusses einer universalen Kirche zurück: Es ist eine ecclesia und societas und ein Volk Gottes, dessen Führer und Fürst Christus, unser Herr ist, wie das Haupt am Leibe. In ihm sind alle vor Grundlegung der Welt erwählt, um in Gottes Reich versammelt zu werden.59

Der Nachweis für das Vorhandensein einer wahren Kirche ist daher ihr Bekenntnis zu dem Gott, der die Kirche sammelt und zusammen hält (nicht aber ein von ihr entworfener Text, durch den sie ihre Einheit finden könnte). So formuliert Calvin in seinem Antwort- Schreiben an Kardinal Sadolet: Die Kirche ist die Gemeinschaft aller Heiligen, welche über den ganzen Erdkreis und durch alle Zeiten zerstreut, doch durch die eine Lehre Christi und den einen Geist verbunden ist und an der Einheit des Glaubens und brüderlicher Einheit festhält und sie pflegt.60

Er lässt es bewusst offen, ob diese Einheit (bestenfalls indirekt) sichtbar gemacht werden kann. Das oft zitierte kirchliche Amt gehört nach Inst IV zu den „äußeren Mitteln oder Beihilfen“. Es ist unverzichtbar für die Wahrnehmung der kirchlichen Aufgaben (Predigt, Lehre, Diakonie), hat aber gemessen an der göttlichen Leitung und Lenkung der Kirche einen „betont sekundären Charakter“.61 Anders als Luther hat Calvin die Erwartung an ein in Lehre und Leben einheitliches (homogenes) Corpus christianum verabschiedet. Jede Gemeinde, obwohl Teil der universalen katholischen Kirche, ist im Vollsinne ohne jeden Abstrich Kirche und deshalb im Prinzip für sich selbständig, sowohl was ihre Zeremonien als auch die Akzente ihrer Lehre betrifft. Denn „nicht alle Stücke der wahren Lehre sind

58 M. Weinrich, Calvin und die andere Ökumene, in: Die Reformierten. Das reformierte Quartalsmagazin 11 (2009), Nr. 4, 12–29. Ders., Johannes Calvin als Ökumeniker der Reformation (Anm.  47) 80–101, bes.83–92; L.Vischer, Pia conspiratio. Calvin on the unity of Christ’s Church (John Knox Series 12) Genf 2000. 59 Inst (1536), OS I, 86. 60 Ad Sadoleti Epistolam, CO 5, 394; CStA 1.2, 369. 6–10. 61 M. Weinrich, Calvin als Ökumeniker (Anm. 47), 86; Inst IV, 3,2; OS V, 44. 21–25.

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Calvin als Reformator Westeuropas

von gleicher Gestalt. […] Es gibt Lehrstücke über die in den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen.“62 Calvin vertritt in der Stärkung der Ortsgemeinde eine kongregationalistische Perspektive. „Es wäre unerhört (indignissimum), wenn wir in den Dingen, in denen der Herr uns Freiheit gelassen hat, […] eine sklavische Gleichförmigkeit erstreben wollten.“63 Er zitiert die schöne Sequenz von Cyprian: Eine Kirche ist es, aber in fruchtbarem Wachstum zerlegt sie sich in eine Vielheit, so wie es viele Sonnenstrahlen gibt, aber doch nur ein Licht, viele Zweige, aber nur einen Baum, der fest verwurzelt in der Erde steht […]. Nimm von der Sonne einen Strahl weg – die Einheit lässt sich nicht zerlegen! […] So ist es auch mit der Kirche. Über die ganze Erde ist sie ausgebreitet, und doch ist es nur ein Licht, das sich überall hin zerstreut.64

Die Kirche ist keine societas perfecta, keine vollkommene Gemeinschaft. Sie soll sich im Sinne Augustins als Corpus permixtum (mit „Bösen“ durchmischt) verstehen. Umso dringlicher betont Calvin das „semper reformanda“. Die „sich immer erneuernde“ Kirche wird immer nach ihrem Ursprung zurückfragen, um sich nicht in Eigenwilligkeiten zu verlieren und gerade so Spaltungen zu provozieren. Im Umgang mit der Bibel plädiert Calvin für die größtmögliche ökumenische Weite und bindet ihren Gebrauch – im Unterschied zu Luther – nicht an ein christologisches Kriterium („was Christum treibet“), sondern vertraut auf die Inspiration ihrer Autoren im „Umgang mit der ganzen Breite der biblischen Texte“ sodass das „sola scriptura“ von ihm „tatsächlich als Schriftprinzip in Geltung gesetzt“ wird.65

62 Inst IV, 1,12; OS V, 16. 6f.und 11f. 63 Vorrede zur lateinischen Ausgabe von „Katechismus und Glaubensbekenntnis“ von 1538, OS I, 434. 64 J. Calvin, Mahnschreiben an Karl V., zit. nach M. Simon (Hg.), Um Gottes Ehre, München 1924 (272–275), 279. 65 M. Weinrich, a.a.O. (Anm. 47), 91. Vgl. dazu Kapitel 2.11.

2.

Methodische und hermeneutische Überlegungen

A.

Methodische Anfragen

2.1

Eine neue Sicht auf Calvin: Zur neueren Forschungsgeschichte

Seit der Darstellung Wilhelm Niesels (1938)1 ist – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – der Versuch, die Theologie Calvins in ihrem Zusammenhang darzustellen, nicht mehr unternommen worden. Der Horizont, in dem das geschehen müsste, also Aufgabe und Zielsetzung eines solchen Unternehmens, hat sich nicht zuletzt im Zuge der neueren, insbesondere angelsächsischen Forschung verändert, auch wenn die klassischen Leitfragen nach wie vor aktuell sind: Welche dogmen- und theologiegeschichtlichen Traditionen hat Calvin aufgenommen? Wie hat er sie rezipiert, kritisch kommentiert oder auch abgewiesen? Der Ort jedoch, sie zu beantworten, hat sich verschoben. Nicht mehr die Institutio steht im Zentrum des Interesses, die Aufmerksamkeit richtet sich mit einer früher nicht gekannten Intensität auf den Kontext der exegetischen Kommentare und der Predigten, die schon rein äußerlich den Schwerpunkt seines Lebenswerks bilden. Erst auf diesem Hintergrund könne das Besondere und Individuelle seiner theologischen Arbeit in schärferen Konturen als Licht treten. Einen sehr viel größeren Stellenwert gewinnen damit auch die großen geschichtlichen Auseinandersetzungen und Kontroversen, die Calvin teils selber provoziert, bzw. in die er sich teils selber hat hineinziehen lassen. Denn die genaue Kenntnis der Situation, aus der heraus ein argumentierender Text entstanden ist, ist eine unerlässliche Voraussetzung, ihn „richtig“ zu verstehen. Der neue Akzent, nach dem Theologieverständnis Calvins zu fragen, lässt sich dann so charakterisieren: Es käme darauf an, den „fremden“ Ort des 16. Jahrhunderts, des damals Gewesenen, des dort Wichtigen und Umstrittenen aufzusuchen und das Typische der einstmals ausgetragenen Konfrontationen herauszuarbeiten. Erst dann könne sich die Frage nach den Möglichkeiten einer gegenwärtigen Rezeption stellen. Es geht in der neueren Diskussion, so gesehen, um eine Wende von der Dogmatik zur Historik. Tatsächlich hat sich der Schwerpunkt der Calvin-Forschung sich in den letzten Jahrzehnten – ungeachtet der vielen Arbeiten, die anlässlich des 500. Jubiläums (2009) in Deutschland und in den Niederlanden erschienen sind – in den angelsächsischen Raum verlagert. Dabei hat sich das Bild der Entwicklung des calvinischen Denkens erheblich gewandelt. Es ist, wie insbesondere die bahnbrechenden Studien

1 W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938.

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Methodische Anfragen

von Richard A. Muller gezeigt haben, sehr viel komplizierter geworden.2 Bisher unangefochtene Gewissheiten, etwa die Sicht, die in Calvin den ersten Systematiker der Reformation meinte sehen zu können, sind au fond in Frage gestellt worden. An die Stelle der vorwiegend dogmatisch interessierten ist eine sehr viel stärker historisch orientierte Betrachtungsweise getreten, die sich auf den synchronen und des weiteren erst dann auch auf den diachronen Kontext seines Denkens konzentriert und sich deshalb mit besonderer Intensität auch den methodischen Problemen seiner Arbeit zuwendet. Zwei Fragen stehen hier im Vordergrund: Kann man Calvin einen Systematiker nennen? Und kann man sich dafür auf die Institutio als maßgebliche Quelle berufen? „Calvin war kein Lehrer systematischer oder dogmatischer Theologie“, erklärt R.A. Muller. Sein in der Institutio entfaltetes „System dogmatischer Suchformeln (loci communes) und Disputationen [sei] in gewissem Sinn [nur] eine Vorbereitung seiner Leser auf die Begegnung mit dem Text [der Schrift]“.3 Calvin, so weitere Stimmen, hat in der Akademie keine Vorlesungen über lehrhafte Inhalte angeboten. Ganz anders als seine Kommentare entstand die Institutio nicht direkt aus seiner Arbeit im Hörsaal, sondern ging aus der anschließenden Diskussion exegetischer Resultate hervor. Sie blieb gemessen an der kontinuierlichen Arbeit der Schriftauslegung „gewissermaßen untergeordnet“.4 Sie sei, verglichen mit den Kommentaren und der Fülle überlieferter Predigten nur ein und nicht einmal das aussagekräftigste Werk Calvins und müsse daher im Licht seiner exegetischen und homiletischen Arbeiten gelesen werden. Hinzu kommt – eine sehr viel ältere Erkenntnis5 –, dass Calvin (anders als Luther) kein Materialprinzip seiner Theologie formuliert hat. Von der bekannten These Alexander Schweizers, der die Prädestinationslehre als ihr „Zentraldogma“ meinte herausstellen zu können6 , hat sich die Forschung längst getrennt. Andererseits ist die von William Bouwsma wiederholt vertretene Ansicht, „ein Systematiker Calvin wäre ein Anachronismus, da es im16.Jahrhundert keine irgendwie bedeutenden systematischen Denker gegeben habe“7 , eine schlichte Verzeichnung. Ebenso wenig treffen einseitig vorgeschlagene Etikettierungen wie die einer pastoralen, 2 Dazu insbesondere: R.A, Muller, The Unaccommodated Calvin. Studies in the Foundation of a Theological Tradition, New York: Oxford University Press, 2000. 3 R.A. Muller, ebd. 106. Ähnlich auch B.G. Armstrong, The Nature and Structure of Calvin’s Theology: Another Look; in: B. Van der Welt (Hg), John Calvin’s Institutes: His Opus Magnum, Potchefstroom 1986, 55–81. 4 D.C. Steinmetz, Calvin in Context, New York 1995, 19. Vgl. auch Chr. Strohm, Das Theologieverständnis bei Calvin, ZThK 98,2001 (310–343), 312f. 5 H. Bauke, Das Problem der Theologie Calvins, Leipzig 1922. 6 A. Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, 2 Bde., Zürich 1854–56. 7 W. Bouwsma, John Calvin. A Sixteenth Century Portrait, New York 1988, 5.

Eine neue Sicht auf Calvin: Zur neueren Forschungsgeschichte

frömmigkeitsgeschichtlich ausgerichteten oder rhetorischen Theologie zu, obwohl sich all diese Elemente in der Institutio reichlich nachweisen lassen. Die modernen Begriffe „systematische“ bzw. „dogmatische Theologie“ aber standen Calvins Zeit noch nicht zur Verfügung. Muller spricht von einem Vorläufer dessen, was man im 17. Jahrhundert als ein „System der Theologie“ zu bezeichnen begann.8 Unbestritten ist jedoch, ob oder gar dass Calvin seit der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) dies Buch zur Entlastung und Ergänzung seiner exegetischen Vorlesungen als eine Art Handbuch betrachtet hat, in dem er seine dogmatischen Anschauungen im Zusammenhang darlegen konnte9 , wobei man beachten muss, dass es ihm in der Regel dabei um die Lehre der Kirche, nicht primär um seine eigene Auffassung zu tun war. So gibt es in seinem Werk eine klare Unterscheidung der literarischen Gattungen: Vorlesung, Kommentar, Traktat, Predigt und eben Institutio, was allerdings nicht bedeutet, dass die Aussagen der letzteren einen höheren Stellenwert hätten als jene, die sich in den anderen Zusammenhängen finden. Nun richtet sich die unverkennbare Polemik namentlich der amerikanischen Autoren, die das Thema: „Systematik: ja oder nein“ überhaupt erst auf die Agenda gesetzt haben, vornehmlich gegen Tendenzen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Calvins Denken am Leitfaden spezifisch dogmatischer Themen zu analysieren10 , ihn also, wie man das bei Schleiermacher oder Tillich wohl tun muss, allein unter dem Aspekt der Lehre zu lesen. Dieses Verdikt einer Überfremdung soll im Besonderen die von Karl Barth initiierte „neo-othodoxe“, wie man in Amerika zu sagen pflegt, Calvin-Renaissance der späten 20er Jahre treffen, für die exemplarisch Wilhelm Niesels „Theologie Calvins“ (1938) stehe.11 Schon die Frage nach Calvins „Lehre vom Menschen“, seiner „Lehre der Prädestination“ oder seiner „Lehre von Wort und Sakrament“ habe den „ironischen Effekt“, das gegenwärtige Gewicht (solidity) dieser Themen für etwas in Anspruch zunehmen, „was im 16. Jahrhundert gerade nicht an der Zeit (obvious) war“.12 Hier spricht der Historiker, dessen primäres Interesse der Aufgabe gilt, Calvin in den Horizont des 16. Jahrhunderts zurückzustellen und ihn gewissermaßen gegen seine alten und modernen Interpreten in Schutz zu nehmen. Diese Historisierung hat freilich zur Folge, dass 8 R.A. Muller, a.a.O.101. 9 So seine Vorrede an die Leser von 1539 (zit. in: OS III, 6.18–25). Sie ist auch in die letzte Ausgabe von 1559 übernommen worden. 10 T.H.L. Parker, The Approach to Calvin, in: Evangelical Quarterly 16 (1944), 169: “Such a method was abhorrent to [Calvin’s] mind”. 11 R.A. Muller, a.a.O. 7: “Der Fehler dieser besonderen (particular) Annäherung an Calvins Denken hat unglücklicherweise nicht zu einer Ausscheidung (rejection) theologischer Netze geführt, sondern zu einem Ersatz (replacement) des Barth-Brunnerschen Netzes mit anderen dogmatischen Konstruktionen wie zum Beispiel einer Spannung zwischen weisheitlicher und evangelischer Annäherung in der Theologie“. 12 Ebd. 7.

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Methodische Anfragen

sich die Frage, wie wir ihn heute rezipieren können und was – vielleicht – von ihm zu lernen sei, kaum mehr melden kann. Im Zuge dieser kritischen „Revision“ sind auch alte Streitfragen neu in Bewegung gekommen. Sie betreffen insbesondere Calvins Verhältnis zu antiken und mittelalterlichen Traditionen, aber auch seine Abhängigkeit von anderen Reformatoren. Während sich Luther von der „philosophische Umklammerung“ der mittelalterlichen Theologie gelöst hat13 , so dass man sein Reformwerk unproblematisch als eine „Transformation“ dieses Erbes darstellen kann, sei Calvins Verhältnis zu diesen Traditionen „um vieles stärker gebrochen“.14 Wenn Calvin die Bibel las, tat er es in einem „unentrinnbaren Dialog mit den alten Philosophen Athens und Roms, ihrer Weisheit, ihren Fehlern, ihrer guten und schlechten Ideen“15 und so hätte er es – wenn auch weniger intensiv – mit patristischen und mittelalterlichen Autoren gehalten. Die eigentlichen Scholastiker hat er viel besser gekannt, als man gemeinhin annimmt. So erinnere schon die Gliederung der Institutio (1559) in vier Bücher nicht nur äußerlich, sondern auch in der inhaltlichen Füllung auffallend an das viergliedrige Sentenzenwerk des Lombarden.16 Calvin – so die These – hat seine Theologie nicht in einem entschiedenen Gegensatz zum spätmittelalterlichen Katholizismus formuliert; überhaupt hätte die Reformation vergleichsweise nur wenige der großen theologischen Loci (Rechtfertigung, Sakramente, Kirche) verändert. Die Artikel der Trinität, der Schöpfung, der Prädestination und Vorsehung seien in ihrem Hauptstrom sogar ohne wesentliche Modifikationen übernommen worden. Selbst das umstrittene Verhältnis zu Duns Scotus, auf den die Unterscheidung von potentia absoluta und ordinata Gottes zurückgeht, wird trotz der von Calvin beanstandeten Spekulationen heute mehrheitlich zugunsten eines positiven Einflusses beurteilt.17 Die produktive Aufnahme antiker Quellen ist tatsächlich vor allem in der Anthropologie mit Händen zu greifen. Mit Aristoteles kann er von der Substanz (essentia) der Seele sprechen (CO 5,177) und ihre „Teile“ einander so zuordnen, dass der Wille zwischen Vernunft (ratio) und Sinnlichkeit zu stehen kommt (Inst II,2,12), wodurch ihre Wahlfreiheit begründet wird, die durch das Faktum der Sünde allerdings sofort wieder

13 Vgl. dazu das immer noch lesenswerte Buch von W. Link: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München 1940. 14 V. Leppin, Calvins Institutio vor dem Hintergrund der Theologie des Mittelalters gelesen, in: H. Selderhuis (Hg), Calvin – Saint or Sinner, Tübingen 2010, 173–184, 173. 15 D.C. Steinmetz, Calvin as Biblical Interpreter among the Ancient Philosophers, in: EvTh 69, 2009 (123–132), 123. 16 Dazu ausführlich: R.A. Muller, a.a.O. 180f, sowie V. Leppin, a.a.O. 174f. 17 So insbesondere F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen 1968, 106–108; vgl. auch V. Leppin, a.a.O. 176.

Die Arbeit an Methodenfragen

eingeschränkt wird.18 Konstitutiv für Calvins Denken sind diese Anleihen jedoch nicht – mit einer einzigen relevanten Ausnahme: der Begründung der „allgemeinen Gotteserkenntnis“ in den ersten fünf Kapiteln der Institutio (1559), die auf den Spuren der mittelalterlichen theologia naturalis, als „erkenntnistheoretischem Vorbau“ (Leppin) auf die Offenbarung zusteuert.

2.2

Die Arbeit an Methodenfragen

Zu den bemerkenswerten Neuerungen der angelsächsischen Forschung gehört das profilierte Interesse am methodischen Vorgehen Calvins. Die hier namhaft zu machenden Entscheidungen fallen in die Straßburger Zeit, die, was heute niemand bestreitet, durch die gemeinsamen Jahre mit Martin Bucer derart prägend für seine Entwicklung geworden sind, dass Jaques Courvoisier urteilte, sie hätten Calvin erst zu Calvin gemacht.19 Denn von keinem anderen Theologen nächst Luther ist er so entscheidend angeregt worden wie eben von Bucer und zwar gerade auf dem für ihn so zentralen Feld der Schriftauslegung. Hier ist der Römerbrief-Kommentar entstanden (1540), der einen anerkannt großen Einfluss auf die Neubearbeitung der Institutio (1539) gehabt hat. Es ist nicht zuletzt die Methode, die diesen Kommentar von den zeitgenössischen „modernen“ Auslegungen (Melanchton, Bucer, Bullinger) unterscheidet. Hier kommt das in der Renaissance neu erwachte Interesse für die antike Rhetorik voll zum Zuge. Denn jeder Ausleger steht vor einem zweifachen Problem: Wie kommt man zu einem angemessenen Verständnis des Textes, das dessen Skopus, vor allem aber die Beziehung jedes einzelnen Teilstücks zum Zentrum des Ganzen, im Blick behält? Und wie wird das so gewonnene Verständnis der Leserschaft erschlossen? Was Calvin von seinen reformatorischen Vorbildern unterscheidet, ist sein schärfer ausgeprägtes Bewusstsein für die hermeneutischen Probleme der Schriftauslegung, etwa die Frage nach dem Verhältnis der kirchlichen Lehrtradition zur Schrift, oder das Bewusstsein für Nähe und Fremdheit des biblischen Textes zur eigenen Gegenwart. Die wichtigste Tugend der Auslegung ist daher die perspicua brevitas.20 Sie ist nicht nur ein auf den eiligen Leser zielendes schriftstellerisches Ideal, sondern hat den Sinn eines methodischen

18 Dazu ausführlich Chr. Link, Die Finalität des Menschen. Zur Perspektive der Anthropologie Calvins, in: H. Selderhuis (Hg), Calvinus Praeceptor Ecclesiae (Internationaler Calvinkongress, Princeton 2002), Genève 2004, 159–178). 19 J. Courvoisier, Les cathéchismes de Genève et de Strasbourg. Etude sur le développement de la pensée de Calvin, in: Bulletin de la société du protestantisme francais 84, 1935, 107; Chr. Strohm, Beobachtungen zur Eigenart der Theologie Calvins, in: EvTh 69, 2009 (85–100), 90. 20 Vorrede zum Römerbrief, CO 10 b, 402; CStA 5.1, 16.7.

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Programms. „Perspicuitas“ ist die lateinische Übersetzung (Quintilian) des griechischen „enargeia“ und meint das rednerische Vor-Augen-Führen eines Sachverhalts, vergleichbar der bei Calvin häufig gebrauchten „evidentia.“21 Nun weist der dem „Argument“ der Römerbrief-Auslegung vorangestellte Satz: „Der Brief als ganzer ist Leitfaden der Methode“ (Epistola tota sic methodica est)22 noch auf eine weitere wichtige, darüber hinausgehende Zielsetzung. Ihre Bedeutung zeigt sich in der durchgreifenden Neubearbeitung der zweiten Ausgabe der Institutio (1539), die in derselben Zeit fertig gestellt wurde. Man darf von einem schriftstellerischen Programm sprechen, das mit dem „Römerbrief “ beginnt und dem Calvin zeitlebens treu geblieben ist. Während die erste Institutio (1536) ein katechetischer Entwurf ist, orientiert am Kleinen Katechismus Luthers – sie will die Grundbegriffe wahrer Frömmigkeit lehren und ist zugleich ein apologetisches Manifest23 – zeigt das Vorwort zur zweiten Ausgabe – es ist in enger zeitlicher Nähe zur Vorrede des Römerbriefs (1540) verfasst – dass Calvin seine ursprüngliche Absicht neu bestimmt und verändert hat. Aus dem katechetisch angelegten Kompendium ist jetzt ein anspruchsvoller, dogmatisch orientierter hermeneutischer Leitfaden für Lektüre und Studium der Schrift zum Gebrauch für Pfarramtskandidaten geworden: Weiterhin war es meine Absicht in dieser Arbeit, Kandidaten der Theologie so auf die Lektüre des göttlichen Wortes vorzubereiten und zu unterrichten, dass sie einen leichten Zugang dazu hätten und sicheren Fußes darin fortschreiten könnten. Denn ich glaube, die Summe der Religion in all ihren Teilen so zusammengefasst und in solcher Ordnung dargestellt zu haben, dass, wenn einer sich daran hält, es ihm nicht schwer fallen wird, festzustellen, was in der Schrift vornehmlich zu suchen ist und auf welches Ziel ihre Inhalte zu beziehen sind […] Und wenn ich nachher Schriftauslegungen herausgebe, werde ich es nicht nötig haben, lange Ausführungen zu dogmatischen Fragen anzustellen oder in Gemeinplätze auszuufern, sondern kann mich kurz fassen. (CO 1, 256; zit. in: CStA 5.1,2f.)

In der Vorrede zum Römerbrief-Kommentar bekennt sich Calvin zur Maxime der perspicua brevitas in Form einer knappen fortlaufenden Exegese des biblischen Textes, „ohne die Studierenden mit weitschweifigen [dogmatischen] Erörterungen über die Maßen in Anspruch zu nehmen“.24 Im zitierten Vorwort der Institutio (1539) betont er, das Buch sei so eingerichtet, dass es die Schriftauslegung von der Aufgabe entlaste, lange Disputationen zu entwickeln, um die Leser an den

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Dazu ausführlich: P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen 1994, 94–98. CO 49,1; CStA 5.1, 26.14. Vgl. das Vorwort zum Psalmenkommentar, CO 31,24; CStA 6,27.28ff. Vorrede zum Römerbrief, CO 10 b, 403; CStA 5.1, 17.16f.

Die Arbeit an Methodenfragen

Text heranzuführen. Es geht ihm also um eine klare Arbeitsteilung derart, dass die vorgängige Suche nach bestimmten Themen und Fragepunkten (loci)25 Aufgabe der fortlaufenden Textinterpretation ist, die Ausarbeitung allgemeiner dogmatischer Fragen und deren ausführliche Erörterung hingegen Sache der Institutio. . Das ist, sehe ich recht, der wichtigste Ertrag der neueren Forschung. Darin steckt zugleich ein subtiler Tadel an Melanchthon, dem „Erfinder“ der Loci-Methode. Indem Calvin der Institutio die Ausarbeitung der Loci vorbehält, macht er zugleich gegen ihn geltend, dass ein Kommentator mehr zu tun hat, als seinen Text rhetorisch zu analysieren und sich auf ausgewählte dogmatische Probleme zu beschränken. Vielmehr sei beides nötig, um das zu erreichen, was die Neubearbeitung (1539) in ihrer Überschrift verspricht: eine Unterweisung in der christlichen Religion, die erst „jetzt zum ersten Mal tatsächlich ihrem Titel entspricht“. Sie trägt eine „Ordnung des Lehrens“ (ordo recte docendi) vor, der gemäß die einzelnen Loci so angeordnet und organisiert sind, dass „die Ordnung der göttlichen Weisheit“ als die „zwischen allen Teilen schönst mögliche Ordnung“ sichtbar wird.26 Das – so Muller – ist der systematische Aspekt der Methode Calvins.27 Thomas H.L. Parker hat sie als einen Meilenstein der Suche „nach jener Form gewürdigt, die seine Theologie am besten zum Ausdruck bringt“, und fährt fort: „Trotz ihrer Frische und Brillanz, trotz der Klarheit und Zuverlässigkeit ihrer französischen Übersetzung entgeht fast nur diese (1939er) Ausgabe [der Gefahr], eine Sammlung beziehungslos nebeneinander stehender Loci communes zu sein.“28 Was folgt daraus für die Darstellung der Theologie Calvins? Sie kann sich – so die wichtigste Einsicht – nicht allein an der Institutio orientieren. Die These, dass in diesem Werk Calvin „vollständig enthalten sei“29 , auch in der schwächeren Version, dass „sich in den Kommentaren nichts findet, was nicht auch in die Institutio eingegangen sei“30 , wird heute kaum noch vertreten. Elsie A. McKee spricht zu

25 Loci bzw. Topoi sind die Form, in der Melanchthon seine Theologie dargestellt hat. Loci bestehen in „rahmenmäßigen Suchformeln, die zum Finden eines passenden Gedankens führen können“ (H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 1960, § 260). Denn „wer nach Argumenten sucht, die ein Problem stringent entscheiden, muss, wie ein Jäger den Standort des Wildes, wissen, wo die nötigen Gedanken zum Beweis stehen“ (H.-G. Geyer, Von der Geburt des wahren Menschen. Probleme aus den Anfängen der Theologie Melanchthons, Neukirchen 1965, 49. 26 So heißt es in Inst (1559) I,8,1; OS III, 72.8–12. 27 R.A. Muller, a.a.O, 28f, 102ff. Vgl. R.S. Wallace, Calvin’s Approach to Theology, in: Nigel Cameron (Hg), The Challenge of Evangelical Theology. Essays in Approach and Method, Edinburgh 1987, 137–141. 28 T.H.L. Parker, John Calvin. A Biography, Philadelphia 1995, 105. 29 Imbart de la Tour, Les origines de la réforme IV: Calvin et L’Institutio Chrétienne, Paris (1905–35), 55. 30 T.H.L. Parker, The Doctrine of the Knowledge of God, Grand Rapids, 1952, 3.

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Recht von einem „komplementären“, ja „symbiotischen“ Verhältnis31 , und Richard Stauffer hat insbesondere auf die Bedeutung der nahezu 800 zu Calvins Lebzeiten veröffentlichten Predigten hingewiesen.32 Gerade hier sei der zeitgenössische Kontext seines Lebenswerks am sichersten zu erkennen. Dass in diesen verschiedenen literarischen Gattungen alle lehrhaften Aussagen harmonisch zueinander „passen“, wird man von vornherein nicht erwarten dürfen. Dogmatisch motivierte „Muster“ jedenfalls, an denen allzu viele Studien Calvins „Lehre“ meinten prüfen zu können, haben sich oft als irreführend erwiesen. Doch auch wenn sich die Forschung heute auf die Jahre 1537–1541 als die anerkanntermaßen entscheidende Periode im Schaffen Calvins konzentriert – in diese Zeit, in der er aus dem Schatten Luthers heraustritt, fällt die Bekanntschaft mit Melanchthons Loci (1535), ein Schlüssel seiner eigenen Entwicklung –, darf man die Institutio, die bis in ihre letzten Fassung (1559) die von ihm 1539 entworfene paulinische Ordnung bewahrt hat, nicht unterschätzen. Warum hätte Calvin sonst noch in seinen schwersten Krankheitsjahren an ihrer Vollendung gearbeitet? Schwierig ist allerdings mit dem von Richard Muller aufgestellten Beurteilungskriterium umzugehen, wonach in einem Streitfall, der von Calvin nicht eigens als ein spezifisch theologischer Locus verstanden und gekennzeichnet ist – dazu rechnet er den Umfang „natürlicher Theologie“ in einem christlichen Kontext oder das Thema des Bundes – die Institutio überhaupt keinen Maßstab im Blick auf Calvins Denken liefere.33 Ist nicht gerade die Behandlung dieser Themen, die so etwas wie den kategorialen Rahmen seiner materialen Erörterungen bilden, auch wenn sie in keinem seiner Katechismen erscheinen, in einem ganz besonderen Maße für sein Verständnis der Theologie aufschlussreich? Dazu zähle ich die Fragen der Hermeneutik etwa nach dem Verhältnis von Gottesund Selbsterkenntnis, die Betrachtung (meditatio) des zukünftigen Lebens, die Bedeutung der Ehre Gottes oder die Frage der christlichen Freiheit. Damit stehen wir bei der von jeher aufgeworfenen, bisher aber noch nie befriedigend beantworteten Frage nach einem Zentrum, einem organisierenden Prinzip oder wenigstens einem roten Faden der Theologie Calvins. Was nach allen (vergeblichen) Bemühungen erreichbar zu sein scheint, ist, folgt man einem Vorschlag Christoph Strohms, der Versuch, Calvins Theologieverständnis am Leitfaden der

31 E.A. McKee, Exegesis, Theology and Development in Calvin’s Institutio. A Methodological Suggestion, in: Historical Studies in Honor of Edward A. Dowey, Louisville 1989, 144–172. 32 R. Stauffer, Un Calvin Méconnu: Le Prédicateur de Genève, in: Bulletin de la Société d’Histoire du Protestantisme Français 123, 1977, 186f, 190. Vgl. auch A. Thiel, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium , Neukirchen 1999. 33 R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin, New York 2000, 186.

Die Arbeit an Methodenfragen

„Frage nach der Eigenart und nach der Mitte seiner Theologie“ zu erörtern.34 Ein solcher Vorschlag bleibt an den historischen Horizont des 16. Jahrhunderts gebunden. Er braucht kein Materialprinzip zu unterstellen, braucht sich nicht von theologischen Interessen der (bzw. des) Interpreten abhängig zu machen, sondern kann sich auf „Formalstrukturen“ und inhaltliche „Schwerpunktsetzungen“ konzentrieren. Man sollte die Eigenart daher nicht an bestimmten Themenfeldern (Prädestination oder Abendmahl im 19., der Christologie im 20. Jahrhundert) festmachen, sondern sich vor Augen halten, dass Calvin in seiner Schriftstellerei mehr auf Lehre und Leben der Kirche blickt als auf die Originalität seiner eigenen Arbeit. Zudem verhindert schon die Konzentration auf die sehr verschiedene Eigenaussage der einzelnen biblischen Schriften – die coelestis doctrina ist Ausgangspunkt aller wahren Religion, Frömmigkeit und Gottesverehrung – die Ausbildung eines übergeordneten Brennpunktes, der, vergleichbar der „Rechtfertigung“ Luthers, eine Art perspektivierendes Zentrum für das Gesamt seiner theologischen Aussagen bilden könnte. Schon der Begriff Theologie, der in der Institutio und den Kommentaren kaum verwendet wird, ist negativ besetzt.35 Er bezeichnet im Widmungsschreiben an den französischen König die Lehre der Gegner und ist überdies durch den spekulativen Gebrauch der Scholastiker diskreditiert. Stattdessen übernimmt Calvin von der römischen Antike und den lateinischen Kirchenvätern den „wertneutralen“ Begriff der Religion, der „den notwendig relationalen und existentiellen Charakter des Redens von Gott“ bewahrt und nun in seiner positiven Fassung als religio vera mit der „himmlischen Lehre“ (coelestis doctrina) identifiziert wird.36 Ihr Fundament ist die Heilige Schrift, die ihre höchste Beglaubigung in der „Person des redenden Gottes“ (Dei loquentis persona) findet.37 Dabei zeigt sich ein weiteres wichtiges Formmerkmal dieser Theologie, das sich jedenfalls ihrer Eigenart zurechnen ließe. Gottes Reden bewegt sich in der Spannung zweier Pole, für die die Schlüsselbegriffe der maiestas und der accomodatio stehen38 : Hier der weltüberlegene, uns entzogene Schöpfer, dort der in Christus uns nahe gekommene Erlöser, was bekanntermaßen die (umstrittene) These einer zweifachen Gotteserkenntnis (Inst I,2,1) zur Folge hat. Die Institutio beginnt mit der Entfaltung der Schöpfungswerke, in denen sich die Herrlichkeit Gottes den Menschen geöffnet hat. Doch „sein Wesen (essentia) bleibt unbegreiflich, so dass seine Gottheit allem Verstehen des Menschen völlig unerreichbar ist“ (I,5,1).

34 Chr. Strohm, Das Theologieverständnis bei Calvin und in der frühen reformierten Orthodoxie, in: ZThK 98, 2001 (310–343), 322 sowie Ders., Beobachtungen zur Eigenart der Theologie Calvins, EvTh 69, 2009, 85–100. 35 Ebd. Theologieverständnis, 314ff. 36 Ebd. 316f. 37 Inst (1559) I,7,4; OS III, 68.29f. 38 Chr. Strohm, Eigenart der Theologie Calvins, 94f.

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Erst die „eigentliche“, im zweiten und dritten Buch entfaltete Lehre (propria fidei doctrina) erörtert, dass und wie sich dieser Gott in Christus unserer Fassungskraft zugänglich gemacht hat. Das geschieht jedoch nicht schon in einem Durchgang durch die klassische Christologie. Der entscheidende Punkt, auf den die Darstellung zielgerade hinausläuft, ist vielmehr der Zusammenschluss Christi, seine Einigung mit uns, die unio mystica cum Christo, die dann im Abendmahl ihren symbolischen Ausdruck findet: „Er muss unser Eigentum werden und in uns wohnen.“39 Sie ist das verborgene Werk (arcana operatio) des Heiligen Geistes, das Calvin in einer ganz anderen Weite und Tiefe gewürdigt hat als die Reformatoren vor und neben ihm. Hier, so hat Gottfried Locher geurteilt, in dieser geistlichen Gemeinschaft mit Christus, schlägt das „Herz“ des Genfer Reformators, hier, wenn irgendwo, stehen wir jedenfalls in der Mitte seiner Theologie.40 Auf dieses existentielle Moment hat man mit Recht immer wieder hingewiesen. Dazu gehört auch die Leidenschaft der Erkenntnis Gottes als Schöpfer und als Erlöser, die den beiden ersten Büchern der Institutio den Namen gegeben hat und die ganz sicher der unverwechselbaren Eigenart dieses theologischen Entwurfes zuzurechnen ist. Nicht zuletzt zähle ich dazu auch die hermeneutischen Entscheidungen, von denen im folgenden Abschnitt zu reden ist. Der Respekt vor diesem historisch Besonderen, dem Kern dieser Theologie, sollte darum nicht dazu verführen, den calvinischen Texten in der für den Historismus charakteristischen Distanz des interesselosen Zuschauers gegenüber zu treten und die Wahrheitsfrage gleichsam zu suspendieren. Zum Verstehen gehört die Verständigung. Das ist gerade von Calvin selbst zu lernen. Er versteht die Heilige Schrift als Anrede Gottes an den Menschen. Das Ziel seiner unermüdlichen Arbeit an den biblischen Texten ist der ordo recte docendi, die Belehrung, sei es als Ermahnung, Erbauung, Tröstung oder polemische Abgrenzung. Er steht im Gespräch mit Paulus, mit seinen Gemeinden und mit den Adressaten seiner Traktate. Wer ihn verstehen will, muss in dieses Gespräch eintreten. Die Ereignisse und die biblischen Stimmen, über die er nachdenkt, gehören nicht einer längst vergangenen Zeit an, sondern er selbst, sein eigenes Leben, ist darein verwickelt, ist Teil dessen, worüber er reflektiert. Deshalb liegt der Ort auch des gegenwärtigen Interpreten innerhalb, nicht außerhalb der Texte. Im Übrigen bedeutet Geschichte nicht immer Distanz, Objektivität und Relativität. Es gibt auch eine geschichtliche Begegnung, die Nähe ist und unsere Stellungnahme herausfordert.

39 Inst III,1,1; OS IV, 1.14. 40 G.W. Locher, Johannes Calvin, in: K. Scholder/G. Kleinmann (Hg), Protestantische Profile. Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, 1983 (78–93), 88.

Die Schriften der Straßburger Jahre

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Die Schriften der Straßburger Jahre

In den Straßburger Jahren entwickelt Calvin seinen eigenen theologischen Stil und findet in der Schriftauslegung das Zentrum seiner künftigen Arbeit. Das belegen die wichtigen Veröffentlichungen, die in dieser relativ kurzen Zeitspanne erscheinen, an der Spitze der Römerbrief-Kommentar, der eine Schlüsselstelle nicht nur in seinem exegetischen Werk einnimmt, sondern der wie in einer Keimzelle die Problemstellungen der für seinen Entwurf besonders charakteristischen neuen Themen: der Israel-Theologie, der Prädestinationslehre und (als „quaestio principalis“) der Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung entfaltet. Kein geringeres Gewicht hat auch die zweite Ausgabe der Institutio (1539), die das neue Grundgerüst präsentiert, das sich (mit kleinen Verschiebungen) bis in die Endredaktion von 1559 durchhält. Hinzu kommen der kleine Abendmahlstraktat von 1541 und die folgenreiche Auseinandersetzung mit Kardinal Sadolet (1539), von denen hier nicht die Rede sein soll. (1) Der Römerbrief-Kommentar. Evangelische Theologie ist von ihren Ursprüngen her Theologie des Römerbriefs. Am Römerbrief ist sie gewachsen, am Römerbrief hat sie sich bis in unsere jüngste Vergangenheit erneuert. Auch wenn man von Luthers erst Ende des 19. Jahrhunderts wieder entdeckten Vorlesungen absehen wollte41 , haben die im Widmungsschreiben an Grynäus erwähnten Kommentare von Melanchthon, Bucer und Bullinger der theologisch gebildeten Welt hier das Zentrum der Reformation, die „Rechtfertigung allein aus Glauben“ eindrucksvoll vor Augen gestellt. Calvin baut diesen unbestrittenen Referenzpunkt des Protestantismus in einer unerreicht prägnanten Form aus, so dass auch die markanteste Erneuerungsbewegung des 20.Jahrhunderts, die Dialektische Theologie, sich gegen den Historismus der Zeit ausdrücklich auf ihn berufen hat: Wie energisch geht Calvin zu Werk, seinen Text, nachdem auch er gewissenhaft festgestellt hat, ‚was da steht’, nach zu denken, d. h. sich solange mit ihm auseinanderzusetzen, bis die Mauer zwischen dem 1. und dem 16. Jahrhundert transparent wird, bis Paulus dort redet und der Mensch des 16. Jahrhunderts hier hört, bis das Gespräch zwischen Urkunde und Leser ganz auf die Sache (die ja hier und dort keine verschiedene sein kann), konzentriert ist. Wahrhaftig, wer die Methode Calvins […] meint erledigen zu können, der beweist nur, dass er in dieser Richtung noch nie wirklich gearbeitet hat.42

41 J. Ficker (Hg), Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, Leipzig 1925 (3. Aufl.). 42 K. Barth, Der Römerbrief (1922), Vorwort zur zweiten Auflage, GA Zürich 1984 (13. Aufl.), XI: H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen, 1965, 481 und 492, hat von einem „hermeneutischen Manifest“ gesprochen.

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Um den besonderen Stellenwert dieses Kommentars zu würdigen, muss man sich seinen historischen Ort, die zeitliche Nähe zur Kontroverse mit Sadolet vergegenwärtigen. Hier steht die Frage der Schriftgemäßheit der Lehre im Zentrum, an der sich wahre und falsche Kirche scheiden. Wichtiger noch als diese ekklesiologische Zuspitzung des Kommentars ist im gegenwärtigen Zusammenhang seine bereits erwähnte methodische Bewusstheit, die zur Neubearbeitung der Institutio (1539) geführt hat. Hier haben Melanchthon und Bullinger, aber auch Calvin selbst in seinen Seneca-Studien wichtige Vorarbeit geleistet. Der zitierte Satz, dass der Brief als ganzer ein methodischer Leitfaden ist, findet seinen Ausdruck in dem Ideal der „perspicua brevitas“, was man wohl am besten als eine „Verbindung von Klarheit und Prägnanz“ wiedergeben kann. Sie ist die wichtigste Tugend der Auslegung. Dazu gehört einmal die Kenntnis der von Erasmus neu entdeckten Grammatik, die dem Ausleger helfen soll, den situativen und kulturellen Kontext des Textes zu erschließen, vor allem aber die Rhetorik, die – so ihre spezifische Aufgabe – nach Cicero auf die Erkenntnis der Wahrheit zielt, indem sie ihr einen bezwingenden wirkungsvollen Ausdruck gibt. Auf dieser Basis entfaltet sich die von Calvin virtuos beherrschte Kunst der stringenten Argumentation und belegt – das liegt in der Natur der Rhetorik – dass die Schrift uns mit einer „wesentlich kommunikativen Wahrheit“ entgegenkommt. Sie ist ein „Dokument des sich akkomodierenden [unserer Fassungskraft sich anpassenden] Redens Gottes“, weshalb ihr Sinn nicht auf einer höheren, den einfachen Wortlaut überschreitenden allegorischen Ebene gesucht werden darf.43 Calvins Exegese ist, so verstanden, Explikation des Textes im Dienst der Selbstexplikation Gottes. Die Herausgeber der neuen kritischen Ausgabe, Thomas H.L. und C.D. Parker, machen dabei auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam44 . Eines ist der Weg, zu einem sachgemäßen Verständnis des Textes zu kommen, indem man nach seinem „Sitz im Leben“ und seiner Beziehung zur thematischen Mitte der Schrift fragt. Auf diesen Linien arbeitet Calvin. Ein anderes ist die Vermittlung an die Leserinnen und Leser. Hier konzentriert sich die Auslegung auf Spitzensätze des Textes unter großzügiger Auslassung vieler exegetischer Teilschritte. So verfährt insbesondere Melanchthon in seinen beiden Kommentaren 1532 und 1540.Beide Zugangswege sind Calvin vertraut, aber er wendet sie – anders als etwa Bucer – nicht in ein und demselben Buch an, sondern trennt zwischen der Aufgabe des Kommentars und der Zielsetzung der Institutio und der Predigt. (2) Institutio (1539). Die erste, noch auf der Flucht 1536 in Basel fertig gestellte Fassung der Institutio (1536) hat Calvin über Nacht berühmt gemacht. An ihr hat er

43 P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen 1994, 87. 44 In: Joannis Calvini Commentarius in Epistolam Pauli ad Romanos (in: Ioannis Calvini Opera Omnia [...] Series II: Opera exegetica [...] Vol. XII, Genf 1999, Introduction, S. LI ff.

Die Schriften der Straßburger Jahre

sein Leben lang in immer weiter ausgreifenden Erörterungen, auch Umstellungen gearbeitet, bis sie in der letzten Ausgabe (1559) mit 80 Kapiteln den fast vierfachen Umfang erreicht hat. Sie ist als solche die erste umfassende Gesamtdarstellung der reformatorischen Theologie geworden, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Rezeptionsgeschichte und damit die Nachwirkung Calvins hauptsächlich an diesem Werk orientiert hat. Ihre erste Fassung hat ein klar begrenztes Ziel. Im Vorwort zum Psalmenkommentar (1557), einer der wenigen autobiographischen Quellen, schreibt Calvin im Rückblick auf die grausamen Verfolgungen in Frankreich vor mehr als zwanzig Jahren: „Würde ich zu der fälschlichen Beschuldigung der heiligen Märtyrer“ unter Franz I. schweigen, träfe mich, so meinte ich, der Vorwurf des Verrats, es sei denn, ich träte dem nach Kräften entgegen. Aus diesem Grund habe ich meine Institutio (1536) [öffentlich] erscheinen lassen.“45 Calvin bezieht sich hier auf das dieser ersten (und dann allen folgenden Ausgaben der) Institutio beigefügte Widmungsschreiben an den französischen König, in dem er Absicht und Ziel dieses Buches ausführlich erläutert: Ich hatte mir nur vorgenommen, einige Grundbegriffe vorzutragen, um all die zu wahrer Frömmigkeit heranzubilden, die heute von religiösem Eifer ergriffen sind. Und diese mühevolle Arbeit wollte ich hauptsächlich für unsere Franzosen auf mich nehmen, von denen sehr viele, wie ich sah, nach Christus hungern und dürsten, sehr wenige aber auch nur mit den bescheidensten Kenntnissen ausgerüstet sind […] So schien es mir der Mühe wert zu sein, […] zugleich Euch gegenüber ein Bekenntnis unseres Glaubens abzulegen, das Euch ein Urteil über die Art unserer Lehre erlaubt ….46

Das begrenzte Ziel der Erstausgabe wird hier mit dem Leitwort Frömmigkeit angesprochen Ihre Hermeneutik ist durch die Verfolgungssituation bestimmt. Sie will die bedrängten „Luthériens“ über die Grundlagen des neuen Glaubens knapp und präzise unterrichten. Dabei schließt sich Calvin den Grundentscheidungen in Luthers Kleinem Katechismus an. Ihnen entsprechen Gerüst und Gliederung seines eigenen Entwurfs: An der Spitze steht das Gesetz (Zehn Gebote). Ihr folgt die Auslegung des Glaubensbekenntnisses und das Gebet (Vaterunser) sowie die Lehren von Taufe und Abendmahl (in Abgrenzung von den fünf weiteren „katholischen“ Sakramenten). Über die Katechismus-Vorlage hinausgehend, aber an Luthers Schriften von 1520 orientiert, schließt sich dann der große Traktat über die christliche Freiheit an, der in die klar zu unterscheidenden Bereiche der kirchlichen und politischen Gewalt (administratio) einmündet. Die Institutio von 1536 ist ein katechetischer Entwurf.

45 Vorrede (Praefatio) zum Psalmenkommentar (1557), CO 31, 23; CStA 6, 27. 28–31. 46 Epistola nuncupatoria, CO 1,9; CStA 1.1, 67. 7–13 und 21–23.

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Das kann man von der zweiten Fassung (1539) so nicht mehr sagen, obwohl sie wichtige Materialien aus dem französischen „Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis“ (1537) übernimmt. Dass es hier tatsächlich um einen Neuansatz geht, erkennt man bereits an der „radikalen Änderung des Titels“47 . Hieß es in der ersten Ausgabe, sie „umfasse“ beides, „die Summe der Frömmigkeit“ und was von der „Lehre des Heiles zu wissen notwendig“ sei – und zwar in der Form eines katechetisch organisierten Kompendiums –, so streicht Calvin 1539 diese beiden ergänzenden Hinweise vollständig. In der Vorrede heißt es lapidar, das Buch umfasse „die Summe der Religion in all ihren Teilen“. Von einem „Unterricht“ in der „Frömmigkeit“ ist nicht mehr die Rede. Damit vollzieht sich – so Parker – ein vollständiger Wechsel vom katechetischen Arrangement zu einer „systematischen Darstellung der wichtigsten Lehren der Heiligen Schrift“48 , d. h. zu dem, was man im 16. Jahrhundert ein „System“ der Theologie zu nennen begann. Hinzu kommt der oft bemerkte Austausch der Leitbegriffe in dem berühmten Eingangssatz, der jetzt nicht mehr von der Summe der Lehre (doctrina), sondern von der „Summe fast all unserer Weisheit (sapientia)“ spricht, in der sich unsere Gottes- und Selbsterkenntnis zusammenfasst. Die hermeneutische Situation hat sich offenkundig verändert. Dass der exegetische Klärungsprozess des Römerbriefs diese Revision angestoßen und in gewisser Hinsicht notwendig gemacht hat, wird heute kaum noch bestritten. Calvin selber bezeichnet im Vorwort der zweiten Ausgabe diesen Kommentar als ein „Probestück (specimen) seiner Unterweisung und kann ihn der Institutio an die Seite stellen“.49 Denn die Weisheit geht über den individuellen Bezug der Lehre auf das einzelne Subjekt ebenso weit hinaus wie Paulus in seiner Rechtfertigungslehre über das Interesse am Heil des Individuums. Sie fragt nach der Allgemeinheit der Religion und der Gottbezogenheit der Welt. Calvin schreibt dem weisheitlichen Modell der Theologie, auf das er sich für den Rest seines Lebens verpflichten wird, ähnliche Eigenschaften zu wie seinem „Römerbrief “ und benutzt sogar dieselben Bilder von den „geöffneten Türen“ und dem „offenen Zugang“ wie dort.50 Nicht nur die Struktur des Textes, sondern auch sein Charakter hat sich verändert. Der Akzent hat sich auf den Erkenntnisvorgang verlagert. Calvin sucht einen „Gesprächsort“ mit der gelehrten (humanistischen) Weisheit (I. Werner). Dabei denkt er kaum (wie noch Parker vermutet hat) an den offenkundigen quantitativen Zuwachs theologischer Themen und Probleme, die jetzt neu behandelt werden. Ihm geht es um ein neues Modell theologischen Arbeitens, auf das er sich für den

47 R. Muller, a.a.O. 102f. 48 Thomas H.L. Parker, Calvin, Introduction to his Thought, Louisville 1995, 5. 49 Ilka Werner, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit, Neukirchen 1999 [hier: 73] hat einen detailgenauen, höchst lehrreichen Vergleich beider Fassungen, insbesondere ihrer „Einleitungen“ erarbeitet: S. 65–83). 50 Vgl. CStA 5.1, 27 und 12.

Die Schriften der Straßburger Jahre

Rest seiner Schaffenszeit verpflichten wird. Richard A. Muller, der auch hier ganze Arbeit geleistet hat, sieht den Wandel, die neue Weichenstellung, auf wenigstens zwei Ebenen sich vollziehen: (a) Ohne die ursprüngliche Anordnung der Inhalte zu verändern, verlässt Calvin das katechetische, an der Frömmigkeit (pietas) orientierte Modell von 1536. Er wendet sich der melanchthonischen „Standardform“ der „Loci communes“ zu, indem er eine Reihe paulinischer Themen zwischen die bisherigen Kapitel einschiebt und auf diese Weise die „Summe der Religion“ in einer methodisch neuen Gestalt präsentiert. (b) Ein noch tiefer greifender Wandel vollzieht sich auf der Ebene des literarischen Genus. Während die erste Fassung in der Anordnung des Stoffes Luthers Kleinem Katechismus folgt und sich dementsprechend an theologische „Anfänger“ richtet („Institution puérile“, wie der Katechismus für seine französische Gemeinde heißt), ist die Ausgabe von 1939 für Theologiestudenten und Pfarramtskandidaten geschrieben, die nicht planlos in der Schrift herumlesen (evagari), sondern befähigt werden sollen zu erkennen, erstens, was sie hauptsächlich in ihr suchen, wonach sie sie befragen können, und zweitens, worauf (in quem scopum) der gesamte Inhalt der Schrift bezogen werden muss. Methodisch lassen sich spätestens seit der Straßburger Zeit daher zwei Arbeitsgänge deutlich unterscheiden: Eines ist die durchlaufende Vers-für-Vers Interpretation des biblischen Textes in Kommentar und Predigt – dem entspricht das Ideal der Kürze und Prägnanz (brevitas und facilitas) – ein anderes die Herausarbeitung und Identifizierung systematischer Gesichtspunkte (topoi oder loci communes)51 , die nach dem Vorbild Melanchthons in Disputationen geprüft und entfaltet werden müssen. Eben dies ist die besondere, seit 1539 der Institutio (und allen ihr folgenden Auflagen) zugewiesene Aufgabe. Sie soll zugleich die Exegese, in diesem exemplarischen Fall den „Römerbrief “, von dem Geschäft der dogmatischen Interpretation entlasten.52 Denn „wenn ich nachher Schriftauslegungen herausgebe, werde ich es nicht nötig haben, lange Ausführungen zu dogmatischen Fragen anzustellen oder in Gemeinplätze auszuufern“. So findet man die erste ausführliche Darstellung der Rechtfertigungslehre und der Prädestination (hier in enger Verbindung mit der Vorsehung) nun in der zweiten Ausgabe der Institutio (1539), Kap. 10 und 14. Richard Muller spricht von einer sorgfältig aufeinander bezogenen Strategie (set of statements), die nicht nur die

51 Vgl. dazu: M. Hoffmann, Rhetoric and Theology: The Hermeneutic of Erasmus, Toronto 1994, 37f; 145–148. 52 Beides durcheinander geworfen zu haben, ist Calvins (vornehme) Kritik an Bucers Römerbriefkommentar, die Vernachlässigung der exegetischen Detailarbeit sein Vorwurf an Melanchthons Unternehmen: Widmungsbrief an Simon Grynäus, Nov. 1539, CO 10b, 404; CStA 5.1, 23. 17–27.

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Methodische Anfragen

Methode betrifft, der Calvin zu folgen gedenkt, sondern auch das Programm seiner Schriftstellerei, das er in Straßburg mit der Institutio und dem Römerbriefkommentar begann – ein Programm, dem er „mit kleinen Abweichungen (alteration) bis zu seinem Lebensende treu blieb.“53 In seiner französischen Übersetzung der zweiten Institutio (1541), einem „wahren Meisterwerk, das die[se] Sprache bis tief in 17. Jahrhundert mitgestalten sollte“ (F. Wendel), bekennt er: „Wenn unser Herr mir Gelegenheit und Mittel gibt, noch einige Kommentare zu schreiben, will ich mich aller mir nur möglichen Kürze befleißigen“, und dann fährt er fort, explizit die Inhalte der Institutio zu identifizieren, „denn es wird nicht nötig sein, lange Abschweifungen zu machen, da ich hier ja der Länge nach nahezu alle zum Christentum gehörenden Artikel aufgelistet habe“.54 Dieser Aufgabenteilung entspricht eine je verschiedene Ausrichtung und Absicht. Was Calvin den Lesern seines „Römerbriefs“ als ursprüngliche Einsicht mitteilt, „dass jedem, der seinen wahren Sinn verstanden hat, die Türen zum Zugang selbst zu den verborgensten Geheimnissen der Schrift offen findet“55 , das darf – sicher mit Abstrichen – von den meisten seiner Kommentare gelten: Sie wollen ein Stück exemplarischer Bibelauslegung sein und, so verstanden, eine elementare Einführung in Buchstaben und Geist eines bestimmten neu- bzw. alttestamentlichen Textes geben. Für den gelehrten Leser kommt in diesem speziellen Fall noch eine weitere Anweisung hinzu: „Der ganze Brief “, so hieß es, „ist methodisch angelegt“. Er ist von Anfang an ein Modell rhetorischer und dialektischer Kunst.56 Die Hauptaufgabe des Kommentators besteht somit darin, „den gesamten Text der Schrift zu prüfen, ohne auch nur einen einzelnen Vers auszulassen“. Diese Forderung, erklärt Calvin rückblickend, habe er in all seinen Kommentaren „klar wie in Spiegeln“ eingelöst.57 Der theologische Leitgedanke soll so genau wie möglich herausgearbeitet werden. Dazu braucht es einen Leitfaden, der wiederum aus der Schrift selbst gewonnen werden muss. Das ist der hermeneutische Zirkel, in dem er sich bewegt. Die Aufgabe der Institutio ist demgegenüber das nicht abreißende Unternehmen, die im Kommentar namhaft gemachten „zum Christentum gehörenden Artikel“ (Loci) in ausführlichen Erörterungen (disputationes) zu interpretieren. Mit anderen Worten: Sie will ihre Leser auf die Begegnung mit dem biblischen Text vorbereiten. Sie ist kein mit Schleiermacher oder Tillich vergleichbares dogmatisches „System“. Die zeitliche Reihenfolge der Arbeitsgänge – zuerst die Exegese im Auditorium der Studenten, danach die Diskussion ihrer Ergebnisse (disputationes) – bestimmt auch

53 A. Muller, Calvin (Anm. 67), 28 und 118f. 54 A. Lefranc, Introduction à l’édition de l’Institution chrétienne, texte originale de1541, Paris 1911, p. III. 55 Argumentum in Epistolam ad Romanos, CO 49,1; CStA 5.1, 27.11f. 56 Ebd.; a.a.O. 27.14f. 57 Inst (1559) Brief an den Leser, OS III, 6. 33.

Die Schriften der Straßburger Jahre

hier den Gang der Handlung, sodass die Darstellung im Licht der Kommentare gelesen werden muss. So ist zuletzt die Exegese (oft genug im Rückblick auf die Tradition der Alten Kirche) der Schlüssel zu Calvins Theologie.

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B.

Hermeneutische Entscheidungen

Einleitung Man hat im letzten Jahrhundert (anders als heute) beklagt, dass die CalvinForschung es trotz aller anerkannter Leistungen nicht geschafft habe, einen „roten Faden“ sichtbar zu machen, der „sich durch die Theologie des Reformators hindurchzieht“.58 Gibt es einen Schlüssel, der uns den Zugang zu ihr öffnen kann, ein Prinzip, das ihren Aufbau und die Folge ihrer einzelnen Schritte bestimmt? Hat sie eine inhaltlich bestimmbare Mitte, vom der her sich ihre Aussagen als ein zuletzt einheitliches Ganzen verstehen lassen, oder einen Leitfaden – man denke an Luthers Materialprinzip: „Was Christum treibet“ – in dem sich das Ziel des zu durchschreitenden Weges erkennen lässt? Den in dieser Richtung bekanntesten Versuch hat seinerzeit Alexander Schweizer mit seiner These gemacht, wonach die Prädestination die Centrallehre und als solche das „Materialprinzip“ Calvins gewesen sei, aus der sich zwar nicht alles Weitere deduktiv ableiten lasse, die aber – einmal auf den Begriff gebracht – den Inhalt auch anderer Lehrstücke bestimme.59 Die jüngere Forschung hat sich schon aus formalen Gründen von dieser These getrennt: Die Prädestination wird in der ersten Ausgabe der Institutio nur am Rande in der Ekklesiologie erwähnt und in deren letzter Fassung erst am Ende des dritten Buches vorgetragen. Sie hat sich damit zugleich von der Suche nach einem Materialprinzip distanziert und den Begriff eines solchen Prinzips, verstanden als dogmatische Norm, die noch vor der Begegnung des Theologen mit der „Schrift“ gegeben sein könnte, energisch zurückgewiesen.60 So läuft ein breiter gegenwärtige Konsens darauf hinaus, „dass Calvins Theologie kein systematisches Zentrum habe“61 , was jedoch die (oft wiederholte) These nicht rechtfertigen kann, die Erwählung sei für Calvin (und dann wohl auch für die reformierten Christen) nur von marginaler Bedeutung gewesen.

58 W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 7. 59 A. Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, 2 Bde. Zürich 1854–56. 60 Vgl. zu den damit aufgeworfenen Problemen die bemerkenswerte Studie von Brian A. Gerrish Tradition and the Modern World. Reformed Theology in the 19th Century 1978, 99–150. Die Diskussion um das Materialprinzip wird weitergeführt von Bruce McCormack, Die Summe des Evangeliums. Die Erwählungslehren in den Theologien von A. Schweizer und K. Barth, in: M. Welker/D. Willis (Hg), Zur Zukunft der Reformierten Theologie, Neukirchen 1998, 541–566, bes. 544ff. 61 B. McCormack, ebd. 550f (bes. ebd. Anm. 125).

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Hermeneutische Entscheidungen

Heute hat sich die Fragestellung – nicht zuletzt dank der hier dargestellten neueren Forschungslage – verändert. An einen geschlossenen dogmatischen Entwurf darf man die Frage nach einer „inneren Mitte“ bzw. nach einem einsichtigen „roten Faden“ stellen. Doch ist die Institutio, auf die nahezu allein sich damals das Interesse der Interpreten richtete, ein solcher Entwurf? Das wird man nach dem heutigen Kenntnisstand nicht gut behaupten können. Sie ist, wie der Vergleich der ersten mit der zweiten Ausgabe zeigt, an und mit der exegetischen Arbeit in Predigt und Kommentaren gewachsen. Die Frage nach der Einheit seiner Theologie muss sich dort, an den Akzenten seiner Schriftauslegung, entscheiden. Wenn man diese „Vorgaben“ nicht in Rechnung stellt, würde man der Institutio ein Resultat abnötigen, nach dem sie gar nicht gesucht hat. Man muss also die auf eine einheitliche Linie überhaupt nicht zu bringende Vielheit des biblischen Zeugnisses vor Augen haben, um sich von den Erwartungen des vorigen Jahrhunderts zu trennen. Eine Art Fazit seiner exegetischen Bemühungen ist die Institutio jedenfalls nicht. Calvins Absicht war offenbar eine andere. Er wollte, so erklärt er im bereits zitierten Vorwort der Institutio von 1539, den Kandidaten der Theologie einen „leichten Zugang zur Lektüre des göttlichen Wortes“ verschaffen, sie also anleiten festzustellen, „was in der Schrift vornehmlich zu suchen sei und auf welches Ziel ihre Inhalte zu beziehen sind“.62 Er will ihnen einen Leitfaden zum Bibelstudium an die Hand geben. Dazu gehören in erster Linie hermeneutische Überlegungen, also die Kunst, richtige Fragen zu stellen und die Probleme sichtbar zu machen, auf welche die „Schrift“ (des weiteren natürlich auch dogmatische Erörterungen) eine Antwort geben wollen. Zu fragen ist also in erster Linie: Welche Probleme hat Calvin gesehen und angesprochen (in dem klassischen reformatorischen Thema „Gesetz und Evangelium“ etwa nicht nur das Problem der Werkgerechtigkeit, sondern das von jeher umstrittene Verhältnis von Kirche und Israel), und auf welche Probleme ist er andererseits offenkundig (noch) nicht gestoßen ist (etwa auf das Problem der Geschichte im Fall der Erwählung „vor aller Zeit“). In dem zweiten hier zu behandelnden Teil soll es um diese Fragen gehen, die für das Profil und die Eigenart der Theologie Calvins besonders aufschlussreich sind. Dazu rechne ich rechne ich den programmatisch engen Zusammenhang von Gottes- und Selbsterkenntnis, das Thema des Bundes, die akzentuierte Betonung der Ehre Gottes oder die Frage nach Autorität und Verständnis der Schrift Mit diesem Themenfeld sei hier begonnen.

62 Inst (1539), CO 1, 256.

Die Vorrede zur Olivetan-Bibel (1535)

2.4

Die Vorrede zur Olivetan-Bibel (1535)63

Wenn ich an die Spitze dieses Themenkreises den Begleitbrief stelle, den Calvin in Basel während seiner Arbeit an der Institutio für die Olivetan-Bibel als Vorrede zum Neuen Testament verfasst hat, so geschieht das aus einem zweifachen Grund: Er ist Calvins erste theologische Veröffentlichung, die als Spiegel seiner bisherigen Entwicklung eine besondere Beachtung verdient, und sie gehört zweitens mit dem der Institutio (1539) vorangestellten „Vorwort an den Leser“, dem „argument du livre“ der französischen Ausgabe (1541) und der Vorrede zum Römerbrief-Kommentar (1540) zu den Dokumenten, die einen wichtigen Einblick in seine exegetische und theologische Agenda geben.64 Außerdem enthält sie in nuce eine Theologie, in der bereits fast alle Elemente beisammen sind, die später in einer mehr systematischen Form ausgearbeitet werden. Hier sind Reichtum und Faszination der Bibel – sie es ist, der die Reformation ihren Erfolg verdankt – mit einer Überzeugungskraft zum Leuchten gebracht, der sich auch in späteren Schriften nicht so leicht etwas Vergleichbares an die Seite setzen lässt. Ältere Arbeiten haben das unbefangen ausgesprochen. Ernst Stähelin rühmt die „Vorrede“ als einen „großartigen Überblick über die gesamte religiöse Geschichte der Menschheit“ und attestiert ihr „unvergleichlich schöne Ausführungen […] voll tiefsten Schriftverständnisses“.65 Nach J. Neuenhaus enthält sie einen „genialen Aufriss der Heilgeschichte, vielleicht das Glänzendste, was Calvin überhaupt geschrieben hat“.66 Wo sie heute – selten genug – erwähnt wird, wird sie immerhin als ein zentrales Zeugnis seiner Theologie gewürdigt, das nicht nur in den folgenden Jahren für ihn bestimmend bleibt, sondern das seine Sicht der theologischen Aufgabe in definitiver Form beschreibt. Man hat sie in ihrem Stellenwert in die Nähe des Vorworts zum Römerbrief gerückt und in der Breite der hier angesprochenen Themen mit Bullingers frühem Traktat67 über den Bund verglichen: „Calvin setzt [das dort Begonnene] fort, indem er die Anwendung der Verheißungen auf die Gläubigen herausstellt.“68 All diese Dinge sind uns angekündigt, gezeigt, aufgeschrieben und bestätigt worden in diesem [Neuen] Testament, durch welches uns Jesus Christus zu seinen Erben des Reiches

63 CO 9, 791–821. Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf diese Ausgabe. Eine deutsche Übersetzung samt einer kenntnisreichen Einleitung von Ernst Saxer findet sich in CStA 1.1, 27–57. 64 „Calvin’s Épitre a tous amateurs de Jésus Christ rightly stands at the head of any gathering of the theologically significant prefaces penned by the reformer“, R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin, 2000, 23. 65 E. Stähelin, Johannes Calvin. Leben und ausgewählte Schriften, 2 Bde., Elberfeld, 1863ff, 90f. 66 J. Neuenhaus, in: Calvin-Studien, Leipzig 1909, 15. 67 H. Bullinger, De testamento seu foedere Dei unico et aeterno ... expositio (1534) 68 R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin, 23.

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Hermeneutische Entscheidungen

Gottes, seines Vaters macht und uns seinen Willen eröffnet wie ein Erblasser seinen Erben, damit er zur Ausführung gelange (807).

Pierre Robert, ein älterer Vetter Calvins, der gleichfalls aus Noyon stammt und als ein Anhänger Luthers das Schicksal der Flucht (1528) mit ihm teilte, verdankt seinen literarischen Namen Olevitanus einer Öllampe, die noch spät abends brannte, damit er, ein passionierter Arbeiter, in seinem früh vollendeten Leben seine selbstgestellte Aufgabe einer französischen Bibelübersetzung zu Ende führen könnte. Sie ist die erste französische Übersetzung der ganzen Bibel, die anders als das Vorgängerwerk von Lefèvre d’Etaples (1530) nicht auf dem lateinischen Text des Hieronymus, sondern auf dem hebräischen und griechischen Original basiert. Sein Text, „rau wie ein Wildbach“ (B. Cottret), wurde mehrfach überarbeitet und umgestaltet, ehe er in die „Genfer Bibel“ (1536) einmündete, die in den folgenden zwei Jahrhunderten eine dominante Rolle spielte. Calvin hat viel für deren flüssige Lesbarkeit getan, und für ihre Ausgabe von 1543 sogar selbst die Verantwortung übernommen. Verständlichkeit war ihm wichtiger als Buchstabentreue. Seine Vorrede überschreibt er mit dem einladenden Titel: „An alle, die ihr Jesus Christus und sein Evangelium lieb habt: Seid gegrüßt“. Schon dieser Satz, der auffallend an das Vorwort Lefèvres zu seinem Evangelienkommentar (1522) erinnert69 , ist bemerkenswert. Calvin wendet sich nicht an „die Christen“ – das waren im 16. Jahrhundert alle – auch nicht an Katholiken, Lutheraner oder Evangelische. Er spricht stattdessen, um die Eigenständigkeit der hier Gemeinten und Angeredeten deutlich zu machen, von „Liebhabern“ (amateurs), die damit in eine besonders qualifizierte Beziehung, ein Verhältnis gegenseitiger Liebe und wechselseitigen Vertrauens, hineingerufen werden – ein Kennzeichen des calvinischen Glaubens. Der Name des Christen, unterstreicht Bernard Cottret, wird in dieser Zuspitzung zur „Herausforderung an die Adresse der Kirche, und zwar der ganzen Kirche“.70 Sie wird hier begriffen als die augustinische Schar der Erwählten, der zuzugehören ihre Berufung und ihren Stolz ausmacht: Zu diesem Erbe sind wir alle berufen, ohne Ansehen der Person, Mann und Frau, klein und groß, Diener oder Herr, Lehrer oder Schüler, Kleriker oder Laie, Jude oder Grieche, des Französischen oder des Lateins kundig. Keiner wird davon ausgeschlossen, der mit sicherer Zuversicht empfängt, was ihm gegeben, und umfasst, was ihm überreicht wird, kurz, der Jesus Christus als den erkennt, welcher uns vom Vater gesandt ist. (807).

69 E. Saxer, Einleitung zu Calvins Vorrede (CStA 1.1, 29 Anm. 10) zitiert mit Hinweis auf G. Bedouelle, Lefèvre d’Etaples, 1976: »Ceux-là […] qui aiment Notre Seigneur Jésus Christ et sa parole ... ». 70 B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, dt.: Stuttgart 1998, 117.

Die Vorrede zur Olivetan-Bibel (1535)

Hier meldet sich das laizistische Element der lutherischen Reformation, die den Glauben zum Gemeingut des ganzen Menschengeschlechts erklärt und die Trennwand zwischen gebildeten Klerikern und einfachen Leuten niedergerissen hatte: „Alles was aus der Taufe gekrochen ist, mag sich rühmen, dass es schon (zum) Priester und Bischof geweiht ist.“71 Dieser emanzipatorische Ton wird sich vollends vier Jahre später in der Auseinandersetzung mit Kardinal Sadolet verschärfen. Da wird „jener lächerlichen Einfalt“ der Kampf angesagt, „wonach es sich für Ungebildete ziemen soll, zu den Gehrten aufzublicken und sich nach ihrem Wink zu richten“.72 Das Heil hängt nicht von der Kirche ab, schon gar nicht von der Menge ihrer überlieferten Lehrmeinungen und dem Minimalglauben an die Wirksamkeit der Sakramente. Jetzt wird der Anspruch und das Recht aller auf den freien Zugang zur Bibel proklamiert. Auf das, was ihnen im Neuen Testament zugesagt ist, soll sich die Erwartung aller richten: Oder wollen wir alle, die wir den Christennamen tragen, uns dieses Testament rauben, verheimlichen und verderben lassen? Das uns derart rechtmäßig gehört, ohne das wir kein Recht auf Gottes Königreich geltend machen können und die großen Güter und Verheißungen nicht kennen, die Jesus Christus für uns erwirkt hat, die Herrlichkeit und die Seligkeit, die er für uns bereitet hat? (809)

Die Vorrede lässt sich in drei Abschnitte gliedern. Sie beginnt – ganz auf den Menschen fokussiert – mit einem relativ ausführlichen Abriss der kanonischen Heilsgeschichte (971–804) angefangen von der Erschaffung Adams und dem Datum des Falls über die Erwählung Israels bis zum Kommen des Mittlers Jesus Christus, der den neuen und ewigen Bund mit allen Menschen geschlossen hat.73 Dieser Abriss ist traditionell. Man hat als Quelle an Augustins „De civitate Dei“ gedacht.74 Mehr jedoch, insbesondere die so direkte, später nicht mehr belegte Identifikation Jesu Christi mit Isaak, Jakob, Mose und David (813), die weit über die übliche Typologie hinausgeht, spricht dafür, dass sich Calvin formal hier am Vorwort Faber Stapulensis’ zu dessen Bibelübersetzung orientiert hat. Dennoch enthält jene Typologie eine klare Botschaft: In den alttestamentlichen Gestalten und Verheißungen

71 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), WA 6, 408. 72 Antwortschreiben an Kardinal Sadolet, CO 5, 406; CStA 1.2, 403.6–8. 73 Die (im übrigen hier singuläre) Feststellung, dass das Alte Testament, sofern es auf das Neue hinführen sollte, „in sich schwach und unvollendet war und deshalb abgeschafft und aufgehoben (aboly et abrogué) ist“ (803), macht es wenig wahrscheinlich, dass sich Calvin hier von Bullingers (oben zitiertem) Traktat, den er nachweislich kannte, hätte inspirieren lassen, wie J. Quack, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Gütersloh 1976, 125, vermutet. 74 So A. Ganoczy, Le jeune Calvin, genèse et évolution de sa vocation réformatrice. Wiesbaden 1966, 58.

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Hermeneutische Entscheidungen

ist Christus bereits am Werk. Calvins Thema ist die alleinige Heilswirksamkeit dieses „Messias“, was die späteren Ausgaben der Institutio mit einem ganz anderen Nachdruck und argumentativen Aufwand herausarbeiten: „Christus […] war den Juden in gewisser Weise schon unter dem Gesetz bekannt“.75 Er ist – so die Vorrede – „nicht nur den Israeliten, sondern allen Menschen aus allen Völkern und Gegenden (zu unserer Erlösung) gegeben“ (801). So erweist sich das Evangelium als die einzige und entscheidende Wahrheit in allen Fragen unsers Heils. Der zweite Abschnitt nimmt diesen Ton auf, indem er „unbezweifelbare Zeugen“ anführt, die uns das Evangelium als Vermächtnis und Erbschaft („Testament“) unseres Heils vor Augen stellen. Dabei begründet nicht der Bundesbegriff, sondern der Begriff der Verheißung diese Zeugenschaft. Er begegnet nicht weniger als siebenmal in der Vorrede und dürfte in dieser Funktion auf Luther zurückgehen, der das Alte Testamen als Präfiguration der in Christus erfüllten Verheißung begreift.76 Die schweren Schatten der Gegenwart sind Anlass der Mahnung des letzten Abschnittes, die Hoffnung nicht preiszugeben. Hier meldet sich mit dem Zitat Tertullians die alte Märtyrertheologie: sanguis martyrorum est semen ecclesiae (811) noch einmal zu Wort: Was könnte uns dem heiligen Evangelium entfremden? Beschimpfungen, Verfluchungen, Schande, Verlust weltlicher Ehren? Doch wir wissen sehr wohl, dass Jesus Christus, dem wir nachfolgen sollen, wenn wir seine Jünger sein wollen, diesen Weg gegangen ist. […] Wir wissen bei der Verbannung aus einem Land sehr wohl, dass die (ganze) Erde Gott eigen ist, und wenn wir auch überall vertrieben werden, wir doch nicht außerhalb seines Herrschaftsbereiches sind (810).

Es sind dies Sätze, die schon die später breit entfalteten Themen der Kreuzesnachfolge und des Ausblicks auf das künftige Leben (vita futura) vorwegnehmen. Sie verbinden sich hier (was in ihrer Prägnanz sich im Deutschen kaum wiedergeben lässt) mit dem in Christus begründeten Trost, dass „die Bedrängnis bedrängt ist, die Verdammnis verdammt, der Abgrund zugrunde gerichtet, […] der Tod getötet, die Sterblichkeit unsterblich geworden“.77 Wer so sprechen kann, für den ist die Welt nicht mehr Welt, auch wenn er noch in ihr lebt. So fasst sich für Calvin das Ziel der (himmlischen) Weisheit, die wir in diesem Leben lernen sollen –von ihr reden die späteren Auflagen der Institutio in ihrem ersten Satz – in der alles Irdische überwindenden paulinischen Gewissheit zusammen:

75 Inst (1559) II,9; OS III, 398.8. 76 Vgl. M. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae (1520), WA 6, 513–515. 77 « …tormant tormanté, damnation damné, abysme abysmé, enfer enferré.mort morte, mortalité immortelle », CO 9, 814.

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

Wir sind standhaft in Trübsalen, fröhlich in Traurigkeit, stolz bei Verurteilung, überreich in Armut, erwärmt in Blöße, geduldig in Übeln, lebend im Tod (815)

In dieser kleinen Schrift ist von der Kirche, ihren Ämtern und Aufgaben, noch mit keinem Wort die Rede. Calvin erscheint hier „noch ganz als der individuelle Fromme und Christusnachfolger“ (Saxer). Doch die zentralen theologischen Motive, die sich namentlich in den späteren Ausgaben der Institutio immer kräftiger geltend machen – das zeugnisfähige Lob der Schöpfung, der doppelte Ausgang der Heilsgeschichte (Erwählung, Verwerfung), die Abkehr von der Welt oder eben die Betrachtung (meditatio) des künftigen Lebens – finden sich hier in einer einzigartig kohärenten Zusammenschau. Sie begründen den abschließenden Appell an die Geistlichkeit, den Christen diese neue Übersetzung als Zugang zum Evangelium in ihrer eigenen Sprache freizugeben.

2.5

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

Calvin eröffnet die Institutio (1536) mit einem programmatischen Satz, der auch in den späteren zum Teil tief greifenden Neubearbeitungen mit geringfügigen Änderungen stehen geblieben ist: Man hat ihn – ungeachtet verschiedener Auslegungen – als einen hermeneutischen Schlüssel seiner Theologie verstanden. „Die Summe beinahe der [ganzen] heiligen Lehre besteht in diesen beiden Stücken: der Erkenntnis Gottes und unserer selbst (cognitio Dei ac nostri)“78 Lediglich das Wort doctrina ist 1539 durch den humanistischen Begriff der Weisheit (sapientia) ersetzt worden: „Fast die gesamte Summe unserer Weisheit, die man für wahre und zuverlässige Weisheit halten muss, besteht in zwei Stücken, in der Erkenntnis Gottes und unserer Selbsterkenntnis“, mit dem Zusatz: „Da sie aber vielfach miteinander verbunden sind, ist es nicht leicht zu entscheiden, welche der anderen vorausgeht und sie aus sich entlässt.“79 Die Basisaussage ist in beiden Fällen deutlich: Während man auf den Gebieten der Mathematik und Astronomie , aber auch der bildenden Kunst oder der Philologie leuchtendste Erkenntnisse gewinnen kann, ohne sich selbst dabei auch nur wahrzunehmen, ist das theologische Erkennen und Wissen von der Art, dass es den Erkennenden, seine Selbstwahrnehmung und Einsicht, notwendig in sich schließt. Man kann nicht von Gott reden, ohne auch vom Menschen sprechen zu müssen. So beginnt das zweite Buch (Erkennnis Gottes des Erlösers) mit fünf Kapiteln über die Erkenntnis unserer selbst (Thema des freien Willens: II, 1–5), und im dritten Buch wird die Objektivität des „Deus pro nobis“ in den subjektiven

78 Inst (1536) I, CO 1,27; OS I,37. 79 Inst (1559) I, 1,1 OS III, 31. 6–9.

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Hermeneutische Entscheidungen

Aspekt des „Deus in nobis“ (durch den Heiligen Geist) überführt.80 Denn „was entspricht dem Glauben besser“, fragt Calvin bereits im Widmungsschreiben, „als dass wir uns selber erkennen (agnoscere) als solche, die von jeder Tugend entblößt sind, damit wir von Gott bekleidet werden?“ Und wiederum: „Was entspricht dem Glauben besser, als dass Gott erkannt wird als gnädiger, sich uns zusprechender Vater und Christus als [unser] Bruder und Versöhner?“81 Man darf diesen fundamentalen Zusammenhang also nicht verwechseln mit der „doppelten Erkenntnis“ erst des Schöpfers und dann des Erlösers.82 Von dem Thema der „cognitio Dei et nostri“ fällt ein Licht auf Calvins gesamte Theologie. Richard Gamble formuliert einen breiten Konsens, wenn er erklärt: Um eine Untersuchung (examination) der Theologie Calvins zu unternehmen, muss man mit seiner Sicht der Grundlegung des Wissens selbst (foundation of knowledge) beginnen. Diese Grundlegung besteht darin, Gott zu erkennen und uns selbst. […] Die erste und bedeutendste Forderung des calvinischen Denkens ist diese zweifache Erkenntnis Gottes und des Menschen. Die Calvin-Forschung hat eine wachsende Einmütigkeit darin gezeigt, dass diese Grundvoraussetzung Calvins als ein oder das steuernde Prinzip (controlling principle) seiner Theologie angesehen werden muss.83

Das Ganze, die Summe christlicher Lehre bzw. Weisheit muss unter diesen doppelten Gesichtspunkt gestellt werden und zwar in jedem einzelnen Fall, weil es hier um den „Kern der Sache“ – „in jedem Kapitel jeweils in anderer Hinsicht“ – geht.84 Die Erkenntnisordnung verlangt in diesem Fall, die cognitio Dei an die erste Stelle zu setzen. Denn schon der Mensch selber ist beides, Empfänger von Gottes Wohltaten (cognitio Dei) und gefallenes Geschöpf (cognitio hominis), erschaffen zu Gottes Bild und Ähnlichkeit und seiner Bestimmung durch Unwissenheit, Ohnmacht, Sünde und Tod entfremdet. Die zweifache Aufgabe, die sich damit stellt – ein Problem, mit dem wir damals wie heute konfrontiert sind – ist daher zunächst die Klärung unserer Erkenntnissituation und, daraus folgend, dann die

80 Inst III, 1,3; OS IV, 5. 10f. – T.H.L. Parker, Calvin’s Doctrine of the Knowledge of God, Grand Rapids 1959, 119f, macht das mit Recht gegen E.A. Dowey, The Knowledge of God, New York 1952, 45 und 147, geltend. 81 Praefatio [Inst 1536], OS III, 12.29f und 13.12–14. 82 Inst. I, 2,1; OS III,34.24. 83 R. Gamble, Calvin as Theologian and Exegete: Is there anything new?, in: Calvin Theological Journal 23/2, 1988 (178–194), 180f. 84 Vgl. G. Ebeling, Cognitio Dei et hominis [im Blick auf Calvin!], in: Lutherstudien I, Tübingen 1971 (221–272), 233.

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

präzisere Erfassung des „ordo recte docendi“.85 Darüber kommt es zum Streit mit der humanistischen Auslegungstradition. (1) Die Herkunft der Formel. Es ist längst bekannt, dass sich Calvin einer weit verbreiteten Formulierung anschließt, die für sich genommen noch wenig aussagekräftig ist. Wie groß ihre Verbreitung ist, zeigt sich schon daran, dass in der Forschung bis heute über ihre genaue Quelle keine Einigkeit besteht. Von der Antike (Cicero) über die Alte Kirche (Augustin) bis zu den Zeitgenossen Calvins (Zwingli, Sadolet) wird alles genannt. Es scheint eben alles möglich zu sein. Ernsthaft in Frage – so die neuere Diskussion – kommen jedoch nur zwei Referenzpunkte, der von Josef Bohatec namhaft gemachte Guillaume Budé, bei dem sich die Formel „cognitio sui [Dei] et hominis“ explizit findet86 , und der Reformator Huldrych Zwingli, dessen Kommentar De vera et falsa religione Calvin nachweislich kannte.87 Für Zwingli scheint zu sprechen, dass der (in Anm. 87) zitierte Satz als Leitgedanke eine Rechenschaft über das reformatorische Verständnis des christlichen Glaubens eröffnet. Budé hingegen formuliert einen Grundgedanken des französischen Frühhumanismus, der sich freilich nahtlos in die von Calvin rezipierte Terminologie der „christlichen“ bzw. „himmlischen Philosophie“ der Renaissance einfügen lässt, deren Begriff und Leitbild er ohnehin von Erasmus und Budé entlehnt. Mit der Wendung „Summe der Weisheit“ nimmt er den Spitzenbegriff auf, in welchem die humanistisch Gebildeten seiner Zeit ihre Erkenntnisbemühungen zusammengefasst haben. Er führt das Gespräch mit der Weltweisheit.88 Er stellt die Institutio in den intellektuellen Kontext seiner Zeit hinein, denn er will die Inhalte der sacra doctrina nicht einfach referieren, sondern sie im Diskurs mit anderen Auffassungen und Wahrheitsansprüchen verantworten. Das nötigt ihn zu einer Auseinandersetzung mit dem humanistischen Verständnis dieser Formel. Es lohnt sich, an den Ursprung der Weisheitstradition zurückzugehen, die sich in der Selbsterkenntnis („Erkenne dich selbst!“) vollzieht und auch bei Calvin die

85 Inst (1559) I,1,3; OS III, 34.2. 86 J. Bohatec, Budé et Calvin, Graz 1950, 266, verweist auf G.Budé, De transitu Hellenismi ad Christianismum (1534), Basel 1557, 239; so auch F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen 1968, 115 (A. 82). 87 Zwingli, Commentarius, Z 3,640: „Cum Deus sit, in quem tendit religio, homo vero, qui religione tendit in eum, fieri nequit, ut rite de religione tractetur, nisi ante omnia Deum agnoveris, hominem vero cognoveris.“ Vgl. G. Ebeling (Anm. 149), 231f, wie vor ihm P. Wernle, Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren III, 1919,3; sowie A. Lang, Die Quellen der Institutio von 1536, in: EvTh 3, 1936 (100–112), 107; K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1993, 214. 88 I. Werner, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit, Neukirchen 1999, 117f, weist pointiert auf Calvins Übernahme humanistischer Gedankengänge (Rhetorik, Wissenschaft) in diesem theologischen Zusammenhang hin und bezieht auch die Schulweisheit des Mittelalters mit ein (105ff).

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Hermeneutische Entscheidungen

Frage nach Gott mit dieser philosophischen Forderung verbindet. Der Rückgang führt zu Sokrates, der paradigmatischen Gestalt des griechischen Weisen.89 Dessen Freund Chairephon, so berichtet Platon in der „Apologie“, hatte aus Verehrung für seinen Meister das delphische Orakel zu fragen gewagt, ob jemand weiser sei als Sokrates und die Antwort bekommen: „Keiner ist weiser als Sokrates“. Worin aber besteht die Weisheit dieses Mannes? Ihren negativen Ausdruck formuliert der bekannte Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Was aber ist das in diesem Wissen Gewusste? Das wenige, das wir von dem delphischen Orakel wissen, genügt, um den Spruch des Apollon zu deuten. Er meint: Weise ist allein der Gott. Wenn aber kein Mensch weise ist, dann ist auch keiner weiser als Sokrates. „Die delphische Weisheit gründete in der Forderung, dass der Mensch angesichts des Gottes seine eigene Blindheit und Schwäche erkennen sollte.“ Das ist der Sinn des Spruches: „Erkenne dich selbst!“ Erkenne angesichts der Gottheit, dass du nur ein Mensch bist. Selbsterkenntnis also setzt die Anwesenheit der Gottheit voraus. Das im Wissen des Nichtwissens Mitgewusste ist der uns „unerreichbare Horizont der Gottheit“, platonisch gesprochen: der Horizont der Wahrheit selbst. Zwischen Platon und dem Humanismus des 15.und 16. Jahrhunderts steht die einflussreiche Strömung des Neuplatonismus, zu dessen bekannten Vertretern Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und eben auch Guillaume Budé gehören. Hier rückt die Selbsterkenntnis des Menschen erneut ins Zentrum. Ihre Struktur aber hat sich nicht unerheblich gewandelt. An die Stelle der platonischen Dialektik, die den Horizont der Gottheit voraussetzt, ihn aber unserem erkennenden Zugriff entzieht, tritt hier die Vorstellung einer kontinuierlichen Stufenfolge im Bereich des Denkens und der ihm erschlossenen Gegenstandswelt. Nun kann die Selbsterkenntnis ihr Ziel, am Ende auch Gott zu erkennen, grundsätzlich erreichen. Sie setzt denn auch nicht negativ, bei den Schwächen und Defiziten der menschlichen Natur ein, sondern bei ihren sie auszeichnenden Vorzügen, ihrer Würde (einem Leitbegriff Ciceros), die sich in ihrer Rationalität und Moralität manifestiert. So formuliert Pico della Mirandola in seiner einflussreichen „Rede über die menschliche Würde“ (1486), einer Schrift, die Budé in Sprache und Argumentation offensichtlich angeregt hat, drei „delphische Gebote“ aufzustellen, deren zweites uns die Erkenntnis unserer Natur zur Pflicht macht. Selbsterkenntnis – sie ist in Umkehrung der von Calvin gemeinten Rangfolge nun die entscheidende Stufe auf dem Weg zu einer tatsächlich gelingenden „positiven“ Erkenntnis Gottes – wird so verstanden zur Aufgabe der Vernunft, den Aufstieg vom sinnlich-Sichtbaren bis hin zum unsichtbar-Ewigen anzutreten. Denn ihr Auge – so die schöne Metapher 89 Zum Folgenden ausführlich: G.Picht, Wissen des Nichtwissens und Anamnesis. Der Übergang von Sokrates zu Platon, in: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969, 97f, dessen Interpretation ich kurz skizziere.

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

Plotins – selbst „sonnenhaft“ sei durch die Teilhabe am Licht immer schon auf die Sonne bezogen. Erasmus, Budé, auch Sadolet, haben diesen Grundgedanken aufgenommen und mannigfach ausgebaut. Es ist das Auge der Vernunft (nous), das sich auf das Ewige und Unvergängliche und darum zuletzt auch auf Gott selbst zu richten vermag. (2) Calvins Interpretation. Genau hier, an dem Punkt strahlendster humanistischer Gewissheit setzt Calvin mit seiner Kritik ein. Denn wie ist es mit der Sonnenhaftigkeit unseres Auges bestellt? Müsste das plotinische Sonnenlicht – recht besehen – nicht das genaue Gegenteil dessen belegen, wozu es im Humanismus herangezogen wird? Statt unsere Fähigkeit zu natürlicher, d. h. rationaler Gotteserkenntnis zu untermauern, dient es, so hält Calvin dagegen, faktisch doch immer nur dazu, unsere vermeintliche Helligkeit als tiefes Dunkel zu entlarven. Es überführt uns, wie sehr wir in der Beurteilung unserer inneren Tüchtigkeit (virtus) Trugbildern erliegen“.90 Kurz, wer sich nur mit der Betrachtung seines eigenen „Guten“ (bona nostra) abgibt, wer die menschliche Würde zum Ausgangspunkt seiner Wahrheitssuche nimmt, kommt niemals zu einer Selbsterkenntnis, die der Wahrheit Gottes entspricht, sondern gerät in die „schlimmste Selbstvergessenheit.91 Die hier sich anbahnende Klärung läuft im Resultat tatsächlich auf eine Umkehrung der vom Humanismus unterstellten Ordnung hinaus. Die Neubearbeitung der Institutio (1539) hat nicht nur zu einer inhaltlichen Umstellung geführt: Die Auseinandersetzung mit dem Humanismus wird jetzt in einem eigenen, dem zweiten (II) Kapitel geführt (in der letzten Ausgabe dann zu Beginn des zweiten Buches). Auch die Argumentation hat sich geändert. Sie verlagert sich, entsprechend dem neuen Leitgedanken der Weisheit, den Menschen zu verändern, ihn weise zu machen, vom Erkenntnisinhalt auf den Erkenntnisvollzug. Im Zentrum steht die Applikation, die Zuspitzung der Lehre auf ihre Bedeutung für den Menschen, ihren „Nutzen“, wie es später auch im Heidelberger Katechismus (1564) heißen wird. Calvin übersetzt das reformatorische Verständnis des „Wortes“ in den Fragehorizont seiner Leserinnen und Leser: Es zielt darauf ab, den Menschen zum Glauben und zum Gehorsam zu bewegen. Fragt man, wie das geschieht, wie Calvin das Gespräch mit der Weltweisheit führt, dann zeigt sich zunächst ein anderer Aspekt seiner Argumentation. Er will den Boden für die Allgemeingültigkeit der christlichen Lehre freilegen. Sollte sich nicht ein Einverständnis über ein dem Menschen eigenes „Empfinden der Gottheit“ (sensus divinitatis) erzielen lassen? Führt uns die die universale Verbreitung des Phänomens der Religion (selbst in krudesten Formen des Aberglaubens) nicht genau dies vor Augen? Spricht ferner die bewundernswerte Ausbildung profaner

90 Inst I, 1,2; OS III,32.28f. 91 Inst II, 1,2; OS III, 230.15f: „non in sui cognitionem,sed in pessimam ignorationem“.

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Wissenschaften – Mathematik oder Astronomie, Medizin oder Jurisprudenz – in der heidnischen Antike nicht auch dafür, dass der Geist der Wahrheit, der ja kein anderer sein kann als Gottes Heiliger Geist, tatsächlich alle Menschen mit seiner inspirierenden Kraft erreicht?92 Und steht es nicht ebenso mit der Gottbezogenheit der Welt? Wer anders als Gott könnte denn den geordneten Gang der Gestirne oder die lebensdienliche Einrichtung der Welt ersinnen, geschweige denn über Jahrhunderte hin garantieren? Und doch zeigen sich hier offenkundige Fehleinschätzungen. Einen propädeutischen Wert im Sinne eines natürlichen „Anknüpfungspunktes“ für die christliche Wahrheit hat Calvin dem allgemein-menschlichen Erkenntnisvermögen nicht zuerkannt, kann doch von einem wirklichen Erfassen der göttlichen Wahrheit bei den Heiden keine Rede sein.93 Und das gilt nun auch für die in der Antike durchaus bekannte und geübte Selbsterkenntnis. Calvin hält der leichtfertigen Selbstgewissheit der Humanisten entgegen: Seit dem Fall Adams finden wir in uns selbst nur eine „Welt von Elend“, „nichts als Unglück, Schwachheit, Ungerechtigkeit und Tod“.94 Da mag einer aus sich selbst heraus „ein noch so glänzendes reines Antlitz tragen, es ist doch nichts als Heuchelei und noch dazu Abscheu vor Gott“.95 Hier also ereignet sich der Umschlag. Die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit, lehrt der Genfer Katechismus (1537), muss uns dazu führen, „von der Erde und von sich selbst wegzusehen, die Augen zum Himmel und zum Herrn zu erheben“ und so zu wahrer Gotteserkenntnis zu kommen.96 Richtig geleitete Selbsterkenntnis, erklärt Calvin – und dazu gehört das Eingeständnis, dass wir auch die gleichwohl noch verblieben Vorzüge unserer Natur nicht uns selbst verdanken – führt uns wie von fremder Hand gelenkt (quasi manu ductu) zur Erkenntnis Gottes. Das aber kann sie nur deshalb – auf diese innere Logik der Argumentation läuft der Gedankengang zu – weil und sofern sie immer schon von Gott herkommt. „Niemals kann jemand zu einer klaren Vorstellung (pura notitia) von sich selbst kommen, er hätte denn zuvor das Angesicht Gottes (faciem Dei) betrachtet und wäre von dessen Anblick zu sich selbst herabgestiegen“.97 Nur von außen, von außerhalb seiner selbst kommt der Mensch zu sich selbst; von Natur aus ist er sich selbst entzogen. Der Richtungssinn gegenüber dem humanistischen Stufenweg hat sich tatsächlich um 180 Grad gedreht. Erst indem ich mich abhebe gegen eine Wirklichkeit, die mich begrenzt, die mein Denken von sich aus weder benennen, geschweige denn setzen, sondern nur eben anerkennen kann, finde

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Inst II, 2,15; OS III, 258.10–30. Vgl. auch Inst I, 3,1; OS III,38. 11–15. Vgl. hierzu I. Werner, Calvin im Gespräch, a.a.O. (Anm. 88), 115. Inst, 1,1; OS III, 31.22.; vgl. Inst (1536), CO 1, 29; OS I,39. Inst (1536), CO 1,28; OS I, 38. Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis, CO 12,38; CStA 2, 145. 40–42. Vgl. J. Hesselink, Calvin’s First Catechism, Louisville, 1997, 48f. 97 Inst I, 1,2, OS III, 32.10–12.

Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis

ich überhaupt zu mir selbst. Calvins Gott ist kein Begriff, sondern das mit der Schöpfung über mich und gegen mich gesetzte Maß, an dem ich meine wahre Situation, meine Endlichkeit und mein „Elend“ erkenne. Allein im Blick auf ihn kann ich sie hinnehmen und ertragen, weil er es ist, der in seiner Weisheit und Gerechtigkeit mich selbst mir gleichsam übergibt. Selbsterkenntnis zielt auf den von Gott her eingesehenen und erkannten Menschen. Das also ist unsere faktische Erkenntnissituation: Zunächst sollen wir bedenken, was alles uns in der Schöpfung zuteil geworden ist, [...] daraus sollen wir erkennen, wie groß der Vorzug unserer Natur sein müsste. [...] Jene ursprüngliche Würde aber kann uns gar nicht in Erinnerung kommen, ohne dass sich alsbald das traurige Bild unserer Befleckung und Schande einstellt, [...] und [nochmaliger Wechsel der Blickrichtung!] es entbrennt in uns ein neuer Eifer, Gott zu suchen.98

Beide Seiten, die sich hier zeigen, gehören zusammen; es ist dasselbe Licht, in dem wir sie wahrnehmen: der Mensch als Empfänger von Gottes Wohltaten und als gefallenes Geschöpf. Es ist die condition humaine, wie Pascal sie ein Jahrhundert später als Paradox von Größe und Elend eindrucksvoll beschrieben hat. Die Erkenntnis des göttlichen Angesichts, so zeigte sich, ist die notwendige Bedingung, sein eigenes Gesicht zu sehen. Das ist der Form nach die Grundfigur auch der von Platon entwickelten Dialektik, und so verbindet ein zweites Merkmal die hier skizzierte Argumentation mit der sokratischen Weisheit. Wir können über diese Bedingung nicht selber verfügen. Und doch gibt es hier einen qualitativen Unterschied: Der platonische Horizont der Gottheit ist uns unerreichbar. Er liegt (wenn man denn so reden darf) „jenseits allen Seins“. Platons Gottheit hat kein Gesicht. Calvins Gott hingegen – hier meldet sich das so wichtige Motiv der Angleichung (accomodatio)99 – passt sich unserer Fassungskraft an. Er kommt uns in den Gaben der Schöpfung und – in einer ganz anderen Nähe – dann noch einmal im Werk der Erlösung entgegen. Das Medium, in dem er sich uns erschließt, ist seine voraussetzungslose Offenbarung. Deshalb stellt die Institutio (1536) das, was wir von ihm wissen können (und sollen), thetisch, ohne jede Begründung, an den Anfang.100 Dazu gehört (wovon später zu reden ist), dass er uns sein Gesetz in Herz und Gewissen geschrieben hat. Hier hat die Selbsterkenntnis ihren primären Ort.

98 Inst II, 1,1, OS III. 228,21–229,6. 99 Dazu vgl. E.A. Dowey, The Knowledge of God in Calvin’s Theology, New York 1965 (2. Aufl.), 3–17, sowie P. Opitz, Calvins Theologische Hermeneutik, Neukirchen 1999, 108ff. 100 Inst (1536) I, OS I, 37.

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2.6

Das Problem der natürlichen Gotteserkenntnis

In der zweiten Fassung der Institutio (1539) haben sich, wie angedeutet, die Gewichte verlagert. Der Begriff der Weisheit bezieht sich auf den Erkenntnisvollzug. Ilka Werner hat den nahe liegenden Vorschlag gemacht, den gleichzeitig erarbeiteten Römerbriefkommentar, namentlich sein erstes Kapitel (Röm 1, 18–23), als Vorlage dessen zu lesen, was hier geschieht.101 Dort geht es in der Form eines „Plädoyers der Anklage innerhalb eines Gerichtsverfahrens“ um das seit jeher umstrittene Problem der Gotteserkenntnis in (und aus) der Natur, also um den Bereich, in dem der Humanismus seine Erkenntniszuversicht gleichsam als Beleg meinte unter Beweis stellen zu können. Er täuscht sich jedoch (das unterscheidet Calvin übrigens auch von den weiträumigen kosmologischen Überlegungen Melanchthons) über die Perspektive, in der hier geredet und argumentiert wird: Es ist nicht der neutrale antike Zuschauer, der aus mehr oder weniger großer Distanz auf sich und die Welt blickt, sondern der von Gott Angeredete, in Gottes Präsenz Versetzte, der bei Paulus ins Spiel kommt. Nicht das Gesetz überführt ihn seiner „Nichtigkeit“, sondern die ihn anredende Offenbarung Gottes in seinen Werken. Sie trägt die „Last des Schuldarguments“ (Werner) und zwar so, dass er sich in existentieller Weise als Gottes undankbares Geschöpf erkennen muss: Wie anders sollte denn der Gedanke an Gott in deinem Gemüt Raum gewinnen, als dass du sogleich bedächtest: Bist du nicht, da du sein Kunstwerk bist, kraft des Rechtes deiner Erschaffung seinem Befehl unterstellt und unterworfen? Verdankst du ihm nicht dein Leben? Soll sich nicht all dein Tun und Planen nach ihm ausrichten?102

Analog wird uns in der Endgestalt der Institutio (1559) Christus als Mittler vor Augen gestellt, wobei Calvin betont, dass er uns eben nicht bloß gegenübersteht: Wir sehen ihn „nicht außer uns, von ferne“ an, sondern als den, der sich „herabgelassen hat, uns mit sich eins zu machen“103 Dementsprechend geht es auch in der Darstellung der Christologie um ein Zweifaches. Unter dem Aspekt der Gotteserkenntnis sollen wir uns in den Wirkungsbereich Christi einbezogen und hineingenommen wissen. Hier steht die Erkenntnis der Teilhabe an Christus, die uns im Evangelium angeboten wird, im Zentrum. Er wird als der „Unsrige“ erkannt. Unter dem Aspekt der Selbsterkenntnis bekommen wir zu wissen: „Wir gehören nicht uns selbst, sondern dem Herrn“.104 Beides gehört untrennbar zusammen. So

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I. Werner, Calvin im Gespräch (Anm. 88), 73f. Inst I, 2,2; OS III, 35. 20–24. Inst III, 11,10; OS IV, 191. 31–34. Inst III, 7,1: OS IV; 151.16.

Das Problem der natürlichen Gotteserkenntnis

ist der Gebrauch der Formel „Gottes- und Selbsterkenntnis“ bezeichnender für den, der sie übernommen als für den, der sie ursprünglich einmal gebildet hat, stellt Karl Barth in seiner frühen, wenig bekannten Calvin-Vorlesung aus dem Jahr 1922 fest und fährt fort: „Man muss bei Calvin „durchlaufend dieses Doppelte bedenken, dass von Gott und vom Menschen die Rede sei; es ist diese Synthese, die mit mehr oder weniger Klarheit alle Thesen und Antithesen seiner Theologie in ihrer dialektischen Gegensätzlichkeit und Gemeinschaftlichkeit aus sich entlässt, auf die sie, recht verstanden, alle zurückweisen wollen.“105 Wir können verstehen, warum Calvin von den Werken Gottes sagt: Wir kennen seine Hände und Füße, nicht aber sein Herz.106

Zweierlei geben diese Sätze zu bedenken: (1) Weil Gott uns in eine Welt hineingestellt hat, in der er sich selbst manifestiert, gibt es überhaupt das Problem einer „natürlichen“ Gotteserkenntnis. Er hat sich in seinen Werken, jedem Zweifel zuvorkommend, als vertrauenswürdig erwiesen. Hat Paulus nicht ebendies gemeint, wenn er uns in Röm 1,20 an ein Wissen erinnert, das aus der bloßen Kenntnis seiner Werke hervorgehen müsste? Wir erkennen genug, so die These, nämlich Gottes Ewigkeit und Macht, seine Weisheit und Güte, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, um uns jede Entschuldigung aus der Hand zu schlagen.107 Modern formuliert: Die natürliche Theologie – das ist von jeher ihr Anspruch gewesen – hat sich von dem Ziel leiten zu lassen, „einsichtig zu machen, dass Gott selbstverständlich ist“ (E. Jüngel). (2) Dieser hohe Anspruch, wendet Calvin ein, scheitert jedoch an der Unfähigkeit unserer Wahrnehmungsorgane, einer Folge des ‚Sündenfalls’, der das ganze Problem „Erkenntnis und Offenbarung“ verändert. Das Selbstzeugnis der Schöpfung trifft bei uns nicht ins Ziel: „So viele Lichter auch im Gebäude der Welt entzündet sind, um seinen Schöpfer zu verherrlichen: sie leuchten uns doch umsonst. Von allen Seiten umstrahlen sie uns und können uns doch nicht auf den rechten Weg führen.“108 Woran liegt das? Hier zeigt sich eine Differenz zwischen dem calvinischen und dem seit Thomas von Aquin geläufigen Begriff der „natürlichen Theologie“, die, sehe ich recht, von der Forschung noch kaum wahrgenommen worden ist. Um diese Aufklärungsarbeit aber geht es in den Einleitungskapiteln der Institutio (1559). Die klassische thomanische Tradition beschreibt den angeblich beweisfähigen Zusammenhang der Welt mit begrifflichen Abstraktionen (Seinstufen, Kausalitäten,

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K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1993, 215. T.H.L. Parker, a.a.O. (Anm. 93) 54. Zu Röm 1,20 siehe CO 49, 24; CStA 5.1, 85. 16–25. Inst I, 5,14; OS III, 58.35–59.1.

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teleologischen Annahmen), die noch vor aller Erfahrung (a priori) unseren Zugang zur und unser Verständnis der Natur regulieren, und schließt mit ihrer Hilfe auf die Existenz eines höchsten Seienden, einer ersten Ursache oder einer höchsten Vollkommenheit.109 Hingegen von der Natur selbst wusste diese Tradition theologisch nichts zu sagen. Sie war durchweg nur mit dem Subjekt des (von der Natur methodisch getrennten) Menschen beschäftigt. Das ist bei Calvin grundsätzlich anders. Er arbeitet mit Erfahrungen, die man im Umgang mit der Natur machen kann. Er begreift die „Herrlichkeit“ Gottes als ein Phänomen von einer geradezu körperlich spürbaren Penetranz, das seine Spuren unfehlbar im physischen und intelligiblen Kosmos hinterlässt. Selbst der Götzendienst wird ihm zum Beleg dafür, dass wir, konfrontiert mit der durchdringenden Präsenz der (und sei es eingebildeten) Gottheit, einen derart mächtigen Eindruck empfangen, dass es „leichter ist, den natürlichen Affekt zu brechen als diesen Eindruck aus der Seele zu reißen“.110 Das ist der von ihm oft zitierte „sensus divinitatis“, dem sich niemand und nicht entziehen kann. Der unaustilgbare, durch Erfahrung – experientia testatur! (I,4,1) – hundertfach bestätigte Eindruck Gottes ist nach Calvin die Wurzel unserer religiösen Anlage (semen religionis), die man mit dem „religiösen Apriori“ des 19.Jahrhunderts, einem vor aller Erfahrung liegenden kategorialen Wissen, auf keinen Fall verwechseln darf. Er ist es, der einen Menschen „ansteckt“, erfüllt und zur „bleibenden Überzeugung vom Dasein Gottes“ führt, „aus welcher wie aus einem Keim (semen) der Hang zur Religion hervorgeht.“ (I, 3,2) Man müsste „das Licht der Natur“ schon auslöschen und „jeden Gedanken an Gott, der sich ihnen doch von Natur ungewollt aufdrängt, gewaltsam von sich stoßen“, um zum Gottesleugner zu werden.111 Diese von außen sich aufnötigende, auf Wahrnehmung und Empfindung angewiesene Überzeugung, nicht aber die „angeborene Idee“ einer späteren Philosophie meint Calvin, wenn er von dem allen Menschen „eingemeißelten“ Wissen von Gott spricht. Die hier nachgezeichnete quasi empirische Basis seiner Argumentation wird vollends sichtbar, wenn er erklärt: „Wir sind zu einem Wissen (notitia) von Gott berufen, das nicht, mit eitlem Gedankenspiel zufrieden, bloß im Gehirn herumflattert.“ Vielmehr gilt: „Aufgrund seiner Kräfte (virtutes) manifestiert sich der Herr, und weil wir deren Gewalt (vis) in unsrem Inneren verspüren (intra nos sentimus), […] werden wir durch solche Erkenntnis notwendigerweise viel tiefer ergriffen (affici), als wenn wir uns einen Gott einbildeten, von dem keine Empfindung (sensus) zu uns gelangte.“112

109 Thomas erklärt am jeweiligen Ende der „Fünf Wege“: (et hoc est) quod omnes nominant [dicunt] Deum: SThI, qu.2, art. 3. Kant erklärt unter seinen Voraussetzungen dieses Beweisverfahren als einen Fehlschluss. 110 Inst I,3,1; OS III, 38. 15f: „vehementissima ista de numine impressio“. 111 Inst I,4,2; OS III, 41. 34f: „memoria, quae illis sponte a naturae sensu intus suggeritur“. 112 Inst I, 5,9; OS III, 53. 14–19.

Das Problem der natürlichen Gotteserkenntnis

Das Problem der Institutio ist also von Anfang an nicht, wie Emil Brunner und seine Gefolgsleute vermuteten, die moderne Möglichkeit einer Theologie aus natürlichem Vermögen (a priori), sondern die Frage nach einer Gotteserkenntnis aus der Natur (a posteriori), d. h. „durch die bloße und schlichte Bezeugung, welche Gottes Majestät von Seiten der Kreatur so reichlich erfährt“113 . Die Herrlichkeit Gottes erreicht uns – immer – von außen.114 Dennoch wird auch dieser Weg im Übergang von Inst I,5 zu I,6 überboten und zu einer hypothetischen Möglichkeit herabgesetzt. Vollends der Römerbriefkommentar reduziert das Vertrauen auf unsere Verstandesschlüsse nahezu auf Null: „Mit unserem Verstand ist Gott, so wie er ist, überhaupt nicht zu erfassen“, ja, „wer wissen will, was Gott [an und in sich selbst] ist, hat wohl den Verstand verloren“.115 So bleibt nur der zweite Weg, sich der Schrift als „Leiter und Lehrerin“ (dux et magistra) anzuvertrauen (I,6) und sich so – das bedeutet: auf dem Weg der Christologie, also der Offenbarung – das Verständnis der Schöpfung öffnen zu lassen, denn „Gott allein ist ein vollgültiger Zeuge von sich selbst“.116 Am Ende ist dann die Frage zu beantworten, ob (und wenn: wie) diese beiden Aussagereihen zusammen gehören. Zunächst: Was heißt in diesem Zusammenhang „Offenbarung“? Das einschlägige, in der Regel Gott und Christus vorbehaltene Wort „relevatio“ fällt in den Einleitungskapiteln der Institutio nicht. Ist von der Schöpfung die Rede, spricht Calvin von „manifestare“ oder „patefacere“. Das ändert sich, sobald die Schrift ins Blickfeld rückt, die nicht nur von der Schöpfung, sondern – ihr vorgeordnet – vom Schöpfer und dem von ihm ausgehenden Licht seines Wortes redet. und auf diese Weise „unser sonst so verworrenes Wissen von Gott in die richtige Ordnung bringt“.117 Was vom Leitfaden der Schrift zu erwarten ist, verdeutlicht Calvin auf den Spuren Luthers mit dem Kontrast von göttlicher Torheit und menschlicher Weisheit (1 Kor 1,21) und fügt hinzu, dass „niemand, von der Natur geführt, jemals so weit fortgeschritten wäre, dass er Gott erkannt hätte“. So erklärt er in der Einleitung zum Genesiskommentar: Man darf also nicht mit den Elementen dieser Welt, sondern muss mit dem Evangelium den Anfang machen, weil es uns allein Christus mit seinem Kreuz vor Augen stellt […] Die ganze Philosophie ist umsonst, wenn wir nicht durch die Predigt des Evangeliums gelernt haben, den Scharfsinn unseres Verstandes (mens) der Torheit des Kreuzes, wie

113 Inst I, 5, 15; OS III, 59. 40ff. 114 Ich möchte immerhin der Möglichkeit Raum geben, dass Calvin – etwa beim „semen religionis“ – die augustinische Illuminationslehre vor Augen gehabt und an eine „Einstrahlung“ (irradiatio) gedacht haben könnte. 115 Kom. zu Röm 1,19, CO 49,23; CStA 5.1, 81. 22 und 25. 116 Inst I, 11,1; OS III, 88. 25. 117 Inst I,6,1: OS III, 60. 29f.

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Paulus sagt, zu unterwerfen. Ich behaupte, dass wir nichts finden werden, sei es oben oder unten, das uns zu Gott erheben könnte, bis Christus uns in seiner eigenen Schule unterrichtet hat. […] Denn Christus ist das Bild, in dem uns Gott nicht nur sein Herz (pectus), sondern auch seine Hände und Füße [die Schöpfungswerke] vor Augen stellt.118

Eva-Maria Faber hat auf einen wenig beachteten Zug des calvinischen Entwurfs aufmerksam gemacht. Offenbarung ist in diesem Zusammenhang Vermittlung. Sie redet von einem Gott, der sich in personaler Zuwendung „auf Anderes hin öffnet“. Die Schöpfungswerke kommen hier weniger als Produkt denn als „Weise der göttlichen Selbsterschließung“, als Manifestation seines Willens in den Blick119 , und das wiederum findet seinen Ausdruck darin, dass Calvin die Schöpfung (anders als gelegentlich Luther nicht als Emanation) sondern als Ausführung eines göttlichen Dekretes begreift: „Die Ordnung der Natur insgesamt hängt allein von Gottes Ratschluss (decretum) ab, der jedem einzelnen Element seine besondere Eigenart mitgegeben hat“.120 Auf diese Weise wird die Beziehung von Gott und Welt in Gott selbst, seiner essentia, verankert und zwar so, dass die Überwindung der damit gesetzten Differenz allein von ihm und seiner Freiheit erwartet werden kann. In diesem Sinne bedarf es einer Vermittlung von Gott und Welt, und diese Funktion, die Ausführung des Dekrets – das führt auf den entscheidenden Punkt – schreibt Calvin dem Wort (Logos) bzw. dem Sohn zu. „Gott hat mit der Kraft seines Wortes und seines Geistes Himmel und Erde aus Nichts erschaffen.“121 Erst mit dieser trinitarischen Verklammerung von Gott und Welt – sie ist sehr viel enger als in den Entwürfen von Luther und Melanchthon – stehen wir vor dem „Licht“, das nach Inst I,6 unser Wissen von Gott in die „richtige Ordnung“ bringt und uns das Verständnis der Schöpfung erschließt – angefangen von der Frage, wie es überhaupt zur Selbstdarstellung Gottes in der Welt kommen kann, die die Auszeichnung der Schöpfung als Schauplatz seiner Herrlichkeit (theatrum gloriae Dei) begründet. Es hängt, wie Faber in luziden Analysen zeigt, alles an der Mittlerschaft von Wort und Geist. Ein Letztes: Wie verhalten sich die beiden hier nachgezeichneten Linien der cognitio Dei creatoris (Inst I) und der cognitio Dei redemptoris (Inst II) zueinander? Schöpfung und Erlösung sind durch den Logos (und den Geist) miteinander verbunden. Denn „Gott bewegt durch die Kraft desselben Geistes nicht weniger (als) alle Dinge und zwar entsprechend der Eigenart eines jeden Wesens [der Natur

118 Argumentum in Genesin, CO 23, 9f. Vgl. Luther, Heidelberger Disputation (1518), WA 1, 362 ad XX. 119 E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen 1999, 50f. 120 Psalmenkommentar, zu Ps 104,5, CO 32, 86; CStA 6, 285. 23–26. 121 Inst I, 14,20; OS III, 170.33f; Calvin gebraucht Logos und Geist oft synonym.

Die Ehre Gottes

wie des Menschen], wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung zugewiesen hat.“122 Dogmatisch stehen wir damit im Umkreis des (in der lutherischen Polemik sogenannten) Extracalvinisticum, einer Lehrbildung, die bereits auf die Alte Kirche (Athanasius, Gregor von Nyssa, auch Augustin) zurückgeht.123 Sie besagt: Wie der (präexistente) Logos ungeachtet seiner Bindung an den Menschen Jesus von Nazareth in der besonderen Verheißungsgeschichte Israels wirksam ist, so manifestiert er sich auch im allgemeinen Weltgeschehen. Er lässt sich nicht in die menschliche Natur Jesu Christi einschließen, sondern hört nicht auf, „wie im Anfang die ganze Welt zu erfüllen“124 Die im Alten Testament allen Menschen zugewandte Weisheit ist der sprechendste Zeuge dieses Vermögens. Ist sie aber Zeugin des Logos, dann muss sie als ein „Vorwort“ jenes Redens begriffen werden, das „am Ende dieser Tage“ im „Sohn“ ergeht (Hebr 1,1f.). Man hat daher zum Schaden dieses Entwurfs bisher viel zu wenig beachtet, dass der menschgewordene Christus damit geradezu als Fluchtpunkt erwiesen wird, auf den hin das theologische „Selbstzeugnis“ von Natur und Geschichte sich bewegt. Was dort undurchdringliches Geheimnis bleiben musste, ist hier für uns offenbar. Enger lassen sich Christologie und Schöpfungslehre nicht miteinander verklammern. Das Unternehmen einer im Sinne Calvins am Leitfaden der Natur gewonnenen Gotteserkenntnis braucht darum nicht von vornherein als Heidentum abgestempelt zu werden, es kann durchaus als Test auf den universalen Wahrheitsanspruch des in Christus zur Welt gekommenen Gottes in Anspruch genommen werden, der die Menschen unter den Eindruck seiner Wirklichkeit stellt. Dem Leitfaden der Schrift zu folgen, heißt es in der Vorrede zur Genesis, „steht nicht im Wege, unsere Sinne auf die Betrachtung von Himmel und Erde zu richten und auch von dort her zu suchen, was uns in der wahren Kenntnis (notitia) Gottes bestätigen kann.125

2.7

Die Ehre Gottes

Die „Ehre Gottes“ ist ein Zentralbegriff der Theologie Calvins und der auf ihn folgenden reformierten Tradition. Sie ist der Perspektivpunkt, unter dem die Aussagen über Gott, die von ihm geschaffene Welt und den Menschen sich zu einer Einheit zusammenschließen, so wie sich im Eingang des Lukas-Evangeliums (2,14) das „gloria in excelsis Deo“ mit dem Namen und der irdischen Verkündigung Jesu

122 Inst II,2,16; OS III, 259.11–13. 123 Dazu: D. Willis, Calvin’s Catholic Christology, The so-called Extra-Calvinisticum, Leiden 1966; P. Gisel, Le Christ de Calvin, Paris 1990; Chr. Link, Calvin Studien, Neukirchen 2009 (145–170), bes. 166–170. 124 Inst II, 13,4; OS III, 458. 9–13. 125 Argumentum in Genesin, CO 49, 12.

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Hermeneutische Entscheidungen

Christi verbindet, der zur „Verherrlichung seines Volkes Israel“ (2,32) in einer von Dämonen und Krankheiten (17,18) heimgesuchten Welt eingeführt wird. Gottes Ehre: das ist – jenseits aller menschlichen Verehrung – der hermeneutisch bedeutsame Ausdruck seiner verborgenen Weltpräsenz. Deshalb ist hier von ihr zu reden. Die markante Betonung der Ehre Gottes ist zunächst Ausdruck einer neuen Konzentration der reformatorischen Theologie. Sie begriff, was später unter dem dominanten Vorzeichen moderner Subjektivität als Dreh- und Angelpunkt aller Wahrheitsansprüche verloren gegangen ist, dass ihr primärer Gegenstand nicht schon der Mensch mit seiner Frage nach Gottes- und Heilsgewissheit sein kann, sondern in einer kopernikanischen Wendung nur der Gott, durch den wir uns überhaupt vor diese Fragen gestellt sehen, dessen Gegenwart wir offenbar voraussetzen, wenn wir so meinen fragen zu müssen. Dass mit der Erinnerung an die Ehre Gottes der Nerv reformierter Theologie und Frömmigkeit berührt ist, ließe sich an manchem Text Calvins und seiner Nachfolger zeigen, in einer erhellenden Zuspitzung jedoch besonders an seiner Replik an Kardinal Sadoleto. Dieser päpstliche Gegenspieler hatte sich den Genfern als leidenschaftlicher Anwalt ihres Seelenheils, verbunden mit einem unverhohlenen Appell an die menschliche Selbstliebe, zu empfehlen versucht. An dieser schwächsten Stelle seines Unternehmens, Genf in den Schoß der katholischen Kirche zurückzuholen, setzt Calvin mit dem Gegenangriff ein und zeigt exemplarisch, wie die Gewichte in der Theologie verteilt sein müssen: Natürlich ist die Berufung zum ewigen Leben wohl wert, dass sie uns Tag und Nacht in den Ohren klingt. […] Das aber ist theologisch doch etwas zu kurz gegriffen, den Menschen in einer Weise um sich selbst kreisen zu lassen, dass man ihm unterdessen den Eifer, Gottes Ehre ans Licht zu bringen, als Grundlage seiner Lebensführung nicht mehr vor Augen stellt. Für Gott nämlich, nicht für uns selbst sind wir in erster Linie geboren. Denn wenn alles aus Gott hervorgegangen ist und in ihm seinen Bestand hat [Kol 1,16f.], dann muss, wie Paulus sagt (Röm 11,36), auf ihn auch alles bezogen werden. Nur um uns Menschen die Verherrlichung seines Namens recht nahe zu bringen, hat er […] das Wirken für die Ausbreitung und Erhöhung seiner Ehre immer mit [dem Ziel] unserer Seligkeit verbunden.126

126 Antwort an Kardinal Saoleto, CO 6,10; CStA 1.2, 17. 4–9. Ein Echo dieses Appells findet man im 1. Artikel der Confessio Scotica: „Wir glauben, dass alles, was in der Welt geschieht, dorthin führt, wo es Gottes ewiger Weisheit, Güte und Gerechtigkeit gefällt, nämlich seine Ehre und Majestät ans Licht zu bringen“ (BSRK 250, 4).

Die Ehre Gottes

Man hat fragen können, ob die Reformation überhaupt einen derart neuen Gedanken über Gott hervorgebracht hat, den man nicht auch schon bei Thomas oder Bonaventura finden könnte. Unbestreitbar aber hat sie hat das Koordinatensystem, in dem diese Gedanken dort zu stehen kommen, von Grund auf neu orientiert: Sie hat in neuer Radikalität von Gott her zu denken versucht, und damit verändert sich alles. Aus der Gloria Dei, neben der es die Herrlichkeit der Kirche und ihrer Heiligen gibt, wird das „Soli Deo gloria“, welches das theologische Mittelalter beendet. Jetzt wird der Bruch mit dem Glauben an die natürliche Güte und Erkenntnisfähigkeit des Menschen vollzogen, und damit stellt sich auch das Problem eines Gott entsprechenden Lebens noch einmal neu. (1) Gottes Herrlichkeit. Was ist mit der so betonten Rede von Gottes Ehre und Herrlichkeit gemeint? Sie ist im Gebet verankert und zwar in der Auslegung des Unser-Vater etwa im Genfer Katechismus von 1537, dessen „erste drei Bitten insbesondere die Ehre Gottes in den Blick nehmen“, die dann auch „unser Wohl nach sich zieht“.127 So formuliert die erste Bitte das Ziel, dass „Gottes Herrlichkeit in seinen Eigenschaften [Weisheit, Güte, Macht] geheiligt werde, nicht etwa weil sie selber wachsen oder abnehmen könnte“, sondern „weil es nichts gibt, woraus seine Herrlichkeit (gloire) nicht, wie darin eingegraben, hervorleuchtet“.128 Die Fassung von 1542 ergänzt auf der Linie von Ps 48,11: die Heiligung seines Namens finde ihre Erfüllung darin, „dass seine Macht, Güte und Wahrheit bekannt, dass Gott aus einem unbekannten zu einem „bis an die Enden der Erde bekannten Gott werde und eben dadurch die ihm zustehende Ehre empfange“. Sie ist mit dem Namen – Calvin interpretiert: mit dem Ansehen (renommé) und der Geltung – Gottes untrennbar verbunden. Sie ist das Geschehen, in welchem das Ansehen dieses Namens aufgerichtet und zur Geltung gebracht wird, ein Vorgang also, der nicht erst durch unsere Werke und unser Leben in Gang gesetzt wird, sondern durch Gott selbst: „Er hat die Kennzeichen (notae) seiner Herrlichkeit der Vielfalt seiner Werke aufgeprägt.“129 An sich selbst zwar kann diese Herrlichkeit weder zunehmen noch abnehmen, aber – so führt der Katechismus aus – „wir bitten darum, dass sie allenthalben und in allen Dingen ans Licht trete, […] dass sie manifest werde, wie es ihr zukommt“. Unsere Bitte richtet sich „auf etwas, das Gott tun möge: dass nämlich all seine Werke herrlich erscheinen, wie sie es [an sich selbst] sind und er derart auf alle Weise verherrlicht werde.“130

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Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis (1537), CO 12, 62; CStA 1.1, 187.5f. und 10f. Ebd. 63 bzw. 189.3–10 und 13f. Inst (1559) III, 20,41; OS IV, 351. 27f. Le Catechisme de l’Église de Genève (1542), zit. n. W. Niesel (Hg), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen (1938), Zürich 1085, n. 266f, S. 30,23–29. Katechismus (1537), Anm.192, CStA 1.1, 189. 6f 9f.

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Hermeneutische Entscheidungen

Es ist deutlich: Es geht hier nicht um eine bei oder in Gott ruhende Eigenschaft. Das Attribut der Ehre oder Herrlichkeit Gottes bezeichnet wie das hebräische „kabod“ die Aura, die ihn selbst umgibt, also das Wesen Gottes, sofern es ein sich mitteilendes, sich selbst kundgebendes Wesen ist. Es steht bei Calvin als ein umfassender Ausdruck für die Gottheit Gottes in ihrer Unterschiedenheit von der Welt und vom Menschen, d. h. für Gottes Überlegenheit und Freiheit, in der er sich in seiner Schöpfung manifestiert. So verstanden bezeichnet die gloria Dei die über sich selbst hinausgehende und darum von der geschaffenen Welt gleichsam zurückstrahlende Selbstkundgebung Gottes. Und das schließt ein, dass er nicht in und bei sich selbst bleibt, sondern aus sich heraustritt, sich mitteilt und dadurch die von ihm unterschiedene Welt an seiner eigenen Gegenwart teilnehmen lässt. Seine Selbstmitteilung geht nicht ins Leere, sondern ist die Form, in der seine Herrlichkeit. sich der Vielfalt seiner Werke aufgeprägt hat. In einer deutlichen Spannung zu unserem Wortgebrauch wird mit dem Attribut der Ehre gerade nicht seine Distanz zum Menschen betont, sondern sein Vermögen, aus sich herauszugehen und sich dem Menschen zu öffnen. Seine Herrlichkeit ist seine uns zugewandte Seite. Was Calvin und die reformierten Theologen nach ihm mit der Betonung der Ehre zum Ausdruck bringen wollen, ist also zuletzt dies, dass Gott „in seiner Freiheit sich dem Geschöpf zuwendet und in seiner Zuwendung zum Geschöpf frei bleibt.“131 (2) Die Herrlichkeit der Schöpfung. Wie der alttestamentliche kabod so ist die von Calvin herausgestellte Herrlichkeit Gottes zugleich ein Phänomen, das an und in der Welt selbst in Erscheinung tritt. In der Auslegung von Ps 104,2 („Licht ist dein Kleid“) heißt es: „Dieser Ausdruck gibt zu verstehen, dass der unsichtbare Gott doch seine Herrlichkeit sichtbar macht […]. Wenn er die ganze Welt mit seinem Glanz erleuchtet, so ist dies ein Gewand, in welchem uns der gleichsam sichtbar erscheint der in sich selbst verborgen war.“132 Der Genesiskommentar erläutert: Vor unseren Augen liegt die ganze Schöpfung ausgebreitet, unsere Füße stehen auf Gottes Erde und unsere Hände betasten seine Werke ohne Zahl in mannigfachster Art, […] wir erfreuen uns im Genuss der reichsten Güter. Aber unsichtbar ruht in diesen wahrnehmbaren Dingen die unendliche Weisheit, Macht und Güte Gottes.133

Die Institutio hat diese Erkenntnisse zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung genommen: „Gott, der da unsichtbar ist und dessen Weisheit, Kraft und Gerechtigkeit

131 O. Weber, Grundlagen de Dogmatik Bd. I, Neukirchen 1955, 444. 132 Psalmen-Kommentar (1557), CO 32, 85. CStA 6,279. 25–31. 133 Genesis-Kommentar, Argumentum, CO 23, 7.

Die Ehre Gottes

unbegreiflich sind, hält uns die Schöpfungsgeschichte als Spiegel vor, in dem sein lebendiges Bild (effigies) uns entgegenleuchtet.“134 Hier gewinnen Calvins Aussagen über Gottes Ehre ihren hellsten Glanz. Sie ist Gottes Manifestation, seine Selbstdarstellung in der von ihm geschaffenen Welt. Sie ist es auch ohne Wissen und Wollen des Menschen, ja sogar gegen ihren Widerstand. Weil die Welt schon in ihrer zweckmäßigen Ordnung und Schönheit an dieser Selbstdarstellung aktiv beteiligt ist, sich schon mit ihrem bloßen Dasein in den Dienst dieser Aufgabe hineinnehmen lässt, existiert sie als Schöpfung unter seinen Augen. Denn Gott hat Wohlgefallen an allen seinen Werken. Davon lebt die Welt. Das Elementarste und in seiner hintergründigen Einfachheit zugleich Tiefste, das sich über ihre kreatürliche Existenz sagen lässt, fasst der Psalmenkommentar in dem Satz zusammen: „Status mundi in Dei laetitia fundatus est – In Gottes Freudigkeit hat die Gestalt der Welt ihren Grund.“135 Sie ist uns als ein Spiegel zugekehrt, in dem wir Gott nach dem begrenzten Maß unserer Einsicht betrachten sollen. Es gibt wohl keine zweite Schöpfungstheologie, die sich mit einer vergleichbaren Aufmerksamkeit um dieses eine Motiv gruppiert. Daher die geradezu „axiomatische“ Begründung: „Gott hat unser Heil in einer Weise am Herzen gelegen, dass er, ohne sich zu vergessen, seine Herrlichkeit an die erste Stelle [setzen] wollte, und hat deshalb die gesamte Welt mit dem Ziel erschaffen, Schauplatz seiner Herrlichkeit (gloriae suae theatrum) zu sein.“136 Er setzt seine Ehre zum Heil des Menschen aufs Spiel. Deshalb spricht Calvin hier in theologisch prägnantem Sinne von „Offenbarung“ („se patefecit“, Inst I,5,1 oder: „se manifestat“, III, 20,41).137 Er nennt die Himmel mit Ps 19 „Zeugen und Herolde der göttlichen Herrlichkeit“ und spricht in der Instutitio von „angezündeten Lichtern“, in denen „Gott uns nahe kommt und sich uns vertraut macht“ (Inst I, 5,15 und 9). Er kann sogar das Diktum Senecas: naturam esse Deum als Ausdruck frommer Gesinnung gelten lassen.138 Denn auch ohne Wissen und Wollen des Menschen, selbst gegen seinen Widerstand bleibt die Welt der Darstellungsraum Gottes. Gott hat seinen Namen – von uns übersehen oder verkannt – in ihr bekannt gemacht, so dass er in seiner Schöpfung aller Entstellung zum Trotz schon heilig ist.139 Nur daraufhin kann gebetet werden, dass seine Herrlichkeit 134 Inst (1559) I,14,1, OS III, 153. 10–14. 135 Kom. zu Ps 104,31; Psalmen-Kommentar, CO 32, 97; CStA 6, 312.18. 136 De aeterna praedestinatione Dei, CO 8,294, u.ö. S. Schreiner, The Theatre of His Glory, Grand Rapids 1991, hat unter diesem Titel eine kritische theologiegeschichtliche Studie zum Problem der „natürlichen Ordnung“ im Denken Calvins verfasst. Das Bild vom Theater hat Calvin Budé und Erasmus entnommen. Dazu: J. Bohatec, Budé und Calvin. Studien zur Gedankenwelt des französischen Frühhumanismus, Graz 1950 266. 137 Vgl. hierzu: H. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 69–71. 138 Inst I,5,4; OS III, 50. 22–24. 139 L. Bouyer, Du protestantisme à l’église (Paris 1954); dt: Reformatorisches Christentum und die eine Kirche, Würzburg 1959, 72, hat die Betonung der „Ehre“ Gottes daher als eine Korrektur des latent

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nun auch „allenthalben und in allen Dingen ans Licht trete, […] dass sie manifest werde, wie es ihr zukommt“.140 (3) Die Verherrlichung Gottes. Für diese Ehre Gottes hat die Gemeinde aktiv einzutreten. So beginnt der Genfer Katechismus (1545) mit den programmatischen Sätzen: 1. Was ist das vornehmste Ziel des menschlichen Lebens? – Gott, von dem wir geschaffen sind, selber zu erkennen. 2. Aus welchem Grund kannst du das sagen? – Er hat uns ja dazu geschaffen und in die Welt gestellt, um in uns verherrlicht zu werden. So ist es nur recht und billig, dass unser Leben, dessen Ursprung er ist, wiederum seiner Verherrlichung diene.141

Dementsprechend besteht die „rechte Erkenntnis“ Gottes darin, dass ihm die geschuldete Ehre erweisen wird. Und in welcher Weise soll das geschehen? Darauf antwortet der Katechismus: (a) dadurch, dass wir unser ganzes Vertrauen auf ihn setzen, (b) dass wir ihm mit unserem ganzen Leben dienen und seinem Willen gehorchen, (c) dass wir ihn in allen Nöten anrufen und unser Heil und was immer wir sonst uns an Guten nur wünschen können, bei ihm suchen (d) und endlich, indem wir mit Herz und Mund ihn als alleinigen Urheber (solus auctor) alles Guten anerkennen.142

Auf diesen vier Punkten baut sich dann die ganze Darstellung des calvinischen Christentums auf. Denn antworten kann man auf die Herrlichkeit Gottes nur mit einem Verhalten und mit Taten, die einen schwachen Abglanz dieses Lichtes wieder auf Gott zurückfallen lassen, also mit einer ihr entsprechenden praktischen Lebensführung. Zur Ehre Gottes im Glauben muss auch etwas geschehen. Damit ist das Thema der Heiligung aufgerufen, das Calvin der Rechtfertigung gleichstellt. Zu 1 Kor 1,30 schreibt er: Christus ist uns gemacht zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. Hieraus lesen wir, dass wir nicht allein durch den Glauben gerechtfertigt werden können, wenn wir nicht gleichzeitig in Heiligkeit leben. Denn diese Gaben der Gnade gehören zusammen,

vorhandenen „Subjektivismus“ in der Theologie Luthers interpretiert: Indem Calvin dem „sola fide“ Luthers „das Prinzp des ‚soli Deo gloria’ hinzufügt“, lasse er die Alleinwirksamkeit Gottes über den Menschen hinaus wieder zu ihrem Ursprung, zu Gott, zurückkehren, ohne dass das Heil des Menschen dadurch aus dem Zentrum rückt. 140 Genfer Katechismus (1545), Frage 266f, CO 6,96; CStA 2, 97.34–39. 141 Ebd. Fragen 1 und 2, CO 6, 11; CStA 2, 17. 6–9. 142 Ebd. Frage 7, CO 6,11 bzw. 17, 21–26.

Meditatio vitae futurae

als seien sie durch ein untrennbares Band miteinander verbunden, so dass, wer versucht, sie zu trennen, Christus gewissermaßen in Stücke zerreißt.143

Denn wem Christi Gerechtigkeit zugerechnet wird, dem wird auch der heilige Geist als Führer und Regent ins Herz gegeben, und so ist die Heiligung der Weg, auf dem die Erwählten von Gott in die Herrlichkeit seines Reiches geführt werden. Das gilt mit gleicher Konsequenz auch von dem Weg des Gesetzes, der Tora, die den Menschen nach Gal 3,24 auf Christus zuführt, so dass schon von den Juden des Alten Bundes gesagt werden konnte: Die Propheten haben ihnen „einen Vorgeschmack jener Weisheit gegeben, die einst rein und klar offenbart werden sollte, und sie haben auf sie gedeutet wie auf ein in der Ferne aufscheinendes Licht. Wo man aber mit dem Finger auf Christus selbst weisen kann, da ist das Reich Gottes erschlossen“.144 Verherrlicht wird Gott da, wo er in seinen Weisungen und Geboten, nicht zuletzt in seinen uns verborgen bleibenden Ratschlüssen anerkannt wird.

2.8

Meditatio vitae futurae – Die Betrachtung des zukünftigen Lebens

Es gibt nicht nur das Licht des Anfangs, das auf die Erde fällt und sie zum „Schauplatz der Herrlichkeit Gottes“ macht, es gibt auch ein eschatologisches Licht, das aus der Zukunft Gottes ihre Vergangenheit erhellt und ihr den Weg zu einem jenem ersten Anfang entsprechenden Leben weist. Es ist dies das Licht der Hoffnung, das sie nach Röm 8,21 mit allen Kreaturen über die Entsagungen und Mühen dieses Weges hinaus auf das Ziel einer neuen Schöpfung ausrichtet. In der Vorsehungslehre, dem Vertrauen auf einen Gott, der „in seiner unerforschlichen Weisheit alle Dinge zu ihrem Zweck und Ziel (finis) lenkt“145 , hat diese Gewissheit ihren klassischen Ausdruck gefunden, im Ausblick auf das uns verheißene „künftige Leben“ ihre orientierende Kraft. Stärker als die anderen Reformatoren hat Calvin die irritierende Vorläufigkeit und Fragwürdigkeit unseres zeitlichen Daseins empfunden. Schon die „hinfällige Flüchtigkeit der Welt, die wir vor Augen haben“, schreibt er im Römerbriefkommentar, müsste „unsere Blicke stärker nach oben lenken“.146 Deshalb findet sich in der Mitte des Traktats über das „christliche Leben“ (und damit in der Mitte der gesamten Institutio) das seit der zweiten Ausgabe (1539) unverändert übernommene Kapitel über die Meditatio futurae vitae, das sich als ein Schlüsseltext seiner Hermeneutik erweist – einer Hermeneutik, deren Bedeutung

143 144 145 146

Kommentar zum 1. Korintherbrief, CO 49, 331. Inst (1559) II, 11,5; OS III, 428.11–15. Inst I, 16,4; OS III, 194. 5f. Kom. zu Röm 8,20; CO 49, 152; CStA 5.2, 419.8f.

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darin liegt, dass sie in der Nachfolge Christi gleichsam spiegelbildlich zu der präsentisch erfahrenen Ehre Gottes den Blick auf die himmlische Herrlichkeit richtet, das heißt auf die Erlösungsbedürftigkeit auch der besten Schöpfung. Sie erweist sich als Durchgangsstadium unruhiger Fremdlingschaft im Zeichen des Kreuzes und verleiht der Ethik des christlichen Lebens (Inst III, 6–10) einen weltflüchtigen Ton: Wir kommen erst dann in der disciplina crucis wirklich voran, wenn wir lernen: Dies Leben ist, wenn man es an sich selbst betrachtet, unruhig, stürmisch und auf vielfache Weise jammervoll, in keiner Hinsicht aber wirklich glücklich. Erst dann sind wir in der Schule des Kreuzes vorangekommen, wenn wir aus solcher Einsicht den Schluss ziehen, dass wir hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten haben als Kampf und dass wir unsere Augen zum Himmel erheben müssen, wenn wir die Krone gewinnen wollen.147

Man kann die hier in ihren überwältigend negativen Aspekten geschilderte Welt gar nicht denken, ihre Unruhe, ihr Leiden an ihrer Unvollkommenheit und Schwäche nicht verstehen, ohne mehr als die Welt zu denken, und dieses mehr eröffnet sich Calvin im Ausblick auf das zukünftige Leben. Es ist ein kritisches Motiv, sofern es uns im Wissen um die Vorläufigkeit alles Irdischen davor bewahrt, uns an die Gegenwart zu verlieren. Es könnte die Theologie wieder an das erinnern, was die kritische Philosophie allem Sich-Abfinden mit den schlechten Zuständen unserer Welt entgegenhält: „dass das, was ist, nicht alles ist“.148 Calvin hat sich den Weg zu dieser Erkenntnis durch das Studium des biblischen Anfangs (Gen 1) gebahnt. Spiegelbildlich zu der Ehre Gottes, die in der Schöpfung aufleuchtet, begreift er den Sabbat als den Tag, an dem stellvertretend für alle Kreaturen die Menschen in die von Gott gefeierte Ruhe, das Zeichen der Präsenz seiner Herrlichkeit, eintreten sollen. Hier verbindet sich der Begriff der gloria Dei mit der auf Origenes und Augustin zurückgehenden Tradition der „geistlichen Ruhe“.149 In der Ruhe des siebenten Tages wird Gott frei von seinem Werk, um es in seiner Gegenwart existieren zu lassen. Hier mündet die Betrachtung seiner Werke (meditatio operum) in die Betrachtung des künftigen Lebens ein. Denn der Sabbat blickt auf das Ziel voraus, dass wir unserem Schöpfer wieder „gleichförmig“ werden sollen – ein eschatologisches Ziel, welches das kommende Reich Gottes anvisiert, das gleichsam von den Wurzeln der Schöpfung her alle Eigenmächtigkeit der Kreatur radikal in Frage stellt: Nostri non sumus, sed Domini, „wir gehören nicht 147 Inst III, 9,1; OS IV, 171, 27–33. 148 Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M., 1966, 391. 149 Calvin spricht im Anklang an das traditionelle „otium spirituale“ von der „spiritualis quietis abumbratio“ (Inst II, 8,29, OS III, 371.15). Vgl. Origenes, Contra Celsum VIII, 22 und Augustin, Contra Faustum Manichaeum, XIX, c; ep. 55,9,17ff (MPL 33, 212ff).

Meditatio vitae futurae

uns selbst, sondern dem Herrn“, lautet die Maxime150 , die uns das Sabbatgebot als Weg zu diesem Ziel einschärfen will. Wir müssen „von unserem eigenen Willen abstehen […], allen Leidenschaften des Fleisches entsagen, schließlich auch alle selbstgesteckten Pflichten drangeben, damit Gott in uns wirke und wir in ihm ruhen“.151 In dieser „geistlichen Ruhe“ erfasst Calvin die Bestimmung der Schöpfung sozusagen von ihrer äußersten Grenze her. So weist der siebente Tag schon heute über jede vorläufige irdische Erfüllung hinaus. Er ist das Unterpfand der endgültigen Wiederherstellung und Erlösung der jetzt noch entstellten, von dem Ziel ihrer endgültigen Freiheit weit entfernten Schöpfung. In ihrer am Sabbat aufleuchtenden Transparenz für das Geheimnis der gloria Dei blickt die Welt bereits auf den jüngsten Tag voraus. Das irdische Leben ist nur ein Anfang; wir werden in ihm auf die Herrlichkeit des Himmelreichs vorbereitet. So bestimmt ein weltflüchtiger Ton, der sich bis zur Verachtung steigern kann (dessen kritische Absicht man freilich nicht überhören darf) dieses zentrale Stück der vita christiana. In ihm spiegelt sich das Bewusstsein der verfolgten Gemeinden, sich hier nur wie ein Fremdling auf der Wanderschaft zu einem besseren Ziel zu befinden: Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, dann soll dies der entscheidende Gesichtspunkt (scopus) sein: Wenn sie erkennen, dass dies Leben an sich nichts anderes ist als ein Elend, dann sollen sie sich mit umso größerer Freude ganz der Betrachtung jenes kommenden ewigen Lebens widmen. Ist es einmal zu diesem Vergleich gekommen, dann kann man das irdische Leben nicht nur ruhig geringschätzen, sondern soll es auch […] verachten und verschmähen. Denn wenn der Himmel unsere Heimat (patria) ist, was ist dann die Erde anderes als Verbannung? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anders als ein Grab? […] Was dieser Leib anders als ein Kerker?152

Wie soll man diese Sätze verstehen? Es gibt eine einflussreiche Auslegungstradition – Martin Schulzes bekanntes Buch über die „Meditatio futurae vitae“ ist ihr Exponent153 – die in ihnen vornehmlich einen christlich geprägten Platonismus meinte erkennen zu können, und wer Platons „Phaidon“ vor Augen hat, weiß, wie sehr sich in der Antike strengste Abkehr von der Sinneswelt, ja „Todesweisheit“ (Overbeck) mit der Begründung von Logik und Ethik verbinden konnten. Man 150 151 152 153

Inst III,7,1; OS IV, 151. 16. Inst II, 8,29; OS III, 372. 12–14. Vgl. Kom. zu Gen 2,3, CO 23,33 (quies spiritualis). Inst III, 9,4; OS IV, 171, 2–12. M.Schulze, Meditatio vitae futurae. Ihr Begriff und ihre herrschende Stellung im System Calvins, Leipzig 1901. Man vgl. etwa Platon, Phaidon 64 A, 80B, oder Cicero, Tusc. Disputationes I 49, 118; 31,75.

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müsste jedoch die Schilderung des „Theatrum gloriae Dei“ ignorieren, insbesondere das für Calvin so wichtige Wirken des Heiligen Geistes, der den ganzen Menschen umschafft und erneuert, wollte man trotz verbaler Anklänge eine platonisch interpretierte Weltverachtung für den Grundzug seines Denkens ausgeben. Dagegen spricht schon die Struktur des calvinischen Argumentes: Während Platon die Frage nach der Bestimmung der Welt im erinnernden Rückgang auf ihre ewigen Ursprung beantwortet, blickt Calvin nach vorn in eine sich steigernde Fülle. Die gegenwärtig erfahrbaren Zeichen der Güte und Strenge Gottes sind lediglich Beginn und Anfang von größeren, deren volle Entfaltung „einem anderen Leben vorbehalten“ ist, ja es gibt ein Wachstum, „mit dem Gott die Ordnung der Natur bis zu ihrem Scheitelpunkt beständig weiterführt“.154 Erst der Ausblick auf dieses letzte Ziel öffnet unser Dasein für seine kreatürliche Bestimmung: „Was in der Erneuerung des Ebenbildes [Gottes] an erster Stelle steht“, lautet der bedeutsame Grundsatz, „das muss auch in der Schöpfung das Wesentlichste gewesen sein“.155 Es ist die dem Christentum eigene Logik, die Calvin so hoch greifen lässt und seine Ethik vor jeder pragmatischen Verflachung bewahrt. Die Hoffnung auf das zukünftige Leben ist deshalb keine Flucht aus dem Diesseits. Sie ist die „Kraft des Diesseits“ (Troeltsch), deren wir uns vergewissern müssen, um das „gegenwärtige Leben und seine Mittel“ richtig zu gebrauchen. Calvin verteidigt die Schöpfung denn auch gegen eine „unmenschliche Philosophie“, die sie uns nur zur äußersten Notdurft freigeben will, und hält dagegen, dass sie uns von Anbeginn als „eine erlaubte Frucht göttlicher Wohltätigkeit“156 zugedacht ist. Als göttliche Wohltat aber lässt sie sich nur ergreifen, wenn man aus dem scheinbar geschlossenen Zirkel unserer Bedürfnisse und Angebote heraustritt. Denn ohne den Himmel bietet uns die Erde keine Heimat; ohne das unsichtbare Reich bricht das sichtbare auseinander. Joseph Bohatec hat für die Weltlichkeit auch des späteren Calvinismus daher den Begriff einer „Theologie der Diagonale“ geprägt zwischen einer illusionslos nüchternen Betrachtung der zeitlichen Dinge und einem steilen Aufblick in die Wirklichkeit des kommenden Reiches.157

2.9

Calvins Theologie des Bundes

Der Bund markiert eine „Wasserscheide“ zwischen Wittenberg und Genf (Lillback). Das hat Konsequenzen für seine hermeneutische Funktion und Bedeutung. Luther beschreibt den Bund als eine göttliche Stiftung. Calvin betont, ohne diese Herkunft 154 155 156 157

Inst I, 5,10; OS III, 54.3–7; ebd. III, 25,11; OS IV, 455.18f. Inst I, 15,4, OS III, 179. 29f. Inst III,10,3, OS IV, 178. 35–37. J. Bohatec, Calvinstudien, Leipzig 1909, 353.

Calvins Theologie des Bundes

zu bestreiten, die Analogie zu mittelalterlichen Lehensverhältnissen; er begreift ihn als einen zweiseitigen Bund mit der ihm inhärenten Spannung einer „wechselseitigen Verpflichtung“ (mutua obligatio), was die interpretierenden Begriffe pactum (vertragsrechtliche Übereinkunft), foedus (eidlich besiegelte Abmachung) und testamentum (letztwillige Verfügung) verdeutlichen.158 Er ist, so verstanden, ein Strukturmerkmal reformierter Theologie und darf als „grundlegende hermeneutische Kategorie Calvins“ gelten. In seiner Schriftauslegung spielt er eine zentrale Rolle. Er soll das in den biblischen Traditionen dokumentierte wechselhafte Verhältnis Gottes zu Israel – die etwa von D. Schellong herausgearbeitete Spannung von Verheißung und Darbietung (promissio/exhibitio)159 – als eine Geschichte Gottes mit seinem Volk interpretieren. Er ist die Klammer, die Altes und Neues Testament als Einheit eines unteilbaren göttlichen Willens und Plans zusammenhält. Für Calvins theologisches Konzept des Bundes, seine Essenz, ist daher der „Begriff der Bindung Gottes“ das entscheidende Merkmal, „Gods own act of joining Himself with his creatures“.160 In diesem Sinne kommentiert denn auch Edward A. Dowey: Die Bundesgeschichte „unter den Bedingungen der Sünde“ ist die „Matrix des calvinischen Denkens“. Sie ist, wie Calvins Theologie im ganzen, bestimmt „durch einen zeitlichen Prozess, ein Woher und ein Woraufhin, ein Nicht-mehr und ein Noch-nicht, ein Prozess freilich, in welchem sich das Nicht-mehr und das Nochnicht überlappen, in welchem der Ursprung (die Geschöpflichkeit als solche) und das letzte (eschatologische) Ziel im historischen Leben der Kirche koexistieren“,161 mit einem Wort: der Bund ist der Schlüssel der Heilsgeschichte. Natürlich hat Calvin Vorläufer. Für seine Gleichsetzung von promissio und foedus – „Gott nennt seine Verheißungen Bünde“162 – finden sich offenkundige Parallelen in Luthers Schrift De captivitate Babylonica“ (1520)163 . In systematischer Absicht sind ihm Zwingli und Bullinger vorausgegangen. Sie brauchten den Begriff zur Verteidigung der Kindertaufe. Am ausführlichsten hat vor ihm H. Bullinger das Thema behandelt.164 Hier findet sich der (schon auf Zwingli zurückgehende) Gedanke, dass der Verlauf der Geschichte durch den Verweis auf Gottes Bundesschlüsse 158 P.A. Lillbaeck, The Binding of God. Calvin’s Role in the Development of Covenant Theology, Grand Rapids 2001, 137f. 159 D. Schellong, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, München 1969, 191-202; P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen 1999, 202. 160 P.A. Lillback, a.a.O. 137. 161 E.A. Dowey, The Structure of Calvin’s Thought as Influenced by the Twofold Knowledge of God, in: W.H. Neuser (Hg.), Calvinus, Ecclesiae Geneviensis Custos, Frankfurt 1984, 138. So auch: A.A. Hoekema, The Covenant of Grace in Calvin’s Teaching, in: Calvin Theological Journal 2/2, 1967 (133–161). 162 Inst (1536), OS I, 119) 163 Dazu P. Opitz, a.a.O. 203, Anm. 116. 164 H. Bullinger, De Testamento seu foedere Dei unico et aeterno, Zürich 1524.

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entfaltet werden könnte. Schon mit Adam sei der eine Bund Gottes – gültig seit der Grundlegung der Welt bis an ihr Ende – geschlossen worden, dann mit Noah als Bund für das ganze Menschengeschlecht und schließlich mit Abraham als Bund für Israel – und zwar immer schon ausgerichtet auf seine Erneuerung durch den Mittler Jesus Christus. Der universale Sinn, den Zwingli dem Bundesbegriff damit geben wollte, ist das grundsätzlich Interessante an dieser Konzeption: So ist die Gemeinde des erneuerten Bundes im Glauben keineswegs von Abraham getrennt, vielmehr mit Israel ein Volk und eine Kirche, Erbin des einen Testamentes, das jetzt freilich, post Christum natum, ausdrücklich allen Völkern verkündigt und ausgehändigt wird. Die für Calvin so zentrale These, dass die Substanz des Israel-Bundes (Glaube und Liebe als innerster Kern des Gesetzes) den Kern auch seiner neutestamentlichen Gestalt ausmacht, ist hier vorgebildet. Auf der anderen Seite haben weder er noch auch Zwingli und Bullinger den weiteren, in den mittelalterlichen Sentenzen-Kommentaren und ‚Summen’ vollzogenen Schritt getan, das Thema des Bundes als einen eigenen dogmatischen Artikel zu formulieren. Man kann deshalb auch Calvins Aufstellungen nicht als ein Vorspiel der späteren Föderaltheologie interpretieren. Zu den bekanntesten Ausführungen Calvins, auf die sich die meisten Darstellungen beziehen, gehören die Kapitel II,10 und 11 der Institutio (1559). Sie sind zum größten Teil unverändert aus dem Text der Ausgabe von 1539 (bzw. 1543) übernommen.165 Zu einem genaueren Verständnis des Bundesgedankens ist Calvin jedoch erst sehr viel später gekommen. Als wichtigste Quellen gelten heute der Genesiskommentar (1553), namentlich die Auslegung des Abrahambundes (Gen 17), die Psalmenauslegung (1557) sowie die Deuteronomium-Predigten (1555/56)166 . Um so erstaunlicher ist es, dass der dort erarbeitete Ertrag – abgesehen von der Erörterung des Glaubens Abrahams (II,10,11) – in der Inst (1559) keinen erkennbaren Niederschlag gefunden hat. Weder die ausführliche Diskussion des Abrahambundes, noch die sorgfältige definitionsmäßige Beschreibung des Psalmenkommentars, der die beiden Perspektiven des bedingungslos geschlossenen und des unter Bedingungen stehenden Bundes ausleuchtet, ist hier wirklich aufgenommen worden. Das dominierende Thema der Institutio ist vielmehr von Anfang an die Frage nach Einheit und Verschiedenheit der beiden biblischen Testamente. Und hier lautet die These: Die Herabkunft Gottes im Messias Christus ist nicht erst in der Stunde Null (Gal 4,4) in Bethlehem geschehen, sondern bereits in der Verheißungsgeschichte Israels. Es ist das Sprachfeld der Kondeszendenz, mit dem Calvin die Auszeichnung

165 Ein neues Einleitungskapitel (II,9) hat Calvin 1559 hinzugefügt. Hier geht es um die besondere Stellung Johannes des Täufers, also um die Abgrenzung von promissio und exhibitio. 166 R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin, 154f. Dazu: A. Thiel, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel der Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen1999, 131–133. Für die Inst (1539) ist der Römerbrief-Kommentar (1540) (insbes. zu Röm 9,6f) maßgebend.

Calvins Theologie des Bundes

des Israel-Bundes beschreibt: „propinqua vicinitas“, „affinitas firma“, oder: „Deum nobiscum habitare“ (Inst II, 12,1). – Die verschiednen Stationen (und Haftpunkte) dieser Bundestheologie will ich im Folgenden daher kurz skizzieren: (1) Der Bund als Ordnung der Beziehung von Gott und Mensch. Dennoch ist der Bund kein konstitutives Aufbauprinzip der Theologie Calvins. Entwürfe, die ihn später dazu gemacht haben, etwa die Föderaltheologie mit ihrer Unterscheidung von Werk- und Gnadenbund oder die Vorstellung eines innertrinitarisch vor aller Zeit zwischen Vater und Sohn geschlossenen Bundes der Erlösung, lassen sich nicht auf ihn zurückführen. Und doch hat der Bundesbegriff, wie Anthony A. Houkema in der ersten neueren, umfassenden Darstellung gezeigt hat, eine höchst bedeutsame Funktion im Ganzen der Theologie Calvins, und das in dreifacher Hinsicht.167 Er ist zunächst der Schlüssel, die Einheit der Schrift zu begründen, wie der viel zitierte Satz der Insitutio zu verstehen gibt: „Der mit den Vätern geschlossene Bund unterscheidet sich im Wesen (substantia) und in der Sache selbst in nichts von dem unsrigen, sondern ist ein und derselbe.“168 Das Recht dieses Satzes ist jedoch nicht unbestritten geblieben. Cornelis Graafland hat in seiner Analyse einer der von Calvin angeführten Belegstellen (Jer 31,31–34) geltend gemacht, dass der alttestamentliche Text selbst die ihm hier aufgebürdete Beweislast gar nicht tragen kann. Die Gründe für die „Einheit des Bundes“ seien vielmehr alle „theologischdogmatischer Art: die Unveränderlichkeit Gottes und seines Rates, das ewige Gesetz, der eine Christus, der eine Glaube“ usf.169 Mit diesen systematischen Argumenten bestreitet Calvin (wie vor ihm Zwingli) die Behauptung, die alttestamentliche Ära sei im Blick auf Gottes Weg und Umgang mit seinem Volk völlig verschieden von der Epoche des Neuen Testaments. Der Bund ist zweitens – auch hier hat Zwingli auf den Spuren Luthers in der Auseinandersetzung mit den Täufern die Weichen gestellt – das entscheidende Argument für die Legitimität der Kindertaufe.170 Denn die Taufe ist ein Bund mit Gott und braucht als solche ein verpflichtendes äußeres Zeichen. Der besondere dritte Akzent, den Calvin setzt und in der Institutio (1559) weiter ausgebaut hat, betrifft die geschichtliche Bedeutung des Bundes als Weg, auf dem Gott mit seinem Volk handelt. Er verankert die biblische Botschaft in geschichtlichen Ereignissen, statt sie als zeitlose Wahrheiten zu präsentieren. So ist er imstande beides, die Kontinuität der göttlichen Offenbarung und ihr Fortschreiten in der Schrift sichtbar zu machen:

167 A.A. Houkema, The Covenant of Grace in Calvin’s Theology, in: Calvin Theological Journal 2/2, Grand Rapids 1967, 133–161. 168 Inst II,10,2; OS III, 404. 5–7. 169 C. Graafland, Alter und Neuer Bund, eine Analyse von Calvins Auslegung von Jeremia 31, 31–34 und Hebr 8, 8–13, in: H.A. Obermann u. a. (Hg), Reformiertes Erbe, Bd. 2 (FS G.W. Locher), Zürich 1993 (127–146), 128f. 170 Inst IV, 16,5; OS V,308. 35f.

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Denn der Herr hat bei der Darbietung des Bundes diese Ordnung (dispensatio) innegehalten: Je näher die Zeit der vollen Erfüllung kam, desto größere Herrlichkeit ließ er in tagtäglicher Steigerung kundwerden. So waren es im Anfang, als Adam die Verheißung gegeben wurde, nur wenige schwache Funken, die da aufleuchteten; dann wuchs die Helle und immer mehr Licht wurde sichtbar […], bis schließlich Christus als die Sonne der Gerechtigkeit den ganzen Erdkreis in strahlenden Glanz tauchte. (Inst II,10,20; OS III, 420. 7–13)

Der besondere Ertrag der Kommentare und Predigten zeigt sich in den Darstellungen, in welchen Calvin den Bund und die besondere Stellung des Menschen in ihm am Modell eines rechtlich bindenden Vertragsverhältnisses (mutua obligatio) erläutert. Denn er, der Mensch ist als Verhältniswesen erschaffen. Er steht, solange er lebt, in einer unaufgebbaren Beziehung zu Gott, der ihn als Mitwisser seiner Schöpfung ins Dasein gerufen hat, und dem er deshalb in erster Linie verpflichtet ist171 . Was dieser Bund umschließt, in welchem er zur Ehre Gottes und als dessen Partner das eigene Leben führen soll, hat der Psalmenkommentar in einer sonst unerreichten Dichte beschrieben: Der souveränen Gnade Gottes, die das Rechtsverhältnis des Bundes begründet, steht die Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber; Verheißung und Verpflichtung sollen einander entsprechen: Doch an erster Stelle muss man festhalten, dass dieser Bund, da ja Gott verheißen hat, er werde einen Erlöser senden, von dem man das Heil erhoffen muss, ganz und gar unverdient (gratuitu) zustande gekommen ist. Denn er ist ein Ausfluss der ersten Annahme (adoptio) [Adams], die auch ihrerseits unverdient geschah. So konnte auch die Treulosigkeit des gottlosen Volkes nicht hindern, dass Gott mit dem Erscheinen Christi öffentlich gezeigt hat, dass er ihren Verdiensten nichts zugesteht. […] Er hat nicht aufgehört, den Juden weiterhin sein Entgegenkommen (favor) zu erweisen, da er sie ja ohne Verdienst erwählt hatte. […] Daran also halten wir fest, insoweit jener Bund nicht unter [irgendwelchen] Bedingungen zustande gekommen ist: Weil er aber andere Begleiterscheinungen (occasiones) nach sich zog, ist eine Bedingung hinzugesetzt worden: ‚Wenn ihr meinen Geboten (mandata) gehorcht, werde ich zum Guten für euch sprechen’. (CO 32,348; zu Ps 132,12).

Dieser konzentrierte Abschnitt fasst zusammen, was die zeitlich früheren Erörterungen (Genesis-Kommentar, Deuteronomium-Predigten) an Ort und Stelle ausführlich darlegen. In der Sprache einer späteren Theologie formuliert: Der Gnadenbund ist „einseitig“ in seinem Ursprung, „zweiseitig“ in seiner geschichtlichen Realisierung und Erfüllung. Einseitig ist er wie der Noahbund (Gen 9,11–17), weil

171 Der staatsrechtliche Begriff der mutua obligatio stammt aus dem römischen Privatrecht: J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (1937), Aalen 1968, 66f.

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er seinen Ursprung ganz in der unverdienten freien Gnade Gottes hat, ohne den Menschen eine Pflicht aufzuerlegen. Sein Fundament liegt einzig und allein in Gottes Erwählung, die mit der Verheißung verbunden ist, er werde wie Adam so auch Abrahams Nachkommen in ein Kindschaftsverhältnis aufnehmen. Zweiseitig – eine Veränderung, die Calvin, wie der erste hier zitierte Satz nahe legt, als eine Einschränkung empfunden haben mag (da sie historisch mit der Situation Israels im Exil zusammenhängen muss)172 – zweiseitig ist er, weil der menschliche Partner, wie alle geschichtliche Erfahrung zeigt, es an der wie selbstverständlich erwarteten Anerkennung und Bejahung des göttlichen Angebots fehlen lässt. Denn darin unterscheidet sich der hier gemeinte Israelbund vom Noahbund, dass er einem bestimmten Kreis von Menschen gilt und deshalb mit historischen „Begleitumständen“ rechnen muss, d. h. mit der von den Propheten so heftig beklagten „Untreue“ Israels, die ihn nun unter eine zusätzliche Bedingung, den ‚gesetzlichen’ Gehorsam gegenüber den göttlichen Weisungen, stellt. Das aber, so Calvins Argument, könnte wiederum zu dem Missverständnis führen, als hingen Dauer und Gültigkeit des Bundes von der Leistungsbereitschaft des Menschen, seinen „Verdiensten“, ab. Demgegenüber will er die ursprüngliche Wurzel des Bundes freilegen, die Verheißung, die sich aller Untreue und Bosheit des Menschen zum Trotz zuletzt als überlegen erweist. Er will sie in ihr durch Christus beglaubigtes Recht setzen und neu zur Geltung bringen. (2) Der Abrahambund. Das Drama des zweiseitigen, „wechselseitigen“ Bundes (mutuum bzw. bimembre foedus) entfaltet Calvin im Genesiskommentar. Er stellt ihn – stellvertretend für alle Menschen – unter das Zeichen der Verheißung Abrahams173 , der seinerseits die Integrität des Berufenen spiegeln soll. Er soll sein Leben in den Dienst der göttlichen Gerechtigkeit stellen, als hätte Gott selbst zu ihm gesprochen: „Sieh’ doch, wie gütig ich dir entgegenkomme. Denn ich fordere diese Integrität nicht einfach von dir, wie es mir von Rechts wegen zustünde, als Befehl, sondern weil ich dir nichts schulde, gehe ich unentgeltlich (gratis) diesen wechselseitigen Bund [mit dir] ein“.174 Er ist, wie Calvin hinzufügt, ja nur die sachgemäße Fortsetzung der einst ihm gegebenen Verheißungen, die mit dem ihm verliehenen Ehrentitel „Vater vieler Völker“ sogar noch überboten wird. Wer aber sind diese Völker? Dass Mose weit über die leiblichen Nachkommen Abrahams und deshalb auch über den Ismael-Stammbaum hinausblickt, ist unbestreitbar. Die „zwölf Stämme Israels stehen zu dieser Zeit zwar für ebenso viele Völker, doch nur als eine Vorhut (praeludium) jener unendlichen Menge, die schließlich dem Geschlecht Abrahams beigesellt worden ist“. In anderer Hinsicht

172 Vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1962 (4.Aufl.), 170. 173 Genesiskommentar, CO 23, 235: „Fundamentum quidem vocationis divinae gratuita est promissio.“ 174 Ebd., 235.

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freilich „sind sie Außenstehende, die [erst noch] zu einer Familie zusammenwachsen sollten.“175 Dieser leise Vorbehalt – auch die Kirche habe sich von Ismaeliten, Idumäern und ähnlichen Leuten getrennt und sie als Fremdlinge betrachtet – bringt Calvin dazu, den Vorrang Israels mit starken Worten zu begründen: Nur mit ihnen habe Gott seinen Bund geschlossen. Doch es gebe verschieden bestimmte Grade der Annahme (adoptio). Während den Juden die Erbschaft des Lebens von Rechts wegen zugesprochen wird, gewönnen die Völker sie dadurch, dass sie von ferne hinzugekommen sind. Da sie aber in einer Weise in die Kirche aufgenommen sind, dass auch ihre Söhne Erben derselben Gnade werden sollten, heißt dieser Zusammenschluss ein „immerwährender Bund (perpetuum foedus) bis zur Erneuerung der Welt, die sich mit der Wiederkunft Christi ereignet“.176 Calvin fasst seine Auslegung mit Gen 17,7 in zwei Sätzen zusammen, die auf seine These der substantiellen Einheit von Altem und Neuem Bund (Inst II,10,2) vorausweisen: „Wen Gott als Glied seines Volkes annimmt, den bestimmt er auch zum Erben des himmlischen Lebens, indem er ihn seiner Gerechtigkeit und all seiner Güter teilhaftig macht. Halten wir also als Hauptstück des Bundes fest, dass der, welcher sich den Söhnen Abrahams als Gott zusagt, ein Gott der Lebenden ist und nicht der Toten.“177 (3) Der Bund in den Deuteronomium-Predigten. Dass im Corpus dieser Predigten dezidiert vom Gnadenbund die Rede ist, braucht man angesichts des zentralen Abschnitts Dtn 7,6–10 – man hat ihn den locus classicus der alttestamentlichen Erwählungslehre genannt – kaum eigens zu betonen. Hier ist alles auf den Ton gestimmt, dass der Bund seinen Ursprung allein der unverdienten Zuwendung Gottes verdankt:178 Ansonsten haben die Predigten ein durchaus anderes Thema als der Genesiskommentar. Sie reden in fast monotoner Eindringlichkeit von den Verpflichtungen, die uns aus diesem Verhältnis erwachsen. Das Deuteronomium selbst ist ja ein durch und durch paränetisches Buch, eine werbende, fast beschwörende Anrede an Israel. In ihm ist „die Summe einer offensichtlichen umfassenden Predigttätigkeit zusammengezogen“.179 Sein Gegenstand ist der rechtlich ausformulierte zweiseitige Bund: 175 176 177 178

Ebd. 236. Ebd. 238. Ebd. 239. CO 26, 525 (Predigt zu Dtn 7,6–10). Ähnlich heißt es in der Predigt zu Dtn 26,16–19: „Was ist der sterbliche Mensch, dass er es wagen könnte, vor Gott zu treten und zu sagen: Verpflichte dich mir und lass uns hier einen Vertrag miteinander schließen: Du sollst mein Gott sein und ich will zu deinem Volk zählen! Müssten die Menschen nicht rasend geworden sein, wenn sie anfingen, auf diese Weise mit Gott zu reden? Halten wir also fest, dass es seine Sache ist, uns den Mund zu öffnen und uns solch ein Zeugnis zu geben.“ (CO 28,289; Predigt zu Dtn 26, 16–19). Zu vergleichen sind auch die Predigten zu Dtn 4,4–53 (CO 26,242) und Dtn 26,16.19 (CO 28,289). 179 G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1962 (4.Aufl.), 234.

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Gott verhandelt (contracter) mit uns, wie wenn zwei Parteien eine wechselseitige Verpflichtung (obligation mutuelle) auf den Weg bringen wollen […] Auch da gibt es angefügte Bedingungen: Wenn eine Partei einer anderen ein Geschenk geben will, so tut sie es unter dem Vorbehalt, dass die andere Partei, der Empfänger, sich ihr gegenüber verpflichtet fühlt. Der Beschenkte empfängt die Gabe, verpflichtet sich aber seinerseits dem Geber gegenüber, und die beiden machen folgende Versprechungen: Ich verzichte auf alle meine Rechte und lege sie in die Hände eines anderen; ich nehme das Geschenk an unter der Bedingung, dass ich auch tun werde, was er von mir verlangt. (CO 28,286; Predigt zu Dtn 26,16–19)

Das ist die Sprache des vertragsrechtlichen Bundes. Der Ausdruck der „wechselseitigen Verpflichtung“ – er begegnet als fester Terminus in den politisch-rechtlichen Erörterungen, etwa in den Predigten zu 1 Sam 8 – ist dem römischen Privatrecht entnommen. Anders als in der herrschenden mittelalterlichen Auffassung fehlt bei Calvin jedoch, wie Josef Bohatec gezeigt hat180 , „das entscheidende naturrechtliche Merkmal, die Fiktion des Unterwerfungsvertrages“ mit der Folge, dass Calvin den Gedanken des Vorbehalts gegenüber dem „Geber“ ablehnt. Ist schon einem pflichtvergessenen Herrscher, so ist erst recht Gott in jedem Fall Gehorsam zu leisten. So treffen im Gnadenbund Gottes Souveränität und des Menschen Verantwortlichkeit aufeinander. Die hier gemeinte Wechselseitigkeit erläutert Calvin mit einer musikalischen Metapher: Das vertragliche Verhältnis muss so gelebt werden, als gäbe es einen Einklang und eine Melodie zwischen Gott und uns, so dass, wenn er uns seine Wohltaten erzeigt, wir sie in einer Weise hoch achten, dass wir unsererseits uns bemühen, ihm zu dienen und ihn deshalb zu ehren – eingedenk dessen, dass er uns zu sich ruft, um uns von unseren Sünden fortzureißen. (CO 25, 694; Predigt zu Dtn 1,34–40).

Auf diesem Hintergrund begreift man, dass auch die Verheißungen des Bundes – Gott werde uns „durch seinen Heiligen Geist regieren, sein Wort in unser Herz schreiben“ und uns „mit unseren Schwachheiten tragen“181 – unter bestimmten Bedingungen stehen, in erster Linie unter der einer gewissenhaften Befolgung des Dekalogs. Doch wie wird Calvin mit dem Widerspruch fertig, dass der Bund einerseits Ausfluss unverdienter reiner Gnade ist und anderseits nun doch unter Bedingungen steht? Er hat sich die Frage selber gestellt und nennt zwei Gründe: Einmal will Gott uns seine Gnade besser fühlbar machen, indem er uns zu dem Eingeständnis nötigt, dass nichts von alledem, was er uns anbietet, wirksam werden könnte,

180 J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (1937) Aalen 1968, 67. 181 CO 29, 86; Predigt zu Dtn 32, 44–49.

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wenn dabei unsere eigenen Taten ins Gewicht fallen sollten […] Sodann erträgt er unsere Taten trotz ihrer vielen Fehler und Schwächen. Doch er denkt nicht daran, sie so zu ertragen, dass wir sie zum Vorwand nehmen dürften, seine Gnade zu missbrauchen.“ Er „akzeptiert unsere Werke und hält sie für gut aufgrund seiner väterlichen Güte, aber nicht um irgendeiner Pflicht willen, durch die er [an sie] gebunden wäre. (CO 26, 536f. und 535; Predigt zu Dtn 7,11–15).

Das entscheidende Argument ist demnach dies, dass die Verpflichtungen bzw. realen „Bedingungen“, also unsere „Taten“, keinen verdienstlichen Charakter haben.182 Calvin fürchtet den Zusammenbruch des Glaubens in dem Augenblick, wo er aufhören würde, ganz und gar Verheißungsglaube, Glaube an Gottes Barmherzigkeit zu sein. Die „Balance“, die er damit erreicht, entspricht somit genau der vierten Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Unsere Vergebung ist kein meritorisches Werk. Aber wer nicht selber zur Vergebung bereit ist, weiß nicht, worum er da bittet. Und so auch hier: Wer sich durch den Bund nicht in Pflicht nehmen lässt, weiß nicht, auf welches Gegenüber er sich hier eingelassen hat. „Man lernt hieraus, was Gottes Absicht ist, wenn er sich eine Gemeinde sammelt: Welche er berufen hat, die sollen heilig sein.“183 Das angesprochene Problem wird in den Predigten noch unter einem weiteren Aspekt beschrieben, der in der Institutio (III,21,5–7) ausführlich erörtert wird, dem Blick auf die Erwählung, die sich als das von Gott gelegte Fundament des Bundes erweist: Es genügt nicht, dass Gott uns nur erwählt hat, um uns in sein Haus zu bringen […], so dass er in unserer Mitte wohnt; notwendig ist vielmehr, dass ein jeder von uns [die Präsenz dieses Wohnens] auf sich selbst bezieht, damit das Evangelium nicht umsonst gepredigt wird und wir den Namen, Christen zu sein, etwa tragen sollten, ohne dass dessen Wirkung an und in uns sichtbar würde. (CO 27,47; Predigt zu Dtn 10,15–17).

Dieser Aspekt meldet sich bereits im Römerbriefkommentar und zwar aus Anlass derselben soeben behandelten Frage, „unter welcher Bedingung der Herr die Nachkommenschaft Abrahams sich als sein besonderes Volk adoptiert hat“.184 Hier unterscheidet Calvin zwei Stufen (gradus), von denen später zu reden sein wird, eine allgemeine Erwählung, die auch Ismael und Esau umfasst, und eine zweite, dem

182 „Der Bund“ – so heißt es dann in der Inst (1559) II, 10,2 – „durch den [die Menschen] mit dem Herrn versöhnt wurden, war in keinerlei Verdienst ihrerseits begründet, sondern allein im Erbarmen des sie rufenden Gottes.“ 183 Kom. zu Gen 17,1; CO 23,234. 184 Kom. zu Röm 9,6; CO 49,175; CStA 5.2, 475.40f.

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geheimen Ratschluss Gottes entspringende (secunda bzw. arcana electio), welche die Wirksamkeit und Kraft der Verheißung in einer rückhaltlosen Einstimmung in Gottes Willen erst zum Ziel bringt. Dafür jedoch können wir nicht selber einstehen. Vielmehr sorgt Gott selbst in der Zuwendung einer „zweiten Gnade“ für die Erfüllung jener angedeuteten Bedingungen. Das führt uns zu einem vierten Punkt. (4) Die Institutio. Die Bundestheologie der Institutio nimmt das soeben angesprochene Thema explizit auf. Sie spielt hier eine besondere Rolle und zwar „als der essentielle Horizont, in dem sich Gott zunächst Israel und dann auch seine Kirche erwählt“.185 Damit ist das Problem der Hermeneutik aufgerufen: Der Bund wird in seinen Gestalten als Abraham- und Israelbund durch die Initiative Gottes begründet, der sich – so der besondere Akzent – zum Menschen herablässt, um ihn im Akt der Erwählung in seine Gemeinschaft zu berufen und in der Form einer „gegenseitigen Beziehung“ (relatio mutua)186 sich auf ihn einlässt. Gott wird hier als der zur Welt Kommende begriffen, der sich in seiner Freiheit als Immanuel mit dem Menschen verbindet.187 Auf diese Weise fasst der Bundesbegriff die beiden charakteristischen Züge des Gotteswortes als ein unserer Fassungskraft sich akkomodierendes und in seinem Verheißungskern uns erwählendes Wort zusammen und ist dadurch imstande, das besondere, hier gemeinte Verhältnis sachgemäß zu entfalten. Dazu gehört in Sonderheit – das ist das neu hinzukommende Moment –die Betonung des geschichtlichen Charakters dieser Beziehung. Er begründet eine Geschichte zunehmender Nähe Gottes, in der er sich bei der Darbietung des Bundes „in tagtäglicher Steigerung bis zu seiner vollen Enthüllung (exhibitio)“ in Christus bekannt gemacht hat.188 Denn er hat sein Volk aus der ägyptischen Knechtschaft, dem Typus geistlicher Gefangenschaft, „mit der Kraft seines Armes ins Reich der Freiheit geführt“189 , das zum Vorbild des erwarteten letzten geistlichen Reiches werden soll. Der Weg zu diesem Ziel verbürgt die Kontinuität des Bundes durch die Zeiten. Er wird durch das Angebot je neuer Verheißungen gebahnt. In diesen „Wegcharakter“ (Opitz) des Bundes ist deshalb auch das meistzitierte Kennzeichen der Theologie Calvins eingeschrieben, das Gesetz. Es wird als Wegweisung des Menschen, als ihn in Bewegung setzende Kraft der Aktivität Gottes zugeordnet und ist, so verstanden, das prominenteste Merkmal der „den Juden dargebotenen Gnade“. Die „Wasserscheide“ zwischen Genf und Wittenberg hat ihren Grund in dieser hermeneutischen Pointe des Bundes. In Calvins Worten: „Das Gesetz ist „nicht dazu gegeben, das Volk des Alten Bundes bei sich selbst

185 M. Weinrich, Ökumene. Zur Einführung, in: Ders./U. Möller (Hg), Calvin heute. Impulse der reformierten Theologie, Neukirchen 2009, 99. 186 Inst II,8,14; OS III, 355. 19. 187 Ebd. 12, 1; OS III, 437.15–18. 188 Ebd. 10,20; OS III, 420.5f. und 11–13. 189 Ebd. 8,15; OS III, 356.34.

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festzuhalten, sondern um die Hoffnung auf das Heil in Christus bis zu seinem Kommen zu bewahren“.190 Von den Konsequenzen dieser Erkenntnis ist nun zu reden.

2.10

Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament: Israel und die Kirche

Die zentrale Stellung des Bundes hat die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament im Reformationszeitalter zum Gegenstand neuer, intensiver Erörterungen werden lassen, und damit die von jeher umstrittene Frage nach der Stellung der Kirche zum Judentum noch einmal in aller Form gestellt. Denn wenn der Bund als „Horizont der Auslegung des Alten Testaments“ es erlaubt, ja nachgerade dazu nötigt, die „ganze biblisch bezeugte Geschichte als Christusgeschichte zu verstehen“191 , dann müssen ihre Akteure – hier das Judentum („Israel“), dort das Christentum („Kirche“) – in einer ganz anderen Nähe und Kommunikationsgemeinschaft zusammengehören, als es ihre konfliktreiche Geschichte bis hin zu der historisch singulären Katastrophe der Shoa erkennen lässt. Ist Christus nicht schon im Alten Testament als der „ewige Sohn Gottes“ präsent? Ist er als der „Mittler“, der diesen Bund begründet hat, nicht von Anfang an in das Handeln Gottes mit einbezogen? Die beachtlichen Klärungen, die Calvin angesichts einer jahrhundertealten Polemik auf diesem Feld gelungen sind – wir haben es hier mit den Folgen seiner bundestheologischen Hermeneutik zu tun – gehören zum Verständnis- und Einsichtsvollsten, was seit Paulus bis dahin über die Juden gesagt und geschrieben worden ist. Diese Klärungen vollziehen sich auf zwei einander ergänzenden und sich überschneidenden Linien: einmal seiner hier skizzierten zentralen These, dass die Substanz beider, der alt- und neutestamentlichen Bundesschlüsse ein und dieselbe ist, sodann der Zuordnung von Gesetz und Evangelium, die im Verständnis der Tradition für die Größen „Israel“ und „Kirche“ stehen. Zunächst ist die These der Einheit des Bundes noch einmal zu prüfen, hinter die Graafland im Blick auf Jer 31 – der „neue Bund“ soll „nicht sein wie der mit den Vätern geschlossene alte“ – ein Fragezeichen gesetzt hat.192 Und schien das paulinische Diktum vom „Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4), nicht in dieselbe Richtung zu weisen und dem Alten Testament jede über bloße Typologien hinaus gehende Verbindlichkeit abzusprechen? Die scharfe Trennung von Gesetz und Evangelium – bis heute das Schibbolet lutherischer Dogmatik – hat jedenfalls die untergeordnete

190 Ebd. II,7,1; OS III, 326.19–21. 191 P. Opitz, Hermeneutik, 204. 192 C. Graafland (Anm. 234).

Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament

Stellung des Alten Testaments in den Köpfen und Herzen der Protestanten wirksam befestigt.193 Was also hat Calvin schärfer, richtiger, vielleicht tiefer gesehen? Die zeitgeschichtliche Situation war schwierig genug; sie sprach offensichtlich für Luther und seine Anhänger. Nach den Diskriminierungen und Verfolgungen im Mittelalter gerieten die Juden nach dem Augsburger Reichstag (1530) erneut ins Blickfeld des öffentlichen Interesses – zunächst aus theologischen Gründen. Die Protestanten sahen sich genötigt, gegen angebliche „judaisierende“ Irrlehren einzuschreiten, ihre Landesherren standen vor der Frage, wie sie mit den in ihren Territorien sesshaft gewordenen Juden umgehen sollten. Die Gutachten der zur Stellungnahme aufgeforderten Reformatoren – Duldung oder Vertreibung – insbesondere der von Bucer verfasste Ratschlag von 1538 zeigen, wie weit man von einem theologisch begründeten Urteil entfernt war. Calvin hat in diesen Konflikt nicht aktiv eingegriffen. Man kann auch rückblickend nicht sagen, dass er das lösende Wort gefunden hätte. Seine besondere Bedeutung besteht darin, dass er den unbestrittenen Ursprung der christlichen Kirche in und aus dem Judentum im Zuge seiner Bundestheologie umsichtiger und sorgfältiger erarbeitet hat als seine protestantischen Mitstreiter. Er hat das Israelthema von Anfang an zu einer grundlegenden Frage evangelischer Theologie gemacht. Der Perspektivpunkt, von dem her Luther (und Paulus) argumentieren, ist der Ort des Menschen, der sich – vergeblich – durch Leistung und Verdienst vor Gott rechtfertigen will; es ist der heillose, ja tödliche Zusammenstoß, in welchem Gesetz und Evangelium hier aufeinandertreffen. Mit dem Entwurf Calvins öffnet sich ein neu und anders vermessenes Gelände. Gesetz und Evangelium werden nicht vom „umkämpften“ Ort des Menschen her wahrgenommen; sie treten – eine im Ansatz andere Fragestellung – unter der Perspektive ihrer göttlichen Koordination in der Geschichte des alten und neuen Bundes ins Blickfeld, und so tut sich hier ein komplementärer, bei Luther nahezu verschlossener Horizont auf, der Altes und Neues Testament umspannt. Sein einheitstiftendes Zentrum ist der eine, in seiner Substanz unveränderte Bund. Calvin liest das Neue Testament auf dem Hintergrund des Alten; er kann das Gesetz keinen Augenblick ablösen von der Verheißung des Lebens, die es als Siegel des Bundes mit sich und bei sich trägt. Angesichts der Treue Gottes, der von der Bundeszusage an Israel bis zur Auferweckung Christi einen geradlinigen Weg mit seinem Volk geht, müsste eine prinzipielle Scheidung von Gesetz und Evangelium wie ein perspektivisch verzerrtes Bild erscheinen. Zwischen beiden Entwürfen verläuft tatsächlich eine „Wasserscheide“. Zwar könne sich Luthers Antithese auf gewisse Paulus-Stellen berufen, aber, fährt Calvin fort, „das Evangelium tritt nicht in der Weise an die Stelle des ganzen Gesetzes, dass

193 So neuerdings wieder N. Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, Marburger Jahrbuch Theologie 25, 2013, 83–119.

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es etwa (wie eben bei Luther) einen anderen Grund (ratio) des Heils eröffnete; es sollte vielmehr beglaubigen, was die Befolgung des Gesetzes verheißen hatte“.194 Nichts belegt diese neue Sicht der Dinge deutlicher als die Tatsache, dass er in der Institutio (1559: II, 9–11) die Darstellung der Christologie in aller Form mit einer systematischen Zusammenschau von alt- und neutestamentlicher Geschichte, also faktisch mit einer ausgeführten Israel-Theologie, eröffnet. Um seine mit dem Hauptstrom der Tradition kaum vergleichbaren Aussagen richtig zu gewichten, ist es sinnvoll, einem Vorschlag von Achim Detmers zu folgen und methodisch zwischen einer primären und einer sekundären Israellehre zu unterscheiden.195 Danach hat es die primäre Lehre mit theologischen Aussagen über den Glauben Israels in alttestamentlicher Zeit zu tun – hierfür stehen Begriffe wie „Söhne Abrahams“ oder „Israel Gottes“ –, die sekundäre jedoch mit Aussagen über das nachchristliche, insbesondere das zeitgenössische Judentum (das „Israel nach dem Fleisch“); hier dominieren negativ wertende Begriffe wie „Aberglaube“, „Unglaube“ oder gar „Feinde der Wahrheit“. Während die Aussagen der Institutio, namentlich über die dogmatische Zuordnung von „Evangelium und Gesetz“, überwiegend dem ersten Themenkreis angehören, bewegen sich die Argumentationsgänge des Römerbrief-Kommentars weitgehend im zweiten Themenfeld. Ferner muss man zwischen den Äußerungen des frühen und des späten Calvin unterscheiden, also zwischen der Basler und der frühen Genfer Periode auf der einen und der Straßburger Zeit sowie den in der Institutio von 1539 formulierten Feststellungen auf der anderen Seite. (1) Die Baseler und erste Genfer Zeit: 1535–1538: Die in diesem Zeitraum entwickelte primäre Israel-Lehre, so Detmers, „gehört aufgrund ihrer zentralen theologischen Kategorien (Bund/Gebot, Gesetz/Evangelium, Glaube/Werke usw.) zu den grundlegenden Aussagen einer reformatorischen, dem biblischen Zeugnis verpflichteten Theologie“.196 Dennoch steht die Israel-Thematik hier noch im Schatten, also gleichsam stellvertretend für andere, „jetzt“ dringlichere Probleme, insbesondere für die Auseinandersetzung mit der römischen Kirche, ihrer „Werkgerechtigkeit“, also im Zeichen einer Verteidigung des evangelischen Glaubens nach außen.197 In Calvins weitgehend durch Abgrenzungen bestimmten Sicht spiegelt sich hier die besondere Situation des französischen Protestantismus in seiner Gegnerschaft gegen Rom. Betrachtet Calvin den alttestamentlichen Bund mit Israel als „defizitär“, so blickt er im Grunde auf den römischen Gottesdienst, der sich an alttestamentlichen Vorschriften orientiere. Mit dem Hauptstrom der Kirchen teilt er daher sogar 194 Inst II, 9,4; OS III, 401. 32–34. 195 A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Stuttgart 2001, 4ff, 26ff. 196 Ebd. 26. 197 Vgl. hierzu die minutiösen Nachweise von A. Detmers, a.a.O. 239ff.

Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament

die Substitutionsthese, wonach das Vorrecht Israels an die Glieder der Kirche, die „wahren Israeliten“ übergegangen sei.198 Die Frage der Einheit der Testamente ist (noch) ungeklärt. Der Abstand zu späteren Aussagen zeigt sich exemplarisch in der Vorrede zur Olivetanbibel (1535), die das Alte Testament gemessen am Neuen als „in sich schwach und unvollendet und deshalb als abgeschafft und aufgehoben (aboly et abrogué)“ bezeichnet.199 Ihre Zusammengehörigkeit wird lediglich dadurch verbürgt, dass in Christus alle Verheißungen erfüllt sind. Das aber gibt Raum für sehr verschiedene Auslegungen. So spricht etwa der Hebräerbrief, der Calvins frühe Einschätzung geprägt hat, von einem schattenhaften und veralteten Bund, dem Christus als Mittler eines besseren und ewigen Bundes gegenübersteht (Hebr 10). Die endgültige Erlösung, so heißt es in der Psychopannychia (1534), sei den Gläubigen Israels noch nicht zuteil geworden, deshalb könne ihnen die durch Christus gewirkte Versöhnung nur gleichsam antizipatorisch, „in Erwartung des Tages der seligen Auferstehung“ zugesprochen werden.200 Man geht heute davon aus, dass Calvin in diesen Jahren keinerlei Berührung mit dem zeitgenössischen Judentum hatte. Das freundliche Vorwort zur Olivetanbibel, das sich „An unsere Verbündeten und Bundesgenossen, das Volk des Sinaibundes“ richtet, – man meinte es früher, Calvin zuschreiben zu können – stammt mit großer Wahrscheinlichkeit von W(olfgang) F(abricius) C(apito).201 Wie fast alle Reformatoren hat Calvin nur indirekt zum Judentum Stellung genommen. Er tat es, in dieser Sache der communis opinio folgend, auf der Linie der Substitutionsthese. Als „wahres Israel“ sei die Kirche an die Stelle des alten Gottesvolkes getreten. Denn „nur wer durch das Glaubensbekenntnis und die Teilnahme an den Sakramenten denselben Gott und Christus bekenne“, könne zu den Auserwählten gezählt werden.202 Umso bemerkenswerter ist es, dass er sich von dem damals üblichen Umgang mit Ungläubigen („Feinden der wahren Religion“) in aller Form distanziert hat: „Ganz abzulehnen ist das Verfahren, mit dem es bisher viele unternommen haben, sie zu unserm Glauben zu drängen, indem sie ihnen Wasser, Feuer und alle uns gemeinsamen lebensnotwendigen Mittel versagen, ihnen alle Pflichten der

198 In der Psychopannychia (1534) identifiziert er den „Samen Israels“ (Jes 45,25) in aller Form mit den Gliedern der Kirche (Edition von W. Zimmerli, QGP 13, Leipzig 1932, 79.28f). 199 Vorrede zur Olivteanbibel, CO 9, 804; CStA 1.1, 45.1f (Vgl. Teil I B 2.4). 200 Psychopannychia, OS I, 83. Dazu: J.-U. Hwang, der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt 1991, bes. 225–232. 201 Zum Streit der Verfasserschaft: G. W. Locher, Calvin spricht zu den Juden, in: ThZ 23, 1976, 180–196. Locher identifizierte die Siglen VFC als Votre Frère Calvin. – J. M. J. Lange van Ravenswaay, Calvin und die Juden – eine offene Frage?, in: Reformiertes Erbe (FS G.W. Locher) Bd.2, Zürich 1993, 183–194, sowie A. Detmers, a.a.O. 268–276., haben diese These an entscheidender Stelle modifiziert. 202 Inst (1536), OS I, 89.

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Menschlichkeit verweigern und sie mit Eisen und Schwert verfolgen.“203 Leider hat er diese mutige Äußerung nicht mehr in die späteren Ausgaben der Institutio übernommen. (2) Die Straßburger Jahre: 1538–1541. In den Straßburger Jahren, und zwar in den beiden wichtigsten Veröffentlichungen, dem Römerbriefkommentar (1540) und der Neubearbeitung der Institutio (1539) kommt es zu einem Neuansatz der bisher eher tastenden Versuche, der nun erst eigentlich den Titel einer Israel-Theologie verdient und deren Grundentscheidungen sich bis in das Spätwerk hinein durchhalten. Nicht zu unterschätzen ist dabei ist die Berührung mit der oberdeutschen Theologie, vor allem die Begegnung mit Martin Bucer und Wolfgang Capito und nicht zuletzt auch die forcierte Auseinandersetzung mit den Täufern. Im Zentrum steht erneut die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. Calvin schließt sich jedoch nicht der Wittenberger Dialektik von Gesetz und Evangelium an („was bei einem einfachen Leser Verwirrung stiften könnte“), sondern der von den Schweizer Theologen entfalteten These der Einheit des Bundes.204 Hier vollzieht sich jener Wechsel der Perspektive, von dem bereits die Rede war. Es ist das Sprachfeld der Christologie, mit dem Calvin die Auszeichnung des Israelbundes beschreibt: „Durch das heilige Band des Wortes hat Gott die Juden in die Gemeinschaft mit sich versetzt“, sie „innerlich zur Erkenntnis Gottes erleuchtet“, sie sich „nahe gebracht“, sie „unzweifelhaft zur Hoffnung auf das ewigen Leben“, d. h. zum „unvergänglichen Samen erwählt.“ (1Pt 1,23)“205 Diese Hochschätzung gipfelt in der erstaunlichen hermeneutischen Wendung, mit der er seine Christologie in der Überschrift von Buch II der Inst (1539) ankündigt: „Von der Erkenntnis Gottes des Erlösers in Christus, welche zuerst den Vätern unter dem Gesetz, alsdann auch uns im Evangelium offenbart worden ist“. In beiden Fällen ist das handelnde Subjekt – hier redet der Trinitätstheologe – der von Gott ausgehende Logos: hier als das Wort, das Abraham, Noah und den anderen Vätern „den Zugang zu Gottes ewigem Reich“ eröffnet, dort als das fleischgewordene Wort, das sich aufs innigste mit der menschlichen Natur vereinigt hat. Nicht zuletzt ist es auch der derselbe Geist, der dort durch Mose und die Propheten geredet und der hier Gottes Sohn „vertraut

203 Ebd. 91. 204 Zwingli und Bullinger haben den neuen Bund in aller Form als Bestätigung des ewigen Bundes (foedus Dei aeternum) mit dem Menschengeschlecht als ganzem begriffen. Er wird durch das Mosegesetz weder als Gnadenbund noch in seiner Ausrichtung auf alle Menschen aufgehoben. Sein theologisches Merkmal ist sein universaler Charakter. 205 Inst II, 10,7; OS III, 408. 13–24. Die entsprechende Stelle der Inst (1539), ist ebd. Z.37–41 abgedruckt. Analog wird in II, 12,1 die durch Christus begründete Gemeinschaft als nahe Nachbarschaft (propinqua vicinitas), feste innere Vertrautheit (affinitas firma), ja als Wohngemeinschaft (nobiscum habitare) beschrieben (OS III, 438.11ff.

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in unsere Mitte“ gestellt hat.206 So also ist die „Substanz“ des Bundes nicht erst durch das geschichtliche Mittleramt Christi als eine neue Wahrheit in Erscheinung getreten, sondern lediglich bekräftigt und in diesem Sine erneuert worden. Deshalb wagt Calvin, was vor ihm kein Theologe gewagt hat, die Juden in aller Form als Teilhaber an der Wahrheit Christi anzureden: Wer will sich erdreisten, den Juden die Kenntnis Christi abzusprechen, mit denen doch der Bund des Evangeliums geschlossen ist, dessen einziger Grund Christus ist? Wer will sie von der Wohltat des uns aus Gnaden zukommenden Heiles ausschließen, wo ihnen doch die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit (iustitiae fidei doctrina) zuteil geworden ist? Dieser an sich klaren Sache brauchen wir nicht lange nachzugehen, denn da haben wir des Herrn eigenes Zeugnis: ‚Abraham ward froh, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich’ (Joh 8,56). (Inst II, 10.4; OS III, 405.35–406.6).

Dass Calvin nicht einmal die Rechtfertigung „sola fide“ als Sondergut der Christen gelten lässt, mag überraschen, doch er lässt sich nicht nur hier stärker von exegetischen als von traditionellen systematischen Argumenten leiten.207 So greift er die Typologien von 1Kor 10,1–4 auf, und interpretiert sie im Gegenzug zur Tradition betontermaßen nicht als bloße Vorbilder christlicher Wahrheit, sondern als Bundeszeichen, die uneingeschränkt die Bedeutung neutestamentlicher Sakramente haben: Die Juden „haben die Taufe empfangen, als sie durchs Meer gingen“ (weshalb die Christen aufgrund ihrer Taufe „keinerlei Vorzugsstellung [praerogativa] in Anspruch nehmen können); sie sind der durchs Abendmahl verbürgten Gemeinschaft mit Gott teilhaftig geworden, denn „sie haben mit uns einerlei geistliche Speise gegessen und geistlichen Trank getrunken, worunter der Apostel Christus versteht.“208 Mehr noch, und höher kann man theologisch gar nicht greifen: „Sie haben Christus zum Unterpfand ihres Bundes gehabt, denn auch heute verheißt der Herr den Seinen kein anderes Himmelreich als das, in dem sie mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen werden“ (Mt 8,11).209 Das stellt sie den Christen im Blick auf ihr Bürgerrecht im Reiche Gottes in jeder Hinsicht gleich. Man wird in der Kirchengeschichte vergeblich nach einem Ort suchen, an dem diese bundesrechtliche Gleichstellung der Juden so vorbehaltlos anerkannt und ausgesprochen worden ist. Hier ist die paulinische These der bleibenden Erwählung Israels

206 Inst II, 12,1; OS III, 438.11f. 207 Es sei immerhin daran erinnert, dass auch nach R. Bultmann, Das Johannesevangelium (1941), Meyer K., Göttingen 1985, 247, Abrahams „Warten“ auf den Tag des Menschensohns beweist, dass Israel sein Heil nicht schon in treuer Gesetzeserfüllung gesucht hat. 208 Inst II, 10,5; OS III, 406.13–407.2. 209 Inst II, 10.23; OS III, 422.5–8.

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(Röm 11,1f.)210 zu ihrer ganze Konsequenz gebracht. Gleichwohl geht Calvin ausführlich auf die Differenzen zwischen beiden Testamenten ein und durchmustert die Gesichtspunkte, mit denen man seit Augustin diese These in Zweifel zu ziehen versucht hat: dort leibliche, hier geistliche Güter; dort Abbild, hier Wirklichkeit; dort Knechtschaft, hier Freiheit. Es lässt sich nicht bestreiten, dass dem Volk Israel durch irdische Güter – man denke nur an die konstitutive Bedeutung der Verheißung von Land und Nachkommenschaft – das himmlische Erbe vor Augen gestellt wurde, während das Evangelium unsere Hoffnung unmittelbar – ohne jede materielle Bürgschaft – auf die Gabe des ewigen Lebens richtet. Sie ist hier offensichtlich deutlicher und klarer offenbart worden. Aber, wendet Calvin ein, darf man daraus etwa den Schluss ziehen, die Juden seien „nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderer willen aus den Völkern ausgesondert worden?“211 Sind sie lediglich Platzhalter auf Zeit, die der christlichen Kirche weichen sollten? Nein, diese traditionelle Auffassung setze sich über den gleichnishaften Sinn von Land und Volk hinweg und müsste in letzter Konsequenz zu dem manichäischen Dogma von „zwei verschiedenen Göttern“ führen.212 Einer Substitutionstheorie derart, dass die Kirche dazu berufen sei, das heilsgeschichtliche Erbe Israels anzutreten, hat Calvin damit die Wurzel abgeschnitten. Das wird vollends deutlich, wenn er in einem weiteren Schritt die (eigene) These interpretiert, wonach das Alte Testament uns an Stelle des Körpers nur einen Schattenriss zeigt, und daraus folgert: Auch wenn Opfer und Zeremonien durch das „neue Testament in meinem Blut“ (Mt 26,28) überboten und darum „abgeschafft“ werden müssen, damit die volle Wahrheit des Bundes ans Licht treten kann, lasse sich doch schlechterdings nicht bestreiten, dass uns bereits im Alten Testament „der feierliche Vollzug der Bestätigung dieses Bundes“ vor Augen gestellt wird. (3) Calvins Stellungsnahme zum nachbiblischen und zeitgenössischen Judentum. Auch wenn der heilsgeschichtliche Vorrang der Juden außer Frage steht und ihre Rechtsstellung vor Gott mit keiner Silbe angezweifelt wird, durchzieht ein tiefer Zwiespalt Calvins Auslegung von Röm 9–11. Im Blick auf das nachbiblische Judentum argumentiert er: Wer würde es wagen, „die Juden zu entschuldigen, dass sie Christus gekreuzigt, gegen die Apostel schrecklich gewütet und versucht haben, das Evangelium zu verderben und auszulöschen?“213 An der quaestio iuris

210 Zu dieser Stelle heißt es im Kommentar (1540): „Was [Paulus] früher über die Verwerfung der Juden vorgetragen hatte, wird auf diese Weise gemäßigt. Niemand soll meinen, der einst mit Abraham geschlossene Bund sei jetzt aufgehoben“; CO 49, 211; CStA 5.2, 565.24–27. 211 Inst (1539), CO 1,825 (= II,11,1; OS III, 423.32f). 212 Inst II, 11,3; OS III, 426.2–3. 213 Zu Röm 10,2; CStA 5.2, 527.1–3.

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hingegen, dem ungekündigten Bund, lässt er nicht den geringsten Zweifel aufkommen. Denn das unbegreifliche Rätsel Israels konzentriert sich auf die quaestio facti, den Bereich der sekundären Israel-Lehre: „Warum hoffen die Juden törichterweise auf ein irdisches Reich des Messias?“ Warum sieht man sie wie mit Blindheit geschlagen freiwillig „in die Nacht des Irrtums hineinlaufen“? Um an der Einheit des Alten und Neuen Bundes festhalten zu können, müsste Calvin dieses Rätsel erklären. Andernfalls stünde man vor dem Dilemma, „dass entweder der Bund durch die Nachkommen Abrahams hinfällig geworden sei, weil sie dessen Erfüllung verschmähten, oder dass Christus nicht der verheißene Erlöser sei, weil er nicht besser für das Volk Israel Sorge trug“ (35.13–16).214 Dieses Problemfeld behandelt er so, dass er – holzschnittartig gesagt – ins Zentrum von Röm 9 die Frage der Erwählung, von Röm 10 das Thema der Rechtfertigung und in die Mitte von Röm 11 die Verheißung des Bundes stellt. Tatsächlich spricht Calvin hier einerseits umstandslos von der „Verwerfung“ des Volkes (467.33), denn ohne Frömmigkeit und Glaube würde ihnen die „Verwandtschaft mit Christus“ nichts nützen (472.20). Andererseits hält er mit Röm 9,4f. daran fest, „dass über ihnen das Licht der göttlichen Gnade nicht geradezu erloschen“ sei, ja dass „der Name der Kirche (Ecclesia) nach erblichem Recht noch immer bei ihnen blieb“ (469.25f. 30f.). Auf der ersten Linie argumentierend führt er aus: Da von der Wirksamkeit und Kraft der Verheißung bei den meisten Juden nichts zu sehen ist, „stellt Paulus in Abrede, dass sie in Gottes Erwählung (vera electio) einbezogen sind“ (477.10f.24f.) – mit der Folgerung, dass der Gnadenbund „nun dort erneuert werde, wo [seine Basis] entfallen war“, in der Völkerwelt (513.6f.). Drastischer noch formuliert die Institutio: „Die Heiden wurden den Juden nicht nur gleichgestellt, sondern dem Anschein nach waren sie gleichsam an die Stelle Abgestorbener (demortui) getreten.“215 Auf der zweiten Linie greift Calvin auf den biblischen Rest-Gedanken zurück (Röm 9,27f.) und demonstriert am Beispiel Jakobs und Esaus, dass Gott sich die Freiheit vorbehalte, zu erwählen, wen er will (481.10–13). Diese „verborgene Gnade der zweiten Erwählung“ sichere dem Bund seine Wirksamkeit und Kraft auch in Israel. Er ist in einem sozusagen gesteigerten Sinn ein Gnadenbund, in dem Verdienste und Werke keinen Raum haben (487.7f.), so dass Calvin seinen Einwand jetzt in der Sprache der Rechtfertigungslehre formuliert: Ihr verkehrter „Gesetzeseifer“ ließ sie nach einem Ziel greifen, „das kein Mensch erreichen kann“, und machte sie zu Gegnern Christi (519.2f.26f.): Israel „hat den wahren Grund der Rechtfertigung verfehlt“ (521.14).

214 Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf die Seiten- und Zeilenzahl des leichter zugänglichen Römerbrief-Kommentars in der Übersetzung der Studienausgabe CStA 5.1 und 2. 215 Inst (1539), CO 1, 827.

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Doch damit ist das letzte Wort zur Sache noch nicht gesprochen. Die Frage lautet nun vielmehr, „ob das jüdische Volk derart an Christus gescheitert sei, dass […] keine Hoffnung auf bessere Einsicht mehr bestünde“ (581.32–34). Hier gewinnt die These der Verheißung eines Restes die Oberhand: Ihr Heil ist nicht verloren, der Gnadenbund ist nicht vollends ausgelöscht, geschweige denn, dass es keine künftige Restitution mehr gebe (581.34–37). Allerdings bestreitet Calvin die von Thomas v. Aquin und Erasmus vertretene Auffassung, als sollte und könnte im jüdischen Volk „auch jetzt die Religion wie früher wieder hergestellt werden“. (601.23f.). Vielmehr setzt er auf die Vollendung des Reiches Christi, die den ganzen Erdkreis umfasst, und zwar so, „dass die Juden als die Erstgeborenen in der Familie Gottes [auch dort] den ersten Platz einnehmen sollen“(601.30). Im Klartext heißt das, die Gnade des Bundes werde nur den wenigen Juden zuteil werden, die sich zu Christus bekehren. Was trägt diese Interpretation aus für das Verhältnis der Christen zum nachbiblischen Judentum? Von seiner primären Israel-Lehre hat Calvin kein Wort zurücknehmen, an der These vom ungekündigten Bund keine Abstriche machen müssen. Dem geschichtlich existierenden, zeitgenössischen Judentum steht er jedoch ablehnend (bis hin zu verbalen polemischen Diskriminierungen) gegenüber. Jenseits ihrer „Bekehrung“ zum Christentum bleiben sie von jeder heilsgeschichtlichen Perspektive ausgeschlossen. Dennoch will er jenseits dieses theologischen Desinteresses am Judentum zugleich doch mehr sagen: Konnte Israel „dem äußeren Schein nach eine Zeitlang wie zerbrochen aussehen, so war es von seiner Wurzel jedenfalls nicht abgeschnitten“ (605.38–40). Die Gnade der Berufung blieb weiterhin wirksam. Calvin hat sie als Unterpfand des unwandelbaren göttlichen Ratschlusses verstanden, und das bedeutet für das zeitgenössische Judentum, um das Mindeste zu sagen: „Um der Verheißung willen bleibt der Segen [Gottes] auch unter den Christus ablehnenden Juden.“216 Wie aber liest man diese Zusage mit jüdischen Augen? Geht es in ihrer Perspektive hier nicht unvermeidlich um einen Bund, in den man nur unter Preisgabe der eigenen „mosaischen“ Identität eintreten kann? Hier bleibt zwischen primärer und sekundärer Israellehre offenbar eine Lücke, die sich mit den Einsichten der reformatorischen Theologie nicht schon schließen lässt.

2.11

Calvins Schrifthermeneutik: Die Autorität der Bibel

Am Ende dieses einleitenden Teiles will ich auf eines der schwierigsten, bis heute umstrittenen Probleme eingehen, denen sich Calvin in der Auseinandersetzung

216 So B. Klappert, Die Öffnung des Israelbundes für die Völker, in: Miterben der Verheißung, Neukirchen 2000 (390–406), 396.

Calvins Schrifthermeneutik

mit der römischen Kirche gestellt hat: auf das später sogenannte Schriftprinzip. Wir berufen uns in unseren theologischen Aussagen auf die Schrift, den uns vorgegebenen Kanon der alt- und neutestamentlichen Bücher. Doch mit welchem Recht tun wir das? Können wir uns dafür – was Calvin energisch bestreitet – mit „Rom“ auf die Autorität der Kirche berufen? Er teilt die Überzeugung aller Reformatoren, dass die Kirche ganz im Gegenteil in ihrer Verkündigung und Lehre, auch in ihrer äußeren Gestalt und Ordnung allein auf die Schrift gegründet ist. Er kann mit Luther sagen, dass Gottes Wort „in unvergleichlicher Weise über der Kirche“ steht217 , dass die Schrift, wenn man sie nur von Christus her interpretiert, „durch sich selbst ganz gewiss, leicht zugänglich, leicht verständlich und ihr eigener Ausleger“ ist.218 Doch lässt sich das einleuchtend begründen? Sprechen wir in diesem Sinne von der überlegenen Autorität der Bibel, so gehen wir mit Joh 5,39 davon aus, dass „sie es ist, die von mir [Jesus Christus] zeuget“. Anders gewendet: Gott hätte den biblischen Schriftstellern sein Wort in einer Weise in den Mund gelegt, dass sie nicht von sich aus geredet und also nichts Eigenes vorgebracht hätten, sondern so unter dem Einfluss und der Herrschaft des Heiligen Geistes standen, dass sie das ihnen übergebene Wort mit unbedingter Zuverlässigkeit weitergeben konnten. Dann wäre das in der Bibel niedergeschriebene Wort tatsächlich als Gottes eigenes Wort zu hören. Doch woher wissen wir das? Gibt es einleuchtende Gründe für die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung? Calvin hat seine Antwort auf diese Fragen im Römerbriefkommentar (1540) sowie in der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) entwickelt und hat sie in deren letzter Fassung in der These formuliert: „Die Schrift muss durch das Zeugnis (des Heiligen Geistes) unverbrüchlich gemacht werden, damit ihre Autorität unzweifelhaft feststeht.“219 Otto Weber hat diese Lehre vom Testimonium Spiritus Sancti internum „in ihrer ausgeführten Form und in der zentralen Stellung, die Calvin ihr gegeben hat, die einzig wirkliche Neubildung [genannt], die die Reformation im Blick auf die Begründung der Schriftautorität gebracht hat.“220 Sie steht im Vorhof des von der protestantischen Orthodoxie (namentlich von Johann Gerhard ausformulierten) Schriftprinzips und ist – sicherlich nicht zu Unrecht – als eine von dessen besten Begründungen verstanden worden. Calvin hat sie ausdrücklich als Prinzip der Autopistie, d. h. der in ihr selbst begründeten Beglaubigung der Schrift eingeführt.221

217 M. Luther, De captivitate Babylonica Ecclesiae, WA 6, 560. 218 M. Luther, Assertio Omnium Articulorum, WA 7, 97. Vgl. Calvins Evidenzargumente; Inst I, 7,2 und 4; OS III, 67. 5–7 und 68. 30f. 219 Inst I, 7,1; OS III 65.1f. 220 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen 1955, 268. 221 Inst I, 7,5; OS III, 70.18.

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Man wird jedoch im Blick behalten müssen, dass die Fragestellungen der Reformation von der heutigen Diskussionslage denkbar weit entfernt sind. Sie sind, um das Wichtigste zu nennen, von historischen Problemen noch gänzlich unbelastet. Der Wortsinn der Schrift und ihr historischer Gehalt bilden für das Reformationsjahrhundert eine unzertrennliche Einheit, die erst im Zuge der historisch-kritischen Forschung auseinander gebrochen ist. Mit deren Durchsetzung, die zum Schicksal der neuzeitlichen Theologie geworden ist, hat man die Schrift als „Zeugnis einer bewegten [und darum kontingenten] Geschichte“ zu lesen gelernt.222 Man hat die Kontextualität aller biblischen Dokumente entdeckt, ihre unterschiedliche kulturelle, auch psychologische Verankerung und damit ihren sehr unterschiedlichen „Sitz im Leben“, wie ihre ebenso vielfältigen Interpretationen des Weges zum Heil. Die neutestamentliche Wissenschaft hat den alten Begriff des Kanons, verstanden als einer widerspruchslosen inhaltlichen Übereinstimmung der biblischen Schriften preisgeben müssen, und darüber hat sich das sogenannte Schriftprinzip (sola scriptura) grundlegend gewandelt.223 Infolgedessen ist die Hoffnung, dass die Kirchen sich auf der Basis eines gemeinsamen Verständnisses der einen biblischen Botschaft zusammenfinden könnten, geschwunden. […] Die historisch gelesene Schrift jedenfalls ist als gemeinsamer Referenzrahmen unbrauchbar geworden.224

Von solchen Konsequenzen, auch nur von einer „Krise des Schriftprinzips“ (Pannenberg), kann im 16. Jahrhundert noch keine Rede sein. Calvins Problemstellung lebt von anderen Voraussetzungen, namentlich von der Evidenz und Aussagekraft der Offenbarung. Indessen, so argumentiert er, „ergehen ja nicht alle Tage Offenbarungsworte (oracula) vom Himmel“, und daraus erwächst seine Problemstellung. Wir leben in einer weithin offenbarungslosen Zeit. Deshalb habe es Gott gefallen, „allein in der Schrift seine Wahrheit zu stetem Gedächtnis zu erhalten“. Ihre ungeschmälerte Autorität – so die Folgerung – könne die Schrift also nur dann zurückgewinnen, wenn sich überzeugend darlegen ließe, „dass die Bibel vom Himmel herab zu ihren Leserinnen und Lesern kommt, wie wenn Gottes eigene Stimme hier lebendig vernommen würde“.225 Damit wird von vornherein ausgeschlossen,

222 L. Vischer, Schwierigkeiten bei der Befragung des Neuen Testaments, in: L. Vischer, U. Luz, C. Link, Ökumene im Neuen Testament und heute, Göttingen 2009, 27–32. 223 U. Luz, Schriftprinzip und kirchliche Identität, in: Glaubenssachen. Forum für kirchliche Zeitfragen in Norddeutschland 1997 (6–15), bes. 7f; H. Reichel, „Wiederholung des hohen Paradoxons“, in: ZDT 32/2, 2016, 50–64. 224 E. Flessemann van Leer, The Bible. Its Authority and Interpretation in the Ecumenical Movement, Faith and Order Paper Nr. 99, Geneva 1980, 40. 225 Inst I, 7,1; OS III,65.11–16.

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dass etwa – eine „gottlose Lüge!“ – vom Urteil der Kirche die Glaubwürdigkeit ihres Zeugnisses abhängen könnte. Vielmehr ist die an dieser Stelle geforderte „höchste Beglaubigung in jeder Hinsicht (passsim) nur darin zu sehen, dass hier Gott selbst in Person redet.“226 Allerdings handelt es sich dabei immer nur um ein indirektes Reden, d. h. ein menschliches Reden von Gott angesichts jenes eigenen Redens Gottes. Was uns als Inhalt dieses Redens mitgeteilt wird, sind menschliche, durch Beobachtung und Reflexion hindurchgegangene, von einer bestimmten Zeitsituation geprägte Worte. Sie machen den redenden Gott in der Welt bekannt, übersetzen ihn gleichsam in die Sprache der Welt und nehmen im Vorgang dieses Übersetzens an dessen eigenem Reden teil. „Diese Teilnahme (der) menschlichen Worte an Gottes Wort ist das Prinzipielle des Schriftprinzips.“227 Nur wenn an diesem Punkt Klarheit herrscht, ist auf die Stimme der Kirche zu hören. Beweisen jedoch lässt sich das nicht. Auf dem Wege des Disputierens ist eine solche Glaubwürdigkeit der Schrift nicht zu gewinnen. Ein Echo dieser Anfragen ist in ähnlicher Schärfe – nun allerdings in der Tonlage der frühen Aufklärung – im 18. Jahrhundert durch Lessing laut geworden, und zwar in dessen Streitschrift „Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777). Dort heißt es im Blick auf das Problem des historischen Abstandes: Ich leugne gar nicht dass Christus Wunder getan, sondern ich leugne, dass diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehört hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, […] mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen.228

Ein historisches Dokument mag beglaubigen, was es will. Wie aber sollte es beweisfähig sein für das, was uns, den auf eigene Verantwortung Lebenden Offenbarung sein oder nicht sein kann? „Als ob eine solche Brücke tragfähig wäre, die Last der Offenbarung aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen!“229 Auf der Ebene der Historie ist das Problem des Schriftprinzips offenbar gar nicht zu lösen. Calvin streitet gegen Theologen aus dem katholischen Lager, die behaupten, die Schrift habe nur soviel Gewicht, wie ihr das Urteil der Kirche zugestehe. Ihnen gegenüber macht er mit Eph 2,20 geltend, dass diese Kirche, auf die sie sich berufen, doch selber erst auf dem Grund der Apostel und Propheten erbaut ist, einem Fundament also, dessen Autorität schon deshalb der von ihnen behaupteten in 226 Inst I,7,4; OS III, 68.30f: „Summa scripturae probatio passim a Dei loquentis persona sumitur.“ Vgl. bereits Laktanz, Divinae institutiones III, 1,6; CSEL 19, 178. 227 K. Barth, „Unterricht in der christlichen Religion“. Erster Band: Prolegomena (1924), GA Zürich1985, 259. 228 G.E. Lessing, Beweis des Geistes und der Kraft, Ges. Werke Bd. 9, Leipzig 1856, 82f. 229 K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1993, 251.

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jeder Hinsicht überlegen sein müsse. Zur Begründung der Gewissheit, es in den Büchern des biblischen Kanons mit Gottes eigenem Wort zu tun zu haben, könne die Kirche daher gar nichts beitragen. Die Frage müsse an die Schrift selbst gerichtet werden. Es sind zwei Argumente, die Calvin im Folgenden ins Feld führt: einmal die Selbstmanifestation bzw. Selbstevidenz der Schrift (Inst I, 7,2–3), Hier geht es um den objektiven Grund ihrer Wahrheit, sodann das innere Zeugnis des Geistes (Testimonium Spiritus Sancti internum; I, 7,4–5), hier geht es um den subjektiven Grund, d. h. um die Frage, wie wir zu der Überzeugung ihres göttlichen Ursprungs kommen. Daneben stellt sich dann noch das Problem, wie diese Argumente einander zuzuordnen sind.230 Sind sie der Sache nach identisch, oder ist das Geistzeugnis ein zweites neben der Schrift entweder, um sie zur Evidenz zu bringen, oder um diese Evidenz subjektiv zu bestätigen? Es ist das Verdienst von Werner Krusche, dass er – gestützt auf eine ältere holländische Studie von Simon Pieter Dee – Licht in das Dunkel früherer Interpretationsversuche gebracht hat.231 Sein erstes und gewichtigstes Argument trägt Calvin mit einer erstaunlichen Beiläufigkeit vor: Die Frage: ‚Woher sollen wir die Überzeugung vom göttlichen Ursprung der Schrift hernehmen?’ quittiert er mit der Bemerkung. „So könnte auch einer fragen: Woher lernen wir denn Licht von Finsternis, Weißes von Schwarzem, Süßes von Bitterem zu unterscheiden?“ und antwortet dementsprechend: „Auch die Schrift trägt den Ausdruck (sensus) ihrer Wahrheit nicht weniger dunkel [also: ebenso deutlich] vor sich her wie weiße und schwarze Dinge ihre Farbe, süße und bittere Dinge ihren Geschmack“.232 Hier fällt zunächst auf, dass Calvin an die Stelle des abgewiesenen Anspruchs der Kirche, ihrerseits ein Urteil über die Gewissheit der Schrift zu fällen, nicht etwa das Geistzeugnis anführt, sondern sich auf den Ausdruck der Wahrheit beruft, der der Schrift gleichsam an der Stirn geschrieben stehe. Er „setzt nicht den Geist an die Stelle der Kirche, sondern stellt die Schrift über die Kirche.“233 Sodann redet er nicht von dem Eindruck, den die Schrift auf uns macht oder bei uns hinterlässt, sondern von dem Ausdruck ihrer Wahrheit, einer ihr (wie unbegründbaren mathematischen Axiomen) inhärenten Qualität bzw. Evidenz, und gibt damit zu verstehen, dass genau dies der objektive Grund ihres göttlichen Ursprungs sei, der als solcher zur Begründung keiner außer der Schrift liegenden Instanz bedarf. Gerade dies sei der Ausweis dafür, dass wir es hier mit Gott selbst zu tun haben. Einen durchschlagenderen „Beweis“ ihrer Autorität

230 K. Heim. Das Gewissheitsproblem in der systematischen Theologie bis Schleiermacher, 1911, 272ff; P. Althaus, Die Prinzipien der deutschen reformierten Dogmatik in Zeitalter der aristotelischen Scholastik, 1914, 204ff. 231 W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, 205–216; S.P. Dee, Het Geloofsbegrip van Calvijn (Diss. V.U.) Kampen 1918, bes. 150f. 232 Inst I, 7,2; OS III, 67. 5–7. 233 W. Krusche, a.a.O. 206.

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gebe es nicht: Denn „die höchste Beglaubigung der Schrift wird durchweg daher genommen, dass hier Gott in Person redet (a Dei loquentis persona)“.234 Man kann diesen objektiven Grund der Schriftgewissheit deshalb nicht, wie Paul Althaus vermutete, in den rationalen Argumenten von Inst I, 7 und 8 suchen.235 Diese sind vielmehr, wie Calvin am Ende dieses Kapitels erklärt, lediglich „sekundäre“ Stützen, die jener „höchsten Beglaubigung“ nur nachfolgen können, denn „töricht“ (inepte) handelt, wer Ungläubigen beweisen wollte, dass die Schrift Gottes Wort sei.236 Die Apostel und Propheten, hält er dagegen, „bemühen nicht ihren eigenen Scharfsinn, […] sondern halten sich an Gottes heiligen Namen, durch den die ganze Welt zum Gehorsam genötigt wird.“237 Indessen ist damit noch nicht das Entscheidende gesagt, dass diese Evidenz sich auch schon bei allen Menschen von selbst durchsetzen werde. Von diesen Ausführungen deutlich abgesetzt führt Calvin daher das zweite Argument ein, das seine nächste Parallele in einer (ebenfalls 1539 erschienenen) Schrift Melanchthons hat: „Die Gemeinschaft der Kirche ist nicht an die ordentliche Sukzession [der Bischöfe] gebunden, sondern an Gottes Wort. Nur dort wird die Kirche wiedergeboren, wo Gott die Lehre wiederherstellt und seinen Geist gibt.“238 Denn mit der Erneuerung der Kirche und ihrer Lehre ist unabweisbar die Frage gestellt, auf welche Weise wir zur Überzeugung des göttlichen Ursprungs der Schrift kommen, d. h. wie uns ihre Selbstevidenz zur Gewissheit werden kann. An dieser Stelle erst spricht Calvin von der unersetzlichen Funktion des Geistes, dem „testimonium Spiritus sancti internum“. Seine These lautet: „Derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten geredet hat, muss in unsere Herzen Eingang finden, um sie davon zu überzeugen, dass sie treulich wiedergegeben haben, was ihnen von Gott aufgetragen war.“239 Im Kommentar zu 1 Tim 3,16 präzisiert er: „Derselbe Geist, der Mose und die Propheten ihrer Berufung gewiss gemacht hat, bezeugt nun auch unseren Herzen, dass er ihren Dienst in Anspruch genommen hat, um uns zu belehren.“240 Wie Mose und die Propheten ihrer Berufung gewiss geworden sind, so und nicht anders sollen auch wir – gestützt auf die Schrift – unseres Auftrags gewiss werden. Wir sollen – in der Kraft desselben Geistes – gewissermaßen Anschluss an die damals ergangenen Worte und Weisungen finden, d. h. ihrer selbstevidenten Wahrheit sozusagen gleichzeitig werden. Das aber ist ein Vorgang, der sich dem Einspruch der distanzierten, nach äußeren Beglaubigungen (Beweisen) fragenden

234 235 236 237 238 239 240

S. Anm. 290. P. Althaus, Prinzipien (Anm. 230), 206. Inst I, 8,13; OS III, 81. 28f. Inst I, 7,4: OS III, 69. 1–4. Ph. Melanchthon, De ecclesia et de auctoritate verbi Dei, CR 22, 598. Inst I, 7,4; OS III, 70. 5–7. Kom. Zu 1 Tim 3,16, CO 52, 383.

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Vernunft entzieht, wird er doch nur möglich (und wahrnehmbar), sofern man den neutralen Standort der äußerlich abwägenden Vernunft verlässt. Calvin spricht von einem Vorgang, der sich gänzlich außerhalb des Würfelspiels unserer Einschätzungen (extra aestimandi aleam) vollzieht, und wehrt an dieser Stelle mit Recht „Beweisgründe“ und „Wahrscheinlichkeitserwägungen“ ab.241 Man hat von einem zweiten subjektiven Prinzip gesprochen, das hier an die Stelle der alten kirchlichen Beglaubigung treten solle. Diese Interpretation ist jedoch schwer haltbar. Werner Krusche hat demgegenüber an die von Thomas gemachte Unterscheidung von „in se“ und „quoad nos“ erinnert, von der sich Calvin hier wie auch anderwärts leiten lässt. Was „in sich“ gewiss ist, soll auch „bei uns“ gewiss werden; was an sich selbstevident ist, muss auch uns evident gemacht werden. So bleibt es dabei: Objektiv trägt die Schrift ihre Beglaubigung in sich selbst. Was sie sagt, etwas, das zunächst ohne uns und ganz außerhalb von uns in Gang gekommen ist, spricht für sich selbst. Der Grund ihrer Gewissheit liegt gänzlich außerhalb unserer Subjektivität. Dazu braucht es das Zeugnis des Geistes nicht. Wohl aber braucht es den Geist, um diesen Grund bei und in uns gewissermaßen zu aktivieren. Und so wird mit der Subjektivität denn auch kein zweites Fundament behauptet, das in Konkurrenz zur Selbstevidenz der Schrift treten könnte, es wird vielmehr ein zweiter Akt etabliert. Mit anderen Worten: Das testimonium internum begründet nicht die Gewissheit des göttlichen Ursprungs der Schrift, sondern erzeugt sie bei uns. Denn „wie Gott allein in seinem Wort vollgültiger Zeuge seiner selbst ist [objektiv], wird auch sein Wort in unseren Herzen nicht eher Glauben finden [subjektiv], als bis es durch das innere Zeugnis des Geistes in uns versiegelt [obsignare] wird“242 . Mit Krusche gesagt: Das Zeugnis des Heiligen Geistes „ist nicht – und das ist wichtig zu beachten – der Grund unserer Gewissheit, es in der Schrift mit Gottes höchst eigenem Wort zu tun zu haben – dieser Grund ist vielmehr die evidente Schrift selbst – sondern das testimonium ist die diese Gewissheit bewirkende Ursache.“243 Denn in unserem Hören (und daraufhin in unserem Antworten) vollzieht sich jeweils neu eine Teilnahme am Reden Gottes. So verstanden ist das „Testimonium“ weder eine Lehre über die „an sich“ uns gegenüber stehende Schrift noch über den mit ihr konfrontierten Menschen. Beschrieben wird hier überhaupt keine Lehre, sondern ein Ereignis, das Ereignis der Begegnung des Menschen mit der Schrift 244 , in dem Subjekt und Objekt zusammengehören, miteinander verschränkt sind. Aus diesem Grund ist mit von außen kommenden Beweisen hier nichts auszurichten. Das Reden Gottes in der Welt, die Existenz der persona Dei loquentis, vollends die Teilnahme unseres menschlichen Redens an diesem göttlichen Reden 241 242 243 244

Inst I, 7,5; OS III, 70.28f. Inst I,7,4; OS III, 70.2–5. W. Krusche, a.a.O. (Anm. 296), 208. G.W. Locher, Testimonium internum, ThSt 81, 1964, 9.

Calvins Schrifthermeneutik

entzieht sich jeder Beweisbarkeit. Auch der Ausdruck der ‚Wahrheit’, den die Schrift als eine Art immanenter Qualität an der Stirn trägt (wie das Axiom seine Evidenz in einem mathematischen Lehrsatz) ist kein Beweisgrund dafür, dass diese Schrift göttlicher Herkunft ist. Wo also liegt das Calvin beschäftigende Problem? Einen Hinweis gibt die oben zitierte definitionsmäßige Beschreibung des testimonium internum: Der Geist, der durch den Mund der Propheten geredet hat, müsse uns davon überzeugen, dass sie treulich (fideliter) wiedergegeben haben, was ihnen von Gott aufgetragen war. Das aber entzieht sich offenbar dem historischen Beweis. Es gibt vielmehr schon ganz jenseits von Aufklärungskritik und historischer Forschung eine elementare Krise des „Schriftprinzips“, die das Treueverhältnis zu den biblischen Texten betrifft. Sie manifestiert sich in der fehlenden Bereitschaft und der mangelnden Fähigkeit, diese Texte als Richtschnur und Maßstab unseres Glaubens ernst zu nehmen. Denn diesem Mangel ist mit keinem historischen oder dogmatischen Beweis beizukommen. Die Krise, von der hier zu reden ist, ist somit anderer Art. Es ist eine Krise, „in die uns die Schrift selber stürzt, wenn wir uns in vollem Bewusstsein der [geschilderten] historischen Probleme“, also jenseits der neutral abwägenden Vernunft, auf den Anspruch dieser Texte einlassen, gerade hier im erneuten und immer wiederholten Hören auf die Schrift „nach der Offenbarung Gottes“ zu fragen245 und – etwa in der konkreten geschichtlichen Gestalt der prophetischen Weisungen oder der Predigt Jesu von Nazareth – eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Denn hier steht nicht eine objektive oder eine subjektive Seite der Wortes Gottes zur Diskussion, sondern das, was in der Situation des Fragens, im Ereignis der Begegnung des Menschen mit der Schrift geschieht. Genau das ist die unersetzliche Funktion des Heiligen Geistes, auf die Calvin hinweist, uns in ein Gespräch mit derselben Sache hineinzuziehen, von der in der Schrift die Rede ist. Denn in einem Gespräch „definieren“ sich die Partner, seien sie einander noch so fremd, über die Sache, deren ‚Wahrheit’ sich, weil sie zwischen zweien liegt, nicht objektiv ergreifen lässt. Sie tritt hervor – hier kommt es zu der entscheidenden Begegnung – wenn es, wie wir sagen, zum „Einverständnis in der Sache“ kommt, wenn wir nicht „draußen“ stehen bleiben, sondern „dabei“ sind, nicht nur etwas, sondern gewissermaßen ein Stück unserer selbst in ihr wiederfinden, das heißt: wenn wir sozusagen mit unserem eigenen Leben in das einzurücken vermögen, was sie uns sagen will. Was wir in dieser Weise verstehen, ist wahr, ist ein Wissen, „das der Gründe nicht bedarf, weil es seinen Grund in sich selbst trägt“.246 Das gilt auch von der „ Kraft des Geistes in der Auferstehung Christi“, heißt es zu Röm 1,4, „die wir nicht erkennen, bis derselbe Geist sie in unseren Herzen versiegelt“, und ebenso, fährt Calvin fort, fasst Paulus „auch das Zeugnis, das die

245 Vgl. die Ausführungen in dem ähnlich angelegten Essay von H. Reichel: (Anm. 223), 62ff. 246 Inst I, 7,5; OS III, 71.8: „persuasio, quae rationes non requirat: talis notitia cui optima ratio constet“.

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Hermeneutische Entscheidungen

einzelnen Gläubigen in ihren Herzen fühlen, die Gültigkeit der Verheißungen (Eph 1,14), das göttliche Wohlwollen, überhaupt die ganze christliche Verkündigung (doctrina)] als ein und dieselbe wunderbare Wirkung des Geistes zusammen“.247 Das ist zugleich der hermeneutische Ausgangspunkt der reformatorischen Theologie. Sie will diese Denkbewegung, diese beharrliche Frage nach der Offenbarung Gottes wach halten und (so dürfte man heute hinzufügen) sie auch an außerbiblischen Texten und Traditionen einzuüben wagen in der Hoffnung, auch dort auf Zeugnisse Gottes zu stoßen. Worin also liegt der Gewinn dieser, wie O. Weber erklärt, reformatorischen „Neubildung“? Calvin hat die immer wieder unternommenen Versuche, die Kluft zwischen der Schrift und ihren Adressaten zu überbrücken, etwa die traditionelle Inspirationslehre oder die moderne Erlebnistheologie, hinter sich gelassen. Was wir trennen, den Realgrund der Schrift außer uns und ihren je aktuellen Erkenntnisgrund in uns, das, so lautet seine These, verbindet „derselbe Geist“. Er hält es wie mit einer Klammer zusammen, weshalb er geradezu definitionsmäßig als „das Band“ bestimmt wird, „das uns wirksam (efficaciter) mit Christus verbindet“.248 Wenn hier also etwas „gelehrt“ wird, so ist es „die Identität des Autors des Wortes, das mich von außen her erreicht, mit dem Autor meines Glaubens, der dieses Wort vernimmt und annimmt“.249 Wir haben den Akt der Vermittlung des Wortes an die biblischen Autoren und an uns als einen einzigen, uns mit ihnen gleichzeitig machenden Akt des Geistes zu verstehen. Es geht um ein Gespräch, in das Gott uns hineinzieht. Es lebt wie jedes Gespräch von der Verständigung, nicht vom Austausch irgendwelcher Informationen. Schon deshalb lässt sich sein ‚Wahrheitsgehalt’ durch Vernunftgründe oder Tatsachen weder anfechten noch erschüttern. Spricht Calvin vom „inneren“ Zeugnis des Geistes, so hat er diesen Innenraum der Verständigung im Blick, nicht aber die moderne, von David Friedrich Strauß als „Achillesferse des protestantischen Systems“ ihm unterstellte „Innerlichkeit“. Der Geist – darin besteht die hermeneutische Bedeutung des „testimonium internum“ – schließt das Wort der Vergangenheit in dieser Weise für uns auf, dass es unser eigenes Dasein „trifft“. Darum wird er der „Geist der Wahrheit“ genannt. Jetzt nämlich, so hat Calvin es beschrieben, geschieht das Entscheidende: Wie Gott in seinem Wort Zeuge von sich selbst ist, so werden wir nun zu Zeugen Gottes.250 Der Geist macht uns dazu. Das wiederum, erklärt Calvin, ist das „einzigartige Vorrecht“, mit dem Gott allein seine Erwählten auszeichnet. Es ist also – damit schließt sich der durchlaufene Kreis – nicht die Kirche, die die Autorität der Schrift begründet, sondern die in der Kraft des Geistes sich selbst durchsetzende Autorität 247 248 249 250

Kom zu Röm 1,4, CO 4 9, 10; CStA 5.1, 4 9.17–21. Inst III, 1,1; OS IV, 2.4f. G.W. Locher (Anm. 309). 14. Inst I, 7,5; OS III, 71, 5–7.

Calvins Schrifthermeneutik

der Schrift, die die Kirche als Schar dieser Erwählten begründet. Sie steht ihr als überlegene kritische Instanz jederzeit gegenüber.

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II.

Gegenstandsfelder der Theologie

3.

Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Einleitung Calvin hat sein Erstlingswerk, die Institutio, verfasst, um seinen verfolgten Glaubensgenossen in Frankreich eine möglichst vollständige Darstellung der christlichen Lehre zu geben. Spätestens in der Straßburger Zeit hat sich diese Absicht, wie gezeigt, mit dem Versuch verbunden, systematische Gesichtspunkte (loci) zu finden, um biblische Aussagen zu einem zusammenhängenden Ganze zu ordnen. Am Beginn der nun folgenden materialen Darstellung sei daher noch einmal an die Überlegungen erinnert, mit denen ich die „hermeneutischen Entscheidungen“ eingeleitet habe1 . Eine inhaltlich bestimmbare Mitte, ein „systematisches Zentrum“, um das sich die dogmatischen Erörterungen gruppieren, von dem her sie sich gar in ihrer Abfolge verständlich machen ließen, hat sich weder auffinden noch plausibel begründen lassen. Man hat ein solches Zentrum in der Prädestinationslehre gesucht (A. Schweizer), man meinte es in dem „eigentlichen Lebensnerv des calvinischen ‚Unterrichts’“, d. h. in der „biblischen Voraussetzung, dass der Mensch es [hier] mit dem lebendigen Gott zu tun hat“2 , erkennen zu können, ferner in der durchgängigen Bezeugung der „Ehre Gottes“3 , und schließlich auch in der „dialektischen“ Weise, von Gott zu reden, „den wir nie mit einem Gedanken und mit einer Aussage erfassen und beschreiben können“.4 Das alles sind zutreffende Beobachtungen, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sich ein oberstes Prinzip seiner Theologie, das den ganzen Gedankenbau trägt, nun doch nicht aufweisen lässt. Andererseits ist die Anordnung des Stoffes, in der das weite Feld theologischer Fragen und Themen hier aufgearbeitet wird, alles andere als beliebig. Calvin hat sich die Loci-Methode Melanchthons zu eigen gemacht und sie in der Institutio seit der Ausgabe von 1539 konsequent zum Zuge gebracht. Deshalb ist es sachgemäß, sich in einer Darstellung wie der hier versuchten soweit als möglich an dem Grundriss ihrer vier Bücher und der Abfolge der dort behandelten Stücke, zu orientieren. Die theologischen Entscheidungen – das haben neuere Untersuchungen insbesondere der modernen angelsächsischen Forschung herausgestellt – fallen jedoch nicht

1 Siehe Kapitel 2. 2 So: P. Barth, Calvin, in: Zeitenwende 7 I, 1931, 310. W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 16, sprach vom „Inhalt aller Inhalte“. 3 So: A. de Quervain, Calvin. Sein Leben und Kämpfen, Berlin 1926, 6; so auch U. Smidt, Calvins Bezeugung der Ehre Gottes, in: FS A. Schlatter, Berlin 1927, 119. 4 So: M. Simon, Die Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament in der Schriftauslegung Calvins, in: RKZ 82, 1932, 35.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

erst hier, sondern bereits in Calvins Kommentaren und Predigten, die ihrerseits naturgemäß keinen einheitlichen Mittelpunkt haben, sondern sich an der Vorgabe der biblischen Texte orientieren. Dieses exegetische und homiletische Fundament sichtbar zu machen, ist (neben der zeitgeschichtlichen Verortung) eine der hier anfallenden Aufgaben. Calvin hat der Eigenart der biblischen Autoren größte Bedeutung beigemessen. Im Spiegel der unreduzierbaren Vielfalt ihrer Aussagen gilt es daher zunächst nach den Wegen der Erkenntnis Gottes zu fragen und an diesen Wegen nun auch das sachgemäße Reden von Gott zu prüfen. Das führt sogleich in die hermeneutische Mitte seiner Theologie.

3.1

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

Die Frage der Gotteserkenntnis steht an der Spitzes des Genfer Katechismus und wird durch diese hervorgehobene Stellung von Calvin als Leitfaden christlicher Lehre und Lebensführung thematisiert: „Was ist das vornehmste Ziel des menschlichen Lebens?“ Antwort: „Dass die Menschen Gott, ihren Schöpfer, selber erkennen.“5 Dazu die Begründung: „Gott hat uns dazu geschaffen und in die Welt gestellt, um in uns verherrlicht zu werden.“6 In diesem Sinne hat Thomas H.L. Parker hat die Institutio „das erste protestantische Werk, und zwar eines der größten“ genannt, „das im Raum der Kirche über das Thema der Gotteserkenntnis je geschrieben worden ist“.7 Der besondere, dort beschrittene Zugang zur Sache – das sei schon an dieser Stelle betont – zeigt sich darin, dass Calvin „Erkenntnis“ nicht primär als ein theoretisches Vermögen begreift, sondern von ihrem Ansatz her als eine Bewegung des Lebensvollzugs, die den kognitiven Akt erst in einem zweiten Schritt freisetzt. Es geht darum, „unser Leben auf Gottes Herrlichkeit und Ehre zu beziehen“, es gewissermaßen in den Ausstrahlungsbereich seiner gloria zu stellen. Zu den viel diskutierten Besonderheiten dieses Entwurfs gehört die These einer zweifachen Gotteserkenntnis (duplex cognitio), einmal aus der Schöpfung, sodann, vermittelt durch Christus, aus der Schrift.8 Sie erinnert an die alte Tradition der „zwei Bücher“, des Buchs der Natur und des Buches der Schrift, die beide Gott zu ihrem Urheber haben9 , und nimmt explizit das seit dem Mittelalter bis in unsere Tage kontrovers geführte Gespräch über die Möglichkeit einer „natürlichen“

5 Genfer Katechismus (1545), OS II, 75; CStA 2, 16 5f. In der Fassung von 1537: „Alle Menschen sind geschaffen (nez), um Gott zu erkennen“, CO 12, 33; CStA 1.1, 138.12. 6 Ebd. OS II, 75.3–6; CStA 2, 17.6–8). 7 T.H.L. Parker, Calvin’s Doctrine of the Knowledge of God, Grand Rapids 1959 (2.Ed.), 1. 8 Inst I, 2,1; OS III, 34.24. 9 Raimund von Sabunde, Theologia naturalis seu liber creaturarum, Lyon 1484; dazu: Chr. Link, Die Welt als Gleichnis, München 1982 (2.Aufl.), 15f.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

Erkenntnisquelle auf, die Calvin als doctrina generalis keineswegs bestreitet. „Wir erkennen Gott, der an sich selbst unsichtbar ist, nur durch seine Werke.“10 Dazu aber gehört nicht nur die Schöpfung, die den universalen Horizont der hier geforderten Erkenntnis aufspannt, sondern ebenso das (partikulare) Werk der Erlösung, und beides, erklärt Calvin, ist uns in seiner wahren Bedeutung erst durch die Schrift (ex verbo) erschlossen.11 Er spricht von der allgemeinen und der besonderen Erkenntnis (generalis bzw. propria doctrina).Man darf diese Duplizität jedoch nicht als Konkurrenz zweier methodischer Zugänge missverstehen, auch nicht als einen Stufenweg, als sei das Schöpfungszeugnis eine notwenige Voraussetzung, um die Erkenntnis am Leitfaden und unter Führung der Schrift (scripturae duce et magistra) zu verstehen. Es ist nicht schwer, die auf dieser ersten „natürlichen“ Argumentationslinie wiederkehrenden Topoi der klassischen theologia naturalis auch bei anderen Reformatoren des 16.Jahrhunderts wiederzufinden. Schließlich steht Calvin wie sie in derselben Tradition der „christlichen“ bzw. „himmlischen“ Philosophie, deren Leitbild er Erasmus und Budé entnimmt. Es ist vollends leicht, die von ihm angeführten Topoi bereits in der philosophischen Tradition der Antike, insbes. bei Cicero (De natura deorum) namhaft zu machen: etwa die These einer ursprünglichen Anlage zur Religion (semen religionis), das uns „eingemeißelte Wissen von Gott (insculptus divinitais sensus) oder die Instanz des natürlichen Lichtes (lumen naturale).12 David Steinmetz hat insbesondere auf Melanchthons und Bucers Kommentare zum Römerbrief hingewiesen.13 Beide kennen eine äußere Offenbarung Gottes in der Schöpfung und die Vorstellung eines inneren, dem Verstand eingeprägten Wissens, das allerdings nicht von natürlichen Erfahrungen abgeleitet, sondern – in deutlichem Unterschied zu der eigentlich so zu nennenden Erkenntnis (cognitio) – als „angeborenes Wissen“ (etwa von der Existenz eines Gottes), unterstellt und deshalb als notitia eingeführt wird. Man braucht es nicht erst in den Schulen zu lernen, sondern „jeder ist hierin von Geburt an sein eigener Lehrmeister, und die Natur selbst verhindert das Vergessen“.14 Calvin hat diese Anregungen aufgenommen, sie aber, wie zu zeigen sein wird, selbständig und zugleich sehr viel vorsichtiger, nämlich strikt erfahrungsbezogen (statt aprioristisch), weitergeführt.

10 11 12 13 14

Calvin, Genesis-Kommentar (Argumentum), CO 23. 9/10. Inst I, 6.,1, OS III, 61. 14. Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1964 (3.Aufl.), 467f. D.C. Steinmetz, Calvin in Context, New York – Oxford 1995, 23–32, bes. 35. Dazu gehören Ausdrücke wie sensus divinitatis oder deitatis, impressio de numine oder ingenita persuasio. (Inst I,3,3), vgl. Parker (Anm. 7), 8–9. Von einem derart „angeborenen Wissen“ spricht Calvin in der Regel nur im Blick auf die von der Wissenschaft vorausgesetzten Allgemeinbegriffe (universalis rationis … comprehensio; Inst II, 2,14, OS III, 257.34).

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Absicht und Ziel der „zweifachen“ Gotteserkenntnis hat er in der Einleitung zur Genesisauslegung (1554) mit einer feinen Unterscheidung erläutert: Gottes Herz nenne ich seine verborgene Liebe, mit der er uns in Christus umfängt; unter seinen Händen und Füßen aber verstehe ich seine Werke, die uns ausgebreitet vor Augen liegen.15

In der präzisen Paraphrase Parkers heißt das: Wir erkennen Gott wahrhaftig (truly), aber wir kennen ihn nicht ganz (wholly)“. Dazu die Erklärung: „Gott offenbart sich in der Schöpfung nicht als ein Anderer (different from) als der, der er in sich selbst ist. Er, der offenbart ist, ist der, der sich selbst offenbart […]. Trotzdem wissen wir nicht alles über Gott, denn es bleibt ein Letztes (ultimate), zu dem wir gar keinen Zugang gewinnen können […]. Wir können verstehen, warum Calvin von den Werken Gottes sagt: Wir kennen seine Hände und Füße, aber nicht sein Herz.16

Zweierlei geben diese Sätze zu bedenken: Weil Gott uns in diese Welt hineingestellt hat, in der er sich selbst manifestiert, gibt es überhaupt das Problem einer „natürlichen“ Gotteserkenntnis. Er hat sich in seinen Werken, jedem Zweifel zuvorkommend, als vertrauenswürdig erwiesen. Er gehört selbstverständlich zur intelligiblen Ausstattung unserer Welt. Zu einem Wissen mit praktischen Konsequenzen, d. h. zu einer wirklichen Erkenntnis ist es auf diesem Weg jedoch nicht gekommen. Dieser hohe Anspruch scheitert – eine Folge des ‚Sündenfalls’ – an der Unfähigkeit unserer Wahrnehmungsorgane. Das Selbstzeugnis der Schöpfung erreicht bei uns nicht sein Ziel. Parker ist mit seiner Interpretation noch einen Schritt weiter gegangen. Er hat einen längeren Auszug dieses eindrucksvollen Textes als einen für sich selbst sprechenden Kommentar an das Ende seiner Analyse von Inst I, 1–6 gestellt und als ein „Interludium“ mit der an Luther erinnernden Überschrift „Theologia Crucis oder Gloriae?“ versehen.17 Dieser Schlüssel zum Verständnis der notwendig zweifachen Erkenntnis könnte sich insofern nahe legen, als Calvin selbst den Hinweis auf den „Leitfaden der Schrift“ mit 1Kor 1,21, dem Kontrast von göttlicher Torheit und menschlicher Weisheit, verdeutlicht und hinzufügt, dass „niemand, von der Natur geführt, jemals so weit fortgeschritten wäre, dass er Gott erkannt hätte“. Er interpretiert:

15 Argumentum in Genesin, CO 23, 7. 16 T.H.L. Parker, Calvins Doctrine (Anm. 7), 54. 17 Ebd. 57f.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

Man darf also nicht mit den Elementen dieser Welt, sondern muss mit dem Evangelium den Anfang machen, weil es uns allein Christus mit seinem Kreuz vor Augen stellt und uns dabei festhält. Die ganze Philosophie ist umsonst, wenn wir nicht durch die Predigt des Evangeliums gelernt haben, den Scharfsinn unseres Verstandes (mens) der Torheit des Kreuzes, wie Paulus sagt, zu unterwerfen. Ich behaupte, dass wir nichts finden werden, sei es oben oder unten, das uns zu Gott erheben könnte, bis Christus uns in seiner eigenen Schule unterrichtet hat.18

Er fährt dann allerdings fort, um der „natürlichen“ Argumentationslinie ihr Recht zu lassen: Dem steht nicht im Wege, unsere Sinne auf die Betrachtung von Himmel und Erde zu richten und auch von dort zu suchen, was uns in der wahren Kenntnis (notitia) Gottes bestätigen kann. Denn Christus ist das Bild, in dem uns Gott nicht nur sein Herz (pectus), sondern auch seine Hände und Füße sichtbar darstellt; darunter verstehe ich die Werke, die ausgebreitet vor unseren Augen liegen.19

Ich lasse die von Parker gestellt Frage, wie beide Aussagereihen zusammengehören, einstweilen offen. Sie bilden bei Calvin anders als Herrlichkeit und Kreuz bei Luther offenbar keinen Gegensatz. Sie stehen vielmehr, wie es scheint, in einem dialektischen Verhältnis zueinander. 3.1.1

Noch einmal zum Problem der natürlichen Gotteserkenntnis

Die Basis, von der aus Calvin das Problem im Horizont der Schöpfung aufrollt, ist das hymnische Lob der Psalmen (Ps 19,2–5). Er knüpft an den weisheitlichen Ort der Gewissheit an, dass die geschaffene Welt sich uns als lebendiger Ausdruck der Selbstbezeugung, d. h. der unzweifelhaften Anwesenheit Gottes, präsentiert. Sie ist uns als Spiegel seiner Herrlichkeit zugekehrt, in dem wir ihn nach dem begrenzten Maß unserer Einsicht betrachten sollen (und es auch können!). Denn diese Herrlichkeit (gloria) manifestiert sich als ein Phänomen von einer geradezu körperlich spürbaren Penetranz, das seine Spuren unfehlbar im physischen und intelligiblen Kosmos hinterlässt. So enthält die Welt schon in ihrem bloßen Dasein eine theologische Aussage, die der Mensch grundsätzlich verstehen kann. Die Institutio spricht von „angezündeten Lichtern“ (I, 5,14), „in denen Gott uns nahe kommt, sich uns vertraut macht und gewissermaßen mitteilt. Der vielfach variierte Fundamentalsatz (axioma) lautet: „Gott hat die gesamte Welt mit dem Ziel

18 Genesiskommentar (Argumentum) CO 23, 9/10. 19 Ebd. 11/12.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

erschaffen, dass sie Schauplatz (theatrum) seiner Herrlichkeit sein sollte.“20 Hinter dieser starken Akzentuierung der gloria Dei wird eine dogmatische Entscheidung von erheblicher Tragweite sichtbar: Anders als gelegentlich bei Luther wird die Schöpfung hier nicht als eine Selbstinvestition Gottes begriffen derart, dass der „Vater“ sich [sein Wesen] in sie „ausgeschüttet“ hätte.21 Er steht ihr in Freiheit gegenüber; er stellt sich in ihr dar, macht sich uns dadurch bekannt, und diese Sprache können wir verstehen: Gott hat sich in der ganzen Schöpfung der Welt in einer Weise öffentlich dargestellt, und tut es noch heute, dass die Menschen ihre Augen gar nicht auftun können, ohne ihn unvermeidlich zu erblicken. […] Er hat den einzelnen Werken zuverlässige Kennzeichen seiner Herrlichkeit eingeprägt, und zwar so deutlich und eindrücklich, dass sich auch die unkundigsten und unverständigsten Menschen nicht mit Unwissenheit entschuldigen können. […] Man kann dieses weiträumige, wunderbare Kunstwerk nicht mit einem Blick umfassen, ohne unter der Gewalt dieses unermessliche Glanzes zusammenzubrechen.22

Damit ist das Erkenntnisproblem aufgerufen, das sich in der älteren Forschung um den „Kampfbegriff “ der „natürlichen Theologie“ sammelt.23 Doch wird man sich zunächst vergegenwärtigen müssen, dass diese eindrucksvolle Sicht der profanen Welt als Schauplatz göttlicher Manifestationen einen historischen Hintergrund hat. Susan E. Schreiner hat ihn in einer mit Recht viel zitierten Studie sorgfältig ausgeleuchtet.24 Sie durchmustert die antiken und mittelalterlichen Voraussetzungen der im 16.Jahrhundert geführten Debatten, prüft angesichts ihres unsicheren (precarious) Status Calvins Auffassung der Natur und ihrer Ordnungen – von der Schöpfung über die Geschichte bis hin zum Eschaton – und wirft ein neues Licht auf jenen positiven Zugang zu der uns vor Augen liegenden Wirklichkeit, den Calvin in der Überzeugung einer theologisch sprachfähigen Welt mit der Antike teilt. Was wir in dem hier freigelegten Horizont unserer primären weltgebundenen Wahrnehmung von Gottes Selbstkundgebung erkennen, ist – man sollte sich nicht scheuen es auch so zu nennen – das Thema einer legitimen natürlichen Theologie. Dabei kommt es nun allerdings entscheidend darauf an, wie dieser Anspruch begründet wird. Hier nämlich zeigt sich eine Differenz gegenüber ihrem thomani-

20 21 22 23 24

De aeterna praedestinatione Dei, CO 8, 294; vgl. Inst I, 5,5. WA 30 I,44.36: „Pater hat sich ausgeschütt’ cum omnibus creaturis quas creavit“. Inst I, 5,1; OS III, 45. 2–8 und 20–23. So etwa W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 36–49. S.E. Schreiner, The Theatre of His Glory. Nature and the Natural Order in the thought of Calvin, Grand Rapids 1991, 15f. bes.19–28. Vorausgegangen ist ihr die materialreiche Predigtstudie von Richard Stauffer, Dieu, la création et la providence dans la prédication de Calvin, Berne 1978. Vgl. auch T.H.L. Parker, a.a.O. (Anm. 7), 7–24.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

schen, aber auch ihrem neuzeitlichen Begriff. Calvin, so eine Beobachtung Parkers25 legt das Fundament seines Gebäudes nicht wie Thomas es tut, der (durch das Bedürfnis logischer Vollständigkeit genötigt) zunächst einmal die Existenz Gottes in den berühmten „fünf Wegen“ a posteriori beweist. Vielmehr setzt er Gottes Existenz auf genau der Basis voraus, deren Tragfähigkeit Thomas ausdrücklich bestreitet, dass nämlich die Menschen ein angeborenes Wissen von Gottes Dasein haben. Das dürfe man jedoch nicht schon als Erkenntnis (cognitio) Gottes ansprechen, sondern höchstens als eine Art von Wissen (notitia), weshalb er, wie gezeigt, in Inst I, 3,3 die beiden Begriffe (cognitio und notitia) kontrastiert, sie allerdings als ein tatsächlich reales Wissen gelten lässt. Es handelt sich um einen Samen (semen) und eine Neigung (propensio) hin zur Religion, anders gesagt: um ein mehr oder weniger bewusstes Fühlen (sensus) oder eine Vorstellung (idea) davon, dass getrennt von der Menschenwelt noch ein anderer Herr über ihr steht, eine Vorstellung, die (als) vernünftig geglaubt wird und der man nur trotz und im Widerspruch zur Natur den Glauben versagen könne. Von dieser Kenntnis (idea) der Existenz Gottes sagt Calvin, sie sei uns angeboren (innata) und somit ein notwendiges Attribut des Menschen. Selbst Atheisten und große Bösewichter wüssten, dass es einen Gott gibt. Auch wenn sie das nicht ständig fühlen oder glauben: so kennen sie doch Stunden, in denen dieses überwältigende Wissen (sensus) unentrinnbar über sie kommt. Solange Calvin an der Realität eines solchen „angeborenen“ Wissens festhält, hat er es nicht nötig, die Existenz Gottes argumentativ mit den begrifflichen Annahmen der thomanischen ‚Beweise’ (Seinsstufen, Kausalität oder Teleologie) zu verteidigen. Hat nicht auch Paulus eben dies gemeint, wenn er uns in Röm 1,20 an ein Wissen erinnert, das uns angesichts der Kenntnis seiner Werke vor Augen stehen müsste? Wir erkennen, so seine These genug, nämlich Gottes Ewigkeit und Macht, seine Weisheit, Güte und Gerechtigkeit, um uns jede Entschuldigung aus der Hand zu schlagen.26 Doch dieses Wissen, so sagte ich, verdient nicht eigentlich den Namen Erkenntnis (cognitio) Das Problem der Erkenntnis, so hat man mit Recht gesagt, ist das Problem der Offenbarung.27 Wenn Calvin den berühmten Eingangssatz der Institutio in den darauf folgenden Kapiteln erläutert, spricht er nicht isoliert von der Konstitution unserer Erkenntnisvermögen, sondern von einer Erkenntnis im Licht der Offenbarung, und dieses

25 T.H.L. Parker, a.a.O. (Anm. 7), 7f. 26 Zu Röm 1,20 siehe CO 49, 24; CStA 5.1, 85. 16–25. 27 So: T.H.L Parker, a.a.O. (Anm. 7). 9ff: “A God who could be known otherwise than through Himself, i.e. otherwise than through His revelation of Himself, would have already betrayed, eo ipso, that He was not the one and only One and so was not God” (ebd. 10) – oder E.A. Dowey, The Knowledge of God in Calvin’s Theology, New York – London 1952, bes. 164ff; W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, 57ff, 95ff. Das ist im Übrigen auch der Kern der historischen Kontroverse zwischen Karl Barth und Emil Brunner (1934).

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Licht erreicht uns – von der Forschung noch kaum wahrgenommen – auch auf dem Weg über die Natur. Hier erst stehen wir vor der Eigenart der calvinischen „natürlichen“ Theologie. Denn von einem theologischen Aspekt der Natur selbst – hier liegt der blinde Fleck – wusste die Tradition nichts zu sagen. Sie war durchweg nur mit dem (die Natur interpretierenden, von ihrer Natur aber kategorial getrennten) Subjekt des Menschen beschäftigt.28 Das eben ist bei Calvin grundsätzlich anders. Er arbeitet mit Erfahrungen, die man im Umgang mit der Natur macht: Um diese Aufklärungsarbeit an ihren theologischen Fundamenten geht es in den Einleitungskapiteln der Institutio. Das initiierende Ereignis ist hier ein derart mächtiger „Eindruck“ (vehementissima ista de numine impressio; I, 3,1), den die Menschen, konfrontiert mit der durchdringenden Präsenz Gottes, empfangen – selbst der heidnische Götzendienst wird ihm zu einem beweiskräftigen Beleg dafür – dass es „leichter ist, den natürlichen Affekt zu brechen, als diesen Eindruck aus der Seele zu reißen“.29 Diesem „sensus divinitatis“ kann sich niemand und nichts entziehen. Der unauslöschbare, durch Erfahrung – „experientia testatur!“ (I,4,1) – hundertfach bestätigte Eindruck Gottes ist die Wurzel unserer religiösen „Anlage“ (semen religionis), die man mit dem „religiösen Apriori“ des 19. Jahrhunderts, einem vor aller Erfahrung liegenden kategorialen Wissen, daher auf keinen Fall wird verwechseln dürfen. Er ist es, der einen Menschen gleichsam „ansteckt“, erfüllt und zur „bleibenden Überzeugung vom Dasein Gottes“ führt, „aus welcher wie aus einem Keim der Hang zur Religion hervorgeht“.30 Paulus und Barnabas, erklärt Calvin im Kommentar zu Apg 14, 17 nehmen diesen Grundsatz auf, dass in der Ordnung der Natur eine deutliche und klare Manifestation Gottes stattfindet: Durch Regengüsse wird die Erde bewässert, die Wärme der Sonne belebt sie […], und daraus darf mit Bestimmtheit geschlossen werden, dass es einen Gott gibt, der alles regiert.31

Man müsste das „Licht der Natur“, den Eindruck der göttlichen Weltregierung, schon eigens „auslöschen und sich mutwillig selbst betäuben“ (I,4,2), sich also gegen ein aus der Erfahrung andringendes Wissen buchstäblich abriegeln, um zum Gottesleugner zu werden. Diese von außen sich aufnötigende, auf Wahrnehmung und Empfindung angewiesene Überzeugung, nicht aber die „angeborene Idee“ 28 29 30 31

Dazu: Chr. Link, Die Welt als Gleichnis, München 1982 (2.Aufl.), 82ff, 326ff. Inst I, 3,1, OS III, 38. 11f und 15f. Inst I, 3,2, OS III, 38.29. Zu Apg 14,17; CO 31, 88. Ebenso heißt es zu Ps 8,1: „in toto naturae ordine amplissima occurrit celebrandi Dei materia“, CO 31, 88: “In der ganzen Ordnung der Natur begegnet uns das reichste Material, Gott zu verehren.“

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

einer späteren Philosophie meint Calvin, wenn er von einem allen Menschen „eingemeißelten“ Wissen von Gott spricht. „Aufgrund seiner Kräfte (virtutes) offenbart sich der Herr, und weil wir deren Gewalt (vis) im Innern verspüren, müssen wir uns durch solche Erkenntnis (cognitio) weit lebendiger ergreifen lassen, als wenn wir uns einen Gott einbildeten, von dem keine Empfindung (sensus) zu uns gelangt.“32 Das Thema Calvins ist also von Anfang an nicht die moderne Möglichkeit einer Theologie aus natürlichem (intellektuellem) Vermögen, sondern die Frage einer Gotteserkenntnis aus der Natur. Das Gefälle verläuft von Gott zur Welt: Die gloria Dei erreicht uns – immer! – von außen. 3.1.2

Gotteserkenntnis am Leitfaden der Schrift: Christus als Vermittler der Schöpfung

Erst im Übergang von Inst I,5 zu I,6, auf den das Gefälle der Einleitungskapitel hinausläuft, wird jener intellektuelle Erkenntnisweg zu einer rein hypothetischen Möglichkeit herabgesetzt. Warum? Weil zwischen dem, was prinzipiell, und dem, was faktisch möglich ist, unerbittlich der Sündenfall steht: „Wir sind blind, nicht weil die Offenbarung dunkel wäre, sondern weil wir ihr fremd (mente alienati) geworden sind: Nicht nur der Wille, sondern auch die Fähigkeit zu dieser Sache fehlt uns.“33 Die Zeugnisse der Herrlichkeit Gottes, die uns Natur und Geschichte so überreich anbieten, treffen bei uns nicht ins Ziel. Dass die Welt selbstverständlich für Gott spricht, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt (Mt 5,45), muss uns erst verständlich gemacht werden. Vollends der Römerbrief-Kommentar reduziert das Vertrauen auf unsere Verstandesleistungen nahezu auf Null: „Mit unserem Verstand ist Gott in seiner wahren Größe schlechterdings nicht zu erfassen“, ja, „wer wissen will, was Gott [an und in sich selbst] ist, hat wohl den Verstand verloren (delirat)“.34 Wir kommen aus dem Zirkel nicht heraus, „uns einen Gott zurecht zu machen, den wir mit unserem eigenen Denkvermögen begreifen können“.35 So bleibt uns nur der zweite Weg, uns der Schrift als „Leiter und Lehrerin (dux et magistra)“ anzuvertrauen, das heißt, uns durch die Offenbarung – in diesem Falle auf dem Weg der Christologie – , das Verständnis der Schöpfung öffnen und auf diese Weise „unser sonst so verworrenes Wissen von Gott in Ordnung bringen zu lassen“.36 Was vom „Leitfaden der Schrift“ zu erwarten ist, verdeutlicht Calvin daher

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Inst I, 5,9; OS III, 53.14–19. Kom. zu 1Kor 1,21; CO 49,326. Vgl. hierzu Kapitel 2.6: Das Problem der nat. Gottes-Erkenntnis. Kom. zu Röm 1,19; CÖ 49, 23; CStA 5.1, 81. 22 und 25. Ebd. CO 49, 25; CStA 5.1, 89. 7f. Inst I, 6,1; ebd. 60.29f. – Vgl. Edward A. Dowey, The Knowledge of God (Anm. 27), 48, weist in diesem Zusammenhang auf das wohl klarste Zeugnis der Inst (1539; CO 1, 304d) hin: „Weil sich der Herr aber nicht in einem uns verwandteren Anblick zu erkennen gibt als in dem Angesicht Christi,

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auf den Spuren Luthers mit dem Kontrast von göttlicher Torheit und menschlicher Weisheit (1Kor 1,21) und fügt hinzu, „dass wohl niemand, von der Natur geführt, jemals so weit fortgeschritten wäre, dass er Gott [tatsächlich] erkannt hätte“. Am Ende ist dann die Frage zu beantworten, ob (und wenn: wie) diese beiden in der Vorrede zur Genesis (Argumentum) angesprochenen Aussagereihen, der Blick auf die Schöpfung (Inst I) und der Blick auf das Werk der Erlösung bzw. Versöhnung (Inst II), zusammengehören. Eva-Maria Faber hat auf einen bisher wenig beachteten Zug des calvinischen Entwurfs aufmerksam gemacht. Die Schöpfung ist nicht nur Resultat des göttlichen Schaffens, sie soll zugleich auch als „Eröffnung von Beziehung“ und so verstanden als Anrede an den Menschen, d. h. als „Offenbarung“ wahrgenommen werden. Faber redet von einem beziehungstiftenden Gott, der sich in personaler Zuwendung „auf Anderes hin öffnet“.37 Aus diesem Grund ist die Frage nach Zweck und Ziel der geschaffenen Welt und – als deren Konvergenzpunkt – die Frage nach dem Heil des Menschen der bestimmende theologische Aspekt. Die Schöpfungswerke kommen weniger als Produkt denn als „Weise der göttlichen Selbsterschließung“, als Manifestation seines Willens in den Blick, und das wiederum findet seinen Ausdruck darin, dass Calvin die Schöpfung als Ausführung eines göttlichen Dekretes begreift. „Die Welt hat ihren Ursprung nicht in sich selbst. Deshalb hängt die Ordnung der Natur insgesamt allein von Gottes Ratschluss (decretum) ab, der jedem einzelnen Element seine besondere Eigenart mitgegeben hat.“38 Die Beziehung von Gott und Welt ist in Gott selbst verankert und zwar so, dass ihre Realisierung allein von ihm und seiner Freiheit erwartet werden kann. Anders gesagt: Es bedarf einer Vermittlung von Gott und Welt, und diese Funktion, die Ausführung des Dekrets – das führt auf den entscheidenden Punkt –, schreibt Calvin, wie der ausdrückliche Hinweis auf Joh 1,3f. und Hebr 1,2 belegt, dem Wort (Logos) und dem Geist Gottes zu: „Gott hat mit der Kraft seines Wortes und seines Geistes Himmel und Erde aus Nichts erschaffen“.39 Erst mit dieser trinitarischen Verklammerung von Gott und Welt – sie ist sehr viel enger als in den Entwürfen Melanchthons und Luthers – stehen wir vor dem „Licht“, das nach Inst I,6,1 unser „sonst so verworrenes Wissen von Gott in die richtige Ordnung bringt“ und die Schrift zu jenem „Führer und Leiter“ (dux et magistra) macht, der uns das Verständnis der Schöpfung erschließt – und zwar angefangen von der Frage, wie es überhaupt zu jener Selbstdarstellung

das man nur mit den Augen des Glaubens schauen kann: so wird, was von der Kenntnis (notitia) Gottes noch zu sagen bleibt, besser auf den Artikel aufgeschoben, in dem vom Intellectus fidei zu handeln sein wird“, zit. n. OS III, 87, 36–39. 37 E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen 1999, 50f. 38 Psalmenkommentar, zu Ps 104,5, CO32,86, CStA 6, 285. 23–26. 39 Inst I,14,20, OS III, 170. 33f.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

Gottes in der Welt kommen kann, die ihre Auszeichnung als Schöpfung, d. h. als „Schauplatz seiner Herrlichkeit“ (theatrum gloriae Dei) begründet. Es hängt, wie Faber in luziden Analysen gezeigt hat, alles an der Mittlerschaft von Wort und Geist. Was bedeutet das im einzelnen? Spricht Calvin mit Hebr 1,2 von dem „Sohn“ als Mittler (intermedium) der Schöpfung, so blickt er zunächst mit der klassischen Dogmatik auf den präexistenten Logos, „der selbst das ewige und wesentliche Wort (sermo) Gottes ist“ und als der „feste und ewige Ratschluss“ Gottes (consilium) im Werk der Schöpfung nach außen tritt. Durch ihn manifestiert sich Gott in seinen Geschöpfen, durch ihn sind sie wiederum mit Gott verbunden. In ihm ist Gottes Majestät zu uns herabgestiegen. Deshalb wurde er Mensch, hat sich – so der für Calvin so wichtige Gedanke der Akkomodation40 – unsrer Fassungskraft angepasst und sich in Christus eine uns zugewandte Begegnungsgestalt gegeben. In ihm wird Gott als Immanuel fassbar, der in seinem Sohn sein „freundliches Antlitz“ konkret werden lässt.41 Somit hat die Schöpfungsmittlerschaft Christi (Kol 1, 15–17) einen zweifachen Richtungssinn: Sie ist „Seinsmitteilung von Gott her“ und zugleich „Rückbindung der Geschöpfe auf Gott hin“; sie ist in diesem zweifachen Bezug zu Gott und zur Schöpfung begründet.42 So heißt es in der Auslegung von Joh. 1,1: „Wie Gott, indem er die Welt schuf, sich durch dieses Wort (logos) offenbarte, so hatte er es vorher bei sich verborgen, damit es eine doppelte Beziehung (duplex relatio) gäbe: zuerst zu Gott, dann zu den Menschen.“43 Hat der Logos in diesem Beziehungsgefüge die Aufgabe, den Riss zwischen dem Schöpfer und seinem (abgefallenen) Geschöpf zu heilen, also Gott und den Menschen in einer versöhnten Gemeinschaft zusammenzuführen, so besteht die besondere Aufgabe des Geistes – er ist die „Hand Gottes“, durch die er „seine Macht ausübt“ – darin, alle Teile der Welt, in die er ausgegossen ist, in ihrem Bestand zu bewahren. „Mit der wunderbaren Kraft und dem Antrieb seines Geistes erhält Gott alles, was er aus dem Nichts erschaffen hat.“44 So bleibt die geschaffene Welt nicht sich selbst überlassen. Sie ist ungeachtet ihrer Selbstverschlossenheit und Vergänglichkeit zum „Schauplatz von Gottes Ehre und Herrlichkeit“ bestimmt.45 Diese Feststellungen, sind für das Problem der Erkenntnis Gottes von grundlegender Bedeutung. Wenn Gott nur „in und aus seinen Werken“ erkannt werden kann, und wenn diese Werke die Vermittlung durch Wort und Geist voraussetzen, dann muss die Erkenntnis des für uns unzugänglichen und unbegreiflichen Gottes bei diesen uns zugänglichen Vermittlungsgestalten ansetzen. Sie muss den

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Dazu P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen 1994, 206–211. Zu Röm 8,35, CO 49, 166; CStA 5.2, 453. 15f. E.-Maria Faber (Anm. 37), 55. Kom. zu Joh 1,1, CO 47,2. Zu Apg 17,28, CO 48, 416f. So die bekannte „Definition“ der Schöpfung in: De aeterna Dei praedestinatione, CO 8, 294.

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hier nachgezeichneten Weg der Vermittlung sozusagen in umgekehrter Richtung durchlaufen, und eben das heißt: von unten, „mit Christus den Anfang zu machen“. Denn „wir haben nichts mit Gott zu tun, wenn nicht der Mittler zugegen ist, der uns mit Gott verbindet“46 und ihn uns zum Freunde macht. So verstanden ist die Gotteserkenntnis aus der Schöpfung für Calvin tatsächlich „kein Weg, den der Mensch von sich aus gehen könnte, sondern Folge der aktiven Selbstoffenbarung Gottes in der Schöpfung“.47 Dass Gott in einem „unzugänglichen Licht“ wohnt (1 Tim 6,16), stellt unsere Erkenntnisbemühungen vor eine prinzipielle Schranke. Selbst die „gescheitesten“ Menschen sind gemessen an ‚wahrer’ Gotteserkenntnis „blinder als Maulwürfe“48 , und das ist nicht erst eine Folge des „Sündenfalls“, hat auch nichts zu tun mit einer „prinzipiellen Verschlossenheit oder Selbstverschließung Gottes“, als hätte er sich absichtlich zurückgezogen, um verborgen zu sein.49 Es ist der alles überstrahlende Glanz seiner Herrlichkeit, der uns den Zugang zu ihm verwehrt. Deshalb bleibt uns nur der Weg einer vermittelten Erkenntnis, dessen Möglichkeit uns dadurch eröffnet ist, „dass Gott sich uns in seinem Sohn sichtbar manifestiert hat. Er ist sein lebendiges Bild, so dass man anderswo vergeblich nach ihm sucht“.50 Gotteserkenntnis, die in den Grenzen unserer Erkenntniskraft diesen Namen verdient, ist darum an das Bild Christi gebunden. Eine ausführliche Erläuterung findet sich in der Auslegung von Hebr 1,3, einem Text, der von Christus als dem „Abglanz seiner [Gottes] Herrlichkeit“ und dem „Abbild seines Wesens“ (character substantiae) spricht: Mit dem ersten Begriff wird uns zu bedenken gegeben, dass außer Christus kein Licht ist, sondern bloße Finsternis […], mit dem zweiten, dass Gott in Christus wahrhaft und ganz erkannt wird. Denn sein [Gottes] Bild (imago) ist nicht dunkel oder verhüllt, sondern ein ausdrückliches Ebenbild (effigies), das ihn wiedergibt wie die Münze die Form, in die sie geschlagen ist. Ja, der Apostel sagt noch mehr: Das Wesen des Vaters ist gleichsam in Christus eingemeißelt.51

In dieser Vermittlungsgestalt geht es um den Weg von der Unsichtbarkeit Gottes zur Sichtbarkeit, die in der Christus-Offenbarung aufscheint. Calvin durchmustert die relationalen Bezüge, die das „Bild Gottes“ in sich enthält. Jetzt richtet sich der Blick nicht auf die Wesens-Einheit Christi mit Gott, sondern auf die Struktur 46 47 48 49 50 51

Zu Apg 7, 30, CO 48, 144. E.-M. Faber (Anm. 37), 192. Inst II,2,18, OS III, 260.33. E.-M. Faber (Anm. 37), 226. Zu Mt 11, 27, CO 45, 320. Zu Hebr 1,3; CO 55, 12.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

der Offenbarung, d. h. auf die Art der Repräsentation, die ihn zum Mittler macht. Das nämlich, erklärt Calvin, ist im Kern die „Mitteilung seiner Güter“ (bonorum communicatio), so dass, wer Christus umfasst, zugleich die Fülle ergreift, die im Vater ist.52 Nicht weniger wichtig ist die zweite Blickrichtung. Christus ist nicht nur das Bild Gottes, er ist zugleich auch ein Bild für die Menschen, das „auf uns Bezug nimmt“ (relatio ad nos). Gott „gibt sich eine dem Menschen zugewandte Begegnungsgestalt“.53 Er öffnet uns sein Herz, lässt uns sein freundliches Angesicht sehen und erübrigt damit alle spekulativen Versuche, eigenmächtig in sein Wesen einzudringen. Hier vollzieht sich der Wechsel vom Gegenüber der fernen Majestät Gottes zur Nähe des uns vertrauten Gottes. Das ist denn auch das Erste, was Calvin vom Mittleramt Christi zu sagen für notwendig hält: Der Heilige Geist „stellte Gottes Sohn vertraut in unsere Mitte wie einen unseresgleichen. Denn hinaufsteigen zu Gottes Majestät konnten wir nicht. „So musste der Sohn Gottes für uns zum Immanuel werden […] und zwar so, dass seine Gottheit und die menschliche Natur sich aufs Innigste miteinander vereinten.54

Unverkennbar steht hier das traditionelle soteriologische Interesse im Vordergrund, der Gedanke der Versöhnung und – so das große Thema des II. Buchs – der Ausblick auf die Erlösung. Denn dem uns zugewandten „Bild Gottes“ ist die Durchführung des göttlichen Plans zur Rettung der Menschheit anvertraut.55 Wie also – ein Letztes! – verhalten sich die beiden hier nachgezeichneten Linien, die Erkenntnis Gottes als Schöpfer und seine Erkenntnis als Erlöser zueinander?56 Schöpfung und Erlösung, so zeigte sich – sind durch den Logos (und den Geist) miteinander verbunden. Calvin hat diesen gemeinsamen Ursprung in einer bereits auf die Alte Kirche (Athanasius, Gregor von Nyssa, Augustin) zurückgehenden Lehrbildung, dem (in der lutherischen Polemik sogenannten) Extracalvinisticum, zur Geltung gebracht, der in diesem Zusammenhang von jeher ein starkes Interesse zugewandt worden ist.57 Die berühmte Formulierung lautet:

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Ebd. 12. E.-M. Faber (Anm. 37), 233. Inst II, 12,1; OS 438.11 und 437. 18–20. David Willis, Calvin’s Catholic Christology. The so-called Extracalvinisticum, Leiden 1966,114, hat gleichwohl an einer mangelnden Ausgewogenheit der calvinischen Darstellung Kritik geübt. Er spricht von einer „Abwertung (depreciation) der leiblichen Präsenz Christi im Akt der Offenbarung“. 56 Die hier waltende Dialektik hat E. Dowey, Knowledge of God (Anm. 27), 221–242, am Verständnis des Gesetzes im Kontext von Schöpfung und Erlösung nachgezeichnet. 57 K. Barth, Die Kirche und die Kultur (1926), in: Vorträge und kleinere Schriften, GA III, Zürich 1994 (10–40), 21; D. Willis (Anm. 55). Dazu ausführlich: Kapitel 4.3.2.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Wohl ist der Logos wunderbarerweise vom Himmel herabgestiegen – und hat ihn doch nicht verlassen; wohl […] ist er auf Erden gewandelt, hat willentlich am Kreuz gehangen – und hat doch, wie im Anfang, immerfort die ganze Welt erfüllt. (Inst II, 13,4; OS III,458, 7–13)

Auch außerhalb (extra) des Mensch gewordenen Christus hört der Logos nicht auf, sein Werk in der Welt zu tun. Der Glaube an die Inkarnation des Wortes wird durch das „extra“ in den Horizont der Geschichte und, ihn weit übergreifend, auch in den universalen Horizont der Schöpfung gestellt; er erfüllt und durchdringt die ganze Welt. Er manifestiert sich nicht nur in der Verheißungsgeschichte Israels und des Neuen Testaments, sondern auch im allgemeinen Weltgeschehen. Es gibt also ungeachtet der Offenbarung in Christus, wenngleich unabdingbar auf sie bezogen, ein Vermögen Gottes, sich auch in der von keinem Evangelium und keiner Mission berührten Welt bekannt zu machen und diese Welt für sich reden zu lassen. Die im Alten Testament allen Menschen zugewandte Weisheit ist der sprechendste Zeuge dieses Vermögens. Ist sie aber Zeugin des Logos, dann muss sie als ein „Vorwort“ jenes Redens begriffen werden, das „am Ende dieser Tage“ im „Sohn“ laut wird (Hebr 1,1f.).58 Durch das „extra“ wird der Mensch gewordene Mittler zugleich als der Fluchtpunkt erwiesen, auf den hin sich das Zeugnis der kreatürlichen Lichter in Natur und Geschichte bewegt. Was dort undurchdringliches Geheimnis bleiben mag, ist hier für uns offenbar. Christus bestrahlt als das wahre Licht die ganze Welt mit seinem Glanz.59 Calvin hat in der bereits zitierten Vorrede zum Genesiskommentar die hier angedeuteten Linien zu einer in der Auslegungsgeschichte singulären Konsequenz ausgezogen: Das Kunstwerk der Welt gibt sein theologisches Geheimnis nur denen preis, die „durch die Predigt des Evangeliums […] gelernt haben, den ganzen Scharfsinn ihres Geistes der Torheit des Kreuzes […] zu unterwerfen. […] Denn Christus ist das Bild, in dem uns Gott nicht nur sein Herz sichtbar macht, sondern auch seine Hände und Füße, worunter ich die Werke verstehe, die vor unsern Augen liegen.“60

58 Vgl. hierzu: H.J. Kraus, Logos und Sophia, in: H. Berkhof/H.J. Kraus, Karl Barths Lichterlehre (ThSt 123), Zürich 1978 4–29, 22ff sowie Kapitel 2.6. 59 Kom. zu Joh 1,5; CO 47,9: „Christus …irradiens totum orbem suo fulgore.“ Auf die humanistische Herkunft (Pico della Mirandola) dieses Gedankens hat J. Bohatec, Budé und Calvin. Studien zur Gedankenwelt des französischen Frühhumanismus, Graz 1950, 255, hingewiesen. 60 Argumentum in Genesin, CO 23, 10f. Vgl. auch Inst II, 6,1: „Wir müssen das Wort vom Kreuz […] in Demut annehmen, wenn wir zu Gott unserem Schöpfer und Wirker zurückkehren wollen, von dem wir uns entfremdet haben“ (OS III, 320. 34–36).

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

Enger lassen sich Christologie und Schöpfungslehre nicht miteinander verklammern. Die These, die diesen Zusammenhang begründet und trägt, lässt sich dann so formulieren: Der Ursprung, der die Geschichte Jesu Christi in Gang gesetzt hat, ist auch der Ursprung der Welt. 3.1.3

Der Streit um den wahren Gott. Das Bilderverbot

Die Klarheit dieser Aussagen ist ein Teil der Antwort, die Calvin in mehreren Anläufen auf die Frage gegeben hat, die ihn wie keine zweite bewegt hat: Was kann ein Mensch überhaupt von Gott wissen? Das Zeitalter der Reformation steht nicht umsonst im Zeichen einer mit vergleichbarer Energie und Härte später so nie mehr ausgetragenen Auseinandersetzung um das „richtige“ Gottesverständnis und die „wahre“ Gottesverehrung. Die herausgehobene Bedeutung des Bilderverbots und die in den späten Hiob-Predigten (1554/55) aufbrechenden Zweifel an der Erkennbarkeit der göttlichen Vorsehung sind Marksteine dieser Auseinandersetzung. Sie melden sich bereits in der Frage, „ob Gott sich uns in der Schrift ebenso darstellt, wie wir ihn in seinen Werken gleichsam abgemalt sehen“.61 Denn „von der Natur geführt“, hatte Calvin erklärt, sei es noch niemandem gelungen, Gott „ganz“ zu erkennen. Gleichwohl hält er unter Berufung auf Ps 145 oder Jer 9,23 daran fest, dass unter den dort genannten Eigenschaften – Gnade, Treue, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Gericht – nichts sich findet, „was durch die Betrachtung der Natur nicht bestätigt werden könnte“, so dass „die Kenntnis (notitia), die uns in der Schrift vor Augen gestellt wird, auf denselben Zielpunkt (scopus) hin ausgerichtet ist wie diejenige, deren Spuren uns aus der Kreatur hervorleuchten“.62 Die Schrift also offenbart uns keinen anderen Gott als den wir unter Anleitung der Erfahrung (experientia magistra) kennen lernen können. Die Probe aufs Exempel ist dann tatsächlich das Thema der Providenz: „Wie regiert Gott die von ihm geschaffene Welt?“63 Da jedermann diese Erfahrung machen kann, und da zudem statt des heidnischen Götterschwarmes die dem ursprünglichen, natürlichen Empfinden entsprechende „Einheit Gottes allen Menschen ins Herz gemeißelt sei“64 , müssen sich die polytheistischen Religionen den Vorwurf des Abfalls (defectio) vom wahren Gott gefallen lassen. Die Wurzel dieses Abfalls aber erblickt Calvin in dem unauslöschbaren menschlichen Bedürfnis, sich ein Bild von Gott zu machen, ihm eine sichtbare Gestalt beizulegen. Insofern hat der Traktat über das Bilderverbot (Inst I,11) die biblische Problemstellung wieder freigelegt bzw. deren notorische

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Inst I, 10.1; OS III, 85, 10–12. Ebd. OS III, 86, 27–30 und 87.14–16. Ebd. OS III, 85. 26f. Ebd. Inst I, 10.3; OS III 87.30.

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Verfehlung verhindert. Er ist auf reformierter Seite auch vor und neben Calvin so verstanden worden. Bereits Leo Jud, Zwinglis Mitstreiter in Zürich an St. Peter, hat das Bilderverbot ausdrücklich vom Fremdgötterverbot getrennt, (dem Luther es schlicht subsumierte), und es als nach wie vor gültiges zweites Gebot in den Katechismus aufgenommen.65 Es fragt grundsätzlich nach der Berechtigung von Bildern überhaupt in der Kirche, und damit rückt das (seit der Alten Kirche virulente) Problem der Gottes-Erkenntnis wieder in den Brennpunkt der Auseinandersetzung. Vollends Bullinger verwahrt sich in einer der ausführlichsten Stellungnahmen zur Sache in aller Form dagegen, das Bilderverbot lediglich als Teil des jüdischen Zeremonialgesetzes und den Bildergebrauch folglich als Adiaphoron zu betrachten.66 Es ist kein bloßer Biblizismus, wenn er in dem von ihm verfassten Zweiten Helvetischen Bekenntnis auf Dtn 4,16 oder Jes 40,18ff. verweist. Indem er das biblische Verbot mit der Verheißung der geistlichen Gegenwart Christi (Joh 16,7) verbindet, vollends indem er die Stummheit und Unansprechbarkeit der klassischen „Götzen“ (Ps 115,5–7) auf bildliche Darstellungen ausweitet, trifft er sehr genau den vitalen Nerv der alttestamentlichen Polemik: Die Bilder verhindern gerade das, was sie in ihrer sinnenfälligen Unmittelbarkeit zu ermöglichen scheinen, die lebendige Begegnung mit der Sache selbst; sie stellen sich zwischen Gott und den seine Nähe suchenden Menschen.67 In der Predigtsammlung der „Dekaden“, die Calvin nachweislich stark beeinflusst hat, wird das Argument noch weiter zugespitzt: Weil Christus nicht nur wahrer Mensch, sondern auch wahrer Gott ist, unternimmt das Bild etwas a priori Unmögliches. Es vergreift sich an der Gottheit Gottes, die undarstellbar ist und nur durch die Predigt bezeugt werden kann.68 Hier setzt Calvin mit seiner Argumentation ein, die noch über das in der Bibel bereitgestellte Material (Jes 44, Dtn 4,12–15 oder Apg 17,29) hinausgreift. Es ist zunächst der Grundsatz, dass „Gott allein der vollgültige Zeuge seiner selbst ist“69 , der den uns unüberbrückbaren Abstand zwischen dem unsichtbar-geistigen Wesen der göttlichem Majestät und der hinfälligen Körperlichkeit alles nur Stofflichen zur Folge hat. Deshalb betont Calvin mit Nachdruck die gänzliche Entzogenheit jeglicher Gestalt, auf die sich Gott uns gegenüber festlegen ließe (Dtn 4,12). Aus totem Stoff, so nimmt er eine Satire des römischen Dichters Horaz auf70 , wird

65 L. Jud, Der kürtzer Catechismus (1534), Frage 29–34, in A. Lang (Hg), Der Heidelberger Katechismus und vier verwandte Katechismen (Nachdruck von 1907), Darmstadt (wb) 1967, 63f. 66 H. Bullinger, De origine cultus divorum et simulacrorum erronea, Zürich 1539. 67 Confessio helv. Post. (1562, Art. IV, in BSRK 174. 13f. 68 H. Bullinger, Decades (1549–51) I, 230f; vgl. J. Rohls, Bilderverbot und bildende Kunst, 333f., ZThK 81, 1984 (322-351), bes. 333f. 69 Inst I, 11,1, OS III, 88.25: « Deus ipse solus est de se idoneus testis ». 70 Inst I, 11,4; OS III,92, 17–19 : Horaz, Satiren I, 8,1ff.

Das Thema der zweifachen Gotteserkenntnis

niemals eine lebendige Gottheit entspringen, und von Eusebius und Laktanz könne man bereits lernen, dass das Höchste und Größte, was sich ins Bild setzen lässt, am Ende doch sterblich ist71 . Auch die verbreitete Auffassung der Bilder als „der Laien Bibel“ (Biblia pauperum) lässt er nicht gelten und hält dagegen: „Bilder können nicht an die Stelle von Büchern treten.“72 Bei alledem ist bemerkenswert, dass er den Bilder-Verehrern nicht etwa unterstellt, sie wollten mit dem Goldenen Kalb (Ex 32) ihren Gott durch eine fremde Gottheit ersetzen.73 Sein vehementer Protest richtet sich vielmehr gegen die bestimmte Form, in der Jhwh hier (in der Vergötterung von Kraft, Stärke Sexualität), verehrt und damit als Gott Israels faktisch verleugnet wird. Das Bilderverbot wird damit als Kriterium des Redens von Gott etabliert. Da es hier – menschlich gesprochen – um einen höchst grundsätzlichen Zweifel an der Erkennbarkeit Gottes geht, sei das Problem noch von einer zweiten Seite her beleuchtet, die Calvin in einem noch größeren Maße als Anfechtung begreift. Auch ihr liegt eine offenbar schwer vermeidbare Fehleinschätzung unserer menschlichen Urteilskraft zugrunde, die in diesem Falle die Verlässlichkeit Gottes au fond in Frage stellt. So bricht in den Hiobpredigten (1554/55) der Zweifel an der Gerechtigkeit Gottes und seiner Vorsehung in einer Schärfe auf, wie sie uns ansonsten nur in der viel beredeten Krise der hebräischen Weisheit, dem Zerbrechen des bis dahin unangefochtenen Tun-Ergehen-Zusammenhangs74 , begegnet. Bisher stand Calvin gewissermaßen auf der „sicheren Seite“. Seine Auslegung des Bilderverbots kann sich auf eine breite innerbiblische Tradition berufen. Jetzt aber in den Jahren 1554/55 hat ihn selber in den Nachwehen des Servet-Prozesses und den bitteren Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern in der Genfer Bürgerschaft und dem Rat der Zweihundert75 diese historische Krise eingeholt. Mag die Natur noch Zeuge von Gottes Herrlichkeit und Fürsorge sein: im Chaos der Genfer Lokalgeschichte ist für den menschlichen Verstand nichts mehr davon wahrzunehmen. Calvin ringt mit dem göttlichen Verdammungsurteil über Hiobs Freunde: „Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob“ (Hi 42,7). Doch haben nicht gerade sie seine eigene Providenzlehre mehr oder weniger konsequent vertreten?76 Gewiss,

71 Ebd. 11,6; a.a.O. 94.3ff: Eusebius, De praep. evang. III,2; Lactanz, Divinae Institutiones II, 17,6, CSEL 19,30f. 72 Ebd. 11,5, a.a.O. 93. 12 und 23. 73 Inst I,11,9; OS III, 98. 13–19. Chr. Link, Das Bilderverbot als Kriterium theologischen Redens von Gott, in: Die Spur des Namens, Neukirchen 1997 (3–35), bes. 22f. 74 Dazu vgl. K. Koch. Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments, in: Wege der Forschung 125, Darmstadt 1972. 75 Vgl. dazu B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1998, 221–247. 76 Dazu und zum Folgenden: S. Schreiner, „Through a Mirror Dimly“. Calvins Sermons on Job, in: Calvin Theological Journal 21, (November) 1986, 175–193.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

doch weil sie die Zweideutigkeit aller menschlichen Geschichte nicht verstehen, müssen sie, schließt er, im Unrecht sein, wenn sie drauf bestehen, dass Gottes Gerechtigkeit in diesem Leben erkennbar sein müsste77 , und so müht er sich in seinen Predigten geradezu verzweifelt, gegen den Augenschein an dieser Gerechtigkeit dennoch festhalten zu können. Ginge es nach der einfachen Gleichung, dass die Erfolgreichen Gottes Freunde, die vom Weltlauf Angefochtenen aber von ihm verworfen sind, dann müsste man, auf Hiob angewandt, schließen, dass gerade er zu den Verworfenen gehört und Gott sein Feind geworden sei. Das aber stünde in einem offenen Widerspruch zu Hi 42,7. Wo also liegt der Fehler? Offenbar darin, dass Hiobs Freunde – bis zur Blindheit fixiert auf das Dogma vom TunErgehen-Zusammenhang – nicht sehen wollen, dass Hiob ein Recht hatte, Gott anzuklagen, einen Gott, der ihn ohne einen menschlich einsichtigen Grund, sei es ein Tun oder ein Unterlassen, leiden lässt. Sie versuchen, die in der Naturwelt so augenfällige Logik der Vorsehung auf das ambivalente Gebiet einer noch dazu von Gottes Eingriff gezeichneten Geschichte zu übertragen, und geraten auf Abwege, als ob Gottes Ratschlüsse und Entscheidungen sich so zur Evidenz bringen ließen, dass man sie kennen, sie mit dem Maßstab der eigenen Augen abschätzen und dann zuletzt gar „mit den Fingern“ berühren könnte.78 Doch umgekehrt: Müsste eine „realistische“ Sicht der Geschichte nun nicht geradewegs zu dem Glauben führen, dass Zufall oder Schicksal die Regeln des Weltlaufs bestimmen?79 Wer diese Konsequenz nicht ziehen will, muss sich dann aber wohl oder übel der Erkenntnis stellen, dass die Geschichte die Gerechtigkeit der göttlichen Vorsehung niemals in der von uns gewünschten Klarheit an den Tag bringen kann, dass sie unseren Augen vielmehr für immer verborgen bleibt. Als dunkler Schatten durchzieht Calvins Predigten daher die Furcht vor einem tyrannischen Gott, der grundlos an und mit uns handeln könnte. Sie lesen sich über weite Strecken wie ein Spiegel der menschlichen Zweifel an Gottes Providenz.80 Wer dem entgegentreten will, braucht offenbar ein anderes Fundament seines Glaubens. Calvin findet es in der unwandelbaren ‚Natur’ der göttlichen Attribute: Ungeachtet von Unordnung und Zweideutigkeit der menschlichen Geschichte – argumentiert er – ist und bleibt es Gottes „Amt“, die Welt gerecht zu regieren. Und weil er beides ist, zuverlässig und unwandelbar, kann er nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit handeln, die untrennbar zu seinem Wesen gehört. Calvin folgt hier (übrigens auch in der Absage an den Begriff einer willkürlichen Allmacht) der

77 78 79 80

Predigten über das Buch Hiob, CO 34, 28, 305 u.ö. Ebd. CO 34, 68–70. J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre, in: ders. (Hg) Calvinstudien, Leipzig 1909 (339—441), 379ff. Predigten, CO 33, 22–28.

Der Streit um die Trinität

skotistisch-nominalistischen Tradition.81 Gott kann keine Handlungen vollziehen, die ihn willkürlich oder ungerecht erscheinen lassen. Er ist zuverlässig, aber darin – unbegreiflich. Auch dem Glauben zeigt sich seine Vorsehung nicht „von Angesicht zu Angesicht“, sondern nur „abgeschwächt wie in einem trüben Spiegel“ (S. Schreiner). Calvin hat den Schlüssel zum Hiob-Buch denn auch in dem von ihm oft zitierten paulinischen Wort gefunden: „Unser Erkennen ist Stückwerk“ (1Kor 13,12).82

3.2

Der Streit um die Trinität

Zu einer sehr viel folgenreicheren Auseinandersetzung führt im Reformationszeitalter der Angriff auf das Zentrum des christlichen Credo, die Trinitätslehre. Unumstritten war das kirchliche Dogma nie. In der Alten Kirche wurde es von Arius, auf andere Weise von Sabellius (Modalismus) in Frage gestellt. Für die Reformatoren war es eine ernst zu nehmende Provokation, dass neben diesen theologischen Kritikern auf einmal dezidierte rationalistische Leugner, die Antitrinitarier unserer Dogmengeschichte, auftraten, eine aus dem italienischen Humanismus hervorgegangene Bewegung der sogenannten Sozinianer, genannt nach ihren frühen Vertreter Fausto Sozzini.83 An ihre Spitze setzte sich bald der spanische Arzt Miguel Servet, dessen „Irrtümer der Trinität“ (De trinitatis erroribus) 1531 erschienen. Der Verdacht, dass Genf mit diesen Irrlehren gemeinsame Sache machen könnte, war in katholischen Kreisen weit verbreitet. In der Tat war die Beschäftigung mit den Problemen der Trinitätslehre für Calvin bis dahin kaum eine Herzensangelegenheit. In der ersten Institutio (1536) wird sie im Zuge der Auslegung des Glaubensbekenntnisses (im Anschluss an das Nicaeno-Constantinopolitanum) auf wenigen Seiten pflichtmäßig abgehandelt84 . Diese Distanz teilt er mit eigentlich allen Reformatoren, vorab mit Luther, der in einer Predigt zum zweiten Artikel lapidar erklärt: Zwey sind nicht zwey, sondern zwey sind eins. Da hast du das wort und vernunfft widdereinander, noch sol sie da die meisterschafft legen und kein richter noch Doctor werden,

81 J. Bohatec, Vorsehungslehre (Anm. 79), 379f. Vgl. auch F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen 1968, 106f und S. Schreiner, „Through a Mirror Dimly“ (Anm. 76), 186. 82 Predigten, CO 33, 105f. 279; 34, 216.266 u.ö. 83 Eine ausführliche ältere Darstellung der sozinianischen Lehre, insbesondere des Rauckauer Katechismus (1609) findet sich bei A. von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. III, Tübingen 1910, 784–808. Vgl. auch CStA 8,249f. 84 Inst (1536) II, De fide, OS I, 70–73).

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sondern das hutlein abetun [das Hütlein lüften] und sagen: Zwey sind eines, ob ichs schon nicht sehe noch verstehe, sondern ich gleube es …85 .

Und bei Melanchthon kann man lesen: „Die Geheimnisse der Trinität beten wir besser an, als dass wir sie erforschen.“86 Erst in der Kontoverse mit Petrus Caroli, einem an der Sorbonne ausgebildeten Theologen, der es fertig brachte, dreimal die Fronten zwischen den Konfessionen zu wechseln, wird deutlich, dass das Verhältnis der Reformation zum Dogma der Alten Kirche keinen beliebigen, leicht zu übergehenden Punkt betrifft. Denn die Reformation selbst ist ja „keine Neuerung, sondern ein neues Verstehen und Ergreifen der alten katholischen Wahrheit“87 , wie sehr sich die Akzente jetzt auch auf andere dringlichere Fragen, die Probleme der Rechtfertigung und Heilsaneignung, verschoben haben. Die zweite Ausgabe der Institutio (1539) trägt dieser Einsicht Rechnung. Der Umfang der trinitarischen Erörterungen (nahezu unverändert in die letzte Fassung von 1559 übernommen) wächst nun auf ein Vielfaches an. Ihre sachliche Übereinstimmung mit den klassischen Bekenntnissen, vor allem aber ihre Schriftgemäßheit, muss, wenn auch mit bemerkenswerten Verschiebungen in der Akzentsetzung argumentativ, erwiesen werden. 3.2.1

Die Anklagen Carolis

Caroli hat so gesehen das „Verdienst“, einen nicht unwichtigen Stein ins Wasser geworfen zu haben, so unbegründet seine Vorwürfe der Sache nach schon damals waren. Er hält Calvin vor, vom Zentrum der Tradition, dem trinitarischen Dogma, so wie er es verstand, zum Irrtum des Arianismus abgefallen zu sein. Hier meldet sich der Unitarismus der seinerzeit im Vormarsch begriffenen Antitrinitarier, mit denen es Calvin später, in seiner Korrespondenz mit den polnischen Reformatoren noch in ganz anderer Schärfe zu tun bekommen sollte.88 Ein Schein des Rechts – so eine bis in die neuere Diskussion reichende Auseinandersetzung – sei dieser Anklage nicht ganz abzusprechen, wenn sie denn auf Modalismus gelautet hätte.89 Denn mit der starken Betonung der absoluten Einheit Gottes, seiner essentia, an der 85 Erlanger Ausgabe 9,1, zit. nach F. Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, Halle 1906 (4. Aufl.), 751. 86 „Mysteria trinitatis rectius adoraverimus quam vestigaverimus“, Melanchthon, Loci communes 1521, CR 1, 84. 87 K. Barth, Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen 1922, (hg. von H. Scholl), GA II, Zürich 1993, 420. 88 Vgl. dazu: CStA Bd. 8 (Ökumenische Korrespondenz), 271ff. 89 So E. Wolf, Deus omniformis. Bemerkungen zu Christologie des Michael Servet, in: Theologische Aufsätze (FS Karl Barth 1936), München 1936, 443–466, sowie dazu: H.H. Eßer, Hat Calvin eine „leise modalisierende Trinitätslehre“?, in: Calvinus Theologus. Referate des Calvin-Kongresses, Amsterdam 1974, Neukirchen 1976, 111–129.

Der Streit um die Trinität

„Sohn“ und „Geist“ uneingeschränkt Anteil haben, hat Calvins Theologie zumindest eine nicht wirklich fest geschlossene Flanke gegen den Antitrinitarismus hin. Caroli aber hat das Problem – grotesk simplifizierend – so zugespitzt, dass er Calvin die bewusste Vermeidung der Worte persona und trinitas zum Vorwurf macht und ihm die Unterschrift unter die drei altkirchlichen Symbole (namentlich das Athanasianum) abnötigen will. In seiner unter dem Pseudonym Nicolaus Gellasius herausgegebenen polemischen Entgegnung „Wider die Verleumdungen des P. Caroli“ (1545) hätte Calvin leichter Hand auf die Erstausgabe der Institutio verweisen können, wo sich beide Begriff expressis verbis finden. Auch der Artikel 31 des Katechismus von 1537, den er auf dem Gespräch von Lausanne (16.2.1537) verlas, äußert er sich der Sache nach einwandfrei zur Dreieinigkeit.90 Doch er unterließ es, um den an dieser Stelle anfechtbaren Farel nicht zu kompromittieren.91 Die wenig bekannte Calvin-Vorlesung Karl Barths aus dem Jahr 1922 dokumentiert diese aufreibende Auseinandersetzung in allen uns bekannten Einzelheiten.92 3.2.2

Calvins Verteidigung

Die Weigerung Calvins, auf die Forderungen Carolis einzugehen, hat ihren Grund in dem tiefen Respekt vor dem Geheimnis des dreieinen Gottes: Da der menschliche Verstand zur Betrachtung der Majestät Gottes in sich selber völlig blind ist und nichts vermag als sich in unendliche Irrtümer zu verstricken, in seltsamen Unsinn zu geraten und schließlich in tiefste Finsternis zu versinken, […] so können wir doch darauf vertrauen, dass uns alle Gutmeinenden verzeihen werden, wenn wir [Gott] nicht anderswo suchen als in seinem Wort, nichts anderes über ihn denken als unter der Leitung seines Wortes, nichts über ihn sagen als vermittelt durch sein Wort.93

Calvin, sagte ich, hätte es sich mit der Abwehr der Anschuldigungen Carolis leichter machen können. Doch ihm lag daran, die theologischen Argumente für seine Weigerung ausführlich darzulegen. So beginnt er mit der trockenen Feststellung: „Wir haben den Glauben an den einen Gott beschworen, nicht aber den [Glauben] des Athanasius, dessen Symbol [Symbolum quicumque] keine legitime Kirche jemals

90 Instruction et Confession de Foy, CO 12, 396; CStA 1.1, 170. 9–12: « Quand nous nommons le Pere, Filz et S. Esprit nous ne nous imaginons point tres Dieux, mais lEscripture et lexperience mesme de piete nous monstre en la tres simple essence de Dieu, le Pere, son Filz et son Esprit. » 91 Farels Bekenntnis (Confession de la Foy von 1527) geht in Art. 6 auf die entscheidenden Punkte des alten Dogmas gar nicht ein, sondern begnügt sich damit, das Apostolicum zu zitieren (OS I, 420). 92 K.Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1933. Vgl. im übrigen P. Opitz, Einleitung zu den „Verleumdungen P. Carolis“, in: CStA 1.1, 225–229. 93 Calvin, Adversus P. Caroli Calumnias, CO 7, 311; CStA 1.1, 233.1–9.

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anerkannt hat.“94 Außerdem sei er nicht gewohnt, etwas als Gottes Wort anzuerkennen, „was ich nicht in aller Form (rite) erwogen habe“. Über die dogmatischen Fachbegriffe kann er nur seufzen: „O dass sie doch begraben wären!“95 Schließlich dürfe ein Bekenntnis, soll es von allen Frommen nachgesprochen werden, „nicht aus verschiedenen Meinungen von Menschen zusammengeflickt werden, sondern müsse sorgfältig an der rechten Norm der Schrift gemessen“, d. h. „aus den reinen Quellen der Schrift geschöpft sein“ und deren ureigenste Wahrheit wiedergeben.96 Seine eigene Darstellung hält sich an diesen Maßstab, für den er sich ausdrücklich auf Hilarius von Poitiers beruft: Was immer darüber hinaus gesucht werde, liege „jenseits der Ausdrucksmöglichkeit unseres Redens, außerhalb der Intention des dort gemeinten Sinnes und übersteige unsere begriffliche Fassungskraft“.97 Umso wichtiger werde nun, was diesseits solcher spekulativer Abenteuer tatsächlich gefunden werden kann. Das nämlich sei die Betonung der strengen Einheit Gottes, auf welche die reformatorische Theologie insgesamt entschieden größeres Gewicht gelegt habe als auf die trinitarische Verschiedenheit. Hinzu kommt ein weiteres für Calvins Verständnis ernsthafter theologischer Arbeit charakteristisches Argument: „Wir wollten eben nicht, dass das Beispiel solcher Tyrannei in der Kirche Schule macht, dass einer zum Ketzer erklärt werden kann, der nicht nach der Vorschrift eines Anderen reden will“, als könne ohne jene drei altkirchlichen Bekenntnisse niemand ein rechter Christ sein.98 Auf dieser Linie wendet er sich auch gegen die zweite Anklage Carolis, dass er „so beharrlich die Begriffe Person und Trinität übergehe“. Er wolle, antwortet er, in diesem Punkt mit Farels Zustimmung auf keinen Fall „eine solche Tyrannei gutheißen, dass der Glaube an Worte und Silben gebunden sei, obwohl die Sache selbst mehr als hinreichend feststeht“.99 Das könne in diesem Fall auch mit der umgekehrten Konsequenz geltend gemacht werden, dass sich der Gebrauch dieser bibelfernen Begriffe am Ende sogar rechtfertigen lasse: Wir haben „das Helvetische Bekenntnis [1536] ohne Verzögerung und Widerrede vor [den Augen] Carolis selbst anerkannt: […] ‚Von Gott denken wir so: ein Wesen, drei Personen’ (unum essentia, trinum personis etc.)“.100 Dennoch will er den Begriff Person nur uneigentlich, unter Vorbehalt, verwendet wissen – schon gar nicht im modernen Sinn einer geistigschöpferischen Individualität oder eines vernünftigen Wesens

94 95 96 97 98 99 100

Briefe, CO 10/II, 83f. Inst I,13,5, OS III, 113.29. Adversus Calumnias (Anm. 93), (CO 7, 312); CStA 1.1, 233. 18 und 24. Ebd. 244. 16–18. (CO 7, 318); Hilarius, De synodis, MSL 10, 522f. Briefe, CO 10 II, 120 f. Adversus Calumnias, a.a.O. 245. 42ff. Ebd. 247.11–14, bzgl. Confessio Helvetica prior. Art. 6, BSRK 102. 11–13.

Der Streit um die Trinität

(substantia intelligens) – denn das würde die Vorstellung einer Mehrheit göttlicher Wesen (Tritheismus) nur allzu nahe legen.101 Was über die Unterschiedenheit von Vater, Sohn und Geist und über deren Einheit zu sagen und zu lehren sei – so seine grundsätzliche Entscheidung – müsse (und könne auch!) jenseits der altkirchlichen Terminologie in der Schrift selbst gefunden und aus ihr erhoben werden – eine Aufgabe, vor die sich bekanntlich Karl Barth erneut gestellt sah.102 So hält er sich an Hebr 1,3. Dort wird der Sohn als „Abdruck (character) der Hypostase des Vaters“ beschrieben, woraus ohne Zweifel folge, dass ihm eine „dem Vater vergleichbare Seinsart (subsistentia) zuerkannt wird, wodurch dieser sich vom Sohn unterscheidet“.103 Mit dem Begriff der subsistentia („Seinsweise“) ist also, unterschieden vom „Wesen“ (essentia) , ein Ausdruck gefunden, der genauer bezeichnet, was das unscharfe Wort Person meinen will, zumal er zugleich die Relation Gottes zu Sohn und Geist mitzudenken nötigt. Die Formel, die daraus resultiert, lautet somit: „Drei Seinsweisen (hypostasis, subsistentia), die durch ein unzerreißbares Band mit dem Wesen [Gottes] (essentia) verbunden und durch ein besonderes Kennzeichen in ihrer Eigenheit (proprietas) voneinander unterschieden sind.“104 Mit dieser definitionsmäßigen Klarstellung, die der Regel schriftmäßigen Denkens und Redens entspreche, lässt es Calvin allerdings auch bewenden. Denn eines ist die kaum zu vermeidende Unschärfe jedes Begriffs, ein anderes die Unausweichlichkeit, sich ihrer zu bedienen, schon weil sie sich im kirchlichen Gebrauch als „nützliche“ Instrumente bewährt haben. Deshalb „sollt ihr wissen, dass wir vor dem Begriff Person keineswegs zurückschrecken, sondern [ihn] vielmehr gern annehmen werden“.105 Hält man sich die hier zitierten Formeln vor Augen, mit denen Calvin Einheit und Verschiedenheit der trinitarischen „Personen“ beschreibt – „Schrift und Erfahrung der Frömmigkeit zeigen uns in dem einfachen Wesen (essence) Gottes den Vater, den Sohn und seinen Geist“, und vollends Tertullians Bekenntnis: „ein Wesen (substantia), drei Personen“ – dann ist überdeutlich, dass Calvin der Herausforderung Carolis mit dem Nachweis seiner Übereinstimung mit der Dogmatik der Alten Kirche zu begegnen sucht und die angeführten Bibelstellen in ihrem Licht inter-

101 „Die alten Doktoren haben das Wort Person gebraucht und erklärt, es gebe drei Personen in Gott, doch nicht, wie wir es in unserer Alltagssprache tun, wenn wir drei Menschen [bzw.] drei Personen vorladen, oder wie man im Papsttum die Frechheit besaß, drei Figürchen zu kneten, und das wäre dann die Trinität! Die Rede von Personen hat auf diesem Feld vielmehr den Sinn, die eigentümlichen Wirkungsweisen (proprietez) zum Ausdruck zu bringen, die im Sein (essentia) Gottes beschlossen sind“, Inst I, 13,2, französische Fassung. 102 K. Barth, KD I/1, 373ff, bes. 379. 103 Inst I, 13,2; OS III, 110. 3–5. 104 Inst I, 13,6; OS III, 116.20ff, vgl. ebd. 116. 12–14. sowie Inst I, 13,20; OS III, 134. 2–4. 105 Ad Calumnias, CO 7, 319; CStA 1.1, 247. 21ff.

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pretiert. Es ist dies der Rahmen, in dem alle Reformatoren das neutestamentliche Zeugnis in griechischen Denkformen zum Ausdruck zu bringen versuchten, dass nämlich im Leben, Handeln und Leiden Jesu von Nazareth Gott selbst zu Wort und zur Wirkung kommt. Es ist aber die Frage und hier meldet sich ein heute nicht mehr zu übersehendes Problem, ob dies, wie Calvin betont, tatsächlich „der reinen Quelle der Schrift“ entspringt und deren „ureigene Wahrheit“ wiedergibt. Die neuere Exegese hat hier mit Recht starke Zweifel angemeldet und spricht eher von einem Bruch als von einer Kontinuität. Es ist ja unbestreitbar, dass die tragenden Begriffe „ousia“ (lat. substantia, essentia), Seinsweise (subsistentia), oder „Person“ in der hebräischen Bibel keinerlei Entsprechung haben und im griechischen Neuen Testament überhaupt nicht vorkommen, und dass umgekehrt in Calvins Entgegnung der Johannesprolog (Joh 1) oder der Philipperhymnus (Phil.2) keine Rolle spielen. Heute hat sich die Fragstellung entscheidend verändert. Man sucht den Ausgangspunkt der Trinität in der biblischen Geschichte, die auf das Ziel zuläuft, dass Gott alles in allem sein wird (1Kor 25,28). Dann aber fragt man nicht nach einer a priori gegebenen „vollendeten“ Einheit, sondern nach dem Weg, der zu dieser Einheit führt und als Prozess der Einung Gottes mit der Welt (und damit zuletzt mit sich selbst) begriffen wird. Dieses Ziel vor Augen erklärt Jürgen Moltmann: „Die Einheit des Vaters, des Sohnes und des Geistes ist dann die eschatologische Frage nach der Vollendung der trinitarischen Geschichte Gottes.“106

Es versteht sich von selbst, dass eine Darstellung des trinitarischen Problems hier nur im Rahmen der Voraussetzungen des Reformationszeitalters geschehen kann. Während Calvin Caroli gegenüber als kritischer Anwalt der altkirchlichen Dogmen (namentlich des Athanasianums) auftritt, verteidigt er Servet gegenüber die trinitarischen und christologischen Unterscheidungen der „ökumenischen“ Synoden, wie man an seinen häufigen Rückgriffen auf Augustin erkennt. Dennoch ist seine polemische „Verteidigung der Trinität“ gegen Servet (1554)107 – eine permanente Widerlegung von dessen aus ihrem Zusammenhang gerissenen (und darum oft schwer verständlichen) Thesen – für seine Argumentation weniger ergiebig als seine späte Auseinandersetzung in der Institutio (1559) I, 13 u.ö., in welcher der Name „Servet“ 22 Mal erscheint.

106 J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980, 167. So heißt es auch bei W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes, in: EvTh 61, 2001 (190–203), 190: „Die Einzigkeit und Einheit Gottes ist für Paulus primär eine eschatologische Verheißung, die noch der endgültigen Realisierung bedarf.“ 107 Columniarum Refutatio, 1554, CO 8,501–605; CStA 4, 173–233. Außerordentlich erhellend ist die Einleitung von Peter Opitz, ebd. 151–163.

Der Streit um die Trinität

3.2.3

Die Darstellung der Trinitätslehre

In seiner zusammenhängenden, ausführlichen Darstellung (Inst I, 13) bemüht sich Calvin, wie angedeutet, um eine möglichst große Übereinstimmung mit der altkirchlichen Tradition. Mit Luther verteidigt er die traditionelle trinitarische Terminologie. Dennoch gibt es markante Unterschiede, zumindest Abweichungen an jedenfalls zwei Punkten. 3.2.3.1 Die Schriftbeweise

Den Schriftbeweisen, die man für das trinitarische Dogma angeführt hat, namentlich den schon immer zitierten dicta probantia, begegnet Calvin mit großer Zurückhaltung, wo er sie nicht rundweg ablehnt. So kann er Stellen wie Gen 18,2 oder Jes 6,3, die man bisher als Belege für die Dreiheit und Wesensgleichheit der trinitarischen Personen in Anspruch genommen hatte, jede Beweisfähigkeit absprechen, so dass im Alten Testament eigentlich nur Gen 1,26 (der Plural: „Lasset uns Menschen machen!“) übrig bleibt, woraus sich unanfechtbar schließen lasse, dass das eine Wesen Gottes aus mehreren Personen bestehen müsse. Ungleich wichtiger, namentlich im Streit mit Servet, dem exemplarischen Gegner der klassischen Trinitätslehre, ist ihm der Erweis der Gottheit Christi, denn hier geht es um den Eckstein jeder christlichen Theologie. Wer hier meint Abstriche machen zu müssen, stelle die Basis unserer gesamten Gotteserkenntnis in Frage, dass sich uns nämlich nur in der Person des Sohnes die ganze Gottheit mitgeteilt und erschlossen hat. Gerade deshalb lasse sich hier nicht mit jeder scheinbar nahe liegenden Bibelstelle argumentieren, etwa mit dem Ausspruch des johanneischen Christus: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Denn zeigt nicht schon ein Blick auf die Grammatik – es heißt im Griechischen eben eines und nicht etwa einer –, dass eine personale Einheit, geschweige denn Identität, hier offenbar gar nicht gemeint sein kann? Die Einheit, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf die Werke (10, 32), die Jesus tut, was Calvin zu der kritischen Bemerkung veranlasst: „Die alten Ausleger haben diese Stelle fälschlich dazu verwandt zu beweisen, Christus sei mit dem Vater eines Wesens (homoousios).“108 Selbst Stellen wie Mi 5,2, Jes 6,3 oder Kol 1,15 lässt er nicht als Belege für die Wesensgleichheit der drei Personen gelten. Andererseits – hier hat er den nach Polen geflohenen (dort als königlichen Leibarzt tätigen) einflussreichen Antitrinitarier Giorgio Biandrata109 im Blick – erklärt er es für unmöglich, dass jede der trinitarischen Personen nur „einen Teil des göttlichen 108 Com. In Evangelium Ioannis, CO 47, 250: „Abusi sunt hoc loco veteres,ut probarent Christum esse patri homoousion“. Zum Problem: Chr. Link, Trinität im israeltheologischen Horizont, in: M. Welker/M. Volf (Hg), Der lebendige Gott als Trinität, Gütersloh 2006 (215–228), bes. 221–225. 109 Vgl. dazu die Ausführungen in CStA 8, 271.

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Wesens“ besäße, „als ob wir meinten, die drei Personen flössen wie drei Bäche aus einem Wesen“. Das liefe auf die Behauptung einer göttlichen „Quaternität“, also auf einen Modalismus, hinaus.110 Vielmehr beweise seine ganze Lehre, „dass wir die drei Personen nicht aus dem Wesen ableiten“ können, denn ein und dasselbe Wesen haben sie mit dem Vater gemeinsam. Den standfesten Beweis der Gottheit des Sohnes führt Calvin (und geht damit über die klassischen Argumentationsmuster hinaus) durch den Rückgriff auf den präexistenten Logos, der im Anfang bei Gott war (Joh 1,2). Von ihm „stammen alle Offenbarungssprüche und Prophetien“. Als göttliche Weisheit war er am Werk der Schöpfung beteiligt und „trägt alles mit seinem mächtigen Wort (Hebr 1,2)“.111 So gesehen ist er von Gott selbst unterschieden. Im Johannes-Evangelium (1,3) aber wird er uns zugleich mit dem Vater als Ursprung aller Dinge vorgestellt. Mit ihm teilt er somit nicht nur das Wesen (essentia), sondern auch das Wirken, ungeachtet dessen, dass ihm auch etwas Eigenes zugeschrieben wird, nämlich zu verdeutlichen, „wie Gott in seinem Reden [logos!] der Schöpfer der Welt gewesen ist“.112 Deshalb könne ihm – auch in seiner Rolle als Fleisch gewordener Mittler – der Name des Kyrios („Jehova“) beigelegt werden.113 Sagt nicht auch Paulus (1Kor 10,4), Christus sei der Führer des Volkes in der Wüste gewesen?114 Nicht zuletzt jedoch bestätigen die Werke und Wunder, die das Neue Testament von ihm zu berichten weiß, dass er wahrhaft Gott sein müsse.115 Ähnlich verfährt Calvin beim Erweis der Gottheit des Geistes. Scheinbar nahe liegende Belegstellen wie Ps 33,6 oder Joh 4,24 werden ausgeschieden, im ersten Fall, weil es sich hier um einen parallelismus membrorum handele und „Geist“ hier einfach für den Hauch der Stimme stehe, im zweiten Fall, weil Christus hier von der geistlichen Natur Gottes spreche.116 Die tatsächlich beweiskräftigen Zeugnisse beziehen sich nahezu ausschließlich auf das Wirken des Geistes: Er hält die noch ungeordnete, chaotische Masse des Kosmos zusammen (Gen 1,2), er „erhält, nährt und belebt alle Dinge im Himmel und auf Erden“ ohne dass ihm – im Unterschied zu den Kreaturen – Grenzen gesetzt sind117 , ihm ist „das höchste Mandat übertragen, Propheten auszusenden“, und nicht zuletzt sei „unsere Rechtfertigung sein Werk,

110 111 112 113 114 115 116 117

Inst I, 13,25; OS III, 145. 18–21. Inst I, 13,7; OS III, 117. 3–6 und 19f. Ebd. 118. 10f. Inst I, 13,20; OS III,134. 14, was Calvin noch mit dem Hinweis auf 2 Kor 12,9 unterstreicht (ebd. 135. 4–6). Sowie: Ad calumnias, CO 7, 312; CStA 1.1, 235. 10–12. 1Kor 10, 4: Inst I, 13,10; OS III, 122. 27f. Inst I, 13, 12 und 13; OS III, 124. 12–127.12. Johannes-Kommentar, CO 47,90. Inst I, 13,14; OS III, 127. 27–31.

Der Streit um die Trinität

von ihm kommen Heiligung, Wahrheit, Gnade und was man an Gutem nur erdenken mag. […] Dies alles teilt er [einem jeglichen] mit, so wie er es will (1 Kor 12); Wahl (arbitrium) und Wille aber könnten ihm aber in keinster Weise zugeschrieben werden, wenn seine besondere Weise zu sein und zu wirken (subsistentia) nicht in Gott begründet wäre“.118 Hier bestätigt sich, dass die je besondere Appropriation (= Zueignung) – des Ursprungs an den Vater, der „Weisheit“ an den Sohn und die nach außen wirksame Kraft an den Geist – das entscheidende Kennzeichen der drei verschiedenen göttlichen „Personen“ ist, das ihre Eigenheit ausmacht. Während die beiden erstgenannten jedoch kaum zum Tragen kommen, ist „die Zueignung von Kraft, Wirksamkeit und Wirken an den Heiligen Geist für die gesamte Theologie Calvins von einer gar nicht zu überschätzenden Bedeutung“.119 3.2.3.2 Immanente und ökonomische Trinität

Hält man sich an das Gefälle des Trinitätstraktats, so hat es den Anschein, als folge Calvin in der Darlegung des trinitarischen Redens der klassischen Theologie, die nicht von der Erkenntnis-, sondern von der vermuteten Seinsordnung ausgeht. Sie beginnt (wie der Aufriss der gesamten Institutio zeigt), mit Gott, dem Schöpfer, seinem „unermesslichen und geistlichen Wesen“ und schreitet von dort zu den Offenbarungsgestalten des „Sohnes“ und des „Geistes“ fort. Auch die soeben beschriebene innertrinitarische Bestimmung der Eigenheiten dieser Dreiheit – Gott als Quelle, aus der alle Segnungen und alles Heil hervorgeht, Christus als Weisheit, die ewig in Gott wohnt und über die Gestalt seiner Schöpfungswerke entscheidet, und der Geist als wirksame Kraft, die diese Werke effektiv zur Vollendung bringt, – scheint für den Entwurf einer immanenten Trinität zu sprechen, nicht weniger auch die von Tertullian stammende „Definition“, wonach die Dreieinigkeit sich in dieser bestimmten logischen Ordnung (dispositio vel oeconomia in Deo) nach außen hin manifestiert, an deren Einheit aber nichts ändert.120 Calvin kann den schönen Satz des Gregor von Nazianz zitieren, den man als Zeugnis der innergöttlichen Perichorese verstanden hat: „Kaum komme ich dazu, die Einheit zu denken, so werde ich von ‚den dreien’ umleuchtet; kaum komme ich dazu, ‚die drei’ zu trennen, so werde ich wieder zur Einheit zurückgeführt.“121 Doch der Respekt vor der Unbegreiflichkeit Gottes, die Gefahr, sich dort in leere Spekulationen zu verlieren, lässt ihn eine Grenze ziehen gegenüber allen Versuche, in dieses Geheimnis vorzudringen. Die Grenze selbst wird benannt: es ist die essentia Gottes, das „ewige und wesentliche 118 119 120 121

Alle Belege finden sich in Inst I, 13,14; OS III, 127f. W. Krusche (Anm. 27), 9. Inst I, 13,6; OS 116. 30–33. (Tertullian, Liber contra Praxeam, c. 2 und 9; CSEL 47, 229. 239): Inst I, 13,17; OS III, 131. 3–6 (Gregor von Nazianz, Oratio 40,41 [In sanctum baptisma], MSG 36, 418).

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Wort (essentialis sermo) des Vaters“, das sich uns im Sohn offenbart hat.122 Das aber bedeutet: Was unserer Erkenntnis zugänglich ist, liegt diesseits dieser Grenze. Wir finden es in der Schrift. Sie ist Quelle und Norm alles Redens von und über Gott. Die Möglichkeit einer immanenten Trinität wird damit nicht bestritten, auf ihr Verhältnis zur ökonomischen jedoch geht Calvin nicht explizit ein. Auf eine feine Differenz zu seinem Gewährsmann Augustin hat Arie Baars kürzlich hingewiesen. Sie betrifft die Auslegung der bekannten trinitätstheologischen Regel, wonach die Werke der Trinität nach außen unteilbar sind. Diese Regel, so Calvin, sei zumindest höchst missverständlich, denn natürlich könne man diese Werke (in denen sich Gott uns zu erkennen gibt) je einzeln dem Vater, dem Sohn oder dem Geist zuordnen. Doch nur sofern sie auf diesen einen Gott zurückgehen, also „von innen“, intrinsece, betrachtet werden, seien sie unteilbar. Diese „immanente“ Sicht aber, so Baars, rechne mit einer „tiefen Kluft zwischen der schieren Transzendenz Gottes und der geschaffenen Welt […] und werfe die Frage auf, ob sich deshalb Atheismus und Säkularismus so rasant in der westlichen Welt hätten ausbreiten können.“123 Blickt man auf die skizzierten Argumentationsgänge zurück, in denen Calvin die Gottheit des Sohnes und des Geistes aufgewiesen hat, dann wird man das Gefälle sogar umkehren und sagen müssen: Sein Denkweg verläuft „von der Offenbarung Gottes in der (Heils-) Geschichte hin zu den Geheimnissen der immanenten Trinität […] und nicht umgekehrt“.124 Das Gewicht seiner Ausführungen liegt also ganz unbestreitbar auf der ökonomischen Trinität, die historisch und logisch ohnehin die Priorität hat. Sie setzt – so die westliche Tradition – die Einheit Gottes voraus, fragt nach dem Sinn der Auffächerung in drei Personen und sucht auf diesem Weg die vorausgesetzte Einheit denkend einzuholen. Sie wird im Rückschluss aus der Geschichte Israels, dem Kommen Jesu und der Existenz einer geistgewirkten Kirche gewonnen. Worte und Werke Gottes sind das Material, dem sie ihre erschließende Kraft verdankt. Hier erst wird man die Stärke und ihre durch alle gelehrten (auch polemischen) Erörterungen hindurch scheinende Leuchtkraft des calvinischen Entwurfs entdecken. Denn ökonomisch zeigt sich Gott als der, der eine Geschichte mit den Menschen eingeht und sich in ihrer eigenen Gegenwart durch seine Wirkungen zu erkennen gibt. Das macht die spezifische Erfahrungsnähe dieses Aspektes möglich. Dasselbe gilt im Blick auf die Christologie. Beide Lehren sind für Calvin notwendig, um das

122 Inst I, 13,7; OS III, 117. 20–23. 123 Calvin, Responsio ad fratres Polonos, CO 9, 354. A. Baars, „Opera trinitatis ad exra sunt indivisa“ in the Theology of John Calvin, in: H. Selderhuis (Hg), Calvinus sacrarum literarum intrepres (Congress on Calvin Research), Göttingen 2008, 131–140, 133. Zum zeitgeschichtlichen Ort vgl. CStA 8,259–251. 124 A. Baars, Trinität, in: Calvin-Handbuch (hg. von H. Selderhuis), Tübingen 2008 (240–252), 250.

Der Streit um die Trinität

biblische Zeugnis – „Gott geoffenbart im Fleisch“ (1Tim 3,16), d. h. eingegangen in unsere Erfahrungswelt – gegen Angriffe und Fehlinterpretationen zu verteidigen. In beiden geht es zentral darum, das „Kommen“ Gottes als Gott erkennbar zu machen. Deshalb hält er gegen Servet an der theologisch notwendigen Differenz zwischen der ewigen Zeugung des Sohnes und der irdischen Geburt des Christus fest, ohne die ein solches „Kommen“ (vollends „ins Fleisch“ der Gegenwart) gar nicht denkbar wäre.125 In dieser Perspektive aber könne man den trinitarischen Personen geradezu bestimmte, ursprüngliche Erfahrungsorte zuweisen. So spricht Calvin mehrfach von einer „praktischen Erkenntnis (notitia practica), die zweifellos gewisser sei als alle müßige Spekulation“126 , und führt im Einzelnen aus: Wie Gott unser Leben, Licht, Heil, Gerechtigkeit und Heiligung genannt wird, so werden wir gelehrt, all unser Vertrauen und unsere Hoffnung auf ihn zu setzen. […] Dort nämlich, wo sich [einer] als lebendig gemacht, erleuchtet, erlöst, ja als gerechtfertigt und geheiligt wahrnimmt (sentit), da erblickt er ihn in vollster Gegenwärtigkeit (Deum praesentissimum) und berührt ihn beinahe.127

Analog, ja nahezu wörtlich, heißt es auch im Blick auf den Sohn: „Da sieht die gläubige Seele Gott in vollkommener Nähe, ergreift ihn schier mit den Händen und erfährt, dass sie von ihm lebendig gemacht, erleuchtet, gerechtfertigt und geheiligt wird“.128 Und so zählt auch jenseits der lehrhaften Sätze über den Heiligen Geist zuletzt nur das, was wir „aus vertrautem Umgang (ex familiari usu) […] selber in sicherer Erfahrung der Frömmigkeit“ als beste Bestätigung lernen können. Denn dieser Gott ist überall gegenwärtig, erhält, ernährt und belebt alles, was es im Himmel und auf Erden gibt. […] Dass er seine Kraft in alles ergießt und dadurch allen Wesen, Leben und Bewegung verleiht: das ist wahrhaft göttlich“.129 Zugleich wird hier noch einmal deutlich: Die trinitarischen Personen gewinnen ihre Eigenheit aus ihrer wechselseitigen Beziehung. Ihre Relationen zueinander machen ihre Identität aus. In allen drei beschriebenen Erfahrungsdimensionen geht es um ein Handeln Gottes, in dem er sich uns vertraut macht, mögen seine Absicht und sein Ziel auch jeweils verschieden sein. Insofern darf man – worauf der Begriff der Ökonomie es abgesehen hat – von einer Offenbarungs-Trinität sprechen. Denn anders als es der Titel der gegen Servet gerichteten Schrift erwarten lässt, will Calvin in erster Linie 125 Vgl. hierzu die späte „Verteidigung der orthodoxen Trinitätslehre“ (1554), CStA 4, bes. 191f (CO 8, 502). 126 Adversus Calumnias, CStA 1.1, 235. 15–23; Inst I, 13,13; OS III, 127. (4–) 8f. 127 Ebd. 234. 11–16, CO 7, 312f. 128 Inst I, 13,13; OS III, 127. 9–12. 129 Ebd. I, 13,14; OS III, 127. 25–31.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

kaum die „orthodoxe Trinitätslehre“ verteidigen. Er blickt in eine andere Richtung. Er will angesichts der auch ihr drohenden Auflösung durch neue antitrintarische Strömungen den Nachweis der wahren Gottheit Christi führen, der in der Institutio den größten Raum einnimmt. In der betont ans Ende seiner Beweisführung gestellten „practica notitia“ erweist sich sein Entwurf daher als eine Hilfe für den Glauben. Hier steht die Trinitätslehre ganz im Dienst der Schriftauslegung, und so wird spätestens hier denn auch das Ziel seiner Erkenntnisbemühungen sichtbar: Er will die altkirchlichen Ansätze so aufgreifen, dass sie „in einem einleuchtenden Zusammenhang mit der [reformatorischen] Entdeckung der reinen Gnade“ stehen.130

3.3

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes131

So hoch wie Calvin hat kein Theologe vor ihm gegriffen und die Welt trotz allem, was wir in ihr an dunklen Rätseln und tiefen Schatten erfahren, als einen „Schauplatz der Herrlichkeit Gottes“ (theatrum gloriae Dei) zu beschreiben gewagt. Seine Schöpfungstheologie hat darin einen klar erkennbaren Mittelpunkt, um den sich in konzentrischen Kreisen die Themen der Tradition neu ordnen. Auch wenn sie uns in einer selbst für das Reformationszeitalter seltenen Eindringlichkeit die Welt „jenseits von Eden“ vor Augen stellt – den Menschen, der sich von Gott losgesagt, den Kosmos der Pflanzen und Tiere, der den Glanz und die Integrität seiner „ersten“ Natur verloren hat –: sie ist in ihrem Zentrum eine Theologie des Lobes Gottes.132 Calvin lässt sich in allem, was er zur Sprache bringt, von der – fast möchte man sagen: dinglich greifbaren – Herrlichkeit dieses Gottes inspirieren, dem unauslöschlichen Merkmal, durch das sich die Welt auch im Zustand ihres Abfalls und ihrer Entfremdung (alienatio) als Schöpfung zu erkennen gibt: Gott hat sich „im ganzen Kunstwerk der Welt in einer Weise geöffnet und macht sich öffentlich Tag für Tag in ihr bekannt, dass die Menschen ihre Augen gar nicht auftun

130 E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 19. 131 Für eine ausführliche Darstellung verweise ich auf das Kapitel „Johannes Calvin“ im „Handbuch Systematischer Theologie“ Bd. 7/1, Gütersloh 1991, 120–171, sowie auf meine Calvin-Studien „Prädestination und Erwählung“, Neukirchen 2009, 101–122. 132 Vgl. bereits die Vorrede zur Olivetanbibel (CO 9, 791; CStA 1.1, 34.16–24) sowie Inst II, 1,1 (OS III, 228. 20–28) und Genesis-Kommentar zu 2,9: „ [D]er himmlische Werkmeister hat doch das Ziel der ersten Schöpfung vor Augen gehabt, nach dessen Vorbild wir erkennen sollen, auf welches Ziel hin er die Menschen erschaffen und …sie vor allen anderen Lebewesen gewürdigt hat“ (CO 23, 39).

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes

können, ohne ihn zwangsläufig zu erblicken. […] Wohin man die Augen auch schweifen lässt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht wenigstens einige Funken seiner Herrlichkeit zu sehen wären. Man kann dieses weiträumige, wunderbare Werk nicht mit einem Blick umfassen, ohne unter der unermesslichen Gewalt dieses Glanzes zusammenzubrechen“ (Inst I, 5,1; OS III, 45.2–4. 19–23).

3.3.1

Calvins Verhältnis zur naturphilosophischen Tradition

Während sich die einflussreiche Forschung der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts auf zwei Problemkreise konzentrierte, die Frage der natürlichen Gotteserkenntnis und die Bedeutung des Naturrechts, hat sich das Interesse in den letzten Jahrzehnten auf kosmologische und naturphilosophische Themen verlagert. Das geschah nicht zuletzt angesichts der unlösbaren Verbindung der Schöpfung mit der Vorsehungslehre, die ja fast unvermeidlich in einer gewissen Spannung zu dem nach Gen 1 auf Dauer gestellten Ordnungszusammenhang der Welt steht. Diese Spannung hat Calvin so gelöst, dass er im Genfer Katechismus (1542) die Schöpfung nicht nur (wie später auch der Heidelberger) ganz in der Darstellung der Vorsehung aufgehen lässt, sondern dass er sie (wie das zweite Helvetische Bekenntnis) ihr sogar bewusst nachordnet: Nachdem er festgestellt hat, dass „Gott durch seine Vorsehung alle Dinge geordnet hat und die Welt durch seinen Willen regiert“ (Frage 23), fährt er fort: „Warum fügst du hinzu, dass er Schöpfer von Himmel und Erde ist?“133 In beiden Fällen wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass erst die Providenz Gott als den seiner Welt zugewandten in ihr gegenwärtigen Schöpfer erkennen lässt. Sie verbindet sich bei Calvin mit dem Ratschluss Gottes. Sie ist dessen ausführender Arm. Das setzt einer breiteren Rezeption der antiken Naturphilosophie naturgemäß Schranken. (1) Von seinem meist berufenen Gewährsmann Augustin hat sich Calvin in einem für seinen gesamten Aufriss entscheidenden Punkt getrennt: Denn dieser, „wie üblich allzu sehr Platoniker, lässt sich gleich zum Gedanken an die [ewigen] Ideen hinreißen: Gott hätte schon vor Erschaffung der Welt die Gestalt des ganzen Werkes in seinem Geist vorweg entworfen“.134 Damit aber würde ein zeitlos-ontologischer Zusammenhang postuliert, der die Freiheit Gottes einschränken müsste. Man darf immerhin fragen, ob die göttlichen

133 Genfer Katechismus (1542), in W. Niesel (Hg), Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen (1938), Zürich 1985, 5. 25f und 32. Zum Ganzen vgl. J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre, in: Calvinstudien, Leipzig 1909, 339–441; R. Stauffer, Dieu, la Creation, et la Providence dans la prédication de Calvin, Bern 1978; S.E. Schreiner, The Theater of His Glory (Anm. 24); dies. „Schöpfung“, in: Calvin Handbuch (hg. von H.J. Selderhuis), Tübingen 2008, 262–270. 134 Kommentar zu Joh 1,3; CO 47, 4.

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Dekrete bei Calvin die Funktion der alten Ideen nicht wenigstens teilweise übernommen haben. Denn diese Dekrete sind nach einer Definition des 17. Jahrhunderts die „inneren“ Handlungen Gottes, wodurch er „nach seinem freien und unwandelbaren Willen von Ewigkeit her über alle außer ihm in der Zeit zukünftigen Dinge seinen Beschluss gefasst hat und zwar einschließlich ihrer Ursachen, ihrer Handlungen und zufälligen Begleitumstände“.135 Dass Calvin der Vorsehung Gottes ebenso viel zutraut wie diese Definition behauptet, scheint mir nicht zweifelhaft zu sein, auch wenn man die Einführung der Dekrete zunächst als den Versuch würdigen muss, die Beziehung zwischen Gott und der Welt in Gott selbst, seiner essentia, zu verankern. Folgerichtig trennt er sich auch von der (auf Sir 18,1 gestützte) These, wonach die Welt in einem Augenblick erschaffen sei136 , und vertritt die biblische, im Hauptstrom der Tradition fest verankerte Auffassung des Sechs-Tage-Werks (Hexaemeron), mit dem Gott der menschlichen Fassungskraft entgegengekommen sei. (2) Mit den allgemeinen Prinzipen des (spät)mittelalterlichen Aristotelismus war er vertraut. Er konnte sie in ihren kosmologischen Folgerungen (Zahl der Sphären, Unbeweglichkeit der Erde, Gewicht der Elemente) bejahen, hatte allerdings Vorbehalte gegenüber der Rolle der Zweitursachen (causae secundae). Zwar ließen sie sich nicht bestreiten, wohl aber fürchtete Calvin, sie könnten die Souveränität und Gegenwart Gottes, die er in der Welt am Werke sah, verschleiern.137 Die Anwesenheit von Ordnung in einem von Natur ungeordneten Kosmos ließe sich so jedenfalls nicht erklären. Ebenso stehe es mit einem anderen, damals viel verhandelten Problem, bei dem die bekannten Naturprinzipien versagten: Warum „bedecken die Wasser“, die nach biblischer Sicht über das Firmament hinausreichen, „nicht die ganze Erde ringsum?“138 Hier müsse man schon mit Gottes wirksamer Vorsehung rechnen. Insbesondere aber widerspreche die Identifikation des aristotelischen „unbewegten Bewegers“ mit Gott der christlichen Schöpfungslehre. Sie unterstelle eine Ferne Gottes, die dessen Fürsorge und Nähe zu seiner Schöpfung nachgerade unverständlich machen müsse. Dasselbe gelte daher vollends für den konkurrierenden Epikureismus (Lukrez’ De rerum natura), der die Entstehung der Welt aus dem ziellosen Zusammenstoß von „Atomen“ meinte begründen zu können. Sosehr sich Calvin auf der Linie vieler Vorgänger bemühte, die aristotelische Sicht des Universums mit dem Bericht der Genesis zu verbinden: seine Einwände zeigen, dass der Ansatzpunkt zuletzt doch anderswo gesucht werden muss.

135 Heidegger, Corpus theologiae, Zürich 1700 V, 4, zit H. Heppe, Reformierte Dogmatik, Neukirchen 1935, 107. 136 Kommentar zu Gen 2,1; CO 23, 17. 137 Psalmenkommentar, CO 32, 430f. 138 Ebd. zu Ps. 104,5; CO 32, 86, CStA 6, 285.5. 10–14.

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes

(3) Das führt zu einem bis heute nicht wirklich gelösten Problem. Seit Albrecht Ritschl aus der Lehre der doppelten Prädestination geschlossen hatte, der ihr zugrunde liegende Gottesbegriff führe zur potentia absoluta der Nominalisten139 , sind die Versuche nicht abgerissen, die spürbar „voluntaristische“ Prägung des calvinischen Gottesbildes auf Duns Scotus, wenn nicht auf Occam zurückzuführen, deren Namen man freilich in der Institutio vergeblich sucht. Doch trotz der dort offen erklärten Absage an das „Hirngespinst der absoluten Gewalt Gottes“140 , haben neuere Arbeiten von einem Zusammenhang seiner Themen, namentlich der Unterscheidung von potentia absoluta und ordinata, mit solchen der scholastischen und nominalistischen Theologie gesprochen.141 Calvin selbst zitiert den Ahnherrn dieser Debatten: „Mit vollem Recht erhebt Augustin die Klage, es geschehe Gott Unrecht, wenn man einen höheren Grund (causa) der Dinge sucht als seinen Willen.“142 Denn wenn man fragt, „warum der Herr in seiner Prädestination so gehandelt hat“, laute die lapidare Antwort: „quia voluit – weil er es so gewollt hat“, denn „sein Wille ist die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit“.143 Die skotistische Färbung dieser Auskunft ist kaum zu bestreiten. Diese Spur hat Eva-Maria Faber aufgenommen. Sie spricht – damit ist der Gegensatz zum Platonismus ewiger Ideen klar bezeichnet – von einem „voluntativen Schöpfungsverständnis“ und wird damit der so betonten Freiheit Gottes im Verhältnis zur und seinem Umgang mit der Kreatur besser gerecht als andere an Aristoteles orientierte Deutungen. Gottes Wille ist „der Urgrund der Schöpfung“. Man dürfe ihn nur nicht wie Occam als „Auswahlprinzip vielfältiger Möglichkeiten, sondern [müsse ihn] in seinen konkreten Äußerungen“ erkennen.144 Könnte diese „scholastische“ Einsicht nicht auch ein Schlüssel sein, die durchgängige Finalität des calvinischen Entwurfs – mit welchem Zweck und Ziel hat Gott die Welt erschaffen? – verständlich zu machen? (4) Nun ist die bekannte, wie ein Leitmotiv wiederkehrende Bezeichnung der Schöpfung als „Theater der Herrlichkeit Gottes“ keine Erbschaft mittelalterlicher Traditionen, sondern weist auf den Horizont und das Klima des französischen Frühhumanismus. Die Metapher des Theaters hat Calvin Erasmus und Budé entlehnt145 ; die geometrisch-ästhetische Begrifflichkeit (symétrie, proportion, variété) 139 A. Ritschl, Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott, in: Jahrbücher für deutsche Theologie, Bd. 13, Gotha 1868, 107. 140 Inst III, 23,2; OS IV, 396.16f. 141 Vgl. die ausführlichen Debatten bei F. Wendel, Calvin. (Anm. 81), und R. Muller, The Unaccommodated Calvin, New York 200, 40–65. 142 De Genesi contra Manichaeum, I,2,4 (MSL 34, 175) in: Inst I, 14,1; OS III, 153.19–21. 143 Inst III, 23.2; OS IV, 396.3–5; ähnlich heißt es auch im Exoduskommentar: „Gott ist von jeglichem Gesetz unabhängig derart, dass er sich selbst Gesetz und das Maß aller Dinge ist“ (CO 24, 49). 144 E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch (Anm. 37), 46–51. 145 J. Bohatec, Budé und Calvin. Studien zur Gedankenwelt des französischen Frühhumanismus Graz 1950, 266.

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erinnert an das Naturgefühl und den Organismusgedanken der Akademie von Florenz. Indessen ist auch hier eine Abgrenzung gegenüber der Weltauffassung und Naturphilosophie der Renaissance unvermeidlich. Das selbstbewusste Bild der Welt als einer von Gott geprägten Münze, deren Wert der menschliche Geist bestimmt, bildet den denkbar größten Gegensatz zu Calvins theozentrischer Sicht. Bohatec spricht von einer „Umkehrung des Schöpfer-Geschöpf-Verhältnisses.146 3.3.2

Die trinitarische Verankerung der Schöpfung

Die traditionellen Themen der „Schöpfung aus dem Nichts“ und der „Schöpfung durch das Wort“ gewinnen bei Calvin eine eigene neue Zuspitzung. Sie stehen im Dienst der systematischen Frage, wie es zu jener, in der Theater-Metapher gemeinten „Darstellung“ Gottes in der Welt überhaupt hat kommen können. Aus diesem Grund ist die Verklammerung der Schöpfung mit der Trinitätslehre sehr viel enger als in den Entwürfen Luthers und Melanchthons. Calvin hat die verbreitete trinitätstheologische Regel – opera trinitatis ad extra sunt indivisa – von Augustin übernommen (in dessen Schriften sie wörtlich übrigens nicht belegt ist), sie zugleich aber auf subtile Weise kritisiert.147 Da Augustin alles Gewicht auf die Einheit der göttlichen essentia gelegt hat, könne diese Regel nur für den Innenaspekt (intrinsece) des göttlichen Schaffens gelten, wenn wir aber darauf achten, wie Gott sich uns in seinen Werken (äußerlich) kenntlich macht, könne man sehr wohl zwischen den Aktivitäten von Vater, Sohn und Geist unterscheiden. Dementsprechend kennt Calvin zwei Vermittlungsfiguren, in denen sich Gott der Schöpfung mitteilt. (1) Das schöpferische Wort bezieht er mit der Tradition auf den präexistenten Logos bzw. auf den in und mit ihm sich manifestierenden „ewigen Ratschluss“, der im Werk der Schöpfung nach außen tritt. So schreibt er in einem Brief an die polnischen, von dem Antitrinitarier Francisco Stancaro bedrängten Brüder: Der eingeborene Sohn Gottes ist derselbe Gott, mit dem Vater eines Wesens (essentia), und doch gleichsam Mittler (medium) zwischen Gott und den Kreaturen gewesen, so dass von ihm das sonst in Gott verborgene Leben [auf sie] herabfließen konnte.148

Hier geht es um eine zweiseitige Vermittlung, nicht nur um die schöpferische Bewegung Gottes nach außen, sondern, durch sie begründet, nun auch um die Rückbindung der Welt an Gott. So heißt es im Kommentar zu Joh 1,1:

146 Ebd. 266. 147 Siehe oben Kapitel 3.2.3. 148 Stellungnahme der Reformierten Kirchen der Schweiz gegen Stancaro vom 9. Juni 1560: Responsum ad fratres polonos, CO 9 (337–342), 338.

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes

Wie sich Gott, indem er die Welt schuf, durch dieses Wort offenbarte, so hatte er es vorher bei sich verborgen, damit es eine doppelte Beziehung (duplex relatio) gäbe: zuerst zu Gott, dann zu den Menschen.149

Wie weit Calvin in dieser Richtung meinte gehen zu können, zeigt eine Predigt über Eph 3,9–12, in der er die Schöpfungsmittlerschaft des Logos als Versöhnung interpretiert: Alles ist durch Jesus Christus erschaffen, da er zum Herrn über Engel und Menschen bestimmt worden ist: und das, obwohl wir keinen Erlöser nötig gehabt hätten außer, dass unser Herr Jesus Christus bereits zu unserm Haupt eingesetzt worden ist. Er hat es nicht nötig gehabt, sich mit unserer Natur zu bekleiden und sich zum Opfer für die Erlösung der Sünder hinzugeben. Dennoch übte er dieses Amt bereits aus, Gott mit den Menschen zu versöhnen und sie mit den Engeln des Himmels zu vereinen. Derart ist also alles in unserem Herrn Jesus Christus geschaffen worden.150

Es ist ein ungewöhnlicher Gedanke, aus der Beteiligung Christi am Werk der Schöpfung die Konsequenz zu ziehen, dieses „Amt“ noch vor seiner Menschwerdung und Passion als einen Dienst der Versöhnung zu begreifen. Faber meint den Grund dafür darin zu erkennen, „dass das Geschöpfliche [sogar die Engel] prinzipiell vor der Vollkommenheit Gottes keinen Bestand hat und der Versöhnung bedarf, um mit Gott vermittelt zu sein“.151 Doch könnte man diese „Unvollkommenheit“ nicht sehr wohl auch als eine Vorzeichnung dessen verstehen, was sich nach dem „Fall“ noch in ganz anderer Tragweite und Schwere ereignen sollte? Auf jeden Fall ist diese „Vorwegnahme“ Ausdruck des engen inneren Zusammenhangs von Schöpfung und Erlösung in der Theologie Calvins. (2) Das führt zu der zweiten Vermittlungsfigur, dem Werk des Heiligen Geistes, auf dessen überragende Bedeutung einige jüngere Arbeiten wieder aufmerksam gemacht haben.152 Neu ist nicht der Ansatz, wonach er durch sein Hervorgehen von Vater und Sohn (filioque) beide verbindet (ad intra), auch nicht, dass er nichts Eigenes tut, sondern das Wirken des Vaters und Sohnes zum Ziel bringt (ad extra). Neu ist die Brücke, die Calvin zwischen der Allwirksamkeit Gottes und dem nun kosmisch verstandenen Werk des Geistes schlägt: Er ist „die Hand Gottes, durch

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Kommentar zum Johevangelium (zu Joh 1,1), CO 47, 2. Sermon sur l’Epitre aux Ephésiens. CO 51, 466. E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch (Anm. 37), 61. W. Krusche, Calvins Lehre (Anm. 27), 15ff; R. Bernhardt, „Was heißt „Handeln Gottes? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999, bes. 92ff; E.-M. Faber, Symphonie, 63–74.

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die er seine Macht ausübt“153 , wie es der altkirchliche Hymnus erbittet: „Imple superna gratia, quae tu creasti pectora – Erfülle mit deiner himmlischen Gnade die Herzen, die du erschaffen hast“. Er ist im ganzen Kosmos als eine Art Lebensprinzip wirksam, was ihn gelegentlich in die problematische Nähe einer neutralen Kraft rücken lässt. An keiner zweiten Stelle hat Calvin die Grenzen der Tradition so weit hinter sich gelassen wie hier. Er expliziert das Wirken des Geistes in einem zweigliedrigen Satz: „Seine Kraft und Macht erstreckt sich über alle Kreaturen, und doch bleibt er immer bei Gott.“154 Abseits von seiner Lebendigkeit gibt es kein Geschöpf und kein kreatürliches Leben, und wo immer sich dieses Leben manifestiert, da ist es Leben des Geistes und darum auf Gott bezogen. Zugleich aber – hier geht es um die Aufrichtung einer kritischen Grenze – bleibt er „immer bei Gott“. Er wirkt in die Welt hinein, ohne sich in ihr zu verlieren oder sie gar zu vergotten. Ein Pantheismus hat hier keinen Raum. Beachten muss man dabei jedoch, dass der Heilige Geist hier in eine Lücke tritt, welche die Christologie allein gar nicht schließen kann. Zwar heißt es im Johanneskommentar: „Seit der Erschaffung der Welt tritt der Logos (verbum) in der äußeren Wirksamkeit Gottes zu Tage.“155 Für diese Aussage kann sich Calvin indessen nicht auf die Inkarnation berufen, denn da hat sich der Logos nur für einen bestimmten Augenblick der Geschichte offenbart. Hier jedoch tritt der Geist als dessen universal wirkender Arm ins Mittel. Calvin kann deshalb alles, was er über dessen Leben schaffendes Werk sagt, in zum Teil wörtlicher Übereinstimmung auch vom ewigen Logos sagen. Denn es gibt – so die unter dem Titel des „Extracalvinisticum“ bekannt gewordene Erweiterung der klassischen Christologie156 – ein Vermögen, eine Freiheit des Logos, auch „extra Christum“, also außerhalb seiner sichtbar gewordenen Manifestation im gesamten Kosmos wirksam zu sein, und in dieser Freiheit, die der Geist realisiert, liegt die Möglichkeit begründet, dass die dem Sohn übereignete Herrlichkeit des Vaters sich tatsächlich in der geschaffenen Welt widerspiegelt. Denn der Geist ist kein Konkurrent des Logos, sondern dessen ausführender Arm. In der Vorrede zur Genesisauslegung spricht Calvin denn auch explizit, das Thema der gloria Dei zusammenfassend, von „Christi unsichtbarem Reich, das alles in Beschlag nimmt und dessen geistliche Gnade alles durchdringt.“157 Im Phänomen

153 Inst III, 1,3; OS IV, 4.21. Vgl. Kommentar zu Sach 6,5: „omnes actiones [Dei] ab eo prodeunt: et quidquid agitur in mundo potest non absurde spiritui eius adscribi“ („alle Handlungen Gottes gehen aus ihm hervor, und was immer sich in der Welt ereignen kann, lässt sich sehr wohl seinem Geist zuschreiben“), CO 44,206. 154 Genfer Katechismus (1542), Frage 19; W. Niesel (Hg), Bekenntnisschriften, Zürich 1985, 4. 8f. 155 Zu Joh 1, 3, CO 47, 4. 156 Chr. Link, Das sogenannte Extracalvinisticum, in: Calvin Studien, 2009, 145–170 (= EvTh 47,1987, 97–119). 157 Genesis-Kommentar, Argumentum, CO 23, 10.

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes

der „Herrlichkeit Gottes“ fassen sich das Reich der Natur und das Reich der Gnade schon jetzt als Einheit zusammen. 3.3.3

Die Welt als „theatrum gloriae Dei“

Ungeachtet ihrer Vergänglichkeit und Selbstverschlossenheit bleibt die geschaffene Welt nicht sich selbst überlassen. Das ist die zentrale „Botschaft“ dieser Schöpfungstheologie, die Calvin in einer „prädestinatianischen“ Erklärung auf den Punkt gebracht hat: „An diesem Axiom muss man festhalten: Gott hat unser Heil in einer Weise am Herzen gelegen, dass er, ohne sich selbst zu vergessen, seine Ehre an die erste Stelle setzte und deshalb die gesamte Welt [einschließlich des Menschen] mit dem Ziel erschaffen hat, Schauplatz (theatrum) seiner Herrlichkeit zu sein“.158 Ohne unserer eigenen Rolle in diesem Schauspiel der Welt inne zu werden, kann man daher gar nicht erfassen, was das Wort „Schöpfung“ bedeutet. Im Unterschied zu den weiträumigen kosmologischen Überlegungen Melanchthons, denen der Leser in der Perspektive des antiken Zuschauers zu folgen genötigt ist, zieht Calvin den Menschen bereits mit dem ersten Schritt als beteiligtes Subjekt in Thema und Gegenstand seiner Schöpfungslehre hinein. Denn ein Erkennen Gottes hat überhaupt nur einen Sinn, wenn auch wir es mit Gott zu tun haben.159 Calvin knüpft an den weisheitlichen Ort des alttestamentlichen Schöpfungszeugnisses, das hymnische Lob der Psalmen, an, wenn er die umfassendste Bestimmung der Schöpfung mit dem Wort „gloria Dei“ beschreibt und uns mit Ps 19 die Himmel „gleichsam als Zeugen und Herolde der göttlichen Herrlichkeit“ vor Augen führt.160 Denn diese erste sinnliche Erfahrung weist über sich hinaus auf eine zweite, die man mit und in ihr machen kann und soll, die Erfahrung der Präsenz des unsichtbaren Gottes, der uns die Schöpfung als einen „Spiegel vorhält, in dem sein lebendiges Bild uns entgegenleuchtet“.161 Die Institutio spricht von „angezündeten Lichtern“, in denen „Gott uns nahe kommt, sich uns vertraut macht und gewissermaßen mitteilt“.162 Begreift Luther die Schöpfung gelegentlich als eine Selbstinvestition Gottes (bis hin zum sprichwörtlichen Rascheln eines niederfallenden Blattes); wird Melanchthon von der unbedingten Verlässlichkeit in Atem gehalten, mit der Gott seine Kreatur begleitet, so fällt bei Calvin alles Gewicht darauf, dass Gott selbst es ist, der sich

158 De aeterna Dei prädestinatione, CO 8,294; so auch im Kommentar zu Hebr 11,3 („Certe in hunc finem conditus est mundus, ut esset Divinae gloriae theatrum“), in der Einleitung zum GenesisKommentar, CO 23, 9f, oder in Inst I, 6,2; OS III, 62.20–22. 159 „Quid denique iuvat Deum cognoscere quocum nihil sit nobis negotii?“ (Was würde es uns am Ende helfen, Gott zu erkennen, wenn wir nichts mit ihm zu tun haben sollten?) I, 2,2; OS III, 35.16. 160 Psalmenkommentar, zu Ps 19, 1; CO 31, 81; CStA 6, 79.8f. 161 Inst I, 14,1; OS III, 153.12. 162 Inst 1, 5,9 und 14; ebd. 53. 23f und 58.35f.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

in ihr manifestiert. In der Schöpfung – das ist der weitestgehende, sicher aber auch gewagteste Versuch, die Welt theologisch zu begreifen – haben wir es mit Gottes eigener Selbstmitteilung, seiner Offenbarung in der Form einer Selbstdarstellung, zu tun. Gott steht ihr in Freiheit gegenüber. Damit ändert sich auch die Problemstellung. Statt eine dauernde, christologisch begründete Kommunikation mit dem Geschöpf vorauszusetzen, muss Calvin die Frage nach der Zuwendung Gottes zur Welt neu stellen und neu beantworten. Eben dies geschieht im Zeichen der Ehre (Herrlichkeit) Gottes, die sich in der Welt durchsetzt. Dieses Attribut ist die Klammer, die schon ante Christum natum Gott und die Welt verbindet. Das geschieht auch ohne Wissen und Wollen des Menschen, ja sogar gegen seinen Widerstand. Weil die Welt schon in ihrer zweckmäßigen Schönheit und Ordnung an dieser Selbstdarstellung aktiv beteiligt ist – Calvin kann sogar das Diktum Senecas „naturam esse Deum“ als Ausdruck „frommer Gesinnung“ gelten lassen163 – existiert sie als Schöpfung unter Gottes Augen. Denn Gott hat Wohlgefallen an allen seinen Werken. Davon lebt die Welt. Das Elementarste und in seiner hintergründigen Einfachheit zugleich Tiefste, was sich über ihre kreatürliche Existenz sagen lässt, hat der Psalmenkommentar daher in dem Satz zusammengefasst: „Status mundi in Dei laetitia fundatus est – In Gottes Freude hat der Bestand der Welt seinen Grund.“164 3.3.4

Bestimmung und Ziel der Schöpfung

So intensiv der Exeget Calvin sich mit der Auslegung des Sechstagewerkes, den Problemen der Kosmologie und – wofür es Andeutungen gibt165 – zuletzt auch mit dem kopernikanischen Umbruch des Weltbildes befasst hat: die Frage nach dem Zweck und Ziel der geschaffenen Welt und als deren Konvergenzpunkt die Frage nach dem Heil des Menschen166 bleiben der bestimmende theologische Aspekt. François Wendel hat von einem ausgeprägten „Finalismus“ vor allem in den Predigten Calvins gesprochen. Der Weg zu diesem Ziel führt über die Geschichte Jesu Christi. Dass die Schöpfung nach ihrer Anlage und ihrem Plan auf diese Geschichte zuläuft, dass ihre Bestimmung und ihr Sinn erst mit der geschichtlichen Erscheinung des Schöpfungsmittlers Christus (Kol 1,15ff.) sichtbar geworden sei, sagt Calvin jedoch mit Bedacht nicht.

163 Inst I, 5,5; OS III, 50. 22–24. 164 Kommentar zu Ps 104,32; CO 32, 97; CStA 6, 312. 17f. 165 Vgl. hierzu R. Stauffer (Anm. 24), 183–190, der die bisher nicht edierten Genesispredigten (Sermons sur le livre de la Genèse, 1,1–20,6) ausgewertet hat. 166 Der Genfer Katechismus (1545) beschließt das Lehrstück „De creatione“ mit der Gewissheit, dass Gott selbst sich „zu unserm Beschützer und Lenker unseres Heils gemacht hat“; Frage 29, CStA 2, 25. 16f (CO 6,18).

Die Schöpfung als Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes

Absicht und Ziel der Schöpfung leuchten vielmehr bereits im Menschen, dem „Meisterstück“ unter Gottes Werken wie in einem Brennpunkt auf. Calvin benutzt das in der Renaissance geläufige Bild des Mikrokosmos167 . Schon deshalb darf man den Satz, dass Gott „alles um des Menschen willen“ erschaffen habe (Inst I,14,22) nicht als einen naiven Anthropozentrismus missverstehen. Er blickt in eine andere Richtung: „Wozu (quorsum) Gottes Werke letztlich bestimmt sind, was sie vermögen und wozu (in quem finem) wir sie betrachten sollen, das werden wir erst dann verstehen, wenn wir in uns selbst gehen und zusehen, auf wie vielerlei Weise der Herr in uns sein Leben, seine Weisheit, seine Kraft zur Geltung bringt“168 Wir werden gerade so auf ein Ziel außerhalb unserer selbst verwiesen. In dieser Perspektive kann die Schöpfung als ein teleologisch geordneter, auf den Menschen zentrierter Kosmos beschrieben werden. Gott hat – bis zum Jüngsten Tage – jedem einzelnen Ding seinen Dienst angewiesen, ihm seinen Ort und seine Wohnstätte zugeteilt, damit dem Menschen nichts fehlen sollte, was ihm nach seiner Voraussicht nützlich und heilsam sein könnte.169 Die Welt, die hier sichtbar wird, hört auch unter der Botmäßigkeit des Menschen nicht auf, „Gottes Fuß und Hand“ zu sein170 , gleichwohl darf sie in ihrer vollen Diesseitigkeit keinen Augenblick übersprungen werden: „Warum den Flug in die Luft nehmen und den festen Boden verlassen, der doch der Schauplatz der Güte Gottes ist? […] Es ist gewiss wahr: unser ewiges Erbteil ist im Himmel und darauf sollen wir uns richten. Aber doch muss der Fuß zugleich fest auf der Erde stehen, ist sie doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen.“171 In dieser Haltung kann Calvin auch die Bemühungen der Wissenschaft uneingeschränkt anerkennen, vor allem deshalb – das verbindet ihn mit Melanchthon –, weil sie uns tiefer in das Geheimnis der göttlichen Weisheit einführen.172 Es gibt daneben jedoch eine markante zweite Linie, die Calvin über die immanente Einrichtung, Zweckmäßigkeit und Ordnung des Kosmos hinaus auf ein letztes Ziel zu blicken nötigt. Steht die Schöpfung im Zeichen der Herrlichkeit Gottes, dann erreicht sie ihre Vollendung erst in der Verherrlichung Gottes durch seine Geschöpfe. Diese Perspektive wird im III. Buch der Institutio mit der Betrachtung

167 Inst I, 5,3; OS III, 46.34. – In der Predigten über das Buch Hiob heißt es: „l’homme est appellé comme un petit monde, que là nous voyons tant de choses admirables qu’il faut qu’on en soit estonné » (CO 33,481). 168 Inst I, 5,10; OS III, 54.24–28. 169 Vgl. Inst I, 14,20; OS III, 171.1–4. 170 Argumentum in Genesin, CO 23, 11. 171 Zu Gen 2,8 (gegen die origenistische allegorische Deutung), CO 23, 37. 172 Zur Bedeutung der Wissenschaft heißt es in der Hiobauslegung: „Les philosophes ont desployer les grands trésors de la sagesse de Dieu quant à l’astrologie (= Astronomie) ». Dazu: R. Stauffer (Anm. 24), 185f.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

des zukünftigen Lebens (meditatio futurae vitae) eröffnet. Calvin nimmt das paulinische Wort von der „Sehnsucht des Geschaffenen nach dem Offenbarwerden der Söhne Gottes“ (Röm 8,19) auf und verbindet es mit der Vorstellung der Restitution als Rückkehr zum ersten Anfang. Es gibt „kein Element, auch keinen Teil der Welt, der sich nicht wie angerührt von der Erkenntnis des gegenwärtigen Elends nach der Hoffnung der Auferstehung ausstreckte“.173 Auch „die vernunftlosen Lebewesen, je selbst die seelenlosen Kreaturen bis herunter zu Holz und Steinen […] schauen nach dem jüngsten Tag der Auferstehung aus“174 und werden uns von Paulus als Mitgenossen unserer eigenen Hoffnung an die Seite gestellt. Ihre Sehnsucht nach endzeitlicher Befreiung ist ein genaues Maß des Abstandes, das sie als „verunstaltete Trümmer“ von ihrem geschöpflichen Ursprung trennt. Erst der Vorgriff auf dieses äußerste Ziel, das Eingeständnis, dass wir jetzt noch im Entzug der Wahrheit leben und leben müssen, lässt uns inne werden, dass das gegenwärtige Dasein nicht in sich selbst ruht, sondern, weil von außen begrenzt, auch nur von außen zu der ihm eigenen Bestimmung findet.

3.4

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

Die theologische Einordnung der Vorsehung hat die Forschung von jeher vor Probleme gestellt. Besonders auffällig ist die Nähe zur Prädestinationslehre. In der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) hat Calvin beide Lehrstücke in einem einzigen zusammenhängenden Abschnitt „De praedestinatione et providentia Dei“ abgehandelt.175 Er führt die Providenz auf den „geheimen Ratschluss Gottes“ zurück, einen zentralen Begriff seiner gesamten Theologie. Sie erscheint als dessen ausführender Arm. Die gleichen theologischen Axiome, welche die Prädestinationslehre steuern, wendet er auf den Bereich des göttlichen Welthandelns an. „Nahezu alles, was Calvin schrieb“, urteilt Charles B. Partee, „könnte zur Darstellung seines Verständnisses von Gottes Vorsehung verwendet werden“.176 Dementsprechend hat Reinhold Bernhardt in einer der letzten großen Gesamtdarstellungen die These entwickelt, „die Prädestination [sei nur] als Sonderfall des allgemeinen Begriffs der Vorsehung“ aufzufassen. Auch dafür gibt es plausible Gründe. Beide Lehrstücke sind mit Bedacht, wenn auch erst in der letzten Ausgabe der Institutio (1559) deutlich auseinander gerückt. François Wendel weist jedoch mit Recht darauf hin, dass trotz der systematischen Trennung in der letzten Institutio „die Parallelität zwischen beiden Begriffen doch zu groß war“, als dass Calvin bei der Neubearbeitung 173 174 175 176

Kommentar zu Röm 8,19; CStA 5.2, 417.9–12 (CO 49, 152). Inst III, 9; OS IV, 175.20–23. Inst (1539), CO 1, 861ff. C.J. Partee, Calvin and Classical Philosophy, Leiden 1977, 208.

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

der Prädestination die Vorsehung einen Augenblick hätte aus dem Auge verlieren können.177 Noch in den spätesten Ausführungen überschneiden sich die von Hause aus getrennten Sprachfelder: Die Prädestination wird mit dem Argument verteidigt, dass die Geheimnisse des göttlichen Willens uns soweit vor Augen gestellt sind, „als es nach Gottes Vorsehung zu unserem Besten dient und nützlich ist“. Gottes verborgener Ratschluss, nach dem er die einen erwählt, die andren verwirft, soll nicht erforscht sondern bewundert werden, „da man die Ursachen dieser göttlichen Vorsehung nicht angeben kann“. So kann auch Wendel178 die Prädestination „in gewisser Hinsicht als ein[en] Sonderfall des allgemeinen Begriffs der Vorsehung“ auffassen. Die Begriffs- und Bedeutungsfelder sind in einer Weise miteinander vernetzt, dass die sachliche Nähe auffallender ist als die systematische Differenz, die erst in der letzten Fassung der Institutio (1559) zur dispositionellen Trennung der beiden Loci geführt hat. Die ältere Forschung hat nicht zu Unrecht gefragt, ob die Providenzlehre – etwa nach dem Vorbild der Scholastik (P. Lombardus, Bonaventura) – als ein Teil oder gar als das verborgene Zentrum der Gotteslehre entworfen sei. Josef Bohatec hat diese Alternativen zu überwinden versucht und die hier gemeinte Zuordnung neu bestimmt: Wenn man (wie etwa Alexander Schweizer im 19.Jahrhundert) die Prädestination als die „Zentrallehre“ Calvins ansehen wollte, dann, so Bohatec, müsste ihr gegenüber die Vorsehungslehre „als „Stammlehre bezeichnet werden, indem in ihr die allgemeinen Voraussetzungen für die Lehre der Prädestination, vom Gesetz, von dem Werk Christi und den Gnadenmitteln enthalten sind“. Er kann Calvin daher geradezu „den Theologen der Vorsehung“ nennen.179 Heute wird fast allgemein anerkannt, dass jedenfalls die Weite der von Calvin begriffenen Vorsehung hinter dem Radius der Erwählungslehre nicht zurückbleibt, sondern ihn eher noch übertrifft. Das gibt ihr nicht nur gegenüber der Scholastik, sondern auch im Kreis der reformatorischen Entwürfe ein durchaus eigenes Gewicht. Denn schon im Begriff der Vorsehung – das verbindet ihn mit seinem Konkurrenten, der Pronoia-Lehre der Stoa – liegt ein universalistischer Zug, die Tendenz zu einer Gesamtschau der Wirklichkeit, wie sie ursprünglich nur der Philosophie eigen ist. Denn folgt man dem Aufbau der Institutio (1539/1559), so steht Calvins Vorsehungslehre in ihrer ersten hier systematisch entfalteten protestantischen Gestalt literarisch und historisch in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Schöpfung im ganzen. Gott lediglich zu einem „Schöpfer für den Augenblick“ der Weltentstehung zu machen, erklärt Calvin, wäre „ein kaltes und unfruchtbares“ 177 F. Wendel, Calvin. (Anm. 81), 153. Dazu auch: Chr. Link, Calvins Erwählungslehre zwischen Providenz und Christologie, in: P. Opitz (Hg), Calvin im Kontext der Schweizer Reformation, Zürich 2003, bes. 176–182. 178 F. Wendel, Ebd. 153. 179 J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre (Anm. 79), 414. 435.

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Unternehmen.180 Die Schöpfung soll Bestand haben, und das hat sie nur, wenn sie buchstäblich in jedem Augenblick neu von Gottes Fürsorge begleitet und erhalten wird. Damit aber steht die Vorsehung dem erschaffenen, auf Dauer gestellten Ordnungszusammenhang der Welt fast unvermeidlich in einer gewissen Spannung gegenüber. Sie setzt sich über den blinden Lauf der Natur hinweg und weist damit bereits teleologisch auf das letzte Ziel alles Geschehens, die Verherrlichung Gottes durch die Kreaturen, voraus. Die reformierten Bekenntnisschriften haben dieser Spannung dadurch Rechnung getragen, dass sie die Schöpfung entweder wie der Heidelberger Katechismus ganz in der Darstellung der Vorsehung aufgehen lassen oder wie der Genfer Katechismus und die Conf. Helvetica posterior, sie ihr sogar bewusst nachordnen.181 In beiden Fällen wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass erst die Providenz Gott als den seiner Welt zugewandten, in ihr gegenwärtigen Schöpfer erkennen lässt. Die allgegenwärtige Präsenz der göttlichen Macht bis in die kleinsten Ereigniszusammenhänge hinab zu demonstrieren, ist das Ziel, das Calvin in seiner Darstellung leitet und das ihn zugleich mit Luther verbindet.182 Wie wenig selbstverständlich das ist, war ihm durchaus bewusst und führt ihn gelegentlich bis an den Rand antiker Skepsis: „Wohin man sich auch wendet: alles, was uns umgibt, ist nicht nur von zweifelhafter Zuverlässigkeit, sondern steht uns mit schier offener Drohung gegenüber und scheint uns des Todes Nähe anzukündigen: Steige in ein Schiff – und du bist nur einen Schritt weit vom Tode entfernt! Setze dich aufs Pferd – am Straucheln eines Fußes hängt dein Leben!“183 Gerade deshalb, erklärt Herman Selderhuis, kann „die providentia Dei als das wichtigste Thema [etwa] des Psalmenkommentars“ gelten.184 3.4.1

Calvins Auseinandersetzung mit antiken und zeitgenössischen Entwürfen

Calvin hat seinen in der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) veröffentlichten Entwurf der Providenzlehre in Straßburg erarbeitet – wie wir heute zu wissen meinen: im Gespräch mit Bucer und Capito. Um ihn zu würdigen, muss man seine Auseinandersetzung mit Auffassungen der Weltwirksamkeit Gottes kennen, wie sie in der antiken Philosophie namentlich in der Stoa – hier hat der Glaube an die Vorsehung [pronoia] seine Wurzeln – und im Epikureismus entwickelt und in der zeitgenössischen humanistischen Rezeption vertreten wurden. Denn diese

180 Inst I,16,1; OS III, 187. 10f. 181 Vgl. Vgl. Genfer Katechismus (1545), Frage 27 (CStA 2, 23) und Heidelberger Katechismus (1563) Frage 26 und 27 (BSRK 689). 182 Dazu: R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (Anm. 152),88f. 183 Inst I,17,10; OS III, 214. 18–22. 184 H. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 116.

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

Rezeption ist es (nicht das philosophische Original), auf die sich Calvin in seinen kritischen Diskursen in erster Linie bezogen hat. Von dort sind die außerbiblischen Konzepte der pronoia und der gubernatio mundi (der Vorsehung und Lenkung der Welt) auch in die protestantische Theologie eingewandert. Calvin hat mit der Übernahme dieser Begriffe aus der humanistischen Tradition bewusstermaßen einen Gesprächsort mit der gebildeten Welt gesucht und gefunden, die damals wie heute „den gnädigen Gott eher in der göttlichen Vorsehung als in der göttlichen Versöhnung sucht.“185 Eine sorgfältige Aufarbeitung des weit gestreuten Materials verdanken wir Susan E. Schreiner und (in traditionsgeschichtlicher Perspektive) Reinhold Bernhard.186 Schreiner hat die notwendigen Abgrenzungen auf die griffige Formel gebracht: Die Stoiker (und Libertins) haben Gott zu eng an die Welt gebunden, ihn tendenziell mit der Natur selbst oder einem Naturprinzip identifiziert, was zu einem universalen Determinismus und somit faktisch zu einer Leugnung der aktuellen Weltpräsenz Gottes führen musste. Die Epikuräer und „Sophisten“ haben Gott genau umgekehrt zu weit von der Welt distanziert, ihn in müßiger Ruhe das Weltgeschehen betrachten lassen, so dass konkurrierende Mächte – Schicksal, Zufall, Astrologie oder menschlicher Gestaltungswille – ihm das Feld streitig machen konnten.187 (1) Die Stoa. Calvin, Autor eines Seneca-Kommentars (1532), war von seiner Bildung her ein entschiedener Anhänger der Stoa und teilte diese Geisteshaltung mit vielen Gebildeten des 16. Jahrhunderts.188 Insbesondere die Anerkennung einer die ganze Welt umfassenden Vorsehung (pronoia) kam seiner Auffassung entgegen: „Selbst jene Philosophen, die der Natur die höchste Autorität zuschreiben, sind weit mehr im Recht als jene, die dem Schicksal den höchsten Rang einräumen.“189 Von dieser im Humanismus des 16. Jahrhunderts populären Form eines Naturalismus (ob stoisch oder vom Atomismus Epikurs inspiriert) und seiner Naturvergötterung distanzierte er sich jedoch zunehmend, wird hier doch die Unabhängigkeit Gottes gegenüber und von aller Natur verkannt. Denn dieses „Dogma Stoicorum“, die Beschränkung der aktuellen Wirksamkeit Gottes auf jene Freiräume, welche die naturgesetzliche Eigenbewegung der Welt ihr gestatte, bedeute das Ende eines unmittelbaren göttlichen Einflusses auf die Kreatur und sei nicht besser als die

185 E. Saxer, Vorsehung und Verheißung Gottes, Vier theologische Modelle, Zürich 1980, 43. 186 S.E. Schreiner, The Theatre of His Glory (Anm. 76); R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (Anm. 152), 98ff. 187 S. Schreiner, ebd. 16. 188 Noch heute gibt es Stimmen, die seine Sicht einer doppelten Prädestination auf Seneca und Cicero meinen zurückführen zu können: Egil Grislis, Seneca and Cicero as Possible Sources of John Calvin’s View of Double Predestination, in: J.F. Furcha (Hg), International Calvin Symposion, Montreal 1987, 28–63. 189 Kommentar zu Dan 2,21; CO 40,576.

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„Lehre vom Schicksal (fatum), die man uns ganz fälschlich vorwirft“. Denn, so die vielfach variierte Gegenthese: Wir reden nicht mit den Stoikern von einer Notwendigkeit (necessitas), die aus der ständigen Verflochtenheit der Ursachen (ex perpetuo causarum nexu) kommt und in einer festen Verbindung besteht, wie sie in der Natur enthalten ist. Wir reden vielmehr von Gott, dem Gebieter und Lenker über alles, der in seiner Weisheit von Ewigkeit her festgelegt hat, was er tun will und es jetzt in seiner Macht ausführt. […] Deshalb behaupten wir, dass seine Vorsehung nicht nur Himmel und Erde sowie die unbeseelten Kreaturen, sondern auch Ratschläge und Willensregungen der Menschen regiert, so dass sich alles nach dem von ihm bestimmten Ziele (scopus) richten muss (Inst I,16,8; OS III, 198.24–199.4)

Gegenüber dem Gewicht des Schicksals oder eines unvermeidbaren Determinismus betont Calvin Gottes radikale Überlegenheit und Transzendenz. Damit ist zugleich ein weiteres, damals intensiv diskutiertes Problem aufgerufen, die Rolle der sogenannten Zweitursachen in der göttlichen Vorsehung. Die Existenz dieser causae secundae hat Calvin nie bestritten, ihrer tatsächlichen Rolle im Naturund Geschichtsprozess stand er jedoch ambivalent gegenüber. Denn kann Gott seine Weltregierung mit anderen Mächten teilen? Anders als Zwingli hat er der Eigenwirksamkeit der Kreaturen große Aufmerksamkeit zugewandt: „Es ist schon wahr, dass die einzelnen Gattungen (species) sich aus verborgenem Naturtrieb (naturae instinctu) bewegen, als ob sie einem ewigen Befehl Gottes gehorchten, und als ob alles nun von selbst abliefe, was Gott einmal geordnet hat.“190 Wohl hat Gott sich in seiner Vorsehung tatsächlich an den ordo naturae gebunden, doch er steht ihm – nicht nur grundsätzlich, sondern auch faktisch – frei gegenüber.191 Er bekleidet seine Providenz mit dem Gewand kreatürlicher Ursachen, handelt „bald unter Einschaltung von Mittelursachen (media interposita), bald ohne solche, bald gegen alle Mittelursachen“ (I,17,1), aber er bedarf ihrer nicht, lässt sich von ihnen nicht die Richtung seines Tuns vorschreiben. Doch er setzt sich über die Aktivität seiner Geschöpfe nicht einfach hinweg, sondern inkorporiert sie sozusagen seinem eigenen Tun und bringt sie dadurch zu Ehren. Namentlich die Werke des Menschen sind eines der Instrumente seiner großen Arbeit an und mit der Welt. Weit davon entfernt, dessen Eigenverantwortung unmöglich zu machen, begründet erst die Providenz die volle Ausübung und den verantwortlichen Gebrauch seiner Freiheit. Sie enthebt uns nicht der eigenen Vorsicht. Denn „der unserm Leben seine Grenze 190 Inst I,16,4; OS III 194.13–15. 191 Das spektakulärste Beispiel erblickt Calvin darin, dass Gott die Sonne, die alles Lebendige erhält, erst nach den Pflanzen erschaffen habe (Gen 1,12–14), – damit wir in der Sonne nicht die Hauptursache der Dinge erblicken, sondern lediglich ein Instrument, dessen Gott sich bedienen, das er aber auch übergehen kann. (Inst I,16,2; OS III, 189.16–190.2)

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

gesetzt hat, der hat uns zugleich die Sorge dafür anvertraut, hat uns Verstand und Mittel gegeben, es zu erhalten“. Auch Klugheit – und Torheit! – sind providentielle Mittel seiner Vorsehung.192 Eine nur aus der Polemik Calvins bekannte libertinistische Gruppe, die sogenannten Quintinisten (benannt nach dem Niederländer Quintin van Heinaut, den Calvin in Paris kennen gelernt hatte), vertrat in ähnlicher Weise die Lehre eines universalen göttlichen Geistes bzw. Intellekts, allerdings in der Form, dass er in allem, folglich auch alles, und zwar unterschiedslos Gutes wie Böses wirke, weshalb es keinen freien Willen, keine menschliche Seele, folglich auch keine Sünde geben könne.193 Den kruden Pantheismus dieser Sekte zu erwähnen, ist nur deshalb angezeigt, weil es hier um eine weitere quasi-deterministische Spielart der Vorsehung geht, und weil Calvin gerade in dieser Streitschrift (Kapitel XIV) die Grundsätze seines Entwurfs noch einmal klar erläutert hat: (a) „Es gibt eine allgemeine Handlungsweise, durch welche Gott alle Geschöpfe anleitet entsprechend den Voraussetzungen und Eigenheiten, die er ihnen bei ihrer Erschaffung gab. Diese Führung ist nichts anderes als das was wir die Ordnung der Natur nennen.“ (CO 7,186; CStA 4, 317.39–42). (b) „Die zweite Art, auf welche Gott in seinen Geschöpfen am Werk ist, besteht darin, dass er sie seiner Güte, seiner Gerechtigkeit und seinem Gericht dienen lässt […] Deshalb müssen wir das, wofür die Heiden und Unwissenden das Schicksal verantwortlich machen, vielmehr Gottes Vorsehung zuschreiben.“ (CO 7,187; CStA 4, 319.26–28 und 36–38). (c) „Die dritte Art, wie Gott wirkt, besteht darin, dass er durch den Heiligen Geist in den Gläubigen lebt, herrscht und in dieser Weise über sie gebietet […] Deshalb ist er es auch, der in uns den Willen und die Tat bewirkt (Phil 2,13). Er ist es, der uns erleuchtet, damit wir ihn erkennen […], und er ist es, der uns in seinen Geboten wandeln lässt“(CO 7, 190f.; CStA 4,325.26–28. 36–38 (2) Der Epikureismus. Der philosophische Epikureismus war durch die Veröffentlichung der Schriften von Diogenes Laertius, Cicero (De natura deorum) oder Lukrez im Reformationszeitalter allgegenwärtig. Er erklärte oder, in Calvins Sicht, er erledigte das Problem der Vorsehung durch die „Verjenseitigung“ (Bernhardt) Gottes bzw. der Götter: Mit der Realität der geschaffenen Welt haben sie nichts zu tun. Während Calvin im Kampf mit den Stoikern Gott aus der Umklammerung 192 Inst I,17, 4 ; OS III,207.8–11. 193 Contre la secte phantastique et furieuse des Libertins (1545), Kapitel XI, CO 7, 179–181; CStA 4,303–307, Lit. Ebd. 247.

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natürlicher Ursachen herauslösen musste, ging es jetzt darum, ihn nicht von der Schöpfung zu trennen und das Universum damit der Herrschaft des Zufalls zu überlassen. Auf welche (spätmittelalterlichen) Quellen er dabei zurückgriff, ist bis heute nicht wirklich geklärt. C.B. Partee etwa weist auf den Psalmenkommentar, in dem Calvin Aristoteles als Schulhaupt derer namhaft macht, die Gottes Providenz zu verschleiern versuchen, indem sie den Wandel der Dinge auf sekundäre Ursachen zurückführen194 Ähnlich argumentiert J. Bohatec: Man müsse den schwindenden Einfluss der aristotelischen Tradition (etwa der Identifikation Gottes als prima causa) in Rechnung stellen, um Calvins Position zu verstehen.195 Umso größeres Gewicht gewinnt der Hinweis auf Gottes Allmacht, die er von uns anerkannt wissen will, und zwar, wie es in Inst I,16,3 heißt, „nicht jene leere, müßige und fast schlummernde ‚Allmacht’, die sich die Sophisten ausgedacht haben, sondern eine wachsame, tätige, stets im Handeln begriffene. […] Denn Gott heißt allmächtig, nicht weil er zwar alles vermöchte, aber doch zwischendurch zuweilen ruhte, sondern […] weil er Himmel und Erde mit seiner Vorsehung lenkt und alles so einrichtet, dass nichts ohne seinen Willen geschieht.“196 Hier zeigt sich erneut das voluntative Fundament seiner Theologie, das den zeitgenössischen konkurrierenden Instanzen (Schicksal, Zufall, Glück) keinen Raum lässt und die humanistische Hochschätzung menschlicher Willens- und Handlungsfreiheit in die Schranken weist. Vorsehung heißt Allwirksamkeit Gottes bis hin zu jener seelsorgerlichen Konsequenz, die an das prädestinatianische Argument erinnert: „Wer durch Christi Mund belehrt ist, dass alle Haare unseres Hauptes gezählt sind […], der hält daran fest, dass alles Geschehen durch Gottes verborgenen Ratschluss regiert wird“197 – bis hin zum Fall eines einzelnen Regentropfens. „Das schlimmste Elend“, erklärt Calvin, „ist es, die Vorsehung nicht zu kennen, das höchste Glück aber, von ihr Kenntnis zu haben“.198 3.4.2

Die Außenperspektive: Theologische Grundlegung der Vorsehungslehre

Basis der Vorsehung ist die breit entfaltete Gewissheit, „dass Gott nicht müßig im Himmel betrachtet, was auf der Erde vor sich geht, sondern im Gegenteil gewissermaßen das Ruder hält und so alle Ereignisse lenkt. […] Seine Vorsehung besteht in seinem Wirken (providentiam in actu locari).“199 Das tritt Gott nicht

194 C.B. Partee, Calvin and Classical Philosophy (Anm. 176), 99 im Blick auf Ps 107,43. 195 J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre (Anm. 79), 344ff. 196 Inst I,16,3; OS III, 190. 14–24. Nicht anders hat auch Luther in „De servo arbitrio“, WA 18,738, argumentiert. 197 Inst I,16,2; OS III, 189.8–11. 198 Inst I,17,11; OS III, 216.28–30. 199 Inst I,16,4, OS III, 192.20f.

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

an den blinden Lauf der Natur ab. Dabei ist das biblische Fundament der Vorsehungslehre denkbar schmal. Im Umkreis der Schöpfungsberichte sucht man einen entsprechenden Begriff vergeblich. In den Texten der Genesis erscheint die Welt vielmehr als ein stabiler, auf Dauer gestellter Ordnungszusammenhang, sodass sich die Frage nach einem Garanten ihres Fortbestandes erübrigt. Erst im Spiegel der Hiobdialoge wird uns die Erde als ein tödlich bedrohtes, einsturzgefährdetes Gebäude vor Augen geführt. Sie wird zu einem Ort umstrittener Deutungen. In dieser Situation bricht die Frage nach einem einsichtigen Plan auf, der Licht in das Zwielicht von Anschuldigung und Verteidigung Gottes bringen soll: „Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Wissen?“ (Hi 38,2). Das ist die Frage, die Calvin in seinen Predigten über dieses Buch, einer der wichtigsten Quellen seiner Providenzaussagen, umkreist200 , wobei bemerkenswert ist, dass sie überhaupt gestellt werden kann und zwar als Vorwurf, die Welt, in der ein Geschick wie das Hiobs möglich ist, entbehre eines sinnvollen Planes, sei lebensfeindlich und ungerecht. Gefragt wird hier nach Vorhaben und Ausführung, nach Gottes Wollen und Handeln mit der Schöpfung und damit nach Sinn und Funktion der von ihm erstellten Welt. Das philosophische Argument tritt demgegenüber deutlich in den Hintergrund. Doch die Antwort ist nicht immer so eindeutig, wie die Systematik des calvinischen Entwurfs vermuten lässt. Erst in der letzten Ausgabe der Institutio (1559) findet sich der Hinweis auf Gen 22,8: Deus providebit; Gott wird für uns Sorge tragen. Dazu die Erläuterung: Vorsehung bedeutet also nicht, dass Gott müßig im Himmel betrachtete, was auf Erden vor sich geht, sondern im Gegenteil, dass er gewissermaßen das Ruder hält und also alle Ereignisse lenkt. Sie bezieht sich auf die Hand Gottes nicht weniger als auf sein Auge […] Daraus folgt, dass die Vorsehung Gottes in seinem Wirken besteht.201

Calvin führt eine breite Fülle biblischer Szenen und Texte an, um den Gebrauch des unbiblischen Wortes „providentia“ inhaltlich zu rechtfertigen und zu präzisieren. Der aus antiken Quellen stammende Begriff wird hier zum Interpretament, etwa wenn wir lesen: Gott vereitelt den Rat des Ahitophel, der David hätte gefährlich werden können (2Sam 17,7). Insbesondere wird der 104 Psalm nachgerade zu einer Fundgrube didaktischer Belege. Nicht weniger als elfmal erinnert Calvin in seinem Kommentar an die providentielle Gegenwart Gottes:

200 Dazu: S.E. Schreiner, “Through a Mirror Dimly“ (Anm. 76), 175–193, die den wiederholt zitierten Vers 1Kor 13,12 (CO 33, 105f, 273, 586 u.ö) als heuristischen Schlüssel des Hiob-Buches herausarbeitet. 201 Inst I, 16,4; OS III, 192.13–15 und 20f.

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Dass alles in der Welt Bestand hat, liegt an Gottes Hand, die es aufrecht erhält (V.5); die Gewässer müssten die Erde überfluten, wenn Gottes Vorsehung sie nicht in Schranken hielte (V.8); zum Lob seiner Vorsehung hat Gott den Lauf von Sonne und Mond so geordnet, dass ihr wechselseitiger Zyklus aufs Beste aufeinander abgestimmt ist (V.19) Auch die Seefahrt hängt ganz und gar von Gottes Providenz ab, die den Menschen das Überqueren der Wasser gestattet hat (V.26).202

Hier wird ein wichtiger Gegensatz zur Stoa deutlich: Der Vorsehungsglaube schließt nicht von der Welterfahrung auf Gott (der sich empirisch ja gar nicht zur Evidenz bringen lässt), sondern nimmt umgekehrt das Bekenntnis zu Gott als Schlüssel für die Interpretation der Welterfahrung in Anspruch. Und darin liegt zugleich beschlossen: Gottes Vorsehung verfolgt ein Ziel (finis), des Menschen Heil (salus) und – darin inbegriffen – die Durchsetzung seiner eigenen Ehre. Dieser teleologischen Ausrichtung entsprechen zwei bedeutsame methodische Weichenstellungen, die den erheblichen Abstand zur (philosophischen) Tradition sichtbar machen: 1. Die vorwiegend naturphilosophische Argumentation wird durch eine konsequent biblische Begründung ersetzt. Wir müssen uns durch „Christi Mund“ (I,16,2) belehren lassen, wenn wir Worte wie Gottes „Allwirksamkeit“ und „Allmacht“ verstehen und ihren Sachgehalt in seiner Vollkommenheit erkennen wollen. 2. Das allgemeine Welthandeln Gottes wird namentlich in Inst (1559) der besonderen „begleitenden“ Fürsorge Gottes für die Kirche untergeordnet. So erweist sich das Verständnis der providentia specialis geradezu als der Schlüssel für das Verständnis der providentia universalis im Bereich des göttlichen Welthandelns. Damit ergibt sich folgender Aufriss des dreifach gegliederten Lehrgebäudes. Die drei Bereiche der allgemeinen, besonderen und speziellen Vorsehung verhalten sich zueinander wie drei teleologisch aufeinander abgestimmte konzentrische Kreise des göttlichen Handelns: der Kosmos als äußerster, die Geschichte der Kreatur als mittlerer und die Sorge für die Glaubenden als innerster Bereich. Diesen Regionen wiederum entspricht eine dreifach verschiedene Handlungsweise Gottes: im Kosmos seine ordnende, im Raum der Geschichte seine regierende und im Blick auf die Glaubenden seine rechtfertigende und heilende Tätigkeit. Eine Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Tätigkeit ist damit allerdings nicht intendiert. (1) Providentia generalis/universalis. Anders als bei Melanchthon steht hier nicht die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit einer göttlichen Vorsehung in Vordergrund, sondern die Entfaltung der unanfechtbaren Gewissheit jener „allmächtigen und überall gegenwärtigen Kraft Gottes“203 , die es eigentlich nur aufzuzeigen und

202 Psalmenkommentar zu Ps 104, CO 32, 84ff; CStA 6, 279–315. 203 Heidelberger Katechismus (1563), Frage 27, BSRK 689. 31.

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sichtbar zu machen gilt. Dementsprechend nimmt das deskriptive Element hier einen ungewöhnlich breiten Raum ein: In der Auslegung des 104. Psalms wird der Leser, wie erwähnt, nicht weniger als elfmal auf die Zeugnisse der Providenz hingewiesen. Damit verlagert sich zugleich das Hauptinteresse auf den seelsorgerlichen Aspekt: Gott vermag „unerschöpflich wohlzutun, da er ja Himmel und Erde im Besitz hat und alle Geschöpfe auf seinen Wink schauen, um ihm Gehorsam zu leisten (I,16,3). Die Gewissheit, dass man allem Augenschein zuwider „in seinem Schutz sicher ruhen kann“ (ebd.)204 ist der cantus firmus, über dem sich die mitunter sehr subtilen Erörterungen erheben. Denn Gott ist erst dort als Gott begriffen, wo er sich im Gegensatz zu Epikurs Deismus und der unbetreffbaren Jenseitigkeit seiner „Götter“ durch seine „wachsame, tätige und wirksame“ Beziehung zur Welt tatsächlich als Gott erweist. Umgekehrt kann auch die Welt erst dann als Schöpfung Gottes angesprochen werden, wenn sie ihrerseits in jedem Augenblick ihres zeitlichen Daseins auf die belebende Kraft der göttlichen Providenz bezogen bleibt. Denn „sie ist nicht ein für allemal von Gott geschaffen worden, damit er sich später von seinem Werk zurückziehen könnte, sondern durch seine Kraft hat sie Bestand, und der einstmals ihr Schöpfer war, ist [jetzt] ihr ständiger Steuermann (gubernator)“. (2) Providentia specialis/singularis. Hier geht es um das spezifische Werk Gottes an einem einzelnen individuellen Geschöpf, sei es der Mensch oder auch ein einzelner Regentropfen. Die Vorsehung zeigt sich gerade hier als eine tätige, im Handeln begriffene Macht, die alles ordnet und zu ihrem Ziel lenkt. Darin entspricht sie dem „bestimmten und wohlüberlegten“ Willen Gottes, der weiß worauf er hinaus will: Schlechthin alles soll uns „zum Guten und zum Heil“ ausschlagen (I,17,6). Anders als der „absolute Wille“ eines Occam darf Gottes Macht daher nicht von seiner Gerechtigkeit getrennt werden205 , ist sie doch der umfassende Garant der in seiner Sorge uns zugewandten göttlichen Gegenwart: Nichts widerfährt uns ohne seine Anordnung (ordinatio) oder seinen Befehl (mandatum). Dass wir uns im Raum der Schöpfung nicht in der Fremde, sondern sozusagen „unter Gottes eigener Hand“ bewegen206 , das ist die Gewissheit, um die es Calvin hier geht: „Gottes besondere Vorsehung ist auf der Wacht, uns zu erhalten“ (I,17,6). (3) Providentia specialissima. Die Aussagen über die Kirche als Gegenstand der besonderen Fürsorge Gottes hat Calvin erst in der letzten Ausgabe (1559) hinzugefügt.207 In früheren Fassungen war nur von einzelnen Glaubenden die Rede. Doch bereits in einer Predigt aus dem Jahr 1553 ist der neue Akzent deutlich zu erkennen:

204 Hier sind die Predigten über das Buch Hiob zu vergleichen, (CO 33, bes. 371f), die den scheinbaren Widerspruch zur alltäglichen Erfahrung scharf artikulieren. Vgl. hierzu: Kapitel 1.3. 205 Ist I, 17,2; OS III.205. 14–17. 206 Inst I, 16,3; OS III 190.30. 207 Inst I,17,1 bes. 6; OS III, 210.10–13.

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Weil nun aber unser Herr Jesus Christus der Herr der Kirche ist und alles in seiner Hand hat, andererseits aber von Gott, seinem Vater, zum Herrn und Meister über alle Kreaturen eingesetzt ist, darum sind auch wir, die wir seine Glieder sind, die rechtmäßigen Besitzer aller Güter Gottes. Und darum zielt die Vorsehung, die sich auf die ganze Welt erstreckt, in Wahrheit auf uns. […] Wenn wir die Naturordnung ansehen, so sollen wir dabei bedenken, wie Gott sich als Vater seiner Kirche erweist und ganz besonders auf uns sein Auge wirft.208

Die Kirche ist „die eigentliche Werkstatt, in der Gott seine Vorsehung ausübt.“209 Ihre Leitung ist sozusagen der Testfall auf die umstrittene Wahrheit der Providenz. Im Innenraum der Gemeinde hat sie ihren „Sitz im Leben“. Hier ist der Ort, an dem ihr Ziel zeichenhaft sichtbar wird. Hier werden die Linien auch der providentia generalis inhaltlich auf eine neue Bestimmung hin überschritten. Während das Äußerste, was sich bisher im Rahmen der allgemeinen Vorsehung sagen ließ, die Auszeichnung der Kreatur als Werkzeug (instrument)Gottes ist, wird die Schöpfung jetzt in das Licht der Erwählung gerückt. Ihr Ziel hat die reformierte Theologie daher als Verherrlichung Gottes durch seine Erwählten beschrieben. Deshalb stößt die Institutio von 1559 – das unterscheidet sie von den früheren Fassungen – erst mit ihren Aussagen über die Kirche in das innerste Zentrum der Providenzlehre vor.210 Diese kirchliche Verortung findet ihren konkreten Ausdruck darin, dass der Vorsehungsglaube im Gebet, der beständigen Anrufung Gottes (continua invocatio) zu seinem Ziel kommt. Schleiermacher und Barth sind Calvin darin gefolgt. Denn im Gebet betreten wir sozusagen den Raum der Anwesenheit Gottes. Das erst macht uns – nun nicht länger als Beobachter, sondern als beteiligte Zeugen – zu Mitwissern dessen, dass das Weltgeschehen nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern von Gottes Fürsorge begleitet wird. Gilt schon für jedes Gebet, in dem Gottes Name angerufen wird, dass wir „damit zugleich auch die Gegenwart seiner Vorsehung herbeirufen“211 , so insbesondere für das Unser-Vater, das Calvin als eine Einladung der „Freundlichkeit und Güte“ Gottes versteht. Seine Auslegung bewegt sich weithin in Sprache und Bildern der Providenz: Vertraut sich der Christ mit der Bitte um das tägliche Brot schon in den geringsten Dingen der Fürsorge Gottes an212 , so umkreisen die zweite und sechste Bitte

208 Predigt zu Ps 147, 12–20; zit.n. E.Mühlhaupt (Hg), Der Psalter auf der Kanzel Calvins. Bisher unbekannte Psalmenpredigten Calvins, Neukirchen 1959 (98–108), 103. 209 De aeterna. Dei praedestinatione, CO 8,349. 210 Als wichtigster Gesichtspunkt wird jetzt in Inst I,17,1 die Sorge für das ganze Menschengeschlecht, u. zw. insbesondere in Gestalt der Regierung der Kirche (praecipue vero in regenda Ecclesia) herausgestellt (OS III, 202.12–14). 211 Inst III, 20,2; OS IV, 298.5f. 212 Ebd. 20, 44; OS IV, 356. 23.

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

(Reich Gottes, Versuchung) den weitesten Horizont der Vorsehungslehre, Gottes Auseinandersetzung mit dem Bösen und schließlich das Thema des Leidens (III, 20,42 und 46). Was sich in diesen drei durchmusterten Bereichen der göttlichen Wirksamkeit zeigt, ist das Außenbild der Vorsehung, so wie es gewissermaßen in der Vogelperspektive erscheint. Man kann seinem Anspruch nach von einem theologischen Modell der Weltbeschreibung bzw. -erklärung sprechen. Der Grund dafür mag darin liegen, dass Calvin der Vorsehung systematisch einen höheren Rang einräumt als dem Werk der Schöpfung. Es ist doch „die weit größere Tat, alles Erschaffene zu behüten und in seinem Bestand zu erhalten, als es einmal geschaffen zu haben“, argumentiert der Genfer Katechismus (1545).213 Und doch ist mit dem hier unvermeidlichen Rückgriff auf den geheimen Ratschluss Gottes ein schweres Problem in die Fundamente dieses Entwurfs eingeschrieben. Denn dieser Ratschluss wirkt unfehlbar. Er setzt sich in souveräner Freiheit über jede Bedingung hinweg, an die ihn die Ordnung der Natur oder die Kette kreatürlicher Zweitursachen (wozu ja auch die menschliche Freiheit gehört), binden könnte, ist Ausdruck einer letzten Überlegenheit, dem sich alles Weltgeschehen mit Notwendigkeit ein- und unterordnen muss. Das gibt dem Providenzbegriff einen weltüberlegenen, ja deterministischen Zug. Man kann darauf zählen, dass kein Sturm aufkommt und losbricht, dass „nicht ein Regentropfen herniederfällt“ ohne Gottes besonderen Befehl. „Alles Weltgeschehen fände von dorther seine Erklärung, wenn Gott sie nur geben wollte – aber es gehört zu seinem Wesen, dass er sie eben nicht gibt“, fasst Ernst Saxer die Schwierigkeiten dieses Entwurfs zusammen.214 So bleibt ein erkennbarer Zwiespalt zwischen dem Vorsehungsglauben, der sich zu Gottes Führung bekennt, und der Vorsehungslehre, die auf ein geschlossenes Bild des göttlichen Handelns drängt. 3.4.3

Die Innenperspektive: Vorsehung als Werk des Geistes

Bleibt man bei dem Außenbild stehen – hier der ferne Gott und sein uns entzogener Ratschluss, dort die nach seinem Wink sich bewegende Welt – dann bekommt man nur die Hälfte dessen zu sehen, was Calvin tatsächlich sagen und sichtbar machen will. Es fehlt die Sicht auf unseren eigenen Ort in diesem Geschehen. Denn wenn wir – glaubend – die Wirklichkeit unter Gottes Handeln wahrnehmen, dann lokalisieren wir uns in einem anderen Raum, einem anderen Wirklichkeitszusammenhang als der Nicht-Glaube es tut. Wir lassen uns anders in die Welt einweisen als der Agnostiker. Die Welt wird uns als Raum von Gottes Gegenwart transpa-

213 Frage 27, CO 5,17; CStA 2, 23. 12–14. 214 E. Saxer, Vorsehung (Anm. 185), 46.

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rent.215 Damit öffnet sich der Blick auf die Innenperspektive. Denn fragt man, wie sich unsere Teilnahme am Weltgeschehen realisiert, so trifft man im Zentrum der Vorsehungslehre auf die fundamentale Rolle des Heiligen Geistes, der als Gottes „Hand“ dessen verborgene Ratschlüsse ausführt. „Was in der Welt geschieht, kann man mit vollem Recht Gottes Geist zuschreiben.“216 Er ist es, der uns diese Perspektive eröffnet. Calvin führt ihn als effector providentiae ein, als den, der als „Gottes Hand“ die verborgenen Ratschlüsse ausführt und das geheime Wirken des Vaters und des Sohnes zum Ziel bringt. Wie eng Calvin die Vorsehung an die inspirierende Kraft des Geistes gebunden hat, zeigt sich am deutlichsten daran dass das Einteilungsprinzip der Providenzlehre denselben Gesichtspunkten folgt, nach denen sich das „vielfache Wirken“ des Geistes gliedert: So wie der Heilige Geist universal in der Erhaltung aller Kreaturen, auf besondere Weise im Menschen und wiederum speziell in den Erwählten sein Werk ausrichtet, so ist die Vorsehung „an erster Stelle ein allgemeines Weltregiment, durch das alles erwärmt und belebt wird, […] sodann die besondere Sorge um das Menschengeschlecht […] und zuletzt das väterliche Walten, mit dem Gott seine Kirche beschützt“.217 Denn was tut dieser Geist? Er bewegt keine Materie, heilt keine Wunden, schlägt keine Schlachten, sondern wirkt auf eine sehr unspektakuläre stille Weise, indem er uns überredet, uns neue alternative Möglichkeiten anbietet, wie es in unseren Tagen Alfred North Whitehead in seiner Kosmologie sogar für die kleinsten Entitäten des Universums voraussetzt.218 Seine lebenschaffenden und -erhaltenden Kräfte kann Calvin sogar dem erhöhten Christus selbst zuschreiben.219 In Aufnahme der Arbeiten Werner Krusches hat Reinhold Bernhardt die Pneumatologie daher als die „theologische Matrix“ der calvinischen Vorsehungslehre bezeichnet und ihr eine „eschatologische Ausrichtung“ bescheinigt220 , denn ihr Fluchtpunkt ist die Zielbestimmung aller Kreatur, Gott zu verherrlichen. Hier werden Gott und die Welt nicht einander gegenübergestellt und dann aufeinander bezogen, sondern der Psalmist nimmt Gott als sein „Du“ in direkter Anrede wahr: „Herr, wie sind deine Werke und Wunder so groß und viel!“ (Ps 204,24) Die Welt wird als Raum von Gottes Gegenwart transparent. Der Geist erschließt ihm die 215 216 217 218

Dazu vgl. J. Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 19–22. Prael. Sach 6,5; CO 44, 206; dazu: W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes (Anm. 27), 13ff. De aeterna. Dei praedestinatione, CO 8, 347. In seinem philosophischen Hauptwerk “Process and Reality (1929) entfaltet Whitehead die These: Wirklichkeit besteht nicht aus Dingen, sondern manifestiert sich als Prozess. Zum Prozess aber gehört das Werden, das angestoßen wird durch Gott, den Inbegriff der Möglichkeiten, der jedes noch so kleine Geschehnis (actuel entity) zu der Existenzweise überredet (persuasion), die am besten für es wäre. 219 Kom. zu Joh 1,1: „ … eius (filii Dei) virtute creata fuerint omnia [...] solus creaturis omnibus vitam et vigorem inspiret, ut in statu suo maneant“, CO 47. 5. 220 R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gottes“? (Anm. 152), 92.

Vorsehung zwischen Natur und Geschichte

Welt in ihrer Vertrauenswürdigkeit, so dass er in ihrer Ordnung und Schönheit Gott gleichsam unmittelbar wahrnehmen und seiner Ordnung stiftenden Gegenwart ansichtig werden kann. Was sich in diesem „Anwesenheitsraum“ (J. Fischer) zeigt, das interpretiert Calvin als Vorsehung. Man versteht ihn also erst dann, wenn man sieht, dass er nicht nur als neutraler Zuschauer des Weltlaufs doziert, sondern sich selbst und seine Adressaten in diesen vom Geist erschlossenen Gegenwartsraum einbezogen weiß. Das ist gerade aus jenem biblischen Zusammenhang zu lernen, den man oft zum Beweis des Gegenteils heranzieht: So behauptet Jesus, nicht einmal der geringste Sperling falle zur Erde ohne den Willen des Vaters (Mt 10,29). Wird hier nicht eine schlechthin unfehlbare, geradezu deterministisch wirkende Providenz behauptet? Calvin jedoch gibt „hierzu sofort die Anwendung: Da wir ja mehr [wert] sind als Sperlinge, sollen wir uns auch umso mehr der besonderen Fürsorge Gottes versichert wissen.“221 Er postuliert kein neutrales Gesetz, rekurriert nicht auf eine unfehlbare Schöpfungs- oder Erhaltungsordnung, sondern argumentiert aus dem Innenraum der Gemeinde, die „in“ der Gegenwart Gottes lebt, die weiß, dass er sich zu ihr bekennt, und macht diesen Innenraum nun auch als Raum der Kreaturwelt geltend. Dieselbe Argumentationsfigur findet sich in Calvins Auslegung der von jeher klassischen Providenzerzählung, dem Dramas von Joseph und seinen Brüdern. „Wäre Joseph dabei stehen geblieben, sich die Treulosigkeit seiner Brüder vor Augen zu stellen [das wäre die Außenperspektive], so hätte er ihnen gegenüber nie mehr eine brüderliche Gesinnung gewinnen können. Aber er schaute auf den Herrn, vergaß das Unrecht […], tröstete seine Brüder und sagte: […] Gott hat mich vor euch her gesandt damit ich euch das Leben erhielte.“222 Er rechnete mit anderen Koeffizienten der Geschichte als der neutrale Historiker, eben weil er sich selbst und seine ihm zugefallene Rolle im Anwesenheitsraum Gottes verortete. „Sind nicht auch Torheit und Klugheit“, fragt Calvin, „Werkzeuge der göttlichen Leitung?“ Sogar Diebe und Mörder kann er in den Dienst der Providenz stellen. „Gott bekleidet sie gewissermaßen mit den dazu angewandten Mitteln.“223

Was also geschieht in diesem „Innenraum“? Wenn Paulus in seinem großen Traktat über den Geist erklärt, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken“ (Röm 8,28), dann stellt er das „Eintreffen“ und „Zum-Ziel-Kommen“ der Vorsehung, d. h. ihren verbindlichen Anspruch, unter das Vorzeichen, man muss fast sagen: unter die Bedingung einer zuvor schon bestehenden Beziehung. Er setzt

221 Inst I, 17,6; OS III, 210. 5–7. 222 Inst I, 17,8; OS III, 211. 13–19. 223 Inst I, 17,4; OS III, 207. 30f und 36.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

als Subjekt dieser Gewissheit Menschen voraus, die Gott lieben. Diese Zusammengehörigkeit wird hier in Anspruch genommen als ein Verhältnis, ein vom Geist erzeugtes „Kraftfeld“, in welchem sich die von Gottes Vorsehung erreichten Frauen und Männer immer schon vorfinden und auf das hin sie ihre Aufgaben und Pläne neu ordnen. So verstanden hat Calvins Providenztraktat seine innere Mitte in der Fürsorge Gottes für die Kirche. Ihren konkreten Ausdruck findet diese Verortung darin, dass der Vorsehungsglaube im Gebet, der beständigen Anrufung Gottes (in continua Dei invocatione), zu seinem Ziel kommt. So bewegt sich insbesondere Calvins Auslegung des Vater-unser weithin in Sprache und Bildern der Providenz.224 Denn wer betet, nimmt Gottes Präsenz für sich selbst in Anspruch. Er tritt als Glied der christlichen Gemeinde vor Gott und steht als solcher stellvertretend für die ganze Schöpfung. So wird die Vorsehung – hier liegt die bedeutsame Leistung des calvinischen Entwurfs – zugleich als die Brücke sichtbar, die den Weltlauf von einer besonderen „Heilsgeschichte“ umgriffen sieht.

3.5

Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung

Im Begriff der Anthropologie kommt der Mensch zweimal vor, als Objekt und als Subjekt Er ist ihr Gegenstand und zugleich sein eigener Betrachter. Als Subjekt entwirft er kraft des „Logos“ (für den heute die Humanwissenschaften stehen) die Perspektive, in der er sich selbst in seinen Möglichkeiten und Grenzen anschaubar wird. Denn wer die Anthropologie eines Autors verstehen will, muss die ihn leitende Perspektive kennen. Sie entspringt niemals einem willkürlichen Einfall, sondern ist geprägt durch die Geschichte, aus der er kommt und in der er steht. Sie ist Ausdruck der Art und Weise, wie er seine geschichtliche Existenz realisiert und lebt. Als Objekt ist der Mensch Gegenstand der biblischen Schöpfungsgeschichte; er erscheint in der Perspektive Gottes als dessen Bild und ist als solcher Thema des Ersten Buches der Institutio (I,15). Als Subjekt erscheint er in seiner Selbstwahrnehmung als erlösungsbedürftiger, seinem ursprünglichen Entwurf entfremdeter, des freien Willens und der Fähigkeit zum Guten beraubter Mensch und ist als solcher Thema des Zweiten Buches (II,1–3). Das zentrale Thema einer theologischen Anthropologie ist seit der Alten Kirche die im Schöpfungsbericht der Genesis (1,26) ausgesprochene Bestimmung des Menschen als bzw. zum „Bild Gottes“ – eine Auszeichnung, hinter der er in seinem gegenwärtigen Zustand weit zurückbleibt. Dabei teilt Calvin mit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts eine Voraussetzung, von der sich die Theologie seit der

224 Inst I, 17,9; OS III, 214. 8; auch Inst III, 20,44 und 46; OS V, 356f und 361ff. Dazu ausführlich: Chr. Link, Schöpfung, HST 7/1,Gütersloh 1991, 167f.

Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung

Aufklärung getrennt hat, die Annahme, es habe vor dem Datum des „Sündenfalls“ eine Epoche gegeben, den sogenannten Urstand, in dem er, der Mensch, in einem spannungslosen Einklang mit Gott gelebt habe. Dieses [mythologische] Bild eines „heilen“ Anfangs hat die Forschung des 19.Jahrhunderts (Schleiermacher, Ritschl) unwiderruflich zerstört. Alle, auch theologischen Aussagen über den Menschen müssen mit dem Eingeständnis beginnen, dass wir mit dem ersten Schritt in die Geschichte aus dem Modell des göttlichen Ursprungs herausgefallen sind (II,1,3)225 Uns sind von der Ausstattung des Schöpfers nur noch Reste, „verunstaltete Trümmer“ geblieben. Diese Einsicht kann indessen nicht im Blick zurück, auf den uns gänzlich entzogenen Anfang, gewonnen und ausgesprochen werden, sondern – hier hat Calvin die Weichen neu gestellt – nur mit einer Wendung nach vorn, hin zu dem uns verheißenen zukünftigen Leben: Wir können gar nicht an unseren Ursprung denken oder erwägen, wozu wir geschaffen sind, ohne zugleich zum Verlangen nach der Unsterblichkeit und zum Trachten nach dem Reich Gottes gereizt zu werden.226

So steht am Anfang jeder Besinnung auf unseren gegenwärtigen Zustand eine Erfahrung, die „durch unser jammervolles Los und unser Seufzen nach jener verlorenen Würde“ (II,1,3) wachgehalten wird und die uns zugleich über die Gegenwart hinaustreibt: die von Augustin so eindrücklich beschriebene Erfahrung der Fremdlingschaft: „In der Wanderschaft unseres Lebens sollen wir nichts anderes bedenken als dies, dass wir nicht immer hier sein werden.“227 Sie hat ihren bekanntesten Ausdruck in dem viel diskutierten Abschnitt über die Meditatio futurae vitae gefunden, die als eine Art Leitmotiv Calvins anthropologische Überlegungen flankiert. „Ich bin überzeugt“, schreibt er in seiner Auslegung von Ps 8,6, „dass der Psalmist [hier] jene herrlichen Gaben zur Sprache bringt, die deutlich zu erkennen geben, dass die Menschen nach dem Bild Gottes geformt und zur Hoffnung auf das unsterbliche, selige Leben geschaffen sind.“228 Was der erste Anfang verheißen hatte, ist jetzt (wie das Paradies von Gen 2) zum Ziel unserer Lebensreise geworden. Calvin blickt voraus auf das kommende, zeitlich noch ausstehende Reich Gottes. Das gibt seiner Anthropologie einen eschatologischen Akzent, und dieser Ausblick – das ist die vom Trend der gegenwärtigen Forschung abweichende These, die ich im Folgenden

225 226 227 228

Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf die Institutio (1559), hier: OS III, 230.36. Inst III, 1,3; OS 230. 31–34. Augustin, In Joh. Ev. Tractatus 32,9; Vgl. Inst III,9,2; OS IV, 172. 6–11. Psalmenkommentar CO 31,92; CStA 6, 67.1–4 (zu Ps 8,6).

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

erläutern will229 – bestimmt ganz unabhängig von humanistischen Einflüssen, die man nicht zu bestreiten braucht230 , die Perspektive, die seine Ausführungen prägt und sie als einen kohärenten Entwurf verstehbar macht. Ein solcher einheitlicher Blickpunkt bestimmt bereits seine Schöpfungstheologie im ganzen, in deren Rahmen die Anthropologie eingebettet ist. So intensiv sich Calvin als Exeget mit der Auslegung des Sechstagewerkes oder den Problemen der Kosmologie befasst hat: die Frage nach dem Zweck und Ziel der geschaffenen Welt bleibt der bestimmende theologische Aspekt. François Wendel hat von einem ausgeprägten „Finalismus“ vor allem in den Predigten Calvins gesprochen231 , und dieser Grundzug tritt insbesondere in der Anthropologie unübersehbar zu Tage. Absicht und Ziel der Schöpfung leuchten im Menschen, dem „Meisterstück“ unter Gottes Werken, in exemplarischer Helligkeit auf. Calvin benutzt das in der Renaissance geläufige Bild des ‚Mikrokosmos’: „Wozu Gottes Werke letztlich bestimmt sind und zu welchem Zweck (finis) wir sie betrachten sollen, das werden wir erst dann verstehen, wenn wir […] zusehen, auf wie vielerlei Weise der Herr in uns sein Leben, seine Weisheit und seine Kraft zur Geltung bringt“232 Mitten in unserem eigenen Leben werden wir auf ein Ziel außerhalb unserer selbst verwiesen. Damit ist die Grenze zur Philosophie klar gezogen. Während Platon die Frage nach der Bestimmung der Welt und des Menschen im erinnernden Rückblick auf deren ewigen Ursprung beantwortet, blickt Calvin nach vorn in eine sich steigernde Fülle.233 Nicht nur sind die gegenwärtig erfahrbaren „Zeichen der Güte und Strenge Gottes lediglich Beginn und Anfang von größeren“, deren volle Enthüllung „einem anderen Leben vorbehalten ist“ (I,5,10), es gibt auch ein „Wachstum, mit dem Gott die Ordnung der Natur bis zu ihrem Scheitelpunkt hin beständig weiterführt“234 , wenn auch die Vollendung selbst einer anderen Logik (ratio) gehorcht. Steht die Anthropologie in diesem Horizont, dann darf man erwarten, dass sich ihre Aussagen am ehesten von dem hier anvisierten Ziel her entschlüsseln lassen.

229 Vgl. Chr. Link, Die Finalität des Menschen. Zur Perspektive der Anthropologie Calvins, in: H. Selderhuis (Hg.), Calvinus Praeceptor Ecclesiae. Papers of the International Congress on Calvin Research, 2002, Genève 2004, 159–178. 230 Vgl. dazu die älteren Arbeiten: M. Schulze, Meditatio futurae vitae. Ihr Begriff und ihre herrschende Stellung im System Calvins, Leipzig 1901, sowie J. Bohatec, Budé und Calvin. Studien zur Gedankenwelt des französischen Frühhumanismus, Granz 1950, bes. 418ff, sowie Teil II B, 6. 231 F. Wendel, Calvin. (Anm. 81), 146. Vgl. Inst I, 5,10; OS III, 54. 1–3, 226 Ebd. 54. 25–28. 232 Ebd. 54. 25–28. 233 Zur Platon-Kritik Calvins s. S. Schreiner, The Theater of His Glory (Anm. 24), 66. 234 Inst III, 25,11; OS V,455. 18f.

Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung

3.5.1

Der zielbezogene Mensch

„Unbestreitbar“, erklärt Calvin, „ist der Mensch zum Trachten nach dem himmlischen Leben geschaffen“.235 Nur von diesem Ziel her lässt er sich begreifen. Was ihm an Gaben mit seiner Erschaffung verliehen ist, kommt daher keinen Augenblick als ein neutraler Bestand in Frage, der in sich selbst sinnvoll wäre, sondern ist von vornherein teleologisch ausgerichtet. Dem qualis seiner natürlichen Ausstattung korrespondiert ein quorsum, ein wohin?, wozu?, zu welchem Zweck? Hier gilt die hermeneutische Regel: „Was in der Erneuerung der imago an erster Stelle steht, das muss auch in der Schöpfung selbst den höchsten Rang gehabt haben.“236 Dementsprechend erschließt sich die Besonderheit der menschlichen Konstitution, ihre Auszeichnung durch Verstand und Willen, nicht schon in der Blickrichtung nach unten, aus dem Kontrast zum Tierreich, auch nicht, wie es augustinischer Tradition entspräche, durch die Reflexion auf die Fähigkeiten der eigenen Seele. Es ist immer schon aufgefallen, wie schnell Calvin im Genesiskommentar und in der Institutio „den Blick auf das ursprüngliche Bild des Ersterschaffenen aufgibt und ihn hinwendet zu dem wieder hergestellten Ebenbild Gottes im Menschen“.237 Erst die Erneuerung, auf die wir zugehen, erschließt uns den ersten Anfang.238 Das Bild des Anfangs empfängt von der Endvollendung her sein Licht. Theologische Anthropologie hat den neuen Menschen und das von ihm selbst nicht zu bewirkende neue Sein zu ihrem Thema und Gegenstand. Wenn also Calvin in seiner Antwort auf die Katechismus-Frage, was das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens sei, den Menschen als Erkennenden, und zwar als zur Gotteserkenntnis Berufenen beschreibt, („c’est de cognoistre Dieu“)239 , dann gibt er damit zu verstehen, dass das Ziel, auf das er sich hinbewegt, gewissermaßen vom Ende und vom Anfang her in seinen Lebensvollzug selbst eingeschrieben ist. Denn als Ziel liegt es beide Mal außerhalb von uns. Es lässt sich überhaupt nur von dem in jeder Hinsicht uns überlegenen Gott her namhaft machen, und so liegt in unserer Bestimmung zur Gottes- und Selbsterkenntnis zugleich beschlossen, dass wir uns selbst entzogen sind. Nur von dem externen Ziel, nur von außen her kommen wir zu uns selbst.

235 Inst I, 15,6: „absque controversia ad caelestis vitae meditationem conditus fuit homo“, OS III, 183.2f. In einer sachlich parallelen Wendung heißt es, dass „Gott uns zu seinem Bild geschaffen hat, um unsere Seele […] zum Trachten nach dem ewigen Leben zu erwecken (II, 1,1; OS III, 228.29). 236 Inst I, 15,4; OS III, 179. 28–30. So heißt es bereits im Kommentar zu Gen 1,26: „Aus der Erneuerung (reparatio) muss man schließen (iudicare), von welcher Art (das Bild Gottes) gewesen ist“, CO 23, 26. 237 W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes (Anm. 27), 45. 238 „Regeneratio spiritualis nihil aliud est quam eiusdem imaginis instauratio“, Komm. zu Gen 1,26; CO 23, 26.; vgl. die Predigt zu Hiob 14,16ff, CO 33,694. 239 Genfer Katechismus (1542), in: W. Niesel (Hg), Bekenntnisschriften, Zürich 1985, 3. 20.

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Eine Definition des Menschen hat Calvin daher an keiner Stelle gegeben und nach allem bisher Gesagten auch schwerlich geben können. Was man aber nicht definieren kann, davon gibt es auch keinen Begriff. Das macht die eigentümliche Schwierigkeit aus, eine Anthropologie Calvins zu rekonstruieren, eine Schwierigkeit, über die sich die Forschung noch kaum Rechenschaft gegeben hat. Wir kennen die Perspektive, unter der Calvin „den“ Menschen zu Gesicht bekommt. Es scheint aber unmöglich zu sein, das, was er dort sieht in Begriffe zu fassen, ohne es zu verfehlen. Er spricht von den Fähigkeiten bzw. der Wirksamkeit (actio) der Seele, vom Gebrauch (usus) des Verstandes (I, 15,8) oder von der Aufgabe (officium) des Willens (I, 16,7), betont also deren Funktion und Dynamik, kraft deren sie uns auf unser Ziel hinweisen, hat aber eine spürbare Abneigung, sich der „ratio docendi“ der Philosophen, das heißt einer schulmäßigen Aufgliederung dieser Vermögen, anzuschließen (I, 15,7). Die von ihm verwendeten Termini (Substanz, Essenz u. a.) weisen auf eine Topographie hin, die er der Sache nach hinter sich gelassen zu haben scheint. Es ist jedenfalls ein wichtiger Hinweis Wilhelm Neusers gewesen, dass er sich bereits im ersten Satz der Institutio von der traditionellen Formel „cognitio Dei et hominis“ getrennt und sie durch die Wendung „cogitio Dei et nostri“ ersetzt hat. Die Summe der Weisheit, die Theologie und Anthropologie umschließt, wird bereits im ersten Anlauf als der uns aufgegebene Vollzug einer dynamischen Bewegung beschrieben. 3.5.2

Seele und Leib

Was den Menschen vor allen anderen Geschöpfen auszeichnet und ihn zum „leuchtendsten Spiegel“ macht, „in dem wir Gottes Herrlichkeit erblicken können“240 , stammt nicht aus ihm selbst, sondern aus Gottes Handeln an ihm. Er ist es, durch dessen Atem er eine Seele empfangen hat, die Calvin den „eigentlichen Sitz der imago Dei“ nennt.241 Nach Vorarbeiten in der Psychopannychia (1534) und der Streitschrift gegen Wiedertäufer (1544) und Libertins (1545) hat er die Diskussion über die Natur der Seele erst in der letzten Fassung der Institutio (1559) wieder aufgenommen. Wo die Fronten in diesem Streit verlaufen, der in immer neuen Varianten das ihr zugeschriebene Attribut der Unsterblichkeit zum Thema gemacht hat, hat Susan Schreiner detailliert nachgezeichnet242 : Da ist einmal die von Calvin zurückgewiesene These des Seelenschlafs (nach dem leiblichen Tod), sodann der „pantheistische“ Irrtum der Libertins, die von einer Wiedervereinigung mit der 240 Psalmenkommentar, CO 31, 87; CStA 6, 55.25 (zu Ps 8,1). 241 Inst I, 15, 3 und 6; OS III, 176.39 und 182.21. In der Psychopannychia CO 5, 180 heißt es, dass nichts Körperliches Gott abbilden könne; dazu: Jung-Uck Hwang, Der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt 1991, 196f. 242 S. Schreiner, The Theatre of His glory (Anm. 24), 60–62.

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essentia Gottes träumen243 , oder der zeitgenössische Aristotelismus eines Pomponazzi, der seine „besten Kräfte und Anlagen in einer Weise an das gegenwärtige Leben bindet, dass ihm außer dem Körper schließlich nichts mehr übrig bleibt“.244 Doch die Kräfte der Seele, insbesondere Vernunft und Gewissen (conscience), lassen sich nun einmal nicht auf körperliche Funktionen reduzieren. Gerade indem das Gewissen zwischen Gut und Böse unterscheidet, entspricht es Gottes Urteil und ist – so Calvin – zweifellos ein Zeichen für die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes (I, 15,2). Und muss man dasselbe nicht auch ihrem Vermögen zuschreiben, zum göttlichen Ursprung des Lebens vorzudringen und so „die Welt zu transzendieren“, oder ihrer unglaublichen Beweglichkeit (agilitas), mit welcher der menschliche Geist (mens) Himmel und Erde durchforscht, Vergangenes und Zukünftiges verbindet und selbst im Schlaf die Zukunft ahnungsvoll vorwegzunehmen vermag?245 Eine trennscharfe Unterscheidung von Seele und Geist lässt sich daher gar nicht durchführen. Der Geist wird im Genesiskommentar als eine Art Zugabe zu den vegetativen Vermögen eingeführt, wodurch die menschliche Seele erst ihren eigentümlichen Rang erhält246 , und dabei denkt Calvin immer auch an den in Christus wohnenden Heiligen Geist, der „uns von der Welt absondern und zur Hoffnung auf das ewige Erbe sammeln“ soll und der deshalb als „Wurzel und Sitz des ewigen Lebens in uns“ beschrieben wird.247 Da er von außen zu uns kommt, jedenfalls nicht als Besitz des Menschen reklamiert werden kann, hält die Seele faktisch eine Zwischenstellung inne, die geradezu die Frage provoziert, ob und in welchem Sinne sie überhaupt der irdischen Ausstattung des Menschen zuzurechnen ist. Calvin arbeitet daher mit der (theologisch notwendigen!) Unterscheidung zwischen der aeternitas (die allein Gott zukommt) und der immortalitas (die ihr von Gott verliehen wird). Denn unsterblich ist die Seele allein aufgrund ihrer bleibenden Beziehung zu Gott. Folglich ist „Unsterblichkeit“ ein Relations- und nicht (wie essentia) ein Substanzbegriff: Sie ist „ein geliehenes Gut, das von anderswoher (d’ailleurs) [zu uns] kommt“ und doch zum bleibenden Bestand der Seele gehört, eine offenkundi-

243 Zu der u. a. von Karlstadt vertretenen Lehre vom Seelenschlaf s. J.-U. Hwang, Der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt 199, 118–127; im übrigen Calvin, Contre la secte phantastique […] des Libertins, CO 7, 183; CStA 4, (Cap. XIII), 31ff. 244 Inst I, 15,6; OS III, 182. 22f. 245 So in den sachlich gleichlautenden Abschnitten Inst I, 15,2 und 5: dort ist der Geist (mens), hier die Seele Subjekt. Selbst wenn sich Calvin dafür „sogar auf heidnische Schriftsteller“ berufen kann (Cicero, Tusc. I, 24. 56–67; De nat. deor. II, 17–19), und offensichtlich gegen Pomponazzi (De immortalitate animae) polemisiert, ist sein Argument anders aufgebaut als das der platonischen Schule. 246 Zu Gen 2,7, CO 23, 35. 247 Inst III, 1,2; OS IV, 2.10–14.

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ge Reminiszenz an Aristoteles, der den Geist (nous) „von außen“ (thyrathen) in die Seele eintreten lässt.248 Wenn nun die Seele ihr Leben aus, ja in Gott hat, dann ist es kaum erstaunlich, dass das Band zwischen ihr und dem sterblichen Leib eher locker geknüpft ist, so locker, formuliert Calvin, wie das Band „zwischen Christi geistlichem Reich und der bürgerlichen Ordnung“.249 Der Leib kann sogar als bloßer „Annex der Seele“ bezeichnet werden. Selbstverständlich spricht Calvin von einer Einheit beider – wie sollte der Leib sonst lebendig sein können! – niemals jedoch von einer „substantialis unitas“. Man hat daher von einem ausgeprägten Dualismus gesprochen und die gleichwohl sehr verschiedenen Grade von Nähe und Distanz, von substantiellen und relationalen Aussagen, mit den unterschiedlichen Perspektiven – hier der Standort Gottes, dort die Sicht des Menschen – zu erklären versucht.250 Um diese Zuordnungen zu verstehen, genügt es jedoch, sich an Calvins Unterscheidung von Leib und Seele zu halten, die er mit der Differenz „zwischen diesem gegenwärtigen, flüchtigen und jenem kommenden Leben“ vergleicht.251 Hier handelt es sich um eine „eschatologische“ Spannung, um die Berufung des Menschen zur vita futura, die sich zugleich als ein Kriterium dafür anbietet, ob und inwieweit es der Seele gelingt, uns wie im Spiegel das Bild Gottes vor Augen zu stellen. Verbundenheit und Trennung von Leib und Seele bemessen sich dann daran, ob das Ziel der vita futura sozusagen in Sichtweite bleibt (wie beim ersterschaffenen Adam), ob es mehr oder weniger abgeblendet ist, oder ob es mit der Auferstehung des Leibes endlich erreicht wird. Damit ergibt sich folgendes Bild: Von seinem Ursprung her für das ewige Leben geschaffen und darum in Ausstrahlungsbereich der künftigen Herrlichkeit angesiedelt, bildet der Mensch mit Leib und Seele eine relativ stabile kreatürliche Einheit. Dabei hat die Seele einen deutlich akzentuierten Vorrang. Kraft des Intellekts, ihres vornehmsten Vermögens, übt sie die „Vorherrschaft (primatus) in der Führung des menschlichen Lebens aus“ (I, 16,6). Der Leib ist lediglich ihre irdische Herberge (2Kor 5,1), von der sie sich trennen kann, um durch die kosmischen Räume bis zu ihrer ewigen Heimat vorzudringen. Ihre Vermögen und Aktionsweisen sind nicht an den Körper gebunden. Von einem Leib-Seele-Dualismus sollte man daher erst in dem Augenblick reden, in dem sich die Seele den Blick auf die vita futura versperrt (metaphorisch: nach dem„Fall“). Denn nur an ihr vollzieht sich in diesem Leben die Wiedergeburt, das Werk des Geistes als „Wurzel und Same des himmlischen Lebens“ (III, 1,2), das

248 Aristoteles, De anima 430 a 23. Vgl. Predigt über 1 Tim 1,17–19, CO 53, 92: «Viola donc comme nous avons d’ailleurs, et comme d’emprunt, ceste vie spirituelle », 249 Vgl. Inst IV, 20,1; OS V, 472. 13–17. 250 So M. Potter Engel in ihrer in vieler Hinsicht durchaus erhellenden Darstellung: John Calvin’s Perspectival Anthropology, Atlanta 1988. 251 Inst IV, 20,1; OS V, 472.13–15.

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aus diesem Äon in den kommenden hinüberreicht. Hier ist schon jetzt alles auf jenes letzte Ziel ausgerichtet. Nur der Leib ist von dieser Bewegung ausgeschlossen. Er ist die große Störung, das große Hindernis, das die Seele auf ihrem Weg zu Gott beschwert. Jetzt erst wird er zu ihrer Fessel und zu ihrem „Gefängnis“.252 Die Wiedergeburt macht sozusagen aus der bisherigen Koexistenz jenen echten Dualismus, in dem der Leib der Seele entgegensteht.253 Das freilich ist kein letztes Wort zur Sache. Ungeachtet der scheinbar so stark abwertenden Urteile über den Leib hält Calvin mit Paulus daran fest, dass der Geist der Wiedergeburt zuletzt auch von unseren sterblichen Leibern Besitz ergreift, die nun eine ungeheure Aufwertung erfahren: Sie sind zum Tempel des Heiligen Geistes bestimmt, und damit öffnet sich der Blick auf den Fluchtpunkt, auf den alle anthropologischen Aussagen insgeheim bezogen sind und von dem her sie verstanden sein wollen: die Hoffnung auf unsere leibliche Auferstehung und mit ihr das Bild der vita futura.254 So rücken Leib und Seele nun wieder zusammen. Wir sehen, als was Adam, der Repräsentant aller Menschen, „gemeint“ war, denn „aus der Wiederherstellung muss man erschließen, wie (qualis) er gewesen ist“.255 So erscheint der Geist Christi nun selbst als Lebensprinzip des erneuerten Leibes, eines Leibes, der die Seele nicht mehr bedrängen kann. Diese Erkenntnis, die sich nur vom Ort der vita futura her gewinnen lässt, wird nun rückwirkend auch für unser irdisch-zeitliches Dasein geltend gemacht: Die Einheit der verschiedenen Wirklichkeiten von Seele und Leib (die so wenig wie die beiden Naturen Christi miteinander vermengt werden dürfen) wird vom Geist getragen: endgültig im künftigen Leben, vorläufig in unserem irdischen Dasein. Daher lernen wir nur im Licht jener Auferstehung das Spannungsfeld richtig einzuschätzen, in dem sich die Bewegung der vita christiana vollzieht und vollziehen muss, nämlich zwischen den Polen von Himmel und Erde, Seele und Leib, Geist und Fleisch. Nicht zuletzt um dieser Erkenntnis willen sind wir, sagt Calvin, „zur Betrachtung des himmlischen Lebens“ geschaffen.

252 Psychopannychia, CO 5, 216: „Corpus quod corrumpitur, aggravat animam“ (Der Körper, der sich verderben lässt, fällt der Seele zur Last); ähnlich auch Inst III, 3,20 (OS IV, 78.7) oder die Hiob-Predigten: CO 33, 178. 210. 253 Vgl. Predigt zu Hiob 3,11–18: «Voila di-je, la cause qui nous doit piquer et soliciter à desirer la mort, c’est assavoir, afin qu’etans depouillez de ce corps mortel [...] nous soyons pleinement reformez à l’image de Dieu. »; vgl. auch Inst III, 3,20 ; OS IV, 78. 7f. 254 Komm. zu 1Kor 15,49; CO 49,560: „tunc autem ad plenum instauramur, tam in corpore quam in anima“ (Dann werden wir voll und ganz erneuert, wie in der Seele, so auch in unserem Leib); vgl. Inst III, 25, 7; OS IV, 446. 18–20. 24–26. 255 Komm. Zu Gen 1, 26; CO 23.26. – „His (Calvin’s) view of immortality and resurrection does not support the claim that he was an anthropological dualist“ (M. Potter-Engel, a.a.O. (Anm. 250), 176.

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3.5.3

Die Gottesbildlichkeit (imago Dei) des Menschen

Das Thema der „imago Dei“ gehört, wie Richard Stauffer, einer der besten Ausleger notiert, zu den schwierigsten Problemen der Theologie Calvins: „Die Texte, die sich darauf beziehen, sind ebenso zahlreich wie widerspruchsvoll.“256 Außer Frage steht lediglich, dass „der Sitz jenes Ebenbildes zweifellos in der Seele liegt“, um deretwillen der Mensch „Bild Gottes“ genannt“ wird (I, 15,3), und dass dieses Prädikat mehr und anderes umfasst als die nie in Frage gestellte Unsterblichkeit der Seele. Calvin blickt auf eine mehr als tausendjährige Auslegungsgeschichte zurück, entsprechend weit gefächert ist das Feld seiner hier geführten Auseinandersetzung. Er verwirft die von Irenäus eingeführte Unterscheidung zwischen Bild (imago) und Ähnlichkeit (similitudo)257 , distanziert sich von Augustins „spekulativer“ Interpretation, die in den Vermögen der Seele trinitarische Analogien (memoria, intelligentia, voluntas) meinte erkennen zu können258 , und bestreitet ein „natürliches“ Vermögen der menschlichen Natur, sich dem Guten zuzuwenden, und damit die These des Lombarden einer doppelten, einmal den Willen bestimmenden wirkenden und sodann einer auf das Tun gerichteten mitwirkenden Gnade.259 Andererseits teilt er mit der Tradition die Annahme, dass etwas den Menschen Auszeichnendes, ihm ursprünglich Eigenes definitiv verloren gegangen ist (wofür das Symbol des „Falles“ steht). So ist auch die Auffassung, dass die Seele von Hause aus in einen sozusagen „gottoffenen“ Kosmos hineingestellt sei – also die Beschreibung der Gott offenbarenden Natur als „Buch“, „Spiegel“ oder „Spur“ Gottes – ein das ganze Mittelalter hindurch dominierendes, eben traditionelles Thema.260 Wo aber treffen wir auf Calvins eigenen Akzent? Hier kann der Blick auf ein längst bekanntes Problem weiterhelfen: Die Auslegung stand von jeher vor der Schwierigkeit, dass sich in den zahllosen Belegen substantielle und relationale Aussagen abzuwechseln scheinen. Auf der einen Seite heißt es, die imago sei dem Menschen eingeprägt (imprimée), eingegraben (engravée) oder gar eingemeißelt (insculpta).261 Man dürfe sie nicht anderswo suchen als „in jenen herrlichen Merkmalen, mit denen Gott Adam […] ausgezeichnet hatte“. Auf der anderen Seite verwendet Calvin die Metapher des Spiegels: „Wie in einem

256 R. Stauffer, Dieu, la création et la providence dans l’oeuvre homilétique de Calvin, Lille 1978, 159: Kann dieses « Ehrenzeichen » nach Ps 8,6 „an die äußere Herrschafts- und Rechtsstellung [des Menschen] über alle Geschöpfe erinnern“ (CO 31,92; CStA 6,65.42), so wird dieser Zusammenhang an anderen Stellen explizit bestritten. 257 Komm. Zu Gen 1,26f, CO 23, 26, so auch Inst I,15,3, OS III, 178.1–3. 258 Augustin, De Trin., lib. X, Calvin: zu Gen 11,26f und Inst I,15,3. 259 Inst II,2,6; dazu S.E. Schreiner, The Theatre of His Glory (Anm. 24), 64–68. 260 Vgl. ebd. 141 (dort Anm. 69). 261 So etwa: CO 7,112; CO 53,36 oder CO 23, 36.

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Spiegel wollte der Schöpfer selbst seine Herrlichkeit im Menschen sehen lassen.“262 . Er „spiegelt sich, um diese Redewendung zu gebrauchen, und betrachtet sich in den Menschen“.263 Wie lassen sich diese konträren Aussagen vereinen? Es gibt einige klare Abgrenzungen, an denen man sich orientieren kann. Calvin bestreitet einen semantisch relevanten Unterschied zwischen den hebräischen Ausdrücken zelem (imago) und demut (similitudo) und führt aus: Weder soll man das Ebenbild auf die Substanz der Seele beziehen, noch die Ähnlichkeit in deren Eigenschaften aufsuchen (I,15,3), und das heißt doch: In der Frage der Ebenbildlichkeit steht nicht primär das Was der menschlichen Konstitution, ihre natürliche Ausstattung, zur Debatte. Mit welchem Recht könnte Calvin sonst von dem völligen Verlust, dem gänzlichen Erlöschen der imago nach dem „Fall“ sprechen264 , wo uns doch Vernunft, Wille und viele andere anerschaffene Gaben ohne allen Zweifel geblieben sind? Hier geht es vielmehr um deren Wie, um die Art und Weise ihrer Ausübung. Pointiert gesagt: Calvin sucht das anfängliche Ebenbild nicht in der Vernunft, sondern in dem Licht, in dem sie erkennt, nicht in dem Herzen, sondern in der Ausrichtung (rectitudo), der es folgt, nicht in irgendwelchen Teilen der Seele, sondern in der heilsamen Ordnung (sanitas), in der sie aufeinander abgestimmt sind.265 Er sucht das Ebenbild in der Integrität dieser Vermögen, die sie allererst dazu befähigt, Gottes Herrlichkeit zu spiegeln. Dementsprechend lautet die geradezu definitionsmäßige Erklärung: Wenn Gott beschlossen hat, den Menschen „in“ seinem Bilde, das heißt „zu“ seinem Gleichnis zu erschaffen, dann sei das soviel als habe er sagen wollen: „Ich will einen Menschen machen, der mich wie in einem Ebenbild darstellt (repraesentat) vermöge der ihm eingeprägten Merkmale der Ähnlichkeit.“266 Der Begriff der Repräsentation, der auf einen Vollzug hinweist, muss die Auslegung leiten: Denn es ist das Wesen des Bildes, das Abgebildete in Erscheinung treten zu lassen. Es wird von seiner Funktion her begriffen: es soll Gott sichtbar machen, ihn vergegenwärtigen. Dazu ist der Mensch da, das ist seine Bestimmung. Gott hat ihn zu seinem Repräsentanten erschaffen. Er

262 Inst II,12,6; OS III, 444. 11f und 17f. 263 CO 33, 481 (Predigten zu Hiob). Th.F. Torrance, Calvins Lehre vom Menschen (dt. Zollikon – Zürich 1951), bes. 36–55, hat diese Metaphorik zum Dreh- und Angelpunkt seiner klassisch gewordenen Interpretation gemacht. 264 Das Verständnis dieser These ist umstritten (Th. Torrance, 94ff, bes. 100f). Calvin spricht gelegentlich von „gewissen übrig gebliebenen Kennzeichen der imago“ (superstites notae; Inst II,2,17; OS III, 260.25), ihren „Spuren“ und „Resten“. 265 So heißt es Inst I,15,3: „hac voce (sc. imago) notatur integritas qua praeditus fuit Adam quum recta intelligentia polleret, affectus haberet compositos ad rationem, sensus omnes recto ordine temperatos“ (Mit dem Wort ‚imago’ wird die Integrität bezeichnet, mit der Abraham ausgestattet war, wenn er über eine gute Intelligenz verfügte, seine Affekte auf den Verstand hingeordnet waren und er alle Sinne ihrer Ordnung gemäß gebrauchen konnte); OS III, 178. 26–29). 266 Inst I, 15,3; OS III, 178.10–14.

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will durch ihn, wie in seinem Bilde, präsent werden. So verstanden geht es in diesem Prädikat um die Beziehung von Gott und Mensch, die gelebt sein will, und das macht es unmöglich, den hierdurch bezeichneten Sachverhalt in einer „naturgegebenen“ Ebenbildlichkeit zu suchen. Selbstverständlich aber haben die Fähigkeiten, von denen Calvin spricht, ein sachliches (ontologisches) Fundament. So macht Mary Potter Engel gegen eine „einseitige“ Sicht, die (wie Torrance) nur den Akt des Spiegelns anerkennt, mit Recht geltend: „Das Bild ist beides, ein natürlicher Besitz und die übernatürliche Gabe einer besonderen Gottesbeziehung, eine substantielle Ausstattung der menschlichen Kreatur und eine dynamische Beziehung zwischen Gott und ihr.“267 Es geht um eine Anthropologie im Vollzug, d. h. um die Frage, wie der Mensch seine Finalität realisiert. Es ist ein unverkennbar teleologischer Zug, der durch Calvins Äußerungen hindurchgeht: Wir sollen „durch das Evangelium zum Bilde Gottes umgestaltet werden“268 ; seinen „vollen Glanz“ wird es erst „im Himmel“ bekommen (I,15,4). Deshalb begleitet die für unser Leben wichtigste existentielle Frage, die Frage, wozu (quorsum) wir geschaffen sind, zu welchem Zweck (à quel propos) wir nach Gottes Willen auf dieser Erde leben, alle Reflexionen über die Metapher der Gottesbildlichkeit. Die Antwort ist nicht nur in den Hiob-Predigten auf den Ton gestimmt: Wir haben unsere Lebenszeit keineswegs nur „hier unten“ zu verbringen; es gibt auch „ein fortdauerndes Leben im Himmel, zu dem Gott uns beruft“.269 Wer dieses Ziel vor Augen hat, wer in dieser Weise der letzten Zukunft entgegengeht, sieht sich aufgerufen, die Gaben zu realisieren, mit denen er ausgestattet ist. So geht es auch hier zuletzt um das für Calvin so zentrale Thema der Heiligung. Das dürfte der entscheidend neue Gesichtspunkt sein, unter dem er die ihm vorgegebene Tradition der imago Dei interpretiert. 3.5.4

Im Schatten der Erbsünde

Eines ist der Blick auf jenes noch vor uns liegende Ziel, ein anderes der Blick auf den lebensgeschichtlichen Ort, den Schauplatz, auf dem sich unser Dasein hier und jetzt verwirklicht. Das führt zu einer ernüchternden Erkenntnis, in deren Schatten wir uns über den Status quo unserer geschöpflichen Existenz aufklären müssen. Denn was uns von der bewundernswerten Erstausstattung im Zeichen der imago Dei geblieben ist, beschreibt Calvin als jenen erbarmungswürdigen Zustand, in dem uns lediglich einige „verunstaltete Trümmer“ eine ferne Ahnung von dem ursprünglich gemeinten Entwurf geben. Selbst wenn wir heute davon ausgehen, dass sich die 267 M. Potter Engel, John Calvin’s Anthropology (Anm. 250), 50. 268 Komm. zu Gen 1,26; CO 23, 26. 269 Predigt über Hiob 10, 18–22; CO 33, 509. Vgl. die Erinnerung an das Ziel (scopus) unsrer Unsterblichkeit in Inst II, 1,1; OS III, 228. 29ff.

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Ebenbildlichkeit nicht aufrechnen lässt in eine Anzahl vorfindlicher Qualitäten bzw. Beschaffenheiten (Vernunft, Wille, Sprachvermögen usw.)270 , wissen wir, dass wir den damit gegebenen (und als erfüllbar vorgestellten) Auftrag, mit unserer eigenen Existenz Gott „erscheinen“ zu lassen, ihn in der Welt zu vertreten und zu repräsentieren, immer weniger erfüllen können. Im Übrigen sagt Calvin selbst, dass der hier in Erinnerung gerufene „Sündenfall“ natürlich nichts zu tun hat mit einem Apfel und der durch ihn entzündeten „Lüsternheit des Gaumens“, sondern in einer Prüfung von Gehorsam und Glauben besteht.271 Die wichtigsten Belege sind: Kommentar zu Röm 5,18: „Jene natürliche Verderbtheit (naturalis pravitas), die wir von Mutterleib an mit uns herumtragen, ist vor dem Herrn Sünde […]. Sündigen heißt hier, dass wir alle verdorben und lasterhaft (corrupti et vitiati) sind. […]. Diese Sünde trägt den Namen Erbsünde (peccatum originale). […] Sie hat sich nicht, wie Pelagius meint, durch Nachahmung, auf das ganze Menschengeschlecht ausgebreitet. Denn auf diese Weise wäre Christus nur ein Vorbild, nicht aber der Grund der Gerechtigkeit. (CO 49, 95; CStA 5.1, 277.33–38–278.5–8. Inst (1539) II,1,8: Die Erbsünde ist „als erbliche Lasterhaftigkeit und Verderbtheit unserer Natur“ definiert.; sie ist „eingedrungen in alle Teile der Seele, so dass wir dem Zorn Gottes unterliegen und in uns das entsteht, was die Schrift ‚Werke des Fleisches’ nennt.“ Confessio Gallicana (1559), Art.6: Wir glauben, dass die gesamte Nachkommenschaft Adams von dieser Krankheit (contagion) angesteckt ist (Röm 5,18). Sie heißt Ursünde (peché original) und ist ein erbliches Leiden (vice), das keineswegs nur auf dem Nachahmungstrieb beruht, wie die Pelagianer gerne wollten“ (OS II, 313f.; CStA 4, 47. 11–14)

Wie tief diese „Sünde im Erbe“ (G. Freund)272 reicht, wie umfassend sie den Menschen in seinem Kern getroffen hat, belegen die „diagnostischen“ Versuche, mit denen Calvin dieses Übel einzukreisen versucht: Er nennt es eine „Entfremdung (alienatio) vom geistlichen Leben“ (II,1,5), eine erbliche Verdorbenheit (hereditaria corruptio bzw. depravatio), die sich in alle Teile der Seele ausbreitet (ebd.), bzw. eine nicht durchschaute Begierde (concupscentia), die ihn in seiner Überheblichkeit das Faktum der Sünde verkennen lässt273 , weshalb der Hochmut der Anfang alles

270 Vgl. Chr. Link, Gottesbild und Menschenrechte, in: H.-P-Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt, Bibl.-theol. Studien 33, Neukirchen 1998 (147–169), bes. 152f. 271 Inst II,1,4; OS III, 231. 18–21. 22–24 und 30. 272 G. Freund, Sünde im Erbe. Erfahrungsinhalt und Sinn der Erbsündenlehre, Stuttgart 1979. 273 Kom. zu Röm 7,7; CO 49, 124; CStA 5.1, 345. 31ff.

179

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Übels (II,1,4) ist, und der Unglaube (infidelitas) die Wurzel alles Schadens (ebd.). Und doch ist damit nicht, wie in der älteren Literatur oft zu lesen, der totale Verlust der Gottesbildlichkeit behauptet, denn diese Auszeichnung des Menschen tritt nicht nur in jener besonderen mit der Sünde allerdings verlorenen Qualität seiner ursprünglichen Gottesbeziehung zu Tage, sondern auch in der unzerstörbaren Struktur seiner spezifisch menschlichen Natur, die wir in ihrer Vollkommenheit nur in Christus erkennen (I, 15,4). Kaum ein Dokument, das so deutlich wie der Genesis-Kommentar274 und ihm folgend die Institutio die unverlierbare und „unantastbare“ Würde auch des „gefallenen“ Menschen mit dem Hinweis auf seine ursprüngliche Auszeichnung als „Ebenbild Gottes“ begründen kann: Die Schrift lehrt uns, „dass wir bei allen Menschen das Augenmerk auf das Ebenbild Gottes zu richten haben […] Was für ein Mensch dir nun auch entgegentreten mag, der deiner Dienstleistung bedarf, so hast du keinen Grund, dich ihm zu entziehen […] Sag’ nur, er sei dir fremd: Der Herr hat ihm ein Kennzeichen aufgeprägt, das dir wohl bekannt sein soll. […]. Sag’ nur, er sei ein verachteter, nichtswürdiger Mensch, Der Herr aber zeigt dir ihn als einen Menschen, den er der Zier seines Ebenbildes gewürdigt hat.275

Von der Vernunft, mit welcher wir Gut und Böse unterscheiden, heißt es, sie sei eine natürliche Gabe und könne als solche zwar geschwächt, keinesfalls aber ganz und gar zerstört werden (II,2,11), was wenige Abschnitte später mit dem Lob auf heidnische Schriftsteller und Wissenschaftler eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird.276 Ebenso wenig ist der von unserer Natur untrennbare Wille verloren gegangen, selbst wenn er in die Gefangenschaft böser Begierden geraten ist.277 Die Vernunft ist als „Führer und Lenkerin der Seele“ ursprünglich dazu bestimmt, sich von Gottes Geist leiten zu lassen, und dem Willen, der „bei seinen Wünschen ihr Urteil abwartet“278 , auf diese Weise das Ziel seiner Handlungen vorzugeben. Dieser Aufgabe wird sie jedoch nicht mehr gerecht. Sie hat die Orientierung am „Ziel unserer Erschaffung“, der Ausrichtung auf das Reich Gottes, verloren279 Wir wählen mit unserer Vernunft (ratio) nicht das, was in Wahrheit gut für uns wäre und der Würde (excellentia) unserer Natur entspräche, um es dann mit Eifer durchzuführen.280

274 Zu Gen 9,6; CO 23,147. 275 Inst III,7,6; OS IV, 156, 33–157.4. Dazu T. Torrance, Calvins Lehre vom Menschen, Zürich 1951 und insbes. I.J. Hesselink, Calvin’s First Catechism. A Commentary, Louisville 1997, 61ff. 276 Inst II,2,15 und 16; OS III, 258.10–259.28. 277 Inst II, 2,12; Inst III, 255. 21–24. 278 Inst I, 15,7; OS III, 185. 10–12. 279 Inst II, 1.3; OS III, 230.31–34. 280 Inst II, 2,26, OS III, 269. 16–20.

Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung

Der „Sündenfall“ wird auf dieser Linie – bemerkenswert genug – als Folge unserer mangelnden Erkenntnis, das heißt als ein zuletzt intellektuelles Problem dargestellt. Es sind zwei Fragen, die sich in diesem Zusammenhang melden: Warum ist es überhaupt zu einem derart folgenreichen „Sündenfall“ gekommen? Oder, wenn man die „mythologische“ Einkleidung vermeiden will: Warum werden wir mit einer so offenkundig defizienten Ausstattung in die Welt hineingestellt? Und: Wie wird im „Erbgang“ das Unheil dieses Anfangs weitergegeben? (1) Dass Adam mit freiem Willen und folglich durch eigene Schuld sündigte, ist Calvins feste Überzeugung, die er mit Augustin teilt. Wie anders könnte er sonst den Zustand der Nachgeborenen als Strafe interpretieren? Doch Adam steht wie jedes Ding und Geschehen der Erde im Wirkungsbereich der göttlichen Vorbestimmung (praedestinatio), und so lautet die nie zurückgenommene oder eingeschränkte Auskunft: Gibt es [dafür] einen anderen Grund, als dass es Gott so wohlgefallen hat? […] Es ist zwar ein furchtbarer Ratschluss (decretum horribile), das gebe ich zu, aber dennoch wird niemand leugnen können, dass Gott, bevor er den Menschen schuf, zuvor gewusst hat, welchen Ausgang er nehmen würde […], weil er es in seinem Ratschluss so bestimmt hatte.281

Dennoch kann mit diesem Dekret Adam nicht entlastet werden. Sünde geschah und geschieht in jedem einzelnen Fall freiwillig, „aus eigenem Antrieb“. An ihrer Wurzel steht nicht erst der geheime Rat Gottes, sondern der offensichtliche Wille des Menschen. Die Ursache liegt in Adam. Zu Lasten der Prädestination geht etwas anderes, gewissermaßen Überpersönliches: dass nämlich „der Mensch durch Gottes Vorsehung (!) zu dem Unheil (calamitas) erschaffen ist, dem er unterliegt, obwohl der Anlass (materia) dazu aus ihm selbst stammt, nicht aus Gott“.282 Calvin beruft sich hier explizit auf die Vorsehungslehre. Will sagen: Er konnte hier gar nichts anderes behaupten, als das Faktum des Sündenfalls auf Gottes Beschluss zurückzuführen. Denn wie stünde es sonst um die Gott wie selbstverständlich zugeschriebene „Allmacht, in der er alle Dinge nach seinem geheimen Ratschluss lenkt“? So lautet denn auch der letzte Satz in dieser Sache: „Der Mensch kommt also zu Fall, weil Gottes Vorsehung es so ordnet, aber er fällt durch seine eigene Schuld.“283 – ein Satz, der schon damals umstritten war, so gewiss ihn heute kaum ein Theologe nachsprechen würde. Seine Schärfe hat Calvin in der großen Prädestinationsschrift immerhin etwas zurückzunehmen versucht: „Gott duldet

281 Inst III, 23,7; OS IV, 401. 26–31. 282 Ebd. 23,9; a.a.O. 403. 30–34. 283 Ebd. 23,8, a.a.O. 402. 38f.

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

wissentlich, dass der Mensch sündigt; der Grund liegt vielleicht im Verborgenen, aber er kann nicht unrecht sein.“284 (2) Die Frage nach der Weitergabe des verhängnisvollen Erbes hat eine auf Tertullian zurückgehende kirchliche Tradition dahingehend beantwortet, dass sich mit der Seele auch die Sünde im natürlichen Erbgang von Generation zu Generation fortpflanzen werde. Auf diese „ängstliche Streitfrage“, welche die Alten „mehr als nötig gequält hat“, will sich Calvin nicht einlassen. Denn da die Erbsünde keine angeborene, ursprünglich vorhandene Eigentümlichkeit (substantialis proprietas) des Menschen ist (auch nicht, wie Zwingli lehrte285 , eine erbliche Krankheit), sondern von außen ihm zustößt (adventitia qualitas, Inst II, 1,11), kann sie nicht durch die Substanz des Fleisches übertragen werden (II, 1,7). Andererseits kann sie sich auch nicht (so die Pelagianer) durch Nachahmung über das ganze Menschengeschlecht ausbreiten. So bleibt nur die Möglichkeit einer Übertragung durch einen göttlichen Urteilsspruch, der – was Paulus durch den Vergleich von Adam und Christus (Röm 5) klar mache – mit Vorbedacht die ganze Menschheit betreffen sollte. Dementsprechend weist auch Calvin den Gedanken einer natürlichen Weitergabe (sog. Traducianismus) im Johanneskommentar zurück. Es geht nicht um eine Folge der Abstammung, sondern der Anordnung Gottes. Denn wie Gott alle in einem einzelnen Menschen mit seinen Gaben geschmückt hat, so hat er auch allen in demselben seine Gaben entzogen. Deshalb sind wir eher alle zusammen in ein und demselben Adam verdorben, als dass wir sagen könnten, ein jeder hätte Laster und Verderbtheit von seinen Eltern geerbt.286

Der Einwand liegt nahe, der „gefallene“ Mensch erleide die Strafe für eine Sünde, die er gar nicht begangen hat. Ob Calvin ihn mit diesem praedestinatianischen Argument widerlegen kann, wird man allemal fragen dürfen. Er wiederholt zunächst nur die Thesen aus Augustins antipelagianischen Schriften.287 Es gibt in dieser ganzen Auseinandersetzung vielleicht nur ein Argument, das man sich uneingeschränkt zu eigen machen kann: die in der Reformation viel diskutierte, ebenfalls auf Augustin zurückgehende und durch Luther bekannt gewordene Unterscheidung zwischen Notwendigkeit (necessitas) und Zwang (coactio) in unserem Handeln.288 Mit und seit dem „Fall“ – so die These – sündigt der Mensch nicht etwa gegen seinen Willen, also gezwungen (non invitus, nec coactus), sondern mit Willen und Bewusstsein,

284 285 286 287 288

De aeterna Dei praedestinatione (1552), COR III/1, 146. Zwingli, De vera ac falsa religione, CR 90, 708ff. Komm. zu Joh 3,6; CO 47, 57. Dazu: F. Wendel, Calvin (Anm. 81), 169. M. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 633f.

Anthropologie im Horizont der (neuen) Schöpfung

also aus tiefster Neigung des Herzens: Er unterliegt einer Notwendigkeit zu sündigen.289 Er kann sich nicht selbst zum Guten bestimmen. Damit ist das Problem des freien Willens aufgerufen. 3.5.5

Das Problem der Willensfreiheit

Auf eine ähnlich polemische Auseinandersetzung mit Erasmus, dem einflussreichsten Vertreter des frühen Humanismus, wie Luther sie meinte führen zu müssen, hat sich Calvin nicht eingelassen. Zudem ist das theologisch hoch umstrittene Thema der Willensfreiheit älter als jener Jahrhundertstreit. Dass es ihm durch Luther gestellt ist, davon darf man angesichts vieler sachlich paralleler Argumentationsgänge ausgehen. Calvin sucht es an seiner Wurzel, der von den Kirchenvätern und der Scholastik (P. Lombardus, B. von Clairvaux), auf andere Weise vom zeitgenössischen Platonismus rezipierten Thesen „der Philosophen“, aufzugreifen. Hier werden insbesondere die Repräsentanten der Stoa – Cicero und Seneca – gelegentlich auch Platon genannt. Die Auseinandersetzung wird in engem Anschluss an Augustin geführt, der in seiner Kontroverse mit den Pelagianern die Pfeiler der Argumentation gesetzt hat (II, 2,8). Mit einer Collage von Augustin-Zitaten bestreitet Calvin denn auch im zweiten Artikel seiner Streitschrift gegen die Thesen der Sorbonne (1544) die Widerlegung des freien Willens, mit dem wir, wie es dort heißt, „gut oder böse [meinen] handeln“ zu können.290 Wo liegt das Problem? Die antike Philosophie, Calvins Gesprächspartnerin, geht davon aus, dass die Vernunft wie eine Königin den Willen lenkt und dessen Entschlüssen „wie eine Fackel vorangeht“. So kann Platon alle Entgleisungen des Menschen auf mangelndes Wissen und Unkenntnis zurückführen.291 Wohl seien die Schwierigkeiten, eine solche Herrschaft der Vernunft aufzurichten und anzuerkennen, einem Cicero durchaus bekannt292 , doch sei es ganz unstrittig, dass Tugenden und Laster in unserer Gewalt stehen, denn wenn es unserer freien Wahl anheim gestellt ist, dies oder das zu tun, dann müsse es auch in unsrer Macht stehen, es nicht zu tun.293 Demzufolge werde der freie Wille – „auch in den Schriften aller Theologen“, wie Calvin bemerkt – als die Fähigkeit der Vernunft definiert, Gut und Böse zu unterscheiden und sich daraufhin für eines von beiden zu entscheiden.

289 Inst II, 3,5, OS III, 278. 10–17; vgl. Kom. zu Röm 7,14: „Wir sündigen freiwillig, weil es keine Sünde wäre, geschähe sie nicht willentlich […] Die in uns herrschende Bosheit treibt uns dorthin“; CStA 5.1, 357. 12–15. 290 Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne (Articuli a Facultate SacraeTheologiae Parisiensi determinati […] cum Antidoto) 1544, Art. II; CO 7,9; CStA 3, 27f. 291 Platon, Nomoi 644 E. Vgl. Inst II, 2,3; OS III, 244. 12–17. 292 Cicero, Tusc. Disputationes III, 1,2. 293 Aristoteles Ethica Nicomach. III,7; 1113 b. 6ff. Vgl. Inst II, 2,3; OS III, 244. 1–3,

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Gotteserkenntnis im Horizont der Schöpfung

Das wiederum, so hat man diese Vorgabe interpretiert, entspreche tatsächlich dem ursprünglichen Zustand (conditio) des Menschen: Gott habe ihm „Vernunft, Verstand, Klugheit und Urteilskraft verliehen, die nicht nur zur Führung des irdischen Lebens hinreichen, sondern ihn auch zu Gott und seiner ewigen Seligkeit emporzuheben imstande sind“.294 Denn auch der Wille – das macht den Kern seiner Freiheit aus – habe sich in voller Übereinstimmung mit der Leitung des Verstandes befunden, so dass auch er sogar des ewigen Lebens mächtig sein müsste. Es liegt auf der Hand, dass in dem Augenblick, in dem die theologische These einer „ursprünglichen Sünde“ diese Fähigkeiten von Vernunft und Willen radikal in Frage stellt, die klassische Definition zwar nicht aufgehoben, wohl aber ihre Einlösung faktisch unmöglich gemacht werden müsste. Für Gott, fügt Calvin hinzu, bestand keine Notwendigkeit, uns einen anderen als den in der Mitte zwischen Vernunft und Sinnlichkeit stehenden, zum „Fallen“ geneigten Willen zu geben295 – mit den bekannten, gravierenden Folgen: Die „übernatürlichen“ Gaben – Glaube, Gottesliebe, Heiligkeit – wären wie ausgelöscht, die natürlichen – Verstand, Erinnerung, Intellekt – erheblich geschwächt. Nun sind Verstand und Wille in diesem Zustand jedoch nicht einfach untergegangen, sondern weiterhin höchst aktiv, nur dass die Richtung ihrer Aktivität sich jetzt ins Gegenteil verkehrt. Der Verstand wird ein Meister der Abgötterei: „Wie aus einer großen Quelle Wasser hervorbrechen, so fließt aus dem Menschenherzen die unermessliche Quelle der Götter hervor.“ (I,5,12). Der Wille, von der Vernunft und ihrer Urteilskraft verlassen und dem „natürlichen Trieb“ folgend, hängt sich an mancherlei Begierden und unterwirft sich damit – man denke an Luthers einprägsames Bild des Lasttiers296 – einer freiwilligen Knechtschaft, aus der er sich nicht selbst „zum Guten hin bewegen, geschweige denn es erfassen kann“, so dass Calvin sein Fazit mit Augustin formuliert: „Durch die Freiheit ist der Mensch zum Sünder geworden, aber die zur Strafe darauf erfolgte Sündhaftigkeit hat aus der Freiheit Notwendigkeit gemacht“.297 Denn wenn die Erbsünde tatsächlich die Verohnmächtigung von Verstand und Wille zur Folge hat, kann es einen freien Willen zum Tun des Guten nicht geben. Die Lehre vom unfreien Willen ist zur „eisernen Ration“ des neuen protestantischen Glaubens geworden.

294 295 296 297

Inst I, 15,8; OS III, 185. 30–34. Inst I,15,8; OS III, 187. 4f. De servo arbitrio, WA 18, 709. Vgl. die Argumentation in Inst II, 3,5, OS III, bes. 277f. Inst II, 3,5; OS III, 278. 6–8 bzgl. Augustin, De perfectione iust. hominum, c.4.9; MSL 44, 295). Zu den Schriften, in denen Calvin zu diesem Problem Stellung nimmt, gehört neben der bis 1559 stetig angewachsenen Institutio (II,3,5) insbesondere der gegen Albertus Pighius gerichtete Traktat über „Knechtschaft und Befreiung des menschlichen Willens“ (Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de servitute et liberatione humani arbitrii 1543).

4.

Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

Einleitung Dass sich die Frage nach Gott und damit das für Calvin zentrale Thema der Gotteserkenntnis zuletzt an der Person und dem Werk Jesu Christi entscheidet, versteht sich für eine christliche Theologie von selbst. Die Gliederung der Institutio, die auf das Problemfeld der Schöpfung im zweiten Buch den Themenkreis der Versöhnung und Erlösung folgen lässt und sich damit den altkirchlichen Bekenntnissen anschließt, ist insofern durchaus traditionell, und doch ist sie im Werk Calvins – gemessen am Aufbau der ersten Institutio (1536) – ein bedeutsamer Schritt. Er hat – formal gesehen – zur Folge, dass sich die Darstellung der Anthropologie auf die beiden ersten Bücher verteilt. Sie wird von einer Zäsur durchschnitten. Das Phänomen der Sünde und die Verführbarkeit des Menschen durch sie (Gen 4,7) gehört zweifellos zu den anthropologischen Konstanten (Buch I). Wer aber von Erlösung spricht, kann von ihrer negativen Voraussetzung, der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, also von Erbsünde und unfreiem Willen, nicht schweigen. Sie werden (anders als hier geschehen) in diesem neuen Zusammenhang folgerichtig an den Beginn des II. Buches gerückt. – Bedeutsamer noch ist gemessen an der Tradition jedoch eine weitere Umstellung: Das Thema des Gesetzes wird nicht etwa als Naturgesetz im Anschluss an die Schöpfung verhandelt, sondern wird dem geschichtlichen Bund als dessen Verfassungsurkunde zugeordnet und deshalb im Vorhof der Christologie (Inst II, 7 und 8) und das heißt: im engsten Zusammenhang mit dem Problem des Verhältnisses von Juden und Christen (Inst II, 9–11) dargestellt Es provoziert die reformatorische Frage, ob (und wenn: wie) es als Weg zum Heil (noch) in Frage kommt. Nicht weniger wichtiger und für das Profil seiner Theologie entscheidend ist ferner die Art und Weise, wie Calvin mit der spezifisch christlichen Erkenntnis umgeht, dass „nach dem Fall des ersten Menschen sicher keine Erkenntnis Gottes etwas zum Heil des Menschen ausgetragen hat ohne den Mittler, denn [Christus] spricht ja nicht nur von [und für] seine eigne Lebenszeit“.298 Wenn aber diese These tatsächlich „alle Jahrhunderte umfassen“ soll, dann muss sie ihr Recht auch in der Anwendung auf die angeblich vorchristliche Ära behaupten. In Calvins Worten: „Gott kann dem Menschengeschlecht nicht gnädig sein ohne den Mittler, und deshalb ist den heiligen Vätern unter dem Gesetz stets Christus vorgehalten worden,

298 Inst II,6,1; OS III, 320.37f.

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

auf den sie ihren Glauben richten sollten.“299 Diese in ihrem Kern während der Straßburger Jahre entwickelte und in der zweiten Fassung der Institutio (1539) ausgearbeitete Sicht hat ihren klassischen Ausdruck in der bekannteren These gefunden, die den Leitfaden der folgenden Ausführungen bildet: Der mit den alten Vätern geschlossene Bund unterscheidet sich von dem unsrigen so wenig in der Substanz und in der Sache selbst, dass er ganz und gar ein und derselbe ist; doch die äußere Darbietung ändert sich.300

4.1

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

Das Vorhaben, das man als seine “Lehre vom Gesetz“ bezeichnen kann, beschreibt Calvin im II. Buch der Institutio (1559) folgendermaßen: „Unter Gesetz verstehe ich nicht bloß die zehn Gebote, welche die Richtschnur bilden, wie man fromm und gerecht leben soll, sondern die ganze Gestalt der Gottesverehrung, wie sie Gott durch Moses Hand eingerichtet und gelehrt hat.“301 Diese Gottesverehrung, auch ihre Gestalt, ist jedoch mehr als eine Sammlung kultischer und ritueller Vorschriften oder Regeln. Sie ist zunächst ein Lebensvorgang, der als solcher diesen Vorschriften vorausliegt, der sie erst möglich bzw. notwendig macht. Er wird im Alten Testament mit der von Calvin oft zitierten Formel begründet: „Ich bin euer Gott, ihr seid (sollt sein) mein Volk (Ex 6,7). Am Anfang steht ein Gemeinschaftsverhältnis, das Israel von seinem Gott als eine es in Pflicht nehmende Gestaltungsaufgabe angeboten wird, so wie die Ehe das Angebot einer gemeinschaftlich zu realisierenden Lebensform ist. Mit einem modernen Begriff spricht man von einer Institution, der Institution des Bundes, und darin liegt beschlossen, dass das Gefälle hier vom Lebensvollzug zur konkreten Rechtsgestalt, d. h. zum Gesetz, verläuft. Das Gesetz ist die Verfassung (Konstitution) des Bundes.302 Daraus ergibt sich die keineswegs triviale Einsicht, dass das Recht nicht am Anfang steht, geschweige denn eine Zusammenstellung irgendwelcher abstrakter Normen ist. Seine Aufgabe besteht viel299 Inst II,6,2; OS III, 323. 29–31. Vgl. II, 6,3. OS III, 324.23f: „Ich will die Leser nur daran erinnern, dass die Hoffnung aller Glaubenden niemals einen anderen Haft- und Ruhepunkt gehabt hat als allein Christus.“ 300 CO 1, 802, Inst II, 10,2; OS III, 404, 5–8. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.9 und 10. 301 Inst II,7,1; OS III, 326.27–30. 302 So hat es die neuere Exegese auch wieder zu sehen gelehrt: „Unter allen Umständen muss die enge Verbindung von Geboten und Bund im Auge behalten werden. Alle Gesetze Israels setzen ja den Bund als eine zwischen Jahwe und Israel zustande gekommene Gemeinschaft und sakrale Institution schon voraus“; G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1961, 207. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 1, Göttingen 1992, 95, spricht von einer „durchgreifenden Theologisierung des Rechts“, die erst Ende des 8, Jahrhunderts stattgefunden hat.

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

mehr darin, die selbstverständlichen Verhaltensregeln des Bundes zu kodifizieren, sie in Gesetzesform verbindlich zu machen und dadurch das Leben der Institution vor Entstellungen zu bewahren. Es ist gut, dies von Anfang an zu betonen, um Calvin von dem alten Vorwurf einer „Gesetzes-Religion“ zu entlasten. Nicht dem Gesetz, sondern dem, was das Gesetz schützen will, der Lebenswirklichkeit und Integrität des Bundes, gilt sein vitales Interesse. Mit der zentralen Stellung des Bundes – „um die Hoffnung auf das Heil in Christus zu bewahren“303 – hat Calvin seinen Entwurf (Inst II, 6–8) bewusst im Rahmen der Heilsgeschichte verortet. Natürlich wusste er, dass die moralischen und kultischen Vorschriften Parallelen in andern Gesetzeskorpora haben. Ihre theologische Bedeutung und Autorität aber bekommen sie erst durch ihre Eingliederung in die Sinai-Überlieferung, und zwar unter dem hier leitenden Aspekt der Sühne und der „Erlösung“, denn – so der interpretierende Kommentar – „Christus war im ganzen levitischen Gesetz […] dem alten Volke wie in einem doppelten Spiegel vor die Augen gestellt“304 , und dementsprechend sei ihm die Bestimmung der neutestamentlichen Gemeinde – Ihr seid die „königliche Priesterschaft, das Volk des Eigentums“ (1Pt 2,9) – bereits am Sinai gewissermaßen proleptisch zugesprochen worden. Das gibt dem Gesetz bei Calvin einen Glanz, den es bei anderen Reformatoren nicht hat. Es ist sozusagen „der Lichtschein, in dem das Volk Gottes sich sammelt“.305 Denn spricht Calvin vom „ganzen Gesetz“ (tota Lex), so meint er, „dass das Evangelium sich von ihm nur durch eine klarere Bezeugung unterscheidet“, denn es „weist mit dem Finger auf das, was das Gesetz [bereits] schattenhaft unter Vorbildern (typoi) hat erkennen lassen“.306 Hans Joachim Iwand spricht von der „adventlichen“ Bedeutung des Gesetzes. Zunächst jedoch soll ein Zusammenhang vorgestellt werden, der dem hier gezeichneten Bild zu widersprechen scheint und deshalb die Forschung immer wieder beschäftigt hat, dem Verhältnis zwischen dem Moralgesetz und dem aus stoischer Quelle stammenden Naturgesetz. 4.1.1

Natürliches Gesetz und Mose-Gesetz

In einer seiner spätesten Abhandlungen zum Gesetz, dem großen Schlusskapitel der Institutio (1559) erklärt Calvin: „Nun steht es aber fest, dass Gottes Gesetz, das wir das sittliche nennen, nicht etwas anderes ist als das Zeugnis des natürlichen Gesetzes und jenes Gewissens, das den Menschen von Gott ins Herz eingegraben ist.“307 In 303 304 305 306 307

Inst II,7 (Überschrift), OS III, 326. 20f. Inst II, 7,2; OS III, 328. 3–5. H.J. Iwand, Gesetz und Evangelium II (Calvin), in: Nachgelassene Werke 4, München 1964, 365. Inst II, 9,4; OS III, 402. 9–11 und 9,3; ebd. 401.20f. Inst IV, 20, 16; OS V, 488. 3–5; vgl. II,2,22; OS III, 264. 29–33 (zu Röm 2,14)

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

umgekehrter Richtung liest man es bereits bei Luther: „Die natürlichen Gesetze sind nyrgent so feyn und ordentlich verfasset als ynn Mose“.308 Calvin beruft sich auf Röm 2,14: Es gibt Menschen, die im Mose-Gesetz nicht unterrichtet sind, und denen es doch „keineswegs an einer Kenntnis dessen fehlt, was recht und billig ist“.309 Dem geschriebenen Gesetz (Tora) steht offenbar ein „natürliches“, dem Menschen als Anlage „ins Herz geschriebenes“ Unterscheidungs- und Urteilsvermögen gegenüber. John Hesselink hat in seinem gelehrten Werk „Calvin’s Concept of the Law“ sogar drei Stufen nachgewiesen, in denen das Moralgesetz den Menschen bekannt geworden ist, damit sie sich nicht mit Unwissenheit entschuldigen können. (a) Die ursprüngliche Natur der Gesetze. Wie Calvin am Beispiel des SabbatGebotes erläutert, findet noch vor jeder menschlichen Rebellion und Sünde (also vor jedem Gesetzesverstoß) der Wille Gottes in der Ordnung der Schöpfung seinen gültigen Ausdruck: „Gott heiligt den siebenten Tag, indem er ihn […] durch ein besonderes Gesetz (singulari iure) von allen übrigen Tagen unterscheidet.“ Sein eigenes Vorbild sabbatlicher Ruhe soll für alle Zeit und alle Menschen eine fortdauernd gültige Regel sein.310 Sie begründet in der Form des Gesetzes sozusagen die Verfassung der Erde. Dabei kann sich die Frage des Legalismus noch gar nicht stellen, da es hier allein um den Ausdruck göttlicher Liebe und Sorge geht, ohne dass Sünde oder Erlösung als reale Wirklichkeiten schon im Blickfeld lägen. Von diesem universalen, der gesamten Menschheit als Lebensordnung geltenden Gesetz unterscheidet sich der Israel gegebene Dekalog als ein partikulares, nur ihm für eine bestimmte Zeit (bis zur Ankunft Christi) auferlegtes Gebot. „Was aber von Anbeginn den Menschen geboten wurde, sich in anbetender Verehrung Gottes zu üben, das muss bis zum Ende der Welt Recht und Bestand behalten.“311 Gottes ordnender Wille in der Schöpfung hat normative Kraft. Dasselbe gilt daher auch von der ersten Gehorsamsprobe des Menschen, dem Verbot, von den Früchten des Baumes in der Mitte des Gartens zu essen (Gen 2,16), und damit Gott als den Herrn über das eigene Leben anzuerkennen. Denn „an sich selbst ist das Gesetz kein Gegner des Menschen, sofern er, mit einem gesunden Verstand ausgerüstet, vor der Sünde zurückweicht.“312 Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Calvin sich auf ein vormosaisches Gesetz bezieht, „das in mündlicher Tradition von Generation zu Generation weitergegeben wurde, vom Naturgesetz aber klar unterschieden ist“.313

308 309 310 311 312 313

Luther, Wider die himmlischen Propheten, WA 18,81.18. Zu Röm 2, 14, CO 49, 37; CStA 5.1, 125. 25. Zu Gen 2,3, CO 23, 33. Ebd. Zu Röm 7,18, CO 59, 133; CStA 5.1, 367.2f. I.J. Hesselink, Calvin’s Concept of the Law, Allison Park, PA, 1992, 55. Ähnlich argumentiert E Dowey, The Knowledge of God (Anm. 27), 225: “The concept of law here is seen to belong to the

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

(b) Das natürliche Gesetz. Von dem Vorstellungskreis des antiken Naturrechts (lex naturalis) – schon Thomas von Aquin hat ihn mit der Mose-Tora verbunden – hat die Reformation breiten Gebrauch gemacht. „Dies geschriebene Gesetz: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!’ sagt dasselbe, was das Naturgesetz meint: Was ihr nicht wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen nicht’.“314 Dass das Naturgesetz einer theologischen Interpretation fähig ist, ja ein allgemeines Gottesbewusstsein etwa in der Form des Gewissens begründet, ist Gemeingut der Tradition. Gott hat es der Vernunft bzw. dem Herzen aller Menschen eingeprägt. Umstritten ist, welche Rolle es in Calvins Theologie spielt. Während Thomas H.L. Parker sie noch durchweg negativ zeichnet – diese Form der Offenbarung bewege sich „ganz jenseits der schriftgemäßen Selbstoffenbarung Gottes als Schöpfer“315 – wird man heute sehr viel stärker auf die positive Kehrseite aufmerksam, etwa auf die leuchtende Schilderung der dem Menschen verbliebenen Fähigkeiten in Kunst, Forschung und Wissenschaft (Inst II, 12–17), die noch dazu (gleichsam als ein von Gott ihnen unterlegtes Wahrheitsfundament) als „Gaben des heiligen Geistes“ gepriesen werden. Nimmt man Calvins zitierte Äußerung zu Röm 2,14 hinzu, dann scheint es für ihn festzustehen, dass uns das natürliche Gesetz hinreichend über die „richtige Norm der Lebensführung“ unterrichtet, was freilich nur bedeuten könne, dass es sich hier „höchstens um einige wenige Samenkörner der Gerechtigkeit handelt, gerade ausreichend dafür, dass alle Völker sich religiöse Institutionen schaffen […] oder sich in Handelsverträgen auf Treu und Glauben verlassen“316 , während sie in allen Fragen, die das Fundament unseres Heils betreffen, „blinder als Maulwürfe“ sind. Das schließt nicht aus, dass Calvin in einer Predigt zu 1Tim 5,4f. oder in der Erklärung des 7. Gebotes (Lev 18,6) ausdrücklich von einer Übereinstimmung (conformité) der Mose-Tora mit dem Naturgesetz reden kann.317 Spricht er dabei in einem normativen Sinn vom Ordo naturae, der auch die menschliche Gesellschaft mit umfasst, „so ist das jedoch weniger eine Beschreibung der Natur so, wie wir sie kennen, als vielmehr eine Beschreibung ihres Zustandes so, wie sie ursprünglich war und sein sollte“.318 Hier herrschen keine unpersönlichen Prinzipien, sondern Gesetze, die (im Sinne der thomanischen lex aeterna) auf den aktiven Willen des biblischen Gottes zurückweisen. Das, stellt Hesselink zu Recht fest, „unterscheidet Calvin von allen philosophischen

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revelation of God the creator and to carry no hint of sin or disharmony [...] This pure [...] idea of the law is always distinguished clearly in Calvin’s mind from the second conception, which does stand between God and man.” M. Luther, Galater-Kommentar (1519), WA 2, 580. 14–23. T.H.L. Parker, The Doctrine of the Knowledge of God, Grand Rapids 1959, 123. Zu Röm 2,15, CO 49, 38; CStA 5.1, 127. 21–25. Predigt zu 1Tim 5,4f; CO 53, 456; zu Lev 18,6: CO 24, 662. E. Dowey, a.a.O. (Anm. 27), 67.

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und allgemeinethischen Systemen“.319 Will man seine Position charakterisieren, so müsste man sagen: Das geoffenbarte Mose-Gesetz fällt mit dem Naturgesetz zusammen; das aber gilt nicht in umgekehrter Schlussrichtung. (c) Das geschriebene Gesetz. Damit ist bereits gesagt, dass die schriftlich fixierte Tora einen uneinholbaren theologischen Vorrang hat, weshalb François Wendel zuletzt doch wohl im Recht ist, wenn er das natürliche Gesetz „einen schwer mit seiner (Calvins) Theologie zu vereinbarenden Fremdkörper“ nennt.320 Das biblisch überlieferte Gesetz begegnet uns demgegenüber unter einem zweifachen Aspekt: Historisch gesehen handelt es sich um die zwar nur partikulare Gesetzgebung Israels; seine besondere Bedeutung aber besteht darin, dass es „die Hoffnung auf das Heil in Christus bewahren sollte“, und deshalb ganz auf ihn, den kommenden Christus hin, ausgerichtet ist. Seine Verheißungen, Gnade und Wahrheit, und damit seine Qualität als „lex adimpleta“, ist – so Calvin – erst in dieser Epoche der Geschichte an den Tag getreten. Nur von diesem Ziel her könne es daher richtig verstanden werden.321 4.1.2

Dreifacher Gebrauch und Ziel des Gesetzes

Calvin übernimmt die für das Mosegesetz traditionelle Unterscheidung von Moral-, Zeremonial- und Judizialgesetz und schließt sich der von Melanchthon eingeführten Gliederung in drei Ämter bzw. einen dreifachen Gebrauch (triplex usus legis) an.322 , der in der Folgezeit gleichwohl als Charakteristikum reformierter Theologie gilt. Denn einen dritten, nach Calvin sogar den eigentlichen und wichtigsten Gebrauch, hat Luther nach Ausweis seiner Schriften nicht gelehrt, während er als Kennzeichen der „Wiedergeborenen“ (usus in renatis) in der reformierten Tradition das Gesetz erst in seiner Funktion als Regel, ja sogar als spirituellen Wegweiser und Leitfaden christlicher Lebensführung; auszeichnet. Und doch hat sich Calvin selbst auf ihn nicht so oft bezogen wie auf den nach seiner Zählung ersten „pädagogischen“ bzw. theologischen Gebrauch. (a) Theologischer (pädagogischer) Gebrauch (Inst II, 6–9). In dieser Blickrichtung führt uns das Gesetz vor die zentrale theologische Frage: Was ist gerecht? Es ist – eine Lieblingsmetapher Calvins – der Spiegel, in dem uns der Dekalog das Bild der vollkommenen göttlichen Gerechtigkeit vor Augen stellt, dann aber,

319 I.J. Hesselink, aa.O. Seite 195 Anm. 320: aaO. (Anm. 314), 62. 320 Wendel, Calvin (Anm. 81), 181. Auch J. Bohatec, Calvin und das Recht, 1934, 20–22, spricht von einer radikalen Differenz zwischen Calvin, dem Theologen der göttlichen Gnade, und Cicero. Beide stehen zwar „kooperierend, aber im Prinzip unversöhnt“ nebeneinander, urteilt Dowey, 103. Vgl. auch D. Ritschl, Konzepte, München 1986 (301–315), 309. 321 Zu Röm 10,4, CO 49, 197; CStA 5.2, 529.28f. 322 Melanchthon, Loci communes (1535), CR 21, 405f; Calvin, Inst II,7, 6–13.

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

sobald wir selbst uns in ihm betrachten, das Bild „unserer Schwachheit, der daraus entspringende Ungerechtigkeit und schließlich der aus beiden herrührenden Verdammnis“.323 In dieser älteren Tradition formuliert auch Calvin das Ziel der hier gemeinten besonderen Funktion des Gesetzes. Es soll uns – bis in die Diktion erinnert die Beschreibung an Luther – als der paulinische Paidagogos zu Christus führen: Die Kinder Gottes „sollen die törichte Meinung von ihrer eigenen Kraft fahren lassen und einsehen, dass sie allein durch Gottes Hand stehen und Bestand haben, dass sie entblößt und leer zu seiner Barmherzigkeit Zuflucht nehmen sollen, auf sie allein sich stützen […], sie allein als Gerechtigkeit und Verdienst für sich in Anspruch nehmen, da sie doch in Christus allen dargeboten wird, die nach ihr im rechten Glauben verlangen und wartend nach ihr ausschauen.“324

Diese traditionelle Auslegung hat zu einigen Unklarheiten und Fragen geführt. Denn auf welchem, Weg bringt uns das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde? Die ältere, etwa von W. Niesel und T. Torrance vertretene These, es sei Christus, der uns die Wahrheit über unsere menschliche Situation erschließt, wird heute kaum noch vertreten. Der als Parallele oft zitierte Katechismus von 1537 schreibt diese Pädagogik vielmehr der Selbsterkenntnis zu, die sich nach Inst I, 1,2 aus dem Blick in Gottes Angesicht ergibt, der „ersten Pforte in sein Reich“, ohne das Gesetz oder Christus auch nur zu erwähnen.325 Trägt man in diesem Zusammenhang der Buße Rechnung, die im Kontrast zur lutherischen Position nicht vom Glauben abgetrennt, sondern als Teilhabe an Christus von ihm abgeleitet wird, so fällt auf, dass auch in diesem weiteren Feld vom Gesetz keine Rede ist. Hier also gibt es im Blick auf die genaue Funktion dieses ersten Gebrauchs noch einige ungelöste, von Calvin noch nicht hinreichend geklärte Schwierigkeiten.326 (b) Politischer oder ziviler Gebrauch (Inst II,7,10–11) In dieser gesellschaftlichen Zuspitzung beschreibt die Institutio schon in ihrer ersten Fassung die Aufgabe des Gesetzes (1536) so: Sein zweites Amt „besteht darin, dass Menschen, die nur gezwungenermaßen sich um Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit kümmern, angesichts seiner harten Drohungen wenigstens durch die Furcht vor Strafe im Zaum gehalten werden […] – nicht weil ihr Herz etwa innerlich bewegt oder berührt würde …“.327 Der Schlüsseltext, dieses „Amt“ zu verstehen findet sich im ersten

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Inst II, 7,7; OS III, 332. 33–35. Inst II, 7,8; OS III, 334. 15–21. Vgl. Predigt über Dtn 5, 23–27, CO26, 338. Instructuíon et Confession de Foy (1537), CO 22, 45f; OS I, 389; CStA 1.1, 157.25ff. Hesselink (Anm. 313), 231. Inst II, 7,10; OS III, 335.30–35.

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Timotheusbrief (1,9): „Das Gesetz ist nicht für Gerechte da, sondern für Gesetzlose und Ungehorsame, Gottlose und Sünder“, die es hier mit „Gottes Schwert“ zu tun bekommen. Paulus, erklärt Calvin, hält es mit dem Gemeinspruch: „Gute Gesetze entspringen schlechten Sitten“. Denn entschieden gut ist dieser zweite Gebrauch – hier spürt man den Niederschlag bitterer Erfahrungen der Genfer Jahre – weil es nichts Gefährlicheres gibt, als in einem Staatswesen ohne Gesetze, moralische Standards und etablierte Ordnungen, das heißt: in Anarchie leben zu müssen. Insofern ist das Gesetz auch in dieser Zuspitzung ein Zeichen der Güte Gottes, weil es durch besonnene Regelungen Exzesse und Gewaltausbrüche in Schranken hält. Außerhalb der Institutio findet dieser zivile Gebrauch weit weniger Aufmerksamkeit als seine beiden Flanken, die pädagogische und die didaktische („dritte“) Ausrichtung. Im Kommentar zum Pentateuch findet sich nicht einmal eine indirekte Anspielung. Umso lehrreicher ist die breit geführte Diskussion im Schlusskapitel der Institutio (1559)328 . Um die prinzipielle Unabhängigkeit von Gesetz und Regierung (Magistrat) einzuschärfen, hat Calvin ihr das ciceronianische Diktum: „Das Gesetz ist ein schweigender Magistrat, der Magistrat aber ein lebendiges Gesetz“ als eine Art Motto voranstellt.329 Denn was man erwarten könnte, den Versuch, die staatliche Gesetzgebung mit der Mose-Tora in irgendeiner Form zu verbinden, das geschieht nicht, – ein bemerkenswerter, radikaler Traditionsbruch. In staatlichen Gesetzen soll man nicht nach einem absoluten Ausdruck des göttlichen Rechtes suchen. Vielmehr stellt Calvin es „jeder Nation frei, solche Gesetze zu erlassen, von denen sie voraussehen kann, dass sie ihr Nutzen bringen können, wenn sie sich nur nach jener fortdauernden Regel der Liebe richten“330 , in welcher Gerechtigkeit und Billigkeit ihre Erfüllung finden. Hier werden Liebe und Gerechtigkeit, moralisches und positives Recht unterschieden, aber eben nicht (wie Gegensätze) getrennt, denn Gerechtigkeit ist ein notwendiges Instrument der Liebe. Diese Einsicht steht freilich in einem unübersehbaren Widerspruch zu der im Genf Calvins geübten Praxis, die dort geltenden partikularen Gesetze tendenziell mit dem Gesetz Gottes zu identifizieren. Denn in der Theorie sollten die verschiedenen Formen des positiven Rechts – der mittelalterlichen Unterscheidung zwischen dem Buchstaben des Gesetzes (iustum) und dem Anspruch der Billigkeit (aequum) entsprechend – auf naturrechtlicher Basis nach dem Maßstab der aequitas gestaltet und angewandt werden. Allein diese Billigkeit sollte „Ziel, Regel und Grenze aller Gesetze sein“.331 Dann bestehe kein Grund, sie nicht gutzuheißen, „so verschieden sie auch vom jüdischen Gesetz oder untereinander sein mögen“. Hier also wird man erneut „mit dem

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Dazu vgl. Kapitel 6.5.2. Cicero, De leg. III, 2, Inst IV, 20, 41; OS V, 486. 14f. Inst IV, 20,15; OS V, 487.27f. Inst IV, 20, 16; OS V, 488. 7f.

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

ganzen Problem des natürlichen Gesetzes in Calvins Theologie“ konfrontiert.332 Denn das läuft faktisch auf eine Vermischung von moralischem und politischem Gesetz hinaus. (c) Tertius usus (didacticus) in renatis (Inst II,7,12) Der dritte, im Sinne Calvins der wichtigste und darum normative Gebrauch des Gesetzes betrifft nur die Gläubigen („Wiedergeborenen“), hat allerdings „den so oft gegen ihn erhobenen Vorwurf der Gesetzlichkeit auch am meisten herausgefordert“.333 Denn es kann niemand „als gesetzestreu betrachtet werden, bis er soweit gekommen ist, dass die Liebe für das Gesetz ihn erfüllt, um mit Freude danach zu leben“334 Weil aber diese Freude ein Zeichen des in ihnen wirksam gewordenen Heiligen Geistes ist, stehen sie gewissermaßen schon im Vorhof des Reiches Gottes und haben das Ziel der Vollkommenheit vor Augen, nach dem „alle Tage unseres Lebens sich auszustrecken“, dieser „dritte“ Gebrauch sie anleiten will. Auch das ist nicht neu. Auf die bleibende Bedeutung des Gesetzes haben vor Calvin Melanchthon und (wahrscheinlich von Zwingli angeregt) auch Bucer nachdrücklich hingewiesen.335 Während jedoch der erste und zweite Gebrauch negativ auf die Sünde fixiert bleiben, öffnet sich jetzt der Blick auf das theologische Zentrum dieser Theologie, die Heiligung, und gibt nun auch der „Lust am Gesetz“ (Ps 1,2) eine hörbare Stimme: Da müsste doch jeder von der Liebe zu diesem Gesetzgeber durchdrungen werden, wenn er hört, dass er erwählt ist, seine Gebote zu halten, die Gebote dieses Gesetzgebers, von dessen Freundlichkeit er alles Gute im Überfluss, ja auch die Herrlichkeit des ewigen Lebens erwartet, durch dessen wunderbare Kraft er sich aus dem Rache des Todes gerissen weiß.336

Hier wird unter der Leitung des Heiligen Geistes die Verankerung des Gesetzes im Bund praktisch relevant, so dass die Gläubigen einen zweifachen Nutzen davon haben. Es ist „das beste Mittel (organon)“, um von Tag zu Tag besser und sicherer zu erfahren, was der Wille Gottes ist, und da wir angesichts der „Trägheit des Fleisches“ auch ständiger Ermahnung bedürfen, bekommen wir nun auch einen Stachel, der uns beim Fortschritt dieses geistlichen Weges nicht ruhen lässt. So werden wir, heißt es im Sadolet-Brief, „in das Ebenbild Gottes verwandelt und

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J. Hesselink (Anm. 313), 245. F. Wendel (Anm. 81), 173. Zu Ps 112,1, Psalmen-Kommentar, CO32, 172. Melanchthon in den Loci communes von 1535, Bucer in den Metaphrases epistolarum Pauli 1536 (310f). 336 Inst II, 8,15; OS III, 357. 6–11. Auf diese Pointe, die Heiligung hin, „the proper purpose of the law“, hat. Hesselink (Anm. 313), den „dritten Gebrauch“ interpretiert.

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schließlich zum Gehorsam gegen seinen Willen umgestaltet“.337 In diesem Sinn, erläutert Calvin die Absicht des „dritten Gebrauches“, habe David in Ps 19,8 und im ganzen 119. Psalm auf die Frage geantwortet, „was [an Gutem] das Gesetz dem Menschen zu bringen vermöchte“.338 Was also zeichnet das so verstandene Gesetz aus? Zunächst dies, dass es keineswegs eine bloße Auflistung von Statuten oder Lebensregeln ist, sondern, dass es, dem Bund entsprechend, aus den ihm beigegebenen Verheißungen lebt. Denn vor allem zeige David doch, „dass er im Gesetz den Mittler [Christus] kennen gelernt und ergriffen hat, ohne den weder Freude noch Erquickung aufkommen kann“.339 Von Luther ist das in diesem Kontext verankerte Verständnis denkbar weit entfernt, so dass ältere Ausleger – P. Lobstein im 19., E Doumergue im 20. Jahrhundert – geradezu von einem verschiedenen Gesetz gesprochen haben.340 Denn wenn auf reformierter Seite der Tertius usus als Norm für das neue Leben des Menschen gelehrt wird, dann, so der lutherische Einwand, werde das Evangelium zum Gesetz erklärt. Das so verstandene „abstrakte“ Gesetz aber könne kein Gefäß Gnade sein, was Calvin im übrigen genau so sieht. Mit seinen unerbittlichen Forderungen bewirke es nur Schrecken, Furcht und Zorn. Doch im Licht des Bundes – das macht den ganzen Unterschied aus –, als ein vom Heiligen Geist ins Herz geschriebenes Gesetz, könne es in Dankbarkeit für die schon empfangene Gnade sehr wohl mit Paulus als „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12) anerkannt und in den Dienst der Heiligung gestellt werden. 4.1.3

Die Freiheit vom Gesetz (Inst III, 19)

Mit dem Erscheinen Christi, so liest man im Galater- (3, 13.23–25) und Römerbrief (4,13f.), haben die „politischen“ und zeremoniellen Gesetze Israels ihre Bedeutung für den Christen verloren. Ohne diesen reformatorischen Konsens in Frage zu stellen, urteilt Calvin hier differenzierter: Im politischen Bereich werde die Substanz dieser Vorschriften, die Forderung von Gerechtigkeit und Billigkeit, von diesem Verdikt überhaupt nicht berührt, und auch bei den Zeremonialgesetzen gehe es nur um ihren faktischen Vollzug, nicht aber um ihre (nach wie vor bedeutsame) Funktion, nämlich im Schattenriss auf die Christusoffenbarung hinzuweisen, deren

337 Antwort an Kardinal Sadolet (1539), CO 5, 398; CStA 1.2 381. 7–9. 338 Inst II, 7,12; OS III, 338. 19f. Vgl. hierzu insbes. H. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 188–192. 339 Inst II, 7,12; OS III, 338. 26f. 340 P. Lobstein, Die Ethik Calvins, Straßurg 1877, 5f; E. Doumergue, Jean Calvin, les hommes et les choses de son temps, Band IV, Paris 1910, 195f. Ähnlich urteilt E. Dowey, The Knowledge of God (Anm. 27), 223: “That Calvin praises the law more highly than does Luther is not indicative, of itself, that he is more ‘legalistic’, because he and Luther used the term with different meanings.”

Das Gesetz als Verfassung des Bundes

Erscheinung sie nur faktisch überflüssig gemacht hat. Anders steht es beim Moralgesetz, von dem Jesus sagt, er sei nicht gekommen, es aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17).341 Hier trifft Calvin eine wichtige Unterscheidung: Eines ist die Gewissensbindung, d. h. „die harte Forderung, mit der uns das Gesetz verfolgte, ohne nach höchstem Recht (summo iure) auch nur eine einzige Übertretung ungestraft zu lassen“.342 Nur davon, von diesem „Fluch des Gesetzes“, hat uns Christus befreit (Gal 3,13). Ein anderes ist das Lehramt der Gerechtigkeit, auf die uns Gott im Gesetz verpflichtet, weshalb es in dieser Hinsicht auch für die Christen uneingeschränkt in Geltung steht. Hier also sind mehrere Aspekte der neu gewonnenen Freiheit zu nennen. (a) Freiheit von der „absoluten“ Forderung. Da „durch des Gesetzes Werke kein Mensch vor Gott gerecht werden kann“ (Gal 2,16), hat es der erste, von Luther ganz in den Vordergrund gerückte Aspekt mit unserer Rechtfertigung zu tun: „Deshalb“, so auch Calvin, „ist hier der rechte Ort, die Lehre von der christlichen Freiheit in den Mittelpunkt zu stellen. […] Hier richten sich die Gewissen der Gläubigen über das Gesetz hinaus in die Höhe und vergessen die ganze Gerechtigkeit aus dem Gesetz.“343 Von den absoluten Forderungen, die „den Dienst des Mose“ betreffen, müssen und dürfen wir uns trennen. Abgeschafft aber wurde „nicht die Regel zum rechten Leben“, die uns der Dekalog überliefert, sondern allein „jene Eigenschaft des Gesetzes, die der Freiheit in Christus entgegensteht“.344 Statt den Blick auf uns selbst und unser aktives Tun zu richten und uns erneut in ein „knechtische Joch“ fangen zu lassen, sollen wir allein auf Christus schauen und so die Freiheit bewähren, zu der er uns befreit hat, und die im „Gesetz des Geistes des Lebens“ (Röm 8,2) in ihm manifest geworden ist. (b) Freiheit zum Dienst Gottes. Der zweite Aspekt dieser Freiheit nimmt Luthers Thema der „Freiheit eines Christenmenschen“ auf, der ein „freier Herr über alle Dinge“ und zugleich ein „dienstbarer Knecht aller Dinge“ ist. Von dieser Freiheit heißt es in derselben Dialektik bei Calvin: „est libera servitus et serva libertas.“345 Nicht durch die Notwendigkeit des Gesetzes gezwungen, sondern von ihr befreit, gehorcht sie aus freien Stücken dem Willen Gottes. Denn das ist der Unterschied zwischen dem Dienst des Gesetzes und dem des Evangeliums: Im Zeichen des

341 In einer Predigt über Dtn 4,23–35, CO 26, 209, heißt es: „Ist das Gesetz Gottes abgewertet, ich meine seiner Substanz nach? Es ist wahr, dass die Zeremonien nicht mehr im Gebrauch sind […], aber die Lehre des Gesetzes, das die Heilsverheißungen enthält, der Bund, durch den Gott, die zu seiner Kirche gehören, auserwählt, […] all das bleibt und muss bis ans Ende der Welt erhalten bleiben.“ 342 Inst II, 7,15; OS III, 340. 25–28. 343 Inst III, 19, 1 und 2; OS IV, 282. 24 und 283. 5–7. 344 Zu Röm 7,2; CO 49, 121; CStA 5.1, 339.19f. 345 Zu 1Pt 2,16; CO 55, 246.

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Evangeliums zählt nicht etwa ein perfekter Gehorsam. Das entscheidende Kriterium ist (nach Joh 14, 23f.) vielmehr dies, ob unsere Werke und Aktivitäten der Liebe zu Christus entspringen. Dann nämlich werden sie nicht länger an der strikten Forderung des Gesetzes gemessen, sondern von einem gnädigen Gott beurteilt, dem wir „auch angefangene oder halbfertige Werke anbieten“ dürfen im Vertrauen darauf, dass „unser Gehorsam und die Bereitschaft unseres Herzens“ sein Wohlgefallen finden werden.346 Denn nicht nur wir selbst, auch unsere Werke werden „allein durch Glauben“ gerechtfertigt. Diesem Glauben aber entspricht nur ein spontaner und freier Gehorsam. Auf dieser Basis und in diesem Geist hat Calvin den „dritten Gebrauch des Gesetzes“ gelehrt. Überflüssig zu sagen, dass die hier gemeinte Freiheit mit dem modernen Konzept personaler Autonomie noch nichts zu tun hat. (c) Freiheit im Umgang mit den „Adiaphora“. Ein drittes, nicht weniger entscheidendes Stück der christlichen Freiheit ist die nach dem Vorbild Melanchthons gezogene Konsequenz, sich im Umgang mit „äußerlichen Dingen, die weder unsere Frömmigkeit noch unseren Glauben tangieren (den sogenannten Adiaphora) kein schlechtes Gewissen machen zu lassen“. Ob es um Feiertage, Kleider oder – ein damals umstrittenes Problem – Fleischgenuss in der Fastenzeit geht: „wir dürfen (diese Dinge) ohne Unterschied bald brauchen, bald auch beiseite lassen“. Und auch die Erkenntnis dieser Art von Freiheit, fügt Calvin hinzu, „ist für uns von größerer Wichtigkeit, als man gemeinhin annimmt; denn wo sie fehlt, da werden unsere Gewissen nie zur Ruhe kommen und der Aberglaube wird kein Ende nehmen“347 . Mit dem ihm eigenen Sinn für konkrete Anschaulichkeit fährt er fort: Wenn einer schon einmal zu zweifeln angefangen hat, ob er zu Tüchern, Hemden, Schnupftüchern und Tischtüchern Leinen brauchen darf, so wird er nachher schon nicht mehr sicher sein, ob ihm Hanf gestattet ist, und schließlich wird er sogar noch zu schwanken beginnen, ob er Werg gebrauchen darf. […] Wenn einer auf den Gedanken gekommen ist, feinere Speisen seien nicht erlaubt, dann wird er am Ende nicht einmal mehr Brot und einfache Nahrungsmittel in Frieden vor Gott genießen“ können.348

Vor eine Grenze dieser Freiheit stellt uns erst das Gebot der Rücksicht, die wir „schwachen Brüdern“ schulden, um ihnen durch den unzeitgemäßem Gebrauch unserer Freiheit keinen Anstoß zu bereiten. Denn ein solcher Anstoß ließe bloß eingebildete Zweifel am Ende zu einer ernsten Glaubenskrise auswachsen. Doch

346 Inst III, 19,5; OS IV, 285. 24f. 32–35. 347 Inst III, 19,7, OS IV, 27–32 (z.T. wörtliche Melanchthon-Zitate aus den Loci communes von 1522 (ed Kolde) p. 217–219. 348 Inst III, 19,7; OS IV,286. 28–32; 287.3–9.

Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz

diesseits solcher überzogener Freiheit gilt, was Hendrikus Berkhof in der schönen Sentenz formuliert hat: „Freiheit existiert um der Liebe willen, und Liebe wird durch Freiheit möglich gemacht.“349

4.2

Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz

Die in der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) begründete These der Einheit des Bundes gehört zum „eisernen“ Bestand der Theologie Calvins. Sie hat, wie in Kapitel 2.10 beschrieben, zu jener hoch bedeutsamen hermeneutischen Öffnung hin zu einer theologischen Würdigung Israels geführt, die als ein Meilenstein in der bisherigen christlichen Geschichte gelten darf. Sie besagt, dass Gott sich schon im Alten Testamen nicht anders hat mitteilen können als im Neuen, nämlich im Zeichen des kommenden Christus. Daher die programmatische Überschrift des zweiten Buches (1559): „Von der Erkenntnis Gottes, des Erlösers in Christus, die zuerst den Vätern unter dem Gesetz, danach auch uns im Evangelium offenbart wurde.“ Hier steht zur Debatte, ob die hebräische Bibel, unser Altes Testament, lediglich als ein Vorwort des Neuen zu lesen sei, das allenfalls durch einige typologische Entsprechungen – die Opferung Isaaks oder (so der Barnabas-Brief) die auf Weisung des Geistes von Mose ausgestreckten Hände (Ex 17,11) – auf Christus bezogen, sonst aber nur im Modus bloßer Weissagung auf das entscheidend Neue hingeordnet wird. Und schien vollends das paulinische Diktum vom „Ende des Gesetzes“ (Röm 10,4) dem Alten Testament nicht jede darüber hinaus gehende theologische Verbindlichkeit abzusprechen? Wer mit Luther die Rechtfertigung allein aus Glauben (sola fide und darum sola gratia) zum Zentrum aller theologischen Sachaussagen erklärte, musste sich daher mehr oder weniger in der Nähe dieser Auffassung wieder finden. Die hier proklamierte scharfe Trennung von Gesetz und Evangelium hat jedenfalls die „untergeordnete“ Stellung des Alten Testaments, seine bestenfalls propädeutische Funktion, in den Köpfen und Herzen der Protestanten wirksam befestigt. Das uns heute sehr viel deutlicher als früheren Zeiten vor Augen stehende Problem dieser Trennung geht bereits auf Paulus zurück. Er unterscheidet Gesetz und Evangelium so, wie man zwischen Altem und Neuem, zwischen „einst“ und „jetzt“, zwischen Vergangenheit und Gegenwart eine Zäsur legen kann. „Gesetz“ und „Evangelium“ sind ihm Titel zweier einander ablösender Epochen. Mit dem Eintritt in ein neues Zeitalter sind die Statuten und Reglemente des alten obsolet geworden. Und doch hat er die Taue zum Alten Testament nicht einfach gekappt, haben wir es doch hier wie dort mit demselben Gott zu tun. Wohl aber gewinnt er

349 H. Berkhof, Christian Faith, Grand Rapid 1986, 462. Ebd. 463: “Paul warns against using freedom in such a way [1Kor 8, 1–13 und 10, 25–33] that it is no longer a channel for love but an obstacle”.

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von seinem „neuen“ Ort aus eine andere Perspektive auf das Gesetz, die er mit einem Begriff („telos“, Röm 10,4) umschreibt, der sowohl „Ende“ wie „Ziel“ bedeuten kann: Sofern jenseits des Geltungsbereichs der Tora (Röm 3,21) ein neuer Anfang gesetzt ist, signalisiert er tatsächlich das Ende des Gesetzes. Sofern dieser Anfang jedoch „vom Gesetz und den Propheten bezeugt“ wird (ebd.), tritt hier nicht etwas kategorial Neues an dessen Stelle, sondern es wird das Ziel bezeichnet, in dem das Alte zu seiner von ihm selbst angesagten Erfüllung kommt. So hat das Gesetz in Christus (der es vollkommen erfüllte) sein Ziel erreicht und bleibt deshalb „heilig, gerecht und gut“ (Röm 7,12). Der Knoten des Problems schürzt sich also nicht schon am Gesetz als solchen, sondern an dem, was Menschen daraus machen, wenn sie es in die eigene Regie nehmen und es in den Dienst ihrer Selbstbehauptung, der „eigenen Gerechtigkeit“ stellen. Dann nämlich kann das Gesetz nicht mehr das sein, was es im Alten Testament war: Folge des Bundes, seine Verfassung, vielmehr wird die Klammer von Gebot und Bund jetzt eigenmächtig gesprengt. Damit stehen wir bei der Problemstellung Luthers. Er hat sich an dem paulinischen Epochenschema orientiert. Die für ihn notwendige Unterscheidung fällt am Wort, das in beiden Fällen auf Gott selbst zurückgeht, und zwar an dem, was dieses Wort ausrichtet und am Menschen wirkt, und so rücken beide Größen, Gesetz und Evangelium, in die Extreme eines Gegensatzes auseinander: hier Forderung, dort Gabe, hier alter Bund, dort neuer Bund; hier Gericht, dort Gnade, hier Mose, dort Christus. In pointierter Verkürzung: „Das Gesetz sagt: Zahle, was du schuldig bist!, das Evangelium aber: Dir sind deine Sünden vergeben“350 Der Perspektivpunkt, von dem her Luther argumentiert, ist der Ort des Menschen, der sich durch Leistung und Verdienst vor Gott rechtfertigen will, es ist der heillose, ja tödliche Zusammenstoß, in welchem Evangelium und Gesetz aufeinander treffen. Hier ist Calvin von Anfang an andere Wege gegangen. Eine prinzipielle Scheidung von Gesetz und Evangelium hat er weder vollzogen noch anerkennt. Nichts belegt seine neue Sicht der Dinge deutlicher als die Tatsache, dass er in der Institutio (1559: II, 7–11) die Darstellung der Christologie in aller Form mit einer systematische Zusammenschau von alt und neutestamentlicher Geschichte eröffnet. Sie wird als Israel-Theologie entfaltet und gehört ohne Frage zu dem Verständnis- und Einsichtsvollsten, was seit Paulus bis dahin über die Juden gesagt und geschrieben worden ist. 4.2.1

Der gemeinsame christologisch bestimmte Horizont

Mit dem Straßburger Entwurf vollzieht sich ein Wechsel der Perspektive. Calvin argumentiert sozusagen vom Ort Gottes her, fragt nach der göttlichen Koordination,

350 WA 2, 466. 6f.

Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz

in welcher Gesetz und Evangelium in der Geschichte des alten und neuen Bundes ins Blickfeld rücken, und ist nun förmlich genötigt, das Neue Testament auf dem Hintergrund des Alten zu lesen. Dann aber lässt sich das Gesetz keinen Augenblick von der Verheißung des Lebens ablösen, die es als Siegel des Bundes mit sich und bei sich trägt. Es ist ein in sich gradliniger Weg, den Gott von der Bundeszusage an Israel bis zur Auferweckung Christi mit seinem Volk geht. Die lutherische Polarität von Gesetz und Evangelium, die sich an der Frage der Werkgerechtigkeit entzündet, muss nun nachgerade zu einem perspektivisch verzerrten Bild führen. Denn hier liegt ein von Grund auf neu orientierter Entwurf vor. Zwar kann sich, konzediert Calvin, Luthers Antithese auf gewisse Paulus-Stellen berufen, entscheidend aber ist für ihn, dass „das Evangelium hier nicht in der Weise an die Stelle des ganzen Gesetzes tritt, dass es etwa einen anderen Grund des Heils eröffnete. Es sollte vielmehr die Verheißungen des Gesetzes (quicquid illa promiserat) beglaubigen und […] derart zum Schatten den Körper selbst hinzufügen.“351 Sachlich muss man freilich zwischen den Äußerungen des frühen und des späteren Calvin unterscheiden. Während seines Baseler Exils (1535/36), also in der Erstfassung der Institutio, folgt Calvin der Anordnung der Lehrstücke in Luthers Katechismen, beginnt also mit der Entfaltung des Dekalogs (De Lege), geht dann über zum Glauben (De Fide), fährt fort mit dem Gebet (DeOratione) und den Sakramenten und endet, von seiner Vorlage abweichend, mit dem Lehrstück von der christlichen Freiheit. Die Israel-Thematik steht noch ganz im Schatten anderer, jetzt „brennenderer“ Probleme. In seiner weitgehend durch Abgrenzungen bestimmten Sicht spiegelt sich die besondere Situation des französischen Protestantismus in seiner Gegnerschaft gegen Rom. Betrachtet Calvin den alttestamentlichen Bund mit Israel als defizitär oder gar überholt352 , so blickt er auf den römischen Gottesdienst, der sich an alttestamentlichen Vorschriften orientiere353 , und auf die Werkgerechtigkeit der Gläubigen. Erst in der Straßburger Zeit und zwar in den beiden wichtigsten Publikationen, dem Römerbriefkommentar (1540) und der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) kommt es zu einer Neuorientierung. Ausschlaggebend ist die Berührung mit der oberdeutschen Bundestheologie, vor allem die Begegnung mit Martin Bucer und Wolfgang Capito. Im Kern geht es hier um den Versuch einer Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. So findet sich und der Institutio (1539) ein neuer Abschnitt, der an die Stelle des

351 Inst II, 9,4; OS III, 401. 22–25, 32–35. Die Metapher von Schatten(riss) und Köper bezeichnet hier und öfter die Differenz in der Einheit von Evangelium und Gesetz. 352 So heißt es in der Vorrede zur Olivetan-Bibel (1535): „Das [Alte Testament] war, wenn man es mit dem Neuen zusammen sehen und darauf beziehen muss, „in sich schwach und unvollendet und ist deshalb abgeschafft und aufgehoben worden“, CO 9, 803; CStA 1.1, 545. 1–3. 353 „Während sie sich für Nachfolger der Kinder Aarons ausgeben, merken sie jedoch nicht, dass sie dem Priestertum Christi Unrecht antun“, Inst (1536), OS I, 216.37–39.

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lutherischen Diskurses „De discrimine legis et evangelii“354 tritt und eine differenzierte Zuordnung dieser beiden Größen unter dem Titel: „Über Ähnlichkeit und Unterschied von Altem und Neuem Testament“ vorträgt, und diese Erörterung wird dann in drei Kapiteln (II,9–11) weiter entwickelt. Der Genfer Katechismus von 1542 nimmt daraufhin eine folgenreiche Umgruppierung vor: Die Lehre vom Gesetz folgt nun als zweites Stück auf die ihr vorangehende Exposition des Apostolicums (Des Articles de la Foy). Sie wird dadurch als Regel und Richtschnur des christlichen, der „Lehre des Evangeliums“ (Frage 127) entsprechenden Lebens dem Bekenntnis zu Christus koordiniert. Dass Calvin hier (und in den parallelen Ausführungen von Inst II, 8,13–15) tatsächlich von derselben Sache reden will und redet, zeigt vollends die der Dekalogauslegung bewusst vorangestellte Eingangsformel: „Höre Israel, Ich bin der Herr, dein Gott …“ (Ex 20, 2f; Dtn 5, 6f), die als Überschrift über das ganze Gesetz (préface sur toute la Loy) die Brücke zwischen altem und neuem Bund schlägt.355 Die Autorität, so zu gebieten, und auf unserer Seite die Verpflichtung, diesem Gebot zu gehorchen, haben ihren Grund darin, dass Gott uns beide Male als „unser Erlöser“ (nostre Sauveur) begegnet: im Alten Testament als Befreier aus Ägypten, im Neuen als der, der uns „aus der geistliche Gefangenschaft der Sünde und der Tyrannei des Teufels“ herausgeführt hat (Frage 138). So beruht die verpflichtende Kraft des Gesetzes, seine raison d’être darauf, dass Gott in einem ersten, uns vorausgehenden und befreienden (also „evangelischen“) Akt Menschen zu seinem Volk zusammengeschlossen hat. Das Gesetz wird hier im Sinne des Deuteronomiums als Urkunde einer Lebensgemeinschaft, d. h. als Verfassung (Konstitution) der Institution des Bundes eingeführt.

Man muss in diesem Zusammenhang auch den gleichzeitig entstandenen Römerbrief-Kommemtar vor Augen haben, dessen Argumente Calvin in prägnanten Thesen vorträgt. So akzentuiert er in Röm 9,5f, dass der von den Israeliten abstammende Christus der „in Ewigkeit gepriesene Gott“ sei, dessen Gnade (wie um die Wahrheit des Bundes unverbrüchlich zu machen) „trotz ihrer Verblendung beständig beim jüdischen Volk blieb“ (473.38 und 475.26).356 Das Wort vom „Ende (finis) des Gesetzes“ interpretiert er als „Ergänzung“ (complementum) bzw. mit Erasmus als Vollendung (perfectio), da das Gesetz, was es auch vorschreiben mag, „immer Christus zum Ziel hat“ (527.41f. und 529.12f.). Es ist (anders als im 354 M. Luther: „Es gibt keine bessere Weise, die reine Lehre zu tradieren und zu bewahren, als dass wir […] sie in zwei Teile teilen: in Gesetz und Evangelium“; WA 39/1,361.1–4. So ausdrücklich auch Melanchthon, Loci Communes: De discrimine veteris et novi testamenti (1521), StA II/1,125–140. 355 Genfer Katechismus (1542), Frage 117, BSKORK 17,13. 356 Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf Seiten- und Zeilenzahl der Studienausgabe: CStA 5.2)

Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz

lutherischen usus elenchticus vorgesehen) deshalb erlassen worden, „um die Juden […] zu Christus zu führen“ (531.14), so dass Mose nachgerade zum „Verkündiger des Evangeliums“ proklamiert werden kann (531.31). Dementsprechend bezieht Calvin die Stelle Dtn 30,11f. („Das Gesetz ist nicht zu schwer und zu ferne“) mit Röm 10,6 „auf die gesamte Verkündigung Gottes, welche das Evangelium mit in sich schließt“ (535.17f.), und stellt allerdings umgekehrt nun auch fest, dass Israel „an Christus gescheitert“ sei (581,32), freilich ohne das Heil der Juden verloren zu geben. Denn als Erstgeborene werden sie in der Familie Gottes „den ersten Platz einnehmen“ (601,30). Denn auch heute – so nimmt die Institutio den Ton auf – verheißt Christus den Seinen „kein anderes Himmelreich als das, in dem sie [nach Mt 8,11] mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen werden“.357 Es ist deutlich: Hier liegt ein von Grund auf neu orientierter Entwurf vor, der um ein anderes Zentrum kreist und von einer anderen Mitte her organisiert wird. Es gibt ein „Ineinander von Kontinuität und Neuheit“, das Calvin exemplarisch „etwa in Hebr 1,1 ausgedrückt“ findet. Dem „früheren“ Reden Gottes durch die Propheten tritt nun ein Reden Gottes zu uns „am Ende der Zeiten durch den Sohn“ gegenüber. Doch es ist ein Reden desselben Gottes, weshalb auch die „Sache“, um die es hier und dort geht, dieselbe sein muss, und so besteht eine „Übereinstimmung zwischen Gesetz und Evangelium“.358 . Es soll „niemand denken, dass das Gesetz mit dem Evangelium streitet oder dass es einen anderen Urheber hat als dieses“. Gott hat sein Wort vielmehr auf verschiedene Weise den Vätern und uns „angepasst“ (accomodatio).359 In diesem Sinne erinnert er auch an Maleachi (4,2), der den Juden verheißen hatte, ihnen werde, wenn sie sich an die Mose-Tora halten, „die Sonne der Gerechtigkeit“ aufgehen, denn es sei Zweck des Gesetzes, in ihnen die Hoffnung auf das Heil in Christus bis zu seinem Kommen wach zu halten.360 Mit dieser klar formulierten Erkenntnis steht er im übrigen nicht allein. Vor und neben ihm hatte sich schon Bucer zum Sprecher der Einheit beider Testamente gemacht, die sich, da auf Christus gegründet, in ihrem Wesen nicht im geringsten unterscheiden, sondern nach dem Zeugnis der „evangelischen und apostolischen Briefe hinreichend dokumentieren, wie viel Christuserkenntnis es in [diesem] alten Volk gegeben hat“.361 Hans Joachm Iwand hat das Gefälle der Aussagen Calvins auf den Punkt gebracht, wenn er von der „adventlichen Bedeutung“ des Gesetzes spricht, als deren Zeuge Johannes der Täufer in der Mitte zwischen Gesetz und Evangelium steht und

357 358 359 360 361

Inst II, 10,23; OS III, 422.6f). P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik (Anm. 40), 212. Kom. zu Hebr 1,1f, CO 55,9ff. Inst I, 9,1; OS III, 398.14.19, sowie Überschrift zu II,7; OS III, 326. 19–21. M. Bucer, Metaphrases et enarrationes perpetuae epistolarum D. Pauli Apostoli, Straßburg 1536, 189.

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beide miteinander verbindet.362 Denn zu dem ihm Wichtigsten, das er unter allen Umständen meinte zur Geltung bringen zu müssen, gehöre die Erkenntnis, dass das Gesetz selbst als Träger der Verheißung verstanden werden muss. So verstanden aber enthalte es bereits die Fundamente der gesamten Verheißungsgeschichte in sich und lege sie frei. 4.2.2

Der Sinn der klassischen Gegensätze

Natürlich hat Calvin die offenkundigen Unterschiede zwischen Altem und Neuen Testament nicht einfach ignorieren können. Er führt sie im wesentlichen auf die grundverschiedene (heils-)geschichtliche Situation dort der Israeliten, hier der christlichen Urgemeinde zurück, das heißt auf die Form der Darstellung (modus administrationis), nicht aber auf eine substantielle Differenz. Sie können deshalb der vorab festgestellten Einheit keinen Abbruch tun.363 Da ist zunächst die größere Klarheit des Neuen Testaments im Blick auf die verheißene künftige Erbschaft. Zeigen nicht Abraham und David je auf ihre Weise, dass sie, obwohl im Besitz der zeitlichen Segnungen des verheißenen Landes, „in ihrem Hoffen weit über die Welt und alle irdischen Güter hinausgegangen sind?“ Die Wohltaten, mit denen Gott sie hier überschüttete, waren doch nur dazu bestimmt, sie gleichsam „an der Hand zur Hoffnung auf die himmlischen Güter zu führen.364 Calvin teilt offenbar Bucers Auffassung von dem pädagogischen Aspekt (paedagogia quaedam) der Verheißungen.365 Ein zweiter Unterschied bezieht sich direkt auf die oft beschriebene Darstellungsform. Calvin erläutert ihn, auch hier Bucer folgend, am Hebräerbrief (8,6–13) und zwar in einem Vergleich des Mose-Amtes mit dem Amt Christi, das heißt am Thema der notwendigen Veränderung des Priestertums, die, wie er betont, die Substanz des Bundes gar nicht tangiert. Denn solange seine Erfüllung noch ausstand, seine Bestätigung also nur durch Zeremonien und Opfer geschah, konnte uns nur ein „Schattenriss der zukünftigen Güter, nicht aber ein lebendiges Bild der Dinge selbst“ vor Augen gestellt werden.366 Denn auch wenn das Abbild die Aufgabe einer Ein- und Hinleitung erfüllen kann, es bleibt ein wie immer unvollkommener Spiegel. Und doch haben Gesetz und Propheten den Menschen ihrer Zeit einen Vorgeschmack des Kommenden vermittelt: sie haben auf die noch nicht enthüllte Wirklichkeit wie auf ein „in der Ferne aufscheinendes Licht“ hingewiesen, und das – so Calvin – ist entscheidend. Denn „wo man mit dem Finger auf Christus 362 363 364 365 366

H.J. Iwand, Gesetz und Evangelium. Nachgelassene Werke Bd. 4, München 1964, 379. Inst II, 11,1; OS III, 423.7 und 12f. Inst II, 11,2, OS III, 425.9–11 und 423.36ff. So F. Wendel, Calvin (Anm. 81), 184 im Blick auf Bucer, Metaphrases (Anm. 361), 189. Inst II,11,4; OS III, 426.31f (Hebr. 10,1).

Evangelium und Gesetz: Einheit in der Differenz

selbst weisen kann, da ist das Reich Gottes [bereits] erschlossen“.367 So tritt das Christentum nicht als etwas schlechthin Neues in die Welt. Seine Wahrheit lebt, wie im Bild von Röm 11,17 beschrieben, von der „Kraft des Saftes, der sich von der Wurzel [des Judentums] her in die Zweige ausbreitet“.368 Der dritte Differenzpunkt hat es mit den von Luther so stark akzentuierten Gegensatzpaaren „Gesetz und Evangelium“ (Predigt des Todes/Predigt des Lebens) sowie „Buchstabe und Geist“ (2Kor 3,6) zu tun. Als Gegensätze, argumentiert Calvin, könnte man sie nur stehen lassen, wenn man nach Art einiger seiner „unverständigen Verteidiger“ das Gesetz auf seine puren Vorschriften reduzieren und dabei von allen ihm mitgegebenen Verheißungen absehen wollte. Schließlich habe Gott den Juden „nicht ganz ohne Frucht (und Nutzen)“ sein Gesetz gegeben, wie wenn „sich niemand zu ihm bekehrt hätte“.369 Der „Gegensatz“ von Geist und Buchstabe hat darum den Sinn eines Vergleichs: er soll den „Reichtum der Gnade preisen, da es demselben Gesetzgeber gefiel, mit ihm, als hätte er sich mit einer neuen Person bekleidet, das Reich seines Christus zu ehren“.370 Vergleichen also soll man die geringe Zahl derer, die in Israel die „Lehre des Gesetzes“ mit ganzem Herzen angenommen haben, mit der freilich größeren Zahl derer, die Gott durch die geistgewirkte Evangeliumspredigt seiner Kirche zugeführt hat. Schließlich gibt es viertens noch den Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit (Röm 8,15). Darin jedoch einen Gegensatz von Altem und Neuen Testament zu sehen, verbiete sich schon deshalb, weil es auch unter den Gläubigen Israels solche gegeben hat, die „ganz gewiss denselben Geist des Glaubens und der Freiheit empfangen haben wie wir“. Da aber Furcht und Freiheit nicht aus derselben Quelle, dem Gesetz, stammen können, bleibt nur der Schluss, dass sie sich „unter den Schutz des Evangeliums geflüchtet“, also von einer „außerordentlichen, dem Neuen Testament eigenen Frucht“ gezehrt haben.371 Der parallel geführte Beweisgang im „Römerbrief “ resumiert: Im jüdischen Volk sind „die Frommen während und auch nach dem Erlass des Gesetzes durch denselben Geist des Glaubens erleuchtet worden“. […]. Der Unterschied also besteht lediglich darin, dass im Reich Christi der Geist „reichlicher und mit freigebigerer Hand ausgegossen ist.“372 Es lässt sich nicht bestreiten, dass Calvin ein sicheres Gespür für den Unterschied zwischen beiden Testamenten gehabt hat, auch wenn diese Differenzen in seinen Augen die Substanz des von Gott mit den Menschen geschlossenen Bundes und somit den Kern

367 368 369 370 371 372

Inst II, 11,5; OS III, 428.14f. Zu Röm 11,17; CO 49, 221; CStA 5.2, 589,11f. Inst II, 11,8; OS III 430.23–25. Ebd. 430. 25–28 (frz. Text von 1541) Inst II, 11,9; OS III, 431.34f. zu Röm 8,15; CO 49, 149; CStA 5.2, 409. 14–19.

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der Offenbarung nicht im geringsten berühren können. Deshalb sollte man, ihm folgend, nicht von einem neuen, sondern von einem, weil in Christus, dem präexistenten Logos geschlossenen, so auch durch ihn, den Mensch gewordenen Christus erneuerten Bund sprechen.

4.3

Calvins Christologie

Kein Theologe vor und nach ihm hat die These der substantiellen Einheit beider Testamente so konsequent vertreten und ausgearbeitet wie Calvin. Sie hält fest, dass die Wirksamkeit Christi nicht auf das Neue Testament beschränkt ist, dass vielmehr das gesamte biblische Zeugnis, auch das des Alten Testaments, als ein Zeugnis von und für Christus verstanden werden muss. Ob man daraus schließen darf, dass „die Christozentrik bei Calvin ebenso deutlich und klar zum Ausdruck (kommt) wie bei Luther“373 , ist eine bis heute offene Frage. Von einem Verlust der grundlegenden Bedeutung, welche die Theologie dem Werk Christi von jeher zugeschrieben hat, kann jedenfalls nicht von ferne die Rede sein. Denn das große Thema des II. Buchs der Institutio (1559) ist ja „die Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christus“ und als deren Voraussetzung die in ihm geschehene Versöhnung von Gott und Mensch, Gott und Welt. Spricht Calvin von Christus als einem Spiegel, in dem wir Gott erkennen sollen, dann muss man sich freilich von modernen Vorstellungen – sei es der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ oder des „ganz Anderen“ – völlig trennen. Calvins Thema ist der im Handeln begriffene, uns in seiner befreienden Wirklichkeit zugewandte und derart der von uns auch erfahrbare biblischen Gott, der für Gerechtigkeit eintritt. Als Immanuel, als Gott mit uns und für uns, wird er in der Person Jesu von Nazareth vom Heiligen Geist „wie einer unseresgleichen vertraut in unsere Mitte gestellt“.374 Er überbrückt den unendlichen Abstand, der uns von Gott selbst trennt, und ist in dieser für Calvin zentralen soteriologischen Bestimmung der „Mittler zwischen Gott und den Menschen“ (1Tim 2,5). Damit ist die theologische Differenz zwischen Gott selbst und seiner je konkreten Manifestation, darüber hinaus aber auch die historische Differenz zwischen den Gestalten dieser Manifestation im Alten und Neuen Testament klar zum Ausdruck gebracht: „[D]amals zeigte sich Gott nur verhüllt und wie aus weiter Ferne […] Die Zeit der vollständigen und klaren Enthüllung war noch nicht gekommen.“375 Es ist ja deutlich, dass diese „Enthüllung“ nicht den Charakter einer zeitenthobenen Substanz (essentia) haben kann. Bei aller Nähe zur altkirchlichen Christologie

373 So: F. Wendel, Calvin., Ursprung und Entwicklung (Anm. 81), 187. 374 Inst II,12,1; OS III, 438. 11f. 375 Zu Joh 1,18; CO 47, 20.

Calvins Christologie

vermeidet Calvin daher weitgehend das ontologische Sprachfeld der klassischen Dogmatik und konzentriert sich – hier liegt für ihn die Herausforderung – auf den Weg, auf dem sich Christus für uns in seinen Taten offenbart hat. David Willis hat einleuchtend gezeigt, dass die berühmten „Ich bin“- Aussagen (Joh14,10) nicht darüber Auskunft geben wollen, wer oder was Christus „in sich selbst“ ist, sondern „wie er von uns erkannt werden sollte, wenn er über seine Macht und eben nicht über seine Esssenz spricht […] Calvin insistiert allein darauf, dass der Gegenstand unserer christologischen Erkenntnis die Art und Weise seiner Offenbarung ist376 Das schließt nicht aus, dass er „in sich selbst“ der „ewige Sohn Gottes“ bleibt, aber eben der, der „um unsres Heiles willen vom Himmel herabgestiegen ist“ und eine leiblich-körperliche Existenz angenommen hat. Die Offenbarungsformel, die die Antwort auf die Frage nach der so verstandenen Einheit der Person Christi gibt, lautet daher in größtmöglicher Kürze und Prägnanz: „Deus manifestatus in carne“ – Gott geoffenbart im Fleisch.377 Um das Geheimnis dieser Einheit von Gott und Mensch verstehbar zu machen, greift Calvin auf die Zweinaturenlehre der Alten Kirche, zurück, speziell auf die Erklärungsversuche der Communicatio idiomatum (der wechselseitigen Teilhabe an ihren spezifischen Eigenheiten, II,14). Diese „Lösung“ befriedigt heute jedoch immer weniger und scheint auch kaum dem hier entfalteten Frageansatz zu entsprechen. Denn die Verbindung von Gottes- und Weltwirklichkeit lässt sich nun einmal ontologisch auf keine Weise fixieren. Zwischen „Himmel“ und „Erde“ gibt es kein anderes Kontinuum als das „descendere“ des „Sohnes“, und das Ereignis seiner Ankunft. Wenn aber die Gegenwart Gottes nur aussagbar ist als die Gegenwärtigkeit dessen, der kommt, müsste dann seine Manifestation „im Fleisch“ nicht von jeder begrifflich fassbaren Präsenz (“Natur“) klar unterschieden werden? Spätestens hier wird das theologische Problem jeder Christologie sichtbar: Wenn von einem Zusammenschluss Gottes mit der Welt geredet werden und doch ausgeschlossen sein soll, dass Gott sich in die Endlichkeit dieser Welt verliert, von ihr gleichsam absorbiert (und somit erübrigt) wird, dann steht dieser Zusammenschluss unter dem kritischen Vorbehalt einer bleibenden Differenz von Gott und Welt, die im übrigen jede wirkliche Nähe Gottes erst erfahrbar und möglich macht. Aber lässt sich diese Beziehung Gottes zur Welt auf einen systematisch befriedigenden Ausdruck bringen? Die Tradition meinte, in der Zweinaturenlehre einen solchen Ausdruck gefunden zu haben, der jedoch, wie in den letzten Jahrzehnten mit wachsender Offenheit ausgesprochen wird, in einer erheblichen Spannung zum Christuszeugnis

376 D. Willis, Calvin’s Catholic Christology. The Function of the so-called Extracalvinisticum, Leiden 1966, 61f: – im Blick auf den Joh-Kommentar CO 47, 326: „quia non simpliciter disputat Christus, quis sit in se, sed qualis debeat cognosci a nobis, virtutis potius quam essentiae elogium est.“ 377 Kom. zu 1Tim 3,16, CO 52, 289f: „Non potuit magis proprie de Christi persona loqui quam his verbis“.

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des Neuen Testamentes steht.378 Man muss ja nur fragen, ob diese Lehre in der ausbalancierten Symmetrie ihrer Aussagen überhaupt geeignet ist, die Einheit, die sie meint, verständlich zu machen, statt sie lediglich zu behaupten. Calvin behält ihre Terminologie bei, aber es ist deutlich, dass sie bei ihm aufhört, Mittelpunkt und Achse des christologischen Problems zu sein. Dessen Verortung in der Bundesgeschichte führt dazu, dass er weit mehr an den entsprechenden „Ämtern“ Christi interessiert ist. Seine Christologie, hat man gesagt, stellt den Übergang von einer Naturen- zu einer Ämter-Christologie dar.379 Damit ist das Problemfeld umrissen, das Calvin im Rahmen der altkirchlichen Christologie bearbeitet und das sich ihm – so soll es hier aufgenommen werden – primär als Problem der Vermittlung stellt380 . Dabei ist das zentrale Thema theologischen Nachdenkens für ihn an erster Stelle die alle bisher bezeugte Nähe und Vertrautheit überbietende Akkomodation Gottes in der Form der Inkarnation des ewigen Logos. So entfaltet er die klassische Lehre von der Person Christi in zwei Schritten: Die Inkarnation wird als Annahme der menschlichen Existenz und Natur (assumptio carnis; II,13) beschrieben, die Einheit der Person als Thema der Zwei-Naturen-Lehre (II,14). Die (herkömmlich davon getrennte) Frage nach dem Werk Christi beantwortet Calvin mit der Drei-Ämter-Lehre (II,15), die sich als neue Klammer erweist, welche die ganze Christologie zusammenhält. Wichtige, über die Tradition hinausgehende Akzente setzt er dabei durch die starke Betonung der Akkomodation Gottes, durch die Verbindung der Mittlerschaft Christi mit der Erwählung, ferner durch die Verankerung der drei Ämter im Alten Testament und nicht zuletzt durch die kosmische Reichweite der Versöhnung (sog. Extracalvinisticum). 4.3.1

Christus als Mittler

Was Calvin bei aller Nähe zur theologischen Tradition von seinen Vorläufern unterscheidet, ist sein dezidierter Ansatz bei der Frage nach der Mittlerschaft Christi. Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt seiner Christologie, denn sie bezieht sich nicht nur auf die Inkarnation des Sohnes, sondern auch außerhalb dieses

378 W. Neuser, Die Theologie Johann Calvins, in: C. Andresen (Hg), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 2, Göttingen 1980 (238–271), 249: Die Zwei-Naturen-Lehre „verführt Calvin zu Aussagen, die die Gottheit und Menschheit in Christus auseinanderfallen lassen“. Ebenso: P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen 1994, 14 5: „Dass die Zweinaturenlehre […] als Erklärungshintergrund der synoptischen Evangelien nicht befriedigen kann, ist offensichtlich.“ 379 H. Oberman, Initia Calvini. The Matrix of Calvin’s Reformation, in: W. Neuser (Hg): Calvinus Sacrae Scripturae Professor, 1994, 113–154. 380 Dazu insbes.: E.-M. Faber, Symphonie von Gott und Mensch, Neukirchen 1999, 216–281.

Calvins Christologie

besonderen Wirkens (etiam extra carnem) auf das Werk Gottes in und an seiner Schöpfung. (1) Akkomodation. Dieses Mittleramt – vor der Ankunft Christi wahrgenommen durch den Logos – ist zunächst der sachliche Grund des sich akkomodierenden Wortes Gottes in der Zeit der „Väter“ und Propheten. Es erscheint als menschliches Wort und ist doch Gottes eigenes Wort. Jetzt aber kommt es quantitativ und qualitativ zu einer unglaublichen Steigerung. „Jetzt, seitdem Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, leuchtend aufgegangen ist, haben wir den vollen Glanz der göttlichen Wahrheit, […], während das Licht vorher noch trübe war.“381 Jetzt geht es nicht mehr um ein Problem der göttlichen bzw. menschlichen Rhetorik, jetzt „steigt“ (der ewige Sohn Gottes selbst) „aus freiem Entschluss zu uns herab, um uns zu Gott hinaufzutragen“382 und wird zu unserem Bruder. Denn nur wenn Gott uns in Christus begegnet, können wir ihn zu unserem Heil erkennen. In der Reihe des sich akkomodierenden Redens Gottes „nimmt die Inkarnation den höchsten Platz ein, weil sie gleichsam die Ebene der Redefiguren verlässt und nun der Redner selbst auftritt“.383 „In diesem Sinne“ erklärt Calvin unter Berufung auf Irenäus, „sei der Vater, der ja unendlich ist, im Sohn endlich geworden, weil er sich unserem Maß anpasste, damit die Unendlichkeit seiner Herrlichkeit unsere Sinne (mentes) nicht verschlinge.“384 (2) Die Inkarnation, das Erste, was Calvin vom Werk der Erlösung zu sagen hat, ist aufs engste verknüpft mit und verankert in der Erwählungslehre. Sie beruht nicht, so die ausdrückliche Erklärung, auf einer „einfachen“ oder „absoluten“ Notwendigkeit, so dass es wie bei Anselm eines eigenen Beweisganges bedürfte, um die Menschwerdung Christi überhaupt plausibel zu machen, sondern ergibt sich – hier meldet sich zum ersten Mal in der Institutio das Problemfeld der Prädestination – aus dem „himmlischen Ratschluss (decretum caeleste), von dem das Heil der Menschen abhängt“.385 Gottes Akkomodation geschieht als Erwählung, und als Mittler ist Christus das „Band der Erwählung“386 . Die Inkarnation ist deshalb kein Akt der Synthese von Gott und Welt, sondern Gottes Entscheidung für die Welt. Das schließt die Entscheidung für die Geschichte dieser Welt natürlich ein, macht es jedoch unmöglich, sie mit Gott zu identifizieren Das Ziel der Inkarnation, ist vielmehr die Rettung des Menschen in dieser Geschichte, und liegt als solche somit

381 382 383 384 385

Inst IV, 8,7; OS V, 138. 30–33. CO 9, 370. P. Opitz, Calvins theologische Hermeneutik (Anm. 40), 133. Inst II, 6,4; OS III, 326.1–3. Inst II, 12,1; OS III, 437.4–6: die Tatsache der Existenz des Mittlers Christus „manavit ex caelesti decreto“; in II, 12,4 (ebd. 441.2) heißt es: „aeterno Dei consilio (purgandis hominum sordibus) fuisse destinatum“. 386 Inst III, 6,3; OS IV,148.26, OS III, 441.2f.

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allein in Gott selbst beschlossen. Nach „Gottes ewigem Ratschluss ist der Mittler dazu verordnet, unsere Sünden abzuwaschen“.387 Damit ist offenkundig ein festerer Grund unsres Heils gelegt, als er in der irdischen Wirksamkeit Jesu, seinem Eintritt für Arme und Kranke, in seiner Predigt oder in der Nähe des Gottesreiches zu finden wäre. Paulus, erläutert Calvin, zeigt ja nicht nur, wozu Christus gesandt ist, sondern „er dringt bis in das tiefste Geheimnis der Prädestination ein“, dort, wo auch wir „unserer Erwählung vor der Grundlegung der Welt in Christus und unserer [dadurch verbürgten] Kindschaft Gottes“ gewiss werden sollen. Sein Argument steht somit auf dem Nenner dessen, „was Gott von Ewigkeit her verordnet hat“.388 Deshalb ist es – wie man gleichsam urbildlich schon in Ex 3,7f. liest! – „Gottes Majestät selber, die zu uns herabgekommen ist“. Erst damit ist das Thema der Mittlerschaft Christi präzise bestimmt: Es geht um das Problem der Nähe und Gegenwart Gottes, der Gemeinschaft mit ihm, das hier aufgeworfen wird. Als Mittler tritt Christus buchstäblich in die Mitte des tiefen Gegensatzes von Gott und Mensch, hat gleichermaßen Anteil an dessen beiden Polen, an der Majestät Gottes, die – so die Pointe des Entwurfs – jetzt bei und unter uns sichtbar geworden ist, und an dem Elend der menschlichen Existenz, das er mit uns teilt. Auf keine andere Weise konnte Gott uns wirklich nahe kommen, auf keine andere Weise konnte bei uns die Hoffnung entstehen, dass er wahrhaftig unter uns wohne. Denn wie hätten wir aus eigener Kraft jemals zu Gott aufsteigen und uns seiner Gegenwart vergewissern können? Deshalb, betont Calvin, „musste der Sohn Gottes für uns zum Immanuel werden, das heißt ‚Gott mit uns!’, und zwar so, dass seine Gottheit und die menschliche Natur sich aufs innigste miteinander vereinten“.389 (3). An dieser systematisch wichtigen Stelle wird das Instrument der Zweinaturenlehre eingeführt. Sie ist der Schlüssel der Interpretation, den Calvin im Kommentar zu 1Tim 3,16 ausführlich begründet hatte. In einer Predigt zu diesem Text schreibt er: „Das Wort ‚manifestatus [in carne]’ zeigt uns, dass hier zwei Naturen unterschieden werden müssen […]. Weiter vergewissert es uns, dass unser Gott einer von uns wurde und wir frei von der Last der Sünde sind.“390 In dieser interpretierenden Funktion wird das Calcedonensische Dogma tatsächlich zum Schlüssel (clavis) des richtigen Verständnisses der Stellung Christi als Mittler, um, wie es dort heißt, den oft verdunkelten „ursprünglichen Sinn fast der ganzen Lehre von Christus“ angemessen auszudrücken.391 Hier jedoch fragt D. Willis: Suggeriert diese Formel nicht, „dass die göttliche Natur im Fleisch statt mit ihr vereinigt ist?“

387 388 389 390

Ebd. 12, 4; ebd. 441. 2f. Ebd. 12,5; ebd. 442. 30–33 und 38. Inst II, 12,1; OS III, 437.17–22. Kom. zu 1Tim 3,16: CO 52, 290; Predigt: CO 53, 321 und 327. Vgl. auch Kom zu Joh 17,1: CO 47,376. 391 Inst II,14,3; OS III, 462. 4–9. Vgl. ebd. 4 60. 28–29.

Calvins Christologie

Legt sie, indem sie die Manifestation zur „bestimmenden Art und Weise (manner) der Präsenz des Mittlers macht, nicht nahe, dass die Erlösung [am Ende] nicht mehr sein kann als eine bloße Offenbarung?“392 Die theologische Aussage geht an dieser Stelle jedenfalls nicht über die bekannten Thesen Anselms hinaus, die sich Calvin zu eigen macht: Die Menschwerdung steht im Dienst der Satisfaktion, um Gott ein Äquivalent für unsere Untaten anzubieten. Calvin nimmt den in der Tradition so wichtigen Gedanke des stellvertretenden Strafleidens explizit auf393 , wendet ihn allerdings so, dass das Ziel der Befreiung in den Vordergrund rückt. Die Aufgabe des Mittlers, als „wahrer Mensch“ öffentlich dort hinzutreten, wo unsere Schwachheit offenbar wird, ist ganz darauf gerichtet, „dass wir aus Menschenkindern zu Gotteskindern, aus Erben der Hölle zu Erben des Himmels werden“. Auch der Verdienstgedanke spielt in seiner Argumentation eine wichtige Rolle, wird aber – hier liegt der Überschuss über die Tradition – wie das Mittleramt selbst konsequent (augustinisch) an das „hellste Licht der Prädestination und der Gnade“ zurückgebunden. Nicht die menschliche Natur Christi als solche, sondern „Gottes Anordnung“ ist die erste Ursache, die als Quelle aller „Verdienste“ in Frage kommt, so dass an dieser Stelle nun auch „das große Wort der Versöhnung“ sein Recht bekommen kann.394 (4) Offenbarung: Einheit von Gott und Mensch. Wie aber steht es in dieser Hinsicht mit der Zweinaturen-Lehre, deren traditionelle Erklärung Calvin fast vollständig übernimmt? Was schließt dieser „Schlüssel“ auf? Wie ist die Einheit und wie das Zusammenwirken von Gottheit und Menschheit zu verstehen? Antwort: Sie ist Einheit in einer Differenz. Der Glaube, erklärt Calvin, darf sozusagen nicht allein am Wesen Christi [seiner göttlichen essentia] hängen bleiben. Denn „zu wissen, wer Christus ist, würde uns wenig nützen, wenn nicht dies zweite hinzu käme, wie er sich uns gegenüber verhalten will, und zu welchem Zweck er von seinem Vater gesandt ist“.395 Diese Auskunft ist von den „Naturen“ zu erwarten. Das Mittleramt beschreibt, so verstanden, den modus revelationis, die Art und Weise, „wie Christus sich uns offenbart“.396 In der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) bringt Calvin dieses Verständnis der Sache zu endgültiger Klarheit, indem er den entscheidenden Punkt, die Annahme der menschlichen Natur und Existenz (assumptio carnis) mit einem alttestamentlichen Bild erläutert:

392 D. Willis, Christology, 62f. 393 Inst II, 12,3; OS III, 439. 22–24 (satisfacere); auch II,16,2, ebd.–484. 2–8 (ira, poena, piaculum) und: „die Strafe für seine Sünde voll und ganz tragen“. 394 Inst II,17, 1; OS III, 509. 17: „Dei ordinatio […] prima causa est“, und: ebd. 510.14: „Ac magnum pondus habet nomen placationis.“ 395 Kom. zu Joh 1,49; CO 47, 36. 396 Kom zu Joh 14,19; CO 47, 326.

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Wenn es nun heißt: ‚Das Wort ward Fleisch’, so ist das nicht so zu verstehen, als ob das Wort in Fleisch verwandelt oder mit ihm vermischt worden sei. Es geschah vielmehr, weil es sich aus dem Schoß der Jungfrau einen Tempel ersehen hat, in dem es Wohnung nehmen sollte, weil er, der Sohn Gottes zum Menschensohn geworden ist. […] Diese Verbindung und Einigung aber ist von solcher Art, dass jede Natur [der irdische Tempel und die himmlische Herkunft] vollkommen behält, was ihr zugehört.397

Der Tempel ist die Wohnung Gottes, er ist nicht Gott selbst. In ihm stellt Gott seine Herrlichkeit dar, macht sie erfahrbar und sichtbar, gibt sie aber – das liegt im Wesen jeder Darstellung beschlossen – nicht aus der Hand. Darum geht sie, auch wenn sie das ganze Haus bis in den letzten Winkel erfüllt, in ihm nicht auf (1Kön 8,11.27), erschöpft sich in ihm so wenig wie eine Partitur selbst in der gelungensten Aufführung. Calvin erläutert die hier gemeinte Einheit mit dem nahe liegenden Vergleich von Seele und Leib: „Die Seele ist nicht der Leib, und der Leib ist nicht die Seele, […] und doch ist der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, einer und nicht mehrere.“398 Die Seele stellt sich im Leib dar, sie „regiert“ den Leib und bildet mit ihm, modern gesprochen, eine psychosomatische Einheit. Analog redet die Schrift auch von Christus: „Sie schreibt ihm einmal zu, was man auf die menschliche Natur beziehen muss, zum andern aber auch, was in besonderer Weise der Gottheit eigen, oft auch, was beiden Naturen gemeinsam ist, so dass sie die Eigenart der einen auch der anderen zuteilt.“399 Das ist die zentrale Aussage der bereits in der Alten Kirche, von Calvin auch in der ersten Institutio (1536; OS I, 80) vertretenen Lehre der communicatio idiomatum. David Willis spricht im Blick auf Inst II, 14 geradezu vom „Kern der von Calvin geführten christologischen Diskussion“. Was dabei allerdings verloren geht, ist der Gedanke der gleichnishaften Darstellung Gottes im Menschen Jesus Christus und in der Welt (dem salomonschen „Tempel“). Daran jedenfalls lässt die Formel des 1.Timotheusbriefes (3,16) denken, die erstens mit gleichem Nachdruck „das ‚vere Deus und das vere homo’ (wahrer Gott und wahrer Mensch)“ einschärft, ihr Ineinander und Miteinander wie das von Seele und Leib, die „ zweitens den Unterschied zwischen diesen beiden Naturen“ hervorhebt, eine Differenz, ohne die eine Darstellung (eine „Manifestation“) in einem anderen Medium gar nicht möglich wäre, und die „drittens die Einheit der Person zu erkennen gibt, da es ein und derselbe ist, von dem die Überlieferung redet“400 , – jene Person nämlich, die uns ein vielfaches, aber in sich einheitliches Bild der neuen, gott-menschlichen Wirklichkeit vor Augen stellt. Das alles mag 397 398 399 400

Inst (1539) II, 14,1; OS III, 458. 16–23. Ebd. 458. 28 und 34. Ebd. 459. 2–9: Zur Interpretation vgl. D. Willis (Anm. 55), 65. Zu 1Tim 3,16, CO 52, 289f: Hier werde der rechte „orthodoxe Glaube“ aufs beste gegen Arius, Marcion, Nestorius und Eutyches „befestigt“.

Calvins Christologie

Calvin mitgemeint haben, wenn auch die Wahrung der dogmatischen Korrektheit bei ihm im Vordergrund steht: Die Einheit zu bekennen, ist notwendig, um Gott so wenig wie möglich von Christus zu trennen, die Unterschiedenheit der Naturen, um nicht die Annahme einer (innertrinitarischen) Veränderung während des Vorgangs der Inkarnation nahe zu legen. Denn nicht durch eine Vermischung der Naturen ist Gottes Sohn der Menschensohn geworden, sondern durch die, uns allerdings unbegreifbar bleibende Verschränkung seiner Gottheit mit der angenommenen Menschheit, und notwendig ist schließlich das Bekenntnis zur Einheit der Person, um der später so virulenten Gefahr des Monophysitismus zu entgehen. (5) Die Weite des Mittleramtes. Die These der „substantiellen Einheit“ des altund neutestamentlichen Bundes nötigt Calvin, noch einen Schritt weiter zu gehen: Auch vor seiner Inkarnation (als präexistenter Logos) war Christus der Mittler zwischen Gott und der „gefallenen“ Menschheit, so insbesondere im Bund mit Abraham. Seine Gegenwart wurde durch Zeichen, Abbilder, vor allem aber durch Verheißungen und Prophetenworte dargestellt, mitunter sogar in der Form eines Engels. Sogar vor und ganz jenseits des „Falles“ hätte Christus das Mittleramt wahrnehmen müssen. Denn „selbst wenn die Menschheit von aller Sünde frei geblieben wäre, war ihr Stand (conditio) doch zu niedrig, als dass sie ohne einen Mittler mit Gott hätte in Gemeinschaft treten können.401 Jenseits dieser Konsequenzen hat der Begriff des Mittlers selbst damit einen bedeutsamen Wandel erfahren: Während der antitriniarischen Krise in Polen wurde Calvin genötigt, seine eigene Position gegenüber Francesco Stancaro zu erklären402 , der dort als Vertreter der dogmenkritischen Strömungen Italiens (des sogenannten Sozinianismus) lehrte und jedenfalls eine Zeitlang mit Calvin darin meinte einig zu sein, die Mittlerschaft Christi beruhe allein auf der Kraft seiner menschlichen Natur. Aus Genf bekam er daraufhin in einem Schreiben „an die polnischen Brüder“ zur Antwort: Wir gehen davon aus, dass Christus der Name eines Mittlers nicht deshalb zukommt, weil er sich mit unserm Fleisch bekleidet oder das Amt der Versöhnung des Menschengeschlechts mit Gott auf sich genommen hat, sondern weil er schon von Anbeginn der Schöpfung Mittler gewesen ist, denn er war immer Haupt der Kirche, und hat als Erstgeborener der ganzen Schöpfung den ersten Platz (primatus) auch über die Engel eingenommen (Eph 1,2; Kol 1,15 und 2,10) […] Deshalb ist es undenkbar, aus dem Titel des Mittlers den Schluss abzuleiten, er sei geringer als der Vater, da doch dies [beides] aufs beste zusammenstimmt, dass der eingeborene Sohn Gottes derselbe Gott, eines Wesens

401 Inst II, 12,1; OS III, 438. 1–2. 402 Zur Situation: CStA 8, 250f, 274–276.

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mit dem Vater, und eine Art Medium zwischen Gott und den Kreaturen war, so dass von ihm das sonst in Gott verborgene Leben zu uns herabkam.403

Eine folgenreiche Korrektur: Seit und mit Augustin ging die ältere Theologie davon aus, dass die Mittlerschaft Jesu Christi ganz von der menschlichen Natur getragen werde, wobei die göttliche Natur nur eine Art Hilfestellung leiste. In der Kontroverse mit Stancaro kommt es jetzt jedoch zu einer gleichsam regionalen Ausweitung der Mittlerschaft selbst und zwar dergestalt, dass die göttliche Natur, also der ewige Sohn selber es ist, der die Verbindung zu der gesamten, nun auch außermenschlichen, sichtbaren wie unsichtbaren Schöpfung, d. h. zur Welt der Pflanzen und Tiere bis hin zu den Engeln, herstellt – eine Vermittlung extra carnem, deren tragender Grund eben die göttliche Natur Christi ist. Sie „befähigt die menschliche Natur also nicht nur zur Vermittlung, sondern der ewige Sohn selbst ist der Teil in Gottes dreieinigem Wesen, der den Abstand zum Menschen auch unabhängig von der Inkarnation überbrückt.“404 Metaphorisch gesprochen: Gott kommt seinen verwaisten Geschöpfen „als Vater entgegen und nimmt […] sie als seine Kinder an“, ein Bild „das den Zusammenhang zwischen Christologie und Erwählung“ noch einmal verdeutlicht.405 . Calvin zieht hier zugleich die ganze Konsequenz aus der unverkürzten Eigenart der göttlichen Natur: Sie ist nicht im geringsten von der Menschheit abhängig. Deshalb – François Wendel hat darauf hingewiesen – „betritt er den Bereich der communicatio idiomatum nur mit großer Vorsicht“. In ihrem Zeichen göttliche Attribute auch der menschlichen Natur Christi zuzuerkennen, müsste zu einer heillose Verwirrung führen in der Frage, was Gott und was dem Menschen eigen sei. So erklärt er zu Lk 2,40, dass aus der Einheit von Gott und Mensch doch „keineswegs folgen könne [was man auf lutherischer Seite lehrte], dass alle Eigenschaften der Gottheit [etwa Ubiquität oder Weisheit und Stärke] auch der menschlichen Natur Christi mitgeteilt würden“406 – geschweige denn, dass seine Gottheit den Himmel verlassen hätte, um sich wie in einer Wohnung im Fleisch einzuschließen. Angesichts dieser schwierigen Argumentation dürfte Dieter Schellong im Recht sein, wenn er den Akzent gleich schärfer setzt und erklärt: „Nicht nur und nicht primär wird das Mittleramt von der Zweinaturenlehre aus begründet, sondern umgekehrt: die Zweinaturenlehre wird in die Vorstellung vom Mittleramt Christi hineingenommen und empfängt von daher ihr Profil.“407

403 Responsum ad Fratres Polonos, CO 9, 338. Dazu s. D. Willis (Anm. 55), 70–73. 404 So die Darstellung von C. van der Kooi, Christologie, in: H. Selderhuis (Hg), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 254. 405 Ebd. 254. 406 Zu Lk 2,40, Evangelienharmonie, CO 45, 104. 407 D. Schellong, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, München 1969, 287.

Calvins Christologie

4.3.2

Das sogenannte Extracalvinisticum408

Diese Feststellung ist der Kern des später (in der lutherischen Polemik) sogenannten Extra-Calvinisticum, dessen klarste Formulierung sich in der Institutio (1559) findet: Obwohl das Wort in der Unermesslichkeit seines Wesens mit der menschlichen Natur zur Einheit einer Person zusammengewachsen ist, bilden wir uns doch nicht ein, es sei von ihr umschlossen. Wohl ist der Logos wunderbarerweise vom Himmel herabgestiegen und hat ihn doch nicht verlassen, wohl hat er sich im Schoß der Jungfrau austragen lassen, ist auf Erden gewandelt, hat willentlich am Kreuz gehangen – und hat doch wie im Anfang immerfort die ganze Welt erfüllt.409

Calvin bestreitet –übrigens in Fortsetzung fast der gesamten älteren Christologie (Athanasius, Gregor von Nyssa, Augustin und Thomas) – dass der göttliche Logos aufgrund der Inkarnation von der Menschheit Christi wie von einem Gefäß umschlossen sein könnte, und stellt dieser These die paradoxe Behauptung entgegen, dass er ungeachtet seiner vollen Einwohnung im Menschen Jesus auch ganz außerhalb der Menschheit Christi bleibe, in der scharfen Formulierung des Maresius gesprochen: „ut totus eam inhabitet et totus […] extra eam sit“.410 Damit ist zugleich gesagt: Der Logos, die zweite Person der Trinität, ist nicht erst seit der Inkarnation Mittler und Versöhner, sondern er ist es von der Erschaffung der Welt an. Heiko A. Oberman hat dementsprechend von einer „ganzen ‚Extra’-Dimension in Calvins Theologie“ reden können: neben dem „ extra carnem“ steht, dessen Sinn interpretierend, ein „extra ecclesiam, extra coenam, extra legem und extra praedicationem“. Der Vorwurf des Nestorianismus ist alt: Calvin trenne auf unzulässige Weise das Gott-Sein Christi von seiner exklusiven Bindung an das Mensch-Sein Jesu. Doch der Gewinn ist nur umso größer. Denn wenn der Logos von Anbeginn der Schöpfung das Werk des Mittlers und Versöhners ausgerichtet hat, dann reicht seine Herrschaft als zweite Person der Trinität weiter als bis zum Schutz und der Rettung der Kirche, dann ist es vielmehr nur konsequent, wenn in den Bereich dieser Mittlerschaft nun auch die vernunftlose außermenschliche Schöpfung einbezogen wird. Gottes Sorge erschöpft sich nicht darin, dass sie die Herzen der

408 Für eine ausführliche Darstellung verweise ich auf meine gleichnamige Arbeit in: EvTh 47, 1987, 97–119, sowie in: Calvin-Studien, 2009, 145–170. 409 Inst II, 13.4; OS III, 458. 7–13. Dazu: D. Willis (Anm. 55), 78–100; H.A. Oberman, Die „Extra“Dimension in der Theologie Calvins, in: H. Liebing/K. Scholder (Hg), Geist und Geschichte der Reformation, FS H. Rückert, Berlin 1966, 323–356. 410 Zit. nach H. Heppe/E. Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen 1958, 335.

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Gläubigen lenkt: sie schließt die Regierung des ganzen Erdkreises ein. Sie erstreckt sich so weit wie der von Calvin neu vermessene Bereich seiner Vorsehung. Sie greift über Predigt, Abendmahl, Ordnung und Dienst der Gemeinde hinaus und manifestiert sich auch in Staat und Gesellschaft. Die Bedeutung des Extracalvinisticum also liegt darin, dass es eine lokal begrenzte Präsenz Christi, sei es im irdischen Jesus oder im Abendmahl, in der Kirche oder in der Predigt, bestreitet. Calvin arbeitet mit dem klassischen Instrument der Zweinaturenlehre. In diesem Sinne heißt es schon in der ersten Institutio (1536) (im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der lutherischen Abendmahlslehre) „dass derselbe Christus, der nach dem Fleisch auf Erden wohnte, doch Gott im Himmel war“, und „deshalb habe die Gottheit den Himmel auch nicht verlassen, um sich im Sklavenhaus des Fleisches einsperren [zu lassen], sondern, obwohl sie alles erfüllte, wohnte sie dennoch natürlicher und unbegreiflicherweise gerade in der Menschheit Christi leibhaftig.“411 Die von Anbeginn der Welt alles erfüllende Gegenwart des Logos, und daraus folgend: die Vermittlung von Gottes und Weltwirklichkeit durch eben das Wort, durch welches alle Dinge geschaffen sind: das ist die positive Aussage dieses Lehrstücks. Calvin beruft sich dafür auf die Freiheit Gottes, dessen Vermögen weiter reicht, als uns in Menschwerdung und Abendmahl vor Augen geführt wird. Die Formel, in die sich der positive Gehalt der kritischen These zusammendrängt, lautet dementsprechend: „Deus manifestatus in carne“ – Gott geoffenbart im Fleisch (1 Tim 3,16)412 , das nun der Möglichkeit nach tatsächlich die gesamte Materialität unserer Welt umfasst. In schlichtester Form war Calvin das theologische Problem durch die Himmelfahrt Christi gestellt, und dort hat es später der Heidelberger Katechismus aufgenommen: Christus hat die Welt und ihre Existenzbedingungen verlassen und begibt sich nicht mehr unter sie. Seiner menschlichen Natur nach ist er unseren Augen entzogen. Wie aber kann er dann – so die neu aufbrechende Frage – seiner Verheißung gemäß „bei uns [bleiben] bis ans Ende der Welt“? Calvin erklärt: Er ist zugleich „so von uns gegangen, dass er uns nun auf eine viel segensreichere (utilis) Art gegenwärtig sein kann als während der Zeit seines Erdenwandels, da er sich noch auf die niedere Wohnstätte des Fleisches beschränkte.“413 Der Katechismus macht sich diese Antwort zu eigen: „Nach seiner Gottheit, Majestät, Gnade und

411 Inst (1536) IV, OS I, 141. Die Formulierung, die 1559 in die Institutio eingefügt wurde, geht auf eine Auseinandersetzung mit dem Täufer Menno Simons zurück. 412 Kom zu 1 Tim 3,16: „Non potuit magis proprie de Christi persona loqui quam his verbis: Deus manifestatus in carne (CO 52, 289ff; vgl. Inst II, 14,5 sowie Joh. Witte, Die Christologie Calvins, in: A. Grillmeier/H. Bacht (Hg), Das Konzil von Chalkedon III, Würzburg 1954, und E.D. Willis, a.a.O. 62f. 413 Inst II, 16,14; OS III, 501.28–30.

Calvins Christologie

Geist weicht er nimmer von uns.“414 Doch diese Auskunft muss gegen den nestorianischen Vorwurf einer Trennung beider Naturen verteidigt werden, und an dieser Front wird nun in einem zweiten Schritt das calvinische „Extra“ eingeführt: „Denn weil die Gottheit […] allgegenwärtig ist, so muss folgen, dass sie wohl außerhalb ihrer angenommenen Menschheit und doch nichtsdestoweniger auch in derselben ist und in einer Person mit ihr vereinigt bleibt“ (Frage 48). Der zur Rechten Gottes erhöhte Christus, so Calvin in der späteren Abendmahlsdiskussion, setzt sich bei uns gegenwärtig durch den Geist, „um den Mangel seiner Abwesenheit auszufüllen“.415 Das heißt: Ist von der „Majestät und Gottheit“ die Rede, die uns nicht mehr verlässt, so ist die zweite Person der Trinität, gemeint, nämlich Christus, der seinen Geist sendet, in welchem Gott sich noch einmal zu uns in Beziehung setzt, um sich so bei uns durchzusetzen. Die Himmelfahrt Christi und das Kommen des Geistes sind einander antithetisch zugeordnet. „Was räumlich getrennt ist, das wird vom Heiligen Geist in Wahrheit geeint.“416 Die Konsequenzen dieses Lehrstücks – davon war im Zusammenhang der „natürlichen“ Theologie bereits die Rede – reichen indessen weit über die Christologie hinaus. Das muss so sein, wenn wirklich die zweite Person der Trinität, der „Logos“, dessen unermessliches Vermögen (immensa Verbi essentia) sich mit der menschlichen Natur Christi vereinigt hat, bereits „im Anfang“, also mit und seit der Schöpfung, „die ganze Welt erfüllt“. Das Extracalvinisticum schlägt, so verstanden, die Bücke von Christus zum Kosmos, vom II. zum I. Artikel des Credo. Calvins These hat infolgedessen auch einen kosmologischen Sinn. Der von ihm oft mit dem Hl. Geist identifizierte Logos manifestiert sich auch im allgemeinen Weltgeschehen. Denn Gott „bewegt durch die Kraft desselben Geistes nicht weniger alle Dinge, und zwar entsprechend der Eigenart eines jeden Wesens, wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung (lege creationis) zugewiesen hat.“417 Damit wird der Mensch gewordene Christus und sein Werk der Versöhnung hier geradezu als Fluchtpunkt sichtbar, auf den hin sich das theologische Selbstzeugnis der Natur (Schöpfung) bewegt. Was dort ein undurchdringliches Geheimnis bleiben musste, ist hier für uns offenbar. Sollte das aber nach allem bisher Gesagten mit gleichem, ja höherem Recht nicht auch für die zweite geschichtstheologische Linie gelten, also für die im „ersten Reden“ Gottes vollzogene Grundlegung des Bundes, den Gott mit seinem Volk Israel geschlossen hat? Ist der ihn vermittelnde Logos, und sind vollends die mit ihm gegebenen Verheißungen nicht erst recht eine Gestalt des „ewigen Wortes“, 414 415 416 417

Heidelberger Katechismus, Frage 47; BSRK 695. 1ff. Inst IV, 17,26; OS V, 378.22–24. Ebd. Z. 26f und Inst IV, 17,10; OS V, 351.30f. Inst II,2,16; OS III, 259.11–13. Vgl. Kom. zu 1.Kor 2,14: “est quidem a spiritu Dei hoc lumen rationis, quo vigemus omnes ».

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das „schon vor der Inkarnation ‚Sohn Gottes’ gewesen ist“?418 Hier bricht auf dem Stand der gegenwärtigen Diskussion ein nicht leicht zunehmendes Problem auf, das es auf der soeben entfalteten Basis eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. In der klaren Formulierung Frank Crüsemanns gesagt: Wenn allein Christus als das fleischgewordene eine Wort Gottes, das „im Anfang bei Gott war“ (Joh 1,2), das Maß ist, an dem alles gemessen werden soll, dann „bleibt logischerweise für alles, was davor war oder was daneben ist, wie die alttestamentliche Tradition und das Judentum nur etwas in irgendeiner Form Vorläufiges bzw. Zweitrangiges“.419 Genau dem hat Calvin widersprechen wollen. Tatsächlich aber ist das Judentum (nach Röm 11,17 die „saftreiche Wurzel“ des Christentums) seit den ältesten Zeiten – gerade auch in der Reformation – die große Verlegenheit unserer Theologie geworden. Dabei verdankt sie jener ersten, älteren Gestalt des einen Wortes Gottes doch ihr besonderes Profil. Sie ist es, welche die großen erzählerischen Traditionen Israels von der Schöpfung und der Erwählung, vom Exodus und der Befreiung entbunden, mithin „die sprachlichen und sachlichen Muster [bereitgestellt hat], nach denen [dann] von der fleischgewordenen Gestalt des Logos überhaupt erst erzählt werden konnte“.420 Calvin hat all diese Bezüge für das biblische Israel geltend zu machen gewusst. Die Entdeckung der beiden Gestalten des Wortes Gottes ist seine große theologische Leistung. Daraus aber hat er leider keine Konsequenzen mehr für die Rechtsstellung des nachbiblischen und zeitgenössischen Judentums vor Gott gezogen, sondern die neutestamentliche Rechtfertigungslehre – anachronistisch – zum Schlüssel genommen, der ihn Israels besondere Situation nur noch als „Nacht des Irrtums“ hat wahrnehmen lassen.421 4.3.3

Die drei Ämter

Dass Christus kraft seiner Menschwerdung den Abgrund zu überbrücken vermag, der sich seit dem epochalen Datum der ersten Sünde zwischen Gott und Mensch aufgetan hat, macht sein Mittleramt aus. Göttliche und menschliche Natur, wie es in der griechisch geprägten Terminologie der alten Dogmatik heißt, stützen sich gegenseitig und befähigen ihn, die damit gesetzte Spannung auszuhalten. Wie aber nimmt er die ihm damit zugewiesene Rolle wahr? Das ist das Thema,

418 419 420 421

Vgl. Inst II, 14,5; OS III, 465.10f. F. Crüsemann, Das eine Wort Gottes und seine beiden Gestalten, in: EvTh 78, 2018 (86–100), 92. Ebd. 93f. Kom. zu Röm 9,31: Israel „hat den wahren Grund (vera ratio) der Rechtfertigung verfehlt“ (CO 49,193; CStA 5.2, 521.14; dazu: A. Detmers, Reformation und Judentum, Stuttgart 2001, 264–268, sowie hier: Kapitel 2.10: Gesetz und Evangelium, Israel und die Kirche.

Calvins Christologie

dem sich Calvin, vermutlich angeregt durch Bucer422 , in seiner 1539 schrittweise entwickelten, später in einem eigenen Kapitel der Institutio zusammengefassten Lehre vom dreifachen Amt Christi zuwendet. Denn die Verortung Christi in der Bundesgeschichte hat zur Folge, dass Calvin sehr viel weniger an der traditionellen Naturenlehre interessiert ist als an den Institutionen des Bundes, insbesondere den Ämtern. Oberman spricht sogar vom Übergang von einer Naturen- zu einer Ämter-Christologie.423 Durch das Prisma der drei traditionellen Rollen – Prophet, König, Priester –, mit denen Gott zur Zeit des Alten Bundes sein Volk regierte, hat Calvin seit 1539 Auftreten und Wirksamkeit Jesu Christi interpretiert und sein Kommen damit in die Dramaturgie der Bundesgeschichte eingeordnet. In den drei Aufgabenbereichen, die er als Mittler wahrnimmt, spiegeln sich die Etappen der Geschichte Israels, die jetzt ihrer Erfüllung entgegen geht und in ihren „historischen“ Repräsentanten auf Christus vorausweist. Was diese drei Ämter – als „Abschattung“ einer erneuerten Ordnung – verbindet, „die Salbung mit dem heiligen Öl“, ist in dem Namen „Christus“, das heißt: der „Gesalbte“, exemplarisch (und zugleich ein für allemal) zum Ausdruck gebracht. Dazu gehört an erster Stelle, dass dieses Merkmal ihrer Legitimation, die „Salbung“ mit und durch den Geist, nicht auf ihn beschränkt geblieben ist: Er hat diese Salbung nicht für sich allein (privatim) empfangen, damit er das Amt Lehrers [wie auch des Königs und Priesters] richtig ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der kontinuierlichen Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes entsprechend zur Wirkung käme.424

Das schließt ein, dass der auferstandene und erhöhte Christus und die von ihm mit demselben Geist begabten Zeuginnen und Zeugen bleibend zusammengehören. Calvin hat in der Institutio die Einheit einer sogenannten „niedrigen“ Christologie des Gekreuzigten und einer „hohen“ Christologie des Auferstandenen in exemplarischer Klarheit entfaltet. Dadurch wird uns die Kontinuität mit dem vorösterlichen Jesus deutlich vor Augen gestellt, und von diesem realgeschichtlichen Ort her begreift man am ehesten, was er uns gebracht hat.

422 M. Bucer, Enarrationes in sacra quattuor Evangelia, (Marburg 1530) Basel 1536, 606: „Rex regum Christus est, summus sacerdos et prophetarum caput.“ 423 H.Oberman, Initia Calvini, The Matrix of Calvin’s Reformation, in: W. Neuser (Hg.), Calvinus Sacrae Theologiae Professor, 1994, 113–154. Dazu s. Kapitel 2.2. 424 Inst II, 15,2, OS III, 473. 20–22.

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

(1) Das gilt insbesondere von dem Auftrag des prophetischen Amtes (II,15,2), das Jesus in bewusster Anknüpfung an Jes 61,1 in seinem irdischen Dasein als Wanderprediger zu einem kaum überbietbaren Höhepunkt geführt, das aber im Unterschied zu den beiden anderen Ämtern in ihm keinen Abschluss gefunden hat. Es ist durch ihn vielmehr entgrenzt und von der Kirche übernommen worden, da „erst mit dem Kommen des Messias die Hoffnung auf das volle Licht der Erkenntnis“ sich hat einstellen können (Joh 4,25). So besteht das Amt der Propheten, die dem Volk als Lehrer den Willen Gottes erschließen sollten, in der christlichen Ära von jeher darin, nun auch „die Kirche in der Erwartung [vollgültiger Lehre] zu halten und sie bis zu jener Ankunft [Christi] zu stärken“, indem sie ihr Gottes Nähe in Armut und Schwachheit vorleben, ihr die Kräfte der Heilung und der Zuwendung zu Kindern, zu Ausgestoßenen und Notleidenden vermitteln und sie auf die Auseinandersetzung Gottes mit dem Mächten dieser Welt vorbereiten sollte. In den Aufgaben kirchlicher Lehrer findet dieses Amt seine sachgemäße Fortsetzung. (2) Wozu das in David typologisch vorgebildete königliche Amt (II, 15,3–5) dient, was es uns bringt und „in seiner ganzen Kraft“ vermag: davon läst sich nur reden, wenn es als eine „rein geistliche“ Größe verstanden wird, die erst mit der Auferstehung und Himmelfahrt Christi vollständig realisiert worden ist.425 Calvin hat dieses Amt (schon durch seine ungewöhnlich breite Darstellung) ins Zentrum des mittlerischen Auftrags gestellt. Es schließt Christus als Bruder und Freund in besonderer Weise – anders als das zerfallende Davidsreich es vermocht hatte – mit seinen Gliedern zusammen, stellt hierarchische (kirchliche und mittelbar auch politische) Herrschafts- und Ordnungsformen in Frage und wird dementsprechend in erster Linie als Schutzamt der verfolgten Kirche vorgestellt. Seine ersten Adressaten sind die Hugenotten426 , die „mitten in allen Erschütterungen, denen sie ausgesetzt waren, mitten in allen schweren Stürmen, die sie unzählige Male zu erdrücken drohten“, wissen sollen – hier wird das für Calvin so wichtige historische Davidbild noch einmal in Erinnerung gerufen427 –, dass sie einen König haben, der für sie sorgt, weshalb ihre Kirche „unversehrt bleiben wird“. Wenn Calvin seine Gemeinden mit Röm 14,17 so eindringlich an „Gerechtigkeit, Frieden und Freude“, die Pfeiler und Garanten dieses „geistlichen“ Königtums, erinnert, dann hat er ihr „Leben unter Elend und Mangel, Kälte und Verachtung“ vor Augen428 , angesichts dessen Christus „den Hungernden und Dürstenden seine Fülle überreich zuteil werden

425 Inst II, 15,3; OS III, 474.19–22; bes. II, 15,5; OS III, 478. 17–479. 5. 426 Ebd. 474. 33 und 475. 3–7. Der etymologisch nicht eindeutig zu bestimmende Begriff „Hugenotten“ taucht im Umfeld der Verschwörung von Amboise (1560) auf und wird in der Literatur rückwirkend auf die verfolgten Protestanten Frankreichs angewandt. 427 Vgl. die Vorrede zum Psalmenkommentar, CO 31, 20ff; CStA 6, 25f, 33f. 428 Inst II, 15,4; OS III, 476.19 und 23–29.

Calvins Christologie

lassen“ will, so dass sie mit der Anwesenheit ihres erhöhten Herrn als Quelle ihrer Hoffnung rechnen dürfen. (3) Das priesterliche Amt schließlich, das höchste, für das Calvin insbesondere auf Melchisedek (Psalm 110,4) und das Priestertum Aarons verweist, hat die schlechthin entscheidende und deshalb im Folgenden (Inst II, 16) breit entfaltete Heils-Dimension der Mittlerschaft Christi zum Thema. Was dort erörtert wird, ist im heutigen Sprachgebrauch – auch die Institutio unterscheidet hier verbal ausdrücklich – nicht schon die Erlösung (redemptio), sondern die Versöhnung (reconciliatio). Calvin skizziert die Aufgabenstellung so: Ziel und Zweck seines (Christi) Priesteramtes ist es, Gott (!) kraft seiner Heiligkeit mit uns zu versöhnen, denn als Mittler ist er von allem Makel frei. Doch weil ein gerechter Fluch uns den Zugang [zum Himmel] versperrt und Gott als Richter gegen uns steht, muss der Priester, um Gottes Zorn zu stillen, mit einem Versöhnungsangebot (piaculum) dazwischen treten und, um sein Amt zu erfüllen, ein Opfer darbringen.429

4.3.4

Die Versöhnungslehre Calvins

Mit diesen Sätzen, insbesondere mit den Erläuterungen der nun folgenden Abschnitte (II, 16 und 17) bewegt sich Calvin offensichtlich im Sprachfeld der mittelalterlichen Sühne- und Stellvertretungslehre: Der Zorn Gottes und der infolgedessen auf der Menschheit liegende Fluch ist das auslösende Moment des hier einsetzenden Dramas. Die Notwendigkeit einer Genugtuung, eines „Lösegeldes“, das Christus als Opfer mit seinem Tod bezahlt, bestimmt die Argumentation, die sich streckenweise wie eine Paraphrase der Anselmschen Satisfaktions- und Sühnetheologie liest: Christus ist als Fürsprecher (deprecator) ins Mittel getreten und hat die Strafe auf sich genommen. die nach Gottes gerechtem Urteil allen Sündern drohte. All das Böse, das sie Gott verhasst machen musste, hat er mit seinem Blut gesühnt (expiasse). Durch dieses Opfer (piaculum) ist dem Vater Genüge getan (satisfactum), durch diesen Fürsprecher (intercessor) ist sein Zorn besänftigt.430

Dennoch kann Calvins Versöhnungslehre „nicht ohne weiteres mit der Lehre Anselms gleichgesetzt werden.“431 Er setzt andere Akzente, in denen man seine eigene Aussageabsicht sehr viel deutlicher erkennt, etwa den Zusatz, dass Christus „sein Priesteramt nicht nur auf sich genommen habe, um uns kraft einer ewigen

429 Inst II, 15,6; OS III, 480. 1–7. 430 Inst II, 16,2; OS III, 484. 2–7; vgl. Inst II, 12,3. ebd. 439. 23f. 431 C. van der Kooi, Christologie (Anm. 404), 255.

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

Versöhnung Gottes Wohlwollen und Freundlichkeit zu gewinnen, sondern auch, um uns mit ihm in eine derart ehrenvolle Gemeinschaft hineinzunehmen. In uns selbst zwar sind wir lasterhaft, in ihm aber sind wir Priester, bringen uns selbst und alles, was wir haben, Gott zum Opfer dar“432 – eine Konsequenz, die man in dieser Deutlichkeit selten aus dem ‚Priestertum aller Gläubigen’ gezogen hat, das, so verstanden, in der Person Christi tatsächlich „alle Schattenbilder hinter sich gelassen hat und in voller Herrlichkeit erstrahlen sollte“. Die Differenzen beginnen schon in der Exposition des Problems. Wohl fragen beide, Calvin und Anselm, nach „Grund und Gewissheit des Glaubens“, aber sie tun es in einer erkennbar verschiedenen Weise. Anselm fragt nach Christus unter methodischer Sistierung der Person des Erlösers (remoto Christo), „so als ob niemals etwas von ihm existiert hätte, […], als ob man nichts von Christus wüsste“.433 Seine singuläre ‚Beschaffenheit’ in und aus zwei Naturen ist das Ziel eines umwegigen Beweises. Für Calvin hingegen ist die geschichtliche Existenz des Erlösers die selbstverständliche Voraussetzung seines ganzen Argumentationsganges. Denn in der aktuellen Gegenwart „von Christus in seine Gemeinschaft gezogen zu werden“ und derart in einer festen und unverbrüchlichen Verbindung (coniunctio) mit Gott zu stehen434 , ist Ziel und Inhalt dessen was die Versöhnung ausmacht. Ihm steht die „große Not“ vor Augen, aus der Gott den ihm entgleitenden Menschen „herausreißt“, aber auch die Erleichterung, den Schrecken des „ewigen Todes“ hinter sich zu haben. Die Intention der Anselmschen Genugtuung wird daher an einem entscheidenden Punkt durchkreuzt: Das erforderliche „Lösegeld“ ist nicht eine Art „Bezahlung im juristischen Sinne“ und als solche eine Leistung des menschlichen Willens435 , mithin ein „Verdienst“ (meritum), vielmehr ist es als Leiden (im Sinne der Tradition) strafrechtlicher Natur (poena). Denn ausschlaggebend für die Bedeutung des Todes als Grund der Versöhnung mit Gott ist im Sinne Calvins zuletzt dies, dass Christus „das alles durch seinen [lebenslangen] Gehorsam erlangt hat“, der ein freier Gehorsam (voluntaria subiectio) war. „Sein Opfer hätte der Gerechtigkeit Gottes nicht genügt, wäre es nicht mit freiem Willen dargebracht worden.“436 Zwar hat Calvin die so stark betonte Notwendigkeit eines Mittlers von Anselm übernommen. Jetzt aber steht sie „innerhalb der Klammer von Gottes freier Entscheidung, die Menschheit über diesen Weg zu retten“.437 Auch bei der Interpretation der neutestamentlichen Passionsgeschichte setzt Calvin eigene Akzente.

432 Inst II, 15,6; OS III, 480.35–481,4.und 14f. 433 Anselm, Cur Deus homo (hg. von F.S. Schmitt O.F.B.), Darmstadt (wb) 1960, Praefatio, S.2: „remoto Christo, quasi numquam aliquid fuerit de illo […] quasi nihil sciatur de Christo“. 434 Inst II, 16,3; OS III, 485. 2–4. 435 F. Wendel, Calvin (Anm. 81), 198. 436 Inst II, 16,5; OS III, 486. 32–34. 437 C. van der Kooi, Christologie (Anm.404), 255.

Calvins Christologie

So ist es zum Beispiel nicht unwichtig, in welcher Gestalt (etwa als Unfall oder als Opfer von Räubern) Christus den Tod erlitten hat. So dokumentiert die öffentliche Verurteilung durch Pilatus symbolisch, dass er tatsächlich als Angeklagter vor den Richtstuhl gestellt worden ist, und ebenso weist dessen Eingeständnis „Ich finde keine Schuld an ihm“ symbolisch auf seinen endgültigen Freispruch (II, 16,5). Auch die besondere Art seines Todes, die Kreuzigung, hat ihr eigenes Gewicht (II, 16,6): Sie steht für die Übernahme des auf uns liegenden Fluches (Dtn 21,23; Gal 3,13) und ist zugleich als kultisches Sühnopfer (Röm 3,25) der Vollzug der Versöhnung und als solches die Basis unserer Rechtfertigung. Indessen hat gerade sein konsequentes Verständnis dieses Todes als Abgrund der Gottverlassenheit Calvin zu einer bemerkenswerten Abweichung von der traditionellen Interpretation der sogenannten „Höllenfahrt Christi“ geführt, Sie hat ihn in einen Streit mit Sebastian Castellio verwickelt, der mit ihrer beider Trennung endete.438 Denn mit diesem „Abstieg in das Reich des Todes“ erklärt er in einer weit ausholenden Passage (II, 16, 8–12), könne eben nicht ein triumphaler Zug des Auferstandenen durch die Unterwelt gemeint sein, auch nicht die Erscheinung Christi vor den Seelen der unter dem Gesetz verstorbenen „Väter“, denen er (so die Auslegung in 1Pt 3,19) die Botschaft von der vollbrachten Erlösung hätte bringen wollen. Nein, es „gibt keinen entsetzlicheren Abgrund der Not, als wenn man sich von Gott verlassen, von ihm entfremdet, wissen muss; man ruft ihn an, und man wird nicht erhört – als ob er selbst zu unserem Verderben sich verschworen hätte. Genau dorthin aber sehen wir Christus verstoßen, so dass er aus Todesangst heraus nicht anders schreien konnte als: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‘“ (Mt 27,46)439 Das, so Calvin, ist die hier gemeinte Hölle. Indem Christus diesen Abgrund der Not stellvertretend für uns durchschritt, hat er unsere Schwachheit an der gefährlichsten Stelle, dort wo uns Gott außer Sicht gerät, auf sich genommen. Hier leuchtet seine Güte in einzigartiger Weise auf, die ihn in das Bekenntnis des Hilarius einstimmen lässt: „Gottes Sohn ist in der Hölle – aber der Mensch wird zum Himmel erhoben.“440 Die Auferstehung Christi ist denn auch keine schlichte Rückgängigmachung des Todes, sondern – was keineswegs dasselbe ist – der Sieg über ihn. Ohne sie wäre alles bisher Gesagte gegenstandslos. So aber, als göttliche Ratifizierung seines Sühnopfers, das heißt als „Erneuerung und Wiederherstellung unserer Gerechtigkeit“441 ist sie der Rechtsakt, in dem unsere Sünde für „erledigt“ erklärt wird und unsere

438 W. van ’t Spijker, Calvin, in: B. Moeller (Hg), Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 3, Göttingen 2001, 167; dazu neuerdings: M. van Veen, Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio. Wegbereiter der Toleranz, dt. Essen 2015, bes. 112–115. 439 Inst II, 16,11; OS III, 496. 7–13. 440 Hilarius von Poitiers, De Trinitate, Buch 3, 15; MSL 10,84; hier: Inst II, 16,11; OS III, 496.27f. 441 Ebd. II, 16,13; OS III, 500. 9f.

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

Annahme durch Gott geschieht (II, 16,13) denn „wie hätte er uns im Tode vom Tod freimachen können, wenn er ihm selbst unterlegen wäre?“ Deshalb, versichert Calvin mit Paulus, sei Christus erst „in und mit der Auferstehung selbst zum Sohn Gottes erklärt worden“.442 Auch seine Aufnahme in den Himmel, die ihn unseren Augen entzieht (II, 16,14) – sie steht metaphorisch für den Antritt seiner Herrschaft über das All (Eph 4,10) – wird ohne alle Dramatik im Blick auf uns reflektiert: Er ist „eben so von uns gegangen, dass er uns „nun auf viel segensreichere Art (utilius) gegenwärtig sein kann als während der Zeit seines Erdenlebens“.443 Denn kraft der Sendung seines Geistes ist die Nähe seiner Herrlichkeit nicht von uns gewichen. Sie macht sich geltend als „Gegenwart seiner göttlichen Macht“. 4.3.5

Versöhnung als Folge des göttlichen Erwählungsratschlusses

Calvin hat die Versöhnung tiefer verankert als Anselm es im Hauptstrom der Tradition meinte tun zu müssen. Er argumentiert auf dem Hintergrund der von ihm in ihrer Tragweite neu erkannten Erwählungslehre und greift mit zwei gezielten Fragen in das Gefälle der überlieferten Christologie ein, um den Weg der Versöhnung, ihr Wie, zu größtmöglicher Klarheit zu bringen. (1) „Wie lässt sich miteinander vereinen, dass Gott, der uns mit seinem Erbarmen entgegengekommen ist, uns gleichwohl feindlich gegenübersteht, bis er in Christus mit uns versöhnt ist?“ Denn wie hätte er uns mit der Menschwerdung seines Sohnes überhaupt „eine solch einzigartige Bürgschaft seiner Liebe geben können, wenn er sich nicht zuvor schon in freier Gnade uns zugewandt hätte?“444 Dieser widersprüchlichen Auskunft begegnet Calvin in einem ersten Schritt, indem er den Blick erneut auf das Ziel der Versöhnung richtet, das darin besteht, die zerstörte Gemeinschaft mit Gott wiederherzustellen. Eines zwar ist die Tatsache unseres Abfalls, mit dem wir uns den Tod zugezogen haben, ein anderes aber die Gewissheit, dass wir Gottes Geschöpfe bleiben, die er im Anfang zum Leben erschaffen hat. Dieser Anfang der göttlichen Liebe, seine Erwählung vor Grundlegung der Welt, muss daher dem Einschreiten des Sohnes in der Mitte der Zeit vorausgehen: Ihr Apriori hat den Prozess der Versöhnung initiiert und in Gang gesetzt. Mit Augustin spricht Calvin von dem göttlichen Wunder, „uns zu hassen und doch zugleich zu lieben […], zu hassen, was wir gemacht, und zu lieben, was demgegenüber er gemacht hatte“.445 So ist die Liebe der geheime Motor und zugleich der Sinn des Mittleramtes, in welchem Christus stellvertretend, in freier Wahl, die Strafe für die Sünde der Menschen getragen und dafür die tiefste Tiefe der Gottverlassenheit zu durchleiden hatte. 442 443 444 445

Ebd. 500.17. Vgl. Kom. zu Röm 1,4; CO 49,10 (CStA 5.1, 49. 5–7). Inst II, 16,14; OS III, 501. 28–30. Inst II, 16,2; OS III, 483. 14–18. Augustin, Tractatus in Ev. Joh. 110 (MSL 35, 1923f); hier: Inst II, 16,4; OS III, 485. 34f.

Calvins Christologie

Ein zweiter, der Sache nach paralleler Fragepunkt entzündet sich an dem bekannten Leitwort des Anselmschen Entwurfs, der Rede vom Verdienst Christi: (2) Wie also kommt es, dass der Gehorsam und die Leiden Christi ein solches Gewicht haben, dass sie das Heil aller Menschen bewirken können? Die klassische Antwort lautet, dass die von ihm geleistete Satisfaktion einen derart singulären Wert, eben ein solches Verdienst erworben hätte, das der schuldig gewordenen Menschheit insgesamt zugute kommen, von dem sie folglich für alle Zeit zehren könnte. Dass hier tatsächlich ein ernstes Problem vorliegt, ist Calvin spätestens in seiner Auseinandersetzung mit Lelio Sozzini (dem Oheim des bekannteren Fausto Sozzini) deutlich geworden. Dieser hatte Calvin gefragt, wie es zu erklären sei, dass Gott sich durch das Verdienst eines Menschen zu etwas bestimmen lassen könne, da er doch beschlossen habe, die Menschheit durch den Akt seines freien und souveränen Willens zu retten. Sozzini also verbindet die Frage nach dem Heil des Menschen ausdrücklich mit dem Problem der Prädestination: Es ist ja leicht zu sehen, dass die gleichzeitige Behauptung hier eines göttlichen Erwählungsratschlusses, dort der Notwendigkeit einer Satisfaktion einen inneren Widerspruch enthält. Wozu sollte die Mittlerschaft Christi notwendig sein, wenn die Entscheidung über Heil oder Verderben doch schon von Ewigkeit her gefallen ist? Anders gefragt: „Wird durch die Rede von einem Verdienst Christi nicht die Gnade Gottes verdunkelt?“446 Calvin hat seine Antwort an Sozzini als 17. Kapitel (Buch II) in den Text der Institutio (1559) aufgenommen.447 Sie erfolgt in zwei Schritten, wobei er den Begriff des Verdienstes gelten lässt, ja ausdrücklich rechtfertigt. Denn es heißt ja, dass Christus unser Heil „erworben“ hat. Dazu freilich muss es von jeder Assoziation an menschliche Leistung befreit werden. Calvin folgt auch hier Augustin, der den Menschen Jesus Christus „das strahlendste Licht der Prädestination und der Gnade“ genannt hat, in dessen Erwählung wir das Geheimnis der An- und Aufnahme des Menschen durch Gottes freie Barmherzigkeit erkennen können. Er argumentiert: Denn wodurch hat dieser Mensch es verdient, von dem mit Gott gleich ewigen Wort in die Einheit einer Person als Sohn angenommen zu sein? Dass ihm etwa von seiner Seite ein wie immer beschaffenes Gut vorausgegangen ist? Was hat er denn zuvor getan, was geglaubt, was erstrebt, um zu diesem unaussprechlichen Vorzug zu gelangen? In unserem Haupt also erscheint selbst die Quelle der Gnade […] Es ist dieselbe Gnade, durch die

446 Inst II, 17,1; OS III, 508. 25–28. 447 Calvinus ad Laelii Socini quaestiones Responsio 1555, CO 10/1, 160ff; in: Inst (1559) II, 17,1 (OS III, 509.20) bis II, 17,5, ebd. 514.17. Zum Problem vgl. CStA 8 („Ökumenische Korrespondenz“), 250f.

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Die Erkenntnis Gottes im Horizont der Versöhnung

jener Mensch vom Anfang seines Menschseins her zum Christus geworden ist, die auch heute jeden Menschen vom Beginn seines Glaubens an zum Christen macht.448

Wenn man also vom Verdienst Christi redet, folgert Calvin, so wird das nicht als ein menschlicher, innerzeitlicher Anfang hingestellt, „sondern wir gehen zurück auf Gottes Anordnung (ordinatio), welche die erste Ursache ist, denn er hat aus reinem Wohlgefallen ihn zum Mittler bestimmt, der uns das Heil erwerben sollte“.449 Zwischen dem Verdienst Christi und Gottes Barmherzigkeit kann man somit keinen Gegensatz konstruieren, und das bedeutet zugleich: Ohne die Klammer der Erwählung kann man den Prozess der Versöhnung überhaupt nicht verstehen. Und doch sieht es so aus (das ist der zweite Argumentationsschritt), als käme man – dies zugestanden – aus dem oben beschriebenen Zwiespalt nicht heraus. Einerseits hätte sich Gottes Liebe mit der Erwählung vor aller Zeit uns zugewandt; andererseits erfahren wir sie erst in und mit Christus. „Von Gott her gesehen ist [sie] zeitlich und sachlich das erste; von uns her gesehen beginnt sie [jedoch] erst mit dem Opfertod Christi.“450 Wie geht das zusammen? Wenn Calvin dem Wort Versöhnung eine so große Bedeutung beimisst, so heißt das für ihn: Zwar hat uns Gott von Anbeginn geliebt, aber als Inbegriff der Gerechtigkeit konnte er gar nicht anders, als seinen Zorn gegen uns losbrechen zu lassen, bis er durch Christus besänftigt würde. Darum heißt es: „Er ist die Versöhnung für unsere Sünden (1Joh 2,2)“451 . Nun aber tritt zwischen diese beiden Aussagen, sie begründend und verbindend, der göttliche Ratschluss, der gerade diese Abfolge als den Vollzug der Versöhnung (modus reconciliationis) festgelegt hat: „Es gefiel Gott, durch Christus selbst alles mit sich zu versöhnen“, zitiert Calvin den Kolosserbrief (1,20).452 Und war an diesem Entschluss, trinitarisch geurteilt, Christus selbst nicht auch mitbeteiligt? Ist er nicht schon vor seiner Offenbarung in Israel Mittler gewesen? Nimmt man dies alles zusammen, dann ist die Versöhnung, wie schon Duns Scotus gelehrt hatte453 , eine Folge des Erwählungsratschlusses, und das Verdienst Christi besteht dann darin, dass er als Mittler „diese Erwählung wirksam gemacht hat“ (F. Wendel). Dann aber erhebt sich die Frage, ob das christologische Argument, so wichtig es für die Klärung der Heilsgewissheit des Menschen ist, zuletzt nicht doch überlagert

448 Augustin, De praedestinatione Sanctorum 15,30, MSL 44, 981; vgl. Inst (1559) II, 17,1; OS III, 509. 4–9. 449 Inst II, 17,1; OS III, 509. 15–19. 450 Komm. zu 2Kor 5,19; CO50,71. 451 Inst II, 17,2; OS III,510.12–18, insbes. 17f. 452 Inst II, 17,2; OS III, 510.13. 18–22. 453 Dazu vgl. F. Wendel, Calvin (Anm. 81), 108 und 202; auch R. Seeberg, Dogmengeschichte III, Leipzig 1930, 654f.

Calvins Christologie

wird von einer Theozentrik, die den Charakter der Theologie Calvins am stärksten bestimmt hat.

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5.

Das christliche Leben

Einleitung Mit der Leitfrage des III. Buches der Institutio nach den Früchten und den daraus folgenden Wirkungen der „Gnade Christi“ ist das Thema des Heiligen Geistes aufgerufen. Damit ist zunächst eine deutliche Zäsur gesetzt. Ging es bisher um die Darstellung der gleichsam objektiven Basis jeder christlichen Theologie, der Erkenntnis Gottes im Horizont der Schöpfung und der Versöhnung (Christologie), so stehen jetzt ihre subjektive Aneignung, also die auch im Zeitalter der Reformation umstrittenen Fragen der Rechtfertigung, des Glaubens, der christlichen Lebensführung und nicht zuletzt der Gewissheit unserer Erwählung im Zentrum.1 Denn der Heilige Geist ist von jeher – hier macht auch Calvin keine Ausnahme – in seiner allen Menschen zugesprochenen, wenn auch nicht von allen ergriffenen und darum verborgenen Wirksamkeit, das Band, das uns mit Gott und Christus (filioque) verbindet und uns zur „Wahrnehmung“ (perceptio) der Christus anvertrauten und uns zugedachten „Güter“ ermächtigt. Mit einer für Calvin charakteristischen Wendung gesprochen: „Solange Christus außer und bleibt und wir von im getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit getan und erlitten hat, für uns ohne Nutzen und ohne jeden Belang […]. Er muss unser Eigentum werden und in uns Wohnung nehmen.“2 Damit ist, traditionell gesprochen, das Thema der Soteriologie eröffnet. Benjamin B. Warfield, seinerzeit Theologe am Theological Seminary von Princeton, hat unter den Reformatoren Calvin „den Theologen des Heiligen Geistes“ genannt. „Die Lehre vom Geist ist eine Gabe Calvins an die Kirche“.3 Sie wird hier in ihrer umfassenden, alle Lehrstücke durchdringenden Weite in dem, wie man gelegentlich gesagt hat, am stärksten persönlich gefärbten Teil der Institutio (1559) entfaltet und rechtfertigt dieses Urteil. Denn der Heilige Geist hat es in seinen noch so befremdlichen Manifestationen mit der erfahrbaren Weltgegenwart des uns unsichtbar bleibenden Gottes zu tun. Er ist das Ereignis seines Kommens und seiner Gegenwart. Er interpretiert diesen Gott in der Welt und für die Welt. Er spricht die Sprache uns vertrauter Phänomene. Denn im Geist geht Gott gleichsam aus sich selbst heraus. Der Geist öffnet den Horizont, in dem sein Werk ad

1 Inst III, OS IV, 1. 3–5. 2 Ebd. 1,1; OS IV, 1. 10–13. 3 B.B. Warfield, John Calvin the Theologian, in: Calvin and Augustine, Philadelphia 1956, 484f.

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Das christliche Leben

extra sich vollzieht. Er lässt Himmel und Erde werden (Ps 104,30), einen neuen, außergöttlichen Horizont, der uns mit umschließt.

5.1

Das verborgene Wirken des Heiligen Geistes

Wer aber (oder was) ist dieser Geist? Er ist in der Sprache der Dogmatik die dritte Person der Trinität und deshalb gleichen Wesens (essentia) wie Gott. Doch damit beginnen erst die Schwierigkeiten, denen Calvin sich stellt. Er hat schon den üblichen Belegen (Ps 33,6 oder Joh 4,24) die ihnen zugemutete Beweiskraft abgesprochen und als haltbare Zeugnisse für seine Gottheit nur exegetisch ‚eindeutige’ Aussagen zugelassen wie Gen 1,2 oder Jes 48,16: Es ist der Geist, der noch vor der Errichtung einer kosmischen Ordnung den „Bestand“ des Chaos erhält, oder der die Aussendung der Propheten verfügt. Erst recht aber stellt ihn die ihm zugeschriebene Personalität vor große Probleme. Denn unterscheidet sich seine Aktivität, wie es die nicht gerade seltenen „neutralen“ Bezeichnungen als Kraft (virtus) oder Wirksamkeit (efficacia) nahe legen, überhaupt von der Wirksamkeit unpersönlicher Mächte?4 Was die biblischen Quellen ihm zuschreiben, hält er dagegen, bestätige uns am sichersten die Erfahrung der Frömmigkeit, d. h. unsere „praktische Erkenntnis“, die uns belehren kann, dass erst seine besondere Kraft „allen Dingen Leben, Wesen (essentia) und Bewegung verleiht“, was ohne Frage ‚göttlich’ zu nennen sei.5 Das schließt jedoch eine genauere begriffliche Bestimmung nicht aus, und hier bewegt sich Calvin offenkundig in den Bahnen der klassischen Tradition. Was der strittige Personbegriff, angewandt auf die Trinität, meint bzw. meinen kann, interpretiert er als eine bestimmt unterschiedene Seins- bzw. Erscheinungsweise (subsistentia) in dem einheitlichen göttlichen Wesen. Dabei wird der Begriff der Subsistenz durch zwei Relationen festgelegt, einmal durch die Beziehung zur göttlichen essentia, die sozusagen der Boden (bzw. der Quellgrund) ist, auf dem sich die beiden anderen Seinsweisen in ihrer je besonderen Eigenart erheben, sodann durch ihr Verhältnis zu dieser je besonderen Erscheinungsform der beiden anderen Seinsweisen.6 So wird dem Vater der Ursprung, dem Sohn die Weisheit zugeordnet – Eigenschaften, die systematisch allerdings nur selten zum Tragen kommen –,

4 Diesem Problem hat W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, Berlin 1957, bes. 9–11, mit Recht große Aufmerksamkeit zugewendet. 5 Inst I, 13,14; OS III,127. 27–31; dazu: I.J. Hesselink, Calvin’s First Catechism, Louisville 1997, 179 sowie B. Warfield, Calvin and Augustine (Anm. 3): Calvin’s “doctrine of the Trinity did not stand out of relations to his religious consciousness but was a postulate of his profoundest religious emotions; was given, indeed, in his experience of salvation itself.” 6 „Person nenne ich die Seinsweise (subsistentia) im Wesen (essentia) Gottes, die sich, auf die je andere bezogen, durch eine unaustauschbare Eigenart (proprietas) unterscheidet“; Inst I,13,6; OS III, 116.12.

Das verborgene Wirken des Heiligen Geistes

während dem Heiligen Geist Kraft (virtus), Wirksamkeit (efficacia) und Wirkung zugeschrieben werden, die „für die gesamte Theologie Calvins von einer gar nicht zu überschätzenden Bedeutung sind“.7 Jede dieser unverwechselbaren Subsistenzweisen wird dementsprechend an einem bestimmten, nur für sie charakteristischen, nach außen gerichteten Wirken bzw. Handeln erkannt, und nur das ist es, was ihre Individualität als „Person“ ausmacht. Es ist daher oftmals gar nicht deutlich, betont Werner Krusche, „ob hier wirklich an die Person des Geistes gedacht ist, oder ob hier von Eigenschaften Gottes oder Momenten seines Handelns die Rede ist“.8 Das gilt insbesondere von Calvins Aussagen über Bestand und Ordnung der Schöpfung. Hier ist allerdings nur sehr allgemein von der verborgenen Kraft Gottes die Rede. Doch denkt Calvin dabei zweifellos an den Heiligen Geist9 , der freilich nicht als Subjekt eines eigenen Handelns in Erscheinung tritt, sondern als verborgene Hand Gottes (manus Dei qua suam potentiam exercet) im Hintergrund bleibt. Denn auch das gehört zu der eigentümlichen Wirksamkeit des Geistes, dass er nichts Eigenes tut, sondern das Tun des Vaters und des Sohnes zum Ziel bringt. Daher rührt die ungewöhnlich starke pneumatologische Akzentuierung des ersten und zweiten Artikels: Es gibt kein Handeln des Vaters und des Sohnes, das in seiner Spitze nicht Wirken des Geistes wäre. 5.1.1

Die christologische Verankerung des Geistes

Alles Handeln Gottes manifestiert sich als Wirkung des Geistes, die ihren spezifischen Ausdruck auf sehr verschiedene Weise je nach Ort und Gegenstandsfeld gewinnt. Wie das aussehen kann, erfährt man in einem Schema solcher Zuordnungen, das sich im Römerbrief-Kommentar findet anlässlich der Frage, wie die Kinder Gottes vom Geist regiert werden (Röm 8,14). Da heißt es: „Es gibt ein universales Wirken (actio) des Geistes, das alle Kreaturen trägt und bewegt; es gibt daneben aber auch partikulare Wirkungen unter den Menschen, die wiederum sehr verschieden sein können. Hier hat [Paulus] die Heiligung im Blick, durch die der Herr nur seine Erwählten auszeichnet.“10 Es sind, wie Krusche gezeigt hat, drei konzentrische Kreise, in denen sich der Geist zur Geltung bringt. Sie entsprechen genau dem Schema, das Calvin für die Vorsehungslehre entworfen hat: ein äußerer Kreis, der die Ordnungen der Schöpfung bis hin zum unbewussten animalischen Leben umfasst (Kosmos), ein mittlerer, in dem sich das vernunftgeleitete Dasein

7 W. Krusche (Anm. 4), 9, 9. 8 Ebd. 10. 9 Zu Ps 104,29 (Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie): „Stamus enim quatenus (Deus) nos sua virtute sustinet : simul autem ac vivificum spiritum subducit, cadimus“; CO 32, 95; CStA 6, 309. 8–10. 10 Zu Röm 8,14, CO 49, 147; CStA 5.2, 405. 10–15.

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Das christliche Leben

des Menschen mit seinen geschichtlichen Gestaltungen und Institutionen entfaltet (Polis), und schließlich ein innerster Kreis, der das geistliche Leben der Erwählten bestimmt (Kirche). Angesichts dieser geschlossenen Konzeption versteht man, dass B. Warfield von einem unitary system bei Calvin gesprochen hat.11 „Obwohl es ein Geist Gottes ist, gehen doch vielfachste Wirkungen aus ihm hervor, und was immer in der Welt geschieht, kann man nicht zu Unrecht Gottes Geist zuschreiben: [Der Prophet Sacharja] erklärt sogar, dass alle Umwälzungen, die man auf Erden wahrnimmt, auf diesen Geist zurückgehen“12 , und da es ein Geist ist, der hier auf unterschiedlichen Weisen wirksam wird, sind diese drei Kreise teleologisch aufeinander bezogen. Gibt es einen inneren Grund, der Calvin gerade dieses Aufbauschema seiner Lehre vom Heiligen Geist nahe gelegt haben könnte? Es gibt zunächst offenbar eine besondere Affinität und Nähe dieses Geistes zu Christus, von der hier zu reden ist. Es fällt ja auf, dass Calvin nicht erst mit Blick auf die Erwählten (Kirche), sondern schon im Wirkungsbereich von Kosmos und Polis dezidiert vom Geist Christi redet. Er formuliert geradezu als „Axiom“, dass „Christus und sein Geist nicht auseinandergerissen werden dürfen“.13 Was bedeutet das? Sein Axiom gilt offensichtlich bereits schon im Blick auf den präexistenten Sohn der Trinitätslehre ebenso wie dann ‚später’, wenn von dem Mensch gewordenen Mittler die Rede ist, freilich auf unterschiedliche Weise und besagt daher zunächst: „Als der ewige Logos, durch den die Welt geschaffen ist, ist es schon Christus, der mit seiner virtus – nämlich mit seinem Geist – allenthalben gegenwärtig ist, der den Geschöpfen Kraft einhaucht und sie am Leben erhält.“14 Wo immer wir also auf Wirkungen dieses Geistes stoßen – in der Lebendigkeit des kreatürlichen Lebens, im geordneten Zusammenhalt der Gesellschaft oder im Erfindungsreichtum menschlicher Wissenschaften – da haben wir es mit diesem Geist zu tun, der auch nach der Menschwerdung Christi die ganze Welt durchdringt. Dabei verhindert zudem das Ernstnehmen des „filioque“15 , dass eine selbständige (kosmische oder schwärmerische) „Spiritualität“ sich als Konkurrentin des geistlichen Lebens der Gemeinde hier festsetzen könnte. Calvin unterscheidet somit – nun auch im Blick auf die verschiedenen Wirkungsfelder – zwischen dem Geist des ewigen Logos und dem Geist des Mensch gewordenen Mittlers. Als ewiger Logos muss Christus in seiner Rolle als Schöpfungsmittler

11 12 13 14

B. Warfield, Calvin and Calvinism, New York 1931, 323. Prael. Sach 6,45, CO 44,206. Kom. zu 1Kor 11,27: „Ego hoc axioma teneo […] Christum non posse a spiritu suo divelli.“ W. Krusche (Anm. 4) 128, im Blick auf Praeludium zu Dan 7,14, CO 41, 62: „Von Anbeginn ist Christus das Leben der Menschen gewesen, durch ihn ist die Welt geschaffen und daraufhin auch durch seine Kraft immer erhalten (sustentatus) worden.“ 15 So die These der vornehmlich westlichen Trinitätslehre, dass der Geist „vom Vater und vom Sohn“ statt – so der Osten – nur vom Vater ausgeht.

Das verborgene Wirken des Heiligen Geistes

jederzeit und an jedem Ort mit seinem Geist gegenwärtig sein, sonst fiele die Welt in das anfängliche Chaos zurück. Als Mensch gewordener Erlöser schafft er mit seinem Geist der Wiedergeburt und Heiligung den neuen Menschen, der sich nach dem Reich Gottes ausstreckt. Fazit: „Es gibt zwei verschiedene Kräfte des Sohnes Gottes […] Als ewiges Wort […] erhält er durch seine Kraft alles am Leben, was einmal Leben empfangen hat“. Das geschieht in den beiden äußeren Kreisen. Als [Kraft des] Mittlers „stellt er den verlorenen, [Gott entfremdeten] Menschen durch den Geist der Wiedergeburt wieder her“, und das geschieht im innersten Kreis.16 Diese christologische Prägung lässt sich noch von einer anderen Seite her erläutern, an die ich eingangs erinnert habe: Christus „muss unser Eigentum werden (nostrum fieri) und in uns Wohnung nehmen“. Wir müssen „mit ihm in eins zusammenwachsen“ (in unum coalescere), wenn die Güter, die der Vater ihm anvertraut hat, tatsächlich zu uns kommen sollen. In diesem Sinne (auch dies eine quasi axiomatische Feststellung!) ist der Heilige Geist „das Band, durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet“.17 Er ist, heißt es in einer Predigt zu Eph 4, 20–24, uns zur Heiligung gegeben, damit wir durch seinen Geist gelenkt werden.18 Fragt man, worin dieses Band sich zu erkennen gibt, so lautet die Auskunft: in der „Hoffnung auf eine völlige Erneuerung“, die Christus in uns „wach hält“, denn es ist derselbe Geist, „der ihn von den Toten auferweckt hat, der auch unsere sterblichen Leiber dereinst zu neuem Leben bringen wird.“.19 Wenn Calvin hier den Blick auf den auferstandenen Christus richtet, von dem er sagt, dass er „in der Höhe (thront), um seine Kraft uns zuteil werden zu lassen“, so geschieht das, wie im Auferstehungskapitel zu lesen, nicht zuletzt um der Kirche willen, deren Bau mit der Niederwerfung ihrer Feinde (Ps 110,1) – auch das eine allerdings dramatische Wirkung der erneuernden Kraft dieses Geistes! – vollendet werden soll.20 Ohne die Ausrüstung mit dieser Kraft wäre „Christus vergeblich zu uns gekommen“. Es fällt auf, dass das Thema der Auferstehung hier nicht unter dem Gesichtspunkt des Selbsterweises Gottes (also unter der Kategorie der Offenbarung), sondern im Horizont der Auseinandersetzung von Leben und Tod entfaltet wird. Zu der Konfrontation von Adam und Christus in 1Kor 15,21 schreibt Calvin: „Die Kraft dieses Argumentes liegt nicht in der Ähnlichkeit […], sondern im Aufweis der gegensätzlichen Gründe zum Erweis der gegensätzlichen Wirkungen […] Wie jener (Adam) das Prinzip des Todes, so ist Christus das Prinzip des Lebens“21 , also mehr als Leben, denn er wird als der Ursprung alles Lebens verkündet, und das auf

16 17 18 19 20 21

Komm zu Joh 1,5, CO 47, 7. Inst III, 1,1; OS IV,2.5f. Predigt 27, CO 51, 613. Inst III, 1,2; OS IV, 2.28f. Inst II, 16,16; OS III, 504. 15–23. Komm. zu 1Kor 15,21, CO 49, 545f.

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Das christliche Leben

zweifache Weise. Als ewiger Logos, durch den alles geschaffen wurde, ist und bleibt er die Quelle des Lebens. Der neue Adam wird allerdings nicht schon durch seine Seele, sondern – zweites Moment – erst durch den lebenschaffenden Geist ans Licht gebracht, durch dessen Kraft Christus selber vom Tode erstehen und die anderen erwecken sollte.“22 Denn in der Auferstehung bricht die Lebensmacht des Geistes hervor. Pointiert gesprochen: Wie er freiwillig in den Tod ging, so stand er selber (a se ipso ac propria virtute) vom Grabe auf! Als Mensch aber wurde er vom Geist des Vaters auferweckt. Der Geist also ist die wirksame Kraft dieses Geschehens.23 Er vollzieht den Gestaltwandel von der zeitlichen praesentia humana zur überzeitlichen praesentia spiritualis. Das wiederum bedeutet: Soweit Gottes rechte Hand reicht, so weit erstreckt sich nun auch Christi geistliche Gegenwart. Denn auch den Geist empfing er nicht für sich allein, sondern „für seinen ganzen Leib [die Gemeinde].“ Hier liegt zugleich der unverwechselbar eigene Akzent der Pneumatologie Calvins, ihr Nachdruck und ihre Emphase. Christus wird als Mittler der Gabe gepriesen, die ihn zum neuen Adam macht. Weil er auf seinem irdischen Weg „ohne Maß“ vom Geist erfüllt war, kann er als Erhöhter „um so reichlicher“ austeilen, was er selbst empfangen hat.24 Calvin versteht den Geist als Gabe, nicht, wie später Karl Barth, als Zeugen einer singulären Vollmacht.25 Er führt ihn als messianische Ausrüstung Christi ein. Bei ihm sind die Gaben des Geistes niedergelegt (deposita), die ihn zum messianischen Amt des Mittlers befähigen. So erscheint er als der exemplarisch empfangende, ja man muss fast sagen, als der exemplarisch bedürftige Mensch, den allein die Kraft des Geistes zum „neuen Adam“ macht. Er ist denn auch „nicht für sich allein [privatim] auferweckt worden, sondern als Beweis der Kraft, die der ganzen Gemeinde zugute kommen soll.“26 Deshalb hat es die Kirche nicht nötig, auf die „Erfindungen ihres eigenen Denkens“ zu setzen; sie soll vielmehr „durch Gottes Wort belehrt“ niemals daran zweifeln, „dass ihr dieser Geist als bester Führer auf dem rechten Weg allezeit zur Seite stehen wird“.27 Denn weil er den messianischen Weg Jesu von den ersten Anfängen an bestimmt und begleitet hat, kann er auch sie „in alle 22 Komm zu 1Kor 15,45; CO 49, 558. 23 Komm. zu 1Pt 3,21; CO 55,269: Christum spiritu vivificatum esse. Dementsprechend hat Calvin das Paulus-Zitat (2Kor 13,4) in Inst II, 16,13 (OS III, 500.21) „korrigiert“: statt von der „Macht Gottes“ spricht er von der „Kraft des Geistes“. 24 Inst II, 16,14, OS III, 502.7f. 25 Vgl. Chr. Link, Der Horizont der Pneumatologie bei Calvin und Karl Barth, in: Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen 2009 (171–195), bes. 186 f. 26 Komm. zu Röm 8,11, CStA 5.2, 399.41ff (CO49, 146) sowie zu Act 13,34 (CO 48, 302): „Denn weil er eher für uns als für sich selbst auferstanden ist, erstreckt sich das ewige Leben, das uns der Vater verliehen hat, auf uns alle und ist unser.“ 27 Inst IV,8,13; OS V, 147.11f. Vgl. dazu und zur Weg-Metapher: R. Muller, The unaccommodated Calvin. Studies in Foundation of a Theological Tradition, New York – Oxford 2000, 93.

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Wahrheit leiten“ (Joh 16,13). „Es gibt demnach nichts, wonach wir (erst) in den Archiven und Kanzleien des Papstes suchen müssten.“28 Bereits bei der Darstellung des irdischen Weges Jesu, seiner Taufe, seiner Begabung mit den Charismen der Predigt und Heilung, fällt alles Gewicht auf das stellvertretende, inklusive Moment. Calvin wird nicht müde zu betonen, dass dies alles um unsertwillen so ist und so geschieht.29 In den hier sich öffnenden Horizont des Reiches Gottes sind wir selbst mit eingeschlossen. Die Frage drängt sich ein letztes Mal auf: Von welchem Geist ist hier die Rede? Calvin folgt offensichtlich den Spuren der Synoptiker. Seine Christologie setzt mit der Wahrnehmung von Gottes Geist im Bunde mit Israel ein, zu dessen Erneuerung Christus gesandt wurde30 , und so steht der Geist, der ihn erfüllt, zum vorhinein im Erwartungshorizont der Propheten und Könige Israels.31 Wie der Geist, der den „Knecht Jhwhs“ zum Mittler berufen hat, „um die Wahrheit zu den Völkern hinaus zu bringen“ (Jes 42,1), so stellt er jetzt „um uns Hilfe zu bringen […], Gottes Sohn wie einen von uns vertraut in unsere Mitte.“32 Es ist ein einheitliches Bild: Der in Israel wirksame Geist, der „durch Mose und die Propheten geredet hat“, spannt den Horizont auf – Frank Crüsemann spricht mit Recht vom Alten Testament als „Wahrheitsraum“33 –, in dem Christus als der messianische Gesalbte verstanden werden soll. Die Verheißungsgeschichte Israels autorisiert auch seine Geschichte; sie bestimmt ihre Richtung und gibt ihr das spezifische Gefälle. 5.1.2

Die Dimensionen der Wirksamkeit des Geistes

Wenn, wie Calvin erklärt, „alles, was Gott wirkt – und er wirkt alles und wirkt immer! – in seiner Wirkung Wirken des Heiligen Geistes“ ist34 , dann lassen sich, abgesehen von den Manifestationen des Bösen, keine Bereiche namhaft machen, die von den Ausstrahlungen dieses Geistes nicht erreicht und im radikalen Sinne Hegels als „vom Geist verlassene Endlichkeit“ bezeichnet werden müssten. Hier kann es daher nur um eine kleine Auswahl besonders ausgezeichneter Wirkungsfelder des Geistes gehen. (1) Der Geist und das Wort. Calvin hatte gute Gründe, auf dem „unlösbaren Band“ zwischen dem Heiligen Geist und dem in der Schrift niedergelegten Wort Gottes zu

28 Zu Joh 16.13; CO 47, 362. 29 Predigt zu Lk 2, 9–14: «Nous sommes appelez Chrestiens: c’est à dire, membres de celuy qui a recu l’onction en toute plenitude, pour en distribuer selon qu’il est utile à chacun. » 30 Inst II, 7,1: „ad illud [foedus] renovandum“ (OS III, 326. 33f). 31 In Inst II,15,2, wird das prophetische Amt Christi mit Jes 61,1 f. begründet (OS III, 473. 11–17). 32 Inst II, 12,1; OS III, 438.9–12. 33 F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Gütersloh 2015 (2.Aufl.). 34 W. Krusche (Anm. 4), 11.

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bestehen, also die römisch-katholische These, die Autorität der Schrift lasse sich von der Autorität der Kirche ableiten, in aller Form zurückzuweisen. Damit war zugleich die Auffassung bestimmter Wiedertäufer und radikaler „Schwärmer“ getroffen, die mit „privaten“ über die Schrift hinausgehenden Offenbarungen meinten rechnen zu können. Denn, so Calvin: Der Heilige Geist will durch ein unzertrennliches Band mit dem Wort verbunden sein, das bezeugt Christus von ihm, wenn er ihn seiner Kirche verheißt […] Das ist [zugleich] Gottes und des Heiligen Geistes unverletzlicher Beschluss, den unsere Gegner umzustoßen versuchen, indem sie sich einbilden, die Kirche werde ohne das Wort durch den Geist regiert. (Inst IV, 13,8; OS V, 148.2–9)

In diesem Zusammenhang wird mit Recht auf die oft zitierte Passage vom „inneren Zeugnis des Heiligen Geistes“ (Inst I,7) verwiesen. Danach ist dessen wichtigste Funktion die Begründung der subjektiven Gewissheit (und Autorität) der Schrift. Dabei geht es nicht um den Beweis, dass die Bibel Gottes Wort ist, nicht einmal um den Aufweis einer objektiven Basis unserer Schriftgewissheit (die liegt in der Schrift selbst, ihrer „Evidenz“, begründet). Was hier vielmehr jenseits aller rationalen Argumente genügen muss, für den praktischen Umgang mit der Bibel jedoch auch ausreicht, ist die begründete Versicherung, dass Gottes Wort nicht eher bei uns Glauben finden wird, als bis es vom Geist in unseren Herzen „versiegelt“ ist. Nur er könne uns von der Gleichursprünglichkeit dessen, was wir hören, mit dem Ort seiner ersten Verlautbarung überzeugen.35 Jenseits dieser engen Beziehung von Wort und Geist kennt Calvin jedoch auch eine größere Freiheit des Geistes gegenüber dem Wort als etwa Luther – ein vernachlässigtes Thema, das man in den Studien über Calvins Theologie fast ganz vermisst, weil es sich hinter den allgemein verwendeten Begriffen seiner Providenzlehre (consilium, gubernatio, directio oder conduite) verbirgt und doch eine Erfahrung ausspricht, über die sich ein aufmerksamer Betrachter der Spannbreite menschlicher Frömmigkeit nicht hinwegsetzen kann. John Hesselink spricht von einer „außerordentlichen Leitung des Geistes“36 , die sich nicht nur auf etwas „Geistliches“ bezieht, sondern wie im Fall der am Blutfluss leidenden Frau (Mt 9,20) oder des von Geburt an Gelähmten in Lystra (Apg 14, 8f.) auf den begreiflichen Wunsch geheilt zu werden. Den spontanen Entschluss der Frau, Jesu Gewand zu berühren, führt Calvin auf einen „einzigartigen Impuls“ des Heiligen Geistes zurück, beeilt 35 Vgl. Komm. zu Joh 14,25f: „Gott lehrt auf zweifache Weise. Einerseits spricht er in unser Ohr durch Menschenmund, andererseits redet er innerlich durch seinen Geist zu uns“ (CO 47, 334f). Vgl. oben: Kapitel 2.11. 36 So J.J. Hesselink, Gouverned and Guided by the Spirit, in: H. Oberman u. a. (Hg.), Reformiertes Erbe (FS G. Locher) Teil 2, Zürich 1993 (161–171), bes. 168.

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sich allerdings hinzuzufügen, dass solch ein Ereignis „sich nicht in eine allgemeine Regel pressen lasse“.37 Wohl aber gebe es manche Zeugnisse, die belegen, dass es für den Geist nichts Ungewöhnliches ist, einen Menschen zu bewegen, ungewöhnliche Dinge zu tun, oder ihn im voraus auf neue Erfahrungen vorzubereiten.38 So heißt es in einer Debatte über unsere zu allem Guten unfähige Natur: „Der Apostel lehrt ja nicht, die Gnade des guten Willens werde uns angeboten, wenn wir sie nur annehmen wollten, sondern: Er (Gott selbst) bringe in uns das Wollen hervor! Und das heißt doch, dass der Herr durch seinen Geist unser Herz leitet, lenkt und regiert und in ihm sein Regiment wie in seinem Besitztum führt.“39 (2) Der Geist in der Schöpfung. An keiner zweiten Stelle hat Calvin die Grenzen der Tradition so weit hinter sich gelassen wie in der Entfaltung und Durchführung seiner Lehre vom Heiligen Geist im Raum der Schöpfung. Der Geist tritt hier gleichsam in eine Lücke, die die Christologie nicht restlos abdecken kann. Natürlich kennt Calvin das Wort von der Schöpfungsmittlerschaft Christi (Kol 1,15), schränkt dessen Sinn aber auf den präexistenten Sohn ein, den Logos. Er, der als Quelle des Lebens aller Kreaturen seine belebende Kraft im Werk des Geistes unter Beweis stellt, manifestiert sich auch darin, „dass diese wunderbare Ordnung der Natur unverrückbar bestehen bleibt“.40 Für diese Aussage kann sich Calvin natürlich nicht auf die Inkarnation berufen denn in dem irdischen Menschen Jesus von Nazareth hat sich der Logos nur für einen bestimmten Augenblick der Geschichte offenbart. Doch in der Lehrbildung, die als Extracalvinisticum in die Literatur eingegangen ist, wird diese Grenze überschritten.41 Es gibt ein Vermögen, eine Freiheit des Logos, auch „extra Christum, also jenseits seiner sichtbar gewordenen Manifestation, im gesamten Kosmos wirksam zu sein, und in dieser Freiheit liegt die Möglichkeit begründet, dass die dem Sohn übereignete Herrlichkeit des Vaters sich tatsächlich in der geschaffenen Welt widerspiegelt. „Seit der Erschaffung der Welt“ tritt der Logos in der äußeren Wirksamkeit Gottes zu Tage.42 Er erfüllt als sie als der die Welt durchwirkende göttliche Geist, der als Gottes ausführender Arm in den Bahnen des alten Pfingsthymnus „Veni creator Spiritus!“ als „lebenschaffender Geist“ (Joh 6,63) nun ausdrücklich auch für das Werk der Schöpfung in Anspruch genommen wird. So verstanden ist der Geist die Kraft der Selbstdarstellung Gottes nach außen hin, diejenige Weise (subsistentia) seiner Wirklichkeit, kraft welcher die Schöpfung

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Kom. zu Mt 9,20, CO 45,257. Kom zu Apg 14,9; CO 48, 321. Inst II, 3,10; OS III, 285.20–24. Komm. zu Joh 1,4, CO 47, 5. Vgl. dazu Kapitel 4.3.2 sowie Chr. Link, Schöpfung, HST 7/1, Gütersloh 1991, 130–133. Vgl. dazu Kapitel 4.3.2, sowie Kom. zu Joh 1,2; CO47,4.

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für Gott aufgeschlossen, in Gottes Herrschaftsbereich eingegliedert und für seinen „ewigen Ratschluss“ in Anspruch genommen wird. Es gibt keine Herrlichkeit der Kreatur und keine Verherrlichung Gottes durch die Kreatur, die nicht durch das Werk des Heiligen Geistes geschähe. Calvin expliziert das Wirken des Geistes in einem zweigliedrigen Satz: Er ist, so heißt es in der definitionsmäßigen Erklärung der Trinität im Genfer Katechismus (1542), „Gottes Wirksamkeit und Kraft, die sich über alle Kreaturen erstreckt, und doch bleibt er immer bei Gott.“43 Beide Aussagen sind gleichermaßen wichtig. Der Geist wirkt ganz in die Welt hinein. Abseits von seiner Lebendigkeit gibt es kein Geschöpf und kein kreatürliches Leben, und wo und wie immer sich dieses Lebens manifestiert, da ist es Leben des Geistes und darum auf Gott bezogen. Zugleich aber – hier geht es um die Aufrichtung einer kritischen Grenze –bleibt der Geist „immer bei Gott“. Er wirkt in die Welt hinein, ohne in ihr aufzugehen, sich in ihr zu verlieren oder sie zu „vergotten“. Er verleiht der noch ungeformten Masse von Himmel und Erde Bestand, Schönheit und Ordnung, ohne die Natur jedoch zur Wohnstätte seiner göttlichen Wesenheit zu erheben. Die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf bleibt scharf gezogen. Ein Pantheismus hat hier keinen Raum. Was das für den Status der Schöpfung bedeutet, hat Werner Krusche am Beispiel ihrer Erhaltung (conservatio) illustriert: „Gott sorgt durch die Kraft seines Geistes dafür, dass der ordo mundi seine Stabilität behält. Es gibt, was den Bestand von Himmel und Erde anlangt, in der Tat einen perpetuus status.“44 Der freilich verdankt sich nicht einer ein für allemal ihm eingestifteten Kraft, sondern dem „alle Morgen neu“ einsetzenden Werk des Geistes. So heißt es im Kommentar zu Ps 104, 29 („Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie“): Mit diesen Worten weist uns [der Psalmist] darauf hin, dass wir mit Gottes Wink stehen oder fallen. Denn wir stehen, sofern er uns mit seiner Kraft aufrecht erhält; sobald er aber seinen lebendig machenden Geist von uns nimmt, fallen wir. […] Die Lebewesen vergehen, wenn Gott seine verborgene Kraft (arcanum vigorem) zurückzieht.45 So auch zu Apg 17.28: „Über alle Teile der Welt breitet sich die Kraft seines Geistes aus, welche die Geschöpfe in ihrem Zustand erhalten soll […] Sie verschafft Himmel und Erde ihre Lebenskraft […] und den beseelten Wesen ihre Beweglichkeit.“46 43 Genfer Katechsimus, Frage 19, in: W. Niesel (Hg) Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen (1938), Zürich 1985, 5. 7–9: « le sainct esprit, qui est sa vertu et puissance laquelle est espandue sur toutes creatures: et neant-moins il reside tousiours en luy ». Vgl. Kom zu Act 27,28; CO 48, 416: « per omnes mundi partes diffusa est vis spiritus, quae tueatur eos in statu suo: coelo et terrae vigorem[...] animantibus etiam motum suppeditet. » 44 W. Krusche (Anm. 4), 19. 45 Komm. zu Ps 104, 29; CO 32, 96 (CStA 6, 309). 46 Komm. zu Act 17,28; CO 48, 416. Inst I, 13,14: „Ille enim spiritus est, qui ubique diffusus omnia sustinet, vegetat et vivificat in coela et in terra“, OS III, 127.27; so auch Confessio de Trinitate, CO 9, 705.

Das verborgene Wirken des Heiligen Geistes

Was Calvin mit diesen Hinweisen unterstreichen will, ist das erstaunliche Faktum, dass die Menschheit trotz ihrer Entfremdung von Gott nicht längst in sich zerfallen ist. Auch das ist ein Werk des Heiligen Geistes. Denn – das sollte mit diesen Ausführungen noch einmal unterstrichen werden – es gibt neben dem Geist der Heiligung, von ihm unterschieden und doch gleichen Ursprungs, eben auch den im Kosmos und im politischen Raum universal wirksamen Geist des ewigen Logos, der alles Geschehen in der Welt durchdringt und zu seinem Ziel führt. 5.1.3

Der Heilige Geist und das christliche Leben

Als Theologe des Heiligen Geistes erweist sich Calvin in Sonderheit bei der Begründung des christlichen Lebens, im dritten Buch der Institutio bezogen auf Glaube und Wiedergeburt, im vierten Buch mit dem geschärften Blick auf die Kirche. Seine Argumentation bewegt sich auf diesem Feld von dem objektiv uns zugute vollbrachten Werk Christi hin zur Frage nach der subjektiven Aneignung der Früchte dieses Werkes. Sie beginnt mit der bereits zitierten Feststellung, die für ihn so wichtig ist, dass er sie noch zweimal, bei der expliziten Erörterung des Glaubens und der Rechtfertigung, wiederholt: „Solange Christus außer uns (extra nos) bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und ohne jeden Belang. Soll er uns also zuteil werden lassen, was er vom Vater empfangen hat, so muss er unser Eigentum werden (nostrum fieri) und in uns (in nobis) Wohnung nehmen.“47 Hier ist ein mitunter folgenreicher Wechsel der Blickrichtung gefordert: Wir können dem, was wir in einer objektiven „wissenschaftlichen“ Einstellung das „Werk Christi“ nennen, nicht in der Distanz des neutralen Zuschauers, Historikers oder Kritikers begegnen, vielmehr sind wir, sofern wir uns als Glaubende verstehen, an dieser Sache beteiligt. Wie wir in die Bewegung der Zeitgeschichte hineinverflochten sind und sie nur verstehen, wenn wir sie nicht in der Haltung eines objektiven Beobachters, sondern sozusagen aus der Nähe des Mitspielers anschauen, so braucht es einen analogen Perspektivenwechsel, um das Werk des Geistes in existenzbetroffener Wahrnehmung zu Gesicht zu bekommen. In dieser Blickrichtung präzisiert Calvin sodann: Christus „bindet uns nicht nur durch ein unzertrennbares Band der Teilnahme (societas) an sich, sondern wächst durch eine wundersame Gemeinschaft (communio) von Tag zu Tag mehr mit uns zu einem Leibe zusammen, bis dass er ganz mit uns eins wird“48 – ein Vorgriff auf die unio mystica, die man gelegentlich als Ziel und Mitte des calvinischen Denkens

47 Inst III, 1,1; OS IV, 1.10–15. Vgl. Inst III, 2,14 und 11,10. 48 Inst III,2,24; OS IV, 35.8–11.

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beschrieben hat. Sie ist ein Werk des Geistes, dessen vorzügliche Leistung darin besteht, den abwesenden (im Bild: den „zur Rechten Gottes sitzenden“) Christus unter uns zu vergegenwärtigen, so dass er mit uns und wir mit ihm gleichzeitig werden. So heißt es im Genfer Katechismus von 1545: Der Geist Gottes, der in unseren Herzen wohnt, wirkt so, dass wir die Kraft Christi fühlen. Denn dass wir die Wohltaten Christi mit unserem Denken (mente) erfassen, das geschieht durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes. Durch seine Überzeugungskraft (persuasio) werden sie in unseren Herzen versiegelt. Er allein schafft dafür in uns Raum. Er bewirkt unsere Wiedergeburt und macht uns zu neuen Geschöpfen. Alle uns in Christus dargereichten Gaben empfangen wir derart durch die Kraft dieses Geistes.49

Auf dem Boden der hier beschriebenen Voraussetzungen entfaltet sich alles, was nachher über das christliche Leben zu sagen ist. Andernfalls wäre Christus umsonst unter dem Namen des Retters (salvator) zu uns gekommen. Als Schlüsseltext erweist sich hier Röm 8,9, dem Calvin das Geheimnis der „Einwohnung“ Christi entnimmt: Mit dem Begriff ‚Geist’ bezeichnet Paulus nicht etwa Verstand oder Einsichtsvermögen (intelligentia) […], sondern eine Gabe des Himmels. Denn geistlich, legt er dar, sind nicht die, die aus eigenem Antrieb der Vernunft (ratio) gehorchen, sondern die Gott mit seinem Geist regiert. Und doch heißen sie nicht deshalb geistlich, weil sie von Gottes Geist erfüllt sind (was in diesem Leben niemandem zuteil wird), sondern weil sie den Geist in der Weise haben, dass er in ihnen Wohnung nimmt, mögen sie auch noch Reste fleischlichen Wesens in sich spüren.50

Das provoziert die Frage, welche Einheit denn überhaupt zwischen Christus und uns bestehen kann und soll. Sie soll sich, erklärt Calvin, auf den ganzen Menschen mit Seele und Leib erstrecken, „betrifft also nicht nur die Seele, sondern auch den Leib […] Denn unsere Auferstehungshoffnung wäre nur schwach, wenn unsere Verbindung nicht so beschaffen wäre, dass sie den ganzen Menschen betrifft.“51 Diese Auskunft ist jedoch schon in der Reformationszeit nicht unumstritten geblieben und, wie F. Wendel ausführt, auch bei Calvin selbst keineswegs eindeutig.52 Denn zu den großen Kontroversen, die die Institutio durchziehen, gehört seine 49 50 51 52

Genfer Katechismus, Frage 91, OS II, 88; CStA 2, 43.25–32. Komm. Röm 8,9; CO 49,144; CStA 5.2, 397.4–9. Komm. 1Kor 6,5; CO 49, 398. F. Wendel Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, dt.: Neukirchen 1968, 205–208: Die Gefahr (Osianders), Christi Gottheit mit unserer Menschheit zu vermischen, hat Calvin nicht immer vermieden, wenn er etwa erklärt, wir müssten an der Substanz (!) Christi teil haben, um seine wahren Glieder zu sein.(CO 51, 225).

Der Glaube

Auseinandersetzung mit Andreas Osiander, dem Theologen, der einen hervorragenden Anteil an der Reformation Nürnbergs hatte. Hier jedoch kam es zum Streit über die Gottesbildlichkeit des Menschen, das Werk Christi und die Rechtfertigung, – einem Streit der im Kern das Verständnis dieser Einheit betrifft.

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Der Glaube

Glaube, das Zentrum des (religiösen) Judentums und Christentums, ist schon von Hause aus ein schwieriger, ein schwer übersetzbarer Begriff, der in anderen Religionskreisen (Griechenlands oder Roms, geschweige denn des fernen Ostens) nicht belegt, ja im Grunde keinerlei Entsprechung hat: „Ich glaube an Zeus oder Buddha oder Konfuzius“ – das lässt sich nicht sagen. Auch im innerchristlichen Dialog hat der Glaube eine bemerkenswerte Unschärfe, die von einem gleichsam weichen Gebrauch („glaubst du das wirklich?“) bis zu der Luther zugeschriebenen Härte („hier stehe ich, ich kann nicht anders!“) reicht. Es ist die Leistung Calvins, dass er den Glauben von seinen gleichsam beiden Polen oder Flanken her zu begreifen versucht hat: als objektive „Erkenntnis“ und als subjektives „Vertrauen“. Wie aber verhalten sich diese beiden „Größen“ zueinander? Calvin hat den Glauben aufs engste mit seiner Lehre vom Heiligen Geist verbunden. Er ist „das vornehmste“ (praecipuum), „das besondere“ (peculiare), ja „das eigentümliche“ (proprium) Werk des Geistes.53 Und weil dieser Geist keine neuen Inhalte erzeugt, sondern die uns vorgegebenen bezeugt und im Herzen versiegelt, wird er hier als subjektiver Akt, mit dem wir glauben, als ‚fides qua creditur’ zum Thema gemacht. Damit ist eine bestimmte anthropologische Verortung gegeben: Der Glaube, formuliert der Katechismus von 1537, ist „eine starke, unerschütterliche Zuversicht des Herzens, durch die wir sicher in der Barmherzigkeit Gottes ruhen“54 , ein Wissen, das nicht auf dem Weg sinnlicher oder verstandesmäßiger Wahrnehmung gewonnen wird, das also nichts mit der Kenntnis historischer Tatsachen zu tun hat. Wir müssen beachten, heißt es in einer Predigt zu 2Thess 1, 6–10, „dass der Glaube nicht einfach eine verstandesmäßige Zustimmung zu dem ist, was man uns beigebracht hat, wir müssen vielmehr auch unser Herz und unser Gefühl geltend machen“.55 Das geschieht in den verschiedenen Epochen auf unterschiedliche Art und Weise. Gemeinsam ist diesen Versuchen, dass sie zunächst eine Antwort auf Calvins Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Traditionen und scholastischen Vorstellungen sind, in denen der Glaube als eingegossene 53 Inst III, 1,4 und 2,39; OS IV, 5.14 und 19.36. 54 Genfer Katechismus (1537), CO 12, 47; CStA 1.1, 163. 6–8. 55 Predigt zu 2Thess 1, 6–10, CO 52, 226. Dazu: J. Hesselink, Calvin’s First Catechism. A Commentary, Louisville 1997, 101f, 211.

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Tugend oder als Eigenschaft der Seele verstanden wird. Auch die Gliederung in verschiedene Glaubenstypen, die der Vielfalt (um nicht zu sagen: der Mehrdeutigkeit biblischer Aussagen) Rechnung tragen sollten – eingewickelter/entfalteter Glaube (fides implizita/explicita), ungestalteter/gestalteter Glaube (fides informis/caritate formata) oder: historischer/angeeigneter Glaube (fides historica/acquisita) – hat Calvin hinter sich gelassen. Von der traditionellen (augustinischen) Dreiteilung des Glaubensaktes – notitia, assensus, fiducia –, die sich in der ersten Fassung der Institutio noch erhalten hat, ist nur das dritte Glied, das „credere in Deum“ (Gott in Glaube und Liebe anhängen) übrig geblieben. So lautet der Text von 1536: Wir glauben nicht nur [die Existenz von] Gott und Christus, auch nicht nur an das, was uns von alten und gegenwärtigen Zeugen von ihnen berichtet wird – das nämlich teilen wir mit den Dämonen (Jak 2,18); es hat keinerlei Gewicht und ist nicht wert, Glaube genannt zu werden – sondern wir erkennen ihn auch als unseren Gott und Christus, d. h. als unseren Retter, wie wir auch alle Hoffnung und alles Vertrauen (fiducia) auf diesen einen Gott und Christus setzen.56

Diese Definition ist eine Art Vorspann, welcher der Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses vorangeht. Der Inhalt dessen jedoch, was in einem solchen Vorspann zu sagen wäre, hat sich 1539, in der zweiten Ausgabe der Institutio entscheidend gewandelt und zwar über der Arbeit am Römerbrief-Kommentar. Die grundlegende Voraussetzung und zugleich das wesentliche Merkmal des Glaubens ist jetzt die Rechtfertigung. Dieses Fundament hat Calvin wie vor ihm Luther, Bucer oder Melanchthon, bei Paulus gefunden, der für ihn wichtigsten und meist zitierten Quelle. Der dort wie neu entdeckte Ausgangspunkt der Reformation, Dreh- und Angelpunkt unserer Gottesverehrung (cardo religionis), liefert ihm die Perspektive, den Glauben auf sein biblisches Zentrum hin auszulegen. Denn dieser Begriff kreist nicht um das, was wir vor Gott in die Waagschale legen können, unsere guten Werke; er zielt auf die Erkenntnis dessen, was ohne unser Zutun dort schon hineingelegt ist, d. h. auf Gottes Erbarmen mit unseren vergeblichen Anstrengungen. Eine erste abschließende Formulierung, die „als Antwort auf die Mehrdeutigkeit biblischer Aussagen“57 gelten kann, weil sie ganz auf die Gewissheit der Verheißungen Gottes und auf das Ziel christlicher Existenz ausgerichtet ist, findet sich in der zweiten Ausgabe der Institutio von 1539. Sie ist nahezu wortgleich in deren letzte Fassung (1559) übernommen worden. Danach ist der Glaube

56 Inst (1536) II, OS I, 69. 57 B. Pitkin, Glaube und Rechtfertigung, in: H. Selderhuis (Hg), Calvin-Handbuch, 2008 (284–295), 287.

Der Glaube

die feste und gewisse Erkenntnis (cognitio) des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotene Verheißung gründet und durch den Heiligen Geist unserem Verstand (mens) geoffenbart und in unseren Herzen versiegelt wird.58

Die Spitzenbegriffe der beiden zitierten Definitionen – hier das Wohlwollen (benevolentia), dort Barmherzigkeit und Vertrauen (fiducia) – stammen von Melanchthon bzw. Bucer.59 Der neue Entwurf als solcher aber ist das Ergebnis des 1540 erschienenen Römerbrief-Kommentars, dessen Erkenntnisse in die Institutio (1539) eingearbeitet sind und den man daher als eine Art Vorlage ihrer Revision betrachten kann. So heißt es zu Röm 3,22: „Die Rechtfertigung hat ihren Haftpunkt in Christus und wird durch den Glauben angeeignet.“60 In ein von Calvin gelegentlich gebrauchtes scholastisches Schema gegossen liest sich das dann so: Gottes Barmherzigkeit ist ihre Wirkursache (causa efficiens): von ihm allein kommt sie her, im Himmel hat sie ihren Ursprung. Christus ist ihr materialer Grund (causa materialis): in ihm wird sie uns offenbar. Und das mit dem Glauben verbundene Wort ist das Instrument, sie uns anzueignen (causa instrumentlis)61 Der Glaube also ist das Mittel, Christus gewissermaßen in uns aufzunehmen, ist er es doch, der uns die Gerechtigkeit zuteil werden lässt. Deshalb hat er sein Zentrum und seinen Haftpunkt in der Rechtfertigung. Zwar lasse sich die Exklusivpartikel „allein aus Glauben“, wie schon Johannes Eck monierte, tatsächlich „nirgendwo in der Schrift finden“. Wenn aber unsere Rechtfertigung „nicht aus dem Gesetz kommt“, hält Calvin dagegen, und wenn ihr Grund noch dazu außerhalb von uns selbst liegt, warum sollte sie dann nicht allein der göttliche Barmherzigkeit zuzuschreiben sein? „Wenn aber allein der Barmherzigkeit, dann offenbar allein dem Glauben.“62 So kommt es, frühere Erkenntnisse aufnehmend und überbietend, zu der Aussage: Der Glaube ist „die gewisse, aus dem Evangelium empfangene Kenntnis (notita) der göttlichen Barmherzigkeit, die dem Gewissen Friede und Ruhe bei Gott verschafft“63 , wobei diese Gewissheit nicht der Stärke unserer persönlichen Überzeugung zuzurechnen ist als vielmehr der Verlässlichkeit des göttlichen Wortes. Die Institutio (1559) nimmt diesen Ton auf und erklärt die Verheißung der Barmherzigkeit Gottes“ zum „eigentlichen Richtpunkt

58 Inst (1539) IV, CO 1, 455; vgl. Inst (1559) III, 2,7; OS IV, 16. 32–35). 59 M. Bucer definiert: „Fides est certa per spiritum sanctum de Dei [...] paterna benevolentia persuasio“. zit, bei S.P. Dee, Het Geloofsbegrip van Calvijn, Kampen 1918, 208. In Melanchthons “Loci communes theologici (1521), CR 21, 163, heißt es: “Est itaque fides non aliud nisi fiducia misericordiae divinae... “ 60 Zu Röm 3,22: CO 49, 60; CStA 5.1, 193. 29. 61 Ebd. 60; CStA 5.1, 195. 4–6. 62 Zu Röm 3, 21: CO 49, 59; CStA 5.1, 191. 18–23. 63 Zu Röm 4, 14: CO 49, 78; CStA 5.1, 239. 20–22.

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(proprius scopus)“ des Glaubens.64 Da diese Barmherzigkeit in Christus erschienen ist, liegt hier sein Zielpunkt und zwar, wie die Apostelgeschichte pointiert, der einzige: „Christum esse unicum fidei scopum.“65 Diese Brücke erlaubt es Calvin, auch anders akzentuierte Aussagen etwa im Jakobus- und Hebräerbrief oder im Johannesevangelium, die den Glauben in eine Beziehung zu den Werken der Liebe setzen, seinem Verständnis zu integrieren. Das gilt, wie Barbara Pitkin66 gezeigt hat, auch für seinen scheinbar selbständigen, auf schöpfungstheologischer Basis breit entfalteten Vorsehungsglauben (Inst I, 16 und 17), der auf den Logos als ewigen Sohn ausgerichtet ist. Denn wie Gott die Welt regiert, wie er insbesondere für seine Kirche und das Leben der Glaubenden sorgt, das „erfassen wir nicht auf menschliche Weise“, sondern „durch den Glauben an seine unsichtbare Vorsehung“.67 So unbestritten die 1539 neu gelegten Fundamente des Glaubens sind, es gibt einen mit Recht viel diskutierten Unterschied zu der Fassung von 1536. Ist das Hauptmerkmal des Glaubens dort das Vertrauen, so akzentuiert Calvin 1539, vollends 1559 mit einer gewissen Einseitigkeit die „feste und gewisse Erkenntnis“. Denn wenn der Glaube keinen Augenblick als Werk des Menschen in Frage kommt, dann beruht er offenbar auf einer externen Quelle, die man kennen oder eben nicht kennen kann, wie das prägnante Diktum belegt: „non in ignoratione, sed in cognitione sita est fides“ – nicht auf Unwissenheit, sondern auf Erkenntnis beruht der Glaube.68 Diese These hat der Sache nach schon in der Scholastik eine breit geführte Debatte hervorgerufen, wie sich diese Zuschreibung – sie konnte immerhin zu dem Vorurteil einer intellektualistischen Auffassung der reformierten Tradition verleiten69 – zu dem oft genug angeführten Merkmal des Vertrauens und seiner Verankerung im Herzen verhalte.70 Man darf ja nicht übersehen, dass Calvin den Zweifel als einen zwar problematischen, aber eben doch als einen Bruder des Glaubens anerkannt hat, der es leider an gerade diesem Merkmal fehlen lasse – mit der Begründung: „Wenn wir lehren, dass der Glaube gewiss und sicher sein soll, so bilden wir uns doch nicht eine Gewissheit ein, die kein Zweifel mehr berührte, noch eine Sicherheit, die durch keine Unruhe und Besorgnis bedrängt werden könnte,

64 Inst III, 2,29; OS IV, 39.27f. 65 Kom zu Apg 16,1; CO 48, 388. 66 B. Pitkin, What Pure Eyes Could See. Calvin’s Doctrine of Faith in Its Exegetical Context, 1999. (PhD diss., University of Chigago, 1994) 67 Psalmen-Kommentar, CO 31, 132. 68 Inst III, 2,3; OS IV, 10.11. 69 So A. Ritschl, Geschichte des Pietismus in der reformierten Kirche I, Bonn 1880, 88. 70 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von R.A. Muller, The Unaccomodated Calvin. Studies in Foundation of a Theological Tradition, New York – Oxford 2000, 49f, 164–167.

Der Glaube

vielmehr sagen wir, dass die Gläubigen immer im Kampf liegen mit ihrem eigenen Mangel an Vertrauen.“71 5.2.1

Der Glaube als gewisse Erkenntnis

Der ebenfalls 1539 verfasste Brief an Kardinal Sadolet gibt einen lebendigen Eindruck, mit welchem heute selten gewordenen Pathos Calvin als Lehrer seiner Gemeinden und einer ganzen Generation von Pfarrern angetreten ist. Es war sein Stolz, dass diese Pastoren anders als ihre Vorgänger über ihren Glauben Rechenschaft abzulegen wussten und durch ihre unermüdliche exegetische Arbeit „soviel Licht in das Verständnis des Wortes Gottes gebracht hätten, dass sich sogar der Neid selbst schämen müsste, sie um dieses Lob zu betrügen“.72 Erkennen, wovon die Bibel wirklich redet, statt sich einer fides implicita, überlieferten Lehrmeinungen der Kirche blind zu unterwerfen, herauszufinden, welche Schätze für Weltorientierung und Lebensführung hier zu heben sind: darauf käme es an. Mit dem bloßen Fürwahrhalten, ob es sich um Sätze biblischen, kirchlichen oder modernen Ursprungs handelt, hat der christliche Glaube nichts zu tun. Auch die Kenntnisnahme der „Historien“ des Alten und Neuen Testaments – alle Reformatoren haben das betont – führt noch niemanden zum Glauben. Erkenntnis ist notwendig, um gegen alles bloße Herkommen, vor allem gegen die Verführungen des Zeitgeistes und des allgegenwärtigen Zweifels den eigenen Weg zu finden und dann auch zu gehen. Schon daraus wird deutlich, dass der Gegenstand (objectum) des Glaubens nicht schon Gott selbst sein kann, sondern seine Wahrhaftigkeit (veracitas: Deus erga nos), sein Vermögen, „das zu tun, was er verheißt“.73 Hier ist zugleich ein gesundes emanzipatorisches Interesse mit im Spiel, der Kampf gegen jene „lächerliche Einfalt, wonach es sich für Ungebildete geziemen soll, zu den Gelehrten aufzublicken und sich nach ihrem Wink zu richten“.74 So also stehen die Dinge: Der Glaube der Christen darf nicht auf menschliches Zeugnis gegründet, […] nicht durch Autorität von Menschen abgesichert, sondern muss mit dem Finger Gottes ins Herz gemeißelt sein. […] Das erst ist jene volle und feste Gewissheit, wie sie Paulus uns anempfiehlt.75

71 Inst III, 2,17; OS IV, 27.25–30. 72 Brief an Kardinal Sadoleto, CO 5, 395; CStA 1.2, 373.23–25. 73 Kom. zu Mt 9,27; CO 45, 260f. Vgl. hierzu bes. E. Dowey, The Knowledge of God in Calvin’s Theology, New York – London 1965 (2.Aufl.), 153f. 74 Brief an Sadolet, CO 5, 406; CStA 1.2, 403. 6–8. 75 Ebd. 405; CStA 1.2, 401. 13–23.

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In diesem neu vermessenen Themenfeld erscheint als die erste und elementarste Voraussetzung die Bindung des Glaubens an das Wort Gottes, die so untrennbar sein muss wie die der Strahlen an die Sonne. „Das Wort ist das Fundament, das den Glauben trägt […] Nimm das Wort weg, und kein Glaube wird mehr übrig bleiben.“76 Durch das Wort aber wird „nichts ausgerichtet ohne die Erleuchtung des Heiligen Geistes“. Soll es Erfolg haben, dann muss „Gott sich durch das Licht seines Geistes sehen lassen“.77 Nicht als ob das Wort dunkel wäre, es ist, wie im Abschnitt über die Schriftautorität gezeigt, in sich selbst evident, eine helle Leuchte, aber „es leuchtet unter Blinden, und deshalb muss zu dem leuchtenden Wort der erleuchtete Geist (mens) hinzukommen“.78 Er nimmt auf dreifache Weise uns gegenüber das Amt des Lehrers wahr: „Er belehrt uns durch sein Wort, er erleuchtet unsere denkerischen Kräfte (mentes) und meißelt drittens unseren Herzen die [heilsame] Lehre ein, so dass wir ihm früher oder später tatsächlich einmütig gehorchen.“79 Von einer Steigerung unserer eigenen Erkenntniskraft kann dabei freilich nicht die Rede sein. Vielmehr sollen blinde Augen geöffnet werden: „Wenn Gottes Geist uns erleuchtet, beginnt in uns ein neues Vermögen (nova facultas) sich zu regen, das keinesfalls wie eine natürliche Fähigkeit einzuschätzen ist.“80 Der Geist schafft sich vielmehr selber das Erkenntnisorgan, ein Subjekt, das imstande ist, das Wort angemessen zu erfassen. Er ist der „innere Lehrer“ (interior magister), der uns den Zugang zum Verständnis des Wortes öffnet. Das alles genügt indessen noch nicht, in uns jene feste und „unanfechtbare Überzeugung“ (indubia persuasio) wachsen zu lassen, ohne die der Glaube seiner Sache nicht gut gewiss werden kann. Krusche hat gewichtige Belege dafür beigebracht, dass die noetische Seite des Glaubens auf keine Weise von der affektiven getrennt werden darf.81 Die „Zustimmung“ zum Inhalt der Schrift ist „mehr Sache des Herzens als des Hirns (cerebrum), mehr Sache des Affekts als des Verstandes (intelligentia)“.82 Deshalb muss der Erleuchtung des Verstandes die Wirkung des Geistes auf das Herz zur Seite gehen, jene „Versiegelung“ des Wortes, von der Krusche zu Recht sagt, dass „in dieser Wirkung des Heiligen Geistes […] seine Kraft noch deutlicher in Erscheinung tritt, insofern die Vertrauenslosigkeit des Herzens größer ist als die Blindheit des Verstandes, und es also schwieriger ist, dem Herzen Ge-

76 Inst III, 2, 6; OS IV, 14.24–27: „Tolle verbum et nulla restabit fides“. Analog heißt es im Kommentar zu Apg 16,31, CO 48, 389: « absit ... evangelii praedicatio, nulla iam restabit fides ». 77 Inst III, 2,33; OS IV, 44.9f und Kom Röm 10,16, CO 49, 206 bzw. CStA 5.2, 553. 16f. 78 W. Krusche, Das Wirken des Heiligen Geistes (Anm. 4), 259f. 79 Kom zu Ps 143,10, CO 32, 404. 80 Prael. Ez 11,24; CO 40, 252. 81 Inst III, 2,8; OS IV, 18.17. 82 Ebd., OS IV,17.25f.

Der Glaube

wissheit zu verleihen, als den Verstand mit Erkenntnis[sen] zu füllen“.83 So gesehen ist die Erkenntnis Gottes „nur die eine Hälfte des Glaubens und würde uns wenig nützen, wenn nicht das Vertrauen hinzukäme“.84 Krusche hält das fiducia-Moment des Glaubens daher für noch gewichtiger als das der cognitio. Damit stehen wir vor der viel verhandelten Frage, wie denn die so pointiert an den Anfang der zitierten Definition von 1539 gestellte Erkenntnis (cognitio) zu verstehen ist. Lässt sie sich, wie oft behauptet85 , als Alternative zum Moment des Vertrauens (fiducia) in Stellung bringen? Die Frage wurde seit Augustin auch im Mittelalter als Problem des Verhältnisses von Intellekt und Wille gestellt. In seiner Anthropologie nimmt Calvin diese Debatte auf. Er unterscheidet mit Aristoteles Intellekt und Willen als zwei Vermögen der Seele und zwar so, dass der Wille jederzeit vom Intellekt abhängt, indem er bei seinen Wünschen dessen Urteil abwartet.86 Deshalb geht das epochale Datum des „Sündenfalls“ letztlich zu Lasten des Intellekts, der in seiner Aufgabe, dem Willen Orientierung zu geben, versagt. Ihm ist das Ziel unseres Lebens sozusagen außer Sicht geraten. Wie aber stehen die Dinge, wenn es um die Heilung dieses Schadens geht? Hier scheiden sich die Geister bereits in der Scholastik. Während Thomas von Aquin am Primat des Intellekts festhält, schreibt Duns Scotus, auf dessen Spur wir hier ein weiteres Mal stoßen, diesem Willen in und aus sich selbst ein rationales Vermögen zu. Als „appetitus rationalis“ ist er nicht an das Diktat des Intellekts gebunden. Er steht in der Mitte zwischen Sinnlichkeit und Verstand mit der Fähigkeit, sich nach beiden Seiten zu wenden, unter idealen Bedingungen also auch dem vom Intellekt erkannten Guten zu folgen. Dieser voluntaristischen Linie folgt Calvin.87 Das bedeutet: Unter den Bedingungen der „gefallenen“ Menschheit ist der Wille an unsere zur Sünde neigende Natur gebunden. Calvin spricht von einem „Mangel an Vertrauen, der sich in den Überresten des Fleisches einnistet und sich gegen den Glauben erhebt, der in unserem Inneren Wurzel geschlagen hat“.88 Der Anfang eines befreiten Lebens und Glaubens kann deshalb nur darin bestehen, beiden, dem Willen wie dem Verstand, ihre Integrität und darin ihre essentielle Freiheit neu zu erschießen. Das eben ist das Werk des Geistes: die Versiegelung des

83 W. Krusche (Anm. 4), 262 im Blick auf Inst III, 2,36; OS IV, 46.39–47.3. 84 Kom. zu Hebr. 11,1; CO 55. 149, zit. n. S.P. Dee, Geloofsbegrip (Anm. 59), 36. 85 So H. Schützeichel, Die Glaubenstheologie Calvins München 1972, 133–144, im angelsächsischen Bereich bes. R.T. Kendall, Calvin and English Calvinism to 1649, New York 1979, zusammengefasst in: The Puritan Modification of Calvin’s Theology, in: W.S. Reid (Hg) John Calvin: His Influence in the Western World, Grand Rapids 1982, 197–214. Zur Kritik: R.A. Muller (Anm. 70), 159f. 86 Inst (1559) I, 15,7; OS III, 185.10–12. 87 Inst II,2, 26: „Die Entscheidung (electio) liegt mehr bei ihm (dem Willen) als beim Verstand“; OS III, 269.1–3. 88 Inst III, 2, 18, OS IV, 29.16f.

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Herzens, die ein neues Wachstum von Gewissheit und Vertrauen in sich schließt. So gesehen scheint das fiducia-Element des Glaubens tatsächlich das zuletzt noch gewichtigere zu sein: Die Erkenntnis Gottes „würde uns wenig nutzen, wenn nicht das Vertrauen hinzu träte“.89 5.2.2

Der Glaube als Einheit mit Christus

Wenn dem aber so ist: Warum definiert Calvin den Glauben dann gleichwohl durch das Vorzeichen der Erkenntnis? Antwort: Weil man nur dem vertrauen kann, den man kennt. Ein „blindes Vertrauen“ wäre ebenso wenig wie eine „gläubige Haltung“ vor Irrwegen geschützt. Kennen muss der Glaube nicht nur einen irgendwie beschaffenen, sondern den in Christus uns zugewandten, „wohlgesonnenen“ Gott. Wie sollte er ihm sonst trauen können? Das Kennen also geht dem Vertrauen logisch voraus; es schließt das Element des Vertrauens in sich. Umgekehrt wird nun auch deutlich, weshalb hier tatsächlich ein zweifaches Wirken des Geistes, auf Verstand und Herz, notwendig ist. Denn es geht dabei um die Einheit von Erkennen und Vertrauen. Das aber ist zugleich ein unübersehbarer Hinweis auf den unverzichtbaren Gegenstandsbezug des Glaubens. Denn der Glaube hat ein Gegenüber, das Evangelium. Hier muss man indessen noch einmal unterscheiden. Sein „Gegenstand“ ist nicht schon eine Botschaft, auch nicht eine Lehre, also nicht bloß ein Angebot, dem wir in der Kraft des Geistes zustimmen müssten. Gemeint ist vielmehr in beiden Fällen die Eröffnung des Zugangs zu einer Person, um deren Werk es hier wie dort geht. Wer glaubt, tritt deshalb nicht in eine neutrale Erkenntnisbeziehung zu einem von außen ihm mitgeteilten Inhalt, sondern in eine ihn bindende personale Beziehung zu dem Subjekt, das diesen Inhalt begründet und trägt. Erkennen heißt hier nachgerade, diese personale Beziehung zu realisieren, sich auf sie einzulassen wie auf eine Liebe oder eine Freundschaft. Sie hat – metaphorisch gesprochen – den Charakter einer Eingliederung, ja Einfügung (inserere) in seinen Leib, „so dass wir an all seinen Gütern Anteil gewinnen“ und – so verstanden – „durch die Kraft seines Geistes erleuchtet werden, so dass wir glauben“.90 So heißt es in der Auslegung zu 1Joh 5,20 („den wahrhaftigen [Gott] erkennen“) in einer durchaus sachgemäßen Zuspitzung: Mit diesem Wort [‚glauben’] werden wir daran erinnert, „wie wirksam jene Erkenntnis ist, weil wir durch sie in Christus eingepflanzt und [in ihm] eins gemacht werden (efficimur) mit Gott“.91 Und wie jene Erkenntnis so ist auch das Zustandekommen dieser personalen Gemeinschaft

89 Kom zu Hebr 11,6, CO 55, 149; vgl. Inst III, 2,33. 10–13. 90 Inst III, 2,35; OS IV, 46. 30–32. 91 Zu 1 Joh 1,5, CO 55, 357.

Rechtfertigung

ein Werk des Heiligen Geistes. Allein durch seine Kraft geschieht es, dass wir mit Christus zusammenwachsen. Hier in der Mitte seiner Erläuterung dessen, was „glauben“ heißt, entfaltet Calvin daher ein weiteres Mal eines der zentralsten Motive seiner Theologie, unsere Einheit mit Christus: Wir sollen uns doch nicht einen Christus denken, der gleichsam in weiter Ferne uns gegenüber stünde und der nicht vielmehr in uns wohnte. Wenn wir also von ihm unser Heil erwarten, […] dann doch deshalb, weil er uns in seinen Leib eingefügt und uns damit nicht nur all seiner Güter, sondern sogar seiner selbst teilhaftig gemacht hat. […] Um das zu bekräftigen, bedient er sich desselben Argumentes (ratio), das ich schon angeführt habe: Denn Christus ist nicht außer uns (extra nos), sondern wohnt in uns (in nobis). Er bindet uns nicht nur durch ein unzerreißbares Band der Teilnahme an sich, sondern wächst durch eine wundersame Gemeinschaft von Tag zu Tag mehr mit uns zu einem Leib zusammen, bis er ganz mit uns eins wird.92

In einem Brief an Vermigli vom August 1555 hat Calvin diesen Zusammenhang noch einmal präzisiert: „Sobald wir im Glauben Christus aufnehmen, wie er sich uns im Evangelium darbietet, werden wir wahrhaftig seine Glieder, und Leben strömt in uns ein nicht anders als vom Haupte [in die Glieder].“93 Emil Brunner hat dieses Lehrstück von der Einheit mit Christus (unio mystica) „die Mitte des calvinischen Denkens“ genannt. Fazit: Der Glaube ist bei Calvin in erster Linie eine durch den Heiligen Geist beglaubigte Erkenntnis, so wie es in der Überschrift der beiden ersten Bücher der Institutio heißt: „Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und Erlösers“. Dabei geht es nicht um eine (wissenschaftlich-) neutrale Erkenntnissituation, sondern, wie es jenem „inneren Lehrer“ entspricht, um eine personale Beziehung, die den Erkennenden mit dem Gegenstand seiner Erkenntnis zusammenschließt und deshalb einer transparenten argumentativen Entfaltung bedarf.

5.3

Rechtfertigung

Wie kommt ein Mensch mit allem, was er sagt, tut und was ihm widerfährt, zu seinem Recht vor Gott? das ist die Frage, um die es hier geht. Kein zweites der 92 Inst III, 2,24, OS IV, 34. 26–31 und 35. 7–11. Vgl. hierzu wiederum Dowey, The Knowledge of God in Calvin’s Theology, New York 1952, 198f. Schon E. Doumergue, Jean Calvin, Bd. IV: La pensée religieuse de Calvin, Lausanne 1910, 240–248, hat (in einem Vergleich mit Alexander von Hales und Thomas von Aquin) dies Thema der Einheit in die Mitte seiner Interpretation des Glaubens gestellt. 93 Brief an Vermigli vom 8. August 1555 (Ep. 2266), CO 15, 723; Schwarz 458, S. 794.

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von Calvin bearbeiteten Themen hat sich so sehr mit der Reformation, speziell ihrer lutherischen Prägung, verbunden wie die Rechtfertigung, so dass die ältere, namentlich die deutsche Forschung ihn immer wieder an diesem Vergleich meinte messen zu können.94 Calvin hat die Wittenberger Vorläuferschaft zeitlebens dankbar anerkannt. Und doch ist der Rahmen, in dem sein Entwurf zu stehen kommt, ein anderer. Die Gewichte haben sich verschoben. Im Zentrum steht nicht der Glaube. „[E]ine beherrschende Stellung […] nimmt er eigentlich nicht ein“95 , deutlicher noch: bei Calvin spielt die fides im Unterschied zu Melanchthon „so gut wie keine Rolle in der Rechtfertigungslehre“.96 Denn der Glaube gehört auf die Seite des Menschen, er ist die Bedingung, sich die Gerechtigkeit Christi zu eigen zu machen (causa instrumentalis97 ), aber er ist nicht ihr Grund. Zu dem entscheidenden „objektiven“ Vorgang der Annahme (acceptatio) des sündigen Menschen durch Gott hat er nichts beizutragen. Calvin hat das Thema der Rechtfertigung anders verortet, pointiert gesagt: bei aller sachlichen Nähe zu Luther nicht perspektivisch auf den Mensch zentriert, sondern theozentrisch als Zuwendung und Gabe Gottes begriffen. Im Blick auf die hier geforderte, alles entscheidende Gerechtigkeit heißt es im „Römerbrief “ (zu 3,22): „Von ihm (Gott) allein kommt sie her, im Himmel hat sie ihren Ursprung, in Christus aber wird sie offenbar.“98 Auf diese Feststellung reagiert (sekundär) die dem dritten Buch der Institution vorangestellte Leitfrage: Wie empfangen wir die Gnade Christi? Konkret: Welche Wohltaten und Wirkungen ergeben sich daraus? Der systematische Rahmen wird hier durch die Wirkung des Heiligen Geistes aufgespannt. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Osiander (über das Problem der sogenannten „wesenhaften“ Gerechtigkeit)99 nimmt Calvin zu diesem Ausgangspunkt Stellung und erklärt (in den Zusätzen zur Institutio von 1559): Auf die höchste Stufe stelle ich unsere Verbindung mit unserem Haupt, die Einwohnung Christi durch den Glauben in unseren Herzen, die heilige Einigung, durch die wir ihn genießen (unio mystica). Denn wenn Christus der unsere wird, teilt er uns die Güter mit, die er in vollkommenem Überfluss besitzt. Ich sage also nicht, wir sollten Christus nur von ferne oder außer uns betrachten, damit uns seine Gerechtigkeit zugerechnet werde, sondern weil wir mit ihm bekleidet und in seinen Leib eingepflanzt worden sind, kurz,

94 Vgl. R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/2 (1920), (Basel 1954, 4.Aufl.), 557ff, auch A. Peters, Rechtfertigung, HST 12, Gütersloh 194, 103f. 95 W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 130: Der Glaube, so die Eröffnung in Inst III,11,1, ist „durchaus nicht etwa müßig, ohne alle guten Werke“ (OS IV, 182. 11f). 96 T. Stadtland, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, Neukirchen 1972, 64. 97 Kommentar zu Röm 3,21, CO 49, 60; CStA 5.1, 194.3. 98 Ebd. 193. 33f. 99 Dazu: Stadlandt, Rechtfertigung (Anm. 96), 96–106.

Rechtfertigung

weil er sich herabgelassen und uns gewürdigt hat, uns mit sich eins werden zu lassen. Deshalb rühmen wir uns der Gemeinschaft der Gerechtigkeit mit ihm.100

Die Christusgemeinschaft, nicht der menschliche Glaube, erscheint hier das sachliche Fundament der Rechtfertigung. In der vom Geist gewirkten Lebensverbindung der Glaubenden mit Christus wird ihnen der neue Status zuteil. Hier hat die berühmte Anrechnung (imputatio) der „fremden“ Gerechtigkeit ihren Grund. Auf diesem Hintergrund muss daher zu einem Problem Stellung genommen werden, das den Entwurf Calvins am augenfälligsten von Luthers Darstellung trennt: Weshalb wird in der Institutio (anders als noch im Genfer Katechismus von 1537) das Thema der Heiligung (III, 6–10) vor der Rechtfertigung behandelt, – ein Problem, das die Forschung von jeher vor ein Rätsel gestellt hat. Man hat namentlich auf lutherischer Seite von einer bedenklichen Verschiebung der theologischen Schwerpunkte von der Rechtfertigung auf die Ethik gesprochen, und auch bei Calvin selbst scheint die Gewichtung nicht eindeutig zu sein. Einerseits spricht er von der Rechtfertigung wie Melanchthon (Apol. IV.2) als dem „Pfeiler unserer Gottesverehrung“ (cardo religionis)101 und präzisiert in der späteren Auseinandersetzung mit dem Tridentinum, dieser Pfeiler „bringe kraft der Bewegung des Heiligen Geistes immer den Glauben hervor“. Denn wenn die Konzilsväter lehrten, „dass der Mensch erst dann gerechtfertigt werde, wenn er zum Gehorsam gegenüber Gott gebessert wird, dann stürzten sie den ganzen Beweis des Paulus um“.102 Auf der anderen Seite spricht er von einer „doppelten Gnade“ die uns durch Christus zuteil wird, da Rechtfertigung und Heiligung untrennbar zusammengehören, auch wenn man sie nicht miteinander vermengen darf, und akzentuiert im Galaterkommentar: „Weiter lebt Christus auf zweifache Weise in uns: einmal, indem er uns mit seinem Geist regiert und die Richtung all unserer Handlungen bestimmt [Heiligung]; ein anderes Mal, indem er uns mit der Teilhabe an seiner Gerechtigkeit beschenkt, so dass wir in ihm von Gott angenommen sind, was wir von uns selbst her gar nicht [zu bewirken] vermöchten“. [Rechtfertigung].103 Was dort die Hauptsache war, der Glaube, scheint hier nur ein Zusatz zu sein, da der Glaube nun einmal „nicht müßig ohne alle guten Werke sein kann“. So hat es auch Luther gelehrt, und doch gibt es hier deutlich unterschiedene Akzente. Luthers Emphase liegt auf dem Befreiungshandeln Gottes als dem „entscheidenden Zielpunkt, aus dem dann alles andere gleichsam automatisch folgt“. Calvin geht es demgegenüber um die Heiligkeit des Lebens der Befreiten; Luthers Zielpunkt ist für ihn daher „lediglich 100 101 102 103

Inst (1559), III, 11,10; OS IV, 191. 26–35. Inst III, 11,1; OS IV, 182. 16. Acta Synodi Tridentinae CO 7, 448; CStA 3, 147. 3f und 149. 30–33. Kom zu Gal 2,20; CO 50, 199.259. M. Weinrich, Unbequeme, weil konsequente Theologie. Joh. Calvin und Karl Barth, in: Ders./U. Moeller, Calvin heute, Neukirchen 2009 (79–95), 91.

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der dezidierte Ausgangspunkt, die Bedingung der Möglichkeit für das geheiligte Leben, wo die Freiheit erst ihre Bestimmung erreicht“.104 Die in der Institutio gemeinte Vorordnung der Heiligung vor der Rechtfertigung soll, so gesehen, zwei Möglichkeiten ausschließen: Die Rechtfertigung soll nicht als Argument gegen gute Werke ausgespielt, und andererseits soll dem guten, gottgefälligen Leben keine rechtfertigende Kraft zugesprochen werden. 5.3.1

Die Ordnung der Rechtfertigung

Ein eigenes Kapitel oder auch nur einen zusammenfassenden Abschnitt hat die (zunächst lutherisch gefasste) Rechtfertigungslehre in der ersten Institutio (1536) noch nicht bekommen. Dass sie einen eigenen systematisch ausgewiesenen Ort markiert, geschieht erst in der zweiten Ausgabe 1539. Hier werden denn auch die notwendigen Abgrenzungen (Werkgerechtigkeit, Synergismus, ein „effektives“ Verständnis) vorgenommen und ihr forensischer Charakter betont. Für diese Neufassung des 1536er Textes in der zweiten Ausgabe (1539) hat man neben Calvins wachsender Wertschätzung (und Aneignung) zeitgenössischer theologischer Modelle105 in erster Linie seine intensive Arbeit am Römerbriefkommentar verantwortlich gemacht. Da Calvin als das Hauptthema (quaestio principalis) dieses Briefes die Rechtfertigung namhaft macht, muss man die in großer Selbständigkeit entwickelte Lehrgestalt dieses Themas, den ordo iustificationis, geradezu am Leitfaden dieses Kommentars (1540), nachzeichnen und gewissermaßen die Probe aufs Exempel in der 1547 verfassten Auseinandersetzung mit den Artikeln des Tridentinums machen können. Im Römerbrief (zu 3,22) hat Calvin die vor Gott geltende, bei ihm ins Gewicht fallende Gerechtigkeit in dem bereits zitierten Satz formuliert: „Von ihm (Gott) allein kommt sie her, im Himmel hat sie ihren Ursprung, in Christus aber wird sie offenbar.“ Daraus ergibt sich für die Darstellung (ordo) der Rechtfertigung die folgende Ordnung: In dieser Reihenfolge müssen wir daher vorgehen, wenn wir nach ihr fragen. Zunächst also: Über die Ursache der Rechtfertigung entscheidet kein menschliches Urteil, sondern Gottes Gericht, vor dem nur ein vollkommener Gehorsam gegenüber dem Gesetz zählt […]. Darum muss [zweitens] Christus an diese Stelle [des Richters] treten: wie er allein gerecht

104 Ebd. 105 Dazu: R.A. Muller, The Unaccommodated Calvin (Anm. 70), 122.

Rechtfertigung

ist, so kann nur er uns gerecht machen, indem er uns seine Gerechtigkeit übereignet. Die Gerechtigkeit aus Glauben ist also, wie sich nun zeigt, die Gerechtigkeit Christi.106

Dem entspricht die nun maßgebende Definition der Institutio (1543): Unter Rechtfertigung verstehen wir schlicht die Annahme (acceptatio), mit der uns Gott in Gnaden annimmt und als gerecht gelten lässt. Sie beruht, behaupten wir, auf der Vergebung der Sünden und der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi.107

(1) Der Römerbrief als Matrix: Das Thema der Rechtfertigung wird dem Gang des Römerbriefs folgend in 1,16f. mit einer Erklärung des Begriffs der „Gerechtigkeit Gottes“ eingeführt: Sie besteht in zwei Gaben, der Vergebung der Sünden und („teils auch“) der Wiedergeburt, die, so verstanden, den Inhalt des Evangeliums zusammenfassen. Hier geht es um die von Gott uns angebotene Versöhnung, die sich als (Kraft der) Erneuerung des Lebens bewährt und, wie es einem „Angebot“ entspricht, nur angenommen, d. h. im Glauben angeeignet, oder aber abgelehnt werden kann.108 In den Ausführungen zu den Versen 3,21–28 folgen dann wichtige Präzisierungen, insbesondere zu dem für Augustin und Luther so wichtigen Vorbehalt: „ohne Mithilfe des Gesetzes (als Platzhalter der Werke)“. Denn sie vollzieht sich „außerhalb von uns selbst in Christus [und das heißt]: aus Glauben, weil wir uns allein auf Gottes Barmherzigkeit und seine Verheißungen verlassen müssen, [und zugleich] aus Gnade, weil Gott unsere Sünden begraben sein lässt“.109 In Summa: Christus kommt unserem Elend zu Hilfe und gibt den Gläubigen Anteil an sich selbst, – was Calvin dann im aristotelischen Schema der vier Ursachen sozusagen auf den Punkt bringt: Die Rechtfertigung gibt uns „als bewirkende (efficiens) Ursache Gottes Barmherzigkeit zu erkennen, als materialen Grund Christus mit seinem Blut, als formale oder instrumentale Ursache den aus dem Wort empfangenen Glauben und schließlich als Zweckursache (finalis) den Ruhm der Gerechtigkeit und Güte Gottes.“110 In dem neuen 6. Kapitel der 1539er Institutio fasst Calvin diese Erkenntnisse in der ‚Definition’ zusammen: „Vor Gott gerechtfertigt wird, wer nach Gottes Urteil für gerecht gehalten, um seiner Gerechtigkeit willen angenommen wird und nun in

106 Zu Röm.3,22: CO 49,60; CStA5.1, 193.33–195.3. Vgl. Hierzu die sachliche Parallele in Inst III, 11, 16; OS IV, 200. 10–17. 107 Inst (1543), CO 1,738; so wörtlich auch in Inst III (1559),11,2; OS IV, 183.7–9. 108 Kom. zu Röm 1,17; CStA 5.1, 73.26–75.20 (bes. 75.13f). 109 Ebd. zu 3,21; CO 49, 58, CStA 5.1, 189.33–38. 110 Ebd. zu 3,24; CO 49,61, CStA 197.31–35, ebenso auch zu 3,22: CO 49,61; CStA 5.1, 195.4–6. Dieses Schema kehrt nahezu wörtlich wieder in Inst III, 14,17; OS IV,235.20–28.

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seinen Augen wie ein Gerechter erscheint.“111 In der Ausgabe von 1543 präzisiert er noch einmal den juristischen Aspekt: Rechtfertigen bedeutet nichts anderes als einen Menschen, der unter Anklage stand, gleichsam aufgrund erwiesener Unschuld von der Schuld loszusprechen. Wenn uns nun Gott aufgrund des Eintretens Christi für uns rechtfertigt, so spricht er uns nicht in Anerkennung unserer eignen Unschuld los, sondern kraft Zurechnung (seiner) Gerechtigkeit: Wir werden also in Christus für gerecht gehalten, obwohl wir es in uns (selbst) nicht sind.112

Hier wird in traditioneller dogmatischer Terminologie das forensische Verständnis der Rechtfertigung herausgestellt, der Freispruch vor dem Gerichtshof (forum) Gottes, der, weil jenseits aller menschlichen „guten“ bzw. verdienstlichen Werke ergangen, das Zentrum bereits der lutherischen Theologie ausmacht. Das gilt auch von dem scharf akzentuierten Gegensatz von Gesetz und Glaube. Während das Gesetz „nur denen Leben verheißt, die tun, was es gebietet und was die aufrichtige Liebe zu Gott verlangt, kann bei der Gerechtigkeit aus Glauben kein Verdienst aus Werken zugelassen werden“.113 Dementsprechend sind nun auch hier (wie in Luthers Argumentation) die tragenden Begriffe: „Zu- bzw. Anrechnung“ (imputatio), Vergebung, und „Annahme“ (acceptatio). Rechtfertigung ist auch bei Calvin in erster Linie Gerechtsprechung, nicht, wie er (wiederum mit Luther) gegen Osiander feststellt, Gerechtmachung. (2) Osiander. Man geht heute davon aus, dass Calvin erst bei der Lektüre der späteren Schriften Osianders (1550/51) die Gefährlichkeit mancher Formulierungen bemerkt hätte, die sich jedoch ebenso auch in seinem eigenen Schrifttum (etwa dem oben angeführten Kommentar zu 1Kor 6,5) nachweisen lassen. So ist im Epheser-Kommentar von 1548, aus dem François Wendel zitiert, ausdrücklich von einer Teilhabe „an der Substanz Christi“ die Rede, durch die wir mit ihm „zu ein und demselben Leib“ geworden wären. Es ist das problematische Sprachfeld der Zweinaturenlehre, das aus heutiger Sicht zu derartigen Konstruktionen hat führen können. Osianders zentrale These ist unter dem Namen einer „effektiven Rechtfertigung“ bekannt geworden, die ihren von Luther und Melanchthon vertretenen forensischen und imputativen Charakter bestreitet.114 Demnach werden wir von Gott nicht nur 111 112 113 114

Inst (1539), CO 1,737. So auch Inst (1559) III,11,3; OS IV, 184. 9–11. Inst (1543), zit. nach Inst (1559) III, 11,3; OS IV, 184. 9–14. Kom zu Röm 3,21, CStA 5.1, 189.24–29. Dazu s. Inst III, 11, 8–12; OS IV, 185–197, sowie T. Stadtland, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, Neukirchen 1972, 96–106, der Calvins Auseinandersetzung mit diesem Gegner ein „Kabinettstück reformatorischer Kontroverstheologie“ nennt.

Rechtfertigung

als gerecht angesehen, sondern durch Christi Gerechtigkeit tatsächlich – eben „effektiv“ – gerecht gemacht, und zwar deshalb, weil Christus (so die entscheidende These) gemäß seiner göttlichen Natur in uns wohne. Diese angeblich wesenhafte (essentialis) Gerechtigkeit und die ihr korrespondierende wesenhafte Einwohnung Christi in uns hätte jedoch, so Calvin, zur Folge, dass nun auch Gott selbst in einer krassen Vermischung mit unserem Fleisch sich gleichsam in uns ergießen müsste, statt eine geistliche Verbundenheit mit uns zu schaffen. Die Einheit, nach der wir fragen, müsste also darauf hinauslaufen, Christi Gottheit mit unserer Menschheit zu vermischen, – eine für Calvin undenkbare Vorstellung, die einer Herabsetzung Christi gleichkäme. Calvin hält dagegen, dass unsere Rechtfertigung nicht, wie Osianders Begriff einer essentialis iustitia unterstellt, auf Christi göttlicher Natur beruht, sondern auf seiner uns in der „Knechtsgestalt“ offenbar gewordenen menschlichen Natur, kraft der er vor Gott für uns eintritt. Erst auf dieser Basis kann und muss dann tatsächlich gesagt werden: Nur „wer sich unter Ausschluss jeder Werkgerechtigkeit mit der Gerechtigkeit Christi [wie mit einem fremden Gewand] bekleidet, der erscheint in Gottes Augen nicht als Sünder sondern gleichsam als ein Gerechter“115 , und, wie um diese These in ihrer Paradoxalität zu bekräftigen, fügt Calvin später hinzu: „Als gerecht werden [Leute] erachtet, die es tatsächlich nicht sind“.116 Schärfer kann man das lutherische „extra nos, id est in Christo“, gar nicht betonen. (3) „Gerecht aus Glauben“? Umso auffälliger ist die oben erwähnte Beobachtung von Niesel und Stadtland, dass im Unterschied zu Luther der Glaube in der Rechtfertigungslehre Calvins so gut wie keine Rolle spielt. „Die Kraft zu rechtfertigen“, heißt es dort, „hat er nicht aus sich selbst, sondern nur, sofern er auf Christus zurückgreift.“ Und weil er an sich selbst zu schwach und zu unvollkommen ist, müsste ja auch eine auf ihn sich stützende Gerechtigkeit unzureichend, quasi „verstümmelt“ (manca) sein.117 Erst Melanchthon hat den Glauben als eine im Menschen sich aufbauende und insofern als eine psychologisch beschreibbare Leistung begriffen. Er hat ihn als das von Gott gewollte „gute Werk“ aufgefasst und dementsprechend die Rechtfertigung als Glaubenslehre entfaltet.118 Die entscheidende Antwort auf die Frage, „welcher Art (qualis) unsere Rechtfertigung sei“, gibt Calvin demgegenüber, wie eingangs betont, mit dem für seine

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Inst (1539), CO 1, 737; sowie Inst II, 11,2; OS IV, 183.5–8. Vgl. ebd. 11,3, OS, IV,184.9–11. Inst III, 11,11; OS IV, 194. 33; ebenso III,11,3: IV, 184.14. Inst III,11,7; OS IV, 188. 24–28; dazu: W. Niesel, 130; T. Stadtland, Rechtfertigung (Anm. 96), 64f. Melanchthon entwickelt seinen Glaubensbegriff (De vocabulo fidei) in den Loci praecipui (1559) im Rahmen und unter der Überschrift „De iustificatione“, CR 21, 742ff. Calvin übernimmt diese Begrifflichkeit, doch hat der Glaube bei ihm keinerlei Heilsbedeutung; bedeutsam ist er nur im Blick auf seinen Gegenstand, Jesus Christus, der uns in sein Sterben und sein Auferstehen hineinzieht.

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Das christliche Leben

ganze Theologie zentralen Hinweis auf die vom Heiligen Geist gewirkte Christusgemeinschaft – auch hier freilich in dezidierter Abgrenzung von Osiander. Denn sie kommt nicht dadurch zustande, dass „Christus seine Substanz in uns überfließen lässt, sondern dadurch, dass er […] sein Leben und alle von [seinem] Vater empfangenen Güter mit uns teilt“.119 Im Kommentar zu Gal 2,20 („Christus lebt in mir“) spricht Calvin von einem „zweifachen“ geistgewirkten Leben Christi in uns: Das eine Leben [erfahren wir darin], dass er uns mit seinem Geist leitet und all unsere Handlungen bestimmt, das andere darin, dass er uns mit der Teilhabe an seiner Gerechtigkeit beschenkt, so dass wir, was wir von uns selbst ja doch nicht vermögen, in ihm von Gott angenommen sind.120

In der vom Geist gewirkten Lebensverbindung der Glaubenden mit Christus geschieht ihre Rechtfertigung. Calvin spricht sogar von einer unio mystica, die man jedoch nicht mit der Christusmystik des späten Mittelalters verwechseln darf, denn im Zentrum dieser Einigung steht nicht der Mensch und sein Geist, sondern Gott und sein Wort. Im Ereignis der Unio wird Christus denn auch niemals mit uns identisch, wohl aber sind „Einigung“ und „Rechtfertigung“ Beschreibungen ein und desselben Vorgangs. Dem externen Grund unserer Rechtfertigung (extra nos) – davon darf nichts abgestrichen werden – wird Calvin gerade dadurch gerecht, dass er scheinbar paradox erklärt: Wir schauen ihn also nicht außer uns, von ferne an, damit uns seine Gerechtigkeit zugerechnet werde; nein, weil wir ihn angezogen haben und in seinen ;Leib eingefügt sind, kurz, weil er sich herabgelassen hat, uns mit sich eins zu machen (unum secum efficere), darum rühmen wir uns, dass wir Gemeinschaft der Gerechtigkeit (iustitiae societatem) mit ihm haben.121

(4) Die Akten des Tridentinums (1547). Auf dieser Basis führt Calvin später in seinen Streitschriften gegen die Artikel der Sorbonne (1544) und gegen die im Konzil von Trient formulierte Antwort Roms auf die Reformation (1547) seine Auseinandersetzung mit dem Katholizismus.122 . Er hat (zeitgleich mit Melanchthon) als

119 Kom, zu Joh 17, 21, CO 47,387. 120 Kom. zu Gal 2,20, CO 50, 199; vgl. Inst III,11,1; OS IV, 182. 4–8. 121 Inst III; 11,10; OS IV, 191.28–35. Calvin formuliert das Resümee seiner Ausführungen in dem Satz: „Es gibt nur Eines, das uns das Recht verschafft, auf das Erbe des Himmelreichs zu hoffen die Tatsache dass wir in Christi Leib eingefügt sind und deshalb aus Gnaden für gerecht gelten“, Inst III,13,5; OS IV,220,21–24. 122 Beide mit einem „Gegengift“ (Antidoton) versehenen Dokumente – „Articuli a Facultate sacrae Theologiae […] determinatae“ (1544, CO 7, 5–44) und „Acta Synodi Tridentinae“ (1547, CO

Rechtfertigung

erster Protestant die Akten des Tridentinums, darunter insbesondere das Dekret über die Rechtfertigung, ausführlich kommentiert. Spätestens in diesem von Tjarko Stadtland123 sorgfältig aufgearbeiteten Dokument wird das reformatorische Profil seines Entwurfs sichtbar. Das Konzil, so sein zentraler Einwand, bewegt sich mit seiner Lehrbildung auf einem mittleren Weg zwischen Pelagius und der Bibel. Es ist der unverhohlene Synergismus in der dem Willen zugeschriebenen Rolle, der seinen Protest hervorruft. Denn das „steht zwischen ihnen und uns, dass sie sich einreden, die [nicht zu leugnende willentliche] Bewegung gehe vom Menschen aus; wir aber reden (asserimus) von einem freiwilligen Glauben und zwar deshalb, weil Gott unsere Willensregungen zu sich zieht.“ Denn – so der Gewährsmann Augustin – „das ist der Anfang der Gnade, dass sie aus Nichtwollenden und ganz und gar Widerstrebenden Wollende macht, dass [folglich] der Glaube in seinen Anfängen […] bis zur letzte Vollendung ein Geschenk Gottes ist“.124 Eine vom Menschen ausgehende Vorbereitung der Rechtfertigung kommt nicht in Frage. Auf dieser Linie richtet sich ein weiterer Vorwurf gegen die Sakramentalisierung der Rechtfertigung. Sie wird als Prozess, verstanden, der durch die Gnade, eine „eingegossene Kraft“ (gratia infusa) in Gang gebracht und somit von der Taufe (als einer Art Bußgeschehen) abhängig gemacht werde. Das aber bedeute, dass dem Menschen nun Buß- bzw. Genugtuungslasten auferlegt würden, die nur von Christus zu erbringen sind. „Mit diesem Angriff auf das Bußsakrament trifft Calvin den Kern des (tridentinischen) Dekretes“125 : „Ob sie (die Konzilsväter) mir auch nur eine Stelle vortragen können, die belegt, dass die [derart in uns!] begonnene Erneuerung entweder ganz oder teilweise von Gott als Gerechtigkeit gebilligt wird?“126 Wohl gebe es in der Bibel Stellen, die bezeugen, dass Gott denen, die Gerechtigkeit üben, gnädig und barmherzig ist (Mt 25, 34ff.). Hat er selbst nicht mehrfach mit Nachdruck betont, dass „diese zwei Dinge, Rechtfertigung und Heiligung, unlöslich miteinander verbunden sind“?127 Gewiss, doch daraus kann nicht gefolgert werden, dass sie ein und dasselbe seien. Der hier gemeinte Zusammenhang ist ein anderer. Calvin hat (nicht erst) die Unklarheiten des Tridentinums zum Anlass genommen, seinerseits eine Speziallehre über die „doppelte Gerechtigkeit“ (der Person wie der Werke) zu entwickeln, die in ähnlicher Form schon auf dem Konzil von dem Augustiner Hieronimo Seripando vorgetragen (allerdings verworfen)

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7, 429–473) – finden sich in dem hier angegebenen Umfang als Auszug in CStA 3, 17–105 und 117–207. T. Stadtland, Rechtfertigung (Anm. 96), 82–95. Acta Synodi, CO 7, 476 und 452; CStA 3, 159. 27–30. T. Stadtland, a.a.O. 87. Acta Synodi, CO 7, 449; CStA 3, 151. 27–30. Ebd. CO 7, 448; CStA 3, 149.44f; Inst III,11,6; OS IV, 187.20–22.

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Das christliche Leben

wurde.128 Dabei geht es nicht um die von allen Reformatoren mehr oder weniger heftig bekämpfte Lehre einer Vorbereitung auf die Rechtfertigung etwa in der Form der Buße, sondern um ihre ethischen Konsequenzen, die Luther in dem bekannten Satz festgehalten hat, dass ein guter Baum auch gute Früchte trägt. Dementsprechend unterscheidet Calvin den Menschen vor und nach seiner Rechtfertigung. Vor diesem entscheidenden Einschnitt sind seine Werke ohne Belang. Danach aber, wenn er tatsächlich die societas iustitiae mit Christus teilt, weiß er, dass man ihn an seinen Taten, den „Früchten des Glaubens“, messen wird, mit denen Gott ihn „wie mit einem Schmuck versehen“ hat, und so „geschieht es durch gnädige Anrechnung (acceptatio), dass [nicht nur] wir vor Gott als gerecht beurteilt werden; ich sage vielmehr: Es geschieht als eine ‚zweite Wohltat’, dass [auch] Werke den Titel der Gerechtigkeit haben, die an sich weit von der Wahrheit der Gerechtigkeit entfernt wären“.129 Das aber ist nicht ihr eigenes, gleichsam inhärentes Verdienst, vielmehr hängt „von der Rechtfertigung der Person die der Werke ab wie die Wirkung von der Ursache“.130 Damit ist das im Kreis der Reformatoren nicht einhellig behandelte Problem des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung aufgerufen. 5.3.2

Rechtfertigung und Heiligung

Wo hat dieses vom Katholizismus geerbte Problem seine Wurzel, das bis heute eine breite Spur in der Literatur hinterlassen hat?131 Der große Rechtfertigungs-Traktat in der letzten Ausgabe der Institutio (1559) beginnt mit der Feststellung: Durch die Gemeinschaft mit Christus empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: einerseits werden wir durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so dass wir […] in ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben; andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens.132

128 Nach F. Wendel wäre sie erst in die 1543er Instititio eingeführt worden; sie ist aber bereits im Genfer Katechismus (1537) nachweisbar: CO 12, 52; CStA 1.1, 169. 37–41. Vgl. Hesselink, Catechism, 213 (A.20). 129 Ebd. CO 7, 458; CStA 3, 173.31–34. So auch: Inst III,17,10: „Weil alles Fehlerhafte in unseren Werken von Christi Reinheit bedeckt wird, […] können wir zu Recht (merito) sagen, dass nicht nur wir, sondern auch unsere Werke allein durch den Glauben gerechtfertigt werden“ (OS IV, 263. 10–12). 130 Ebd. 458; ebd. 175. 3f. Vgl. herzu auch Inst III, 17,3; OS IV, 255.30ff. 131 Vgl. dazu: F. Wendel, Ursprung und Entwicklung (Anm. 52), 225–227; J. Hesselink, First Catechism (Anm. 55), 105–108; B. Pitkin, Rechtfertigung (Anm. 66), 293f; T. Stadtland, Rechtfertigung (Anm. 96), bes. 109–114. E.-M Faber: Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen 1999, 137f, 452–462. 132 Inst III, 11,1; OS IV, 182.4–8.

Rechtfertigung

Denn, so die oft wiederholte Begründung: „Wie Christus nicht in Teile auseinander gerissen werden kann, so sind auch diese beiden Gaben, die wir in ihm zugleich und miteinander empfangen, untrennbar verbunden: Gerechtigkeit und Heiligkeit.“133 In beiden Aussagen wird die Heiligung betont herausgehoben und in einer Weise mit der Rechtfertigung verbunden, dass sie nicht nur als ihr Ertrag erscheinen, sondern – nachträglich in ihren Grund eingefügt – als der entscheidende menschliche Beitrag zu ihrem Vollzug verstanden werden konnte. Das entspricht der katholischen These, dass die Rechtfertigung einer menschlichen Vorbereitung bedarf, wofür man sich auf die „freie Bewegung des eigenen Willens“ zu berufen pflegte, welcher der Berufung Gottes Folge zu leisten vermöge.134 Damit aber wäre die Rechtfertigung um ihre paulinische Spitze gebracht, wonach sie auf reiner, voraussetzungsloser Gnade (sola gratia) beruht, ohne auf irgendeine kreatürliche Mitarbeit angewiesen zu sein. Die derart (miss)verstandene Auffassung der Heiligung hat ausgerechnet Calvin von lutherischer Seite den Vorwurf eingebracht, er habe „die Rechtfertigung aus dem Zentrum verdrängt. Damit habe sie „ihre Stellung als alles beherrschende Mitte schon verloren“. Der „Hauptakzent“ liege nun auf der Heiligung, die ihr eigentlicher „Endzweck“ sei.135 Hinzu kommt ein weiteres formales Argument: die bereits erwähnte (in der Institutio [1559] durchgeführte) systematische Vorordnung der Heiligung (III, 3–10) vor der Rechtfertigung (III, 11–18), ein Einwand, den Calvin allerdings kaum hätte gelten lassen, sucht er doch einen Weg zwischen Luthers Lehre und Melanchthons lockerem Nebeneinander beider Artikel zu gehen: So könnte man die Sequenz vom christlichen Leben (Heiligung) über die Rechtfertigung bis hin zur Prädestination (III, 21–24) durchaus auch als eine Folge immer „tiefer“ bzw. weiter ausgreifender Begründungsschritte verstehen. Es gibt nachweisbare Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern dieser Kette, etwa die Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung durch die Taufe, die Calvin im Vorspann zum „Römerbrief “ entfaltet.136 Doch folgen diese Glieder nicht deduktiv (im Sinne einer Ableitung) aufeinander. Eher könnte man sagen, dass sie den Weg zu ihren theologischen Fundamenten freilegen. So soll die Prädestination ja tatsächlich die Unverfügbarkeit der Rechtfertigung

133 Ebd. 11,6; OS IV, 187. 20–22. 134 Acta Synodi Tridentinae, CO 7, 445; CStA 3, 143. 2–4. 135 E. Kinder, die evangelische Lehre von der Rechtfertigung, in: Quellen zur Konfessionskunde, Reihe B, Heft 1, Lüneburg 1957, 1–13. 136 „Paulus behauptet […] nachdrücklich, wir könnten die Gerechtigkeit in Christus nicht erlangen, ohne zugleich die Heiligung uns anzueignen. Er beweist dies mit der Taufe, durch welche wir in die Gemeinschaft mit Christus versetzt worden sind“, Argumentum, CO 49,3; CStA 5.5, 33.5–8. Vgl. die kritische Aufnahme dieses Arguments im Blick auf die katholische Praxis in: Acta Syn. Trid., CO 7,443f; CStA 3, 139. 13ff.

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Das christliche Leben

des Gottlosen sichern. Sie legt sich als eine Art Klammer um die Rechtfertigungslehre und wird so zur Tiefendimension, zum „unergründlichen Grund, in dem die Rechtfertigungsgewissheit des einzelnen gründet“.137 Wer von dort her (etwa von III, 24) rückwärts lesend auf dieses Begründungsgefälle aufmerksam wird, müsste auch die sachliche Priorität der Rechtfertigungslehre gegenüber den ihr vorangehenden Kapiteln über das christliche Leben anerkennen. So manifestiert sich die Erwählung (am Ende dieser Begründungskette) in der Berufung, wobei Calvin noch einmal zwischen allgemeiner und besonderer Berufung unterscheidet (Inst III,24,8). Nur die besondere Berufung, deren Gott „allein die Glaubenden“ würdigt, führt zum Ziel, weil nur sie sich auf das richtet, was wir allein in Christus finden können, den Grund unserer Rechtfertigung. Und wiederum wird durch die Rechtfertigung erst theologisch ins Recht gesetzt, wovon in den Abschnitten über Glaube, Buße und christliches Leben die Rede ist. Das Problem selbst ist älter als Calvins Auseinandersetzung mit dem Tridentinum. Es ist bereits in dem Genfer Reformprogramm von 1537 präsent: Gute Werke, die aus Buße und Wiedergeburt, also aus einer „Reinheit des Gewissens“ hervorgehen, heißt es in der „Instruction et Confession de Foy“, sind Gott angenehm (agreable), dennoch gelte es, „sich davor in Acht zu nehmen, dass wir nicht durch eitles Vertrauen auf diese Werke dahin gebracht werden zu vergessen, dass wir allein durch den Glauben an Christus gerechtfertigt werden.138

Im Genfer Katechismus von 1545 ist aus diesen Andeutungen ein förmlicher kleiner Diskurs geworden (c.19 und 20). Gesetzt, Gott hätte uns aufgrund von Buße und Wiedergeburt einmal angenommen, so lautet die Frage: „Gefallen ihm dann nicht auch die Werke, die wir unter der Leitung des Heiligen Geistes tun?“ Antwort: Ja, aber nicht aufgrund ihres eigenen Wertes, denn „es ist immer etwas Unrechtes damit verbunden, das von der Schwäche unseres Fleische herrührt“.139 Also kann ein von Gott berufener Christ „überhaupt nicht“ durch Werke gerechtfertigt werden. Überflüssig aber sind sie deshalb nicht. Denn man kann die Gerechtigkeit aus Gnade „nicht so von ihnen trennen, dass man sie besitzt, aber die guten Werke fehlen“. „Daraus folgt dann, dass (allein) der Glaube die Wurzel ist, aus der sie herauswachsen.“140

137 B. Klappert, Erwählung und Rechtfertigung., in: Miterben der Verheißung, Neukirchen 2000 (105–147), 133. Dazu: Chr. Link, Erwählung und Prädestination. Calvin-Studien, Neukirchen 2009, 43. 138 Instruction (1537), OS I, 395; CStA 1.1, 169.6–12. 139 Genfer Katechismus (1545), OS II, 94; CStA 2, 53. 25–35. 140 Ebd. Fragen 124, 125 und 127, OS II, 94f; CStA 2, 55.

Rechtfertigung

Was bedeutet das im Einzelnen? Zunächst die Anerkennung einer unbestreitbaren Differenz zwischen Rechtfertigung und Heiligung ungeachtet dessen, dass sie eine gemeinsame Wurzel haben, die durch den Geist gewirkte unio cum Christo. So macht Calvin gegen die Konzilsväter geltend, dass dort ein zweifacher Grund unserer Rechtfertigung behauptet wird, die Sündenvergebung und die geistliche Wiedergeburt (Heiligung), korrigiert aber sofort: Wenn zuvor der Gehorsam zur gottgefälligen Tat sicher gestellt sein müsste, wäre der ganze Beweis des Paulus [„ohne des Gesetzes Werke“, Röm 4,14] erledigt.141 Deshalb seine kategorische Erklärung: Die Werke der Wiedergeborenen „haben mit der Rechtfertigung nichts zu tun“.142 Jede menschliche Mitwirkung müsste den Glauben unterminieren. Schon die behauptete „Notwendigkeit einer Vorbereitung“, die fälschlicherweise dem Willen angelastet wird, würde uns daran hindern, die entscheidende Frage auch nur zu stellen, „was wir denn Gott verdanken“.143 Obwohl also Rechtfertigung und Heiligung unlösbar miteinander zusammenhängen, gibt es hier einen Unterschied, den die tridentinischen Väter verwirren. Denn wenn die Gnade zweifach ist, weil Christus rechtfertigt und heiligt, dann kann die Gerechtigkeit allein die Erneuerung des Lebens nicht [schon] in sich enthalten.144 Auf diese entscheidende Differenz zielt der instruktive Vergleich: „Auch wenn das Licht der Sonne nie von der Wärme getrennt ist, darf man es trotzdem nicht für Wärme halten. […] Wir gestehen also: Sobald jemand gerechtfertigt wird, muss notwendig auch die Erneuerung folgen.“145 Noch einmal anders gesagt: Während das Tridentinum von einer doppelten Ursache der Rechtfertigung spricht (Gottes Barmherzigkeit und geistlicher Wiedergeburt) und damit ein menschliches Vermögen in Anschlag bringt, redet Calvin nur von einer einzigen Vorgabe, der Gerechtigkeit Christi. Denn da der hier geforderte Maßstab von Gottes Gericht abhängt, kein menschlicher Gehorsam aber derart perfekt und umfassend sein kann, dass er es „jemals zu der dort geforderten vollendeten Heiligkeit gebracht hätte“, kann (und muss) an dieser offenkundig kritischen Stelle nur „das stellvertretende Eintreten Christi und seiner Gerechtigkeit“ (intercedens iustitia Christi) Abhilfe schaffen.146 Hier zählt nur die Anrechnung einer fremden Gerechtigkeit, mag der Wiedergeborene sich noch so sehr um gute Werke mühen. An der Priorität der Rechtfertigung vor der Heiligung kann also auch bei Calvin kein Zweifel sein. Nun gilt allerdings auch das Zweite, dass die Heiligung unlösbar mit der Rechtfertigung verbunden ist, ohne allerdings (so das augustinische Missverständnis)

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Acta (Anm. 102), CO 7,448; CStA 3, 149.30–33. Inst III,11,14; OS IV, 198.22–24. Acta (Anm. 102), CO 7,476. Ebd. 448; CStA 3, 149. 24–26. Ebd. 448; CStA 151. 2–6. Kom. zu Röm 3,22; CO 49,60; CStA 5.1, 193.36–195.2.

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Das christliche Leben

in ihr aufzugehen. Ein, fast möchte man sagen, ebenso starker Akzent wie auf die Gerechtigkeit fällt auch auf Wiedergeburt und Erneuerung und das kraft derselben Quelle, der unio in Christo: Wir sollen in seinen „Leib“, die Gemeinschaft mit ihm, eingefügt werden. Darum geht es in diesem zweiten Aspekt: „Seine Gerechtigkeit teilt Christus niemandem mit, es sei denn denen, die er sich durch das Band seines Geistes verbindet.“147 Deshalb, fährt Calvin fort, „wird diesem Vers [Röm 8,4] „das Thema der Wiedergeburt hinzu gefügt“ [V.4 „ … uns, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln“] In dieser pneumatologischen Lebensverbindung der Glaubenden mit Christus geschieht ihre Rechtfertigung und Heiligung.148

5.4

Heiligung: Das christliche Leben

Die Heiligung, Aufgabe und Ziel des christlichen Lebens, ist ein Werk des Geistes. Sie entspricht der Übereignung und Aneignung einer neuen, uns „fremden“ Gerechtigkeit, die freilich erst in ihrer Bewährung in den Konfliktfeldern des menschlichen Lebens und der Gesellschaft ihr Ziel erreicht. Hier geht es um die Praxis der „Einigung in und mit Christus“, die sich – so die Darstellung der Institutio (1559, III, 7–9) – in drei aufeinander folgenden Schritten vollzieht: zunächst als Selbstverleugnung (abnegatio sui), denn wer nach der Maxime „nostri non sumus!“: „wir gehören nicht uns selbst“, lebt, wer gewissermaßen nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ ist, hat den eigenen Wille sozusagen an einen anderen, an Christus, abgetreten; sodann als Tragen des Kreuzes (tolerantia crucis), d. h. als Umkehr (conversio) aufgrund einer nun unvermeidlich neuen Ausrichtung unseres Handelns; und schließlich dem Vorbild Christi entsprechend als Trachten nach dem verheißenen (eschatologisch) neuen Leben (meditatio futurae vitae), das fortan unsere Wertungen und Handlungsziele bestimmt. Die so verstandene Heiligung in Calvins Darstellung der Institutio (1559) ist der Ertrag seiner Ausführungen in Predigten und Kommentaren. Die hier skizzierte, klar gegliederte Folge dreier Schritte hat zudem einen breit ausladenden „Vorspann“ in dem Abschnitt über die Buße (Inst III,3), die wie die vita christiana [im Anschluss an eine ältere, bei Luther und Melanchthon vielfach

147 Kom. zu Röm 8,4; CO 49, 140.; CStA 5.2, 387. 14–16. T. Stadtand, a.a.O. 121, verweist auf den bereits zitierten Kommentar zu Gal 2, 20: „fideles extra se vivere, hoc est in Christo […] Una vita est cum nos spiritu suo gubernat atque actiones nostras omnes dirigit quum nos spiritu suo gubernat […] Altera quod paricipatione suae iustitiae nos donat: ut quando in nobis non possumus, in ipso accepti simus“ (CO 50, 199). 148 Rechtfertigung heißt: „in Christi Leib eingefügt“ sein und begründet als solche die „Gemeinschaft der Gerechtigkeit mit ihm“ (iustitiae societas cum eo; Inst III, 11,10; OS IV 111.34), d. h. die Heiligung.

Heiligung

belegte Begrifflichkeit] definitionsmäßig als „wahre Hinkehr“ (conversio) unseres Lebens zu Gott“ beschrieben wird. Sie bewegt sich in der Sprache der Frömmigkeit zwischen den beiden Polen einerseits der Abtötung (mortificatio) des alten Menschen, andererseits dem Aufbrechen des neuen Lebens (vivificatio) in der Kraft des Geistes.149 5.4.1

Buße und Wiedergeburt

Calvin benutzt die Worte Buße (poenitentia) Umkehr (conversio) und Wiedergeburt (regeneratio) nahezu gleichsinnig. Es sind Früchte desselben Geistes. Die begriffliche Nähe, von der hier zu reden ist, ist denkbar eng, so dass Calvin erklären kann, der Hauptinhalt des Evangeliums bestehe nachgerade in der „Buße und der Vergebung der Sünden“, d. h. in der „Erneuerung des Lebens“, also in der Heiligung.150 Bereits in der Institutio von 1536 ist der weithin traditionelle Grundriss dieses Lehrstücks klar zu erkennen. Er ist zu großen Teilen wörtlich in deren letzte Fassung übernommen worden ist Die Buße, die zu Wiedergeburt und Heiligung führt, so heißt es dort (III, 3,5), verbindet die beiden genannten, untrennbaren Vorgänge, die Abtötung (mortificatio) des alten Menschen und das Aufleben (vivificatio) einer bislang unbekannten neuen Kreatur. (1) Buße – ein Erkenntnisvorgang. Dabei ist das erste Moment eine bewusst platzierte Erinnerung an Platon und sein Diktum, das Leben des Philosophen sei eine Betrachtung des Todes (meditatio mortis).151 Denn, fährt Calvin fort, „mit noch größerem Recht (verius)“, „dürfen wir sagen, das Leben eines Christenmenschen sei ein beständiges „Bestreben und Sich-Mühen, das eigene Fleisch absterben zu lassen, bis es vollends vergangen ist.“ Buße also ist kein einmaliger, auch kein einzelner Akt, der als solcher die Vergebung der Sünden bewirken könnte, sondern – mit der ersten der 95 Thesen Luthers gesprochen – die Bereitschaft, das „ganze Leben der Gläubigen eine [fortdauernde] Buße“ sein zu lassen.152 Denn was heißt „Abtötung“ und worin besteht sie? Sie ist, sagt Calvin, ein „seelischer Schmerz und Erschrecken angesichts der Sünde und des göttlichen Gerichts“, zugleich aber – das verbindet sie mit Platon – der erste und entscheidende Schritt einer neuen Erkenntnis. Da

149 Inst III, 3,5; OS IV, 60.2–5. Dort die Definition: „Esse veram ad Deum vitae nostrae conversionem, quae […]carnis nostrae mortificatione et spiritus vivificatione constet.“ Fast wortgleich in Kom. zu Apg 20,21.Vgl. dazu das materialreiche klassische Buch von R.S. Wallace, Calvin’s Doctrine of the Christian Life, Grand Rapids 1959, bes. 25–27. 95ff. u.ö. 150 Inst (1536) V, OS I, 171; Inst (1559) III, 3,1; OS IV, 55,5f – „Das Wort Heiligung bedeutet Wahl und Aussonderung, die in uns geschieht, wenn wir durch den Heiligen Geist zu einem neuen Leben wiedergeboren sind“, Kom. zu 1 Kor 1,2; CO 49, 308. 151 Platon, Phaidon, 64 A. Hier: OS I, 172. 152 M. Luther, Disputatio pro declaratione virtitue indulgentiarum (1517), WA 1, 233.

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Das christliche Leben

„bekennt man sein Elend und sein Verderben und wünscht sich, ein anderer zu sein“.153 Deshalb soll man – das ist im Unterschied zur gesetzlichen die evangelische Buße – mit beiden Augen auf die Barmherzigkeit Gottes schauen und in seiner eigenen Niedrigkeit ihm die Ehre geben, um dem haltlosen Schwanken zwischen Verzweiflung und Leichtsinn zu entkommen. Denn sobald man auf Gottes Güte, Gnade und das in Christus uns angebotene Heil zurückblickt, „erhebt man sich, atmet auf, fasst Mut und kehrt wie vom Tod ins Lebens zurück“154 Dann aber kann und muss die rituelle Beichte ganz wegfallen.155 Denn haben wir an Gott gesündigt, so müssen wir allein ihm unsere Sünden bekennen und uns von der Vorstellung einer besonderen Macht des Priesters, als verfüge er über einen Schatz der guten Werke, aus dem die Kirche Ablässe zu verteilen hätte, entschlossen trennen und so auch von etwaigen verdienstlichen Werken, die der Absolution folgen sollten. Vor allem aber ist die Buße als Akt kein Sakrament. Sie hat kein Zeichen und keine Verheißung, auf die wir uns verlassen könnten. Das wahre Sakrament auch der Buße, so heißt es 1536, sei die Taufe156 , die denen gegeben ist, die sich auf den schwierigen Weg der mortificatio und vivificatio machen. Das ist ein Reformationsprogramm, wie es eindeutiger und klarer auch in Wittenberg nicht formuliert worden ist. (2) Buße – kein Sakrament. An diesem Bild hat Calvin später manche Korrektur vorgenommen. Am einschneidendsten ist seine sorgfältig begründete, gegen Katholiken und Lutheraner gerichtete These, dass auch die Taufe nicht heilsnotwendig, also auch kein sacramentum regenerationis sei, sonst müsste man ihr schon eine magische Kraft jenseits des Glaubens zuschreiben. Der „Same“ der Umkehr und Wiedergeburt liege vielmehr (auch ohne eine feste Gestalt des Glaubens) „kraft der verborgene Wirkung des Geistes bereits in den Kindern beschlossen“.157 Was also ist die Buße, und worauf zielt die Wiedergeburt? Calvin will an dem hebräischen Wortsinn („umkehren“, zurückbringen, wiederbeleben) festhalten ebenso wie an dem griechischen (metanoia: Änderung des Sinnes, des Ratschlusses), den er – vielleicht mit einer Anspielung auf das lutherische „extra nos“ – mit der Wendung „auswandern aus sich selbst“ (e nobis demigrare) zum Ausdruck bringt und daraufhin, wie gesagt, in der Neuausgabe der Institutio (1539) folgendermaßen definiert:

153 Inst (1536) V; OS I, 170. So auch Inst (1559) III, 3,3; OS IV, 57.20–25 (= traditionell: Stufe der Reue [contritio]). 154 Ebd. 175. Vgl. Inst III,3,4; ebd. 58. 22–24. 155 Ebd. 175, Calvin trennt sich von der überlieferten Dreiteilung der Buße (contritio cordis, confessio oris, satisfactio operis; III,4,1). Vgl. auch III, 4,4; OS IV, 89.8–11 und 22ff. Er lässt lediglich die private Einzelbeichte und das allgemeine Sündenbekenntnis im Gottesdienst gelten (ebd. III, 4, 10 und 12). 156 Inst (1536,) V, OS I, 201. 157 Inst IV, 16,20; OS V, 324. 24–27.

Heiligung

„Buße ist die wahre Hinkehr (conversio) unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfasst das Absterben unsres Fleisches und das Lebendigwerden im Geist“.158 (3) Buße als Wiedergeburt. Dementsprechend konzentriert er seine Darstellung auf drei Momente, die Umgestaltung (transformatio) nicht nur in äußeren Dingen, sondern in der Seele selbst, ferner den Gedanken an das göttliche Gericht (die „göttliche Traurigkeit“ von 2Kor 7,10) und schließlich auf die beiden Flanken der mortificatio und vivificatio, die er als Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi begreift. So verstanden lässt sich die Buße tatsächlich als Wiedergeburt beschreiben159 , und diese Neugestaltung ist, wie es schon im Kommentar zu Eph 4,24 heißt, die Wiederherstellung unserer schöpfungsgemäßen Gottesbildlichkeit: Schon von Anbeginn an ist Adam nach dem Bild Gottes geschaffen worden, damit er Gottes Gerechtigkeit wie in einem Spiegel darstellen sollte. Weil aber dieses Bild durch die Sünde ausgelöscht wurde, muss es jetzt durch Christus wiederhergestellt werden. In Wirklichkeit ist daher die Wiedergeburt der Gläubigen nichts anderes als eine Erneuerung des Ebenbildes Gottes im Menschen.160

Indessen haben wir die Kraft des neuen Lebens nicht in und aus uns selber, wir können sie nur bezeugen. Wirklichkeit ist sie allein in Jesus Christus, in seinem Tod und seiner Auferstehung, an der wir Anteil haben. Deshalb können wir auch keine Gewähr dafür übernehmen, dass wir es je zur vollkommenen Heiligung bringen werden, einem Ideal, vor dem Calvin ausdrücklich gewarnt hat161 . Sie ist ja nicht das Ergebnis einer in uns sich vollziehenden Entwicklung. Erst wenn der „Leib der Sünde“ vergangen und wir mit Christus ein Leib geworden sind, d. h. erst am Jüngsten Tage wird den Glaubenden die Vollendung zuteil.162 W. Niesel bemerkt an dieser Stelle zu Recht, dass Calvin gerade in seiner Lehre von der Wiedergeburt, wo wir am ehesten geneigt sind, nur vom Menschen […] zu reden, strenge Offenbarungstheologie (treibt)“.163

158 Inst III, 3,5; OS IV, 60. 2–5. 159 Inst III, 5,9; OS IV, 63.11f. 160 Kom. zu Eph 4,24; CO 51, 208, so auch Inst III, 3,5: OS IV,63.12–14; dazu ausführlich: R.S. Wallace, Christian Life (Anm. 149), 103–111: The restauration of the image of God is “a most important aspekt of Calvin’s conception of the Christian life and of his ethics”; p.107. 161 Inst III, 3,14; OS IV, 69.19ff. Gemeint sein dürften hier nicht die angesprochenen Wiedertäufer, sondern die Gegner, die Calvin im 12 Kapitel seiner Schrift „Contre la Secte des Libertins“ (1544) als Quintinisten oder Freigeister angreift (CO 7,181ff; CStA 4, 306ff). 162 Vgl. Inst III, 3,14; OS IV, 70. 29–33. 163 W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 122.

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(4) Die Zukunftsperspektive der Buße. Denn jene Vollendung hängt nicht von unserem Willen oder unserem Vermögen ab, sondern ist im biblischen Sprachgebrauch Gnade, in der Theologie Calvins: die Gnade der Erwählung. „Unsere Heiligkeit“, heißt es im Kommentar zu 1 Kor 1,2, „entspringt der Quelle der Erwählung Gottes, und sie ist [zugleich] das Ziel unserer Berufung.“164 Um dieses Ziel geht es Calvin in seinen Ausführungen über Buße und Wiedergeburt. Es ist das Verdienst von Eva-Maria Faber, dass sie, was im Begriff der Erneuerung immer schon mitgemeint ist, eigens zum Thema gemacht hat, die „finale Ausrichtung“ des calvinischen Denkens, die man, wie sich erst recht in der Neu-Orientierung des christlichen Lebens zeigen wird, geradezu als ein bestimmendes Merkmal seines Entwurfs namhaft machen kann. Faber spricht von der „zukunftsweisenden Buße“. Schon die strikte Abweisung der scholastischen Lehre von den vermeintlich genugtuenden Bußübungen165 mache deutlich, dass es Calvin gerade „nicht um die rückwärtsgewandte Aufarbeitung der Schuld“ geht, als wäre der Christ „der ewig wieder um seine Vergangenheit kreisende […] Mensch“, sondern um die „Dynamik, die aus der Befreiung aufbricht“166 . So unterscheidet sie im Blick auf das göttliche Gericht, das den letzten Horizont schon der Buße darstellt, zwischen vergangenheitsorientierter Vergeltung (vindicta) im Zeichen von Gottes Fluch und Zorn und zukunftsgerichteter Züchtigung (castigatio), die als Instrument der Vermahnung auf unsere Reue und Besserung zielt: Es sind verkehrte Ausleger der göttlichen Gerichte gewesen, die meinten, Strafen würden als Kompensation [für vergangene Untaten] verhängt. Denn wenn Gott die Gläubigen züchtigt, blickt er nicht auf das, was sie verdient haben, sondern auf das, was ihnen in Zukunft heilsam ist. Er handelt mehr als ein Arzt denn als ein Richter. Es ist darum keine halbe Freigabe (absolutio), die er seinen Kindern zuteil werden lässt, sondern eine völlige. Wenn er trotzdem die straft, die er in Gnaden angenommen hat, so geschieht solche Züchtigung als medizinische Maßnahme (usus) im Blick auf zukünftige Zeiten, darf aber nicht als Vergeltung für begangene Sünden angesehen werden.167

Auch wenn die im Glauben begründete Buße im Vorschein des göttlichen Gerichtes steht, ist sie ein unverzichtbares und darum unbedingt positiv zu würdigendes Stadium christlicher Existenz, denn sie öffnet unser Leben, und sei es nur einen Spalt breit, dem Licht, das von Gottes Zukunft auf unsere Welt fällt.

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Kom. zu 1 Kor 1,2, CO 49, 308. Inst III, 4,26; OS IV, 114. 32–34. E.-M. Faber, Symphonie (Anm. 131) 449f. Kom. zu Gen 3,19 (Ende der ‚Sündenfall’-Erzählung), CO 23, 76.

Heiligung

5.4.2

Über die Selbstverleugung und das Tragen des Kreuzes

„Im Leben der Glaubenden“, fasst Calvin den Ertrag dieser Ausführungen zusammen, „muss eine Entsprechung (symmetria), ein Gleichklang (consensus) sichtbar werden zwischen Gottes Gerechtigkeit und ihrem Gehorsam“. Das wäre sozusagen der „Zielpunkt der Wiedergeburt“, der sie befähigt, „ihre Berufung zu Kindern Gottes festzumachen“.168 Damit ist das neue, in der Straßburger Institutio (1539) hinzugefügte Kapitel „Vom Leben des Christenmenschen“ in seiner Thematik umrissen, das ihm so wichtig gewesen ist, dass er es nicht nur in alle späteren Ausgaben – 1559 in fünf Abschnitte unterteilt (III, 6–10) – fast ohne Änderungen übernommen, sondern bereits 1550 auch als Einzeldruck hat erscheinen lassen.169 Worin liegt die Bedeutung dieser so herausgehobenen Erweiterung? Die Wiedergeburt ist offensichtlich (und das nicht nur bei Calvin) die Bedingung der vita christiana, und so möchte ich auch diesen Traktat nicht selbst schon (wie etwa die Anweisungen zur Wirtschaftsführung oder zur Aufnahme der Glaubensflüchtlingen aus Frankreich) als ein Stück materialer Ethik, sondern als deren Voraussetzung , d. h. modern gesprochen: als das Anforderungsprofil des Subjekts einer solchen Ethik verstehen. Auch sie lebt aus dem Gedanken der Christusgemeinschaft und ihrer Darstellung in den Konfliktfeldern des Lebens. (1) Die Selbstverleugnung. Der Anschluss an das Thema der Buße ist nahtlos. Die „Selbstverleugnung“ nimmt den Aspekt der „Gemeinschaft mit dem Tode Christi“ (mortificatio) auf und zieht daraus Konsequenzen für die Nachfolge – allerdings nicht im Sinne der alten Imitatio-Theologie, sondern im Sinne der These Luthers: Nicht die Nachfolge macht uns zu Kindern Gottes, sondern die Kindschaft macht uns zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern Christi.170 Nicht wir schaffen die neue Gestalt (conformitas) der Nachfolge, sie ist uns in der Christusgemeinschaft vorgegeben und wir suchen ihr in unserer Lebensführung zu entsprechen. Calvin erinnert an Röm 14,8 („so leben wir dem Herrn.“) und seine Auslegung im Kommentar: „Daraus folgt ja, dass Er die Verfügungsgewalt über unser Leben und unsern Tod hat, […] dass einem jeden seine Lage wie ein von ihm auferlegtes Joch tragbar ist“171 . Die Institutio paraphrasiert: „Wir sind sein Eigentum, also muss unser Leben in allen Stücken allein zu ihm, auf seinen Ruhm als das „rechtmäßige Ziel“, hinstreben.172 Worauf diese „Anleitung (methodus) zur Gestaltung unseres

168 Inst III, 6,1; OS IV, 146.14–17. 169 Vgl. Doumergue, J.C.: Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, Bd. IV : La pensée religieuse de Calvin, Lausanne 1910, 288–317, sowie R.S. Wallace, Calvin’s Doctrine of the Christian Life (Anm. 149), 51–93. 170 M. Luther: „Non imitatio facit filios,sed filiatio facit imitatores.“, WA 2, 518. 16. 171 Kom. zu Röm 14,8; CO 49,261 (CStA 5.2, 697. 8–12). 172 Inst III,7,1; OS IV, 151.25f.

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Lebens“ hinaus will, sieht Calvin denn auch in dem paulinischen Grundsatz (ratio) des „vernünftigen Gottesdienstes“ zusammengefasst: Wir sollen „unsere Leiber zu einem lebendigen, heiligen Opfer Gott darbringen“ (Röm 12,1), und das formuliert er in der einprägsamen Maxime: „Nostri non sumus, sed Domini – wir gehören nicht uns selbst, sondern dem Herrn.“ Das ist keine Rückkehr zur mönchischen (und darum auch nicht, wie Max Weber meinte, zu einer Form innerweltlicher) Askese, wohl aber die Basis, auf der Calvin seine materiale Ethik aufgebaut hat, nämlich die am Vorbild Jesu orientierte, zum Dienst an jedem Mitmenschen bereite Absage an Selbstliebe und eigenes Wohlergehen. Dazu die Interpretation: Wir gehören nicht uns selbst – also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille das Szepter führen. Wir gehören nicht uns selbst – also dürfen wir uns nicht zum Ziel setzen, was uns dem Fleische nach nützt. Wir gehören nicht uns selbst – also sollen wir, soweit irgend möglich, uns selbst und alles, was unser ist, vergessen. – Und auf der anderen Seite: Wir sind Gottes Eigentum – also sollen wir ihm leben und ihm sterben [Röm 14,8]. Wir sind Gottes Eigentum – also müssen seine Weisheit und sein Wille bei all unseren Aktionen an erster Stelle stehen. Wir sind Gottes Eigentum – also muss unser Leben sich in allen Stücken nach ihm als dem allein legitimen Ziel ausrichten.173

Beschrieben wird in diesem neuen Kapitel (1539) der zu solcher Erkenntnis und dann in seinem Tun und Lassen zu der ihr entsprechenden Haltung befähigte Mensch. Sofern Jesus Christus Maß und Norm dieser Erwartungen vorgibt, da er uns auf diesem Wege vorangegangen ist, setzt sich hier das Motiv des „Absterbens“ durch und zwar in seinen zwei Formen („duplex mortificatio“): in der „Selbstverleugnung“ (das ist der innere Aspekt: er bezieht sich auf den eigenen Willen, den Tod des „alten Menschen“) und in der „freiwilligen Übernahme des Kreuzes“ (das ist der äußere Aspekt: Verlust von Gesundheit, Ehre und Freundschaft, den Segnungen des gegenwärtigen Lebens). Beide haben dasselbe Ziel, „uns Christus konform zu machen: dieser (der innere) direkt, jener sozusagen indirekt.“174 Die Selbstverleugnung nimmt das alte Motiv der Fremdlingschaft des Christen in der Welt auf, als solche ist sie eine Wirkung der „heilsamen Gnade Gottes“ (Tit 2,11) und das heißt, sie ist „einesteils auf den Menschen, vornehmlich aber auf Gott gerichtet“175 , ohne dessen Autorität ja gar nicht einzusehen wäre, was es uns nützen 173 Inst III, 7,1; OS IV, 151. 18–26. 174 Kom. zu 2Kor 4,10; CO 50,58. Vgl. Kom. zu Mt 16,24; CO 45, 481: Die Regel, nach der wir Christus ähnlich sein sollen, besteht in zwei Stücken (modi): „abnegatione nostri et voluntaria crucis tolerantia“. 175 Inst III,7,4; OS IV, 154. 6–8. So heißt es im Kommentar zu Röm 6, 7: „Sic ergo in summa habeto: ‚Si Christianus es, oportere in te signum apparere communionis cum morte Christi“, „Wenn du ein

Heiligung

sollte, „alle Rücksicht auf uns selbst hintanzustellen“. Gerade diese Ausrichtung aber proklamiert Calvin als „Summe des christlichen Lebens“ die wir uns in Gestalt der Maxime zu eigen machen sollen: „Wir haben es in unserem, ganzen Leben, in all unserem Tun und Lassen, mit Gott zu tun.“176 Das, erklärt er, sei die Selbstverleugnung, „die Christus mit solchem Nachdruck seinen Jüngern von ihrer ersten Lehrzeit an aufträgt.“177 So sehr in den Einzelausführungen die „Last des augustinischen Erbes“ (D. Ritschl) spürbar ist – selbst Wallace urteilt, dass Calvin hier weit über das hinausgeht, was man als strenge Selbstkontrolle akzeptieren mag178 – hier geht es nicht um die Preisgabe des eigenen Ich, eine Art mystischer Selbstlosigkeit, sondern zentral um die „Erneuerung des inwendigen Menschen“ (Eph 4,2) und seine konsequente, von eigenen Interessen und Bedürfnissen (naturalis sensus) ganz absehende Ausrichtung auf Gott und den Nächsten.179 Dies vor Augen wird noch einmal deutlich, dass wir in der Selbstverleugnung primär auf unsere Einweisung in unser begrenztes Dasein angesprochen werden, das wir allen uns zugemuteten Entsagungen zum Trotz als ein Geschenk Gottes annehmen sollen. Es ist der Ton der Hiob-Predigten, der hier angeschlagen wird: Gib uns nur die Gnade zu leben und zu sterben, wie es deinem guten Willen entspricht, dass wir nicht über das hinaus zu leben begehren, was dir wohlgefällt, und dass unser Leben uns nicht zu lang erscheint, wenn du uns hier [auf Erden] festhalten willst; gib uns, dass wir unterdessen dir dienen, um die Zeit, die du uns gegeben hast, [recht] zu gebrauchen, angesichts dessen, dass sie so kurz ist!180

Diese Einweisung in das christliche Leben verbindet sich mit drei zentralen Begriffen, die den Inhalt dessen umschreiben, was Calvin gemeint haben mag, wenn er das Thema der Heiligung, also Weg (methodus) und Ziel (scopus) der uns sich aufnötigenden Lebensgestaltung, mit dem Eingangssatz des alttestamentlichen Heiligkeitsgesetzes erläutert hat: „Ihr sollt heilig sein, denn der Herr, euer Gott, ist heilig“ (Lev 19,2).181 Statt uns in unserer Lebensführung dem Diktat von Vernunft

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Christ bist, muss bei dir ein Zeichen der Gemeinschaft mit dem Tode Christi sichtbar werden“ CO 49, 108; CStA 5.1, 311. 16. Inst III,7,2; OS IV, 152. 16f. Ebd. 7,2; OS IV. 152. 20–23. R.S. Wallace, Christian Life (Anm. 149), 64. Inst III, 7,1; OS IV 151.34–37. Vgl. Predigt über 1Tim. 6,12–14: « Il n’y a rien plus contraire à notre nature que de quitter ces choses terrestres, et n’y estre point addonez [...] Il faut que l’homme fidele s’eleve par dessus soy, quand il est question de penser au Royaume de Dieu et à la vie eternelle », CO 53, 595f. Predigten über das Buch Hiob, CO 33,671. Inst III, 6,2; OS IV, 147.28f.

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und Willen zu unterwerfen, wird uns im Blick auf beide Tafeln des Gesetzes als Richtschnur unseres Handelns an erster Stelle die Nüchternheit (sobrietas) als Gebot vor Augen gestellt, der maßvolle reine Genuss der zeitlichen Güter und das Ertragen des Mangels, ferner die Gerechtigkeit, die sich an dem naturrechtlichen Prinzip „Jedem das Seine“ (unicuique quod suum est) und dem ihr entsprechenden Maßstab der Billigkeit (aequitas) orientiert, und schließlich die Achtsamkeit (pietas), die uns von den Befleckungen der Welt trennt und uns mit Gott verbindet.182 In diesen drei Bestimmungen manifestiert sich die uns zumutbare, „solide Vollkommenheit“, die nicht als Appell an unser Heiligkeitsstreben, schon gar nicht als Forderung eines evangelischen „Perfektionismus“ missverstanden werden darf. Vielmehr sollen wir uns als Christen an Christus orientieren, „in dem uns Gott das Bild vorgezeichnet hat; nach dem wir gestaltet werden“, das heißt, dessen „Gestalt (forma) wir in unserer Lebensführung einen überzeugenden Ausdruck geben sollen“.183 Denn das ist, wie beim Thema der „Wiedergeburt“ gezeigt, das Ebenbild, das Bild seiner selbst, nach dem Gott jeden Menschen erschaffen und in dem er kontrafaktisch (weil es unter den Verhältnissen dieser Welt keinen objektiv aufweisbaren Grund dafür gibt) sein Recht auf rückhaltlose, unbedingte Anerkennung und Solidarität begründet hat. Grade in diesem Abschnitt der „Selbstverleugnung“ hat Calvin der Magna Charta der Humanität, dem Katalog universal gültiger Forderungen der Menschlichkeit, ein einzigartiges frühes Denkmal gesetzt: Was für ein Mensch dir auch entgegentreten mag, der deiner Dienstleistung bedarf, so hast du keinen Grund, dich ihm zu entziehen … Sage nur, er sei dir fremd: der Herr hat ihm ein Kennzeichen aufgeprägt das dir bekannt sein soll. […] Sage nur, er sei ein verachteter, nichtswürdiger Mensch: der Herr aber zeigt ihn dir als einen, den er der Zier seines Ebenbildes gewürdigt hat! Sage nur, er habe dir keinen Dienst erwiesen, der dich wiederum verpflichte: Gott aber hat ihn gleichsam zu seinem Stellvertreter eingesetzt, und so sollst du dich ihm gegenüber für so viele und große Wohltaten erkenntlich zeigen, mit denen Gott dich zu seinem Schuldner gemacht hat!184

(2) Das Tragen des Kreuzes. Auf einer breiten biblischen Basis entfaltet Calvin den zweiten Aspekt der Heiligung, die Bereitschaft zum Tragen des Kreuzes als eine weitere Säule der christlichen Existenz. Im Psalmenkommentar ist das Motiv angeschlagen, das hier in einer Fülle von Beispielen vorgeführt und theologisch „durchgespielt“ wird:

182 Ebd. 7,3; OS IV, 153. 29–35. 183 Inst, 6,3; OS IV, 148.12f und 22f. 184 Inst III, 7,6; OS IV, 156.36–137.7.

Heiligung

Weil wir Christi Glieder sind, müssen wir bereit sein zur Gemeinschaft mit seinem Kreuz. Also soll uns die Bitterkeit des Kreuzes nicht erschrecken: Immer soll uns vielmehr die Situation (conditio) der Kirche vor Augen stehen, dass wir, sofern wir in Christus angenommen sind, nun auch [ihm] zum Opfer geweiht sind […].185

Ähnlich heißt es zu Phil 1, 7: Es ist keine gewöhnliche Ehre, mit der uns Gott würdigt, wenn wir für seine Wahrheit Verfolgung leiden. […]. Halten wir im Gedächtnis also auch die Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi als eine einzigartige Gnade Gottes fest, die wir mit einem bereitwilligen und dankbaren Sinn annehmen sollten.186

So sehr diese theologische Dimension des Leidens im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, streift Calvin mit einem Seitenblick auch das banale alltägliche Leiden: „Wir sind aus mancherlei Gründen genötigt, unser Leben im Zeichen jenes allgegenwärtigen Kreuzes zuzubringen“: Armut, Krankheit, der Verlust der uns liebsten Menschen gehören mit ins Thema, weil Gott dadurch das „eitle Vertrauen auf unser Fleisch dämpfen“ will.187 Dass wir im Ertragen alles irdischen Elends, ja „in allem Elend“ Anteil an Christi Kreuzesleiden gewinnen, wenn wir denn seine Glieder sind“,188 ist eine äußerste Zuspitzung der uns zugemuteten Selbstverleugnung, weil wir uns hier eben nicht auf unsere eigenen Kräfte verlassen können, sondern mit Röm 5,3f. darauf vertrauen müssen, dass „Trübsal Geduld bringt, Geduld Bewährung, Bewährung aber Hoffnung“, Hoffnung auf die von Gott uns zugesagte Hilfe, dass seine Wahrheit sich auch im Blick auf die Zukunft bestätigen werde. Das der Bibel so wichtige „Lob der Geduld“ hört man eben nicht umsonst von den „Heiligen“ Gottes gerade dann, wenn sie von der Härte der Not angefochten werden und doch nicht darüber zerbrechen und zu Boden fallen, wenn die Angst sie quält und sie dennoch von geistlicher Freude erfüllt sind, weil Gottes Trost sie fröhlich macht.189 Damit ist Calvin bei seinem Thema: Es ist die Leidensgeschichte der Kirche, ihre nicht abreißenden Verfolgungen, welche die Christen auch heute zur Teilnahme am Leiden Christi, „the fellowship with the suffrings of Christ“ (Wallace), rufen.

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Kom. zu Ps 44, 23; CO 31, 447. Kom zu Phil 1,2; CO 52, 10. Inst III, 8,2; OS IV, 17f und 26–31. Kom. zu Phil 3, 10; CO 52, 59. Inst III, 8,10; OS IV, 168.29–34. Kom. Zu Phil 1,7: „Auch an die Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi sollen wir wie an einen einzigartigen Liebeserweis (gratia) Gottes denken und sie mit einem bereitwilligen und dankbaren Herzen umfassen.“ CO 52, 10.

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„Denn hier werden uns nicht die Leiden einiger weniger Menschen berichtet, sondern die alle treffenden Verfolgungen der Kirche, die auch nicht aus dem einen oder anderen Jahr stammen, sondern die inzwischen von den Großvätern bis hin zu den Enkel gewütet haben.“190 Dieses Thema nimmt Calvin im Rahmen der Imitatio-Frömmigkeit seines Jahrhunderts auf: Es geht um die Gestaltwerdung (conformitas) Christi im Leben der Glaubenden – allerdings auf einer „höheren Stufe unserer Vereinigung mit Christus“ (F. Wendel) und ganz jenseits jeder Erwartung eines etwa verdienstlichen Charakters. Ronald Wallace spricht geradezu von einer „sakramentalen Beziehung zu Christus und seinem Tod“, einem Leiden, das man, wie in Phil 3,10 beschrieben, letztlich nur als Ergebnis (result) einer „übernatürlich inwendigen Arbeit der göttlichen Vorsehung [an uns]“ verstehen könnte.191 Calvin erinnert an die im Neuen Testament gelegentlich aufblitzende Möglichkeit, dass den Leiden Christi zu ihrer „Vollkommenheit“ (perfectio) noch etwas fehlen könnte Kol 1,24), das nun der Leib der Kirche in den Bedrängnissen der Frommen gleichsam an sich ziehe, indem seine Glieder ihrem Haupt gleichgestaltet werden.192 Dabei ist er weit davon entfernt, die Bitterkeit und Schmerzen solches Leidens stoisch zu bagatellisieren: „Wäre die Armut nicht hart, die Krankheit nicht schmerzvoll […], der Tod nicht schrecklich – was wäre es dann für eine Tapferkeit und Geduld, sich nichts daraus zu machen?“193 Über persönlich erfahrene Mühen und Beschwernisse geht er damit hinaus. Er hat in Sonderheit die Leiden derer in Blick, die „um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden“ (Mt 5,10). Es sind persönliche Erfahrungen der in Frankreich verfolgten Gemeinden, die hier theologisch aufgearbeitet werden, so dass das Ziel des christlichen Lebens, der „Eingang in die himmlische Herrlichkeit“ jetzt unmittelbar in Sichtweite rückt: Wenn wir „durch eine Freveltat der Gottlosen unser Vermögen verlieren, […], so wächst uns vor Gott im Himmel gerade dadurch wahrer Reichtum zu. Wenn wir von Haus und Hof verjagt werden, so werden wir desto fester in Gottes Hausgenossenschaft aufgenommen. Quält oder verachtet man uns, so schlagen wir desto festere Wurzeln in Christus. Bedeckt man uns mit Schmach und Schande, so haben wir im Reiche Gottes einen umso herrlicheren Platz. Mordet man uns hin, so eröffnet sich uns dadurch der Eingang zum ewigen Leben.“194

190 191 192 193 194

Kom. zu Hebr 11,37; CO 55, 168f. R.S. Wallace, Calvin’s Doctrine (Anm. 149), 70f. Kom. zu Kol 1,24; CO 52, 94. Insi III, 8,8; OS IV, 167, 20–23. Inst III, 8,7; OS IV,166.31–167.3.

Heiligung

Es ist also nicht schon der Trost, dass Gott uns bereits zu Lebzeiten mit seinen Gaben die Mühsal der Nachfolge vergilt, es ist der hier sich öffnende Ausblick auf ein künftiges Leben, die meditatio futurae vitae“ (III,9), der Calvin das stärkste Argument für die vita christiana liefert. Davon ist nun zu reden. 5.4.3

Meditatio futurae vitae – der Blick auf das zukünftige Leben

Mit der „Betrachtung des zukünftigen Lebens“ geht Calvin einen entscheidenden Schritt über die bisher skizzierten Überlegungen hinaus und relativiert damit alles, was wir uns hier wünschen mögen, vielleicht auch erreichen können, und bewahrt uns davor, uns an die Gegenwart zu verlieren. „Dies ist die wahre und notwendige Probe auf unsere Hoffnung, dass wir, so wie uns der Tod umgibt, das Leben anderswo suchen als in der Welt“.195 Das jedenfalls ist der Fluchtpunkt, auf den die hier beschriebene „Summe des christlichen Lebens“ hinaussieht, und zugleich, wie im Kapitel 2.8 erläutert, eines seiner zentralsten Motive. Mit der Ausrichtung und Hinordnung aller Dinge und Ereignisse auf ein letztes ihnen bestimmtes Ziel ist ein, wenn nicht gar der Schlüssel zum Verständnis seiner Theologie benannt und zwar im Blick auf die Begründung der hier in Frage stehenden christlichen Existenz. Zu einem theologisches Argument wird diese Ausrichtung freilich erst dann, wenn sie bis zu dem Punkt führt, an dem sich mit dem Blick auf die Auferstehung nun auch der Prospekt eines anderen Lebens öffnet, das die philosophische Einsicht bestätigt, dass es „kein wahres Leben im falschen“ (Adorno) geben kann. Deshalb verbindet sich der Blick auf ein „Jenseits“ des Todes zwangsläufig mit einer allerdings radikalen Kritik des gegenwärtigen Lebens, die im Unterschied zu ähnlichen Ausblicken der Tradition nicht mit frommer Weltflucht verwechselt werden darf : Wir kommen erst dann in der Schule (disciplina) des Kreuzes voran, wenn wir aus solcher Einsicht [in die Vergänglichkeit des Lebens] lernen: Dieses Leben ist, wenn man es an und für sich selbst betrachtet, unruhig, stürmisch und auf vielfache Weise jammervoll, in keiner Hinsicht jedoch wirklich glücklich […] Erst dann sind wir in dieser Schule voran gekommen, wenn wir aus solcher Einsicht zugleich den Schluss ziehen: wir haben hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten und müssen unsere Augen zum Himmel erheben, wenn wir eine Krone gewinnen wollen.196

Es die Sprache und es sind die Bilder der Tradition – „des Menschen Leben ist wie ein Rauch oder ein Schatten“ – in denen sich Calvin bewegt, aber er gewinnt ihnen eine Einsicht ab, die über die Konsequenzen der Tradition hinaus weist: „Wir stehen

195 Kom zu: Kol 3,3, CO 52, 119. 196 Inst III, 9,1; OS IV, 171. 27–33.

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hier vor einem Entweder- Oder, neben dem es kein Drittes gibt: entweder muss uns die Erde wertlos sein oder sie hält uns in maßloser Liebe gefangen.“197 Stärker als die anderen Reformatoren hat Calvin die Vorläufigkeit und Fragwürdigkeit unseres zeitlichen Lebens empfunden und sogar der Verachtung (contemptus) dieses Lebens das Wort reden können. Deshalb findet sich in der Mitte des Traktats über das christliche Leben die berühmte Meditation über das erwartete zukünftige Leben, das die neuzeitliche, vollends die moderne Blickrichtung umzukehren nötigt: Es ist der Blick zum Himmel, der (anders als dann bei Marx vorgesehen), die Kritik der Erde provoziert: Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen […] und erkennen, dass es nichts anderes als ein Elend ist, so sollen sie sich mit umso größerer Freudigkeit ganz dem Trachten (meditatio) nach jenem kommenden, ewigen Leben widmen. […] Denn wenn der Himmel unsere Heimat (patria) ist, was ist die Erde dann anders als ein Exil? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anders als ein Grab?198

Wie soll man diese Sätze verstehen? Ein viel zitiertes älteres Buch von Martin Schulze – davon war in Kapitel 2.8 die Rede – meinte in ihnen nichts anderes finden zu können als einen christlichen Platonismus, für den man sich nicht nur hier insbesondere auf den Dialog Phaidon berufen hat199 . Auch der zeitgenössische Humanismus eines Pico della Mirandola kennt die Sehnsucht nach der Ewigkeit und sucht von dorther das christliche Welt- und Menschenbild zu erneuern. Von dieser ungemein wirksamen Tradition hat sich jedoch auch die neuere Forschung getrennt. So hat in einer neueren Studie Fulvio Ferrario plausibel gemacht, dass Calvin hier primär an die alte ars moriendi, die Kunst des Sterbens anknüpft.200 „Das ganze Volk der Gläubigen“, erkläre er, „gleicht, solange es auf dieser Erde wohnt, unvermeidlich den Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden“, und kann im gleichen Atemzug doch rühmen, „dass keiner in Christi Schule rechte

197 Ebd. 9,2; OS IV, 171. 37–39. Kom. zu Phil 3,10: „Unser ganzes Leben führt uns nichts anderes als ein Bild des Todes vor Augen, bis es den Tod selbst gebiert. So wie das Leben Christi nichts als ein Vorspiel des Todes gewesen ist. Doch unterdessen ist dies unser Trost, dass das Ende die ewige Glückseligkeit ist“. CO 52,50. 198 Ebd. 9,4; OS IV,174.2–8 (vgl. bereits Inst (1536), OS I, 671) mit deutlichem Anklang an Platon, Phaidon 64 A und 80 E sowie an Cicero, Tusc. Disp. I, 31, 75. Siehe auch Kapitel 2.8. 199 M. Schulze, Meditatio vitae futurae, Leipzig, 1901. Inzwischen hat sich jedoch die diesem Bild entgegen gehaltene Kritik durchgesetzt: E. Doumergue, Jean Calvin (Anm. 169), 305–317 und J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, (1936) Aalen 1968, 703–706. 200 F. Ferrario, Meditatio vitae futurae. Eine spirituelle Herausforderung für Kirche und Gesellschaft, in: M. Beintker/U. Moeller (Hg.), Calvin heute, Neukirchen 2009 (213–223), 217.

Heiligung

Fortschritte gemacht hat, der nicht mit Freuden auf den Tag seines Todes und der letzten Auferstehung wartet.“201 Innerhalb dieser Gattung, so Ferrarios These, stammen die grundlegenden Kategorien, mit denen Calvin argumentiert , aus der Stoa, etwa die bekannten Vergleiche: die Welt – ein Grab, der Leib – ein Kerker, das Leben – nichts als Eitelkeit (vanitas). Er empfiehlt seinen Lesern Cyprians „Büchlein über die Sterblichkeit“ als Medizin gegen die Todesfurcht202 und distanziert sich damit ein wenig vom Stoizismus, dessen Ideal der Apathie er dem Christentum nicht zurechnen mag. Andererseits sind Anspielungen auf Ciceros Tusculaner Disputationen – der Mensch: ein „Eintagswesen“; oder: „am besten überhaupt nicht geboren, am zweitbesten: möglichst bald wieder dahingerafft“ – gar nicht zu übersehen.203 Zugleich hat Ferrario mit Recht geltend gemacht, dass dieses antike Erbe der Stoa den zeitgeschichtlichen „Kommunikationsraum“ bildet, in dem sich Calvin bewegt, und deshalb dogmatisch nicht überbewertet werden sollte.204 Zudem bleibt, was wir über das „zukünftige Leben“ erfahren, zwangsläufig abstrakt. Wer wollte darüber schon kompetent Auskunft geben? Calvin will jedoch das eschatologische Wissen der Bibel durch das Mittel der Meditation in eine Beziehung zu unserem Erfahrungsraum setzen. Hier richtet sich das Interesse auf das Wissen um und die Reflexion auf den Tod. Hier zählt nur, wie man die eigene christliche Tradition ins Spiel bringt. Und wie geschieht das? Da ist die Vergänglichkeit eine wohltätige Anordnung Gottes, um den Glauben „in einer distanzierten Einstellung zu dieser Welt zu halten“. Da ist das irdische Leben noch in seiner Bitternis und seinen Kämpfen von der Vorsehung umschlossen.205 Da wird mit Phil 3,21f. die Notwendigkeit des leiblichen Lebens als „Wachtposten, auf den uns Gott gestellt hat“, unterstrichen. Schon deshalb kommt ein „Hass“ auf dieses Leben – Undankbarkeit gegen Gott – schlechterdings nicht in Frage, zählt es doch zu den unbestreitbaren „Segnungen Gottes“, und dazu gehört an erster Stelle eben auch, dass über der Not und Anfechtung des gegenwärtigen Daseins der Gedanke an den Tag des kommenden Reiches aufleuchtet.206 Um diese Sichtöffnung, die nun die gesamte auch außermenschliche Schöpfung in sich einbezieht, geht es in der meditatio futurae vitae, mag man auch mit Ferrario fragen, ob die Konzentration („Engführung“) auf den persönlichen, individuellen Tod der kosmischen und politischen Weite der biblischen Eschatologie gerecht

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Inst III, 9,6;OS IV, 176. 10–12 und III, 9,5, ebd. 175. 33–35. Inst III, 9,5; OS IV, 175. 29f (Cyprian, De mortalitate, CSEL 3 I, 294ff). Ebd. 9,2, OS IV, 172. 24 (Tusc. I, 39,54); ebd. 9,4; OS IV, 173. 32f (Tusc. I,48, 113f). F. Ferrario, a.a.O. 215. Inst III, 9,3; OS IV, 173.18f: „Der Herr hat es so geordnet, dass die, welche dereinst gekrönt werden sollen, zuvor Kämpfe bestehen müssen.“ 206 Inst III, 9,3; OS IV, 172. 38ff.

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werden kann. Es lassen sich zwei Linien namhaft machen, die auf dieses Ziel hinführen. Da ist zunächst der Sabbat, in dessen Ruhe Gott frei wird von seinem Werk, um es in seiner Gegenwart existieren zu lassen. Er hat den siebenten Tag aus der Reihe der übrigen Tage herausgenommen, „um seinem Volk Israel ein Bild der geistlichen Ruhe vor Augen zu stellen“. Calvin bewegt sich in dieser Tradition der „geistlichen Ruhe“ (otium spirituale).207 Der Sabbat blickt auf das Ziel voraus, dass wir unserem Schöpfer wieder gleichförmig werden. Wir sollen „von unserem eigenen Willen abstehen, unser Herz hingeben, allen Leidenschaften des Fleisches absagen, schließlich auch alle selbstgesteckten Pflichten drangeben, damit Gott in uns wirke und wir in ihm ruhen“.208 In dieser „geistlichen Ruhe“ erfasst Calvin die Bestimmung der Schöpfung sozusagen von ihrer äußersten Grenze her. Denn wenn der Sabbat mit Ex 31,13 so betont als ein Zeichen zwischen Gott und der Kreatur interpretiert wird209 , so deshalb, weil er über jede vorläufige irdische Erfüllung hinausweist. In ihrer am Sabbat aufleuchtenden Transparenz für das Geheimnis der gloria Dei blickt die Welt bereits auf den Jüngsten Tag voraus.210 Ihre Sehnsucht nach endzeitlicher Befreiung ist ein genaues Maß des Abstandes, der sie als „verunstaltete Trümmer“ von ihrem geschöpflichen Ursprung trennt. Wir werden in diesem Leben – das ist die These – auf die Herrlichkeit des Himmelreichs vorbereitet. Das irdische Leben ist nur ein Anfang. Calvin zieht die Linien der Schöpfung bis zu deren Ende, der Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde aus. „Was in der Erneuerung des Ebenbildes an der ersten Stelle steht, lautet der Grundsatz (principium), das muss auch in der Schöpfung selbst das Wesentlichste gewesen sein.“211 Die Erneuerung, auf die wir zugehen, erschließt uns den ersten Anfang. Wozu wir geschaffen sind, worin die Zuversicht der meditatio futurae vitae ihren Grund und ihren Sinn hat, das allerdings wird erst im Bild des zweiten Adam erkennbar, in das wir verwandelt werden sollen (2Kor 3,18). Erst der Ausblick auf dieses äußerste Ziel, das „seufzende“ Eingeständnis, dass wir jetzt noch im Entzug der Wahrheit leben und leben müssen, lässt uns inne werden, dass das gegenwärtige Dasein nicht in sich selbst ruht, sondern, weil von

207 Origenes, ContraCelsum VIII, 22; Augustin, Contra Faustum Manichaeum XIX: vgl Ep. 55,9,17f (MSL 33,212ff). Calvin spricht von der „quietis spritualis adumbratio“ (Inst II,8,29; OS III,371.15). 208 Inst II, 8,29; OS III, 372. 10–14. Entsprechend heiß es in der Auslegung von Gen 3,2: „Quies spiritualis est carnis mortificatio, ne amplius vivant sibi filii Dei, aut propriae voluntati indulgeant“ (CO 23, 33). „Die geistliche Ruhe ist Abtötung des Fleisches, damit die Söhne Gottes nicht länger (für) sich selbst leben oder ihrem eigenen Willen nachgeben“. 209 Inst II, 8,29; OS III, 371. 32f. 210 Calvin kann das Ziel des Sabbatgebotes geradezu durch die Verheißung jenes neuen Lebens erläutern, das mit der Auferstehung Christi ans Licht getreten ist (Inst II, 8.31; OS III, 373. 18–22). 211 Inst I, 15,4, OS III, 179. 19f.

Heiligung

außen begrenzt, auch nur von außen zu der ihm eigenen kreatürliche Bestimmung findet. So gewinnt der heute viel zitierte Text Röm 8,19ff, das Wort vom „ängstlichen Seufzen der Kreatur“ und ihrer Hoffnung auf Befreiung, auch für Calvin die Bedeutung eines hermeneutischen Schlüssels, der den gegenwärtigen Zustand der Welt in seiner ganzen Vorläufigkeit freilegt.212 Alle Kreaturen, ja sogar „die seelenlosen Geschöpfe bis hinunter zu Holz und Steinen“ schauen nach dem Tag der Auferstehung aus und werden uns von Paulus als Mitgenossen unserer eigenen Hoffnung an die Seite gestellt.213 Erst der Vorgriff auf dieses äußerste Ziel, das „seufzende“ Eingeständnis, dass wir jetzt noch im Entzug der Wahrheit leben und leben müssen, lässt uns inne werden, dass das gegenwärtige Dasein nicht in sich selbst ruht, sondern weil von außen begrenzt, auch nur von außen zu der ihm eignen Bestimmung findet. Es ist, mit Bonhoeffer gesprochen, ein „Vorletztes“, dessen Auszeichnung darin besteht, auf das Letzte bezogen zu sein.214 Das führt uns zu der entscheidenden zweiten Linie, dem christologischen Argument. Denn das letzte Ziel, das uns überhaupt zu dieser meditatio, einem Überstieg über jedes uns wie immer vertraute Bild unserer Welt ermächtigt, hat uns, wie wir unserem Glaubensbekenntnis nachsprechen, allein Christus in seiner Auferstehung eröffnet. Was dieser Auferstehung von unsrer Seite folgen müsste, wäre, wie Calvin im Kommentar zu Kol 3,1 erklärt, der Aufstieg in den Himmel: Der Aufstieg folgt der Auferweckung: Von nun an müssen wir, wenn wir denn Christi Glieder sind, hinaufsteigen zum Himmel, denn weil er aufgrund seiner Auferweckung vom Tode in den Himmel aufgenommen ist, muss er uns wohl mit sich ziehen.215

Wenn das geschieht, wenn die Auferstehung nicht verschwiegen, sondern so verkündigt wird, dass seine Kraft uns tatsächlich erreicht, dann brauchte in der Schule des Kreuzes nicht bloß das Negative, das Elend und die Verachtung des gegenwärtigen Lebens gelernt werden. Sondern wie das Kreuz nur im Licht der Auferstehung das Kreuz Christi ist, so streckt sich das christliche Leben nun nach seiner ganzen Fülle und seiner Vollendung aus. Es findet seine gegenwärtige Bedeutung in der Gewissheit, dass das verheißene Reich Gottes seinen Anfang jetzt „in eurer Mitte“ nimmt (Luk 17, 20f.). Calvin interpretiert: „Christus spricht nur von den Anfängen des Reiches Gottes, weil wir jetzt erst anfangen, durch den Geist zum Bild Gottes 212 Kom zu Röm 8,19: „Kein Element, auch kein Bestandteil des Weltalls, das sich nicht wie angerührt von der Erkenntnis des gegenwärtigen Elends nach der Hoffnung der Auferstehung ausstreckte“, CO 49,152; CStA 5.2, 417. 9–12. Vgl. Inst III, 9,5. 213 Inst III, 25.2; OS IV, 434. 1f. 214 D. Bonhoeffer, Ethik (1951), DBW 6, München 1992, 151. 215 Kom. Zu Kol 3,1; CO 52, 117f.

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Das christliche Leben

erneuert zu werden, damit danach zu seiner Zeit unsere und der ganzen Welt vollständige Erneuerung folgen kann.“216 Doch dieser gleichnishafte Anfang genügt, um die Hoffnung für die Zukunft unserer Welt nicht preiszugeben. Deshalb kann Calvin als letztes Wort in dieser Sache die Schöpfung gegen eine „unmenschliche Philosophie“ verteidigen, die uns ihren Reichtum nur zur äußersten Notdurft will brauchen lassen, statt uns die Freude an der göttlichen Wohltätigkeit zu gönnen, als deren „erlaubte Frucht sie uns von Anfang an zugedacht ist.217 Deshalb ist die Hoffnung auf das zukünftige Leben von Anfang an keine Flucht aus dem Diesseits; sie ist die „Kraft des Diesseits“ (E. Troeltsch). Von ihr muss geredet werden, damit wir „das gegenwärtige Leben und seine Mittel [richtig] zu gebrauchen“ lernen.218 Als göttliche Wohltat, als „anvertrautes Gut“ aber lässt sie sich nur ergreifen, wenn man aus dem scheinbar geschlossenen Zirkel ihrer Lebensbewegungen, ihrer Bedürfnisse und Angebote, heraustritt. Denn ohne den Himmel bietet uns die Erde keine Heimat; ohne das unsichtbare Reich bricht auch das sichtbare auseinander.219 Man sagt nicht zuviel, wenn man die vita futura als das eigentliche Woher und Wohin des calvinischen Weges begreift.

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Die christliche Freiheit

Von der christlichen Freiheit muss eine evangelische Theologie reden, die diesen Namen verdient. Sie steht auf demselben Fundament, auf dem Calvin die Lehre von der Rechtfertigung und dem ihr entsprechenden christlichen Leben entwickelt hat. Sie wird in dieser Perspektive zwar nur als ein Anhang, der Sache nach aber als ein höchst notwendiges Seitenstück der Rechtfertigung – man müsste sagen: als ihr notweniges Implikat – entwickelt. Da wir es in diesem Artikel aber mit dem Dreh- und Angelpunkt reformatorischer Theologie zu tun haben, kann er überhaupt erst in dieser Hinsicht (als Ermöglichung von Freiheit) nun auch als „Summe evangelischer Lehre“ vorgetragen werden.220 Das Freiheitsthema bildet so gesehen auch den krönenden Abschluss der Lehre von der vita christiana. Denn nur in der Luft der Freiheit kann, was als christliches Leben das Betätigungsfeld des evangelischen Glaubens ausmacht, gelingen, d. h. Bestand und innere Wahrheit haben.

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Kom. zu Luk 17,20); CO 45,425. Inst III,10,3; OS IV, 178. 35–37. Inst III, 10,1; OS IV, 177. 7. J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre, in: ders. u. a. (Hg), Calvinstudien, Leipzig 1909 (333–441), 353. 220 Inst III, 19,1; OS IV, 282. 11–17.

Die christliche Freiheit

Calvin folgt dem Hauptstrom der Reformation, insbesondere der Luthers, und zwar 1. in der Freiheit vom Gesetz; denn „die Rechtfertigung vergisst die ganze Gerechtigkeit aus dem Gesetz“; 2. in der Bindung an das Gewissen, das sich vom „Zwang der Notwendigkeit“ emanzipiert und „aus freien Stücken dem Willen Gottes Gehorsam leistet“; und 3.in der inneren Unabhängigkeit von religiös gleichgültigen Dingen (den sogenannten „Adiaphora“), die wir „ohne irgendwelche heilige Scheu […] bald brauchen, bald auch beiseite lassen dürfen“.221 Der erste Aspekt ist im protestantischen Bewusstsein am tiefsten verankert: Durch das Gesetz wird kein Mensch vor Gott gerecht. Stattdessen sollen wir den Blick allein auf Christus richten. Im zweiten Aspekt geht es um die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: Aus „freien Stücken gehorchen“ heißt, es ohne Zwang, ohne den Druck einer äußeren (oder auch inneren) Notwendigkeit, und das heißt ja: es aus Freiheit, genauer: aus freier Einsicht zu tun. Das aber ist wiederum ist nur möglich, wenn der Wille Gottes uns als einsichtige („evangelische“) Weisung begegnet, so wie er ursprünglich im Alten Testament als selbstverständliche Folgerung aus dem zuvor freiwillig eingegangenen Bund gemeint war, eben als konkrete Gestalt der Lebensordnung des Bundes.222 Für den dritten Aspekt verweise ich auf das Thema des calvinischen Gesetzesverständnisses.223 Christliche Freiheit, soviel immerhin wird bereits hier sichtbar, ist zuerst und in jedem Falle Befreiung aus jeder Art von Zwang, der durch eine Art von Notwendigkeit (necessitas coacta) ausgeübt werden könnte. Das ist besonders deutlich im 3. Fall der „Adiaphora“: Ob wir Fleisch oder Fisch essen, dunkle Anzüge oder farbenfrohe Kleider bevorzugen: kein Herkommen und keine Mode kann in diesen Dingen einen Zwang auf uns ausüben, der den Gebrauch unserer Freiheit ernsthaft einschränken müsste. Andererseits aber braucht sie deshalb auch nicht schon als eine ungebundene oder bindungslose Freiheit proklamiert zu werden. Gebunden bleibt sie vielmehr durch (und an) den Willen dessen, der uns in dieser Weise frei gemacht hat, d. h.: durch den Willen des Gottes, der mit seinem Gesetz auf das Lebensrecht und die Lebensordnung seiner Geschöpfe zielt. Die Einbindung unserer Freiheit in dieses „Gesetz“, das Wohlfahrt und Gelingen des Lebens zum Ziel hat, hebt sie als Freiheit gerade nicht auf, sondern ermöglicht sie allererst. An dieser Front, in der Frage nach der Haltung des Christen im profanen Weltleben,

221 Inst III, 19,2; OS IV, 283. 5–11 (ad 1) ; ebd. 19,4; OS IV, 284. 28–30 (ad 2) und ebd. 19,7; OS IV, 286. 27–29 (ad 3). 222 Vgl. hierzu: G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1962 (4.Aufl.), bes. 207–209. – F. Wendel, Ursprung (Anm. 52), 177f macht darauf aufmerksam, dass Calvin hier Bucers Einführung zum Römerbriefkommentar (Metaphrases epistolarum Pauli 1536, S. 28) folgt, ohne damit das „Gesetz“ preisgeben zu müssen, „das keineswegs abgeschafft, sondern in jedem einzelnen umso mächtiger ist, je reicher einer mit Christi Geist begabt ist“. 223 S. Kapitel 4.1.3.

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Das christliche Leben

war jedoch das Verständnis der Freiheit und ihr Gebrauch von jeher besonders umstritten. Schon in der ersten Ausgabe der Institutio (1536) spricht Calvin im Blick auf die hier angedeutete „Erklärung“ (explicatio) ihrer Reichweite von einer „äußerst wichtigen Sache, weil jenseits von ihrer Kenntnis die Gewissen fast nichts ohne schwere Zweifel anzupacken wagen und in vielen Dingen zögern, schwanken und in Verwirrung geraten“.224 Denn wie steht es um diese Freiheit angesichts der sich Macht anmaßenden religiösen und politischen Autoritäten? Anders als Luther hat Calvin gerade die beiden großen Lebensbereiche Kirche und Staat (potestas ecclesiastica und politica administratio) gegen ihre Vertreter, die hier eigene Gesetze meinten aufstellen zu müssen, als Bewährungsfelder dieser Freiheit ausgewiesen. Er hat – eine für ihn bezeichnende Beziehung – christliche Freiheit, kirchliche und politische Ordnung neben-, um nicht zu sagen: ineinander gestellt.225 Es gibt darüber hinaus noch eine zweite geschichtliche Front, an der Calvin sich herausgefordert sah. Man könnte im Blick auf ihr Thema von einer (quasiphilosophischen) Frage reden, ohne deren Beantwortung die hier skizzierten Überlegungen überhaupt nicht möglich gewesen wären. Es handelt sich um ein in der Literatur m.W. noch kaum ausdrücklich verhandeltes Problem: Wie verhält sich die menschliche Freiheit zu Calvins Providenzlehre? Deren Spitzensätze sind ja auf den Ton gestimmt, dass es „schlechterdings nichts geben könne, das ohne Gottes Anordnung (Deo ordinante) geschieht“. „Was immer wir an Veränderungen in der Welt wahrnehmen [das soll auch für ‚die Zufälligkeiten (contingentiae) alles zukünftigen Geschehens gelten’ gelten], gehe aus der verborgenen Tätigkeit der Hand Gottes hervor: Was also Gott beschlossen hat, das muss auch eintreten – und zwar notwendig.“226 Lässt die so verstandene Vorsehung überhaupt einen Raum offen, in dem eine menschliche Freiheit sich betätigen könnte? Es gibt im Reformationszeitalter eine an verschiedenen Orten aufgetretene, in sich keineswegs einheitliche Bewegung der sogenannten „Schwärmer“, die, von eben dieser Frage bewegt, die Möglichkeit von Freiheit überhaupt leugnen und sich stattdessen in radikaler ethischer Indifferenz ihrer schrankenlosen Willkür überlassen. Es sind gesetzlose Leute, Freigeister, die sich unter Berufung auf besondere Eingebungen des Heiligen Geistes über jede hergebrachte Ordnung hinwegsetzen und ihre Lebenswelt – im historisch extremen Fall des „Täuferreiches“ von Münster (1535) – in ein tumultuarisches Chaos verwandeln. Calvin nennt ihre niederländischen und französischen Repräsentanten eine „entrückte und rasende Sekte von Libertins.“227 224 225 226 227

Inst (1536) VI, OS I, 223. Ebd. VI, OS I, 233. (Z.6–16) Inst I, 16,9; OS III, 201. 19–21 und (200. 27). Contre la Secte phantastique et furieuse des Libertins, 1545, CO 7, 53. Vgl. zum Ganzen die ausführliche Einleitung von G.W. Locher, in: CStA 4, 235–247.

Die christliche Freiheit

In seiner Darstellung vertreten sie einen Pantheismus, demzufolge Gott die ganze Welt durchwirkt und mit seiner Vorsehung den Lauf der Welt bis ins Einzelne bestimmt. Es ist ein konsequenter Determinismus, der für eine Entscheidungsfreiheit des Menschen, ein Gewissen, das zwischen gut und böse zu unterscheiden vermöchte, keinerlei Raum lässt. Auf dieser Basis kann von einer Verantwortung gleichviel wofür auch immer keine Rede sein. Als ethisches Subjekt förmlich aufgehoben, kann der Einzelne hier nur seine Willkür (libertas indifferentiae) ungestraft ausleben „sich allem hingeben, wonach sein Herz begehrt und was ihn gelüstet – ganz so, als ob er weder Gesetz noch Vernunft verpflichtet wäre“.228 Das ist die zweite Front, an der sich Calvin herausgefordert sieht, denn genau dieses Bild, das man sich in Frankreich – kolportierten Schreckensbildern von Münster vor Augen – von der neuen evangelischen Bewegung machte, war Hintergrund und Anlass der seit Mitte der dreißiger Jahre einsetzenden beispiellos grausamen Protestanten-Verfolgungen unter Franz I. und Heinrich II. Dabei lässt sich das Feld der Auseinandersetzung, um das es hier geht, mit Luthers gegen die Humanisten gerichtete Schrift „Vom unfreien Willen“ (1525) nicht vergleichen. Luthers Gegenüber ist der fromme, kirchlich gebundene „gesetzestreue“ Katholik, der sich mit Willen und Bewusstsein durch „gute Werke“ den „Himmel“ meint verdienen zu können. Calvins Gegner hingegen sind in ihrer Mehrheit die jeder kirchlichen Bindung längst entwachsenen „Libertins“, die, so seine Polemik, nur eine Richtschnur des Handelns kennen, die „prudence charnelle“, die fleischliche Klugheit. Im XIV. Kapitel seiner wenig bekannten Streitschrift „Wider die Sekte der Libertins“ (1545) – es liest sich wie eine Zusammenfassung seiner in Inst (1539) entwickelten Position – hat er die Auseinandersetzung mit diesen Kreisen explizit geführt und sein Verständnis der (christlichen) Freiheit präzisiert. 5.5.1

Welchen Freiraum lässt Gottes Vorsehung dem menschlichen Handeln?

Die Bedeutung der Streitschrift von 1545 liegt darin, dass sie als eine entscheidende Station auf dem Weg der Entwicklung des Zusammenhangs von göttlichem Handeln und menschlicher Freiheit gewürdigt werden muss.229 Denn ein zureichender humaner Freiheitsbegriff kann angesichts dieser Problemstellung nur gewonnen werden, wenn es auch zu einer Modifikation des Providenzbegriffs kommt, der sich von dem universalistischen Ansatz der philosophischen Tradition trennt und sich

228 Ebd. CO 7, 156; CStA 4, 256. 20–22: “Et c’est la liberté qu’ils promettent, qu’un homme soit tellement adonné à tout ce que son coeur desire et convoite, qu’il ne face difficulté aucune, comme s’il n’estoit subiect à loy ny à raison. » 229 Vgl. hierzu die Analyse von M. Freudenberg, Freiheit als Geschenk und Verpflichtung. Konturen von Calvins Freiheitsverständnis, MS 2018.

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stattdessen auf die Frage nach dem Verhältnis des Handelns Gottes zum Handeln des Menschen konzentriert. Das Problem, um dessen Lösung sich Calvin in dieser Auseinandersetzung bemüht, ist in der späteren dogmatischen Diskussion als Frage nach der göttlichen Begleitung seiner Geschöpfe (dem sog. concursus divinus) bekannt geworden. Es geht um den Ausgleich zweier scheinbar kontradiktorisch einander entgegengesetzter Thesen: Gott kann sein Geschöpf, wenn er wirklich als „treuer Vater“ für es Sorge tragen will, nicht seiner eigenen Tätigkeit überlassen. Das ist gegen den Deismus gesprochen. Er müsste aber als Tyrann an ihm handeln, wenn er dabei die „selbständige Wirklichkeit“ seiner Geschöpfe, also ihr eigenständiges Wirken nicht in aller Form gutheißen, anerkennen und respektieren wollte. Das ist gegen den metaphysischen Theismus gesprochen. Dass man diesen Widerspruch mit dem klassischen Kausalbegriff nicht auflösen kann, belegt die Geschichte des Problems zur Genüge. Eines aber kann man tun, und hier hat Calvin Pionierarbeit geleistet: Man kann den aus der Antike stammenden Providenzbegriff aus der Klammer göttlicher Allmacht und Alleinwirksamkeit herauslösen. Das lässt sich an der von Calvin inspirierten Definition der Leidener Synopse (1624) ein Stück weit erläutern: Vorsehung ist die […] je gegenwärtige zeitliche Bewahrung, Ausrichtung und Hinführung aller Dinge und jedes einzelnen Geschehens auf das von Gott ihnen bestimmte Ziel. Sie geschieht in vollkommener Weisheit und Gerechtigkeit zu Gottes eigener Ehre.230

Hier ist jedes Element des alten stoischen Systems durch ein neues Bestimmungsstück ersetzt worden. An die Stelle einer universalen, der Welt „von Natur aus“ (physei) eingestifteten Teleologie ist die ausdrückliche Hinführung und Ausrichtung auf ein im Naturprozess selbst offenbar nicht vorgesehenes Ziel getreten. Das je gegenwärtige, geschichtlich veranlasste Tun Gottes ersetzt die lückenlos und darum kontinuierlich wirkende Kausalität, und so wird die natürliche Selbstentfaltung des Kosmos abgelöst und überboten durch die Gewissheit eines Weges, den Gott selbst mit seiner Schöpfung gehen wird. Die theologische Definition blickt nicht so sehr auf die Gegenwart der Welt als vielmehr in deren Zukunft, in welcher Gott in ihr seine Ehre darstellen wird. Ähnliche Korrekuren hat bereits Calvin an dem philosophischen Providenzbegriff vorgenommen. Er bestreitet nicht, „dass alle Dinge allein durch den Willen Gottes geschehen“, dass „seine Kraft in allen Geschöpfen wirksam ist“, weshalb er „die Welt nicht nur einst erschaffen hat, sondern sie auch regiert“.231 Man kann darauf zählen, dass Gott „Wolken und Winde nach seinem Wohlgefallen lenkt, ja

230 Synopsis purioris Theiologiae, Disp. XI, 3 (6. Aufl. Lüttich) 1881, 88. 231 Contre la secte des Libertins, CO 7, 186: CStA 4, 317. 30–34.

Die christliche Freiheit

dass überhaupt nie ein Wind losbricht ohne seinen Befehl“.232 Dieser zunächst ganz traditionellen Feststellung tritt nun aber eine Aussage zur Seite, die diese unbestrittene Alleinwirksamkeit mit ihrem Gegenpol konfrontiert: Denn diese allgemeine Handlungsweise, fährt Calvin fort, „kann kein Geschöpf des Himmels oder der Erde daran hindern, seine je eigene Qualität und Natur zu behalten und seiner eigenen Neigung nachzugehen“.233 Neben der göttlichen Vorsehung, ungeachtet ihrer universalen Reichweite, gibt es also auch ein (konkurrierendes) Eigenwirken der Geschöpfe, über das sich Gott nicht hinwegsetzt, sondern das er respektiert, genauer: das er seinem providentiellen Handeln integriert, indem er die Geschöpfe in den Dienst der Verwirklichung seiner Güte und Gerechtigkeit stellt. Das geschieht nicht naturwüchsig, geschweige denn automatisch, bedeutet aber die Absage an den konsequenten philosophischen Determinismus und hat Konsequenzen insbesondere nun auch für den Menschen, seine „je eigenartige Qualität und Natur“. Denn von diesem zweiten „Pol“ behauptet Calvin „schriftgemäß, dass die Seele des Menschen eine spirituelle Substanz ist, mit Sinn und Verstand begabt und mit der Fähigkeit, zu verstehen und zu urteilen“. Er ist also keineswegs, so hat Matthias Freudenberg, einer der wenigen, die sich diesem Problemfeld zugewandt haben, die Pointe gesetzt, die „Marionette im großen Welttheater eines ubiquitären Gottes“, sondern wird „auf seinen Willen und dessen Freiheit und Verantwortung, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden“, angesprochen.234 „Wir müssen beachten, dass wir von Natur aus Wahl und Willen (élection et volonté) haben.“235 Anders als bei Luther, so wiederum Freudenberg, kann sich dieser Wille sehr wohl zum Guten wie zum Bösen neigen; der Mensch ist „Herr seines eigenen Willens“, er selber trägt Verantwortung für sein Tun als vernunftbegabtes Wesen. Denn „der unserem Leben seine Grenzen gesetzt hat, der hat zugleich uns die Sorge darum anvertraut, hat uns Verstand und Willen gegeben, es zu erhalten“.236 Entscheidend ist nun, dass aus dieser Zuordnung von menschlichem Willen und Verstand und göttlicher Tätigkeit kein Gegensatz konstruiert wird. Die reformatorische Theologie sprach von einer sinnvoll aufeinander bezogenen cooperatio, einem Zusammenwirken, das sowohl einen ethischen Perfektionismus (an dem wir uns „überheben“), als auch einen von den Libertins gepflegten prinzipiellen Antinomismus (der sich über die Struktur unserer Welt hinwegsetzt) ausschließt. Calvin hat die Providenz deshalb aus ihrem stoisch-humanistischen Kontext einer universalistischen Kosmologie (mit göttlicher Alleinwirksamkeit) herausgelöst und sie für den Einbezug menschlicher Vorsorge und Initiative geöffnet. Gott, so lautet 232 233 234 235 236

Inst I, 16,7, Contre la secte, CO 7, 187; CStA 4, 319. 22–25. M. Freudenberg, Freiheit (Anm. 229) S. 3, bzgl. CStA 4, 310. 21–23. Contre la secte, CO 7, 191; CStA 4, 327.3f. Inst I, 17,4.

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die These, „bekleidet“ seine Vorsehung mit kreatürlichen Ursachen, so wie er – eine Reminiszenz an Luther! – um sein Ziel zu erreichen, sogar auch den Satan und die Übeltäter zu „Vollstreckern seines Willens“ machen kann.237 Diese Neubestimmung der Providenz ist die entscheidende Weichenstellung für die Profilierung des Freiheitsbegriffs, der nun zu einem konstitutiven Merkmal der auch den Menschen mit einbeziehenden Vorsehung wird. Das hat Calvin indessen nicht daran gehindert, sein Freiheitsverständnis an dem uns überlegenen Willen Gottes zu orientieren, da dieser Wille, obwohl in der Form von Gesetzen manifest geworden, geradezu definitionsmäßig auf den Bestand der Schöpfung und den Nutzen des Menschen ausgerichtet ist. Hinzu kommt noch ein weiteres Argument. Es gibt – ein Kennzeichen der calvinischen Theologie – neben der allgemeinen Weltregierung Gottes und seiner Sorge für Güte und Gerechtigkeit unter den Menschen noch eine dritte Art des göttlichen Wirkens (troisieme espece de l’operation), „der zufolge der Heilige Geist in den Gläubigen lebt, herrscht und in dieser Weise über sie gebietet“.238 Er ist es, der die Teleologie des göttlichen Wirkens – ein Leitgedanken der calvinischen Schöpfungslehre – ermöglicht und den Menschen an das noch ausstehende, zur Vollendung bestimmte Reich Gottes erinnert, an dem gleichnishaft mitzuarbeiten, ihm aufgetragen ist. Dieser Geist konstituiert ihn als ethisches Subjekt, indem er sein Gewissen, das zwischen Gott und Mensch steht, allein an Gott bindet und ihm dadurch den Raum eröffnet, seine Freiheit zu realisieren.239 5.5.2

Die Freiheit der Gerechtfertigten

Zur Freiheit muss man freigesetzt, eben befreit werden (Gal 5,1). Sie ist daher zunächst negativ bestimmt, als Freiheit von … Demgegenüber soll sich die Freiheit, für die sich Calvin in dem einschlägigen Abschnitt der Institutio (III, 19) auf die Rechtfertigung beruft, dieses Ereignis der Befreiung, in der Praxis des christlichen Lebens als „Summe der Lehre des Evangeliums“ erweisen.240 Denn im Zeichen dieser Freiheit werden wir neu und anders in die Welt eingewiesen als unter Anleitung des Gesetzes, will sagen: im Zeichen des „du darfst“ statt des „du sollst“.

237 Ebd. CO 7, 188; CStA 4, 321.18f. 238 Contre la secte, CO 7,191; CStA 4, 325. 26–28. 239 Vgl. hierzu auch R. Wallace, Christian Life (Anm. 149), 309: „Unsere Gewissen davor zu bewahren, in eine Abhängigkeit (bondage) von Menschen oder des eigenen Selbst zu geraten, ist [namentlich im Umgang mit den sog. „Adiaphora“] für Calvin der wichtigste Aspekt unseres Kampfes für die christliche Freiheit“. 240 Inst III, 19, 1; OS IV, 282. 12f,: „Wem es aufgetragen ist, die Summe des Evangeliums zusammenzufassen, kann an der christlichen Freiheit als ihrem Hauptinhalt nicht vorbeigehen“, lautet der erste programmatische Satz dieses Kapitels.

Die christliche Freiheit

So verstanden liefert die christliche Freiheit die entscheidende Begründung für den von Calvin an die erste Stelle gesetzten tertius usus legis, der uns nun anleitet, „aus Dankbarkeit dem Gebot“ und damit „Gott in freudiger Bereitwilligkeit zu folgen“,241 mit einer schönen Sentenz aus den 68er Jahren der Studentenbewegung gesprochen: „Wer wirklich liebt, denkt nicht an Ehebruch.“ Das bringt uns auf den entscheidenden Punkt. Michael Weinrich formuliert: Der „Raum der christlichen Freiheit“, die „Wirklichkeit“, in der sie sich realisieren kann, ist der von Gott mit der Menschheit geschlossene „Bund“. Denn dieser Bund „steht für die Wirklichkeit, in welcher der Mensch nicht sich selbst [seinem guten oder weniger guten Willen] überlassen ist“242 , in der er sich vielmehr der Inspiration des göttlichen Geistes überlassen kann. So hat die christliche Freiheit eine (nachgerade ontologische) Entsprechung in der Wirklichkeit, „in welcher der Mensch als Gottes Gegenüber in Freude leben darf “. Er steht nicht unter dem Zwang einer Notwendigkeit (necessitate coacta). Weinrich spricht deshalb in umgekehrter Blickrichtung von der „wirklichkeitsgerechten Freiheit“.243 Sie ist eingebunden in die Wirklichkeit des Bundes und sein „Lehramt des Gesetzes“ (Calvin). Diese Freiheit erst macht die Kraft der Rechtfertigung erkennbar, die sich darin bewährt, dass sie uns anleitet, im Recht zu leben, das heißt, die Vernunft zu gebrauchen, um „gut und böse“, „Recht und Unrecht“ zu unterscheiden. Hier geht es nicht primär um die Früchte des Glaubens, sondern um die Aufgabe der Lebensgestaltung, also um Lebensformen, die uns instand setzen, auch den Machtansprüchen staatlicher und gesellschaftlicher, auch kirchlicher Autoritäten zu begegnen.244 Calvin hat auf die Verfassungsentwürfe von Kirche und Magistrat deshalb ein solches Maß an Sorgfalt verwandt, um sicher zu stellen, dass die auf Dauer zu gewährende „Freiheit zu deren Beschützern [ihre Repräsentanten] eingesetzt sind, in keinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird“245 Man wird das nicht schon mit Formen neuzeitlicher Autonomie verwechseln dürfen, denn die hier gemeinte Freiheit verdankt sich nicht der Subjektivität jener weltlichen (oder geistlichen) Repräsentanten, sondern bleibt eingebunden in das nach wie vor Orientierung gebende Gesetz Gottes246 , das auf den überindividuellen Bestand einer lebensfähigen Ordnung zielt. Zugleich bedeutet der Gebrauch dieser Freiheit, die Rückkehr zu menschlichem Maß, (statt wie das Gesetz uns zu überfordern), also das Eingeständnis der Unvollkommenheit unserer besten Bemühungen. Denn Gott dürfen

241 242 243 244 245 246

M. Weinrich, Unbequeme … Theologie (Anm. 103), 93, im Blick auf Inst III, 19,4. Ebd. 95. Ebd. 94f. Dazu: E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, Zürich 2005, 81–86. Inst IV, 20,8; OS V, 479. 12–14. J. Hesselink, Calvin’s First Catechism, 1997, 88f: “It is only the free person who is capable of the willing, spontaneous obedience desired by God.”

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Das christliche Leben

wir, so Calvin, wie Kinder ihren Vätern „auch angefangene oder halbfertige Werke anbieten, an denen noch mancherlei auszusetzen ist“, in der Zuversicht, auch damit vor ihm zu bestehen.247 Dieser Abschied von jedem Perfektionismus ist „der Ruhm der Freiheit des Evangeliums!“ (Hesselink). Dazu wird man nicht zuletzt auch dies rechnen dürfen, dass Calvin den in die Moderne hinüberweisenden Begriff der Gewissensfreiheit (libertas conscientiae) in den Genfer Katechismus eingeführt hat, der zum Kennzeichen christlicher Weltverantwortung geworden ist. „Damit sind die Weichen gestellt für die Entwicklung der neuzeitlichen Freiheitsidee.“248 Nur eine Grenze ist dieser Freiheit gezogen, die Rücksicht auf das „schwache“ Gewissen unsers Nächsten. Sie soll uns die Demonstration der eigenen Stärke unmöglich machen. Hendrikus Berkhof hat sach- und zeitgemäß interpretiert: „Freiheit existiert um der Liebe willen, und durch die Liebe wird Freiheit möglich gemacht.“249

5.6

Das Gebet

In seinem letzten, schon im Umfang alle anderen Themen hinter sich lassenden Anlauf auf das Zentrum christlicher Frömmigkeit stellt uns Calvin in der Institutio (1559) das Gebet als „die vornehmste Übung des Glaubens“ vor Augen. Wir bitten Gott um etwas, das wir nicht haben, das uns fehlt. Wir tun es auf seine Aufforderung, auf seine Verheißung hin, doch nicht um seinetwillen, der unsere Bedürfnisse kennt, ehe wir ihn darum bitten, sondern um unsertwillen. Das setzt voraus, dass wir unsere Situation kennen, die Calvin in der traditionellen Sprache der Frömmigkeit als Mangel (inopia), Not oder Elend beschreibt. Was diesen Abschnitt mit dem vorangehenden Freiheitstraktat verbindet, ist trotz der durchaus verschiedenen Stimmungslage eine gemeinsame Grundbewegung, die Bewegung des Über-sichHinaus-gehens (sortir hors de soy), des Sich-Hinausschwingens (supra se levari) über die Beschwerden des Alltags, um „unsre Sorgen, Ängste und Unruhe gleichsam im Schoße Gottes abzulegen“250 So viele Veränderungen dieses Kapitel bis zur Endfassung von 1559 erfahren hat – Elsie A. McKee hat sie mit bemerkenswerter Sorgfalt nachgezeichnet251 – sie stimmen darin überein, dass keiner dieser Versuche seinen Ort etwa vor der Rechtfertigung, in einer aktivistisch deutbaren christlichen Praxis, gefunden hätte. Der theologische Ort „extra nos“ bzw. „extra se ipsum“ ist auch der Zielpunkt des

247 248 249 250 251

Inst III, 19,5; OS IV, 285. 30–35. Dazu M. Freudenberg, Freiheit als Geschenk (Anm. 229), S. 7. H. Berkhof, Christian Faith (rev. Ed.), Grand Rapids 1986, 462. Catechismus 1537, OS I, 403; Kom zu Jes 63, 16; OS 37, 402. E.A. McKee, John Calvin’s Teaching on the Lord’s Prayer, in: D.L. Migliore (Hg), The Lord’s Prayer: Perspectives for Reclaiming Christian Prayer, Grand Rapids 1993, 88ff.

Das Gebet

Gebets. „Wir rufen, so heißt es in der Institutio252 , zugleich auch die Gegenwart seiner Vorsehung herbei“, „in der er ja immer auf der Wacht ist, für uns in allen Dingen zu sorgen“. Davon soll später noch geredet werden. Die frühen Versuche, das Gebet begrifflich zu erfassen, haben noch etwas Vorläufiges, Tastendes.253 Der Katechismus spricht von einer „gewissen Ähnlichkeit mit einem Gespräch (communication) zwischen Gott und uns, in dem wir vor ihm unsere Wünsche und Gedanken ausbreiten“; und noch in der Erstfassung des Jesajakommentars (1551) heißt es: „Es ist nichts anderes als ein Aussprechen (explicatio) unseres Herzens vor Gott“.254 Nach der Institutio (1536) öffnet uns Gott im Gebet „die himmlischen Schatzkammern, um uns seinen geliebten Sohn sehen zu lassen, an dem all unsere Erwartungen hängen“ und fährt dann fort: „Das freilich ist eine geheime, verborgene Philosophie, die mit Syllogismen nicht entschlüsselt werden kann, sondern Gott muss (seinen Schülern) die Augen öffnen, damit sie in seinem Licht das Licht sehen.“255 Calvin lässt sogar zu, dass Ungläubige und Heiden Gebete um Hilfe und Befreiung vorbringen, und solche Gebete sogar von Gott erhört und beantwortet werden, obwohl sie nicht aus Glauben kommen.256 Der eigentlichen Sacherörterung sind in Inst (1536) III zwei Regeln des rechten Betens vorangestellt, die 1539 und 1559 auf vier Regeln erweitert worden sind. Sie betreffen die subjektive Haltung, in der wir als Betende vor Gott kommen sollen. Die erste lautet in Anlehnung an Dan 9,18: Wir sollen jeden Gedanken an Selbstruhm aufgeben und uns allein auf Gottes Barmherzigkeit verlassen. Die zweite: Wir sollen im vollen Bewusstsein unserer wahren Bedürftigkeit (inopia) das, was wir von Gott für uns und unsere Belange erbitten, vor ihn bringen.257 Das entspricht Calvins Ansatz von 1536: „Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Die Erweiterungen tragen der zunehmenden Bedeutung des Heiligen Geistes im Vorgang des Betens Rechnung. Davon war 1536 noch mit keinem Wort die Rede. Wenn die erste Regel innere Sammlung mit Geist und Sinnen (mente animoque) verlangt und das als einen menschlichen Aufschwung (se levari) zu verstehen gibt, so folgt nun die Korrektur: „Zu dir habe ich meine Seele erhoben“ (Ps 25,1). Es geht nicht ohne die Schrift, der unser Wünschen und Bitten unterworfen ist. Und wenn wir unser Herz vor ihm ausbreiten sollen, so heißt das nicht, unser Beten durch törichte Bitten und laszive Begierden in die Länge zu ziehen, sondern nach einem Heilmittel zu suchen, das „unserer Schwachheit aufhilft“ (Röm 8,26). Denn dazu

252 253 254 255 256 257

Inst III, 20,2; Inst IV, 298. 5f. Vgl. R.S. Wallce, Calvins Doctrine of the Christian Life, Grand Rapids 1959, 271–274. Katerchismus 1537, OS I, 404; Kom zu Jes 63,16; CO 37. 402. Inst (1536) III, OS I, 96. Vgl. Inst (1559) III, 20, 15; OS V, 318. 29–33. Inst (1536); OS I, 97.

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Das christliche Leben

hat uns Gott den Heiligen Geist als Lehrmeister (magister in precibus) verheißen, dass er uns bei unseren Bitten zu nüchterner Wachsamkeit anhält.258 Die zweite Regel will ein mögliches psychologisches Missverständnis der ersten abweisen. Das hier gemeinte Bewusstsein unserer Bedürftigkeit ist eben nicht schon das Resultat unserer eigenen Introspektion, sondern muss von außen angestoßen werden und zwar durch den uns gegenüber stehenden Gott, der uns dessen überführt, dass wir (auch in und mit unserer Bedürftigkeit) Sünder sind. So gesehen handelt es sich hier nicht um ein psychologisches, sondern um ein dogmatisches Faktum.259 Rechtes Beten geschieht in der Erkenntnis der Sünde. Die dritte Regel ergänzt und fügt dem menschlichen Akt des Schuldbekenntnisses den (ihm sachlich vorausliegenden) Akt der göttlichen Schuldvergebung hinzu. Die vierte Regel hat daraufhin die Erhörungsgewissheit zum Thema, um das seelsorgerliche Ziel, die Ruhe des Gewissens, zu erreichen und derart zum Beten zu ermutigen. Man hat in der älteren Forschung aus diesen Beobachtungen gelegentlich geschlossen, dass dieser breit ausholende Traktat lediglich eine Anleitung zum Gebet sei, der eher in die praktische Theologie als in die Systematik gehöre.260 Dem hat bereits Hans Scholl in einer der sorgfältigsten Studie zur Sache mit Gründen widersprochen, ebenso aber auch die neuere angelsächsische Forschung.261 Man muss sich nur die Struktur des Arguments in den zwei bzw. vier „Regeln“ vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass es hier um mehr als praktische Anweisungen geht, nämlich um die Frage nach Möglichkeit und Notwendigkeit des Gebets,die sich offenbar nicht auf unsrer Seite begründen lässt. Sie hat ihren Grund vielmehr im Gegenüber Gottes hat. Er muss erscheinen, sich zeigen, sich offenbaren, wenn das Gebet überhaupt eine menschliche Möglichkeit werden soll. Von dieser Voraussetzung aus, der Konzeption von Gottes- und Selbsterkenntnis, entwickelt Calvin alles, was über das Gebet zu sagen ist. Was er auf diesem Wege sichtbar macht, insbesondere in seiner Auslegung des Unser-Vater, ist daher zunächst tatsächlich Lehre, freilich in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Gebetspraxis. Man muss deshalb auch das Gebet in den Entwurf seiner Theologie hineinstellen. Dann zeigt sich beispielsweise, dass auch hier eine deutliche Zäsur zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe der Institutio (1539) zu beachten ist. Calvin hat erst nach der anfänglich einseitigen Konzentration auf die Christologie, d. h. über der Arbeit am Römerbrief, wichtige

258 Inst III, 20,4: OS IV, 302. 4ff. 259 Inst III, 20,6; OS IV, 302. 28–31 und 303. 8–11. Dazu: H. Scholl, Der Dienst des Gebetes nach Johannes Calvin, Zürich –Stuttgart 1968, 219–222. 260 So W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 158, oder F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung (Anm. 52), 223f. 261 H. Scholl, Gebet (Anm. 259), 218. J. Hesselink, Calvin’s First Catechism, Louisville. A Commentary, 1997, 132.

Das Gebet

Aspekte des Heiligen Geistes entdeckt, sie im Zuge der letzten Revision der Institutio (1559) systematisch in die Lehre vom Gebet eingeordnet und sie damit zum Abschluss gebracht. Darüber hinaus aber gibt es auch wichtige Bezüge etwa zwischen Vorsehung (Providenz) und Gebet, eine Spur, die auf reformiertem Boden Friedrich Schleiermacher und Karl Barth wieder aufgenommen haben. 5.6.1

Die Ermöglichung des Gebets: die Christologie

„Es gab Gebet vor Christus, aber es gab Gebet nie ohne ihn. Er hat [für Christen] den Raum des Gebetes erschlossen, das Gebet möglich und wirklich gemacht.“262 Inwiefern? Calvins zentrale christologische Formel „Gott geoffenbart im Fleisch“ (1Tim 3. 16) weist Christus als authentischen Lehrer auch des rechten Betens aus. Deshalb ist die Christusgemeinschaft so wichtig für die hier entfaltete Lehre vom Gebet. Hans Scholl hat eine einleuchtende Verbindung zum „dreifachen Amt“ aufgewiesen, kraft dessen Christus als prophetischer, königlicher und priesterlicher Mittler die Brücke zwischen Gott und den Menschen schlägt: „Unsere Verbindung mit diesem königlichen Haupt ist die gewisse Garantie für die Erhörung unsres Gebetes. Darauf liegt bei Calvin das meiste Gewicht.“263 Denn, so die Begründung, wir haben heute keine Propheten, und Gott schickt uns weder Engel noch Visionen. Vielmehr soll uns der große Botschafter genügen, der ein für allemal gekommen ist, unser Herr Jesus Christus, in dessen Autorität uns die Verheißungen des Evangeliums angeboten werden, damit, wenn wir in seinem Namen zu Gott, seinem Vater kommen, wir nicht daran zweifeln, dass wir ihn jederzeit bereit finden werden, uns Barmherzigkeit zu erweisen.264

Das, so Calvin, ist der einzige Schlüssel, der uns die Tür zum Reich Gottes öffnet. Darauf konnten sich auch die Väter des alten Bundes verlassen. Sie hatten im „Schattenriss“, dem präexistenten Logos, was sich den Christen im klaren Bild des erneuerten Bundes zeigt, eine Christusgemeinschaft sozusagen ante Christum natum, aber in der Qualität vergleichbar jener unio mystica, die sich als Schlüssel des „christlichen Lebens“ erwies und die nun in Gestalt der drei Ämter zum Interpretament der Lehre vom Gebet wird. (1) Das königliche Amt. Mit seiner Inthronisation an Himmelfahrt hat Christus das Problem und die Not des Menschen vor Gott gebracht. Er ist „in unserem

262 H. Scholl, Der Dienst des Gebets nach Johannes Calvin, Zürich 1968, 53. 263 Ebd. 55. 264 Predigt zu 2Sam 24, CO 18, 759.

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Das christliche Leben

Fleisch, gleichsam in unserem Namen, in den Himmel eingegangen“.265 Mit dem Anfang seines Königtums verbindet sich daher das Amt des Mittlers mit dem Amt des Fürsprechers. Ohne den Mittler könnte niemand von uns vor Gottes Augen treten. Daran aber hängt die Zuversicht des Gebets, und deshalb „lädt uns Gott nicht nur zu sich ein, sondern bestellt uns mit einem Eidschwur auch einen Fürsprecher (patronus)266 , so dass uns nichts verweigert werden kann, was wir in seinem Namen bitten. Beide Ämter sind aufs engste miteinander verbunden und dokumentieren die Bedeutung der Himmelfahrt für die Gebetserhörung: „Mag ich auch schwach sein, Jesus Christus ist hier, der mächtig genug ist, mich aufrecht stehen zu lassen.“267 Zugleich gewinnt das Gebet mit dieser Ausrichtung „Anteil an der eschatologischen Dimension der Christologie“268 , die sich zeitgeschichtlich in seiner Gegenwartsbedeutung manifestiert. Calvin schreibt diese Passagen im Bewusstsein der realen Wirkungen des Gottesreichs mitten in den Kämpfen um die bedrängten protestantischen Kirchen in Frankreich. Vollends die Auslegung der zweiten Bitte des Unser-Vater um das Kommen des Reiches bewegt sich ganz in der Terminologie von Kampf und Krieg: „Gott möge die Erwählten durch die Kraft seines Geistes leiten, und die Verworfenen, die ihm den Gehorsam verweigern, niederstrecken und dem Untergang preisgeben, damit offenkundig wird, dass es nichts gibt, was seiner Kraft widerstehen kann.“269 So nimmt die Gemeinde mit ihrem Gebet teil an dem prophetisch-königlichen Dienst Christi. (2) Das priesterliche Amt. Auch im christologischen Abschnitt von Inst III, 20, 17–19 ist beides im Blick: Christus als Mittler und als Versöhner. Nur er kann den Thron der furchtbaren Herrlichkeit in den Thron der Gnade wandeln.270 Es sind Vorstellungen und Bilder des Hebräerbriefs (4,15f.) mit denen Calvin die Verankerung des Gebets hier erläutert. Beide Seiten der klassischen Christologie, Erniedrigung und Erhöhung, Karfreitag und Himmelfahrt, konstituieren das Mittleramt. Sein inhaltliches Zentrum ist das Opfer Jesu Christi ist, verstanden als das gehorsame ständige Eintreten für uns, das als solches ein Ziel hat und deshalb wie das königliche Amt als ein prophetisches Tun begriffen wird. Entscheidend für dieses Mittleramt ist sein über alle Zeiträume hinausweisender Charakter, der – hier

265 Inst II, 16,16; OS III, 503.32f. 266 Zu Ps 110; CO 32, 164. 267 So die Predigt zu Apg 1, 9–11, CO 48, 619, der Perikope zum Himmelfahrtstag: « Iesus Christ est là en nostre nom: y estant il est nostre Intercesseur et fait [...] que nous sayons exaucez ... ». 268 H. Scholl, Gebet (Anm. 259), 57 mit Hinweis auf H. Quistorp, Die letzten Dinge im Zeugnis Calvins. Calvins Eschatologie, Gütersloh 1953. 269 Genfer Katechismus 1542, Frage 268, OS II, 121. 13–16. Vgl. Inst III, 20,42: „Gott richtet sein Reich auf, indem er die ganze Welt demütigt […] Er dämpft die Ausgelassenheit der einen, und die zügellose Hoffart der andern zerbricht er“; OS IV, 353. 7f. 270 Inst III, 20,17; OS IV, 322.21f.

Das Gebet

ist die Auslegung von Röm 8,34 das maßgebliche Vorbild – ebenfalls eine eschatologische Ausrichtung hat: Seine Fürsprache (die man sich nicht bildlich-mythologisch vorstellen soll) zeigt ihn „im Licht seines Todes und seiner Auferstehung“, sie ist „ewige Fürsprache“ (aeterna intercessio), das heißt „lebendige Rede“, die Gott jederzeit unseren Bitten zugänglich macht. Echte Eschatologie aber leuchtet in der Kraft des Geistes nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Sie ermächtigt bereits den präexistenten Logos, die Mittlerschaft auszuüben, um deretwillen die Beter der Vergangenheit erhört worden sind. Warum aber, fragt Calvin abschließend (III, 20,18), hat Christus im Blick auf seine Fürsprache den Zeitpunkt seiner Himmelfahrt ausgezeichnet: „An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen, und der Vater wird es euch um meines Namens willen geben“ (Joh 16,26). Er macht dreierlei geltend: 1. Christus war tatsächlich im Alten Testament Mittler der Gebete. 2. Der neue Mittlerdienst des erhöhten Christus bedeutet eine unerhöhte Überbietung seines bisherigen Dienstes zugunsten der Kirche, und deshalb liegt es 3. an uns, den heute Lebenden, diese Wohltat mit beiden Händen zu umfassen. Es gibt also eine Geschichte des Mittleramtes, und durch diese Geschichte, den Dienst des Gebetes, sind wir „ins eschatologische Christusgeschehen hineingenommen“.271 (3) Das Gebet in der ersten Institutio (1536). Gemessen an dem Straßburger Einschnitt ist die erste Institutio ungeachtet ihrer ursprünglichen Frische erst ein Anlauf- und ein Stück Vorgeschichte. Durch die Christologie ist sie mit den soeben dargelegten Themen verbunden, von dem jedoch, was auf diesem Fundament wachsen sollte und konnte, ist sie durch das völlige Fehlen der Pneumatologie noch getrennt. Dasselbe gilt von dem ersten Genfer Katechismus (1537), der im Wesentlichen die Thesen der Institutio wiedergibt.272 Das besondere Gewicht dieser Erstlingswerke als theologischer Kompass der frühen protestantischen Gemeinden gibt ihnen – des ungeachtet – das profilierte christologische Gefälle, das sich aus dem Hebräerbrief speist und sich in der lehrhaften Abgrenzung gegen die römischen Thesen (vom Gebet der Heiligen und der Verstorbenen) bewährt. In keinem dieser Dokumente fehlt eine mehr oder weniger ausführliche Interpretation des UnserVater, das ganz in die Christologie eingebunden wird.273 Die Güte des Vaters wird dabei durch das Gleichnis vom verlorenen Sohn illustriert (OS I, 106) und daraufhin kann dann die Allgemeinheit (und Öffentlichkeit) des Herrengebets festgestellt

271 H. Scholl, a.a.O. 69. 272 J. Hesselinks großer Kommentar geht auf diese Differenz nur am Rande ein, bietet dafür aber eine genaue, detailreiche Analyse. 273 Inst (1536), III; OS I, 105f; Catechisme (1537), De l’Orayson, CO 12, 61 (OS I, 405); J. Hesselink, a.a.O. 132–134.

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Das christliche Leben

werden: „Nach diesem Gesetz muss ein Christenmensch sein Gebet verrichten, damit es allgemein sei und alle umfasse, die in Christus seine Brüder sind.“274 5.6.2

Das Gebet im Zeichen des Geistes

Über der Begegnung und der Interpretation des Römerbriefs während der Straßburger Jahre wird auch das weite Feld des Gebetes noch einmal neu vermessen. Dass wir, wie es in der ersten (aus der 1536er Ausgabe übernommenen) Regel heißt, mit der Anrufung des Vater-Namens in ein Gespräch mit Gott eintreten und nur soviel von ihm erbitten sollen, wie er uns erlaubt, steht nach wie vor in Geltung.275 Weil wir aber erkennen, wie weit wir davon entfernt sind, mit unseren Kräften dieser Regel gerecht zu werden, müssen wir, fährt der neue Text fort, nach einem Heilmittel suchen, hier Abhilfe zu schaffen. Darauf folgt das entscheidende Zitat aus dem Römerbrief (8,26): Um unserer Schwachheit aufzuhelfen, „gibt Gott uns bei unserem Bitten den Heiligen Geist als Lehrmeister.“ Vergegenwärtigt man sich, wie Calvin diese Schwachheit auslegt, dass „wir blind sind in unserem Gebet zu Gott“, dass unser Denken „zu verstört ist, als dass es herauszufinden wüsste, was sich zu beten schickt“, dass „unsere inneren Regungen von Finsternis umhüllt bleiben“, dass es hier um eine Schwäche des Fühlens und auch des Willens geht,276 dann mag es als ein Wunder des Geistes erscheinen, dass (und wenn) überhaupt gebetet werden kann und gebetet wird. Denn er muss uns vorsagen, was richtig ist, und „bringt unsere Regungen (affectus) ins rechte Maß“.277 Hier hat Calvin die Anschlussstelle gefunden, die ihn das entscheidende Neuland entdecken lässt: „Der Geist bietet ihnen (den Glaubenden) seinen Beistand an […], durch dessen Zeugnis (V.15) wir Gott als unseren Vater erkennen und ihn im Vertrauen darauf [nun auch] als Vater anrufen“.278 Während in der ersten Institutio (1536) die Klammer von Geist und Gebet völlig fehlt, hat sich die „Systematik“ des Römerbriefs in den neuen Abschnitten der Institutio (1539) voll durchgesetzt. Das gilt insbesondere für den Dreischritt: Schwachheit des Menschen, Gabe der Kindschaft, eschatologische Bewegung auf das himmlische Erbe hin.279 Damit wird zuletzt auch das Problem der Erhörung entspannt. Die neu gefasste vierte Regel lautet: „Wir sollen uns zum Gebet von der bestimmten Hoffnung bewegen lassen, das Erbetene auch zu erlangen“.280 Denn der

274 275 276 277 278 279

Ebd. III, OS I, 107. Inst III, 20,4; OS IV, 300.8 und ebd. III, 20,5, a.a.O. 301.16. Kom. zu Röm 8,26f; CO 49, 157; CStA 5.2, 431. 6–13. Inst. III, 20,5; a.a.O. 302.3–5. Kom. zu Röm 8, 26, CO 49, 156f; CStA 5.2, 429. 11f 26f 32–34 36f. Dazu: H. Scholl, Der Dienst des Gebets (Anm. 259), 82–88; Vgl. auch J.S. Kim, Prayer in Calvin’s Soteriology, in H. Selderhius (Hg), Calvinus Praeceptor Ecclesiae, Genf 2004, 265–274. 280 Inst III, 20,11; OS IV, 308. 36.

Das Gebet

Geist steht dafür ein, dass Gott das Gebet an seine Verheißung gebunden hat. Bei alle dem aber bleibt es ein von Gott gebotener Dienst, als solcher freilich ein Werk des Menschen. Gefragt ist also nicht das Beten des Heiligen Geistes, als könnten wir dieses Amt „auf Gottes Geist abwälzen und derweil in Pflichtvergessenheit oder Nachlässigkeit (nonchaillance) einschlafen“281 Damit ist – jedenfalls indirekt – die umstrittene Frage: freier oder unfreier Wille berührt. Einerseits, so Calvin, schreibt uns die Schrift vor, was wir tun sollen. Andererseits kommt die Kraft zum Gehorsam aber aus Gottes Güte, um die wir wie um ein Geschenk (etwas, das wir nicht haben) bitten sollen. Alles liegt hier an der Verheißung. Trennt man sich von dieser als falsch erkannten Alternative – entweder wir haben einen freien Willen, oder wir sind „Klötze“ (truncus et lapis) – dann, so Scholl zu Recht – „stellt uns das der Erhörung gewisse Gebet auf den Boden der wahren Freiheit, die nicht eine Freiheit der Möglichkeit, sondern eine der […] in der Erhörung gegebenen neuen Wirklichkeit ist“.282 5.6.3

Die Auslegung des Unser-Vater

Calvin hat an der Auslegung der sechs Bitten des Unser-Vater ungewöhnlich lange und intensiv gearbeitet. Es gibt keinen zweiten Abschnitt in diesem großen Kapitels, an dem er in immer neuen Anläufen mehr abgeändert und modifiziert hätte. Das braucht nicht im Einzelnen dargestellt zu werden283 . Hier soll nur auf zwei besondere Akzente hingewiesen werden. Da ist zunächst die Anrufung des Vaternamens (III, 20, 36–40), ein Text, der zum größten Teil schon in der ersten Institutio (1536) stand. Neu ist in Abschnitt 40 die doppelte Fundierung durch Christologie und Pneumatologie. Denn wenn wir Gott unseren Vater nennen, berufen wir uns zunächst auf den Namen Christi. Er „will nicht von uns getrennt werden […]; sondern steht mit uns in derselben Verbindung, wie die Glieder eines Körpers mit ihrem Haupt: aus diesem Grund müssen wir den Geist unsres Herrn Jesus Christus haben, andernfalls könnten wir ihn nicht mit dem gebotenen Vertrauen unseren Gott nennen, um ihn dann auch als unsern Vater anzureden.“284 Denn der Geist ist uns Bürge und Unterpfand unserer Kindschaft, so dass wir „nun fest überzeugt sein dürfen: Gott ist uns väterlich gesinnt.“285 In einem markanten Gegensatz hierzu

281 Französ. Ausgabe der Inst (1541), hg. von J. Pannier, Bd. III, Paris 1961, 138f. 282 H. Scholl, Der Dienst des Gebets (Anm. 259), 103. 283 Eine bemerkenswerte kritische Analyse seiner Ausführungen im frühesten Katechismus (1537) bis zur letzten Institutio 1559 findet sich bei Elsie A. McKee, John Calvin’s Teaching on the Lord’s Prayer, in: D.L. Migliore (Hg), The Lord’s Payer: Perspectives for Reclaiming Christian Prayer, Grand Rapids 1993, 88ff. 284 Predigt zu Gal 4,4ff; CO 50, 586f. 285 Kom. zu Gal 4,6; CO 50, 228.

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Das christliche Leben

steht jedoch der düstere Ton, in dem sich die Gebetseingänge (namentlich in den Vorlesungen) bewegen, wenn sie an „unsere Verbrechen“ erinnern, „mit denen wir dich [Gott] Tag für Tag provozieren, so dass […] nichts in uns unversehrt bleibt, auch wenn wir mit zeitlichen Strafen schwer gezüchtigt werden …“.286 Man hat von einem „Strom der Buße“ gesprochen, der sich von der Genfer Liturgie aus in Calvins Gebete ergießt, – nur gemäßigt durch die Erkenntnis der Gotteskindschaft, die nur als ein Wunder empfangen werden kann. Ein zweiter, starker und wichtiger Akzent fällt auf die Anweisung, dass niemand für sich allein Gott anrufen soll, so gewiss wir ihn unseren „gemeinsamen Vater nennen.287 Treten wir vor ihn, so tun wir es als soziale Wesen, die sich zwangsläufig auch der Frage nach ihrem „Nächsten“ stellen müssen. So ist das Gebet allein schon kraft der namentlichen Anrede Gottes immer auch Fürbitte: „Alle unsere Gebete müssen so beschaffen sein, dass sie sich an die Gemeinschaft richten, die unser Herr in seinem Reich [und] seinem Haus aufgerichtet hat.288 Aus den Fürbittgebeten für den Genfer Werktags- und Sonntags-Gottesdienst sieht man, wie weit Calvin den Kreis dieser Gemeinschaft gezogen hat. Am Sonntag gilt die Fürbitte allen weltlichen und geistlichen Behörden, allen Menschen in und mit ihren verschiedenen Sorgen, und in Sonderheit den um ihres Glaubens willen Verfolgten. An den Werktagen – soviel lässt sich den Abraham-Predigten289 entnehmen – steht an der Spitze die (kürzere) Bitte „für alle Völker und Nationen“, dass Gott ihnen treue Diener des Wortes erwecken möge. Es folgen Bitten für alle Könige, Fürsten und hochstehende Beamte (superieurs). Calvin war sich der Grenzen dieser Aufzählung bewusst. Denn „wohltätige Schenkungen lassen sich nur denen gegenüber machen, deren Armut uns bekannt ist; durch die Fürbitte aber können wir auch den Fremdesten und Unbekanntesten beistehen […] Das eben geschieht durch jene allgemeinste Fassung des Gebets, in die alle Kinder Gottes eingeschlossen sind“.290 Soweit also reichen Auslegung und Anspruch des „unser“ im Herrengebet. Sie sind das Gegenstück zum Fürbittengebet der Heiligen. Denn die Gemeinde steht dort, „wo in der römischen Hierarchie die Heiligen stehen, nämlich an der Stelle Jesu Christi“.291

286 So das Gebet zu Amos 3, 8–14, das Scholl (Anm. 259), 144, der seiner zit. Arbeit eine seltene Sammlung „freier Vorlesungsgebete“ Calvins beigefügt hat, aus einer Genfer Ausgabe (Vignon) von 1581 zitiert. 287 Inst III, 20, 38; OS IV, 348. 8–10. 288 Ebd. 20, 38–39; a.a.O. 348, 36ff. 289 Eine kurze Predigtreihe über „Abrahams Opfer“, CO 23, 741–784. 290 Inst III, 20, 39; OS IV, 349. 20–25. 291 H. Scholl, a.a.O. 151.

Das Gebet

5.6.4

Vorsehung und Gebet

Das Kapitel über das Gebet ist eingerahmt von Aussagen über die Vorsehung: Mit der Anrufung des Vaternamens „rufen wir zugleich auch die Gegenwart seiner Vorsehung herbei“. Durch die Erkenntnis, dass Gott die Seinen mit wirksamer Hilfe in Schutz nimmt, „soll seine Vorsehung unseren Herzen bewiesen werden“; in den Psalmen (etwa: 34,16) wird Gottes Vorsehung gerühmt, die aus „freien Stücken darauf aus ist, für [unser] Heil zu sorgen“, und noch in einem der letzten Abschnitte werden wir an die „feste Gewissheit“ erinnert, dass Gott sich damit „herablässt, seine Vorsehung bis zu uns reichen zu lassen“.292 Das 1539 in die Institutio eingeführte Kapitel über Providenz und Prädestination befindet sich in einer mehr oderweniger unmittelbaren Nachbarschaft zu den Ausführungen über das Gebet. „Nicht ohne Grund“, liest man dort, „bezeugt unser Herr, dass alle Sicherheit unseres Heils auf der Anrufung seines Namens beruht, weil wir dadurch die Gegenwart sowohl seiner Providenz erfahren, durch die er sich als wachsam auf uns bedacht erweist, als auch seiner Kraft, durch die er uns beschützt …“.293 Wie aber lässt sich der Gebetsglaube mit einer Vorsehungsgewissheit, ursprünglich einem Erbstück der Stoa vereinen, die Calvin aus einer überlegenen göttlichen Macht herleitet, die „Wolken und Winde nach ihrem Wohlgefallen lenkt“, so dass niemand und nichts ihr widerstehen kann? Muss das Gebet nicht völlig überflüssig erscheinen, wenn am Ende doch eine quasi naturhaft wirksame Kraft über den Weltlauf bestimmt? Man hat von einer besonderen Herausforderung, einer Versuchung, ja „Anfechtung“ (temptation) gesprochen294 , denn wenn das Gebet in den Sog eines stoischen Fatalismus gerät, der die Freiheit des Menschen ausschaltet, muss es sinnlos werden. Tatsächlich hat Calvin an dieser Front die Grenzlinien mit besonderer Sorgfalt gezogen. Einen determinierenden Charakter der Kausalzusammenhänge, die wir in der Natur finden, hat er immer bestritten, und deshalb vor dem Missverständnis gewarnt, die Vorsehung als ein Verhängnis hinzunehmen, das die Verantwortung und den Willen zum Handeln lähmt. Sie ist kein Schicksal, das uns sozusagen „nackt“ begegnet. Gott bekleidet sie gewissermaßen mit dem Gewand kreatürlicher Ursachen, aber er bindet sich nicht an sie. Er steht ihnen nicht nur grundsätzlich, sondern faktisch frei gegenüber. Er inkorporiert sie sozusagen seinem eigenen Tun. Mit der Behauptung der unbedingten Freiheit Gottes gegenüber allen Zweitursachen hat Calvin den Trennungsstrich gegenüber dem philosophischen Konkurrenten der

292 Inst III, 20,2; OS IV, 298.5; 20,3, ebd. 299. 25 und 35; und 20,40, ebd. 350, 13. 293 Inst (1541) = französ. Übersetzung der Inst (1539) III (ed, J. Pannier, Paris 1961, deuxième Ed.), 135. 294 So erwa R.S. Wallace, Calvin’s Doctrine of the Christian Life (Anm. 149), 251–257; zum Problem auch E.-M. Faber (Anm. 131), 153f, sowie R. Bernhardt, Was heißt „Handeln Gotttes“?, Gütersloh 1999, 111–122.

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Das christliche Leben

Stoa besonders deutlich gezogen. Vorsehung ist zwar ein Prädikat des „allmächtigen“ Gottes. Das aber kann sie nur sein, solange diese Allmacht als eine tätige, im Handeln begriffene Macht verstanden wird, nicht aber als ein schlummerndes, dem Menschen beziehungslos oder bedrohlich gegenüber stehendes Vermögen. Calvin hat sie deshalb durch die Begriffe „gubernare“ und „moderari“ interpretiert.295 Was Providenz, verstanden als ein göttliches Tun, meint, ist deshalb die aktive Hinordnung aller Dinge und Ereignisse auf ein bestimmtes Ziel, bei dem wir Gott behaften und deshalb, wie der spätere Heidelberger Katechismus formuliert, „Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre […], Reichtum und Armut […] aus seiner väterlichen Hand“ entgegen nehmen dürfen.296 Denn aus der Schrift „wissen wir, dass alle Geschöpfe im Himmel und auf Erden ihm dienstbreit zum Gehorsam dastehen, damit er (Gott) sie zu dem Gebrauch ausrichtet, den er will.“297 Wer jedem Gebet die Bitte „Dein Wille geschehe!“ voranstellt, der unterwirft sich ihrem Gesetz. In diesem Sinne spricht Calvin von einer „ewigen Anordnung“ (aeterna ordinatio), welche die menschliche Freiheit keinen Augenblick einschränkt. Sie ist zugleich der strengste, theologisch eindeutigste Ausdruck für den Willen Gottes, an seiner Schöpfung unbedingt festzuhalten, das kreatürliche Geschehen dem Kommen eines Reiches zuzuordnen und dadurch „sein Licht und seine Wahrheit durch immer größeres Wachstum zu verherrlichen“.298 Hier haben Friedrich Schleiermacher und Karl Barth Calvin eindrucksvoll weitergeführt.299

5.7

Prädestination und Erwählung

Die Prädestination hat sich wie kein zweites Thema mit dem Namen Calvins verbunden, doch von Anfang an nicht zur Ehre, sondern auch als abschreckendes Beispiel eines Unternehmens, das Gott in die Nähe eines willkürlichen Tyrannen rücke und das noch im 20. Jahrhundert den Sozialwissenschaftler Max Weber von der „pathetischen Unmenschlichkeit“ dieser Lehre sprechen ließ. Umstritten war sie – wozu ihre frühen Gegner Jérôme Bolsec, Miguel Servet und Sebastian Castellio, nicht zuletzt aber auch Calvins hartnäckige Verteidigung das Meiste beigetragen haben – vom Augenblick ihres öffentlichen Bekanntwerdens an. Auch heute wird sie wegen ihrer Wirkungsgeschichte namentlich im englischen Puritanismus vornehmlich unter historischen Gesichtspunkten rezipiert. Das wiederum ist vor allem dem Einfluss der Arbeiten Alexander Schweizers und Ferdinand Chr. Baurs aus 295 296 297 298 299

Dazu ausführlich: Chr. Link, Schöpfung (HST 7/1), Gütersloh 1991, 157–168, bes. 161f 167f. Heidelberger Katechismus (1563), Frage 27, BSRK 689.33–36. Inst I, 16,7; OS III, 198. 11–13. Inst III, 20,42: OS IV, 353. 26f. F. Schleiermacher, Der Christliche Glaube (1830), § 47.1; K. Barth, KD III/3, 299ff.

Prädestination und Erwählung

dem 19. Jahrhundert zuzuschreiben, die von der „Centrallehre“ des Calvinismus gesprochen haben300 , sowie M. Webers Studie über den „Geist des Kapitalismus“.301 „Die neuere Forschung hat dies Bild inzwischen deutlich korrigiert.302 Andrerseits wissen wir heute – namentlich durch die Studien Robert A. Kingdons zu den unveröffentlichten Registern des Genfer Konsistoriums303 – dass die Zeitgenossen aller Stände sich im Pro und Contra an keinem zweiten theologischen Thema mit einer vergleichbaren Leidenschaft beteiligt haben. Wodurch ist Calvin das Thema der göttlichen Vorherbestimmung, der im Wortsinne Prädestination des menschlichen Tuns und seiner Folgen im Jüngsten Gericht gestellt worden? Es sind nicht nur katholische Gegner (etwa Albertus Pighius), die es ihm aufgenötigt haben, es ist auch im protestantischen Lager selbst aufgebrochen und hat ihn genötigt, zu den Konsequenzen seiner „steilen“ These Stellung zu nehmen und sie breiter auszubauen. Er muss sich mit Behauptungen von (zunächst katholischen) Theologen auseinandersetzen, die meinen, der Mensch könne kraft seiner Freiheit und Eigeninitiative durch sein eigenes Tun sein Heil befördern nach dem (nun auch von Protestanten) vielfach variierten Muster: Wenn wir weder Gutes noch Böses aus eigenem Antrieb tun können, sondern alles unfehlbar durch Gottes Ratschluss nach seinem Willen geschieht: Warum dann überhaupt noch etwas tun? Warum soll man die Übeltäter strafen, wenn sie notwendig sündigen und noch dazu Gott selbst es durch sie tut? Muss diese Lehre nicht alle Ordnung und Sittlichkeit untergraben und am Ende dazu führen, alle Religion zu beseitigen? Die zahlreichen, auch neueren Ansätze und Ausarbeitungen zur Prädestination sind sozusagen das reformierte Pendant zu Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“. Wir stehen mit diesen Fragen systematisch am Ende jener Begründungskette, die, wie ich früher erläutert habe, von der Heiligung über die Rechtfertigung bis zur göttlichen Prädestination als dem tiefsten und „letzten“ Grund unseres Heiles führt. Das ist, wenn man auf die Folge der einschlägigen Schriften Calvins blickt304 , allerdings nicht gleich am Anfang zu erkennen. Der früheste Kontext, der freilich in späteren Ausarbeitungen spürbar zurücktritt, ist die Ekklesiologie in

300 A. Schweizer, Die protestantischen Zentraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, 2 Bde. Zürich 1854–56; F.C. Baur, Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Stuttgart 1867 (3.Aufl.). Dazu: B. Gerrish, Tradition and the Modern World, Chicago 1978, 99–150. 301 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus II (1905), in: Ges. Aufs. Zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 1920, 84–206. 302 M. Geiger, Calvin, Calvinismus und Kapitalismus, in: Ders., Gottesreich und Menschenreich, FS E. Stähelin, Stuttgart 1969, 231–286; A. Biéler, La Pensée économique et sociale de Calvin, Genève 1961. 303 R.M. Kingdon, Popular Reactions to the Debate between Bolsec and Calvin, in: W. van ’t Spijker (Hg), Calvin. Erbe und Auftrag, Kampen 1991, 138–145. 304 Vgl. dazu die sorgfältige chronologische Darstellung von Wilhelm Neuser im Calvin Handbuch (hg. von H. Selderhuis), Tübingen 208, 307–317.

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Das christliche Leben

der ersten Institutio 1536. Hier erscheint die Kirche als das „Volk der Erwählten Gottes“, wobei die Erwählung „durch die ewige Vorhersehung Gottes“ geschieht, die „unwandelbar“ ist; doch dem steht der Satz gegenüber, dass es Menschen gibt, „die nicht zu den Gliedern der vorhandenen Kirche gehören“305 , ohne dass dies eigens erklärt wird. Calvin kennt nur eine Erwählung und warnt: „Wir sollen nicht töricht in die geheimeren Urteile Gottes eindringen“.306 Das ändert sich jedoch bereits im Katechismus von 1537/38. Hier steht als Ausgangspunkt ein Problem der pastoralen Praxis: Warum antworten manche Menschen auf die Predigt des Evangeliums mit ihrem Glauben, während andere davon völlig unberührt bleiben oder gar mit Ablehnung reagieren? Und noch in der letzten Ausgabe der Institutio (1559) schreibt Calvin: „Der Bund des Lebens wird nicht bei allen Menschen in gleicher Weise gepredigt und trifft auch bei den Predigthörern nicht auf dasselbe Echo.“307 Hier stehen wir, erklärt der Katechismus, vor dem „großen Geheimnis des göttlichen Ratschlusses“ und fährt fort: „Denn die Saat des Wortes Gottes schlägt nur in denen Wurzeln und trägt Frucht, die der Herr durch seine Erwählung […] zu Erben des himmlischen Reiches vorherbestimmt hat. Alle anderen sind schon vor Erschaffung der Welt verworfen (reprouvés) worden.“308 Diese in ihrer (gegenüber der Institutio 1536) eindeutigen Klarheit formulierte Auskunft findet sich indem Abschnitt „Von der Erwählung und Vorherbestimmung“ (De lelection et predestination) und beantwortet die dort offen gebliebene Frage im Sinne einer doppelten Prädestination, die in allen späteren Fassungen (auch der Institutio) dogmatisch lehrhaft ausgearbeitet wird. Der Umstand, dass der „göttliche Ratschluss“, wie schon Wilhelm Neuser betont hat, hier „lediglich als eine logische Schlussfolgerung“ erscheint, aber „keinen Schriftgrund“ hat, scheint Calvin nicht berührt zu haben. – In der zweiten Ausgabe der Institutio von 1539 liegt bereits die endgültige, abschließende Prädestinationslehre vor. Sie wird im VIII. Kapitel (De praedestinatione et providentia) entwickelt und geht nahezu wörtlich in die Endfassung der Institutio 1559 ein. Das Grundproblem jedoch, wie der „ewige Ratschluss“ Gottes (decretum aeternum) mit dem zeitlichen Erlösungswerk Christi in Übereinstimmung gebracht werden kann, ohne dass dieses an die zweite Stelle rückt, bleibt ungelöst. 5.7.1

Das Gespräch mit Paulus

Die wichtigsten theologischen Entscheidungen Calvins sind in und über seiner exegetischen Arbeit gefallen und zwar insbesondere über seinem Gespräch mit Pau305 306 307 308

Inst (1536) II, OS I, 86.87 und I, 89. Ebd. I, 90. Inst III, 21,1; OS IV, 368. 33–36. Instruction et confession (Anm. 138), CO 12, 46; CStA 1.1,161. 3–6.

Prädestination und Erwählung

lus, das in seinem 1540 in Straßburg erschienenen (und in zwei weiteren Auflagen [1551/56] überarbeiteten) Römerbriefkommentar seinen Niederschlag gefunden hat. Hier vor allem, nicht in seiner theoretischen Ausarbeitung müssen die von ihm in Anspruch genommenen Fundamente seiner lehrhaften Darstellung gesucht werden Ihre Leitbegriffe jedenfalls – Erwählung, Berufung und allen voran der göttliche Vorsatz – stammen von Paulus. Wie seine reformatorischen Mitstreiter interpretiert Calvin den Römerbrief konsequent unter dem Aspekt der für ihn entscheidenden Frage (quaestio principalis) der Rechtfertigung, gerade dort, wo es in den Kapiteln 9–11 um das für das Thema der Prädestination so wichtige Drama Israels geht. Denn hier stößt er erneut auf das im Katechismus (1537) angesprochene Problem: Wie ist es möglich, dass ausgerechnet „die ursprünglichen Hüter und Erben des Bundes“ sich gegen Christus stellen? Die paulinische Antwort, dass „nicht alle Israeliten sind, die aus Israel stammen (Röm 9,6), führt ihn zielsicher auf das Thema der Erwählung Gottes, „von dem notwendigerweise alles abhängt“ (35. 30)309 Folglich muss man zwischen der physisch-leiblichen und der geistlichen Nachkommenschaft unterscheiden. Wird das nicht wenige Verse später mit klaren Worten ausgesprochen: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe gehasst“ (Röm 9,13)? Das Thema der „Verwerfung“ und mithin die Problemstellung einer „doppelten“ Präedestination“ ist somit biblischen, ja alttestamentlichen Ursprungs. Und fiel nicht diese unbegreifliche Entscheidung für die Wahl des Jüngeren, noch ehe diese Zwillinge überhaupt geboren wurden, so dass man für diese Entscheidung keine Gründe in ihrer späteren Biographie namhaft machen kann, sie also tatsächlich „vor aller Zeit“ gefallen ist? Wenn aber vor aller Zeit, so jedenfalls nicht aufgrund eines menschlichen Verhaltens oder Urteils. Calvin schließt daraus (zweifellos im Sinne des Paulus), dass es neben der „allgemeinen“ Erwählung, kraft der das ganze Volk „Erbschaft und Eigentum Gottes“ (477.17) bleibt, auch eine zweite „verborgene“ Erwählung gibt, „die sich nur auf einen Teil beschränkt“ (477.32) und die in der Bibel nicht nur aus logischen Gründen (1. Sam 15,11 und 16,1!) das Thema der Verwerfung evoziert. Das theologische Interesse hat sich daher mit einer gewissen Folgerichtigkeit später ganz auf das Problem des Einzelnen konzentriert. Warum verfährt Gott so? Calvin setzt die Akzente fast schärfer noch als der Römerbrief selbst. Paulus wolle jede Berücksichtigung der Werke ausschließen; „Nichts können hier die Verdienste bewirken“ (485.14). Es kann auch keine Rede davon sein, als habe Gott sie vorhergesehen (483.7; 485.18).310 Das sind Spitzen-

309 Die in ( ) stehenden Ziffern beziehen sich auf Seiten- und Zeilenzahl des Römerbriefkommentars der Calvin-Studienausgabe CStA 5.1 und 5.2, die sehr viel leichter erreichbar ist als die Werkausgabe CO 49. 310 Eine erstaunliche Absage an seinen Gewährmann Augustin, bei dem es heißt: „praedestinasse hoc est praescisse, quod fuerit ipse [homo] facturus, De dono perseverantiae 18, MPL 45,1023, eine Absage zugleich an die katholische Tradition.

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Das christliche Leben

aussagen der Rechtfertigungslehre, und so fasst Calvin den Argumentationsgang in der Feststellung zusammen: Israel „hat den wahren Grund der Rechtfertigung verfehlt“ (521,14). Dieser Grund aber ist Gottes reine Gnade. Erwählung – daran hält Calvin auch in den scheinbar schroffsten Aussagen fest – ist Gnadenwahl. Systematisch wird die Rechtfertigung damit gleichsam zurückverlagert an den „Ort“ der Erwählung, und findet hier ihre sozusagen tiefste Begründung.311 Calvin präzisiert die Argumentation noch einmal, indem er mit Paulus (Röm 9,11) den Begriff des Vorsatzes (propositum) einführt, der eine tragende Rolle in allen einschlägigen Texten spielt. Er beschreibt der Sache nach den „ewigen Ratschluss“ Gottes (439.8), geht aber mit sehr viel formaleren Bestimmungen einher, in deren Zusammenhang der Begriff der Prädestination erst seine genaue Bedeutung – und Schärfe – erhält. Denn dieser Vorsatz hängt allein von Gottes Wohlgefallen (beneplacitum) ab, weil Gott „außer sich selbst über die, die er zu Kindern annehmen will, nichts im voraus weiß, sondern nur diejenigen kenntlich macht, die er dazu erwählen wollte“ (439.11). Calvin betont damit die völlige Unabhängigkeit Gottes von allen äußeren Gründen, insbesondere von allen menschlichen Gerechtigkeitserwägungen: „Weil Gottes Erbarmen frei ist […], kann es sich wenden, wohin es will“ (493.8). Im Blick auf diese Gott zustehende Freiheit heißt es nun: „Das Wort ‚vorherbestimmen’ bezieht sich auf Umstand [und Ausführung] dieses Vorsatzes“ (439.14), genauer noch: es „bezeichnet nicht die Erwählung (electio), sondern den Ratschluss (decretum) Gottes“ (441.7). Calvin unterscheidet also zwischen Prädestination und Erwählung. Dabei spitzt der im „Römerbrief “ eher seltene, in der Institutio eher dominante Begriff der Prädestination das Problem ganz auf die Entscheidung Gottes und das ihm zustehende Recht zu, hält aber anders als der nominalistisch denkende Luther jeden Gedanken an eine schrankenlose Allmacht von Gott fern. Dafür aber verfolgt er den juristischen Gedanken in seine ganze Konsequenz und riskiert deshalb – anders als Paulus – Aussagen auch über endgültig Verworfene. Prädestination, vom göttlichen Vorsatz her begriffen, der nicht unentschieden sein kann, ist in dieser Perspektive daher doppelte Prädestination (gemina praedestinatio), wie die berühmte Definition ausführt: Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung (decretum), vermöge deren er bei sich selbst beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung (conditio) erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis im Vorhinein zugeordnet (praeordinatur).312

311 Auch in der Institutio (1559) läuft der Gedankengang, wie gezeigt, auf dieses „letzte“ Fundament zu: von der Heiligung (III, 6–10) über die Rechtfertigung (III, 11–18) zur Erwählung III, 21–24). 312 Inst II, 21,5; OS IV, 374. 11–15.

Prädestination und Erwählung

Konkret heißt das: Gott hat dem Pharao (Röm 9,17) diese und keine andere Rolle (persona) auferlegt, und die muss er spielen, ob er will oder nicht (497.18). Hier zeigt sich (wie die zweite Institutio [1539] betont) zugleich eine auffallende Nähe zwischen Prädestination und Providenz.313 Die Verworfenen, heißt es, „stammen aus der verborgenen Quelle seiner (Gottes)Vorsehung“ (497.30). Mag Calvin in seiner Interpretation über das, was Paulus explizit gesagt hat, einen folgenreichen Schritt hinausgegangen sein, so scheint ihm das erläuternd herangezogene Töpfergleichnis (Röm 9,20–21) Recht zu geben, denn es zielt genau auf das Zentrum seiner Bemühungen: den Menschen eindringlich an seine Stellung vor Gott zu erinnern. Deshalb zitiert er das Gleichnis nicht in der Fassung von Jer 18, wo von „missratenen“ Gefäßen die Rede ist, aus denen ein neues und besseres Geschirr gemacht werden soll, sondern in der härteren Version von Jes 45,9, die auf die Freiheit des Töpfers zielt, der kraft „eigenen Rechtes“ (suo iure) über den Zweck seines Werkstückes entscheidet. Die Frage, warum es überhaupt „Gefäße zur Unehre“ gibt, hat Paulus weder gestellt noch beantwortet. Calvin folgt ihm darin, wenn er einschärft, dass wir den Grund der Erwählung, ihr Geheimnis, unangetastet lassen müssen, und doch sagt er noch etwas mehr: Denn wird selbst im Untergang dieser „Gefäße“ das Ausmaß der göttlichen Güte gegenüber den Erwählten, die er doch aus demselben Abgrund des Verderbens gerissen hat, nicht umso leuchtender bestätigt? (507.36) So sind die Menschen „Werkzeuge“ (instrumenta vel organa) in Gottes Hand, durch die er seinen Namen verherrlichen will (509,9). Dass er mit dieser luziden Argumentation die Logik von Röm 9, 11–12 gleichsam auf den Punkt bringt und sich „durchaus in den von Paulus und dann insbesondere in den vom Autor des Epheserbriefes vorgegebenen Bahnen“ bewegt314 , lässt sich wohl kaum bestreiten. 5.7.2

Erwählung und Geschichte

Von Paulus hat Calvin allerdings auch ein schwerwiegendes Problem, ich möchte fast sagen: das Basisproblem seiner Lehre geerbt. Denn im Alten Testament bricht das Thema der Erwählung über der Klärung des eignen geschichtlichen Ortes und dessen theologischer Deutung auf (Dtn 7, 6–8). Es begründet ihre unverbrüchliche Geltung mit Erfahrungen Israels und seiner Repräsentanten. Nur am Ort solcher Erfahrung ist eine Verständigung über das Problem der Erwählung möglich. Abraham bekommt nicht etwa zu wissen, er sei „erwählt“. Er sieht sich vor den Auftrag

313 Dazu: Chr. Link, Calvins Erwählungslehre zwischen Providenz und Christologie, in: CalvinStudien, Neukirchen 2009, 55–74. 314 A. Lindemann, „Erwählt vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4). Zum Verständnis der Prädestination, in: M. Beintker (Hg), Gottes freie Gnade. Studien zur Lehre von der Erwählung, Wuppertal 2004 (41–67), 67.

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gestellt: „Ziehe hinweg aus deinem Vaterland […] in ein Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Dieser Auftrag macht ihn zum Wanderer, zum Fremdling, bereichert und belastet ihn mit einer Fülle von Erfahrungen, die er ohne die Eröffnung eines solchen Weges nie gemacht hätte. Hier erst trifft die theologische Reflexion auf die Spur Gottes, die mitten durch die Lebensgeschichte von Menschen hindurch führt. Es ist die erfahrbare Beziehung zwischen ihnen und diesem Gott, die das Nachdenken auf den Begriff der Erwählung geführt hat; es ist in Sonderheit die Erfahrung, dass kein Mensch von sich aus diese Beziehung begründen, geschweige denn für ihre Beständigkeit und Dauer einstehen kann. Noch bei Calvin hat die Erwählung ihren primären lebensgeschichtlichen Ort in der verfolgten, kämpfenden Gemeinde der Hugenotten, die wissen soll, dass sie Gottes Eigentum ist.315 Diese Gewissheit ist der Schlüssel, der „Israel“ befähigte, das Gefälle seiner eigenen Geschichte bis hin zur Katastrophe des Exils verstehbar zu machen. Anders gesagt: Es geht bei der Erwählung um die Frage: Wie verhält sich die Freiheit der Zuwendung Gottes zu den Entscheidungen der irdisch-menschlichen Geschichte? Diese Frage aber und die sie leitende Perspektive geht verloren, sie wird verfehlt, wenn die Erwählung unter die „Deutungshoheit“ der Rechtfertigungslehre gerät. Dieser folgenreiche hermeneutische Schritt geht auf Paulus zurück. Er wird von Augustin und Calvin übernommen und verstärkt. Das Argument, dass Gottes Gerechtigkeit sich niemals von menschlichem Tun oder Lassen abhängig macht, wird nun zum neu entdeckten Schlüssel, der das Geheimnis der Erwählung verstehbar machen soll. Daher die polemische Zuspitzung: „So erbarmt er sich nun, wessen er will, verstockt aber, wen er will“ (Röm 8,19). Da jedoch kein Mensch über diesen Schlüssel verfügt, wird die Erwählung nun zu einem, wie es jetzt scheinen muss, willkürlichen Akt innergöttlicher Entscheidung, deren Unabhängigkeit man gar nicht stärker betonen kann als durch ihre Verlagerung vor den Beginn innerzeitlichmenschlicher Geschichte, wie Paulus an Jakob und Esau, dem locus classicus der späteren (eben auch bei Calvin dominanten) Auslegung, erläutert (Röm 9,11–13). Die ursprüngliche Klammer zwischen Erwählung und Geschichte löst sich auf. Wer zum Glauben kommt und wer nicht, entscheidet Gott nun ganz unabhängig von den geschichtlichen Umständen. Aus der Erwählung wird jetzt (erst) im Wortsinne die Prädestination. Calvin macht zudem noch ein rationales Argument geltend: „Die Erwählung selbst hätte ohne die ihr gegenüber stehende Verwerfung kleinen Bestand. Es heißt doch, dass Gott die aussondert, die er zum Heil annimmt.; da wäre es doch mehr als ungereimt, […] wenn die andern durch Zufall erlangten, was

315 Vgl. Inst III, 21,1; OS IV, 369.35–370.3. Zum Problem: Th. Naumann, „Jakob habe ich geliebt, Esau habe ich gehasst“. Alttestamentliche Erwägungen zu den paulinischen Belegstellen in Röm 9, 6–13, in: M. Beintker Anm. 314), bes. 35f.

Prädestination und Erwählung

die Erwählung nur wenigen Menschen zuteil werden lässt. Die also Gott übergeht, die verwirft er.“316 Paulus beruft sich für seine polemische Zuspitzung (Röm9,18) auf einen Prophetenspruch Maleachis (Mal 1,2f.). Der jedoch wusste für den (nach Röm 9,13 unbegreiflichen!) Hass Gottes auf Esau Gründe anzugeben, und zwar innergeschichtliche Gründe, denn die beiden Brüder stehen hier für den historischen Konflikt zweier Völker, Israel und Edom. Der Prophet erinnert an die Bosheit, mit der Edom gegen Gottes Liebling Israel vorgegangen ist. Im Hintergrund seines Ausspruches stehen traumatische Erfahrungen Judas mit Edom in der Exilszeit.317 Hier ist die Erwählung Israels (noch) in die Geschichte eingebunden. 5.7.3

Zwei verschiedene Lehrformen

Calvin hat die Schwierigkeiten, die die These einer doppelten Prädestination mit sich bringt, sehr wohl gesehen und sie in zwei unterschiedlichen Formen zu bearbeiten versucht, einmal im Genus der Lehre (Institutio), ein anderes Mal im Genus der Predigt. Dem entsprechen zwei unterschiedliche Perspektiven, die schon in der Tradition dieses Lehrstückes nachweisbar sind. Joh. Damascenus und Petrus Lombardus nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach dem erwählenden Gott, Augustin bei der Frage nach dem erwählten Menschen. Wird dort die Freiheit Gottes zum theologischen Leitbegriff (dieser Linie folgt die Institutio) so hier seine Gnade (auf dieser Linie bewegt sich die Predigt). Man darf von zwei verschiedenen Ansätzen, mit Wilhelm Neuser318 sogar von zwei verschiedenen Konzeptionen sprechen. (1) Erwählung als Prädestination

Längst bevor Calvin zu schreiben begonnen hat, sind die Schwierigkeiten dieses Weges in Luthers Streitschrift gegen Erasmus sichtbar geworden319 , denn der oben skizzierte Rückzug aus der Geschichte ist auch das Problem seines Entwurfs – und zwar in einer noch grundsätzlicheren Weise. Luther unterscheidet kategorial zwischen dem gepredigten (also dem in der Geschichte manifest gewordenen) und dem verborgenen (jenseits und vor aller menschlichen Geschichte wirksam gewordenen) Gott und schreibt die Erwählung dem letzteren zu, d. h. seinem „ewigen“ Ratschluss, der auch der Geschichte Jesu Christi voraus liegt. Hier aber 316 Inst III, 23,1; OS IV, 394. 2–6. 317 Zum historischen Hintergrund: M. Weippert, Art. Edom und Israel, TRE 9, 1982, 291–299. 318 W. Neuser, Calvin als Prediger. Seine Erklärung der Prädestination in der Predigt von 1551 und in der Institutio von 1559, in: M. Beintker, a.a.O. (Anm. 314), 69–91. 319 M. Luther, De servo arbitrio (dt: Vom unfreien Willen) 1525, WA 18, 600ff.

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Das christliche Leben

bewegt sich das Denken aus dem Bereich heraus, in dem Gott sich „offenbart“, d. h. sich fassbar gemacht hat und stößt, wie Luther wohl weiß, auf eine absolute theologische Schranke. Wo es Auskunft bekommen möchte. „da hat sich Gott gar nicht definiert“320 , da gibt es folglich auch nichts zu verkündigen. Da trifft man nur auf die einsame Majestät eines „vor“ und „über“ der Welt thronenden (und nach seinem verborgenen Ratschluss entscheidenden Gottes). Sein Wille, für den es weder Ursache noch Grund gibt, ist „die Regel für alles“321 Dieser Satz findet sich fast wörtlich auch in Inst III, 23,2: „Gottes Wille ist doch selbst die Ursache (causa!) von allem, was ist.“322 Man darf davon ausgehen, dass Calvin Luthers Schrift gekannt hat. Jedenfalls hat er sich denselben Problemen zugewandt und ist zu ähnlichen Lösungen gekommen. Obwohl die Erwählungslehre schon durch ihren Ort am Ende des III. Buches der Institutio: ‚Wie wir die Gnade Christi ergreifen sollen’ als ein Kapitel der Gnadenlehre konzipiert war, lässt sie sich mit der Tradition ihr Thema durch Eph 1,4 stellen: „Gott hat uns in Christus vor Grundlegung der Welt erwählt“. Aus diesem Satz zieht Calvin drei Schlussfolgerungen, die für das Profil seiner Lehre maßgeblich sind: 1. Hat uns Gott in Christus erwählt, so wird jeder einzelne „außerhalb seiner selbst (extra se)“, d. h. ohne Rücksicht auf irgendwelche Verdienste, erwählt. Da aber nicht alle Menschen Glieder Christi sind, werden zugleich „die einen aus den anderen ausgesondert“323 Erwählung heißt Auswahl und somit Scheidung. 2. Da wir aber erwählt werden, „um heilig und untadelig zu sein“ (Eph 1,4b), lässt sich diese Auswahl nicht mit Gottes Vorherwissen begründen, gibt Paulus doch überdeutlich zu verstehen: „Was nur immer an Tugenden sichtbar werden kann, ist Folge und Wirkung der Erwählung.“324 3. Kann aber von einem Vorherwissen keine Rede sein, dann zählt nur das „Wohlgefallen“, d. h. der „Vorsatz“ des göttlichen Willens, und das bedeutet „genau soviel, als wenn da stünde: (Gott) hat außer sich selbst nichts in Betracht gezogen, das er bei seiner Entscheidung berücksichtigt hätte“.325 Seine Entscheidung fällt ohne Rücksicht auf innerzeitliche Bedingungen und Gründe. Sie ist ein vorzeitliches, eben „ewiges“ Dekret. Die Prädestinationsschrift (1552) folgert: „Wir sehen, dass Gott bei sich selbst anfängt, wenn er uns seiner Erwählung

320 Ebd. 715. Der berühmte Satz lautet: „Neque enim tum verbo suo definivit sese, sed liberum sese reservavit super omnia.“ 321 Ebd. 712: „regula omnium“. 322 Inst III, 23,2; OS IV, 395.34f. und 396. 5. 323 Inst III, 22,2; OS IV, 381. 28. 324 Ebd. OS IV, 381.33 Vgl. auch Inst III, 22,8 OS IV, 388.16–389.4: Hier beruft sich Calvin ausdrücklich auf Augustin, Retractationes 1 23,2 (MPL 32,621f) sowie: In Joh. Ev. tractatum 86,2 (MPL 35, 1851). 325 Inst III, 22,3; OS IV, 382.26, ein nahezu wörtliches Zitat aus dem Röm. Kommentar CStA 5.2, 439.12.

Prädestination und Erwählung

würdigt, wir aber sollen nach seinem Willen bei Christus anfangen, um zu wissen, dass wir zu seinem heiligen Eigentum zählen.“326 Trotz des so stark betonten Hinweises auf Christus, fällt das Schwergewicht der Institutio zuletzt auf die verborgene Wahl Gottes (electio Patris), mit der Calvin sozusagen hinter die Geschichte Christi zurückgreift, d. h. auf eine Entscheidung, die sich jeder Erkenntnis aus Offenbarung und Erfahrung und darum jedem menschlichen Verstehen entzieht. Hier hat man nicht erst seit heute das zentrale Problem seines Entwurfes gesehen.327 Lässt sich unter diesen Voraussetzungen die Prädestination überhaupt mit der Christologie verbinden? (2) Erwählung als Gnade

Calvin hat einen solchen Versuch unternommen und zwar in jener bedeutsamen Predigt vom 16. Oktober 1551, in welcher er vor dem Konvent der Genfer Pastoren mit einer abschließenden Klarstellung seiner eigenen Position die heftige Kontroverse mit Jerôme Bolsec zu beenden suchte.328 Er hat sich zeitlebens als Schüler Augustins verstanden und legte Wert darauf, sich in seiner Fassung der Erwählungslehre „keinen Fingerbreit“ von dessen Entwurf zu unterscheiden. Dort ist denn auch die „christologische“ Perspektive entwickelt worden, die den Ton der meisten seiner Predigten und so auch das Gefälle der Prädestinationsschrift (1552) bestimmt. Dort hat das später von ihm so oft zitierte Wort Augustins von Christus als dem „Spiegel der Erwählung“ seinen ursprünglichen Ort. So kann er – in einer offenkundigen Spannung zum eben skizzierten Ansatz – in aller Form erklären: Ich weise die Menschen durchaus nicht an Gottes geheime Erwählung (arcana electio) , damit sie von dorther ihr Heil erwarten sollen, vielmehr heiße ich sie direkt zu Christus zu gehen, in dem uns das Heil vor Augen gestellt ist […]. Auf diesen Spiegel soll sich der Blick des Glaubens heften und nicht dorthin vorzudringen verlangen, wohin ihm kein Zugang offen steht […] Denn wer den Zugang nicht auf dem gebahnten Weg des Glaubens findet, dem wird Gottes Erwählung nur ein tödliches Labyrinth sein.329 .

Die systematische Entscheidung, die „ewige Erwählung Gottes“ mit dem zeitlichen Erlösungswerk Christi zu verbinden und umgekehrt die Bedeutung der Erlösung

326 De aeterna Dei praedestinatione, CO 8, 319. 327 K. Barth, KD II/2, bes. 68–72 und 145; O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen 1962, 474. 328 Congregation […] en laquelle a esté traittée la mattiere de l’election eternelle de Dieu, CO 8,93–119; « Von der ewigen Erwählung Gottes » CStA 4, 93–149. Auf die Analyse von W. Neuser sei ausdrücklich hingewiesen. 329 De aeterna Dei Praedestinatione, CO 8, 306f.

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Das christliche Leben

durch die Erwählung zu erhellen, ist auf jener Congregation in der Predigt gefallen und hat von dort Eingang in den Schlussabschnitt des dritten Buches der Institutio gefunden.330 Man erkennt das veränderte Gefälle, wenn man auf die Akzente der vielen hier ausgelegten Texte achtet. Was er zu Eph 1,4 schreibt, liest man der Sache nach auch in Inst III,22,2, aber es gibt bemerkenswerte Verschiebungen. So fällt in der Predigt auf die Vorzeitigkeit der Erwählung („vor Grundlegung der Welt“) kein eigenes Gewicht. Aus ihr wird kein „decretum aeternum“ abgeleitet, und wo der „ewige Ratschluss“ einmal ausdrücklich erwähnt wird, (111.39)331 da wird er auf das Erbe des bleibenden Abraham-Bundes bezogen, also gewissermaßen auf die Zukunft hin ausgelegt (111,25ff. vgl. 107.38).Damit ist das kausale Denken verlassen. An die Stelle der Frage nach der Ursache (causa) der Erwählung tritt – das ist eine der markantesten Differenzen gegenüber der Institutio – das eschatologische Argument, das den Blick auf die Zukunft Gottes lenkt: In der letzten Offenbarung, wenn das „Buch des Lebens“ aufgetan wird, werden wir wissen, was uns heute noch verborgen ist (121,12 und 43ff.; vgl. 135,21f.). Das theologische Gewicht von Eph 1,4f. verlagert sich damit ganz auf die Gnade Gottes. Wichtig ist jetzt nicht die logische Erwägung, dass dieser Gnade die Erwählung zeitlich und sachlich vorausgeht, (Inst III, 21.1), sondern die soteriologische Gewissheit, dass sie selbst Inbegriff der Erwählung ist. Die Gnade muss „bekannt“ gemacht (95,27; 127.37), das Zeugnis Joh 10,29 muss gehört (und angenommen) werden (107.29). Calvin bindet Verkündigung und Erwählung aneinander. Das entspricht dem Weg des Glaubens. Wo aber von der „Fülle der Gnade“ geredet wird (95.27–30, 129.18–21), da braucht man über die Verwerfung kein Wort zu verlieren. Dieser Ausgangspunk lässt Calvin mühelos den Übergang zum christologischen Argument finden. (97.27) Denn Glaube ist Glaube an Jesus Christus. Mit dem Glauben beginnen, heißt auch in der Frage der Prädestination mit Christus beginnen. Sie ist hier erst konsequent als Gnadenwahl (election gratuite) gedacht. Diese Ausrichtung hat Konsequenzen für das Problem der Verwerfung. Anders als in der Institutio wird eine doppelte Prädestination zum Leben und zum Tod in dieser Schrift nicht gelehrt. Das dunkle Rätsel, warum am Ende nicht alle gerettet werden, beantwortet Calvin auf den Spuren Augustins332 mit dem Hinweis auf unsere geschöpfliche Situation. Der Blick auf die Nicht-Erwählten soll uns zu dem Eingeständnis führen, dass wir von Rechts wegen, kraft unserer Natur, alle auf die Seite der von Gott Geschiedenen gehören (137.3–8). Ein symmetrisches Gleichgewicht

330 Inst III, 24,5: „Suchen wir Gottes väterliche Freundlichkeit (clementia) […], so müssen wir zunächst unsere Augen auf Christus richten […] Christus ist der Spiegel, in dem wir unsere Erwählung anschauen sollen und es ohne Täuschung vermögen“ (OS IV, 415.27 und 426.3). 331 Die in ( ) Ziffern beziehen sich auf Seiten und Zeilenzahl der genannten Predigt in Band 4 der CStA. 332 Augustin, De div. quaest. ad Simplicianum I,2,16 und17; MPL 40, 120.

Prädestination und Erwählung

zwischen Erwählung und Verwerfung gibt es hier nicht. Die Verwerfung ist der gleichsam passive Vorgang, dass Gott bei der Erwählung einige Menschen übergeht (141.13). Umgekehrt wird gerade so der Nachdruck verständlich, mit dem Calvin unsere Heiligung als Ziel der Erwählung herausstellt (125.5f.) 5.7.4

Das Ziel der Erwählung

Calvins Prädestinationslehre blickt nicht nur zurück auf den Grund der „ewigen“ Erwählung, sie blickt mit gleicher Intensität voraus auf das Ziel, das den von Gott „Vorherbestimmten“ nach Röm 8,30 gesteckt ist, – eine zu Unrecht lange vergessene Erkenntnis, die in ihrer Tragweite erst Jürgen Moltmann wieder ans Licht und zu Ehren gebracht hat.333 . Es ist die Gabe der Beharrlichkeit, des Standhaltens, der Perseveranz, die Calvin mit der Prädestination verbindet. Sie ist es, die die Hugenotten in der Zeit ihrer politischen Entmachtung nach dem Fall ihrer letzten Bastion La Rochelle (1628) aufrecht erhalten hat. Die Perseveranz, der Herkunft nach ein augustinisches Thema334 , ist die andere Seite der Prädestination und entspricht ihrer christologischer Verankerung. Wie die Geschichte Jesu eine ewige praedestinatianische Voraussetzung hat und als solche nach Calvin zugleich die Erfüllung der Verheißungsgeschichte Israels ist, so hat der Glaube der Christen sein Fundament in der ewigen Erwählung Gottes und richtet sich zugleich über die Grenzen aller uns möglichen Erfahrung hinaus auf die Vollendung im zukünftigen Leben. Dieser fundamentale Zusammenhang, die „eigentliche kerygmatische Spitze seiner Prädestinationslehre“ (Moltmann), macht die zu wenig beachtete eschatologische Ausrichtung der Erwählung offenkundig. Neu ist darum einmal der Nachdruck, mit dem Calvin die praktische, mehr dem Leben als dem Tod der Erwählten zugewandte Seite dieser Gewissheit betont: Sie werden in Anfechtungen und Leiden bestehen. Inwiefern? Zwischen die Erwählung und die Gabe der Beharrlichkeit hat Calvin ein bedeutsames drittes Glied eingefügt, die Berufung. In ihr und durch sie soll sich der göttliche Vorsatz realisieren, dass Gott „die Seinen dazu eingesetzt hat, das Kreuz zu tragen“. Die ihnen zugesagte Beharrlichkeit ist das Unterpfand dessen, dass, „Mühsal und Schande, die über sie hereinbrechen wollen, ihnen nichts anhaben können“.335 Er zitiert Augustin: Wer wirklich berufen ist, „kann nicht bloß zu mir kommen er kommt auch“.336

333 J. Moltmann, Prädestination und Perseveranz, Neukirchen 1961 bes. 31–51. 334 Augustin, De dono perseverantiae 1,1; MSL 45,993ff; auch De correptione et gratia 9,23; MSL 44,930. 335 Kom. zu Röm 8,30; CStA 5.2, 441. 35f. 336 Augustin, De gratia Christi et de peccato originali I, 14.15 (MSL 44, 368), zit in: Inst III,24,1; OS IV, 411.1.

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Das christliche Leben

Neu ist darum auch der Nachdruck, mit dem Calvin mit Röm 8,38f. und Joh 6,37 auf der Unzerstörbarkeit des durch die Berufung einmal erweckten Glaubens besteht, der sich über die Zeiträume dieses Lebens hinweg nach der künftigen Unsterblichkeit ausstreckt. Denn Beharrlichkeit ist eine Gabe Gottes und deshalb „Beständigkeit bis zum Ende“ (perseverantia finalis). Sie ist Bewahrung in der Zeit, wie schon die erste Institutio (1536) unterstreicht – mit dem bemerkenswerten Zusatz: „Seit Anbeginn der Welt ist keine Zeit gewesen, zu der der Herr nicht seine Kirche auf Erden gehabt hätte, und so wird es , wie er verheißen hat, bis zum Weltende auch keine Zeit geben, in der er sie nicht mehr haben wird.“337 Es fällt auf, dass Calvin in der Erläuterung dieser Spitzenaussagen fast gar nicht mehr mit dem ewigen Dekret argumentiert, sondern – wie in der Predigt –fast ausschließlich mit dem Verweis auf Christus, auf das Wort Gottes und auf seine Verheißungen. Der christologische Erkenntnisgrund ist hier tatsächlich als Realgrund zur Geltung gebracht. In der Zeit gehen die Glaubenden dem zukünftigen Leben entgegen; in der Zeit erfahren sie kraft der Wirksamkeit des Geistes das donum perseverantiae, das sie das Ziel ihres Wegen nicht aus den Augen verlieren lässt, das donum perseverantiae. Wer die so verstandene Prädestination von ihrem geschichtlichen Gang und Vollzug der Erwählung abtrennen wollte, hätte sie um ihre Pointe gebracht. Ist damit das letzte Wort zur Sache gesagt? Wilhelm Niesel meinte Calvin ganz auf dieser Linie verstehen zu dürfen. Die Spitze seiner Darstellungen sah er in dem Satz ausgesprochen, dass Christus „sich selbst zum Urheber der Erwählung (autor electionis) macht“.338 Der Schatten der doppelten Prädestination fällt indessen zuletzt auch auf die Verheißung der Perseveranz, von der Calvin kategorisch erklärt, dass sie „nicht allen zuteil wird“.339 Und hat er damit das letzte Wort der öffentlichen Verkündigung des matthäischen Jesus (Mt 25,46) nicht auf seiner Seite? Eberhard Busch hat unlängst auf die tatsächlich spätesten Äußerungen Calvins zur Sache hingewiesen, die sich diesem Problem mit großer Nachdenklichkeit stellen. Wie kann Gott, so lautet die Frage in der „Auslegung des Propheten Ezechiel“, beides wollen, die Seligkeit aller (Ez 18,23) und die Scheidung der Erwählten von den Verworfenen?340 Und wie soll man gleichwohl daran festhalten, dass von einer Zwiespältigkeit Gottes keine Rede sein kann? In diese für unseren Verstand unlösbaren Fragen hat sich ihm das Problem der Prädestination zusammengezogen, und man spürt es diesen letzten, vor seinem Tod gehaltenen Vorlesungen ab, dass er, und dass wohl niemand mit diesem Widerspruch fertig werden kann. Das Ziel der prophetischen Verkündigung ist 337 338 339 340

Inst (1536) II; OS I, 87. W. Niesel, Die Theologie Calvins, 1938,166 im Blick auf Inst III,22,7; OS IV, 387.28 und 36f. Inst III, 24,6; OS IV, 417.23. CO 40, 446; dazu: E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit, Zürich 2005, 75.

Prädestination und Erwählung

eindeutig: „Alle sollen, gerettet werden […] alle sollen ohne Unterschied zum Heil berufen werden“.341 Gott hat keine Freude am Tod dessen, der stirbt – aber: „Wollen wir in seinen geheimen Ratschluss eindringen, so liegt die Sache (ratio) anders.“ Deshalb müssen wir uns damit begnügen, „die Dinge jetzt bloß wie in einem Spiegel und Rätselwort (1Kor 13,12) zu sehen“. Es spricht für Calvin, dass er der Versuchung widerstanden hat, hier eine Lösung, einen gedanklichen, rational einsichtigen Ausgleich zu suchen.

341 Ebd. 446.

307

III.

Gestalt und Auftrag der Kirche

6.

Die Reform der Kirchenverfassung

Einleitung Die sichtbarste und tiefgreifendste Folge des Reformationszeitalters ist die Spaltung der westlichen Kirche, die nicht mehr wie frühere Trennungen etwa der Waldenser oder Hussiten von Rom ein lokal begrenztes Ereignis war, sondern zu einem bis heute spürbaren Bruch geführt hat. Die Kirche wurde in den Fundamenten ihres Glaubens und ihrer Ordnung, ihres Lebens und ihres Denkens auseinander gerissen. Calvin hat unter dieser Spaltung, wie seine Auseinandersetzung mit dem Kurienkardinal Sadolet belegt1 , mehr als andere Reformatoren gelitten. Die äußere Tatsache, dass ihm der vierte und letzte Teil der Institutio (1559) – er hat die Gestalt und Ordnung der Kirche zum Thema – nahezu doppelt so lang geraten ist, wie die drei ersten Teile zusammen genommen, zeigt, wie intensiv er an dieser Front gearbeitet hat. Kein zweites Problemfeld hat ihn zu so weit ausholenden Abgrenzungen und zu ähnlich scharfer Polemik gegenüber Rom genötigt. Denn die wichtigsten Entscheidungen des Zeitalters sind – und das nicht nur aus seiner Perspektive – dort gefallen, wo es um das Verständnis der Kirche, ihre innere und äußere Gestaltung geht, ein Thema, das die Ökumene noch heute intensiv beschäftigt.2 Die Notwendigkeit, unter der sie sich gestellt sah, spricht aus seiner Anklage: „Das Licht der göttlichen Wahrheit war erloschen, Gottes Wort begraben, die Bedeutung Christi tief vergessen und das geistliche Amt gänzlich verkehrt.“3 Der Einfluss Augustins auf die fälligen ekklesiologischen Entscheidungen Calvins ist dabei nicht zu übersehen. Er kommt schon in dem programmatischen Satz des ersten Abschnitts zum Ausdruck: „Wer Gott zum Vater hat, muss auch die Kirche zur Mutter haben“4 . 1 Brief an Sadoleto (1539), CO 5, 409ff, bes. 415; CStA 1.2, 425.9f: „Wenn das wahr wäre, [dass wir Christi Braut zerrissen hätten], gälten wir mit Recht Euch und der ganzen Welt für verloren.“ In diesem Zusammenhang ist auch das Mahnschreiben an Karl V („Supplex exhortatio ad Caesarem“ [1543], CO 6, 435–534) wichtig, in dem Calvin vom Kaiser verlangt, mit den Fürsten die Reform der Kirche in die Hand zu nehmen. 2 Vgl. hierzu: G.W. Locher, Calvin als Anwalt der Ökumene, Zollikon 1960¸ R. Stauffer, Calvin et la catholicité évangélique, in: Revue de Théologie et de philosophie 115, 1983 (135–156); L. Vischer, Pia Conspiratio. Calvin on the unity of Christ’s Church (John Knox Series 12) Genf 2000, sowie A. Birmelé, Calvins Kirchenverständnis und die heutigen ökumenischen Herausforderungen, in: M. Weinrich/U. Moeller (Hg), Calvin heute, Neukirchen 2009,103–118). 3 Brief an Sadolet (Anm 1), CStA 1.2, 393. 32ff. 4 Inst IV, 1,1; OS V,1,7. und 2.1f; vgl. auch IV,1, 4. – Augustin, In Ps 88 sermo 2,14; MSL 36, 1140. Man führt den Satz auf Cyprian zurück: De catholicae ecclesiae unitate c. 6: CSEL 3 I, 214. 23ff.

312

Die Reform der Kirchenverfassung

Keiner der Reformatoren wollte einen neuen Kirchenbegriff entwickeln oder gar eine neue Kirche gründen. Sie wollten die Kirche des Apostolikums und der Urchristenheit, die ecclesia catholica, wiederherstellen und haben sich nur angesichts des erbitterten Widerstands der Kurie, also gezwungenermaßen, zur Trennung von Rom bereitgefunden. Viele haben das damals noch als ein Provisorium empfunden und ihre Hoffnung auf ein allgemeines Konzil gesetzt, das ein definitives Auseinanderbrechen vielleicht hätte verhindern können. Das Tridentinum hat diesen Hoffnungen ein Ende gesetzt, was ja durchaus im Sinne Calvins war, der nicht davon ausging, dass sich nun alle Kirchen nach den Genfer Entscheidungen richten müssten. Die Fronten waren verhärtet, als er das Genfer Reformwerk begann; sie waren vollends festgefahren, als er die letzte Fassung der Institutio redigierte. Will man die besondere Bedeutung Calvins herausarbeiten, so wird man zweierlei unterscheiden müssen: Eines ist das Genfer Kirchenmodell. Es in stärkerem Maße als die Entwürfe anderer Reformatoren von zeitgeschichtlichen Bedingungen abhängig und hat deshalb in der reformierten Welt nur begrenzt Schule gemacht: Nach seiner Rückkehr aus Straßburg (1541) – die Reformation war in Genf durchaus noch nicht gefestigt – sah sich Calvin daher genötigt, die Kirche neu zu organisieren, was ohne Mitwirkung des Genfer Magistrats – und deshalb ohne Kompromisse – nicht möglich gewesen wäre. Faktisch lief diese Aufgabe denn auch darauf hinaus, die kirchliche Autonomie in einem „zähen Kleinkrieg […] gegen den dominierenden Einfluss der Räte zu verteidigen.“5 Dennoch ist es zu einer Verschmelzung von kirchlicher Organisation und staatlicher Bevormundung nie gekommen. Genf ist entgegen einem verbreiteten Cliché zu keiner Zeit eine Theokratie gewesen. Die auf Empfehlung Calvins ausgearbeitete Kirchenordnung (Ordonnances Ecclésiastiques, 1541) hat jedenfalls der Kirche „vor allem anderen“ die Existenz einer separaten Sphäre gesichert und damit die Absicht ihres Urhebers erfüllt, „die Lehre des heiligen Evangeliums unseres Herrn in ihrer Reinheit zu bewahren und [sie selbst] durch gute Leitung und Ordnung in gebührender Weise zu erhalten“.6 Ein anderes ist die theologische Begründung der Ekklesiologie. Hier hat Calvin die Fundamente tiefer gelegt als seine Vorgänger und Mitstreiter. Der bundestheologischen Verortung seiner Theologie entsprechend hat er als Grund der Kirche Gottes Erwählung geltend gemacht, von der allein her sie sachgemäß verstanden werden könne und solle, und das gibt ihr von vornherein einen funktionalen Zug. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Gott will sie gebrauchen, um – so der Innenaspekt – seine Auserwählten in einer um Christus zentrierten Gemeinschaft zu sammeln. Und das geschieht – so der Außenaspekt – in der Form der Einladung in diese

5 B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, dt. Stuttgart 1998, 194. 6 Ordonnance ecclésiastiques (1541) 1561, CO 10/1, 92; CStA 2, 239. 10–12.

Die Kirche als Gemeinschaft der Erwählten

Gemeinschaft, in der er die Seinen bis zum Ende bewahren will. Mit dem Berner Reformationsmandat (1528) verbindet Calvin die Verpflichtung auf das Wort: „Die heilige christliche Kirche […] ist aus dem Wort Gottes geboren; in demselben bleibt sie und hört nicht auf die Stimme eines Fremden.“7 Analog formuliert er ihr „bleibendes Kennzeichen“: „Wer aus der Wahrheit ist, spricht unser Herr, der höret meine Stimme […]. Die Kirche ist das Reich Christi. Christus aber regiert allein durch sein Wort.“8

6.1

Die Kirche als Gemeinschaft der Erwählten

Schon in der ersten Fassung der Institutio (1536) fragt Calvin, was der in Christus gelegte Grund sei, auf den sich Paulus als Fundament der der christlichen Gemeinde und ihrer Lehre beruft (1Kor 3,11): „Etwa dass Christus der Anfang unseres Heils geworden ist und uns den Weg eröffnet hat, indem er durch sein Verdienst uns die Gelegenheit verschafft hat, eigene Verdienste zu erwerben?“ Die Antwort lautet: Keineswegs, sondern dass wir „in ihm vor Grundlegung der Welt erwählt sind und zwar ohne unser Verdienst nach dem Vorsatz des göttlichen Wohlgefallens“.9 Erst mit der Erwählung stehen wir an dem Fundament, auf dem uns zur Gewissheit wird, dass unser Heil sich „auf so gewisse und feste Stützen gründet, dass, wenn auch das ganze Weltgetriebe ins Wanken geriete, es selbst doch nicht fallen und zusammenbrechen könnte“.10 Hier stehen wir auf dem Boden der Kirche. Calvin setzt auf der Linie Luthers bei dem Artikel von der „sancta ecclesia catholica“, der „communio sanctorum“ ein, greift nun aber in einer für ihn charakteristischen Wendung weit hinter ihre neutestamentliche Beschreibung zurück: Sie umfasst die „Gesamtzahl der Erwählten, seien es Engel oder Menschen, seien es Tote oder heute noch Lebende, in welchen Ländern sie auch leben und unter welche Völker sie zerstreut sein mögen: So gibt es [nur] eine Kirche bzw. Gemeinschaft (societas) und [nur] ein Volk Gottes, dessen Anführer und Regent unser Herr Jesus Christus ist wie das Haupt eines einigen Köpers, da wir in ihm ja durch Gottes Güte vor Grundlegung der Welt erwählt sind […] Das aber ist die katholische, das heißt eine universale Gemeinschaft, denn man dürfte nicht zwei oder drei [davon] finden, vielmehr werden die Erwählten

7 8 9 10

Die Bekenntnisschriften der Reformierten Kirche (Hg. von W. Niesel), Zürich 1985, 327.3–5. Inst IV, 2,4; OS V, 35. 18f und 36.2f. Inst (1536) I, OS I, 63. Ebd. I, 87; vgl. Inst IV, 1,3; OS V, 6. 3–5. Diesen Ansatz hat Karl Barth auf eigene Weise konsequent zu Ende gedacht, indem er die Kirche in den mit Israel geschlossenen Bund der Erwählung hineinstellt, so dass sie mit Israel in einer Gemeinde existiert; KD II/2 (§ 34. 1 und 4), 312f und 333f; dazu: M. Weinrich, Karl Barth, Leben – Werk – Wirkung, Göttingen 2019, 268–270.

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314

Die Reform der Kirchenverfassung

Gottes allesamt so in Christus vereinigt […], dass sie wie ein Körper zu einer Einheit zusammenwachsen.“11

Auf dieser Weise wird die Kirche unmittelbar auf den Gedanken der Erwählung begründet. Allerdings wird die Prädestinationslehre auch nur in der ersten Institutio (1536), systematisch in der Ekklesiologie verortet. Dieser Kontext tritt in den späteren Ausgaben zurück und wird durch die Frage nach dem individuellen Geschick und der besonderen Berufung eines jeden Einzelnen ersetzt. An der auf Augustin zurück gehenden Beschreibung der Kirche als „Volk der Erwählten Gottes“ hält Calvin dabei jedoch gleichwohl fest. Auch hier legt sich die Prädestination als eine Art Klammer um die Ekklesiologie: Sie wird als „freie Gnadenwahl“ das konstituierende Prinzip der Kirche: „Man muss auf Gottes verborgene Wahl und seine innere Berufung blicken, denn er allein weiß, wer die Seinen sind, und er hält sie, wie Paulus sagt, unter einem Siegel verschlossen.“ Niemand kann von einem anderen wissen, ob er zum Kreis der Erwählten gehört. Deshalb soll man ihm allein die Erkenntnis seiner Kirche überlassen.12 Diese erwählungstheologische Fassung ist auch in die letzte große Schlussredaktion von 1559 eingegangen. Doch haben Sätze wie diese nicht den Sinn, uns jedes empirische Fundament unter den Füßen wegzuziehen. Der Akzent ist anders gesetzt: Die Gemeinde vor Ort muss sich jederzeit nach ihrer Legitimation fragen lassen. Mit dieser Frage nach sich selbst aber wird sie jederzeit über sich selbst hinaus verwiesen. Sie kann sich weder aus ihrer Mitgliederzahl, noch aus ihrer inneren oder äußeren Lebendigkeit selbst begründen. Ihre „Wahrheit“ geht in ihrer sozialen und rechtlichen Gestalt nicht auf. Deshalb gibt es keinen Grund, an die Kirche zu glauben. Wohl aber sollen wir die Kirche glauben (statt ihre empirische Existenz nur als Faktum zur Kenntnis zu nehmen), und das geschieht, indem wir uns selbst als ihre Glieder wahrnehmen (nos esse eius membra)13 Denn indem die Erwählung von der Zuwendung Gottes zu uns Menschen redet und dadurch ihre Zielsetzung, ihre Einheit und Einzigkeit, im Blick behält, gibt sie die Kirche als den besonderen Ort seiner Gegenwart und seiner Zukunft zu erkennen, das heißt als den Ort, an dem die Glaubenden sich als theologisch Fragende von Anfang an befinden. Die wichtigste Funktion dieser Lehre besteht daher nicht zuletzt darin, uns die Sorge zu nehmen, als läge es an uns, ihren Bestand zu garantieren. Von derlei Sorgen spürt man bei Calvin nichts – nicht nur, weil er in einer anderen Zeit lebte, sondern weil das Widerlager der Prädestination ihm in einer ganz anderen Weise den Rücken frei hielt. Wir stehen vor dem paradoxen Sachverhalt, dass gerade das scheinbar

11 So die Definition der Kirche in Inst (1536) II, OS I, 86. 12 Inst IV, 1,2; OS V, 3. 15–17 und 20f. 13 Inst IV, 1,3; OS V, 6.2f.

Unsichtbare und sichtbare Kirche

Unsichere der Prädestination, die unbedingte Freiheit des göttlichen Verhaltens uns gegenüber, ihm die Möglichkeit gab und von ihm als der zureichende Grund dafür in Anspruch genommen wurde, beim Aufbau der sichtbaren Gemeinde sehr viel energischere Schritte zu tun, als es späteren Zeiten möglich zu sein schien. Unser Heil, so heißt es schon 1536, „steht mit der Erwählung Gottes, und kann nur um den Preis dieser ewigen Weisheit sich ändern oder hinfällig werden. Mögen [die Erwählten] darum zittern oder hin- und hergeworfen werden, mögen sie auch fallen, so können sie doch nicht untergehen, weil der Herr sie mit seiner Hand hält.“14 Mit dieser Gewissheit im Rücken beginnt Calvin die Kirchenreform.

6.2

Unsichtbare und sichtbare Kirche

Die Erwählung gehört zu den uns entzogenen Geheimnissen Gottes. Für unsere Augen ist sie unsichtbar, sie bildet, bezogen auf die Gesamtheit der Erwählten aus allen Ländern und allen Epochen, jene „heilige, katholische Kirche“, die, da vor aller Zeit konstituiert, bereits das Geschlecht des erwählten Abrahams, also auch das jüdische Volk, mit umfasst.15 Sie stellt jene einzigartige Gemeinschaft dar, zu der „alle Auserwählten gehören, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind“ und die im eigentlichen Sinne das in Christus zusammengehaltene Volk Gottes genannt zu werden verdient.16 Calvin spricht mit einer auf Augustin zurückgehenden, für ihn aber nicht letztgültigen Unterscheidung von der unsichtbaren Kirche, der Kirche Gottes, der die klassischen Attribute der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität zugehören, welche in ihrer vollen Reinheit jedoch in keiner sichtbaren christlichen Gemeinde verwirklicht sind. Wir können sie nur glauben, aber nicht sehen, weshalb sie als Attribute jener unsichtbaren den Kennzeichen (notae) der sichtbaren empirischen Kirche gegenübergestellt werden. Hier gehen die Begriffe in der Literatur oft durcheinander. Gemeint ist eine Beziehung zwischen oben und unten, zwischen Vertikale und Horizontale, zwischen dem, was uns als Vorgabe Gottes vor Augen gestellt ist (Einheit, Heiligkeit …), und dem, was wir unsererseits als Auftrag annehmen und in die Tat umsetzen sollen (die Treue zur Schrift, den Gebrauch und die „Verwaltung“ der Sakramente). Es ist eine Beziehung, die keinen Gegensatz begründet, wohl aber eine Verschiebung hin zu einer stärkeren Akzentuierung der Gestaltwerdung der Kirche bedeutet, die zwar immer ein Werk Gottes bleibt, gerade als solches aber auch eine menschlich-geschichtliche Wirklichkeit beschreibt. Wie aber geht man mit der nun unvermeidbaren Spannung um, dass

14 Inst (1536) II; OS I. 87. 15 Vgl. B.C. Milner jr., Calvin’s Doctrine of the Church, Leiden 1970, 51f. 16 Inst IV, 1,7; OS V, 12. 11f.

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Die Reform der Kirchenverfassung

sich diese Kirche mit einem soziologisch greifbaren, empirischen Kirchentum nicht ohne weiteres zur Deckung bringen lässt? Denn das war ja auch früher eine nie ganz unbekannte, in der Reformationszeit aber bedrängend neu erfahrene Problemstellung, dass es neben der wahren auch eine falsche, d. h. eine Scheinkirche gibt, neben der Schar derer, die bis zum Ende beharren, die Masse der Namenschristen, unter denen sich auch Heuchler befinden. 6.2.1

Die augustinischen Wurzeln

Da es sich bei der Unterscheidung von sichtbar und unsichtbar (auf lutherischer wie auf reformierter Seite) um eine nicht ganz unproblematische Differenz handelt, will ich in einer historischen Notiz kurz auf ihren augustinischen Ursprung hinweisen, und das kann mit umso größeren Recht geschehen, als jedenfalls Calvin am besten von dieser Wurzel her zu verstehen ist. Er unterscheidet „mit der Schrift“ (und denkt dabei an Stellen wie 2Kor 4,7 oder Eph 1,13) zwischen „jener Kirche, die in Wahrheit vor Gott Kirche ist“, und der „gesamten, in der Welt verstreuten Menschheit“, die sich durch Taufe und Abendmahl „zu dem einen Gott und Christus bekennt“ und doch Heuchler, missgünstige, neidische und schmähsüchtige Glieder in ihrer Mitte hat.17 Zwinglis „Fidei ratio (1530) und die Conf. Helvetica prior (1536) sind ihm darin vorausgegangen und die späteren Bekenntnisse, namentlich die Westminster Confession von 164718 , sind ihm darin gefolgt. Die augustinische Problemstellung sieht zunächst jedoch etwas anders aus, wenn man so will: sehr viel erfahrungsnäher: Es gibt Menschen, die sich äußerlich zur Kirche halten, aber in ihrem Innern nicht zu ihr gehören. Dementsprechend unterscheidet Augustin die Heilswirksamkeit der göttlichen Gnade im Innern des Menschen prinzipiell vom äußeren Sakramentsempfang und vom Hören des gepredigten Wortes. Andererseits braucht nicht überall, wo die eine wahre Kirche ist, auch schon jene innere Wirkung einzutreten, so dass die wahren Christen tatsächlich „unsichtbar“ in der Kirche bleiben (invisibilis compago). Die Missverständnisse der Tradition beruhen zumeist darauf, dass man die Differenz, die mit den Worten „sichtbar“ und „unsichtbar“ angedeutet wird, als den Gegensatz zwischen der organisierten Bischofskirche und der eigentlich gemeinten „Glaubenskirche“ meinte auffassen zu müssen. Das aber führt zu einer Fehlbestimmung dessen, was bei Augustin „ecclesia“ heißt und auf den personalen Sinn des Wortes zielt: Kirche ist nicht die sakramentale „Anstalt“, sondern Gemeinde, das christliche „Wir“, zu dem er selbst gehört. Sodann bewahrt das Wort bei ihm

17 Inst IV, 1,7; OS V, 12. 8–15. 19–22. 18 Westminster-Konfession von 1647, Cap. XXV, BSRK 597, 28ff.

Unsichtbare und sichtbare Kirche

seinen ursprünglich eschatologischen Sinn: Ecclesia ist die für die Endzeit „herausgerufene“, erwählte Gemeinde – ein Merkmal, das nie so weit zurücktreten kann, dass nur die „empirische“ Kirche übrig bleibt.19 Deren Personalität kommt darin zum Ausdruck, dass die Ecclesia niemals bloß die geschichtlich vorhandene Gemeinde der Getauften meint, sondern immer auch die Gemeinde der Erwählten, ihr eschatologischer Charakter darin, dass die Gemeinde nur im Blick auf die „ecclesia praedestinata“, d. h. auf ihre Bewährung in der Endzeit hin, Kirche ist. Aus dieser eschatologischen Sicht scheint sich (mit einer früher vertretenen These gesprochen) tatsächlich so etwas wie ein „doppelter“ oder gar „fünffacher Kirchenbegriff “ zu ergeben.20 Augustin unterscheidet, wie seit Kallist üblich, zwischen der „ecclesia, qualis nunc est“ und der „Ecclesia, qualis tunc erit“, zwischen der heute vorfindlichen und jener dereinst vollendeten himmlischen Kirche.21 Das aber führt nicht zur Unterscheidung von zwei Subjekten bzw. Gemeinden, sondern besagt: Die Gemeinde hat heute noch „mali“ – schlechte Glieder – in ihrer Mitte. Sie ist noch vorläufige Darstellung des Reiches Gottes. Sie muss die Scheinchristen in ihrer Mitte ertragen. Eine „Doppelheit“ des Kirchenbegriffs wird also innerhalb der geschichtlich existierenden Gemeinde entdeckt. Von einem „corpus dipartitum“ (Tyconius), einem zweigeteilten Körper, zu sprechen, hat Augustin jedoch in aller Form verworfen. Es gibt nur eine ecclesia, und der kann man wahrhaft (vere intus esse) oder nur äußerlich, nur „dem Namen nach“ (intus videri), und das heißt in Wirklichkeit: eben gar nicht zugehören. „Das aber ergibt so wenig einen doppelten Gemeindebegriff wie das Judentum einen doppelten Volksbegriff gehabt hätte.“22 Augustin trennt die Gemeinde von etwas (den „mali“), was andernfalls gar nicht mehr Gemeinde wäre. So ist der Unterschied zwischen der Gemeinde der Heiligen und der mit „Bösen“ durchsetzten sakramentalen Kirche in demselben Maße bloßer Schein, wie die Bösen nur dem Scheine nach zur ecclesia gehören. Echter Unterschied, so Wilhelm Kamlah, ist er allein als „eschatologischer Unterschied von […] Jetzt und Dann“.23 Die Rede von der Gemeinde der Erwählten will auch bei Calvin in diesem Zusammenhang verstanden werden. Unter dem Aspekt der Zeit ist die auserwählte Gemeinde die geschichtliche, der letzten Verfolgung unerschütterlich standhaltende Gemeinde der Hugenotten. Im Blick auf die Ewigkeit erscheint sie als der ungeschichtliche Bestand der Heiligen. Doch ist diese Betrachtung – daran hängt alles – ohne Folgen für die wirklich existierende Gemeinde.

19 Vgl. hierzu: W. Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, Stuttgart 1951 (2.Aufl.), 137. 20 So Hermann Reuters „augustinische Studien“ (1887) oder Adolf von Harnacks Dogmengeschichte (1889), Bd. III, 161ff. 21 Augustin, De Civ. Dei, XX, 9,2. 22 W. Kamlah, a.a.O. 142f. 23 Ebd. 147.

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Die Reform der Kirchenverfassung

Noch sind Scheinchristen in ihrer Mitte, aber dereinst wird sie von ihnen befreit. Die Berufung auf einen coetus electorum will also gerade nicht die „sichtbare“ Kirche gegenüber einer „unsichtbaren“ abwerten, ja sie kann im Bereich dessen, was wir hier und jetzt als Gemeinde kennen und verwirklichen, überhaupt keine Trennung bewirken. Erst als im14.und 15. Jahrhundert die Reform der ganzen Kirche „an Haupt und Gliedern“ gefordert wird, gebrauchen Mahner wie John Wicliff und Jan Hus die augustinische ecclesia praedestinata als Waffe der Kritik. Sie entdecken, was Augustin ganz fern lag, dass man die wahre ecclesia der Erwählten ausspielen kann gegen die ecclesia, wie sie faktisch ist. Hier erst beginnt – nicht als der bloße Einfall von Theologen, sondern als ein kirchengeschichtliches Ereignis – die begriffliche Spaltung der wahren ungeschichtlichen Kirche von der geschichtlichen Existenz der Kirche des Wortes, die sich in der konfessionellen Polemik gegen das Tridentinum vollendet. 6.2.2

Die Einheit der Kirche

Einen doppelten Kirchenbegriff (corpus dipartitum) kennt Calvin so wenig wie Augustin. Er teilt dessen These, dass es nur eine Kirche gibt, der man wahrhaft angehören kann oder eben gar nicht. Diese Einheit zeigt sich uns in zwei verschiedenen Perspektiven. Zunächst kann und muss man formal fragen, wie denn unsichtbare und sichtbare, geglaubte und erfahrene Kirche zusammengehören. Danach stellt sich die in der Kontroverse mit Sadolet zuletzt entscheidende Frage, ob es darüber hinaus ein scharfes inhaltliches Kriterium dieser Einheit gibt, das dann auch die Frage nach der „Wahrheit“ dieser Kirche befriedigend beantworten könnte. Formal geht es hier um das große Thema des IV. Buches der Institutio und dessen zentrale These: Sichtbare und unsichtbare Kirche gehören zusammen; sie bilden eine untrennbare Einheit. Man muss sie unterscheiden, darf sie aber nicht voneinander trennen, ohne auf den problematischen Abweg der Sektenbildung zu geraten. „Im Licht dieses fundamentalen ekklesiologischen Gesichtspunktes“, formuliert Willem Nijenhuis, „ist Calvins Denken über die Einheit der Kirche zu verstehen“.24 Benno Gassmann sekundiert: „Erwählung und Gliedschaft in der Kirche hängen so eng zusammen, dass es das eine nicht gibt ohne das andere. Erwählungsglaube und Kirchenglaube gehen in eins.“25 So heißt es bereits im Eingangskapitel des IV. Buches: „Es ist nicht genug, dass wir solche Schar der Auserwählten bloß mit unserem Denken und Herzen erfassen, sondern wir müssen die Einheit der Kirche derart begreifen, dass wir wahrhaftig überzeugt sind, selber in sie eingefügt zu

24 W. Nijenhuis, Calvinus Oecumenicus. Calvijn en de Eenheid der Kerk, ’s-Gravenhage 1957, 277. 25 B. Gassmann, Ecclesia Reformata. Die Kirche in den reformierten Bekenntnisschriften, Freiburg 1968, 118.

Unsichtbare und sichtbare Kirche

sein“, woraus sich dann die Folgerung ergibt: „Deshalb heißt die Kirche ‚katholisch’ oder ‚allgemein’, denn man könnte nicht zwei oder drei Kirchen finden, ohne dass Christus in Stücke gerissen würde.“26 Die entscheidende Frage lautet nun offenbar, wie denn der Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zu denken sei. In der Verbindung beider Größen hat Alexandre Ganoczy das Hauptproblem der Institutio von 1543 gesehen. Er zieht zur Klärung dieses Verhältnisses die Zweinaturenlehre heran. Wie das In- und Miteinander von göttlicher und menschlicher Dimension die Christologie bestimmt, so bestimme diese Spannung auch Calvins Aussagen über die Kirche.27 Diese These wäre allenfalls durch die dominante Rolle des Heiligen Geistes beim Aufbau der Gemeinde zu bestätigen. Doch lässt sich der hier bestehende Zusammenhang präziser fassen, wenn man (wie etwa in den Reich-Gottes-Gleichnissen des Neuen Testaments) von einer dialektischen Zuordnung ausgeht, in welcher das uns noch verborgene Reich in einem weltlichen Analogon dargestellt wird.28 Denn wenn es von der unsichtbaren Kirche im Genfer Katechismus (1545) heißt, Gott habe ihre Glieder „aufgrund seiner verborgenen Erwählung zum Heil angenommen, sie seien aber nicht immer für [unsere] Augen sichtbar noch an [bestimmten] Kennzeichen zu unterscheiden“29 , so bildet sie doch kein frei schwebendes Ideal, keine „civitas platonica“. Will sagen: Sie existiert nicht einfach außerhalb sondern zugleich innerhalb der sichtbaren Kirche. Sie ist ihr „gestaltbildendes Element“ (O. Weber), sie stellt sich in ihr dar. Calvin kann sie die geglaubte Kirche nennen. Denn ihr und nur ihr kommen die Attribute des Nicaeno-Constantinopolitanum zu: Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, die ihrerseits ja nur umschreiben, was Gott seiner Kirche mit ihrer Erwählung verheißen hat. Das aber sieht man in ihrer ganzen Fülle heute noch nicht. Es ist vielmehr Aufgabe der sichtbaren Kirche, diesen Attributen zu geschichtlicher Wirklichkeit zu verhelfen, also ihre Verheißungen gewissermaßen zu realisieren. Deshalb hat sie klar umrissene äußere Kennzeichen (notae) – Calvin nennt das Bekenntnis, die Teilnahme an den Sakramenten und das Beispiel der Lebensführung –, an denen man erkennen soll, in welcher Gestalt jene Verheißungen sichtbar in Erscheinung treten, und so kommt es zu der entscheidenden These: „Hieraus nun entsteht die anschaubare Gestalt der Kirche, und es taucht das für uns in die Augen fallende Gesicht der Kirche auf.“30 Die sichtbare Kirche also ist kein ‚allo genus’; sie ist das Gesicht der unsichtbaren

26 Inst IV, 1,2; OS V, 4. 1.4. und 6–8. 27 A, Ganoczy, Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, Freiburg – Basel – Wien 1968, 159f. 162f. 28 Vgl. hierzu: H. Scholl, Calvinus Catholicus. Die katholische Calvin-Forschung im 20. Jahrhundert, Freiburg 1974, 169–175. 29 Genfer Katechismus, Frage 100, CStA 2, 47, 10–14. 30 Inst IV, 1,9: „Hinc nascitur nobis et emergit conspicua oculis nostris Ecclesiae facies“, OS V, 13.23f.

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Die Reform der Kirchenverfassung

Kirche. Sie hat den Auftrag, die ihr vorgegebenen Attribute, insbesondere ihre Einheit, als Perspektive ihres Handelns und ihrer Ordnung zur Geltung zu bringen, also alles, was sie sagt, tut oder unterlässt, eben daran zu orientieren. Deshalb sind es nicht zwei getrennte Sozietäten, die hier einander gegenüber stehen, vielmehr sind unsichtbare und sichtbare Kirche, „auserwählte Gemeinde“ und „Gemeinschaft der Heiligen“, in dieser Welt zwei Seiten derselben Sache, zwei Wirklichkeiten, die sich wie die Partitur einer Symphonie und ihre tatsächliche Aufführung zueinander verhalten – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Die Differenz, um die es hier geht, ist eschatologisch bestimmt: Die Kirche ist jetzt noch nicht an ihrem Ziel, sie ist jetzt noch nicht als das zu erkennen, was zu werden sie in Christus bestimmt ist. Im Blick auf diesen Zusammenhang von sichtbarer und unsichtbarer Kirche(„process of becoming“) hat John Hesselink das IV. Buch der Institutio als den „bemerkenswertesten ekklesiologischen Diskurs der Theologiegeschichte“ bezeichnet.31 Das führt wie von selbst zu dem zweiten, hier zu behandelnden Punkt, denn in der Frage nach dem inhaltlichen Kriterium der Einheit geht es um die Realisierung jener Attribute in der geschichtlichen Wirklichkeit, also um ein Problem der sichtbaren Kirche. Die Verlagerung der Gewichte in der Institutio von der unsichtbaren auf die sichtbare Kirche ist darum ein folgerichtiger, in sich konsequenter Schritt der zweiten Ausgabe der Institutio (1539), denn was unter den Bedingungen ihrer geschichtlichen Existenz Einheit der Kirche heißen kann, lässt sich erst auf dieser Ebene diskutieren. Es ist die sichtbare Kirche, der Calvin den Ehrentitel der „Mutter aller Gläubigen“ verliehen, und es ist wiederum sie, auf die er das altkirchliche Kriterium bezogen hat, außerhalb der Kirche gebe es kein Heil (extra ecclesiam nulla salus). Man hat ihn deshalb den „Cyprian der Reformation“ (Ganoczy) genannt. Weil wir uns vorgenommen haben, von der sichtbaren Kirche zu reden, wollen wir schon daraus, dass sie mit dem Ehrennamen (elogium) ‚Mutter’ bezeichnet wird, lernen, wie nützlich, ja notwendig es für uns ist, sie zu kennen, denn es gibt für uns keinen anderen Eingang ins Leben hinein, es sei denn, sie selbst hätte uns in ihrem Schoß empfangen und geboren […]. Zudem ist außerhalb [dieser Herkunft] keine Vergebung der Sünden zu erhoffen und auch kein Heil.32

Erstaunlicherweise ist das Prädikat der Kirche als „Mutter“ von keiner der reformierten Bekenntnisschriften übernommen worden. Man darf jedoch vermuten,

31 J. Hesselink, Calvin’s First Catechism, Louisville 1997, 157. 32 Inst IV, 1,4; OS V, 7. 5–8 und 13f. (bezüglich Cyprian, Epistola 73 (ad Iubaianum) c. 21; CSEL 3 II, 795. Dazu: L. Vischer, Kirche – Mutter aller Gläubigen, in: M. Welker, D. Willis (Hg), Die Zukunft der Reformierten Theologie, Neukirchen 1998, 295–322.

Unsichtbare und sichtbare Kirche

dass Calvin mit dieser Metapher den Anspruch erhärten wollte, dass die Kirche das Gefäß sein müsste, durch das ihr Ursprung, Gemeinde Jesu Christi zu sein, hindurchzuscheinen vermag. Hier jedenfalls wird die Frage nach ihrer Einheit, dem im Reformationszeitalter besonders umstrittenen Kriterium, brennend, da sie ja nur einen, aber nicht zwei oder drei verschiedene „Leiber“ (corpora bzw. somata) haben könne. Mit den Kennzeichen, die darüber Auskunft geben sollen, ist dann zugleich auch die Frage nach der Unterscheidung von wahrer und falscher Kirche aufgeworfen, die man offensichtlich nur an die erfahrbare, d. h. an ihre sichtbare Erscheinungsform stellen kann. Die Frage lautet nun, an welchen Ordnungselementen oder Lebensvollzügen sich die Verheißung der Kirche, etwa ihre Einheit, in einer besonders augenfälligen bzw. dichten Weise gleichsam materialisiert.33 Zu den hier aussagekräftigen Kennzeichen (notae) rechnet Calvin (wie das Augsburger Bekenntnis: CA VII) an erster Stelle Wort und Sakrament, aber auch die kirchlichen Ämter, von denen noch zu reden sein wird. So erklärt er in einem charakteristischen Vergleich „der falschen Kirche mit der wahren“: Das ist das bleibende Kennzeichen, mit dem unser Herr die Seinen versieht: ‚Wer aus der Wahrheit ist’, spricht er, ‚der hört meine Stimme’ (Joh 18,37) […] Wo immer dies Merkzeichen zu sehen ist, da kann es nicht täuschen, sondern weist mit Sicherheit darauf hin, dass da die Kirche ist. […] Die Kirche ist das Reich Christi. Christus aber regiert allein durch sein Wort.34

Der Genfer Katechismus (1545) war längst auf diesen Ton gestimmt: Das Wort ist „gleichsam die Pforte, durch die wir in Gottes himmlisches Reich eintreten.“ Die reformierte Tradition hat in zwei einander ergänzenden und wechselseitig sich interpretierenden Sätzen dieses Fundament der Kirche umschrieben. In der I. These des Berner Reformationsmandates (Schlussreden 1528) heißt es: „Die heilige christliche Kirche, deren einiges Haupt Christus ist, ist aus dem Wort Gottes geboren. In demselben bleibt sie und hört nicht auf die Stimme eines Fremden.“35 Dementsprechend resümiert der Berner Synodus (1532): „Also ist Jesus Christus Grund und Fundament des geistlichen Gebäudes; außerhalb seiner ist kein Heil zu erhoffen.“36 Das ist der reformatorische Grundkonsens: Die Kirche als creaturi verbi, wobei das Wort in aller Form mit Jesus Christus identifiziert wird. Dass dies in jeder

33 In dieser Fragerichtung hat E.-M. Faber in einer höchst instruktiven, auf der Gemeindeebene ansetzenden Studie die Korintherbriefe des Paulus (CO 49 und COR 2,15) ausgewertet: „Gegenseitige Verbundenheit als Gabe und Aufgabe“, in: M.E. Hirzel/M. Sallmann (Hg), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft, Zürich 2008, 159–182. 34 Inst IV, 2,4; OS V,35. 19f 27–29 und 36. 2f. 35 Berner Thesen von 1528, BSRK 30.9–11. 36 Berner Synodus von 1532, BSRK 35. 4f.

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Predigt geschehen kann (und soll), begründet den kühnen, sonst wahnwitzigen Satz des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses: „Die Predigt des Wortes Gottes ist Gottes Wort.“37 Eine Predigt Calvins aus dem Jahr 1555 erläutert, worauf es hier ankommt. Der Text aus Dtn 4,6–10 stellt die Mahnung ins Zentrum, den „Tag im Tal des Horeb“ nur ja nicht zu vergessen, an welchem Gott dem versammelten Volk Israel das Gesetz verkündigen ließ. Denn im Gesetz komme Gott dem Menschen auf menschliche, ihm fassbare Weise nahe. In diesem Zusammenhang gewinnt der scheinbar rein äußerliche Vorgang des Sich-Versammelns, der die Sichtbarkeit der Kirche geradezu demonstriert, eine herausragende Bedeutung: Gott wollte von Anfang an diese Ordnung eingehalten wissen, um uns zu größerer Einheit des Glaubens zu erziehen. Zwar könnte er uns auch je einzeln unterrichten […], aber es gibt auch die Ordnung der Gemeinschaft. Warum? Weil wir einen Glauben haben und untereinander verbunden sein müssen […] Diese Vereinigung hat das Ziel, dass wir erkennen: Es gibt nur eine Regel, nur eine Wahrheit nur einen Gott, der redet und dafür sorgt, dass es hier zu einem Zusammenklang und zu einer Melodie kommt. […] Ja, unser Gott will, dass wir in ihm eines Sinnes sind, ein Leib, so wie es seinem Wort entspricht.38

Die Versammlung am Horeb wird hier – ein ebenso ungewöhnlicher wie kühner Gedanke – zum Vor- und Urbild der neutestamentlichen Kirche. Denn solches Zusammentreten ist notwendig, damit es zur Einheit des Glaubens kommt, und umgekehrt führt der Glaube mit Notwendigkeit zur Gemeinschaft. Die Gefahr, die sich hier namentlich im Zeitalter der Reformation stellt, ist der Weg der Separation, die Gefahr der Spaltung, manifest geworden in der Trennung der Protestanten von Rom. Nicht nur die katholische Forschung steht bis heute vor der Frage: War Calvin nur einer der vielen Reformkatholiken wie der Kreis um Contarini in der römischen Kurie oder wie sein ehemaliger Freund Gérard Roussel, der spätere Bischof von Oloron? War es nur eine mediokre katholische Theologie, die er kennen gelernt und die den Bruch provoziert hatte?39 Das historische Datum, an das man sich halten muss, ist der literarische Zusammenstoß mit dem Kurienkardinal Jacopo Sadoleto, der die Genfer mit einem „Meisterstück geschickter Diplomatie“ (J. Gaberel) in den Schoß der alten Kirche zurückzuholen versucht hat.40 Sadolet ist der erste, der den Vorwurf der Kirchenspaltung gegen Calvin und seine Mitstreiter erhoben hat: „Sie haben sich daran gemacht, die einzige Braut Christi zu zerreißen. Sie haben es

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Confessio Helvetica posterior, BSRK 171. 10: „praedicatio verbi Dei est verbum Dei.“ Deuteronomium-Predigten [Nr. 1], CO 26, 133. Vgl. dazu A. Ganoczy, Eccesia ministrans (Anm. 27), 108. Dazu: Chr. Link, Calvin. Reformator Westeuropas, Bielefeld 2016, 59–64.

Unsichtbare und sichtbare Kirche

gewagt, das Gewand unseres Herrn, das selbst die gemeinen Soldaten nicht teilen wollten, nicht nur aufzuteilen, sondern zu zerstückeln.“41 Calvin gibt den Vorwurf in ganzer Schärfe zurück: Ich aber behaupte, die Zerspaltung, die Ihr uns fälschlich zum Vorwurf macht, sei bei Euch offen zu sehen, und zwar nicht nur an der Kirche, sondern an Christus selbst, der, wie man weiß, jammervoll zerschnitten ist. [Denn] wo bleibt seine Unversehrtheit, wenn man den Ruhm seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Heiligkeit auf andere überträgt?42

Calvin zielt mit dieser Kritik auf Heiligenverehrung, Bilderkult und Messopfer, die den vitalen Kern traditioneller Frömmigkeit und Gottesdienstpraxis bildeten. Wer hier mit der Kritik ansetzte, musste die ganze Konsequenz ziehen, und das bedeutet in den Augen Calvins: Eines ist die Trennung von Rom; sie ist eine theologische und historische Notwendigkeit. Ein Anderes ist die Einheit der Kirche. Sie wird durch diesen Schritt nicht gefährdet, sondern in ihrem theologischen Sinn erst ans Licht gebracht. Er argumentiert von der Verheißung der unsichtbaren Kirche her und legt damit die radikale Pointe der ihm entgegen gehaltenen Stelle Joh 17,21 frei: Mit der „einen“ Kirche, die lediglich ihren lehrmäßigen und organisatorischen Zusammenhalt zu sichern weiß – selbst wenn sie sich als Weltkirche etablierte – hat das theologische Prädikat der Einheit nichts zu tun. Es wird – so die neue biblische Einsicht – an die hörbare Stimme Christi und an deren gestaltbildende Kraft gebunden. Zugespitzt formuliert: Einheit ist die Verheißung einer Kirche, die um ihrer Wahrheit willen Spaltungen hervorruft. Das Bekenntnis zur Einheit ist die schärfste Kritik an ihrem äußeren Erscheinungsbild. Die Grenzen dieser einen Kirche verlaufen daher dort, wo der Heilige Geist nicht mehr Herr der Kirche bleibt, sondern in die Hände der Menschen gegeben wird: einmal in die Hände der katholischen Hierarchie und ihres objektiven Lehramts, das andere Mal – dort verläuft die zweite Font, an der Calvin streitet – in die des subjektiven individuellen Gewissens. Deshalb wird im Papsttum und in der Bewegung der Wiedertäufer – so der scharfsinnige Nachweis – die Einheit der Kirche gleichermaßen verraten. Der historischen Gerechtigkeit halber muss man freilich hinzufügen, dass Calvin den „Römischen“ das Kirche-Sein nicht rundweg abgesprochen hat, sondern gerade an dieser Front seine Lehre von den vestigia ecclesiae entwickelt hat: „Wir wollen ihnen jedoch nicht das wegnehmen, was der Herr ihnen trotz ihres Verfalls an Spuren der Kirche übrig gelassen hat: den Bund mit dem Herrn, der unzerstörbar ist, und die Taufe, das Bundessakrament, das durch den Mund des Herrn geheiligt

41 Brief an Sadodet, CStA 1.2, 425 (dort auch: Anm. 57). 42 Ebd. 425. 26–33.

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ist und also trotz der Gottlosigkeit der Menschen seine Wirkung behält.“43 Hier ist gegen Ende des 16. Jahrhundert Philippe du Plessis-Mornay (1549–1613) einen wichtigen Schritt weiter – über die Konfessionskirchen hinaus – gegangen und hat die These aufgestellt, dass die Kirche Jesu Christi in allen Kirchen gegenwärtig sei, eine These, die dann drei Jahrhunderte später zur Grünung der Evangelischen Allianz und des Ökumenischen Weltrates geführt hat. Mit den hier angesprochenen Problemen hat es Calvin zunehmend auch in den eigenen Reihen zu tun. Er ist seit den 40er Jahren unermüdlich damit beschäftigt, Streitigkeiten in den Reformationskirchen zu schlichten.44 Insbesondere seit die verfolgten reformierten Gläubigen sich auf lutherischen Territorien (Frankfurt, Wesel) in Flüchtlingsgemeinden neu zu organisieren versuchten und mit der Forderung konfrontiert wurden, in ihren Gottesdiensten nun auch lutherische Riten einzuführen,45 kam es zu heftigen dogmatischen Auseinandersetzungen, die die Existenz dieser Gemeinden oftmals ernsthaft bedrohten. In dieser notvollen Situation entwickelt Calvin ein Konzept, das man in der Sprache der neueren Ökumene als „Einheit in [versöhnter] Verschiedenheit“ bezeichnen könnte. Es trägt der Erkenntnis Rechnung, dass es Lehrdifferenzen von durchaus verschiedenem Gewicht gibt: Selbst in der Lehre und in der Verwaltung der Sakramente können allerhand Fehler aufkommen, die uns doch von der Gemeinschaft der Gesamtkirche nicht entfremden dürfen. Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt (unius formae). Einige von ihnen sind derart notwendig zu wissen, dass sie bei allen unerschütterlich feststehen müssen. […] Dann aber gibt es andere Stücke, über die in den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die jedoch die Einheit des Glaubens nicht zerreißen.46

Die letzteren können und müssen von allen toleriert werden. Sie können die Einheit lokaler Kirchen nicht gefährden. Hier ist vielmehr jede Gemeinde in einem Dorf

43 Inst 1539, CO 1, 560. Vgl. Inst (1559) IV, 2,11, auch A. Ganoczy, Ecclesia ministrans (Anm. 25), 156; sowie H. Scholl, Calvinus Catholicus (Anm. 28), 172f. – Ähnlich heißt es in einem Brief an Lelio Sozzini: (7. Dez. 1549): „Wenn ich behaupte, dass Spuren der Kirche selbst in der Papstkirche geblieben sind, so beziehe ich mich nicht nur auf die Erwählten, die in ihr hier und dort zerstreut sind, sondern meine, dass Bruchstücke (ruinae) der zerstörten Kirche auch unter den Papisten anwesend sind. Ohne eine lange Erklärung muss uns hier die Autorität des Paulus genügen: Er sagt, dass der Antichrist auch im Tempel Gottes wohnt.“ (CO 13,487). 44 1541 schickt er eine Delegation nach Neuchâtel, um dort ausgebrochene Unruhen – Farel sollte abgesetzt werden – beizulegen: Brief an den Rat von Neuchâtel (19. Sept. 1541), in R. Schwarz, Calvins Lebenswerk in Briefen Bd. 1, Neukirchen 1961, 203f. (Nr. 79). 45 Vgl. hierzu CStA 8 (Ökumenische Korrespondenz), Abschnitt 10. 3 und 4; S. 305–332. 46 Inst IV, 1,12; OS V, 16. 4–8 und 11f.

Die Kennzeichen (notae) der Kirche

oder einer Stadt „autonom“, d. h. befugt, ihre Gemeinschaft in einer Weise zu ordnen, wie es der Gegenwart Gottes an diesem Ort entspricht. Diese Erkenntnis ist bis heute wohl die schwierigste These im Dialog mit Rom. Sie hat ihren ersten kirchenrechtlichen Niederschlag in jenem Satz der Confessio Gallicana (1559) gefunden, der „allen ordentlich bestellten Pastoren […] die gleichen Befugnisse unter ihrem Haupt Jesus Christus zuerkennt“ und daraus folgert: „Aus diesem Grund darf keine Gemeinde für sich eine Art Vormachtstellung oder Herrschaft über eine andere in Anspruch nehmen.“47 Zwischen diesen einzelnen Kirchen aber bleibt Raum für „niederschwellige“ Unterschiede, sofern sie nur in essentiellen Fragen (Trinität, Christusbekenntnis) übereinstimmen. Ihre wechselseitige Anerkennung erfordert darüber hinaus also keinen vollständigen Konsens: „Wenn sie nur den Dienst am Wort in Ehren halten, dazu auch die Verwaltung der Sakramente, verdienen sie ohne Zweifel, als Kirche angesehen und betrachtet zu werden […]. So erhalten wir der universalen Kirche ihre Einheit, […] und berauben auch die rechtmäßigen Versammlungen nicht ihrer Autorität.“48 Zu dieser Autorität gehört die Freiheit jeder Ortskirche, ihre Lehre in eigener Verantwortung zu formulieren und ihre Lebensführung in Übereinstimmung mit biblischen Weisungen zu ordnen. An dieser Sicht hält Calvin fest und sieht daher keine Notwendigkeit, alle reformierten Kirchen auf ein einheitliches Glaubensbekenntnis zu verpflichten. Die Universalkirche ist ein Bund verschiedener, aber gleichrangiger Bekenntniskirchen.

6.3

Die Kennzeichen (notae) der Kirche

Unter dem Titel der notae ecclesiae, ihrer Kennzeichen, hat sich die Kirche von jeher der Frage nach ihrer Identität gestellt, einer seit der Reformation umstrittenen Frage: Woran erkennt man die Kirche? Wofür steht sie ein? Was darf ihr auf keinen Fall fehlen, wenn sie von anderen Gemeinschaften unterscheidbar bleiben soll? Diese Fragen richten sich nicht an die unsichtbare, geglaubte Kirche – dort geht es um ihre Verheißung, d. h. um die ideale Norm, die in den Attributen (Einheit, Heiligkeit usf.) ihren Niederschlag findet –, sie richten sich an die sichtbare, konkret erfahrene Kirche, in der sich diese Verheißungen, wie vorläufig und unvollkommen auch immer, realisieren sollen. Hier geht es um ihr jedermann sichtbares äußeres Erscheinungsbild. Den evangelischen Konsens hat das Augsburger Bekenntnis in Art. VII in einer bestechenden Objektivität formuliert. Daran hat sich Calvin ohne Mühe orientieren können:

47 Conf. Gallicana (1559), Art. 26; CO 9, 750; CStA 4, 321. 4–6. 48 Inst IV, 1,9; OS V, 14. 16–22.

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Die Reform der Kirchenverfassung

Überall, wo wir wahrnehmen, dass Gottes Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Jesu Christi verwaltet werden, lässt sich auf keine Weise daran zweifeln, dass wir eine Kirche Gottes vor uns haben.49

Die Antwort ist eindeutig: In ihrer von uns erkennbaren und „prüfbaren“ Wahrheit tritt die sichtbare Kirche dort in Erscheinung, wo das Evangelium „rein und lauter“ verkündigt und die Sakramente (Taufe, Abendmahl) „richtig“, das heißt schriftgemäß verwaltet werden.50 Das schwierige Problem, wie das in den Attributen gemeinte „Unsichtbare“ sich im Sichtbaren manifesteren könne, ohne seine „Objektivität“ zu verlieren, also zu etwas Zufälligem, Menschlichem und Beschränktem zu werden, scheint hier auf das glücklichste gelöst zu sein. Calvin ist über diesen Minimalkonsens der Augustana, die er in Regensburg 1541 selbst unterschrieben hat, indessen bewusst hinausgegangen. Denn da wir über die Kirchenzugehörigkeit des Einzelnen im Sinne der Erwählung im Grunde keinerlei Gewissheit haben können, zielt seine Frage von Anfang an auf die Beziehung zwischen Gott und den in der Kirche versammelten Menschen, die für den „Leib Christi“ und deshalb auch für einander Verantwortung übernehmen sollen. Man hat wohl mit Recht gesagt, dass ihm dabei nicht zuletzt das Bild der ecclesia militans vor Augen stand, einer streitbaren Gemeinde, die den Herausforderungen der Gegenreformation gewachsen wäre. Dementsprechend zielt sein Katalog der notae vornehmlich auf bestimmte subjektiv zu realisierende Merkmale, an denen die Authentizität Kirche sich ausweisen muss.

6.4

Kennzeichen als Handlungsfelder des gegenwärtigen Christus

Die Linien, auf denen Calvin die Frage nach den notae ecclesiae, verstanden als Ausweis der Zugehörigkeit zur „wahren“ Kirche zu klären versucht hat, hat er zu Beginn des IV. Buches der Institutio mit einer prägnanten Antwort abgesteckt: Das nämlich ist das bleibende Merkmal, mit dem, unser Herr die Seinen bezeichnet: ‚Wer aus der Wahrheit’ ist, spricht er, ‚der höret meine Stimme’ (Joh 18,37). […] Weshalb verfallen wir denn bei der Beurteilung der Kirche ohne Grund in Torheiten, wo sie Christus doch mit einem völlig allem Zweifel entnommenen Kennzeichen versehen hat? Wo auch immer dieses Merkzeichen zu sehen ist, da kann es nicht täuschen, sondern weist mit Sicherheit darauf hin, dass da die Kirche ist […] Die Kirche ist das Reich Christi, Christus aber regiert allein durch sein Wort. (Inst IV,2,4; OS V, 35.18ff)

49 Inst IV, 1,9; OS V, 13. 24–26. Vgl. A. Birmelé, Calvins Kirchenverständnis (Anm. 2). 50 CA VII; BSLK 61. 9–12.

Kennzeichen als Handlungsfelder des gegenwärtigen Christus

Auch hier ist der Grundgedanke einfach: Die wahre Kirche ist die hörende Kirche Indem sie auf die Stimme ihres Herrn hört, gewinnt auch sie eine eigene Stimme. Die bekannte Stimme unterscheidet sie von der Stimme der Welt, wie auch von der Stimme der „falschen“ Kirche, und mit diesem Unterschied prägt sich der Name ein, mit dem sie sich identifizieren und dadurch aus der Masse der Namenlosen herausheben lässt. Denn ihre Identität hängt an ihrem Namen; die Identität der christlichen Kirche hängt an ihrem christlichen Namen. Dass sie mit allem, was sie ist, sagt und tut, keinen Fall einer namenlosen Allgemeinheit darstellt, das bringt sie auf die einzig mögliche Weise dadurch zum Ausdruck, das sie den Inhalt ihrer Predigt, den Auftrag ihrer Diakonie, das Ziel ihrer sozialen und öffentlichen Wirksamkeit in strenger Ausschließlichkeit an einen Namen bindet, den Namen Jesus Christus, über den sie selbst nicht verfügt. Während sich CA VII mit dem Begriff der congregatio begnügt, betont Calvin die communio, die aus der Vereinigung mit Christus hervorgeht. Deshalb kann er ohne Mühe über die Fixpunkte der CA hinausgehen. Man darf den Begriff des Kennzeichens gerade hier nicht pressen. Er umfasst etwa im Zweiten helvetischen Bekenntnis (1562) wie selbstverständlich auch das Gebet der Christen, ihre Buße, das Tragen des ihnen auferlegten Kreuzes, den einen Geist, der sie in ungeheuchelter Liebe verbindet, und darum zuletzt das Band des Friedens und „heilige“ Eintracht.51 Das Bekenntnis selbst, aber auch das ersterwählte Volk Israel, mit dem doch „der Bund des Evangeliums geschlossen worden ist“52 , müssen diesem weit gefassten Kennzeichen zugerechnet werden. Vor allem jedoch ist es zuletzt kein nur ausschließendes Kriterium. Schon Bullinger hat sich geweigert, diejenigen nicht mehr zur Kirche zu rechnen, die „aus zwingenden und unvermeidlichen Gründen, also unfreiwillig“ dem Sakrament fern blieben, d. h. eine anscheinend notwenige Bedingung nicht erfüllen. Denn „wir wissen, dass Gott auch außerhalb des Volkes Israel Freunde in der Welt gehabt hat“.53 Worauf also kommt es an? „Die Kirche ist nicht auf die Urteile von Menschen gegründet“, erklärt Calvin, „auch nicht auf das Priestertum“.54 Sie spielt nicht ihre eigene „Partitur“ und kann darum ihre sichtbare Gestalt weder ihrem eigenen Belieben noch dem Wechsel des Zeitgeistes überlassen. Schon die klassischen Kriterien – Wort und Sakrament – weisen sie über sich selbst hinaus auf eine Wirklichkeit, die zeichenhaft in ihr Gestalt annehmen will, die (so hieß es in früheren Zusammenhang) sie „darstellen“ soll, und dabei geht es um etwas, was nicht aus ihr selbst kommen, sondern das sie, wie Brot und Wein im Abendmahl oder wie die in Christus fleischgewordene Wahrheit, nur eben empfangen kann. Calvin preist sie im

51 52 53 54

Conf. Helvetica posterior (1562), BSRK 198. 14–18. Inst II,10,4; OS III, 405.36–406.1. Ebd. 198. 41f. Inst IV, 2,4; OS V, 35. 30f.

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Die Reform der Kirchenverfassung

Blick auf seine Vision der Gestalt der Kirche als „Sonne der Gerechtigkeit“55 Die Kennzeichen der Kirche – das wird hier exemplarisch deutlich – bemessen sich an dem, was ihr gegeben ist, an den Gaben, die sie empfängt. Sie sind es, die die Kirche zum „Darstellungsraum“ der ihr vorgegebenen Wahrheit machen In diesem Sinne spreche ich von den „Handlungsfeldern des gegenwärtigen Christus“. Calvin spricht von der Versiegelung (obsignatio) der ihr gegebenen Verheißung: „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 17,4). Dadurch bezeugt sie, dass der den Bedingungen unserer Geschichte entzogene Christus sich nicht aus der Geschichte zurückzieht. Er bleibt in ihren geistlichen und sozialen Grundvollzügen – in ihrem Gebet, ihrer Gemeinschaft und ihrer gesellschaftlichen Existenz – unter uns präsent und bringt uns auf den Weg. Hält man sich an dieses Gefälle, dann kann man den Trennungsstrich zwischen Kennzeichen und Attributen nicht so scharf ziehen, wie er in der evangelischen Kirche gemeinhin gezogen wird. Denn sichtbar bezeugen soll ja die Kirche genau das, was sie in den Attributen als ihre Verheißung glaubt, und daran soll sie auch erkannt werden. Die Attribute der Einheit und der Katholizität werden denn auch ohne Einschränkungen für die ecclesia catholica in Anspruch genommen die sich „über alle Teile der Welt und über alle Zeiten“ erstreckt, d. h. für die sichtbare communio Sanctorum.56 Die Einheit der Gesamtkirche darf nicht als etwas bloß Unsichtbares verstanden werden. Calvin, der sie immer wieder als Forderung vorbringt, beweist damit, dass sie sichtbar sein soll, andernfalls würde Christus „in Stücke zerrissen“. Eher war er bereit, selbst in der Verwaltung der Sakramente Fehler nachzusehen, als zuzulassen, dass sie uns von der Gemeinschaft der einen Kirche trennen könnten.57 Nachhaltiger als der traditionelle Gegensatz von sichtbarer und unsichtbarer Kirche, scheint der ursprünglich augustinische von wahrer und falscher Kirche seine Ekklesiologie zu bestimmen.

6.5

Die Verfassung der (Genfer) Kirche

Die Überzeugung, dass die Kirche nicht nur Versammlung der Glaubenden (CA VII) ist, sondern zugleich auch Gottes Instrument für sein Handeln in der Welt, ist der neue Akzent, mit dem sich die Reformatoren der zweiten Generation dem Aufbau der Kirche zuwenden. Zwar sind deren Kennzeichen Gaben, die sie empfangen hat – hier weiß sich Calvin mit den Lutheranern ganz eins –, diese Gaben werden

55 Inst IV, 8,7; OS V, 138.31. 56 Conf. Helv. post., Art XVII, BSRK 195. 43–196–4. 57 Vgl. Inst IV, 1,12; OS V, 16, 4–6.

Die Verfassung der (Genfer) Kirche

jedoch erst dann „richtig“ verwaltet, wenn ihnen – nach innen wie nach außen – bestimmte Aufgaben zugeordnet werden, die erfüllt werden müssen, damit sie ihrem Auftrag gerecht wird. Denn nach außen hin „kenntlich“, anziehend und einladend, wird die Kirche nicht zuletzt durch die Gestalt, genauer: durch die Ordnung des Zusammenlebens, die sie sich gibt. Von der „Heilsnotwendigkeit“ einer bestimmten äußeren Gestalt der Kirche hat zwar kein Theologe, auch kein reformierter, je gesprochen. Es hätte aber auch keiner je bestritten, dass man das „Angeld“ des verheißenen Heils in eben diesen „irdenen Gefäßen“ tatsächlich erfährt. Deshalb hat das „credo ecclesiam“ unmittelbare Konsequenzen auch für die sogenannte Außenseite der Kirche bis hin zum Lebenswandel der einzelnen Gemeindeglieder, der Wahl ihrer Presbyter oder der Ordination ihrer Pfarrer. Ihre Kennzeichen sind, so verstanden, immer auch die Regeln, gemäß denen sie die Wirklichkeit des auferstandenen Christus und das in ihm erschienene Leben zur Darstellung bringt. Sie sind gewissermaßen die Prinzipien ihres Aufbaus (oikodomé). „Braut Christi“ zu sein, die auf ihren kommenden Herrn wartet, ist sozusagen der Normbegriff der calvinischen Gemeinde. Aus diesem Grund fällt hier ein so großes Gewicht auf die „von den Alten durchweg übergangene“ Bestimmung der Kirche als „Gemeinschaft (communicatio) der Heiligen“. Die nämlich werden „nach der Ordnung (hac lege) zum Bündnis (societas) mit Christus versammelt, dass sie all die Wohltaten, die Gott ihnen gewährt, einander gegenseitig mitteilen.“58 Dazu bedarf es nicht so sehr der Gewissheit des Glaubens (so der lutherische Akzent) als vielmehr des „Urteils der Liebe“, die durch die Kennzeichen – „Beispiel des Lebens“, offenes „Bekenntnis“, „Teilnahme an den Sakramenten“59 – zu wissen bekommt, was sie zu tun hat. „Hieraus“, fasst Calvin zusammen, „wird für uns überhaupt erst das anschaubare Gesicht der Kirche geboren; es taucht empor, so dass es für unsere Augen sichtbar wird“.60 Ohne Bild gesprochen: Erst kraft der „Verfassung (police), die unser Herr Jesus aufgerichtet hat“61 , wird „Gottes Sache“ (Dei negotium) in ihr getrieben, so gewiss er „inmitten der Gegnerschaft und des Widerstandes der ganzen Welt für seine Boten eintritt“.62 Von dieser Verfassung, der Verfassung der sichtbaren Kirche, ist hier zu reden. Calvin hat sie in den Jahren seines Straßburger Aufenthalts (1538–41) unter dem Einfluss Martin Bucers entwickelt. Eine theologisch begründete Kirchenordnung hat der Protestantismus erst durch ihn erhalten. Er griff mit seiner Vier-Ämter-Lehre auf neutestamentliche Vorbilder zurück und schuf im Konsistorium, zusammengesetzt aus Pastoren und Ältesten, eine selbständige Vertretung der Kirche zur Leitung 58 59 60 61 62

Inst IV, 1,3; OS V, 5. 5–7. Ebd. 1,8; OS V, 13. 17–20. Ebd. 1,9; OS V, 13.23f. Conf. Gallicana, Art. 25, Edition 1559, p. 52f; CStA 4, 65. 21f. Inst IV, 11,1; OS V, 197. 8f.

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Die Reform der Kirchenverfassung

ihrer Angelegenheiten. Auf regionaler Ebene nimmt die Synode die Funktionen des ehemaligen Bischofs wahr. Sie ist der Konstruktion nach ein rein geistliches Gremium. Deshalb ist auf dem Boden der Genfer reformierten Verfassung das Bewusstsein kirchlicher Selbständigkeit (und ineins damit die Distanz vom Staat) sehr viel stärker gewachsen, als das etwa in den deutschen Territorialkirchen möglich war. Die reformierten Synodalverbände („Klassen“) konnten von politischen Umständen und Veränderungen viel weniger beeinflusst werden als ihre lutherischen Schwesterkirchen. Alle Fragen der Organisation und Leitung einer Gemeinde bis hin zur Kirchenzucht sind deshalb keine bloßen Äußerlichkeiten. Vollends ist die äußere und innere Unabhängigkeit der Kirche gegenüber weltlichen Machtansprüchen keine Frage, die sich nach opportunistischen Gesichtspunkten so oder auch anders lösen ließe. In beiden Fällen – das zeigen die heftigen Auseinandersetzungen der „düsteren [Genfer] Jahre 1547–1555“ (B. Cottret) – stehen Wesen und Auftrag der Kirche selbst auf dem Spiel. Calvins Straßburger Arbeitsfeld war die französische Flüchtlingsgemeinde. Für deren Aufbau hatte er in einem weit größeren Maße freie Hand, als Bucer sie in der rechtlichen Organisation der Stadtgemeinde dem Rat gegenüber hatte, von den Verhältnissen in Genf gar nicht zu reden. Es lag schon in der besonderen Herkunft und Struktur dieser Gemeinde begründet, dass seine Tätigkeit von einer lebendigen, innerlich aktiven Beteiligung getragen wurde. Einen Schwerpunkt bilden in dieser Zeit Fragen der Gottesdienstordnung und der Liturgie.63 Auch hier stand Calvin in lebhaftem Austausch mit Bucer. So ergibt sich folgendes Bild: Im Zentrum jedes Gottesdienstes steht die Predigt. Das Abendmahl wird alle 14 Tage gefeiert und soll möglichst den Charakter eines wirklichen Mahles haben. Alles, was an Altar und Messe, vollends an die Anbetung der Hostie erinnert (Kerzen, knieender Empfang) wird abgeschafft. Die Teilnehmer sitzen an dem mit weißem Leinen gedeckten Tisch und lassen sich in einer sichtbaren Tischrunde Brot und Wein reichen. Die Taufe findet im Rahmen des Gottesdienstes (nicht in einer angehängten Feier) vor versammelter Gemeinde statt. Während Zwingli zunächst alles Singen und Musizieren, auch die Orgeln, aus den Kirchen verbannte, gingen die Straßburger andere Wege und haben sich schon früh um den Gemeindegesang bemüht. Calvin wies ihm einen festen Platz im Gottesdienst zu und gab zu diesem Zweck ein französisches Psalmenbuch heraus, das 18 biblische Psalmen sowie den Lobgesang des Simeon, den Dekalog und das Apostolicum in Liedform enthielt. Die Übertragung von fünf Psalmen geht auf ihn

63 Dazu s. Genfer Gottesdienstordnung (1542) mit ihren Nachbartexten: „La forme des Chantz et prières ecclésiastiques, OS II,11–58; CStA 2, 149–225; dazu die kenntnisreiche Einleitung von A. Marti, ebd. 138–144.

Die Verfassung der (Genfer) Kirche

selbst zurück, während die übrigen Stücke von dem bekannten Dichter Clément Marot stammen. 6.5.1

Die „Ordonnances Ecclésiastiques“ von 1541

Der erste Entwurf einer Kirchenordnung, die Calvin unmittelbar nach seiner Rückkehr in Genf in Angriff nahm, die Ordonnances Ecclésiastiques, hatten das Ziel, die Vorstellungen von der Kirche, die er in Straßburg entwickelt, und die Erfahrungen, die er dort gemacht hatte, in ein praktikables Modell umzusetzen, das gegenüber dem hierarchischen Prinzip des römischen Katholizismus den Gemeinschaftscharakter der Kirche und ihr prozessuales Wachstum in den Vordergrund stellte, und zugleich gegenüber dem Berner und Genfer Herkommen den Einfluss der weltlichen Gewalt auf ein Minimum beschränkte. Das erste Ziel ließ sich ohne größere Schwierigkeiten erreichen, denn man wollte Calvin die Kirche nach seinen Plänen aufbauen lassen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er weder an die Vorrechte des Magistrats noch an bestimmte Gebräuche rührte, die Genf mit Bern verbanden. So ließ sich die von ihm gewünschte monatliche Abendmahlsfeier nicht durchsetzen, ebenso wenig die Handauflegung bei der Ordination. Schwerwiegender noch waren die Vorbehalte bei der Auswahl und Bestellung der Pastoren. Hier sollte die Prüfung der Kandidaten durch das Pfarrkollegium der erste Schritt, die Bestätigung ihrer Wahl durch die Gemeinde der letzte sein, so dass ein Mitspracherecht der Ratsmitglieder entfallen wäre. Zwar ließ sich gegen die monatliche Zusammenkunft der Pastoren (congregation) nach Straßburger Vorbild nichts einwenden, wohl aber gegen die alle drei Monate vorgesehene gegenseitige Prüfung ihrer Lebensführung, die der Rat als einen Eingriff in seine richterliche Gewalt empfand. Die Kontroversen erreichten ihren Höhepunkt, als es um die Befugnisse des Konsistoriums ging, dem Calvin das Instrument der Kirchenzucht anvertrauen wollte. Auch in diesen Punkten kam es zu keiner Einigung. Es kann also keine Rede davon sein, dass der dem Rat schließlich vorgelegte und von ihm gebilligte Entwurf der Idealvorstellung Calvins entsprochen hätte. Die findet man in der Endfassung der Institutio (1559), Buch IV, 3, 1–6 und in den dort folgenden Erläuterungen (mit Einschränkungen auch in der 1561 revidierten Ausgabe der Ordonnances). Blickt man auf diese Endfassung, dann erkennt man den damals als epochal empfundenen Schritt in dem dort zur Geltung gebrachten (wenn auch unter den damaligen Bedingungen nicht 1:1 umgesetzten) Anspruch, dass die Kirche selbst sich eine dem Evangelium gemäße Gestalt geben müsse. Anders als unter den Mächten, die die Welt regieren, sollte in ihr zeichenhaft die ganz andere Herrschaft des Auferstandenen sichtbar aufgerichtet und in Kraft gesetzt werden. Dementsprechend ist die dort skizzierte presbyterial-synodale Verfassung, die sich im Genf des 16.Jahrhunderts nicht zufrieden stellend realisieren ließ, das Herzstück des Ganzen. Calvin wollte ein Leitungsgremium schaffen, das, „von der christlichen

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Die Reform der Kirchenverfassung

Gemeinde selber eingesetzt, als rein christliches Gremium fungieren und für das Zusammenleben in [dieser] Gemeinde zuständig sein sollte“.64 Ebenso klar wird die Trennungslinie gegenüber dem Katholizismus gezogen: Die Gewichte verlagern sich von der Universalkirche und ihrer Hierarchie – praktisch und theologisch – auf die Partikularkirche, die Gemeinde am Ort. In der sichtbaren Kirche findet die Ekklesiologie ihren neuen Schwerpunkt. Wohl ist die Kirche die Gemeinschaft aller (auserwählten) Gläubigen, die über die ganze Erde zerstreut leben; als „Gemeinschaft der Heiligen“ aber, als congregatio sanctorum (CA VII), stellt sie sich in den einzelnen Pfarreien und Kirchgemeinden dar. In ihnen (und fast möchte man sagen: nur in ihnen) nimmt der „Leib Christi“ sichtbare Gestalt an. Zu den hier namhaft zu machenden Unterscheidungsmerkmalen gehört daher an vorderster Stelle das kirchliche Amt, das zwar seit Augustin in keinem dogmatischen Zusammenhang, wohl aber in der Verfassungswirklichkeit zu den (konstitutiven) Kennzeichen der Kirche gerechnet und deshalb in den „Ordonnances“ neben „Verordnungen“ über das kirchliche Leben (Sakramente, Kirchengesang, Kranken- und Gefangenenbesuche) ausführlich an erster Stelle beschrieben wird.65 6.5.2

Das vierfach gegliederte Amt

Welches Gewicht die Frage nach der Ordnung der Kirche bekommen hat, beweist Calvins emphatische Äußerung, dass „weder das Licht und die Wärme der Sonne noch auch Speise und Trank zur Ernährung und Erhaltung des gegenwärtigen Lebens [annähernd so] notwendig sind wie das Amt der Apostel und Hirten zur Bewahrung der Kirche auf Erden“.66 Das Zweite helvetische Bekenntnis spricht geradezu von der „Konstitution“ der sichtbaren Kirche durch das Amt (ministerium), und die Confessio Gallicana wendet diesem Thema nicht weniger als sechs unter den insgesamt 40 Artikeln zu.67 Weil das „Amt“ nicht aus einem Mandat der Gemeinde hervorgeht, sondern gleichsam unmittelbar die Regierung des auferstandnen Christus in Kraft setzt – in ihm werden die Gaben, welche die Gemeinde als „Leib Christi“ konstituieren, in einer geschichtlich bedingten Gestalt realisiert –: darum hat die Ämterstruktur eine so überragende Bedeutung. Mit Rudolf Smend gesprochen: „Ein Gemeinwesen stellt sich in seinen Ämter dar.“68 Die Ämter gehören zu den wesentlichen Merkmalen seiner Verfassung. Sie sind das notwendige strukturierende Element, das dem Wachstum der Gemeinde Gestalt gibt. Hier mag man auch den Grund dafür finden, dass Calvin das Ministerium nicht (wie CA V) 64 65 66 67 68

P. Opitz, Einleitung, CStA 2, 233. In der erweiterten Fassung von 1561: CO 10/I, 91–124 (OS II, 328–364); CStA 2, 236–287. Inst IV, 3,2; OS V, 44. 33–36. Conf. Helv. post., BSRK 200. 2; Conf. Gall., Art. 2. 29–33, ebd. 227ff; CStA 4, 65. 21–69.3. Vgl. hierzu: H. Dombois, Recht der Gnade III, Bielefeld 1983, 144ff.

Die Verfassung der (Genfer) Kirche

auf den Glauben, sondern auf den sichtbaren Zusammenhalt der Gemeinde auf Erden bezieht. Dann aber kann es nur im Plural, als mehrfach, genauer: als dreibzw. vierfach gegliedertes Amt realisiert werden.69 Die klassische (in der ersten Genfer Kirchenordnung [1541] und noch in der Confessio Gallicana [1559] dreigliedrige) Struktur ist weder aus der (kritischen) Umbildung vorhandener Amtsformen, noch aus dem Aufbau des neu verstandenen Gottesdienstes hervorgegangen. Sie entspringt vielmehr der bibeltheologischen Besinnung auf die unverzichtbaren Aufgaben der Kirche. Es ist ein biblischer, vielleicht muss man sogar sagen: ein biblizistischer Entwurf, den Calvin dem neutestamentlichen Vorbild nachgebildet hat.70 Die Vorzüge liegen auf der Hand: Die Kirche wird als eine kollegiale Dienstgemeinschaft verstanden; ihre Ämter werden in eine klare Leitungsstruktur eingebunden. Hier haben wir es – modern gesprochen – mit den Anfängen einer Handlungstheorie der Kirche zu tun. Während das Amt nach römischem Verständnis ein konstitutives Element der sakramentalen Größe ‚Kirche‘ ist und als character indelebilis durch die Weihe weitergegeben wird, wird es hier durchweg als Mandat, eben als „Dienst an der Versöhnung“ (2Kor 5,18) begriffen. Es begründet keinen „Stand“, den Klerus, sondern ist eine Funktion des „Leibes Christi“. Deshalb tritt an die Stelle des Weihesakraments als einzige Voraussetzung die Berufung (vocatio) der Gemeinde. Dabei unterscheidet Calvin zwischen den außerordentlichen, für die Zeit der Kirchengründung gegebenen und darum befristeten Ämtern (Apostel, Propheten, Evangelisten)71 und den bleibenden, auf Dauer gestellten, ohne deren Dienst (Predigt, Lehre, Armenfürsorge und Kirchenzucht) die Kirche zu keiner Zeit bestehen kann. So übersichtlich und genau deren Aufgaben hier beschrieben werden: es ist kein starres, sondern ein außerordentlich bewegliches Schema, das mit Überschneidungen und Stellvertretungen rechnet. Dass hier einer auf den anderen angewiesen ist, soll den Zusammenhalt der Kirche, ihre Einheit, stärken. Damit wird als eine Art cantus firmus der Gedanke des Dienens noch einmal, zum Ausdruck gebracht, den Calvin in seinem Kommentar der Korintherbriefe (1546) so stark betont hatte: Wir sollen also wissen, dass wir von dem Herrn so in die Kirche gestellt sind und ein jeder seinen Posten so zuerteilt bekommen hat, dass wir uns gegenseitig dienen unter einem Haupt; wir sollen auch wissen, dass wir so mit verschiedenen Gaben beschenkt sind, damit wir in Bescheidenheit und Demut dem Herrn dienen und auf seine Ehre bedacht sind, der uns alles, was wir haben, verliehen hat.72

69 Inst IV, 3,4–9; OS V, 45.31–51.20. 70 „Ich heiße nur solche menschlichen Satzungen gut, die auf Gottes Autorität gegründet, aus der Schrift entnommen und deshalb voll und ganz göttlich sind“; Inst IV, 10,30; OS V, 192. 14–16. 71 Inst IV, 3,4; OS V, 46. 29–31. 72 Kom. zu 1Kor 4,1f., CO 49, 367.

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Die Reform der Kirchenverfassung

(1) Das Amt des Pfarrers (Pasteur) steht hier an erster Stelle und nimmt den größten Raum ein. Es umfasst die Verkündigung vor der Öffentlichkeit und in der Seelsorge; hinzu kommt die Verwaltung der Sakramente. Gleichzeitig aber teilt er sich mit den Ältesten die Aufgabe der „brüderlichen Zurechtweisung“ (als Teil der Kirchenzucht) und kann auch den Part des Doktors übernehmen. Seine Einsetzung kann (ein heute selbstverständlicher Vorgang) nicht ohne die Bestätigung, die „allgemeine Zustimmung“ der Gemeinde, erfolgen. Weit weniger selbstverständlich ist der von ihm zu leistende Amtseid, der eine strikte Loyalitätserklärung gegenüber Stadt und Magistrat vorsieht und die von Calvin gemeinte Selbständigkeit der Gemeinde kaum verhüllt einschränkt. Umso bemerkenswert ist daher das hier geforderte Zugeständnis eines Vorbehalts, der dem Gehorsam Gott gegenüber Rechnung trägt. Die Verbindlichkeit der Anordnungen des Magistrats soll nämlich nur gelten, „soweit es mir möglich sein wird“, bzw. „soweit mein Amt es zulässt“, d. h. „solange die Freiheit nicht beeinträchtigt wird, die wir haben müssen, um nach Gottes Auftrag lehren zu können […] und ihm den Dienst zu leisten, den ich ihm aufgrund meiner Berufung schuldig bin.73 (2) Über den Dient der Doktoren bzw. Lehrer fasst sich die Ordnung kurz. Ihre vornehmste Aufgabe ist die Förderung des Nachwuchses (Sprachunterricht, Allgemeinbildung: sciences humaines), damit die Kirche „nicht aus Mangel an Pastoren und Pfarrern verwaist“. Dazu muss ein Gymnasium eingerichtet werden, das die Schüler „auf den Kirchendienst und [wie ausdrücklich hinzugefügt wird] auf ein politisches Leitungsamt (gouvernement civil) vorzubereiten“ hat. Der theologische Unterricht im Alten und Neuen Testament ist faktisch jedoch erst mit der Gründung der Akademie (1559) eingeführt worden.74 (3) „Die wohl hervorragendste Erscheinung“ dieses Entwurfs, urteilt Herman Selderhuis, ist dabei der Älteste, sofern man darauf achtet, wie Calvin, das bewährte Straßburger Vorbild vor Augen, die biblischen Vorgaben umgesetzt hat. Der Kirchenälteste ist der eigentliche Hirte, der die „Herde der Gläubigen“ betreut und beaufsichtigt.75 Arnold A. van Ruler hat ihm als dem Episcopus im Sinne Calvins ein schönes Denkmal gesetzt: Der Älteste ist von Gottes wegen in der Heiligung des Lebens tätig. Er geht um die Kirche. Er geht durch die Häuser, er geht durch das Volk. Da hat er das Bischofsamt inne, die Aufsicht, und da sucht er, ob der Same, der in der Predigt ausgestreut ist, Früchte trägt.

73 Ordonnances (1561): „en tant qu’à moi sera possible“ bzw. „que mon office le portera“; CO 10/1, 96; CStA 2, 245. 29–35. Vgl. dazu auch Kapitel 7.4 zum Widerstandsproblem. 74 Zu der nicht immer deutlichen Unterscheidung von Pastoren und Doktoren vgl. die Klarstellungen im Kommentar zu Eph 4,11, CO51,197f. 75 H. Selderhuis, Johannes Calvin. Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel, Gütersloh 2009, 149.

Exkurs: Die Kirchenzucht

Um den Ältesten, um den Presbyter, brennt das Feuer der großen calvinischen Vision vom Reiche Gottes auf Erden.76

Calvin hatte an ein rein kirchliches Amt gedacht, doch das ging dem Genfer Rat zu weit. Er hielt sich an die Vorbilder des Zürcher Ehe- und des Berner Chorgerichts, Institutionen des bürgerlichen Magistrats, und setzte durch, dass der Kreis der Ältesten aus zwölf Ratsmitgliedern gebildet wurde, die von den Pfarrern immerhin vorgeschlagen werden sollten, wobei der Große Rat sich die Entscheidung vorbehielt. Er bezeichnete die Kirchenältesten denn auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit als „Diener der Abgeordneten des Magistrats“. So bekam das Amt einen politischen, die Kirchenzucht einen stark juristischen Charakter. Die Vorwürfe, die man Calvin wegen der oft übertriebenen Strenge dieses Gremiums machte, gehen, wie man den Ratsprotokollen entnehmen kann, in vielen Fällen an die falsche Adresse. Sie betreffen zumeist die gewählten Ratsmitglieder.77 (4) Die zu Calvins Zeiten erst vier Diakone – bei dieser Zahl sollte es nach den Ordonnances (1561) bleiben – „unbescholtene Männer“ (1Tim 3,8–13), wie es in dieser Vorlage heißt, sollen sich ihr Aufgabengebiet so teilen, dass einer für die Finanzverwaltung (das „Armengut“) zuständig ist, während die anderen mit der Krankenpflege und der regelmäßigen Armenfürsorge beschäftigt sind.78 Die unmittelbar folgenden Anweisungen für „Spitäler und Stadtarme“ belegen, dass sich aus diesen Ansätzen ein wohlorganisierter Ausbau von Kranken- und Waisenhäusern entwickelt hat – nicht zuletzt mit dem Ziel, die grassierende Bettelei, eine Plage in den spätmittelalterlichen Städten, aus der Öffentlichkeit zu verbannen.

6.6

Exkurs: Die Kirchenzucht79

Als Instrument der Selbstprüfung der Kirche geht die Kirchenzucht auf das Neue Testament zurück80 und erstreckt sich auf Lehre und Lebensführung der Gemeinde. Sie ist historisch gesehen die Wurzel des evangelischen Kirchenrechts (iurisdictio, Inst IV, 12,6). Calvin zählt sie jedoch (anders als die Confessio Belgica, Art, 29

76 A.A. van Ruler, Das Leben und das Werk Calvins, in: J. Moltmann (Hg), Calvin-Studien, Neukirchen 1960 (84–94), 88. Die nüchterne protokollarische Formulierung findet man in den Ordonnances, CStA 2, 255.7–9. 77 Vgl. dazu: R.M. Kingdon/F.-F. Bergier (Hg), Registre de la compagnie des pasteurs de Genève, 1984. 78 Ordonnnances, CO 10/I, 101f.; CStA 2, 257. 2–19. 79 Eine konzentrierte Zusammenfassung des Themas gibt Calvin im Brief an Kaspar Olevianus vom 25.Nov. 1560, in: Schwarz (Anm. 43), Bd. 3, 1091–93 (Nr.643). 80 1Kor 5, 1–5; 6,9–10; und Mt 18, 15–18.

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Die Reform der Kirchenverfassung

und die Conf. Scotica, Art.18) trotz der von ihm so emphatisch betonten Notwendigkeit für den inneren Zusammenhalt der Kirche nicht zu den notae ecclesiae, obwohl wir es hier mit einem konstitutiven Merkmal der Kirchenverfassung zu tun haben. Das geschieht erst im Emdener Katechismus.81 Sie wird als kirchliche Gerichtsbarkeit mit der Vollmacht begründet, bei gravierenden Verstößen gegen Vorschriften der Kirchenordnung oder der Sittlichkeit schuldig gewordene Glieder zu ermahnen, zu strafen und in besonders schweren Fällen sogar aus der Gemeinde auszuschließen. Das ist für alle Epochen der Kirchengeschichte gut belegt. Mit der Tradition beruft sich Calvin dafür auf das Schlüsselamt der Kirche (Mt 18,16). Er hat diese Gerichtsbarkeit als das „bei einem wohlgeordneten Stand der Kirche wichtigste Stück“ der spezifischen Kirchengewalt (potestas ecclesiastica) verstanden. Sie hat das Recht, Glaubenssätze zu formulieren, Gesetze zu erlassen und eine dementsprechende Jurisdiktion auszuüben82 . Er begreift sie als die konkrete Gestalt einer Gabe, nämlich der von Gott selbst eingesetzten und in ihrer Dauer bestätigten „Hausordnung“ der Gemeinde, und deshalb als die notwendige Form, in welcher die Predigt des Evangeliums ihren Anspruch (als „Schlüssel“, freizusprechen und zu binden), geltend macht – in einer pädagogischen Metapher ausgedrückt: „Wie die heilbringende Lehre Christi die Seele der Kirche, so nimmt die Disziplin die Stelle der Sehnen ein: sie bewirkt, dass die Glieder des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden bleiben.“83 Soll also die Verheißung der Schlüssel nicht ungültig werden, dann – so das entscheidende Argument – ist zuletzt auch eine „gewisse Rechtsprechung (iurisdictio) der Kirche unerlässlich“.84 Damit, betont Calvin, „ist das von dem bürgerlichen völlig unterschiedene geistliche Regiment“ etabliert, das bis heute an der Wurzel eines eigenständigen (d. h. „eigengearteten“) Kirchenrechtes steht. Darüber brauchte man nicht zu reden, wenn es über dieser Konsequenz nicht zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Calvin und dem Genfer Rat gekommen wäre, der sich die Kontrolle über die Sittlichkeit seiner Bürger nicht aus der Hand nehmen lassen wollte. Mykonius aus Basel sprach Calvin gegenüber von einem „recht anarchischen Dogma“ und noch im Rückblick erkennt der Biograf Cottret „die offensichtliche Gefahr, vor der die Reformatoren sich fürchteten: eine totale Übernahme der Kirche durch den Staat, die Säkularisierung der Theologie“.85

81 Emdener Katechismus (1554), Art. 70–73; BSRK 678.23–679.5. 82 In diesen juristisch detailliert ausgearbeiteten Rahmen von Inst IV,8, IV,10 und 11 wird die Kirchenzucht in Inst IV, 12,1–5, OS V, 212–216 eingeordnet. 83 Inst IV, 12,1, OS V, 212. 24–27. 84 Ebd. 11,1; OS 195. 35f. und 12,6: OS V, 217.2. 85 O. Mykonius, Brief an Calvin vom 10. Februar 1542, CO 11, 368f. – B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1995, 200.

Exkurs: Die Kirchenzucht

Calvin hielt zu Recht dagegen, dass das von ihm (übrigens nicht als erstem) institutionalisierte „geistliche“ Regiment das bürgerliche „keineswegs behindert oder schwächt, sondern ihm vielmehr wesentliche Hilfe und Förderung verschafft“. Ihm ging es allein darum, dass das Evangelium auch das Verhältnis zwischen Christus und seiner irdischen Gemeinde bestimmt und das, was nach Maßgabe dieses Verhältnisses Recht oder Unrecht genannt zu werden verdient. Man hat zum Schaden der Sache freilich allzu schnell vergessen, dass Calvin die in der Kirchenzucht unter den Augen des Volkes (als „Zeugen und Wächter“) ausgeübte Rechtsprechung eine „öffentliche Versöhnung“ nennt86 , und dass er von dem doppelten Mandat des Schlüsselamtes, im Blick auf Sünde und Tod „zu lösen und zu binden“, als der „Summe des Evangeliums“ spricht.87 Dieser Hochschätzung entsprechend soll die Kirche mit den unvermeidlichen Strafen der von ihr geübten „Disziplin“ ein dreifaches Ziel (finis) verfolgen: (1) Damit ihr, so gewiss sie der „Leib Christi“ ist, nicht das Brandmal der Schande aufgedrückt wird, müssen aus ihrer Hausgenossenschaft all die ausgeschlossen werden (Augustins„mali“), denen ein übler Ruf anhängt. Das Bild der „reinen“ Abendmahlsgemeinde als „Braut Christi“ darf nicht durch mutwillige, uneinsichtige Frevler befleckt und entstellt werden.88 Doch auch die härteste Strafe, der (zeitlich befristete) Ausschluss vom Abendmahl, gibt der Kirche nicht das Recht, Menschen „für immer aus der Zahl der Erwählten zu tilgen oder an ihnen zu verzweifeln, als ob sie bereits verloren wären“.89 Denn die mit ihr faktisch verbundene gesellschaftliche Ächtung war in der Tat auch ein gravierender Eingriff in die bürgerliche Existenz der Betroffenen. Soll darum aus dem Heilmittel kein Gift werden, so genüge es, ihnen diese Möglichkeit vor Augen zu stellen und sie „zum Heil zurückzurufen“, so dass ihrer Wiederaufnahme in die Gemeinde nichts mehr im Wege steht. Denn, so Calvin, Gott kann „die Schlechtesten in Beste verwandeln“, er kann Fremde heimholen und aus Draußenstehenden Drinnenbleibende machen.90 (2) Mit Blick auf 1Kor 5,11 fordert er die kirchliche und gesellschaftliche Trennung der Gemeinde von ihren mit der Kirchenzucht belegten Gliedern, „damit die Guten durch den fortgesetzten Umgang mit den ‚Bösen’ (mali) nicht verdorben werden“.91 (3) Schließlich distanziert er sich von der „maßlosen Strenge der Alten Kirche“

86 Inst IV, 1,22; OS V, 25. 36: publica reconciliatio. 87 Ebd 11, 1; OS V, 195. 24–26: summa Evangelii. Vgl. ebd.197. 27–30: Die Schlüsselgewalt ist im neutestamentlichen Kontext „einfach Predigt des Evangeliums“ und ist so verstanden „nicht so sehr eine Gewalt, sondern im Blick auf die Menschen vielmehr ein Dienst.“ 88 Ebd. 12.5; OS V, 215. 6–20. Zur geforderten „Reinigung“ der Gemeinde vgl. die Ausführungen von R. Wallace, Calvin’s Doctrine of the Christian Life, 1961, 234–237. 89 Ebd. 12.9; OS V, 220. 10–12. 90 Ebd. OS V, 220.25f. 91 Ebd. 12,5; OS V, 216. 2f.

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und erinnert mit Cyprian an den „Geist der Milde“, die Tugenden der „Geduld, Gutwilligkeit und Menschlichkeit (humanitas)“, damit die Ausgeschlossenen selber Reue über ihr Verhalten empfinden. Niemand soll die Person des anderen verdammen. Deshalb ermahnt er – eine längst fällige, durch R. Kingdons Edition der Ratsprotokolle angemahnte Korrektur des überlieferten Calvin-Bildes!92 – „mit Worten, also sanft und väterlich zurechtzuweisen, nicht in der Absicht, den Sünder innerlich zu zerbrechen oder zu verbittern, vielmehr ihm die Augen über sich selbst zu öffnen, damit seine Freude, auf den rechten Weg zurück gebracht zu sein, größer ist als der Schmerz über den damit verbundenen Tadel“.93 Im ersten Katechismus (1537) und noch in der Institutio (1559) ist die Kirchenzucht, ja selbst ihre schärfste verhängte Strafe, die Exkommunikation, nur eine zeitliche Maßregel der Kirche, kein wirkliches Anathema des bzw. der Bösen. Sie ist nur dadurch zu rechtfertigen dass ihr menschlicher, irdischer Charakter eingesehen, dass sie sozusagen jedes moralischen Charakters entkleidet wird. Sie ist ein Ausschluss aus dem Kreis der Gläubigen auf Widerruf. Theologisch bedenklich erscheint uns daher heute das Achtergewicht zu sein, das mit der Konzentration auf diesen einen Punkt der Kirchenordnung zwangsläufig – infolge der vom Magistrat beanspruchten Strafgewalt – zu erheblichen Eingriffen in das Privatleben der Bürger führen musste.94 Angesichts der 56 Todes- und 78 Verbannungsurteile, die von der weltlichen Gewalt zu Calvins Leibzeiten vollstreckt worden sind, kann man nur mit einem schauerlichen Respekt an die erhabene Strenge denken, mit der das Reformwerk dort aufs Ganze ging.95

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Die Sakramente

Das gepredigte Wort und die schriftgemäß gebrauchten Sakramente sind nach CA VII die unerlässlichen, aber auch hinreichenden Kennzeichen der sichtbaren Kirche. Mit diesem Satz hätte auch die römische Kirche leben können, wenn sich

92 R.M. Kingdon, A New View of Calvin in the Light of the Registers of the Consistory, in: W.H. Neuser/B.G.Armstrong (Hg.), Calvinus sincerioris religionis vindex, Kirksville Missouri 1997, 21–33. 93 Ebd. 12, 6; OS V, 217. 16–20 nach dem Motto: Es gilt, die „strenge Barmherzigkeit“ mit einer „kräftigen Zucht“ zu verbinden (IV, 12.13). Zum Ganzen: Ebd. 12.8; OS V, 218. 34; 219. 12f. und 26f. (mit Hinweis auf Cyprian, Ep. 59 ad Cornelium, 16; CSEL 686). Zum Thema der Moderatio vgl. wiederum R. Wallace (Anm. 88), 184–89. 94 Ein oft beschriebenes Beispiel ist die Affäre um den Ratsherrn Pierre Ameaux. Dazu: B. Cottret, Calvin (Anm. 5), 227–247, sowie: Chr. Strohm. Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 60–77. 95 Vgl. dazu: S.M. Manetsch, Holy Terror or Pastoral care? Church Discipline in Calvin’s Geneva, 1542–1596, in: H. Selderhuis (Hg.), Calvin – Saint or Sinner?, Tübingen 2010, 283–306.

Die Sakramente

ein Einverständnis darüber hätte finden lassen, was der (von Tertullian eingeführte) unbiblische Begriff des Sakramentes meint, der überdies auch zwischen Lutheranern und Schweizer Reformierten strittig war. Ließ sich schon über die Notwendigkeit der Predigt keine Einigung erzielen96 , so erst recht nicht über die Bedeutung der Sakramente. Denn worüber wurde hier gestritten, und warum trat gerade dieser Punkt in die Mitte aller Kontroversen? Sollte die Reformation nach ihrer formellen Annahme in Genf (1536) Fuß fassen, dann musste nicht zuletzt auch hier Klarheit geschaffen werden. Das jedenfalls ist das Ziel, das sich Calvin mit seinem ersten, noch in Basel verfassten Katechismus, „Unterweisung und Glaubensbekenntnis“ von 1537, gesetzt97 und in den Umbruchsjahren nach 1541 weiter verfolgt hatte. Diese Entwürfe gehen auf die erste Institutio (1536) zurück, die eine historische Schwelle markiert. Sie macht ein „Ende mit dem Herumirren zwischen lutherischen, mystizistischen oder evangelischen Positionen“ und gibt den am Wachstum der neuen Kirche Interessierten ein „Corpus präziser dogmatischer Definitionen“ an die Hand.98 Ihre Thesen und Feststellungen sind oft wörtlich in die Arbeiten der späteren Jahre übernommen worden. Man hat im Blick auf die von Calvin erarbeitete Position von einer Mitte (nicht Vermittlung!) zwischen Luther und Zwingli gesprochen.99 Holzschnittartig gesagt: Luther ist alles gelegen an der Einzigartigkeit des „Hoc est corpus meum“ (Mk 14,22f. par) und, daraus folgernd, an der geradezu dinglich greifbaren Objektivität der göttlichen Gabe, die sich „in, mit und unter“ den Elementen verbirgt. Zwingli konnte darin nur eine Variante, gewissermaßen einen Rückfall in katholische Hostienverehrung und -frömmigkeit sehen. Er begriff als das eigentlich „Objektive“ des Glaubens den Geist, die Beziehung bzw. Bewegung von Gott zum Menschen. Was Körper (corpus) ist, ist Fleisch, und das Fleisch ist „nichts nütze“ (Joh 6.63). Darum liegt der Akzent nicht auf dem est, sondern auf dem significat. Konkret: Das im Abendmahl ausgeteilte Brot ist nicht das Brot des Lebens, sondern es bedeutet, das heißt: es ruft Erinnerung, dass Christus das Brot des Lebens ist.100 Und so bewirkt auch das Wasser der Taufe nicht unsere Reinigung und unser Heil, sondern vermittelt uns, wie es später heißen wird, nur die Erkenntnis und Gewissheit dieser

96 Vgl. Brief an Kardinal Sadolet, CO 5, 396; CStA 1.2, 373. 29–375.8. 97 Instruction et Confession de Foy dont on use en L’Église de Geneve (1537), CO 12, 68.; CStA 1.1, 195f.; Confession de la Foy (1537), CO 12, 91; ebd. 217; dazu: J. Hesselink, Calvin’s First Catechism 1997, bes. 140–154. 98 D. Crouzet, La nuit de Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1994, 19. 99 K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1994, 230f.; F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen 1968, 278. 100 Inst (1536) IV, OS I, 138: „Sacramentum ergo non panem vitae Christum esse facit, sed quatenus in memoriam nobis revocat panem esse factum.“ (Das Sakrament bewirkt nicht, dass Christus das Brot des Lebens ist, sondern ruft uns in Erinnerung, inwiefern es dazu geworden ist.)

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Gabe.101 Das also sind die Gegensätze, mit denen es Calvin zu tun hatte. Er besetzt nun die Mitte zwischen diesen Extremen, indem er an der Objektivität der Heilsgabe festhält, sie aber nicht wie Luther durch die „Elemente“ (Wasser bzw. Brot und Wein), auch nicht wie Zwingli im Akt der Erinnerung (memoria) verbürgt sieht, sondern im Wort der Verheißung (promissio), das ihnen vorausgehen muss, und ohne das von einem Sakrament keine Rede sein kann. Dem Verheißungswort gegenüber haben die Sakramente also nur einen zweitrangigen, ergänzenden, d. h. uns vergewissernden Charakter, nicht aber einen gemessen an der Predigt eigenen oder gar (wie im Luthertum) höheren Verkündigungsrang. Sie sind, wie es der erste Satz des späteren Diskurses formuliert, ein anderes, „der Predigt des Evangeliums verwandtes Hilfsmittel unseres Glaubens“.102 Warum aber und um was, so lautete die Eingangsfrage, wird in dieser Auseinandersetzung gestritten? Es geht im Kern darum, was wir von einem Sakrament erwarten dürfen, und was eben nicht. Denn an diesem Kriterium (nicht schon an der formalen Frage ihrer neutestamentlichen Einsetzung) muss sich entscheiden, ob wir wie die Katholiken mit sieben oder aber – theologisch begründbar – nur mit zwei Sakramente zu rechnen haben. Es ist erstaunlich, wie genau Calvin schon in seiner frühesten Äußerung zur Sache in der 1536er Institutio dieses Problem ins Auge gefasst und bearbeitet hat. Er definiert: „Ein Sakrament ist ein äußeres Zeichen (signum externum), mit dem der Herr seinen guten Willen uns gegenüber veranschaulicht und bekundet, um der Schwachheit unseres Glaubens aufzuhelfen“, oder kürzer gefasst: „Es ist ein Zeugnis der Gnade Gottes, das uns mit einem [äußeren] Zeichen (symbolum) bekannt gemacht wird.“ Es folgt der Zusatz: „Dadurch erkennen wir auch, dass ein Sakrament niemals ohne eine ihr vorausgehende Verheißung sein kann, sondern ihr vielmehr wie ein Anhängsel (appendix) beigefügt wird, und zwar deshalb, um die Verheißung selbst fest zu machen, zu versiegeln und sie uns gleichsam noch besser bezeugt erscheinen zu lassen.“103 Diese von Augustin inspirierte Erläuterung104 ist bis in die letzte Fassung der Institutio (1559) übernommen worden.105 Eine klar argumentierende, abschließende Darstellung findet sich dann im Consensus Tigurinus.106 101 Ebd. 127: „genau genommen wird in diesem Sakrament (Taufe) lediglich die Erkenntnis und Gewissheit dieser Gaben (Reinigung von der Sünde und Wiedergeburt) erfasst (gewonnen)“. 102 Inst (1559) IV, 14,1; OS V, 258.33f. 103 Inst (1536) IV, OS I, 118. 104 Augustin spricht von dem „sichtbaren Zeichen einer res sacra“ bzw von der „sichtbaren Form einer unsichtbaren Gnade“ (De catechizandis rudibus, c. 26,50) oder, so die bekannteste Formel, von einem „verbum visibile“ (In Joh. Ev. Tract. 80,3), weil es – so Calvin – uns „die Verheißungen Gottes wie auf einer Tafel abgemalt vor Augen stellt“ (OS I, 119). Vgl. hierzu ausführlich: F. Wendel, Calvin, 276f. 105 Inst IV, 14,1: OS V, 259. 3–6. 11–14 und 260.11–15. 106 Consensus Tigurinus (1549), Art. 7–12, CO 7, 737–739; CStA 4, 17.28–21.11.

Die Sakramente

Das (logische) Subjekt, von dem her Calvin das ganze sakramentale Geschehen in Taufe und Abendmahl begreift und aufrollt, ist somit das unverzichtbare Verheißungswort, dem das Sakrament nichts hinzufügt, von dem es vielmehr ganz und gar abhängt. Im Blick auf die Sache selbst haben die sogenannten Elemente (Wasser, Brot und Wein) eine untergeordnete, rein dienende Funktion. Sie sind lediglich ein Mittel, uns angesichts unseres schwachen Glaubens die Verheißungen vor Augen zu stellen. „Wenn Paulus interpretiert, [es gehe darum], den Tod Christi zu verkündigen [1Kor 11,26], so heißt das, öffentlich – zugleich alle mit einem Mund – zu bekennen, dass unser ganzes Vertrauen auf Leben und Heil für uns im Tode des Herrn beschlossen liegt107 , was mit einem leiblichen Essen an sich gar nichts zu tun hat. Hier wird wiederum sichtbar, „wo der Zielpunkt liegt, auf den das Sakrament blickt: dass wir uns nämlich „im Gedächtnis des Todes Christi üben sollen“. Es geht um den Analogieschluss von den leiblichen Dingen zu den geistlichen, von dem, was [zu schmecken und] zu sehen ist, zu dem, was damit gezeigt werden soll. Wenn es also heißt: „nehmt, esset und trinkt!“, so ist gemeint: „Was [Christus] uns zu nehmen befiehlt, bedeute: das gehöre uns; und was er uns zu essen gebietet, bedeute: das [was man nicht sehen, nehmen und essen kann] werde mit uns zu einer Substanz.“108 Was in der Sprache des Zeichens vernommen wird, ist dann tatsächlich die Sache, die es zu nehmen gilt. In diesem Sinne muss man mit Augustin zwischen dem Sakrament und der von ihm bezeichneten Sache (res sacramenti) unterscheiden. Calvin liegt alles daran, die römisch katholische Auffassung von der Eigenwirksamkeit der Sakramente a limine auszuschließen – er orientiert sich dabei an Luthers Schrift „De captivitate Babylonica ecclesiae“ von 1520 – und demgegenüber ihren Zeichencharakter herauszustellen. „Man soll nicht auf die Elemente starren […] und an sie das Vertrauen auf sein Heil setzen.“109 Sie sind lediglich Siegel (daher der immer wiederkehrende Terminus der obsignatio) zur Bestätigung des Inhalts einer Urkunde. Sie bieten nur an, was uns im Wort der Verheißung schon gegeben ist. Calvin verdeutlicht diesen für ihn wichtigen Zusammenhang mit einem instruktiven Vergleich. Er erinnert an die alttestamentlichen Zeichen, die Gott den Menschen gegeben hat, um sie seiner Verheißungen gewiss zu machen, an den „Baum des Lebens“ (Gen 2,16) oder an den Regenbogen (Gen 9,12f.), die er im vollen Sinne des Wortes „Sakramente“ nennt. Denn „sie tragen ein „Zeichen (nota) in sich, das durch Gottes Wort in sie eingegraben war, damit sie Dokumente und Siegel seiner Verfügungen (testamenta) wären“.110 So wurde ihnen, weil von Gottes Wort gezeichnet, „eine neue Gestalt (nova forma) gegeben, so dass sie anfingen, etwas 107 108 109 110

Inst (1536) IV, CO 1, 126; OS I,145. Ebd. 119; OS I, 137. Consensus (Anm. 106), Art. 11, CO 7, 739. Inst (1559) IV, 14,18; OS V, 276. 15f.

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zu sein, was sie zuvor nicht waren“; sie bekamen wie das zur Münze geschlagenen Metall eine neue Bedeutung, einen „neuen Wert“ (nova taxatio).111 Hier wird zugleich ein weiteres, für Calvins Theologie zentrales Thema berührt, der Gedanke der Akkomodation: In und mit dem so verstandenen Sakrament „passt sich der barmherzige Gott unserer Fassungskraft an, […] führt uns auch mit diesen ‚fleischlichen’ Elementen zu sich hin und bewirkt so, dass wir selbst im Fleisch das, was dem Geist zugehört, erblicken“.112 Deshalb allerdings erfüllen die Sakramente ihre Aufgabe auch erst dann, „wenn jener innere Lehrer, der Heilige Geist, hinzutritt, dessen Macht allein unsere Herzen durchdringen kann […], so dass den Sakramenten der Zugang auch zu unserem Inneren (anima) offen steht“. Calvin erinnert an das schöne Dictum Augustins: Die Wirksamkeit des Wortes kommt im Sakrament an den Tag, „nicht weil es ausgesprochen, sondern weil es geglaubt wird“.113 Fehlt der Geist jedoch, „dann können die Sakramente […] sowenig ausrichten wie der Glanz der Sonne in blinden Augen oder der Schall der Stimme in tauben Ohren“.114 Deshalb schärft der Katechismus noch einmal ein: „Wirksamkeit und Kraft des Sakraments liegt nicht eingeschlossen in ein äußeres Element, sondern geht ganz vom Geist Gottes aus.“115 Die Sakramente, fasst Calvin seine Ausführungen zusammen, sind Instrumente, durch die Gott nach seinem Willen wirkt. Alles, was er uns in den Zeichen verheißt und bildlich darstellt, das gewährt er uns auch; wirkungslos bleiben die Sakramente nicht. So verstanden sind sie tatsächlich Siegel, mit denen Gott seine Verheißungen beglaubigt. Da uns Menschen aber „niemals eine göttliche Verheißung gegeben ist, es sei denn in Christus (2Kor 1,20), müssen sie uns, wenn sie uns denn überhaupt über irgendeine Verheißung Gottes belehren wollen, notwendigerweise Christus zeigen“.116 Das ist gemeint, wenn Calvin wiederholt betont, die Sakramente hätten keine andere Aufgabe als das Wort Gottes auch. Die aber besteht darin, uns Christus darzubieten und in ihm uns die Schätze der himmlischen Freigebigkeit (gratia), vor Augen zu stellen.117

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Ebd. 276. 17f. und 32f. (so bereits in Inst 1536, IV, CO 1, 107; OS 1, 124f.). Inst (1536) IV, CO 1, 102; OS I,118. Ebd. OS 1, 120: „non quia dicitur, sed quia creditur“. Inst (1559) IV, 14,9; OS V, 266, 18–22. Genfer Katechismus (1545), Frage 313, CO 5, 113; CStA 2, 115.22–24. Inst (1559) IV, 14,20; OS V, 278. 26–29. Ebd. IV, 14,17; OS V, 274.18–20, so wörtlich schon in OS I, 123f.

Die Taufe

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Es ist erstaunlich, mit welcher Konsequenz Calvin die Folgen, die sich aus dem Sakramentskapitel für Taufe und Abendmahl ergeben, schon im ersten Anlauf in der Institutio von 1536 gezogen hat. Die späteren Texte, der Katechismus von 1537, die neuen Fassungen der Institutio (1539, 1541 und 1559) bis hin zur Confessio Gallicana (1559), übernehmen oft wörtlich den dort entwickelten Grundriss, erweitern den Argumentationsgang jedoch im Gespräch vor allem mit Luther (De captivitate Babylonica ecclesiae, 1520) und Bucer (Quid de baptismate infantium sentiendum, 1533) sowie in der Auseinandersetzung mit den schärfer werdenden Angriffen der Wiedertäufer. Der Aufbau zunächst des Taufkapitels ist dreifach gegliedert: (1) Die Entfaltung des theologischen Gehalts der Taufe: Sie ist uns von Gott als Zeichen unserer Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche gegeben; sie dient unsrem Glauben. (2) Sie ist vor der Welt und den Menschen das Erkennungszeichen und das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden. (3) Sie muss gegen die täuferischen Kreise aus Holland und der Schweiz als Kindertaufe begründet und verteidigt werden. So erst entsteht zuletzt ein profilierter, an der Rechtfertigungslehre orientierter, evangelischer Entwurf. Er verbindet nach dem Vorbild Bucers zwinglische und lutherische Elemente. (1) Das Erste und Wichtigste, das wir ihrem theologischen Begriff nach in der Taufe empfangen, ist die Verheißung der Sündenvergebung nach Mk 16,16: „Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden“.118 Dabei liegt der Akzent Calvins (wie gezeigt) darauf, dass das Sakrament als solches nicht die Kraft der Reinigung und Erneuerung in sich trägt, so dass es als Ursache unseres Heils gelten könnte. Schon bei Luther liest man: „Wasser allein tut’s freilich nicht.“119 Vielmehr verbürgt es uns lediglich die Gewissheit dieser Wohltaten, indem es sie in der Taufe bildlich darstellt – das Wasser steht für das Blut Christi – und derart das Verheißungswort „versiegelt“.120 Damit ist der der Neuinterpretation die Richtung gewiesen: Unsere Augen werden ganz vom sichtbaren Element des Wassers abgezogen. Die Taufe soll Geist und Sinne allein auf Christus richten. An Luther schließlich erinnert der Nachdruck, mit dem Calvin einschärft, dass uns die Taufe nicht nur im Blick auf unsere vergangenen Verfehlungen gegeben ist. Denn „zu welcher Zeit wir auch getauft sein mögen, wir sind ein für allemal für unser ganzes Leben gewaschen und gereinigt“.121 Da wir aber die Vergebung durch den Dienst der Kirche empfan118 119 120 121

Inst IV, 15.1; OS V, 286. 4f. Luther, BSLK 516. 13. Ebd. 15.2; OS 286. 15f. und 20f. Ebd. 15,3; OS V 287. 6–8. Luther, De captivitate Ecclesiae: „Wie nämlich die Wahrheit der göttlichen Verheißung, nachdem sie einmal über uns gesprochen ist, bis zu unserem Tode bestehen bleibt,

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gen, hängt die ihr gegebene Schlüsselgewalt nun auch unmittelbar von der Taufe ab und „kann auf keine Weise von ihr getrennt werden“. Das wiederum hat eine klare Abgrenzung gegenüber dem römischen Verständnis unserer Reinigung und Wiedergeburt zur Folge: Es bedarf nicht erst einer auf sie folgenden Buße, sondern „die Taufe selbst ist das Sakrament der Buße“.122 Damit ist eine weitere theologische Präzisierung gegeben, die die Taufe geradezu als Vollzug der Rechtfertigung verständlich macht und damit ihre von Calvin gemeinte Spitzenaussage – das verbindet ihn mit Luther – zur Geltung bringt. Diese (wenn man so sagen darf) Korrektur der Tradition geht auf eine von Augustin übernommene doppelte Betrachtung Christi als exemplum (Vorbild) und als sacramentum zurück und besagt: Wir können uns Christus nicht zum Vorbild nehmen, auf das hin wir uns dann auch taufen lassen, wenn wir ihn nicht zuvor als Sakrament empfangen, das heißt als den, der für uns gestorben und auferstanden ist und dadurch die Gerechtigkeit, an der es uns notorisch fehlt, an den Tag und unter die Leute gebracht hat. So erklärt Calvin im Zentrum seines Traktates, wo es um die „Früchte der Taufe“ geht: „Wie vielmehr der Zweig seine Substanz und Nahrung aus der Wurzel zieht, mit der er eingepflanzt ist, so empfinden alle, die die Taufe mit dem geschuldeten Glauben annehmen, die Wirksamkeit des Todes Christi schmerzlich in der Abtötung ihres Fleisches, zugleich aber auch [die Kraft] seiner Auferstehung in dem Geist, der sie lebendig macht“.123 . Die Taufe ist, so verstanden, das Manifest der nun uns geltenden und zugesprochenen Gerechtigkeit. Sie zielt also nicht schon auf unsere Nachfolge (imitatio), so als könnten wir (durch entsprechende gute Werke) die Erbschaft seiner Gerechtigkeit antreten. Das nämlich hieße, mit Luther geredet, aus Christus einen Heiligen zu machen.124 Auf den Weg der Nachfolge werden wir vielmehr durch die „Frucht“ der so verstandenen Taufe gestellt, indem wir die paulinische Ermahnung auf uns nehmen: „Wenn wir denn Christen sind, müssen wir der Sünde gestorben sein und der Gerechtigkeit (nach)leben.“125 Damit ist zugleich ein weiteres für Calvins Theologie zentrales Thema angeschlagen, das sich sonst (fast überall unabhängig von der Taufe) mit dem Glauben verbindet, das jetzt aber geradezu beispielhaft an den Empfang des Sakramentes gebunden wird: die

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so darf auch der Glaube an sie keinen Unterbruch erfahren, sondern bis zum Tode muss das Gedächtnis an sie […] genährt und gekräftigt werden“ (WA 6,508). Ebd. 15.4, OS V,288.14. Inst IV, 15,5; OS V, 288. 30–34. M. Luther: „Deshalb muss, wer Christus nachahmen will ‚quoad exemplum’, diesen Christus zuvor mit unerschütterlichem Glauben ‚quoad sacramentum’ ergreifen, dass er nämlich für ihn gelitten habe und gestorben sei“ (Vorlesung über den Hebräerbrief, WA 57,114. Deutlicher noch in These 40 der Disp. Contra scholasticam Theologiam: „Non imitatio fecit filios, sed filiatio fecit imitatores“, WA 2, 518.16. Inst IV, 15, 5; OS V, 288. 35f. mit dem Hinweis auf Röm 6,11.

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„innerste und festeste Gemeinschaft und Einigung mit Christus […]. So sehen wir, dass die Erfüllung der Taufe in Christus liegt, den wir aus diesem Grund auch in eigentlichem Sinne Thema und Gegenstand der Taufe nennen“.126 Neben dieser konsequent durchgeführten Hauptlinie gibt es noch einige interessante Akzente, auf die hier wenigstens hingewiesen sei: Mit der Metapher der Reinigung hat Calvin den paulinischen Gedanken eines alttestamentlichen Sakramentes (1Kor 10,2) aufgenommen. Schon das Volk Israel sei – schattenhaft angedeutet – „in der Wolke und im Meer getauft“, das heißt: ihnen sei mit einem Zeichen bedeutet worden, dass sie „aus der Knechtschaft der Sünde durch Gottes Kraft herausgeführt und befreit seien“.127 Dieser Vergleich hat darüber hinaus noch die besondere, für Calvins Theologie signifikante Bedeutung, die Einheit des Bundes zu unterstreichen, die, durch die gleichen „sakramentalen Zeichen“ verbürgt, uns bleibend – ohne irgendeine Vorzugsstellung – mit den Juden verbindet und die deshalb bereits im II. Buch der Institutio als ein geistliches Band verstanden sein will.128 Diese Auszeichnung der Taufe hat nun allerdings nicht zur Folge – eine Abgrenzung vom Katholizismus, aber auch vom Hauptstrom der Reformation (Melanchthon) –, sie nun auch als heilsnotwendig zu fordern. Calvin besteht auf der Differenz zwischen dem Zeichen und der Sache selbst und wendet sich deshalb entschieden gegen den jahrhundertealten Brauch der Nottaufe bei Lebensgefahr der Kinder oder schwer erkrankter Erwachsener – „Wieviel Schaden hat dieses übel erdachte Dogma doch angerichtet!“129 – und zwar nicht nur weil die Taufe in diesem Falle kirchenrechtswidrig durch einen Laien vollzogen wird oder der Sterbende die „Gnadengabe der Wiedergeburt“ verlieren könnte, sondern weil schon mit der Verheißung von Gen 17,7 ein für allemal entschieden sei, „dass Gott unsere Kinder bereits vor ihrer Geburt zu den Seinen angenommen hat. […] In diesem Wort liegt ihr Heil beschlossen“.130 Gewissermaßen untermauert wird die Absage an die Praxis der Nottaufe durch die Widerlegung einer ebenso hartnäckig behaupteten Lehrbildung der Alten Kirche (Tertullian, Cyprian, auch Alexander von Hales), wonach die Taufe uns „von der Erbsünde und von der Verderbnis, die sich von Adam aus auf seine gesamte Nachkommenschaft ausgebreitet hat, lossprechen und frei machen“ könnte. Sie könnte den sogenannten „Urstand“ und die (angeblich verlorene) Gottesbildlichkeit

126 Ebd. 15,6; OS V, 289. 11f.: « firmissimum unionis ac societatis quam nobiscum inire dignatus est vinculum » (das festeste Band der Einheit und Gemeinschaft, die mit uns einzugehen er (uns in der Taufe) gewürdigt hat“, sowie ebd. 14–16. 127 Inst IV, 15,9; OS V, 291. 17. und24. 128 Inst II, 10, 15; OS III, 415. 25f.; vgl. ebd. 10, 5; a.a.O. 406.17f. und 35–37. 129 Ebd. IV, 15,20; OS V, 301. 17f. 130 Ebd. OS V, 301.12–14.

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einschließlich der ursprünglichen Gerechtigkeit wiederherstellen, darüber hinaus aber keine nach der Taufe begangene Sünde tilgen, was überhaupt erst zu der Entwicklung eines sie ergänzenden Bußsakraments geführt hätte.131 Calvin hält dagegen, die Erfinder dieser Lehre hätten wohl niemals erfasst, von welchem Gewicht die Erbsünde und das durch sie in Welt gekommene Verderben, die Perversität unserer ganzen Natur, sind, zumal schon „die Kindlein von Mutterleibe an diese Erblast (als damnatio!) in sich tragen“.132 An die Stelle dieser Verdammnis – so seine These – tritt mit der Taufe nun die Gewissheit, dass die auf uns liegende Schuld und Strafe „aufgehoben und von uns genommen“, dass hier ein vollgültiger Erlass geschehen ist und demzufolge allein die Gerechtigkeit zählt, die Gott uns gegenüber durch Anrechnung (imputatio) vor sich gelten lässt.133 Es ist die Rationalität der Rechtfertigungslehre, mit der Calvin Licht in die Nebel und Unstimmigkeiten der dogmatischen Überlieferung bringt.134 (2) Die zweite von Zwingli einseitig in den Vordergrund gerückte Seite der Taufe ist ihre Einsetzung als Bekenntniszeichen der Christen. Sie ist ein „Merkzeichen, mit dem wir öffentlich bezeugen, dass wir zum Volk Gottes gerechnet werden wollen, uns mit allen Christen in der Verehrung des einen Gottes eins wissen und uns mit ihnen in Eintracht zu einem Glauben (religio) verbinden“.135 Dazu gehört auch die Auskunft darüber, wie die Taufe von uns gebraucht und empfangen werden soll. Calvin formuliert als oberste und sicherste Regel – er benutzt sie zugleich als Gelegenheit, die Thesen der Wiedertäufer zu widerlegen – , dass hier eine „Entsprechung bzw. ein Gleichnis“ (analogia sive similitudo) beachtet sein will: Wir sollen „in leiblichen Dingen die geistlichen empfangen, wie wenn sie uns [dort] vor Augen gestellt wären“.136 Es geht (noch einmal anders gesagt) um die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Verheißungswort und dessen bildlicher Darstellung (figuratio). Denn Gott „lässt uns nicht bloß das äußerliche Bild sehen, sondern führt uns an die [mit und in ihm gemeinte] hier gegenwärtigen Sache selbst heran und bringt das, was er bildlich darstellt, zugleich wirkungskräftig zur Erfüllung“.137 Zum Beweis dessen führt Calvin den Hauptmann Cornelius an, der zuvor schon die Vergebung der Sünden und dann erst die Taufe empfangen hatte (Apg 10,48), von der er nun aber nicht eine noch reichlichere Vergebung erwartete, sondern die

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Ebd. 15,10; OS V, 292. 5–11. Ebd. Zeile 21f. Ebd. Zeile 25–32. Das gilt nicht zuletzt auch für die alte donatistische, von den Wiedertäufern neu in Kraft gesetzte These, die Taufe, die Menschen aus der Hand katholischer Priester empfangen hätten, sei ungültig wegen der „Unwürdigkeit“ ihrer Spender. 135 Inst IV, 15,13; OS V, 294. 25–28. 136 Ebd. 15,14; OS V, 295. 19–22. 137 Ebd. Zeile 26–28.

Die Taufe

ihm „als Unterpfand (pignus) zu einer noch gewisseren Übung im Glauben, ja zu einer Vermehrung seiner Zuversicht dienen sollte“.138 (3) Erkennbare Schwierigkeiten hat Calvin bei der Bewältigung der dritten selbstgestellten Aufgabe, die Kindertaufe gegen die zunehmenden Angriffe der Wiedertäufer zu verteidigen. Nicht umsonst hat das einschlägige Kapitel (IV, 16) fast mehr als den doppelten Umfang der bisherigen Darstellung. Warum? Die Täuferbewegung war auf dem Boden der Reformation des 16. Jahrhunderts als ihr (wie man später sagte) „linker Flügel“ entstanden, wurde von ihr aber nicht als legitimes Kind anerkannt, mit 1Joh 2,19 gesprochen: „Sie sind von uns ausgegangen, gehören aber nicht zu uns.“ Die neue evangelische Bewegung (schon Zwingli und Bucer) reagierte mit heftiger Abgrenzung, die aus politischen Gründen (Verweigerung der Beteiligung an öffentlichen Ämtern und Aufgaben) durch eine regelrechte staatliche Verfolgungswelle noch erheblich verschärft wurde. In dieser Situation wandten sich Farel und seine Pfarrerschaft, durch täuferische Aktivitäten in Bedrängnis geraten, im Februar 1544 an Calvin mit der Bitte um eine Gegenschrift zu den Schleitheimer Artikeln (1527), der von Michael Sattler verfassten theologischen Basis der Täufergemeinden. Sie brauchten nicht lange zu warten. Calvins Traktat erschien bereits im Juni 1544.139 Er beruht auf ausführlichen Vorarbeiten der Institutio (1539 und 1541), darüber hinaus auf engen Kontakten und Auseinandersetzungen aus den Straßburger Jahren und bildet einen Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzungen. „Was die Reformation zu den Täufern zu sagen hatte, war [dort] gesagt.“140 Die schwierige, oft umwegige Beweisführung der Institutio ist hier in prägnanten, einfach zu lesenden Thesen zusammengefasst. Worum geht es in dieser Kontroverse? Die Taufe, so fasst Calvin die Position der Täufer zusammen, „soll [nur] denen erteilt werden, die zur Buße unterrichtet sind und glauben, dass ihre Sünden in Jesus Christus getilgt sind, und die in [kraft] seiner Auferstehung wandeln wollen […], nicht [aber] den kleinen Kindern wie man es im Papsttum getan hat“.141 Die Widerlegung dieser Basisthese ist unnötig mühsam ausgefallen, denn Calvin hat sich den Weg abgeschnitten, die Kindertaufe schlicht auf die kirchliche Tradition (oder den von Luther geltend gemachten Kinderglauben) zurückzuführen. Er wollte und musste nach einem förmlichen Schriftbeweis für ihre göttliche Einsetzung suchen. „Es wäre eine höchst jämmerliche Zuflucht, wenn

138 Inst IV, 15,15; OS V, 295, 29–33. 139 „Kurzer Unterricht, um alle guten Gläubigen zu wappnen gegen die Irrtümer der gemeinen Sekte der Anabaptisten“, CO 7, 49–172; CStA 3, 281–367. Vgl. dazu die instruktive Einleitung von H. Scholl, ebd. 267–278 sowie die umfassende Arbeit von W. Balke, Calvijn en de doperse radikalen, Amsterdam 1973, bes. 170ff. 140 H. Scholl, ebd. 269. 141 Kurzer Unterricht (Anm. 139), CO 7,56f.; CStA 3, 293.23–27 (Kurzfassung des 1. Schleitheimer Artikels).

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wir genötigt wären, uns zu [ihrer] Verteidigung auf die die bloße Autorität der Kirche zurückzuziehen.“142 Es ging ihm und der Reformation um die hermeneutische Frage der Schriftinterpretation. Das entscheidende Argument findet er denn auch nicht im Umkreis der neutestamentlichen Sakramentstheologie, sondern, worauf John Hesselink wieder hingewiesen hat, in der axiomatisch festgehaltenen Einheit des Bundes und der auf Zwinglis Spuren daraus abgeleiteten Parallele von Taufe und Beschneidung.143 Beiden seien dieselben Verheißungen gegeben. So liest man schon bei Bucer: „Wenn der Herr geboten hat: ‚Taufet [sie]’, dann hat er die, welche die Lehre des Evangeliums annehmen, aller Abraham gegebenen Verheißungen teilhaftig machen und ihre Kinder in seinen Bund aufnehmen wollen.“144 Diese bis auf die Zeremonie weitgehende Parallelität spricht faktisch für deren Äquivalenz: Jetzt wollen wir den Vergleich von Taufe und Beschneidung vornehmen. Die Taufe umfasst Buße oder Erneuerung des Lebens mit der Verheißung der Vergebung unserer Sünden; ebenso die Beschneidung, nicht mehr und nicht weniger. Dass es sich so verhält zeigt die Buße, die oft erwähnt wird […], wo von der Beschneidung der Herzen die Rede ist. […] Was die Vergebung der Sünden anbelangt, so gibt es doch keine klarere Bestätigung als die Ausführungen des Paulus, dass dem Abraham die Beschneidung gegeben sei als Bekräftigung der Gerechtigkeit aus Gnade, die er durch Glauben erlangt hatte.145

Calvin führt des weiteren Jesu Segnung der Kinder an und verweist darauf, dass sie wie bei den Juden, „denen das Evangelium an erster Stelle verkündigt werden musste“,146 ihre „Heiligkeit“ von den Eltern empfangen und deshalb zum Volk Gottes gezählt werden, ja dass sie ungeachtet ihres geringen Alters sehr wohl durch Gottes Kraft wiedergeboren werden können.147 Mit diesen Gewissheiten im Rücken wendet er sich dem Hauptargument der Täufer zu, dass das Neue Testament die Taufe an den Glauben eines Menschen binde: „Wie aber soll das [bei Kindern] zugehen, fragen die Wiedertäufer, da doch der Glaube aus dem Hören kommt, die Kinder damit aber keinerlei Erfahrung (usus) gemacht haben? Wie sollten sie in der Lage sein, Gott zu erkennen, da ihnen, wie Mose lehrt, die Kenntnis von

142 Inst IV, 8,16; OS V, 149. 30–32. 143 J. Hesselink, Calvin’s First Catechism (Anm. 31), 144f: “His basic appeal is not to isolated texts but to the eternal covenant of grace (Gen 17,1–14)” 144 M. Bucer, Quid de baptismate infantium iuxta scripturas Dei sentiendum, Straßburg 1533, f 14 a. 145 Kurzer Unterricht (Anm. 139), CO 7,60; CStA 3,301.27–303.9; vgl. Inst IV,16,4. 146 Inst IV, 16,14; OS V, 317.29f. W. Balke, Calvijn (Anm. 139), 99–154, weist auf den bedeutsamen Umstand hin, dass Calvin durch die Auseinandersetzung mit der Kindertaufe zu einem vertieften Verständnis des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament geführt worden ist. 147 Inst IV, 16,18; OS V, 322. 9–12: Zu den hier erwähnten „Erwählten“ gehören eben auch die Kinder.

Das Abendmahl

gut und böse abgeht?“148 Doch sollte sich Gott bei der Berufung eines Menschen, wendet Calvin ein, an die gewöhnliche Ordnung wie an eine ewig gültige Regel binden lassen? Könnte es nicht auch ein anderes Verfahren geben? Hat er nicht „auf innerliche Weise durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes ohne das Dazwischentreten eines Predigers Menschen zur Erkenntnis seiner selbst befähigt?“149 Den Einwand der Gegner, die Taufe sei ein Sakrament der Buße und des Glaubens, beides aber suche man bei Kindern vergebens, fertigt er mit der Erklärung ab, „getauft würden Kinder auf ihre zukünftige Buße und ihren zukünftigen Glauben hin, der zwar in ihnen noch keine Gestalt gewonnen habe, dessen Same zu beiden aber durch das geheime Wirken des Geistes in ihnen verborgen liege“.150 In der Schrift von 1544 argumentiert er deshalb nicht mit dem Glauben der Kinder, sondern erklärt, bei „Säuglingen, die zur Kirche gehören, ehe sie aus dem Schoß ihrer Mütter gekommen sind, gelte eine andere Ordnung: Ihre Väter und Vorfahren erhielten die Verheißung, auf die die Taufe dieser Kinder gegründet sei“.151 Am Ende dieses langen Diskurses gibt Calvin seiner Freude über die Gewissheit Ausdruck, dass Gott wie ein guter Hausvater auch noch für unsere ferne Nachkommenschaft sorgt und der Gott unserer Kinder sein will. Wollten wir uns über diese Absicht Gottes hinwegsetzen, „so würde daraus nicht nur Undankbarkeit und Missachtung der göttlichen Barmherzigkeit erwachsen, sondern auch eine Art Nachlässigkeit, unsere Kinder zur Furcht Gottes und seines Gesetzes zu erziehen“.152 François Wendel hat wohl Recht, dass dieses letzte Argument für sich allein mehr zählt als alle vorigen zusammen genommen, die Calvin aus biblischen Texten abzuleiten versuchte. Es lässt sich nun einmal keine neutestamentliche Stelle beibringen, die die Kindertaufe ausdrücklich erwähnt, geschweige denn begründet, und so „musste er sich mit Schlussfolgerungen und Analogieschlüssen aus der Beschneidung und der Segnung der Kinder durch Jesus begnügen“.153 Diese Schwäche seiner Beweisführung steht in einem auffallenden Gegensatz zu der Sorgfalt, mit der er sonst exegetische Methoden in seiner Schriftauslegung anzuwenden pflegte.

6.9

Das Abendmahl

Das Abendmahl, namentlich seine lehrhafte Gestalt ist das nervöse Zentrum der Reformation des 16.Jahrhunderts, und es ist – denkwürdig genug – bis heute das

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Ebd. 16,19; OS V, 323.5–7. Ebd. Zeile 12–14. Inst IV, 16,20; OS V,324. 24–27. Kurzer Unterricht (Anm. 139), CO 7,59; CStA 3, 299.42–45. Inst IV, 16,32; OS V, 341. 13–16. F. Wendel, Calvin, Neukirchen 1968, 290f.

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nervöse Zentrum auch aller ökumenischen Bemühungen geblieben. Die drei wichtigsten, auf Zwingli, Luther und Calvin zurückgehenden Strömungen sind weit über das 16. Jahrhundert hinaus in heftigen Auseinandersetzungen begriffen, in deren Kern es um die Frage der Präsenz Christi im Geschehen der Eucharistie geht. Zu einer dogmatischen Verständigung ist es anders als bei der Taufe daher nicht gekommen. Im Gegenteil, über der Abendmahlstheologie ist die Einheit der Reformation zerbrochen. Calvin sah sich von Anfang an zwischen den Fronten stehen. Nach dem Scheitern des Marburger Religionsgesprächs (1529) und der wirkungslosen Wittenberger Konkordie (1536) war er die treibende Kraft in den Bemühungen, die Differenzen zwischen Zwingli und Luther beizulegen oder wenigstens zu entschärfen und dadurch der Einheit der reformatorischen Kirche zu dienen. Mit einer wachsenden Vielzahl von zum Teil kleineren Schriften hat er in den Jahrhundertstreit eingegriffen.154 Doch diese Arbeiten teilen nicht, wie Wim Janse, ein moderner Kommentator mit leiser Ironie schreibt, „den Charakter göttlicher Unwandelbarkeit“155 , sondern sind im Zuge einer historischen Entwicklung Antworten auf eine bestimmte historische Herausforderung. Denn „Calvins eucharistische Auffassungen waren von Anfang an keine detaillierte, kohärente und vereinheitlichte Lehre, wie sie ihren repräsentativen Ausdruck etwa im Zürcher Konsens (1549) oder in der Inst (1559) findet, sondern lassen eine historische Entwicklung erkennen, in der man Spuren von Zwingli, Luther und spiritualistischen Tendenzen finden kann.“156 Diese Abhängigkeit von einem bestimmten historischen Kontext lässt sich vielleicht am besten an der Art und Weise erläutern, wie Calvin über die Zuwendung der göttlichen Gnade im Sakrament urteilt.157 So erläutert er in der Inst (1536) den Basissatz seines Abendmahlsverständnisses: es gelte in den körperlichen Dingen, den „Elementen“, die geistlichen zu erblicken, mit einer an Zwingli erinnernden Feststellung: „Nicht weil dem Sakrament solche Gnadenerweise anhaften oder ihm gar eingezeichnet sind, oder weil das Sakrament ein Organ oder Instrument ist, wodurch sie uns zugetragen werden, sondern genau genommen [allein] deshalb,

154 Dazu zählen insbesondere: Inst (1536), zusammen mit Farel und Viret die Confessio fidei de Eucharistia (1537), die die Zustimmung der Straßburger und Zürcher fand, der Petit Traté de la saincte Cène (1541), ferner zus. mit Bullinger: Consensus Tigurinus (1549) und als Replik auf die Angriffe J.Westphals schließlich die Defensio sanae et othodoxae doctrinae de sacramentis sowie die Ultima admonitio (1555–57). 155 W. Janse, Calvin’s Eucharistic Theology: Three Dogma-Historical Observations, in: H. Selderhuis (Hg), Calvinus sacrarum literarum interpres (Calvin-Kongress Apeldoorn, 2006), Göttingen 2008 (37–69), 38. Vgl. dazu die viel gerühmte Dissertation von Th.J. Davis, The Clearest Promises of God: The development of Calvin’s Eucaristic Teaching (AMS Studies in Religious Tradition 1) New York 1995. 156 W. Janse, ebd. 39. 157 Ich folge der Darstellung von Wim Janse (Anm.155), 38f.

Das Abendmahl

weil uns der Herr durch diese Anweisung bezeugt, dass er uns dies alles schenken will.“158 Nach dem Treffen mit Bucer, der auf eine Verständigung mit den Lutheranern drängt, nimmt er diesen Passus jedoch nicht mehr in die zweite Ausgabe der Institutio (1539) auf. Im Kleinen Abendmahlstraktat (1541), der diese Annäherung vorbereiten sollte, heißt es stattdessen nun: „Brot und Wein sind wie Instrumente, durch die der Herr Jesus sie [nämlich als den Leib und das Blut Christi] uns austeilt […] Es hat also sein gutes Recht, wenn das Brot ‚Leib’ genannt wird, weil es uns den Leib nicht nur repräsentiert, sondern ihn auch präsentiert. […] [Denn] mit den sichtbaren Zeichen ist die innere Substanz [von Leib und Blut] verbunden.“159 Wenn Westphal 1552 Calvin jedoch wegen seiner zwinglianischen Entwertung der Sakramente im Consensus Tigurinus (1549) angreift, so hat er vor allem dessen Bemerkung im Blick, dass „den Gläubigen auch außerhalb des Gebrauchs des Sakramentes die dort dargestellte Wirklichkeit (veritas) gilt“.160 Es ist deutlich: Calvin kann sich in ein und demselben Problemzusammenhang sehr verschieden äußern je nach der aktuellen Herausforderung, vor die er sich gestellt sieht. 1536 ist das Sakrament „kein Instrument“, durch das Gottes Gnade uns erreicht. 1541 hört man (auf der Linie Luthers) das Gegenteil: Brot und Wein sind „Instrumente“, durch die wir der „Substanz“ von Leib und Blut Christi teilhaftig werden, und 1555 ist er imstande zu erklären, Christus könnte uns auch ohne jedes Sakrament seine Wirklichkeit, d. h. seine Güter und Gaben, mitteilen. Methodisch folgt aus diesen Beobachtungen: Ein „unhistorischer“ Zugang, der etwa in der letzten Fassung der Institutio (1559) die definitive Lehre Calvins über das Abendmahl zu finden glaubt, müsste unvermeidlich zu einer Vereinfachung und somit zu einer Fehlinterpretation führen. Schon immer ist der Unterschied zwischen der Annäherung an die „orthodoxen“ Lutheraner im Kleinen Abendmahlstraktat und der geradezu demonstrativen Abkehr von dieser Tradition im Consensus Tigurinus aufgefallen.161 Schon deshalb wird man dieses an sich wichtige Konsensdokument nicht gut zur Grundlage einer Darstellung der genuin calvinischen Lehre machen können. Ihr proprium in den Jahren von 1537–1549 – so hat sich Bullinger später Beza gegenüber geäußert – sollte ein Fenster zu den Lutheranern offen halten, das aber sei im Text der Zürcher Übereinkunft nahezu unkenntlich geworden.162 Es gibt also nicht die in sich einheitliche calvinische

158 Inst (1536) IV, OS I, 133. 159 Petit Traité de la saincte cene (1541), CO 5, 439 und 460; CStA 1.2, 453. 23f. und 44ff sowie 455, 24f. 160 Inst (1536) IV, OS I, 115, auch: Consensus Tigurinus, Art.19, CO 7,741, CStA 4, 23. 23f. 161 F. Wendel, Calvin (Anm. 99), 292. – Noch einmal W. Janse (Anm. 155): “The Consensus testified to what extent Calvin ceded terrain to the Swiss regarding significant points of doctrine”, a.a.O. 41. 162 H. Bullinger, Brief an Beza vom 4. Dezember 1571, in: Th. Bèze, Correspondance, Genève 1986, 246.

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Abendmahlstheologie, sondern – was im Folgenden nachgezeichnet werden soll – , eine prinzipielle Offenheit bzw. Unbestimmtheit der Argumentationsfiguren, die sich aus Calvins Stellung zu den beiden Polen des damals geführten Streits, Zwingli und Luther, erklären lässt. (1) Die Stellung zu Zwingli und Luther Zwingli war der Calvin von jeher am fernsten stehende Reformator. Seine Werke scheint er kaum, seine Abendmahlslehre nur aus zweiter Hand gekannt zu haben. „Ich las bei Luther, dass Oekolampad und Zwingli von den Sakramenten nur nackte und leere Bilder übriggelassen hätten; ihre Bücher lagen mir, gestehe ich, so fern, dass ich lange Zeit darauf verzichtete, sie zu lesen.“163 Mehr noch: Seine Abneigung gegen ihn war so groß, dass er sich bei der Abfassung der drei ersten Ausgaben der Institutio hütete, auch nur das kleinste Zitat von ihm zu übernehmen – eine Haltung, die den Austausch mit den Zürchern nicht gerade erleichterte. Dagegen finden sich immer wieder Passagen, in denen er zwinglische Auffassungen zu widerlegen versucht, so etwa die These, allein der Glaube sei für den Christen wichtig, während das Sakrament dem, der diesen Glauben nicht hat, auch nichts hinzufügen könne.164 Vor allem aber wendet er sich gegen die Meinung derer, die nur eine rein geistige Verbindung mit Christus gelten lassen wollen, auf die im Abendmahl gemeinte Verbundenheit mit dessen Leib und Blut aber meinten, verzichten zu müssen. Ganz anders seine Stellung zu Luther. Auf dessen beherrschenden Einfluss hat man von jeher hingewiesen.165 Das gilt schon von der Erstausgabe der Institutio, die vor allem mit der Widerlegung der römischen Lehre befasst ist. Auch hier steht die Schrift „De captivitate Babylonica ecclesiae“ (1520) mit ihren Aussagen über die Bedeutung der Verheißung und des Glaubens im Vordergrund, ebenso der „Sermon über den wahren und heiligen Leib Christi“ (lat. 1524), dem Calvin die Ausführungen über die Einigung mit Christus und den sprechenden Vergleich der Einheit der Christen mit dem aus der Vielzahl der Körner zusammengesetzten Brot entnimmt.166 Da ihm jedoch Luthers deutsche Schriften nicht zugänglich sind, muss er auf dessen lateinische Traktate der Frühzeit zurückgreifen, was, wie Wendel bemerkt, die „Leichtigkeit“ seines Umgangs mit diesen Texten und den „besonderen Charakter seines Luthertums“ während dieser Jahre erklärt. Lediglich in einem Punkt, der erst später Gegenstand einer ernsten Kontroverse wird, dem 163 Calvin; Briefe, CO 9, 51. 164 Zwingli, Commentarius de vera et falsa religione (1525), CR 90, 760f. 165 K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1993; 461–464. W. Niesel, Calvins Lehre vom Abendmahl, München 1935 (2.Aufl.), 23ff. 166 Inst (1536), OS I, 145; Petit Traité de la saincte cene (1541), CO 5, 451; CStA 1.2, 475. 33–36.

Das Abendmahl

Begriff der Ubiquität des Leibes Christi, deutet sich eine inhaltliche Differenz an.167 In diesem Zusammenhang muss der Kleine Abendmahlstraktat (1541) erwähnt werden. Er soll den Konflikt zwischen Luther und Zwingli entschärfen und ist vornehmlich an evangelische Gemeinden gerichtet. Calvin greift die Position der Schweizer an168 , gibt auf der anderen Seite aber auch Luther die Schuld daran, dass durch sein Insistieren auf einer „räumlichen Gegenwart“ des Leibes Christi eine theologisch vertretbare Einigung nicht zustande komme: „Es wäre von Anfang an [seine] Pflicht gewesen, in Erinnerung zu rufen, er beabsichtige nicht, eine solche Gegenwart einzuführen, wie die Papisten sie erträumen. Ferner hätte er beteuern sollen, dass er nicht das Sakrament an Stelle Gottes angebetet wissen wolle.“169 Für ihn aber spreche, dass er „Brot und Wein [als] sichtbare Zeichen [‚Instrumente’] begreift, die uns den Leib und das Blut Christi darstellen“.170 Ein in sich einheitliches Bild der calvinischen Abendmahlslehre ergibt sich aus dem allen, wie eingangs gesagt, noch nicht. Thomas J. Davis spricht in seiner zitierten Dissertation von einer Schritt-für-Schritt-Entwicklung zwischen 1536 und 1559, d. h. von einer „noch unfertigen und oft zweideutigen Zusammenstellung (summery)“ bis zur „Eingliederung des Lebenswerkes in ein kohärentes Ganzes“171 , wobei die Grundlegung am Ende der Straßburger Zeit stattfinde. So entstehe ein überaus genaues Bild „von der Bestreitung der Eucharistie als eines Instruments der Gnade bis zur Anerkennung dieser These, wobei sich der Begriff einer „substantiellen Teilnahme an Leib und Blut Christi herausschält“172 – Aspekte, die 1536 noch völlig fehlten. (2) Wiederkehrende, konstante Argumentationen: die erste Institutio (1536) Ungeachtet dieser wechselnden Sichtweisen gibt es jedoch auch Konstanten, wiederkehrende Argumentationsfiguren, die eine Art roten Faden bilden. Dazu gehört – formal an erster Stelle – die Unterscheidung zwischen den äußeren Zeichen (Brot, Wein) und der durch sie bezeichneten Sache (Leib und Blut Christi). Sie sind nicht voneinander abzulösen, sondern müssen per analogiam aufeinander bezogen werden:

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Inst (1536) IV, OS I, 141 (es handelt sich dort um die griechischen Begriffe). Petit Traité, CO 5,458; CStA 1.2, 489. 18–32 und 491. 1–18. Ebd. CO 5, 459; CStA 1.2, 453. 34ff. Ebd. CO 5, 438f.; CStA 1.2, 453. 22–24. So heißt es in Calvins definitiver Fassung Inst (1559) IV, 17,11: „Ich sage also: Im Abendmahl wird uns unter den Zeichen (symbola) von Brot und Wein Jesus Christus wirklich dargeboten (exhiberi), nämlich in seinem Leib und Blut“ (OS V, 354.19–21). 171 Thomas J. Davis, The Clearest Promisses (Anm. 155) 7. 172 Ebd. 7–8.

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Deshalb werden unter Brot und Wein [Leib und Blut des Herrn] vergegenwärtigt (repraesentantur). Dadurch sollen wir lernen, dass sie nicht nur unser sind, sondern uns zum Leben und zu [geistlicher] Nahrung gegeben sind. Das ist es, was wir früher angemahnt haben: Von den körperlichen Dingen, die uns in den Sakramenten gereicht werden, müssen wir uns vermöge einer Entsprechung (analogia) zu den geistlichen hinführen lassen. […] Es gilt ein Gleichnis (similitudo) zu verstehen: Wie das Brot das Leben unseres Körpers nährt, aufrecht erhält und schützt, so ist der Leib Christi Nahrung und Schutz unsres geistlichen Lebens. (Inst 1536, IV, OS I, 138)

Wichtiger noch als die Bestandteile des Sakraments, ja schlechthin entscheidend ist das Verheißungswort (promissio), wodurch uns bestätigt wird, dass (Christi) Fleisch tatsächlich eine geistliche Speise ist: „Wer davon isst, wird in Ewigkeit leben: das, sagte ich, versiegelt und bestätigt jene Verheißung“.173 Nicht anders liest man es auch 20 Jahre später: Die Menschen, die sich an den bloßen Zeichen erfreuen und gar nicht auf die damit verbundenen Verheißungen schauen, kommen völlig leichtfertig zum Abendmahl. […] Wer das äußere Sakrament ansieht, ohne auf die Verheißung zu achten, was tut der anderes als sich einer bloßen Selbsttäuschung hinzugeben?174

Viele der später mit einem erheblichen Aufwand an Gelehrsamkeit verurteilten Thesen werden 1536 schon summarisch (meist noch als scholastische Irrwege stilisiert) abgewiesen: „Da gibt es neugierige Menschen, die definieren wollen, auf welche Weise Christi Leib im Brot präsent ist. Um ihren Scharfsinn zu beweisen, haben andere auf die Einfalt der Schrift hingewiesen und zugefügt, das geschehe real und substantiell; […] noch andere haben sich die widernatürliche Transsubstantiation ausgedacht [Petrus Lombardus]; wieder andere: das Brot sei der Leib selbst, oder er sei [verborgen] unter dem Brot [Luther, Erasmus]; und andere schließlich, es handele sich nur um ein Zeichen (signum), und es werde uns nur ein Bild (figura) des Leibes vor Augen geführt [Zwingli].“175 Nur die entscheidende Frage, die doch an erster Stelle hätte gestellt werden müssten, werde nicht beachtet: Wie konnte denn Christi Leib, so gewiss er für uns dahingegeben, wie konnte sein Blut, so gewiss es für uns vergossen wurde, unser werden ?

173 Inst (1536) IV, OS I, 138. 174 Defensio sanae et othodoxae doctrinae (1555), CO 9, 21f.; OS II, 273. 31f. 40–42. In diesem Zusammenhang beruft sich Calvin auf die klassische Definition Augustins: „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum.“ 175 Inst (1536) IV, OS I, 139. Vgl. Inst (1559) IV, 17. 6.15.16. u.ö.

Das Abendmahl

(3) Verständigung mit den Lutheranern Solange Calvin eine Verständigung mit den Lutheranern für möglich hielt, hat für ihn die Verbindung zwischen Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit den Charakter einer Darstellung bzw. Darbietung (exhibitio), wobei das Zeichen (Brot) die gemeinte Sache (Leib) nicht nur repräsentiert, sondern als „Instrument“ tatsächlich präsentiert, so dass wir wahrhaftig Teilhaber an der „Substanz“ von Leib und Blut Christi werden.176 In diesem exhibitio-Begriff verbindet sich wie in einem Schnittpunkt Sichtbares mit Unsichtbarem „in der Überzeugung, dass Gott sich durch den Heiligen Geist wirklich den Menschen schenkt, […] und gleichzeitig schützt dieser Schnittpunkt die sakramentale Gabe vor zwinglischer Verflüchtigung und vor lutherischer Verdinglichung“.177 An drei Dingen, wird Calvin später interpretieren, hängt diese geistliche Wahrheit: an der Bedeutung (significatio), also an den Verheißungen, die auf bestimmte Weise in das Zeichen eingehüllt sind, an der davon abhängigen Materie oder Substanz, womit er an Tod und Auferstehung Christi erinnert, und schließlich an der Wirkung (effectus), d. h. an dem Ertrag (scopus), der im Abendmahl beschlossen liegt: unserer Erlösung, unserer Gerechtigkeit und unserer Heiligung. Das ist mit dem Begriff der exhibitio inhaltlich gemeint, und das, so Calvin, ist gar nicht vorstellbar, wenn man vor allem anderen „nicht auf die wahre Gemeinschaft mit Christus selbst sein Vertrauen setzt“. Auf eine kurze Formel gebracht, heißt das: „Im Geheimnis des Abendmahls wird uns durch die Symbole von Brot und Wein Christus in Wahrheit dargeboten.“178 Mit diesem Gedanken der Teilhabe an der Substanz von Leib und Blut Christ und der Rolle des Geistes als Band zwischen beiden ist die wohl größte Nähe zur lutherischen Abendmahlstheologie erreicht. (4) Die Zürcher Übereinkunft (Consensus Tigurinus) Dieses Fenster aber schloss sich mit dem Consensus Tigurinus (1549). Calvin verließ das bisherige Terrain und wechselte auf die Seite der Schweizer. Es war eine „Geschichte des Zurückweichens“179 – tendenziell hin zu Bullingers Theologie. Ihr gegenüber hatte er bis dahin Wort und Sakrament als Hilfsmittel, durch die Gott seine Gaben darreicht, vertreten. Aus kirchenpolitischen Überlegungen wurde dieser Schritt von Genf akzeptiert. Der Sache nach hat man jedoch von einem „Fiasko“ gesprochen. Der Versuch, die Kluft zwischen Lutheranern und Zwinglianern zu schließen, war gescheitert. Hatte Calvin 1537 in der Confessio de fide noch betont, 176 177 178 179

Petit Traité (1541), CO 5,439; CStA 1.2, 453.44ff. W. Janse, Art. Abendmahl, in: H. Selderhuis (Hg) Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 346. Inst (1559) IV, 17,11; OS V, 354. 3–8. und 19f. W. Neuser, Der zweite Abendmahlsstreit, in HDThG 2, Göttingen 1982, 273.

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dass die Gemeinschaft mit Leib und Blut Christi (durch den Geist bewirkt) uns unter den Symbolen von Brot und Wein durch Christus angeboten und dargereicht (exhiberi) werde180 , so betont der Consensus Tigurinus – ganz auf der Linie der Korrekturen Bullingers – die Unabhängigkeit Gottes von den Elementen, und schwächt auf diese Weise die Wirkung der Sakramente ab. Sie sind „gewissermaßen (quasi) lebendige Bilder“, „führen uns gleichsam (quasi) zur Sache selbst“, und so wird „gleichsam wie durch ein Siegel bestätigt, was Gott gesprochen hat“.181 Andererseits wird die Selbstgenügsamkeit, ja Autonomie Gottes, Christi und des Hl. Geistes durch ein pointiert herausgehobenes solus und unus unterstrichen: „Allein Christus sollen wir anhängen, von anderswoher ist keine Gnade zu erwarten“. „Das ganze Heilsgeschehen ist Gott allein zuzuschreiben“ „er allein ist es, der durch seinen Geist handelt“.182 Die Qualität der Gabe wird den Sakramenten förmlich abgesprochen: Sie „verleihen die Gnade nicht“; ihnen „haftet sie keineswegs derart an, dass jeder, der das Zeichen in Händen hält, auch die Sache selbst erlangt“.183 Zürich hat sich 1549 auf der ganzen Linie durchgesetzt. (5) Wachsende Distanz zu Luther und Zwingli In den folgenden Jahren – nicht zuletzt provoziert durch die Angriffe Westphals – distanziert sich Calvin weiter von Luther. Die wörtliche Auslegung der Einsetzungsworte, vor allem die These der Ubiquität und die Einschließung von Leib und Blut Christi in die Elemente, werden mit ausführlichen Begründungen abgelehnt.184 Es gibt – ein Ergebnis der Forschungsarbeit von Wim Janse – ein einigermaßen scharfes Kriterium, das die Demarkationslinie nach beiden Richtungen gegenüber den Schweizer Zwinglianern und den deutschen Lutheranern zieht: die Differenz der calvinischen Interpretation des 1. Korintherbriefs im Kommentar (1546) und in den späten Predigten von 1558. Der Kommentar distanziert sich zum Schaden des Gabe-Charakters unzweideutig von der zwinglischen Ermäßigung des Sakraments, seiner ekklesiologisch-ethischen Begrifflichkeit, ebenso von der Beschränkung der Gemeinschaft des Leibes Christi auf die Teilhabe an seinen Wohltaten (beneficia), ferner von dem noetischen Verständnis des „Gedächtnisses“ und der Entkoppelung von Zeichen und bezeichneter Sache. In den Predigten (auf dem Höhepunkt der Kontroverse mit Westphal und den Predigern von Sachsen) findet demgegenüber

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Conf. de fide eucharistiae, CO 9, 712; OS I, 435. Consensus, Art. 7, CO 7, 737; CStA 4, 17. 37–42. Ebd. Art 11 und 12, CO 7, 739; CStA 4, 19.34f. und 20. 1.5f. Ebd. Art. 17, CO 7, 740; CStA 4, 23. 1. 6f. Inst (1559) IV, 20–25 sowie 30, dazu auch Chr. Link, Das sogenannte Extracalvinisticum, in: Calvin-Studien, Neukirchen 2009, bes. 154–159.

Das Abendmahl

eine geradezu diametral entgegengesetzte konfessionelle Neuorientierung statt.185 Der Blick geht in die andere Richtung: „Das Mahl unsres Herrn […] ist uns gegeben, damit ein Austausch (communio) unter uns stattfindet und, wenn wir Brot und Wein empfangen, wir gewiss sind, dass Jesus Christus das Leben unsrer Seelen ist.“186 Die Gabe selbst ist nicht so sehr die unio Christi, sondern „häufiger und vor allem die Erinnerung daran, ihr Gedächtnis“ (Janse). „Wir sollen also wissen, dass uns dies Sakrament gegeben ist, […] um uns in die Höhe zu Gott zu erheben“. Denn „das Abendmahl und alle Sakramente müssen uns als Leiter dienen, […] um Gott näher zu kommen.“187 Diese Perspektive geht Hand in Hand mit einer deutlichen Rationalisierung; die Emphase liegt auf den ethischen Bedingungen der Teilnahme am Abendmahl. Damit war die Trennungslinie gegenüber Deutschland zunächst scharf gezogen. (6) Erneute Annäherung an das Luthertum Das jedoch hinderte Calvin nicht, in den 60er Jahren – sei es aus kirchenpolitischer Einsicht oder ökumenischem Mut – erneut den Anschluss an das deutsche Luthertum zu suchen. In dem kleinen Traktat „Bester Grund, Frieden zu schließen (ineunda concordia), wenn die Wahrheit außer allem Streit gesucht wird“ (1561), begründet er diesen Schritt mit der Einschätzung, dass alles, „was am Anfang der Streitigkeiten die Gemüter auf beiden Seiten am meisten verstört hat, jetzt kein Gegenstand der Kontroverse mehr ist. […] Dieser Streit ist nun beigelegt, weil wir auf beiden Seiten zu erkennen geben: Erstens, dass die Sakramente nicht nur Zeichen eines äußeren Bekenntnisses vor den Menschen, sondern Zeugnisse und Kennmarken der Gnade Gottes und Siegel der Verheißungen sind, die unseren Glauben besser bestärken.“188 Hier begegnen uns zweitens denn auch auf der Linie des Petit Traité (1541) lutherisch anklingende Formulierungen wie „unter Brot und Wein (sub pane et vino)“ oder: „wir werden substantiell des Fleisches Christi teilhaftig“. In einem wenig später verfassten Traktat, in dem sich Calvin von zwinglischen Stereotypen („evacuatio signorum“, „commemoratio“) löste, ist die Rede von der „Unentbehrlichkeit“ des Sakraments, der Lebendigmachung durch die „eigene Substanz seines Leibes“ oder seiner „unfehlbaren (genuinen) Wirksamkeit“.189 Woran Calvin jedoch in seiner Abendmahlslehre – alle geschichtlichen Herausforderungen und Akzentverschiebungen eingerechnet – unbeirrt festhält,

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W. Janse, Calvin’s Eucharistic Theology (Anm. 155), 55–63. Predigten zu 1Cor: 15. Predigt zu 1Kor 11,20–23, CO 49,774. Ebd. Predigt zu 1Kor 11, 23–25, CO 49, 789 und zu 1Kor 11, 26–29, ebd 815. Optima ineundae concordiae ratio, si extra contentionem quaeratur veritas (Genf 1561), CO 9, 517, OS II, 291. 4–6. 10–14. 189 Confession de foy pour presenter à l’empereur (1562), CO 9, 764 und 769.

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Die Reform der Kirchenverfassung

ist seine Überzeugung, dass unter den Zeichen von Brot und Wein Gott sich in seiner Freiheit durch den Heiligen Geist allen Menschen in Christus schenkt und sie in die lebendige Gemeinschaft mit Christus ruft.

7.

Die Kirche und der Magistrat: eine wechselseitige Verpflichtung

Die Aufgabe, der sich Calvin – als Theologe und als Jurist – mit besonderer Aufmerksamkeit und Sorgfalt zugewandt hat, ist ihm durch das Problem der Weltgestaltung gestellt worden, eine Aufgabe, die angesichts der Versagens der mittelalterlichen Kirche und der politischen Krise seiner Zeit mit unbestreitbarer Dringlichkeit in sein Gesichtsfeld tritt. Dass er an dieser Front umsichtiger, jedenfalls kompromissloser geredet und gehandelt hat als das deutsche Luthertum, mag das Urteil rechtfertigen, dass er die Reformation „welt- und geschichtsfähig“ gemacht hat.1 Es ist das Gebiet der Ethik, auf dem seine Orientierungsleistungen den westeuropäischen Raum am nachhaltigsten geprägt haben. Ein besonderes Konfliktfeld, das die Reformation von den Theoretikern des Mittelalters (Thomas von Aquin, Marsilius von Padua) geerbt hat, ist das Verhältnis der Kirche zur weltlichen Politik und umgekehrt – für den westeuropäischen Raum weit virulenter – das Verhältnis des Königtums bzw. des städtischen Magistrats zu den neu sich formierenden Kirchen und Gemeinden. Calvin hat dem vierten Buch seiner Institutio (seit 1543) ein Kapitel hinzugefügt, das sich diesem umstrittenen Feld zuwendet. Die Aufgabe, vor die er sich in diesem Traktat gestellt sieht, besteht, mit einem berühmt gewordenen modernen Aufsatz gesprochen, darin, das Verhältnis von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“, von Glaube und Weltverantwortung, zu klären – unter der Voraussetzung, dass beide in der Verantwortung vor Gott stehen und der Christ deshalb in beiden Bereichen zur aktiven Mitarbeit herausgefordert ist. Er sucht den weltlichen Staat die „bürgerliche Ordnung“ als das zu verstehen, was nach Inst IV ihr Auftrag ist, dafür zu sorgen, „dass unter den Christen, die öffentliche Gestalt (facies) der Religion zu Tage tritt und unter den Menschen die Menschlichkeit (humanitas) bestehen bleibt“.2 Der Sache nach ist ihm Luther mit seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523) vorangegangen3 , einem Traktat, den Calvin, der kein Deutsch sprach, kaum gekannt haben wird. Dennoch gibt es bemerkenswerte inhaltliche Übereinstimmungen. Und doch sind die Bedingungen, unter denen er seinen Entwurf erstellt hat, von den Verhältnissen der Landstadt Wittenberg unter dem Schutz einer fürstlichen Residenz denkbar weit entfernt.

1 So Karl Barth, Die Theologie Calvins (Vorlesung 1922), GA Zürich 1993, 121. 2 Inst IV, 20,3; OS V, 474. 6f. 3 Dazu: G. Ebeling, Leitsätze zur Zweireichelehre, in: Wort und Glaube III, Tübingen 175, 574–592; sowie neuerdings: G. Brakelmann, Luther – Ethik des Politischen, Bielefeld 2014.

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Die Kirche und der Magistrat

Die Stadtrepublik Genf hatte sich mit der Annahme des Reformationsmandats (21.Mai 1536) von der Herrschaft des Bischofs sowie des Herzogs von Savoyen befreit. Damit war kirchlich wie politisch ein Machtvakuum entstanden, das nach neuen Regelungen rief, die imstande sein sollten, eine Balance zu schaffen zwischen der Regierung des gewählten Rates der Stadt und der Kirche, die ihrerseits vor der Aufgabe stand, sich eine neue Ordnung und Verfassung zu geben. Statt sich der schützenden Hand eines mächtigen Landesvaters anvertrauen zu können, wurde der Reformationsbeschluss hier Gegenstand parlamentarischer Beratung in einer sich selbst verwaltenden Gesellschaft.4 Diese veränderte Situation nötigte dazu, das Verhältnis der rivalisierenden Institutionen neu zu beschreiben. Das republikanische Klima nicht nur dieses letzten Kapitels der Institutio hat in die deutschen Übersetzungen leider noch kaum Eingang gefunden. So findet sich der missverständliche Begriff der „Obrigkeit“ in der Regel überall dort, wo im lateinischen Original vom Magistrat die Rede ist. Ebenso hat die Statik des deutschen „Amtes“ die bewegliche Beschreibung von Aufgaben (munus, officium) und Abläufen (functio) der öffentlichen Verwaltung, also die Elemente eines funktionalen Politikverständnisses, verdrängt. Hier war die Welt der Schweizer Stadtrepubliken den deutschen Fürstentümern „eine ganze geschichtliche Epoche voraus“ (Beintker). Calvin begreift den „Staat“ nicht wie die mittelalterliche Tradition als eine von Gott fest gefügte unabänderliche Ordnung (ordo), sondern sieht ihn als Instrument Gottes (ordinatio) im Dienst des Lebens der Menschen. Er fragt nach Verantwortungsbereichen und Aufgaben, die hier sachgemäß wahrgenommen werden müssen, und spricht die Regierenden bereits im Katechismus von 1537 als „Diener“ (ministres) an, die im Auftrag Gottes handeln und ihm ihre Macht verdanken.5

Der unmittelbare Anlass, diesem Selbstverständnis entsprechend hier einzugreifen,– alle Reformatoren haben sich (leider nicht immer zum Guten) an dieser Front verkämpft – ist der Konflikt mit täuferischen Gruppen, welche die von Calvin eingeschärfte Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Reich zwar kennen, daraus aber auf ihrem radikalen Flügel andere, zum Teil selbstzerstörerische Konsequenzen ziehen, die zuletzt in der Katastrophe von Münster (1535) offenbar geworden sind. Sie berufen sich auf die christliche Freiheit und meinen, sie könnten von ihr keinerlei Früchte ernten, solange sie noch eine Macht über sich stehen sehen. Deshalb glauben sie, nichts stehe zum Besten, „wenn nicht der ganze Weltkreis ein neues Gesicht bekäme, und es dort weder Gerichte, noch Gesetze,

4 M. Beintker, Calvin und der Weg zur modernen Demokratie und Wirtschaftsordnung, in: T. Jähnichen u. a. (Hg), Calvin entdecken: Wirkungsgeschichte – Theologie – Sozialethik, Berlin 2010 (135–149), 138. 5 Instruction et Confession de foy, CO 12, 73; CStA 1.1, 205. 31–36.

Das bürgerliche Regiment (politica administratio)

noch Magistrate, noch irgendetwas dergleichen gebe, was ihrem Freiheitswahn entgegen steht“.6 Dieses Argument hat leider auch zur Rechtfertigung der schweren Verfolgungen herhalten müssen, denen sich die Täufer nicht nur in der Schweiz ausgesetzt sahen. Die systematischen Begründungen der fälligen Neuordnung sind im Kreis der Reformatoren deutlich verschieden: Für Luther ist die patriarchalische „Obrigkeit“, obwohl von Gott geordnet, ein Werk seiner linken Hand, ein Heilmittel gegen die Sünde und ein Instrument zur Verhütung von Unordnung und Anarchie. Calvin hingegen begreift die bürgerliche Regierung (politica administratio) in Gestalt des städtischen Magistrats als eine singuläre Auszeichnung und Ehrenstellung des Menschen, vergleichbar nur mit dem Amt der Evangeliumsverkündigung: Seine Vertreter werden in Ps 82 als „Götter“ bezeichnet. Calvin nennt sie Stellvertreter (vicarii) und Leutnants Gottes, Diener der göttlichen Gerechtigkeit.7 John Hesselink spricht von „one of the most impressive parts of Calvin’s classic“.8 Während Luther bei dem geistlichen und weltlichen Regiment zwei Menschengruppen im Blick hat, die Nicht-Christen „unter dem Gesetz“ und die Christen, „die keines weltlichen Schwerts noch Rechts bedürfen“, geht nach Calvin – er folgt der aristotelischen Tradition – diese, wie er betont notwendige Unterscheidung aus der Natur des Menschen selbst hervor und ist dort verankert. Das geistliche Regiment „betrifft das Leben der Seele, das bürgerliche dagegen hat es mit dem zu tun, was zum gegenwärtigen Leben gehört“, und das ist der Bereich des Politischen: Hier geht es um die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, um die Wahrung von Frieden und Recht sowie um die förmliche Bewahrung der Gesetze.9 Für das Leben der Seele aber hat das politische Handeln kein Mandat. Nur per nefas, in einer Verkennung seines Auftrags könnte es sich hier eine Herrschaft anmaßen.10 Im Hintergrund dieses Schlusskapitels der Institutio steht nicht nur die theologische Auseinandersetzung mit Rom oder den Täufern, sondern – namentlich seit Calvins zweitem Genfer Aufenthalt (1541–64) – ein auch intra muros vielfältiges Konfliktfeld, das sein reformatorisches Wirken mitunter mehr als nötig in Misskredit gebracht hat. Da sind die heftigen Zusammenstöße mit dem Genfer Bürgertum, das seine mit dem Reformationsmandat gewonnenen Freiheiten und Privilegien

6 Inst (1559) IV, 20,1: OS V, 472. 9–13. Diesen Vorwurf hat Calvin in seinem Traktat gegen die Anabaptisten (Brieve Instruction, 1544), einer kritischen Durchsicht der Schleitheimer Artikel von 1527 (bes. Art. 6, CO 7, 80–92; CStA 3, 337–363), breit entfaltet. 7 Inst (1559) IV, 20.6 und 20.22; vgl. Genfer Katechismus 1537, CO 12, 73; CStA 1.1, 205.26–29. 8 J. Hesselink, Calvin’s First Catechism (Anm. 31), 168. 9 So liest man es bereits in Inst III, 19,15; OS IV, 294. 5–8 und 14–16. 10 So heißt es (eine der vielen sachlichen Parallelen) auch in Luthers Schrift: „Über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen, außer sich selbst“, WA 11, 262.

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Die Kirche und der Magistrat

nicht kampflos preisgeben wollte11 , oder der Streit um die Kirchenverfassung in den „Ordonnances“, die der Magistrat – ein Eingriff in die von Calvin beanspruchten Kompetenzen und Rechte der Kirche – in eigenem Namen herausgegeben hat12 . „Immer wieder neu müssen im Rückgriff auf das Recht und im moralischpolitischen Experiment die normativen Ansprüche der religiösen und politischen Gruppierungen […] überprüft, zurückgewiesen oder verstärkt werden.“13 Hinzu kommt der wachsende Einfluss „französischer“, Calvin treuer Pastoren, wodurch sich alteingesessene Genfer beaufsichtigt und reglementiert fühlen, und nicht zuletzt die diakonische Herausforderung, der sich die Stadt zu stellen hat, als 1538/39 an die 10.000 Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien nach Genf strömten und dort mit dem Notwendigsten versorgt werden mussten – eine Notlage, die zugleich als ein Kampf gegen die Bevölkerung verstanden werden konnte. An diesen Bruchlinien besteht ein wachsender Orientierungsbedarf. Machtansprüche von Kirche und Magistrat müssen neu justiert werden. Dass sich Calvin dabei an der Seite eigentlich aller Reformatoren wusste, aber mit breiteren und besser fundierten Argumenten für eine Gewaltenteilung zugunsten der Rechte des weltlichen Magistrats eingesetzt hat, ist seine besondere historische Leistung. So gesehen geht es auch in diesem letzten Kapitel zentral um den Glauben, einen Glauben, der sich gegen jeden Versuch, die lebensnotwendigen zeitlichen Ordnungen umzustürzen, auf die Seite Gottes stellt, und darum auch gegen diejenigen, die diese äußeren Ordnungen allein der weltlichen Gewalt meinten unterstellen zu können.

7.1

Das bürgerliche Regiment (politica administratio)

Innerhalb des bürgerlichen Regiments werden drei klärungsbedürftige Aspekte besonders herausgehoben, zunächst die besondere Verfassung eines Gemeinwesens, also seine Konstitution sowie seine Aufgaben und die Reichweite seiner Macht, sodann die Gesetze, die dort gelten sollen, und schließlich die Verpflichtungen des davon betroffenen Volkes. Im Gegensatz zu den Verhältnissen des Mittelalters soll dabei eine scharf formulierte Grenzziehung eingehalten werden: Das geistliche Regiment hat seinen Sitz „tief im Herzen“ es richtet sich auf Gott und das „kommende ewige Leben“; das bürgerliche bestimmt die Ordnung der Sphäre, in der sich das alltägliche Leben des Menschen vollzieht. Geht es hier „allein um die äußeren Sitten“ und die „äußere Rechtsgewalt“ (externum forum), so dort um die Forderungen 11 Dazu: B. Cottret, Calvin. Eine Biographie, Stuttgart 1998, 227–242. 12 Vgl. den Prolog zur Kirchenordnung von 1561, CO 10/1, 91; CStA 2, 239. 1–24. Dazu: Chr. Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 61ff. 13 M. Welker, Calvins Lehre vom „Bürgerlichen Regiment“, in: M. Weinrich/U. Möller (Anm. 2), 245.

Das bürgerliche Regiment (politica administratio)

des an Gott gebundenen Gewissens. Deshalb kann man hier nicht scharf genug unterscheiden: „Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung sind zwei völlig verschiedene Dinge.“14 Man darf sie nicht vermengen, d. h. ihre Grenzen nicht ineinander laufen lassen. Die politische Gewalt darf nicht in kirchliche Belange hineinregieren, und im Namen der christlichen Freiheit soll sich niemand ein Urteil über Notwendigkeit oder Überflüssigkeit einer bürgerlichen Ordnung anmaßen, denn beide Bereiche haben wie Seele und Leib verschiedene Gesetze und folgen verschiedenen Regeln. Die hier proklamierte Bindung des Gewissens allein an Gott bedeutet eine klare Begrenzung der Reichweite und Macht des Politischen. Sie steht an der Wurzel der modernen Idee der Gewissensfreiheit, verstanden als Freiheit des Einzelnen von religiöser oder politischer Bevormundung und Indoktrinierung. Zugleich aber hat Calvin, was schon das Zusammenspiel von Leib und Seele nahe legt, beide Bereiche sehr viel enger miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Denn es ist Gott, der beide Regimente eingesetzt hat.15 Es ist also nicht an dem, als gebe es hier nur ein Entweder/Oder derart, dass ein Mensch nur in einer der beiden Welten leben könne. John Hesselink hat mit Recht von zwei einander sich „überschneidenden Kreisen“ gesprochen, was sich schon in ihrer „Wertschätzung“, spiegelt. Was Calvin vom kirchlichen Amt sagt, dass es ungleich „wichtiger und notwendiger sei als Licht und Wärme der Sonne für die Erhaltung des zeitlichen Lebens“, das kann er auch der bürgerlichen Ordnung attestieren: ihr Nutzen unter den Menschen sei nicht geringer als „Brot und Wasser, Sonne und Luft, ihre Würde (dignitas) aber noch viel hervorragender […], dient sie doch nicht nur dazu, dass wir „atmen, essen, trinken […], nein sie hat auch den Zweck, dass sich Abgötterei und Frevel gegen Gottes Namen […], nicht öffentlich erheben“.16 Mehr noch, er erklärt die Herrschaft des Magistrats für eine „heilige Sache (chose saincte).“ Kraft „Gottes Vorsehung und heiliger Anordnung (ordinatio)“ sei er mit dessen Statthalterschaft beauftragt17 , so dass es nicht nur den Anschein hat, als ob das Ziel der bürgerlichen Gewalt „in der gleichen Richtung liege“ wie die der Kirche aufgetragene disciplina ecclesiastica.18

14 Inst IV, 20,1; OS V, 472. 16f. 15 J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (1937), Aalen 1968, 611, hat von dem Versuch des Reformators gesprochen, „die Kirche und den Staat in einen Lebenszusammenhang zu bringen“, der trotz gewisser „Ähnlichkeiten“ einen „prinzipiellen Bruch“ mit „mittelalterlichen Systemen“ bedeutet, sofern es hier nicht um die funktionale Einheit zweier an sich getrennter Gewalten geht, sondern „darum, wie die durch Gott gesetzte Menschheit in […] ihrer Zweckbestimmung erhalten wird“. 16 Vgl. Inst IV, 3,2; OS V, 44. 33–36 mit ebd. IV, 20, 3; OS 473. 32–474. 3. 17 Inst IV, 20.4; OS V, 475.8. 18 Ebd. OS V, 475.18 mit dem Hinweis, dass dem Gottesmann David nicht umsonst die weltlich Herrschaft über Israel anvertraut worden sei.

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Die Kirche und der Magistrat

Hier gibt es tatsächlich eine Konvergenz. Beide können ohne Widerspruch nebeneinander bestehen. Denn es komme darauf an, sich innerhalb der Grenzen christlicher Freiheit auf den Boden der politisch verfassten Wirklichkeit zu stellen, hat diese Freiheit sich doch hier zu bewähren. Fast wichtiger noch ist deshalb das korrespondierende zweite Argument: Die Religion darf nicht in die Privatsphäre abgedrängt werden. Weit davon entfernt, eine Privatsache zu sein, ist der Magistrat dafür verantwortlich, dass „unter den Christen die öffentliche Gestalt der Religion (publica facies) zu Tage tritt.“19 Daran hängt nicht weniger als die sachgemäße und darum glückliche Verfassung der politischen Sphäre, denn mit dem Reich Gottes stünde auch das Recht des Menschen auf dem Spiel. Die irdische Gesetzgebung geriete auf Abwege, sodass das Größte und Wichtigste, die Menschlichkeit unter den Menschen, verloren ginge und keinen Bestand mehr hätte. Dementsprechend steht die Sorge für die rechte Religionsausübung (cura religionis) an der Spitze der dem Magistrat anvertrauten Aufgaben, wobei sich Calvin auf „alle Philosophen“ der heidnischen Antike als Vorbild für christliche Fürsten beruft.20 Den religionslosen Staat kennt er noch nicht. Er ist aber davon überzeugt, dass ein politisches Gemeinwesen, wenn es seinem von Gott ihm gegebenen Auftrag gerecht wird, auch seinen eigenen Bestand und seine Integrität festigt, so wie es Ernst-W. Böckenförde sehr viel später in jenem viel zitierten Satz formuliert hat, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann. Auch hier ist nach dem Verfall der mittelalterlichen Ständeordnung ein Vakuum entstanden, das Calvin mit seinem Konzept der bürgerlichen Administration besetzt. Dabei sind weltliches und profanes Recht kein Selbstzweck. Sie können keine „eigengesetzlichen“ Handlungsspielräume in Wirtschaft oder Kultur begründen. Vielmehr müssen sich die einzelnen Gesetze an der „Ordnung der Liebe“ messen lassen. Im Übrigen lässt er sich wie sein ganzes Zeitalter vom Gedanken des Naturrechts leiten: „Gottes Gesetz, das wir das sittliche nennen, ist nicht etwas anderes als das Zeugnis des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) und jenes Gewissens, das den Menschen von Gott ins Herz eingemeißelt ist.“21 Es schließt die Billigkeit (aequitas) in Auslegung und Anwendung dieser Gesetze ein. Auf drei Pfeilern, modern gesprochen: Staatszielbestimmungen, beruht somit das Mandat des bürgerlichen Regiments: auf Gerechtigkeit, Frieden und, fügt Calvin später hinzu, auf Freiheit. In diesem Sinn erklärt er, es gebe „keine glücklichere Art der Regierung als die, wo die Freiheit die gebührende Mäßigung erfährt und auf beständige Dauer eingerichtet“ ist.22 Das mag auch der Grund dafür sein, 19 Inst IV 20,3; OS V, 474.6. 20 Inst IV, 20,9; OS V, 480. 2. Umgekehrt spricht J. Hesselink, a.a.O. 170, hier von einem Sorgenkind für Calvins moderne Erben. 21 Inst IV, 20,16; OS V, 488. 3–6. 22 Ebd. 20,8; OS V; 479. 7–9.12–16.

Das bürgerliche Regiment (politica administratio)

dass sein „Modell des reformierten Christentums in ganz Westeuropa ungeheuer einflussreich“ werden und „unter den Protestanten die häufigste Alternative zum lutherischen Christentum geworden ist.“23 Es fällt auf, dass er als Jurist keine Definition dieser Begriffe gibt, sondern mit biblischen Zitaten und Beispielen arbeitet. (1) Gerechtigkeit heißt, für das Recht der schwächsten Glieder, für Fremdlinge, Witwen und Waisen, einzutreten (Ps 82, 3f.), also „den Armen und Elenden Recht verschaffen“, sie „aus der Hand des Bedrückers heraus zu reißen“. Das wirft die schwierige Frage auf (die auch Luther beschäftigt hat), ob zum Schutz des bedrohten Nächsten auch Gewalt angewandt werden darf. Im Raum der Politik geht es dabei um die Legitimität des „gerechten Krieges“, die durch das Augsburger Bekenntnis (Art. 16) für den Protestantismus normative Geltung bekommen hat. Diese Legitimität als „Vollstreckung einer öffentlichen Strafe“ in Anspruch zu nehmen, hat Calvin dem Magistrat zum Schutz der ihm Untergebenen (im Fall von Grenzverletzungen, feindseligen Übergriffen usf.) ohne Wenn und Aber zugestanden.24 Er vergisst jedoch nicht hinzuzufügen, dass im juristischen Regelfall das Diktum Senecas gilt: „Milde ist die trefflichste Mitgift (dos) der Fürsten“.25 (2) Friede (pax communis) ist der Zustand, in dem zum Wohlergehen aller die „bürgerliche Ruhe“ nicht durch Anarchie erschüttert wird. Deshalb sind die Amtsträger zur Verteidigung der „öffentlichen Unschuld“ (publica innocentia bzw. tranquillitas) eingesetzt und mit Macht ausgerüstet, „um offenkundige Verbrecher und Übeltäter streng in Schranken zu halten“. Wichtiger noch: Auch ein „gerechter“ Krieg darf niemals als Vorwand zur Friedenssuche geführt werden – etwa nach der antiken Maxime: „si vis pacem, para bellum!“ (Wenn du Frieden willst, rüste dich für den Krieg!) –, vielmehr „müssen wir alles versuchen, ehe wir die Entscheidung mit Waffen herbeiführen“ (IV, 20,12). (3) So wortreich im Schrifttum der Reformation von der „Freiheit eines Christenmenschen“ geredet wird, von ihrer Gestalt als bürgerliche Freiheit – Luther sei ausgenommen – erfährt man indessen wenig. Das Genfer Erfahrungsfeld im Konflikt mit Savoyen ließ hier jedoch kein Schweigen zu: Die Regierungen (magistratus) müssen mit höchster Anstrengung drauf bedacht sein, es nicht zuzulassen, dass die Freiheit, zu deren Beschützer sie eingesetzt sind, in irgendeinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird. Wenn sie dabei zu nachlässig sind oder

23 R.M. Kingdon, Art. „Kirche und Obrigkeit“, in: H. Selderhuis (Hg), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 352f. 24 Inst IV 20, 11 und 12. (OS V, 483. 30: „publica vindicta“). 25 Ebd. 20,10; OS V, 483.20f. (Seneca, De clementia I,3,3).

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Die Kirche und der Magistrat

zu wenig Sorgfalt walten lassen, sind sie treulos in ihrem Amt und Verräter an ihrem Vaterland. (Inst IV, 20,8; OS V, 479.12–16).

Nach außen ist es die Freiheit von Fremdherrschaft und Unterdrückung, die als hohes Gut gilt, das zu bewahren zur Pflicht des Magistrats gehört. Nach innen ist den Völkern Freiheit gegeben, eigene, ihnen zuträglich erscheinende Gesetze zu erlassen. In beiden Fällen aber wird der Handlungsspielraum dieser Freiheit durch das Gewissen begrenzt, das „in der Mitte zwischen Gott und dem Menschen“ steht.

7.2

Exkurs: Die Frage nach der besten Verfassung

Calvin hat in diesem Zusammenhang die Frage nach der besten, dem politischen Gemeinwesen förderlichsten Regierungsform ausdrücklich gestellt. Das ist bemerkenswert, weil zu seinen Lebzeiten – jedenfalls in den Gegenden Frankreichs, in denen er seine Schul und Studienzeit verbracht hat –, die Monarchie mit einer einzelnen Person an der Spitze diesen Rang unangefochten behauptete (das gilt übrigens auch für das römische Papsttum und die bischöfliche Diözesanverwaltung). In den freien Reichsstädten und den Schweizer Stadtrepubliken tritt diesem Modell nun jedoch die von einem kleinen Kollektiv ausgewählter Personen und Gruppen geführte Regierung gegenüber und hat bis heute die Frage wach gehalten, ob man in diesem Umfeld nicht die Keimzelle suchen müsse, die den Weg zur modernen Demokratie gebahnt hat. Calvins an dieser Alternative orientiertes Gemeindemodell steht von jeher im Zentrum einschlägiger Untersuchungen.26 Calvin hat sich an der antiken (aristotelischen) Unterscheidung der drei Verfassungstypen – Monarchie, Aristokratie und Volksherrschaft27 – orientiert. Jede dieser Regierungsformen ist legitim, keine allerdings ist vor Missbrauch geschützt: Das Königtum kann in Tyrannei abgleiten, die Macht der Vornehmsten in eine Parteienherrschaft weniger ausarten, am leichtesten aber kann die Volksherrschaft im Aufstand versinken.28 So gesehen empfiehlt sich am ehesten die Aristokratie (vor allem, wenn sie Elemente der bürgerlichen Gewalt in sich aufnimmt) und

26 J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (Anm. 15), bes. 380–513; D. Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika, in: Konzepte München 1986, 301–315; M. Turchetti, Der Beitrag Calvins und des Calvinismus zur Entstehung der modernen Demokratie, in: E. Hirzel/M. Sallmann (Hg), 1509 – Johannes Calvin – 2009, Zürich 2008, 237–266; M. Beintker, Calvin und der Weg zur modernen Demokratie (Anm. 4), 135–150. 27 Aristoteles, Politik 1279 a, 32–1279 b, 10. Bei Calvin erscheint der Begriff „Demokratie“ jedoch nur ein einziges Mal in der frz. Institutio (1541), OS V, 478. 36. 28 Inst IV, 20,8; OS V, 478. 8.18–21.

Die bürgerlichen Gesetze (usus politicus)

zwar deshalb, weil es „sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten“, die sich gegenseitig beistehen, korrigieren und durch Wahlen für den Ausschluss ungeeigneter Kandidaten sorgen. Michael Beintker hat diese Argumentation durch den für Calvin so wichtigen Rückgriff auf biblische Vorbilder aus dem Alten Testament, das Königtum Davids oder das noch aussagekräftigere Institut der sogenannten Richter im vorstaatlichen Israel, erweitert: Hier wird die Freiheit des Volkes durch das Recht, die Träger der Regierung durch freie Wahl selber zu bestimmen, nachhaltig gewährleistet. Ebenso wichtig ist die schon in älteren Arbeiten als Vorbild vermutete, von Beintker pointiert herausgearbeitete Erinnerung an die reformierte presbyterial-synodale Gemeinde- und Kirchenordnung Genfs. Hier findet man unverkennbar demokratische Ansätze: etwa die kollegialen Organe der Gemeindeleitung, Wahlen auf allen Ebenen, gleichberechtigte Zusammenarbeit von Pastoren und Laien, die Beteiligung der Gemeinde an der Bestellung von Amtsträgern durch Akklamation und/oder Vetorecht, so dass man der These zustimmen möchte, die parlamentarische Praxis der neuzeitlichen Bürgergesellschaft sei „nicht zuletzt in Presbyterien und Synoden eingeübt worden“.29 Die gegenwärtige Forschung sieht denn auch die bedeutendste Fernwirkung des Genfer Kirchenmodells in dessen Betrag zur demokratischen Kultur Europas, wobei man unter diesem Beitrag jedoch nicht so sehr eine Art von unmittelbarem Einfluss, sondern eher die Erstellung von „Bedingungen für neue Möglichkeiten“ verstehen muss.30

7.3

Die bürgerlichen Gesetze (usus politicus)

„Es ist besser für uns, wilde Tiere zu sein und die Wälder zu durchstreifen als ohne (bürgerliches) Regiment und Gesetze zu sein“, heißt es im Kommentar zu Jer 30,9.31 Dass ein bürgerliches Gemeinwesen (res publica) ohne Gesetze nicht lebensfähig ist, braucht man in der Tat nicht groß zu begründen. Doch welche Gesetze sind dazu tauglich? Woher kommen sie und wer bestimmt den Umgang mit ihnen? Dass die Quelle alles Rechts im grundlosen Willen Gottes liegt: diese Auffassung vertritt Calvin in fast noch größerer Schärfe als ehedem Duns Scotus.32 In die letzte Ausgabe der Institutio (1559) hat er überdies die reformatorische Unterscheidung eines

29 M. Beintker (Anm. 193), 144. Wichtige Belege findet man bei J, Bohatec, Staat und Kirche (Anm. 204), 417–444, die man freilich aus der dominanten Klammer des „Organismusgedankens“ befreien muss. 30 So die vorsichtige These von D. Ritschl, Calvinismus (Anm. 215), 305. Die historische „Verifikation“ müsste wohl über die Entwicklung der amerikanischen Demokratie geführt werden. 31 Kom. zu Jer 30,9; CO 31, 66. 32 Inst III, 23, 2; OS IV, 396.3: „summa est iustitiae regula Dei voluntas“; dazu: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1980 (4.Aufl.) 104f.

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dreifachen Gebrauchs übernommen. Der (nach seiner Zählung) zweite „politische“ Gebrauch findet sich seit der ersten Fassung (1536; OS I, 61) bereits in allen Ausgaben. Es besteht allerdings eine Unklarheit über die besondere Funktion gerade dieses usus politicus. Man wird ihn jedenfalls nicht unter den für Calvin wichtigsten dritten, nämlich normativen Gebrauch „in renatis“ (den Wiedergeborenen), subsumieren können. Von ihm ist außerhalb der Institutio kaum die Rede, und im Kommentar zum Pentateuch gibt es nicht einmal eine indirekte Anspielung auf ihn. Offenbar aber besteht eine relativ enge Verbindung zur Rolle des Naturgesetzes, das dem Menschen in Herz und Gewissen eingeschrieben ist. Denn Gott hat in seiner Liebe die „gefallene“ Menschheit nicht sich selbst überlassen, sondern ihr einen Begriff von gut und böse, von Recht (droiture) und Billigkeit (équité), mitgegeben, nicht zuletzt auch das geschriebene Moralgesetz des Alten Testaments, um sie vor Anarchie und Selbstzerstörung zu bewahren. So verstanden gehören gesetzlich geregelte Ordnung und Liebe sogar zusammen. Denn in solcher uns zugewandter Vorsehung handelt Gott nicht nur in seiner Sorge um Wohlfahrt und Existenz der Kirche, sondern auch um der Menschheit im ganzen willen. Seine Providenz manifestiert sich daher insbesondere auch in der Einrichtung einer politischen Ordnung in Gestalt des Magistrats: Wir sollen „durch Recht und Gerechtigkeit (iure ac legibus) regiert“ werden. Hier setzen die Überlegungen des letzten Kapitels der Institutio (IV, 20, 14–16) ein. Auf eine Erörterung der „besten“ Gesetze hat sich Calvin nicht eingelassen; sie bliebe abstrakt und käme zu keinem Ende. Es geht ihm um die Einrichtung eines „christlichen Regiments“ (Christiana politia), und da gehört es zu den nächst liegenden Dingen, dass er – gleichsam probeweise – eine Beziehung der bürgerlichen Gesetze zum Moralgesetz des Alten Testaments in Betracht zieht.33 Welche Gesetze könnte man in dieser Perspektive, d. h. „in Frömmigkeit vor Gott“, gebrauchen, und wie könnte ein solches Regiment dann erfolgreich unter den Menschen etabliert werden?34 Denn auf jeden Fall gilt ja, dass die Gesetze die Seelen sind, ohne die der Magistrat nicht bestehen kann, dass sie umgekehrt aber ohne den Magistrat keine Kraft haben, was Calvin mit der schönen ciceronianischen Sentenz zum Ausdruck bringt: „Das Gesetz ist ein stummer Magistrat, und der Magistrat ist ein lebendiges Gesetz.“35 Doch neben dieser formalen Voraussetzung bzw. Bedingung ist nun auch eine inhaltliche Entscheidung zu treffen, und hier schürzt sich der Knoten des Problems. Denn Calvin hat es mit Leuten zu tun, die behaupten, „ein Gemeinwesen, das unter Vernachlässigung der von Mose vorgeschriebenen politischen Gesetze nach allgemeinen Gesetzen der Völker (gentes) regiert werde, sei schlecht etabliert“, 33 Vgl. dazu die Ausführungen von J. Hesslink, Calvin’s Concept of Law (1928), Allison Park 1992, 243–245. 34 Inst IV, 20,14; OS V, 486. 19f. 35 Ebd. OS V, ebd. 14f. (Cicero, De legibus III, 2).

Die bürgerlichen Gesetze (usus politicus)

– eine Ansicht, die Calvin für „gefährlich und aufrührerisch“ hält.36 Scharf kontrastiert werden hier daher die partikulare, auf Israel zugeschnittene Mosegesetzgebung und ein allgemeines (natürlich von Staat zu Staat verschiedenes) Völkerrecht. Zunächst: Was ist mit der mosaischen Gesetzgebung gemeint? Sie wird wie bei Thomas und Melanchthon dreifach unterteilt: in das moralische Gesetz (Verehrung Gott gegenüber; Liebe den Menschen gegenüber), in das speziell die Juden verpflichtende Zeremonialgesetz (das mit dem Neuen Testament obsolet geworden ist), und drittens in die ihnen als bürgerliche Ordnung (loco politiae) gegebenen Rechtssatzungen, die sie im Interesse eines friedlichen Miteinander mit bestimmten Regeln zur Beachtung von Gerechtigkeit und Billigkeit (droiture et équité) ausrüsten sollten. Die letztgenannten sind offenbar hier gemeint. Von ihnen sagt Calvin, sie hätten keinen andern Zweck, als die von Gott gebotene Liebe auf bestmögliche Weise zum Zuge zu bringen, seien also gewissermaßen das zivile Pendent des Zeremonial bzw. Frömmigkeitsgesetzes. Daraus ergibt sich nun der entscheidende Schluss: Wie das Zeremonialgesetz aufgehoben werden kann, ohne dass die Frömmigkeit damit angetastet oder gar beeinträchtigt wird, so können auch die Pflichten und Gebote der Liebe bestehen bleiben, wenn die speziell Israel gegebene rechtliche Verfassung durch die eines anderen Volkes ersetzt wird.37 Während man angesichts der Hochschätzung Calvins für das mosaische Gesetz erwarten konnte, dass er eine unmittelbare Brücke vom bürgerlichen Gesetz zur mosaischen Ordnung schlägt, geschieht hier genau das Gegenteil. Er entkoppelt die Liebe von ihrer Bindung an das mosaische Gesetz, bestreitet also die ihm oft unterstellte These, das Mosegesetz könnte als Modell und Blaupause aller späteren Verfassung geltend gemacht werden. Stattdessen lässt Calvin den einzelnen Völkern ausdrücklich die „Freiheit, die Gesetze zu erlassen, von denen sie voraussehen, dass sie ihnen den größtmöglichen Nutzen bringen werden, sofern sie nur die Liebe zu ihrer verbindlichen Richtschnur machen“. Ansonsten können sie der Form nach verschieden sein, müssen aber denselben Geltungsgrund (ratio) haben.38 Ähnlich wie Luther, „nur stärker als er“ gründet er die bürgerliche Verfassung und ihre Gesetze auf das Naturrecht und damit auf die göttliche Vorsehung. Denn das Gesetz Gottes, das wir das sittliche nennen ist ja „nichts anderes als das Zeugnis des natürlichen Gesetzes (lex naturalis), und jenes Gewissens, das den Menschen von Gott ins Herz gegraben ist“, und schließt als solches die Billigkeit (aequitas) als Forderung in sich39 Deshalb, so der folgerichtig weitere Schluss, besteht „kein Grund, weshalb es von uns nicht gutgeheißen werden sollte,

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Ebd. OS V, 486. 22–26. Inst IV, 20, 15; OS V, 487. 24–27. Ebd. OS V, 487. 27–30. Inst IV, 20,16, OS V, 488. 4–6. Vgl. Kapitel 5.1, sowie Vgl. H. Welzel, Naturrecht (Anm. 32), 104f.

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so verschieden es vom jüdischen Gesetz auch sein mag“.40 Calvin steigt somit von dem in Gottes Willen begründetem Gesetz gleichsam herab zu den Formen des positiven Rechts. Er trennt mit einer mittelalterlichen Unterscheidung (wie übrigens auch wieder Luther) zwischen dem iustum, dem Buchstaben des Gesetzes, und dem aequum, etwas „Natürlichem“, das bei allen Gesetzen nur ein und dasselbe sein kann, weil es auf das gleiche Ziel zuläuft, das im Grunde alle intendieren: den besonderen Umständen eines strittigen Rechtsfalles gerecht zu werden. In einer instruktiven Studie über Calvins Ethik hat Albrecht Thiel die Forderung der Billigkeit, verstanden als Maßstab menschlichen Handelns, „gleichsam die Schnittstelle für das angewandte Naturrecht (und) das Liebesgebot in Gestalt der Goldenen Regel“ genannt.41 Er spricht im Zusammenhang mit dem seinerzeit hoch umstrittenen Recht, Zinsen zu nehmen, von Calvins „neuer Hermeneutik“. Das „Prinzip“ Billigkeit schlägt somit eine Brücke von den Regelungen der Bibel zu den Fragen seiner eigenen Epoche. Hier hat Calvin eine lange Zeit verschlossene Tür weit geöffnet.

7.4

Die Grenzen des bürgerlichen Regiments: das Problem des Widerstands

Von Grenzen der weltlichen Gewalt war bereits in den letzten Abschnitten gelegentlich die Rede. Erst am Ende dieses umfangreichen Kapitels wird jedoch die entscheidende Frage ausdrücklich gestellt: „Was sind Privatleute dem Magistrat zu leisten schuldig? Wie weit soll der Gehorsam gehen?“42 Seit das römische Imperium sich an der Verfolgung christlicher Gemeinden beteiligt hat, muss es vielen ihrer Mitglieder geradezu absurd erschienen sein, diese Autoritäten auch noch ihres Gehorsams zu versichern. Dennoch gehört die ehrerbietige Unterordnung dem Magistrat gegenüber seit und mit Römer 13 zu den im Reformationszeitalter mit besonderem Nachdruck eingeschärften Christenpflichten. Dabei hat der gewählte Pfarrer mit leuchtendem Beispiel voranzugehen, „ob es nun gilt, seinen Erlassen zu gehorchen, Steuern zu entrichten, öffentliche Dienste und Lasten zu übernehmen, die zur gemeinsamen Verteidigung dienen, oder irgendwelche sonstigen Anordnungen auszuführen“.43 Der vor der Synode und dem Rat der Stadt zu schwörende Diensteid ist der prominenteste Ausdruck dieser geforderten Loyali-

40 Inst IV, 20, 16; OS V, 488. 10–12. 41 A. Thiel, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen 1999, 265. 42 Inst IV, 20,17; OS V, 489.18f. 43 Ebd. 20,23; OS V,494. 8–12.

Die Grenzen des bürgerlichen Regiments

tät. Umso bemerkenswerter ist es, dass schon das in der Genfer Kirchenordnung vorgeschriebene Eidesformular mit einem expliziten Vorbehalt schließt: Schließlich verspreche und schwöre ich […] den anderen ein gutes Beispiel des Gehorsams zu sein, indem ich für meinen Teil […] den Gesetzen und dem Magistrat gehorsam bin, soweit es mein Amt zulässt. […] Und so verspreche ich, Herrschaft und Volk derart zu dienen, dass ich dadurch auf keine Weise gehindert werde, Gott den Dienst zu erweisen, den ich ihm meiner Berufung entsprechend schuldig bin.44

Dieser Vorbehalt müsste für jeden Christen, erst recht für jeden Pfarrer selbstverständlich sein. Calvin beruft sich denn auch auf die berühmte Petrusklausel: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 5,29)45 . Damit wird jeder weltlichen Gewalt eine unüberschreitbare Grenze setzt. Schon Luther hat das Gebot des sächsischen Landesherrn, das Neue Testament seiner christlichen Untertanen zu konfiszieren, mit den Worten quittiert: „Nicht ein Blättlein, nicht einen Buchstaben sollen sie ausliefern bei Verlust ihrer Seligkeit!“46 Ebenso haben Calvin und seine Amtsbrüder sich geweigert, zu Ostern 1538 einer tief zerstrittenen Gemeinde auf Befehl des Magistrats das Abendmahl auszuteilen, und haben die Konsequenz der Ausweisung aus Genf auf sich genommen. Neu und für die damalige Zeit unerhört ist die Forderung, den Staat, dem dieser Eid geschworen wird, auf einen solchen Vorbehalt festzulegen. So weit meinte Luther nicht gehen zu dürfen: „Einem Frevel soll man nicht Widerstand leisten, sondern [ihn] erleiden.“47 Hier gehe es um einen im Gewissen begründeten Widerstand, der nicht gewaltsam, sondern passiv, nur leidend ins Werk gesetzt werden könne. Diesem Votum hat sich Calvin später, in der letzten Institutio (1559) generell angeschlossen und ist in der Gehorsamsforderung verbal sogar noch einen Schritt weiter gegangen: „Wenn wir unter den Türken, unter Tyrannen, unter Todfeinden des Evangeliums leben würden, dennoch wäre uns geboten, ihnen untertan zu sein. Warum? Es ist so Gottes Wohlgefallen.“48 Wie ist das zu begründen? In einem aufschlussreichen Vergleich der RömerbriefKommentare von Melanchthon (1532) und Calvin (1540) hat David Steinmetz gezeigt, wo innerhalb eines breiten Konsenses die Argumente im Kreis der Reformatoren auseinander gehen. Schon die Frage, was mit den „übergeordneten Gewalten“ von Röm 13,1 gemeint sei,wird nicht einheitlich beantwortet. Während Luther

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Ordonnances Ecclesiastiques, CO 1, 95f.; CStA 2, 244. 16–30. Inst IV, 20, 32; OS V, 502. 23f. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), WA 11, 267. Ebd. 267. CO 24, 557; auch CO 27, 445.

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in seiner frühen Auslegung (1515/16) mit weltlichen und geistlichen Autoritäten rechnet, gehen Melanchthon und Calvin (wie übrigens auch die Kardinäle Cajetan und Seripando) davon aus, dass hier nur die weltliche Gewalt gemeint sein kann.49 Fragt man nach dem Grund der Gehorsamsforderung, so beruft sich Melanchthon an erster Stelle auf Vernunft und Naturrecht, da auch Paulus nicht erwarte, dass sich griechische Christen dem Mose-Gesetz unterwerfen müssten. Calvin dagegen antwortet eindeutig mit der „göttlichen Einsetzung“ (ordinatio), welcher der Magistrat sein Amt und seinen Auftrag verdankt.50 Eine biblisch-theologische Begründung jedoch, ob er sich dabei auf die vorstaatliche Tradition der israelitischen „Richter“ oder auf die „ihr völlig fremd gegenüber“ stehende Königstheologie der Davididen beruft51 , erfährt man nicht. Da aber die Gehorsamspflicht für beide Theologen außer Frage steht, ist es verständlich, dass sie über deren legitime Einschränkungen bzw. Grenzen nur wenig zu sagen haben. Nahezu alles, was Calvin in der Inst (1559) zu diesen Fragen ausführt, hat er Schritt für Schritt bereits in seiner Auslegung von Röm 13 im Kommentar von 1540 entwickelt, ob es um die Berufung und Autorisierung des Magistrats als „Gottes Dienerin“ (V.1 und 4) geht, um den göttlichen Ursprung aller politischen (auch gewaltförmigen) Rechtsordnung (V.1) oder um den „Nutzen“ dieser Institution zum Besten des „Menschengeschlechts“ (V.3).52 Warum aber insistiert er mit solchem Nachdruck darauf, dass dieser Gehorsam auch solchen, bis zum Skandal unwürdigen Herrschern zu leisten ist, die „ihre Macht missbrauchen, gute und unschuldige Menschen misshandeln“? Und warum erklärt er noch dazu, dass auch in ihrer Tyrannei wenigstens „Spuren gerechter Herrschaft“ zu finden seien?53 Das hat neben theologischen zunächst juristische Gründe. Nach damaliger Rechtsauffassung sind Herrscher (ob Könige oder Magistrate) und Untergebene durch das rechtliche Band gegenseitiger Verpflichtung (mutua obligatio, IV, 20,29) aneinander gebunden, das aber heißt zugleich: nur solange, als beide die Forderung des Vertrages erfüllen. Von diesem Vorbehalt scheint Calvin nichts zu wissen. Ihm ist alles an der positiven Forderung einer unbedingten Bindung der beiden vertragschließenden Parteien gelegen. Die Erkenntnis, dass Recht und Gerechtigkeit, „der beharrende und erhaltende Bestandteil des staatlichen Lebens“ ist und „deshalb zu

49 Vgl. Dazu: D. Steinmetz, Calvin and the Civil Magistrate, in: Calvin in Context, New York – Oxford 1995 (199–208), 202. 50 Ebd. 204f.; Calvin: Kom. zu Röm 13,1, CO 49, 249; CStA 5.2, 661. 28–33. 51 Vgl. dazu: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 1, Göttingen 1992, 184f. 52 Römerbriefkommentar CO 49, 249–250; CStA 5.2, 659–665. 53 Aus diesem Grund geht der Kommentar (anders als Inst IV, 20,31f.) auf das Widerstandsproblem gar nicht ein. – Luther erklärt auch solche Amtsinhaber als „Gottes Stockmeister und Henker“, fügt aber für den Fall des Machtmissbrauchs nun hinzu: „wo du (ihnen) nicht widersprichst, […] so hast du wahrlich Gott verleugnet“, Von weltlicher Obrigkeit, WA 11,267.

Die Grenzen des bürgerlichen Regiments

den leitenden Prinzipien des modernen Staates“ gehört, ist der Nerv seines „staatlichen“ Denkens.54 Nach der unglücklichen Verschwörung von Amboise (1560) mit der gescheiterten Gefangennahme Karls IX beteuert er in seinem Schreiben an Admiral Cologny, die Genfer Prediger betrachteten die Unterordnung unter den Herrscher (la subjection de leur prince) als Voraussetzung […] und den Frieden und die Sicherheit des französischen Staates als den Grundzug ihrer politischen Ratschläge.55 Die Gehorsamspflicht bleibt also – allgemein gesprochen – nicht auf ein „gerechtes Regiment“ beschränkt. Sie besteht auch einem unfähigen Regenten gegenüber, und deshalb ist jeder Aufstand gegen das weltliche Regiment zugleich auch ein Vertragsbruch, den wir an Gott begehen. Das macht das Problem des Widerstandes (mit Röm 13,2!) zu einer so schwierigen Frage. Calvin deutet ungerechtfertigte Übergriffe des Magistrats als Strafe Gottes für unsere Sünden.56 Hier wird gewissermaßen eine rote Linie gezogen, die von niemandem, schon gar nicht von einer (amtlosen) Privatperson überschritten werden darf. Vielmehr werde Gott selbst kraft seiner Vorsehung einen Retter erwecken – eine Erinnerung an die vorstaatlichen (‚priores’) „Richter“ Israels –, um das Unrecht eines Tyrannen zu rächen.57 Erst auf den buchstäblich letzten Seiten der Institutio umreißt Calvin eine rechtlich verantwortbare Lösung des Problems, die in der Folgezeit namentlich in reformierten Territorien Schule gemacht hat. Er geht über den Text von Röm 13 hinaus und richtet das Augenmerk auf die inneren Grenzen, die dem Magistrat durch seinen Auftrag gezogen sind, für die Wohlfahrt der ihm untergebenen Bevölkerung zu sorgen, (das betrifft insbesondere die Bewahrung ihrer politischen Freiheit). Denn „anders stehen die Dinge“, wenn es keine Privatpersonen, sondern nach antikem Vorbild „Ephoren“ oder römische Volkstribune sind, das heißt wenn es ein Verfassungsorgan, eine juristisch legitimierte Instanz ist, die (wenn nötig) der Willkür „übergeordneter“ Behörden Schranken setzt. Diese „Volksbehörden“ (magistratus populares), so heißt es nun, die gewissermaßen von Gott her ‚unter Vertrag’ stehen, haben, von ihm autorisiert, die Macht, nun allerdings auch die Pflicht, tyrannischen Herrschern entgegenzutreten. Für diesen Fall, der etwa für Kleinen Rat von Genf gegeben sein kann, erklärt Calvin: „Wenn sie Königen, die maßlos wüten […], durch die Finger sehen, so wäre das schändliche Treulosigkeit“, ja ein „Verrat der Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie durch Gottes Anord-

54 J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche (1937); Aalen 1968, 244-249 mit Verweis auf die Predigt zu 1Sam 8. Deshalb, so Bohatec (ebd. 246), habe Calvin am Ende seines Lebens eine „bewusst positive Stellung zu der Monarchie angenommen“. 55 CO 18, 347 und. 430. 56 Inst IV, 20, 29 (delicta nostra); OS V, 500. 1. 57 Ebd. 20,30; OS V, 500. 15f. und 29ff.

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Die Kirche und der Magistrat

nung eingesetzt sind“,58 und fügt an anderer Stelle ausdrücklich hinzu: „Wenn die Religion uns [zu solchem Handeln] nötigt, wird das Recht des Königs von uns nicht verletzt.“59 „Es ist der eigentümlichste Zug im politischen Erkennen dieses politisch so ungeheuer begabten Reformators“, kommentierte seinerzeit Carl Jacob Burckhardt, dass er im Unterschied zu Luther und Zwingli die Omnipotenz des Staates voraussah und ihr mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln als seiner Ansicht nach tödlichen Gefahr entgegenwirkte.60

Mit der Widerstandspflicht ist damit nun auch das Widerstandsrecht in einer juristisch durchgeformten Lehre auf den Weg gebracht. Es wird nicht einzelnen Personen, sondern zunächst nur bestimmten Ständen zugebilligt. Calvin hat ihm die alte naturrechtliche Basis (Thomas) entzogen, auch nicht die Volkssouveränität bemüht, sondern es stattdessen auf eine positiv-rechtliche Grundlage (Bohatec) gestellt. Insbesondere hat er es zu einer unabweisbaren, d. h. unbedingten Pflicht erklärt und ihm damit erst zur Wirksamkeit verholfen. Daraus kristallisiert sich nach und nach die „Idee“ heraus, dass der einzelne Bürger „nun als Individuum […] ein Recht (erhalten soll), das ihn zum Widerstand gegen Übergriffe einer unrecht handelnden Obrigkeit ermächtigt“ vornehmlich gegen die Unterdrückung der Religionsfreiheit. Damit ist „die Diskussion über ein allgemeines subjektiv-öffentliches Recht eröffnet“.61 Calvin ist nicht der erste gewesen, der, aus dieser Pflicht abgeleitet, ein Widerstandsrecht gefordert hat. Auch Thomas von Aquin hat den aktiven Widerstand gegen Usurpatoren der Macht zur Pflicht erhoben. In der Reformationszeit gewinnt das Problem durch Zwingli neue Aktualität. In dessen Thesen (1523) zur ersten Zürcher Disputation findet sich der Satz: „So sie [die Oberkeit] aber untreulich und außer der Schnur Christi fahren würde, möge sie mit Gott entsetzt [abgesetzt] werden.62 Das Schottische Bekenntnis (1560) zählt die Beseitigung des Tyrannen (tyrannidem oppimere) sogar zu den guten Werken der zweiten Tafel.63 Vollends im

58 Ebd. 20,31; OS V, 501. 17–27. 59 Kom zu Dan 6,23, CO 43, 398. D. Steinmetz, Calinv in Context, Oxford 1995, 207, hat dennoch Recht, wenn er ein solides biblisches Fundament vermisst. Melanchthon und Calvin, stellt er fest, “have softened the seemingly harsh character of Paul’s dictum by introducing qualifications not found in the text”. 60 C.J. Burckardt, Gestalten und Mächte, 1961, 96f. 61 So fasst J. Habermas die Bedeutung der politischen Weichenstellung Calvins für das moderne Vernunftrecht zusammen in: Auch eine Geschichte der Philosophie Bd. 2, Frankfurt 2019, 77f. 62 Zwinglis Thesen von 1523, Nr.42, BSRK 5. Z.4f. 63 Confessio Scotica, Art. XIV, ebd. 255. Z. 3.

Die Grenzen des bürgerlichen Regiments

Gefolge der Bartholomäusnacht (1572) hat Calvins Widerstandslehre, legitimiert durch den Bruch des Bundes zwischen König und Volk, in der staatskritischen Bewegung der Monarchomachen eine breite Nachwirkung erfahren. *** Calvin steht als Theologe zwischen zwei Epochen. Die Wittenberger Reformation hat nach einem Diktum Jürgen Moltmanns die mittelalterliche Welt religiös beendet. Die Renaissance hat sie humanistisch, auf irreligöse Weise, beendet. Zwischen diesen beiden großen Bewegungen, von beiden inspiriert, beide aber auch wieder hinter sich lassend, steht die Reformation in Genf. Rückwärtsgewandt in einem historischen Sinne war sie trotz ihrer Verehrung der Kirchenväter in keinem Augenblick. Modern in dem Sinne, dass man ihr die Urheberschaft an den ökonomischen und politischen Theorien der Neuzeit zuschreiben könnte, war sie gleichfalls nicht. Calvin, urteilt Eberhard Busch, hat Türen geöffnet, „durch die er selbst […] noch nicht voll hindurch schritt, die aber bei ihm geöffnet waren und durch die darum später [einmal] geschritten werden konnte.“64 Er hat die neuen Entwicklungen seiner Zeit insbesondere auf dem Gebiet der Wirtschaft und Wissenschaft, wovon hier nicht mehr geredet werden kann, aufmerksam verfolgt und anerkannt, ist aber zugleich jeder Verselbständigung ihrer Interessen und Ziele entgegengetreten und hat sie Gottes Willen, soweit er ihn meinte erkennen zu können, radikal untergeordnet. Denn das Ziel, an dem er unbeirrt festhielt, ist die Ausrichtung auf die verheißene kommende Welt Gottes. Im Licht der Providenz, vom Ende her auf den ersten Anfang blickend, erschließt sich ihm das Wunder der Schöpfung und schärft sich ihm das Bewusstsein für die Verantwortung, die wir für ihre vorläufige geschichtliche Gestalt tragen. Das ist für eine Zeit, die den Blick auf die Grenzen des Machbaren zu verlieren droht, nicht sein geringster Beitrag.

64 B. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 142.

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IV.

Die geschichtlichen Wirkungen der Genfer Reformation

8.

Calvin und der „Calvinismus“

Einleitung Calvins Theologie und die von ihm erneuerte Praxis der Genfer Kirche hat tiefe Spuren nicht nur in der europäischen Geschichte hinterlassen. Was sie in den Krisen zu Beginn der Neuzeit für breiteste Bevölkerungsschichten so anziehend machte, ist die Zuversicht, mit der sie sich angesichts einer im Umbruch befindlichen, scheinbar ziellos sich verändernden Welt der Vorsehung Gottes anvertraute. Christoph Strohm hat darauf hingewiesen, dass schon die Zahl der bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erschienenen Drucke seiner Werke ein verlässlicher Indikator der Verbreitung seines Gedankengutes ist. „Den 152 international wirksamen lateinischen Drucken stehen 29 französischsprachige, vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren gedruckte Ausgaben zur Seite.“1 Hinzu kommt die Anzahl seiner Briefe, die er nicht nur an ihm nahe stehende Gelehrte, sondern auch an Fürsten- und Königshäuser in ganz Europa gerichtet hat. Die dadurch ausgelöste Bewegung, die seine Erbschaft aufgenommen und weitergegeben hat – sie bezieht sich auf Calvin selbst, aber auch auf die Theologie seiner Schüler – ist mit einem aus dem Luthertum stammenden polemischen Begriff als „Calvinismus“ in die Literatur eingegangen. Man hat die ersten Träger dieser Bewegung, denen es bei der Ausgestaltung ihrer Lebensführung vor allem anderen um die Reinheit des Herzens ging, mit dem (ursprünglich wohl als Spott gemeinten) Namen „Puritaner“ belegt. Beide Begriffe haben das Missliche, dass sie außerordentlich unscharf und deshalb historisch kaum zu fassen sind. Gerade der letztgenannte, hat man eingewandt, sei „einer der am wenigsten klar bestimmten Begriffe aus dem Gesamtbereich christlicher Frömmigkeitsgeschichte“.2 Jedenfalls ist der Puritanismus der frühen Zeit „keine fest umrissene Größe, sondern eine dynamische Bewegung, die innerhalb der Church of England für die konsequente Umsetzung der reformatorischen Ideen kämpfte“3 , die allerdings kaum an die für Calvin so wichtige Trennung von Kirche und Staat dachte. Vollends umfasst der Begriff des Calvinismus eine Reihe von Phänomenen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Im engeren Sinn steht er für die „Weiterentwicklung der Theologie

1 Chr. Strohm, Johanes Cavin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 111. 2 P. Collinson, Art. Puritanismus I, in TRE 28, 1997 (8–25), 9, 21f. 3 M. Sallmann, Calvin, Calvinismus und Puritanismus, in: M. Hofheinz u. a. (Hg), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Göttingen 2011 (240–256), 241.

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Calvin und der „Calvinismus“

Calvins durch seine geistigen Erben“4 , weshalb man ihn nicht als Gegensatz zum Luthertum, zum Anglikanismus oder zu Lehren anderer Kirchen definieren sollte. Er bezeichnet zunächst Weiterführungen der calvinischen Lehrtradition etwa in der reformierten Orthodoxie, später etwa im Werk Jonathan Edwards (18. Jh.), umfasst aber auch offenkundige Abweichungen etwa im niederländischen Arminianismus oder (so die Schweizer Theologen) in der Schule von Saumur bei Moyse Amyrault. Man hat den Übergang von Calvin zum „Calvinismus“ schon im Werk des Nachfolgers Theodor Beza zu erkennen gemeint, seinem Exklusivanspruch der presbyterianischen Form des Kirchenregiments oder in seinem Aristotelismus als Leitfaden der Methode. Die einflussreiche, von Interpreten wie Basil Hall und Ernst Bizer aufgestellte These, Calvin sei gegen die Calvinisten stark zu machen – „Calvin against the calvinists“ – wird heute wegen „verhängnisvoller Fehler“ im Detail kaum noch vertreten. Der Begriff hat darüber hinaus aber auch Eingang in die allgemeine Kulturgeschichte und Soziologie gefunden und auf diese Weise das Calvin gestellte Problem der Weltgestaltung in sich aufgenommen. Max Weber und Ernst Troeltsch haben ihn – unter Berufung auf die Prädestination – zu einer Art Leitbegriff stilisiert, mit dessen Hilfe sie die Entwicklung der europäischen Moderne glaubten entschlüsseln zu können. Zwei Problemkreise werden noch heute unter der damit gegebenen Perspektive diskutiert, einmal die Tragfähigkeit der sogenannten Max-Weber-These, die es, so die neuere Debatte, als einen quasi kausalen Zusammenhang zwischen calvinischer Prädestination und neuzeitlichem Kapitalismus nie gegeben hätte,5 sodann das Problem der Herkunft der modernen Demokratie, die „beachtliche Formelemente der Genfer Reformation“ übernommen hat und deshalb dort ihre verborgenen Wurzeln haben müsste6 Man hat sogar gemeint, die Konjunktur des Begriffs „Calvinismus“ im wesentlichen auf die Forschungslage und das Forschungsinteresse der Jahrhundertwende zurückführen zu müssen. Das Wahrheitsmoment dieser sozialgeschichtlichen These hat Otto Weber noch einmal aufgenommen und die Phänomene, um die es hier geht, folgendermaßen interpretiert: Was seine Vertreter bewegte, war der aus der Erwählung erwachsene Drang, für Gottes ‚Ehre’ in der Kirche und in der Welt einzutreten und Gott die ‚Dankbarkeit’ zu erweisen, die ihm als Lobpreis zukommt: ‚Gestaltung wäre das sachentsprechende Wort für das,

4 B.A. Gerrish, Art. Calvinismus, RGG (4.Aufl.), Bd. 1, Sp. 37f. 5 So D. Schellong, Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins, in: H. Scholl (Hg), Kal Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen 1995 (74–101), 75–81; sowie W. Lienemann, Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, in: M. Hofheinz u. a. Hg), Calvins Erbe (Anm. 3), 308–337; bes. 131–325. 6 M. Beintker, Calvin und die Demokratie, in: Hofheinz u. a. (Anm. 3). 360–374.

Der innerkirchliche Aspekt: a) Europa

was dem Calvinismus vorschwebte. […] Eine Bewegung wie der Calvinismus war nicht dazu angetan, Sache der Theologen zu bleiben […] Gerade die Erwählungslehre hat der Würde des Menschen in Politik, Wirtschaft und Kultur neue Geltung gegeben; sie hat aber zugleich bewirkt, dass das christliche Handeln als zielbestimmt (Reich Gottes!) verstanden wurde.“7

Der Calvinismus ist zwar keine in sich homogene theologische Bewegung, wohl aber eine innerkirchliche Erscheinung, die ihren einheitlichen Ausgangspunkt in Calvins Lehre von der Heiligung genommen hat. Was sie darüber hinaus auszeichnet ist ein ausgeprägtes Organisationsvermögen, eine Kultur gesellschaftlicher Solidarität besonders in Krisenzeiten sowie die Orientierung an der Genfer Kirchenverfassung, die mit ihrem presbyterial-synodalen Aufbau von anderen Ländern übernommen wurde, ohne dass Calvin dieses Modell für normativ erklärt hätte. Von diesem innerkirchlichen Aspekt, auch den Linien seiner europäischen Ausbreitung, ist daher zuerst zu reden, ehe ich die ökonomischen und kulturellen Auswirkungen kurz skizzieren werde.

8.1

Der innerkirchliche Aspekt: a) Europa8

Der Calvinismus hat in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, der Hugenottenverfolgung in Frankreich, der Schreckensherrschaft der „blutigen“ Maria in England, seine charakteristischen Züge gewonnen und seine breiteste geschichtliche Wirkung entfaltet. In Frankreich war sein Einfluss begreiflicherweise besonders groß, denn es waren französische Pfarrer, die in Genf die Reformation begleitet und durchgesetzt hatten und ihrerseits als Emissäre Genfs wieder nach Frankreich gingen. Vollends seit der Gründung der Genfer Akademie (1559) konnte die junge französische Kirche von den Fähigkeiten der dort ausgebildeten Pfarrer profitieren. Dieser wunderbare Aufbruch – man sprach von dem Jahr der ersten französischen Nationalsynode als einem „annus mirabilis“ – endete 1572 in der Katastrophe der Bartholomäusnacht, in der mehr als 10.000 Menschen, also der gesamte Calvinismus in Nordfrankreich, ermordet wurden. Die reformierte Kirche überlebte – nun weitab von königlicher Kontrolle – im Süden, in Städten wie Nîmes und Montpellier, in denen Calvins Anhänger schon früher eine bedeutende Rolle gespielt hatten und der Einfluss Genfs nun wieder spürbar wurde.

7 O. Weber, Art. Calvinismus, in: EKL 1,. (1.Aufl, 1986), Bd.1, 662–63. 8 Den folgenden Ausführungen liegt die Darstellung von Andrew Pettegree, Calvinismus in Europa, in: M.E. Hirzel/M. Sallmann (Hg), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft, Zürich 2009, 53–70, zugrunde.

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Calvin und der „Calvinismus“

In England kommt es mit dem Tod der Königin Mary Tudor zum Ende der katholischen Vorherrschaft. Unter der Regentschaft der protestantisch aufgewachsenen Thronerbin Elisabeth I (1533–1603) wird die Messe zum zweiten Mal abgeschafft und erneut eine protestantische Kirchenleitung eingesetzt. Obwohl die Königin sich ungebetene kontinentale Ratschläge zur Kirchenreform verbat und der bis dahin starke Schweizer Einfluss (Bullinger) deutlich abnahm, wurden Calvins Predigten, Kommentare, auch die Institutio, wie in keinem anderen Land Europas verbreitet und vom englischen Publikum offenbar mit Begeisterung gelesen, so dass der Genfer Einfluss unbestreitbar blieb und englische Historiker von einem calvinistischen Konsens sprechen, der dem anglikanischen Kirchenregiment und seinen theologischen Fundamenten zugrunde liegt. Zeitgleich führte in Schottland ein Aufruhr auf Regierungsebene gegen die französische Vorherrschaft, angeführt von einer kleinen Gruppe Adliger, zu einem Religionswechsel, tatkräftig unterstützt von protestantischen Predigern unter der Führung von John Knox (1514–1572) , der eine Reformation nach Genfer Vorbild predigte und sich in der Universitätsstadt St, Andrews (wenn auch nicht ohne gewaltsame Bilderstürme) durchsetzte. Es war dies der „vollständigste und durchschlagendste Erfolg des Calvinismus“9 , der Schottland vom 17. Jahrhundert an tiefgreifend geprägt hat. Die Ereignisse von 1559 fanden ihren Niederschlag auch in der am stärksten urbanisierten Gegend Europas, zudem mit einer hoch entwickelten Bildungstradition, den Niederlanden. Der Rückzug Philipps von Spanien verschaffte den dort bedrängten Protestanten eine Atempause und rief eine blühende evangelische Bewegung ins Leben, die sich am Beispiel der französischen und englischen Kirche orientierte. Bis es zur Errichtung eines freien calvinistischen Staates kam, hatten die dortigen Gemeinden jedoch die oft genug blutige Repression unter Karl V. und seinem Statthalter Herzog Alba zu ertragen10 , die viele zu einer Flucht ins Ausland trieb. In den Flüchtlingsgemeinden in London, Wesel und Emden sind denn auch die Grundlagen der Holländischen reformierten Kirche gelegt worden, die sich an den Verhältnissen in Genf und Zürich orientierten. Auf niederländischem Boden kommt es zu der ersten markanten Abweichung von Calvins Lehrbegriff, die zu einer lang anhaltenden Kontroverse führte: 1610 verfassten und unterzeichneten 44 Prediger eine „Remonstratie“, die sich in drei zentralen Punkten gegen dessen Auffassung der Prädestination wandte. Der inspirierende Kopf dieses Dokumentes war Jakob Arminius, der das scharfe Profil des calvinischen Entwurfs nach Kräften abzuschleifen versuchte. Dabei geht es 1. um

9 A. Pettegree, Calvinismus in Europa (Anm. 8), 61. 10 Die Namen vieler Holländer sind in den Märtyrerakten von Jean Crespin, John Foxe und Adriaan van Haemstede verzeichnet (Pettegree, 63).

Der innerkirchliche Aspekt: a) Europa

den bewussten Ausschluss aller deterministischen Elemente aus der Gotteslehre: „Es sei nicht wahr, dass aus der Kraft und Wirksamkeit des verborgenen Willens (Gottes) […] nicht nur die guten, sondern auch die bösen Werke notwendig hervorgehen“. Deshalb wird 2. die Beschränkung der Wirksamkeit Christi [nur] auf die Erwählten in Abrede gestellt, und es wird 3. die freie menschliche Willensbetätigung bei dem Empfang und bei der Bewahrung der Gnade angenommen.11 Damit reduziert sich die Prädestination auf die in Gottes Ratschluss verankerte Regel, dass „jeder, der den Sohn (Gottes) sieht und ihm glaubt, das ewige Leben hat“ (Joh 6,40). Wer zu dieser Schar der Glaubenden gehört, hängt anders, als bei Calvin zu lesen, von Gottes Vorherwissen ab. In der Synode von Dordrecht (1618/1619) – sie vereinigte wie keine zweite der evangelischen Kirche Protestanten der gesamten Welt – wurden diese Spitzensätze einhellig verworfen. Trotz dieser Einmütigkeit hat sich der Calvinismus mit der Sonderexistenz einer (dritten) Konfession abgefunden. Seine Theologen arbeiten an der Ausgestaltung der von Calvin geschaffenen Grundlagen zu einem mehr oder weniger geschlossenen System. In dessen Zentrum stehen die Betonung der Ehre und Souveränität Gottes und, daraus folgend, die kritische Haltung gegenüber allen Formen einer absolutistischen weltlichen „Obrigkeit“. Das gilt insbesondere auch für die deutschen Gebiete. Mit dem Übertritt des Kurfürsten Friedrich III. setzt sich Heidelberg mit seiner Universität, der neuen pfälzischen Kirchenordnung und vollends mit dem Katechismus (1563), der zur normativen Bekenntnisschrift vieler reformierter Kirchen in Europa und Nordamerika wird, für wenigstens ein halbes Jahrhundert als zweites protestantisches Zentrum und Mittelpunkt reformierter Lehrtradition durch. In kleineren Fürstentümern und Grafschaften (wie Lippe oder Bentheim) kommt es zur Bildung selbständiger calvinistischer Kirchen. Spannungen mit lutherischen Theologen und Gemeinden blieben nicht aus. Sie erreichten mit der Anklage gegen Melanchthon auf „Krypto-Calvinismus“ ihren traurigen Höhepunkt. Damit war die Spaltung der beiden protestantischen Bekenntnisse für Jahrhunderte besiegelt. Anders war die Situation in Osteuropa (Ungarn und Polen). Die ersten Kontakte – hier zur Schweizer Reformation – gingen von Bullinger aus, dessen Zweites helvetisches Bekenntnis das maßgebliche theologische Dokument des ungarischen Calvinismus wurde (1567).Unter der Schirmherrschaft des Fürsten von Siebenbürgen erlebten die Gemeinden eine erste Blütezeit, unbehindert von den dort bereits etablierten katholischen und lutherischen Kirchen. In Polen war durch die Wellen der aus Westen einströmenden Flüchtlinge der Boden bereits vorbereitet. Hier war es Johannes a Lasco, der ehemalige Leiter der Fremdengemeinden in London und Emden, der seine Erfahrungen und sein

11 Vgl. dazu R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/3, (1920) Basel 1954 (4.Aufl.) 676–686.

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Calvin und der „Calvinismus“

Organisationstalent in den Dienst am Aufbau und Zusammenhalt zerstreuter protestantischer Kirchen und Gruppen stellte.12 Um die Jahrhundertwende gab es in Polen an die 200 reformierte Gemeinden und in Litauen noch einmal so viele, die sich im Consensus von Sandomir (1570) mit den Lutheranern und den Böhmischen Brüdern Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zusicherten. Die Turbulenzen des Dreißigjährigen Krieges brachten ein charakteristisches Merkmal der calvinistischen Kirchen zum Leuchten, das sich schon in früheren Krisen bewährt hatte, ihre Fähigkeit, notleidenden Glaubensgenossen zur Hilfe zu kommen. Es gab ein internationales Netzwerk, das über Ländergrenzen hinweg Gruppen und Einzelne, seien es Gelehrte oder Staatsmänner, Pastoren oder einfache Bürger, miteinander verband. Pettegree spricht von einem „unübersehbaren Faktor, der eine klare konfessionelle Sicht in die internationale Politik hineinbrachte“.13 Damit war neben der Kultur karitativer Werke das Phänomen des politischen Calvinismus geboren, das auch vor militärischen Aktionen (etwa in der Auseinandersetzung mit dem katholischen Imperialismus Spaniens) nicht zurückschreckte. Wirksamer und haltbarer, eine „dauerndes Erbe des calvinistischen Jahrhunderts“, ist jedoch die intellektuelle Bruderschaft und das Bewusstsein einer gemeinsamen Religionsausübung geblieben.

8.2

Der innerkirchliche Aspekt: b) Nordamerika

Nach Nordamerika ist der Calvinismus im 17. Jahrhundert mit Dissidenten der Kirche von England gekommen. Gut ein Drittel darunter waren Puritaner, die sich als „Siedler“ in Virginia, später in Neuengland niederließen. Obwohl sie zahlenmäßig von anderen Gruppen, etwa den Methodisten weit übertroffen wurden, hat das Erbe der Puritaner die Entwicklung der Politik, das Universitätsleben und das Selbstverständnis der „Amerikaner“ maßgeblich bestimmt. Auf sie gehen die im Gegensatz zur anglikanischen Kirche lokal geprägten, kongregationalistisch organisierten, selbständigen Einzelgemeinden zurück, „eine der mächtigsten Hinterlassenschaften des Puritanismus in Amerika“.14 Theologisch übernahmen sie die Westminster Confession (1647), ein zentrales calvinistisches Glaubensbekenntnis. Zu ihren Merkmalen gehört die Betonung der persönlich erfahrenen Bekehrung, eine Bedingung der vollen Kirchenmitgliedschaft. Damit ist dieser Gemeinschaft

12 Zur Situation in Polen, der Genfer Emissäre und ihrer Auseinandersetzung mit den aus Italien kommenden Antitrinitariern vgl. die Berichte und Briefe in der Calvin Studienausgabe (CStA), Bd. 8, 249–251, 264–270 und 271–283. 13 A. Pettegree, a.a.O. 70. 14 J.D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika, in: M. Hirzel/M. Sallmann, 1509 – Johannes Calvin – 2009, Zürich 2008, 71–94.

Der innerkirchliche Aspekt: b) Nordamerika

von Anfang an eine starke Spannung von Intellekt und Frömmigkeit implantiert. Nicht umsonst hat sich das früh gegründete Harvard-College im 18.Jahrhundert zu einer Bastion des aufgeklärten Rationalismus entwickelt. Auf einem anderen Blatt steht die grundlegende Reform von Kirche, Staat und Gesellschaft, die ein auf der Bibel fundiertes Gemeinwohl („commonwealth“) zum Ziel hat. Die göttliche Erwählung wird hier nicht nur individuell, sondern als nationales Kennzeichen verstanden („God’s own country“), weshalb die Pflege eines gemeinschaftlichen Ethos oberste Priorität hat. Sie manifestiert sich beispielhaft im Ritus einer öffentlichen Klagepredigt („Jeremiade“), einem biblischen Erbe, in dem sich das erwählte Volk die Sünden gegen seine Berufung vorhalten lassen muss. Das hat sich „tief in die amerikanische Seele eingegraben“. Dessen ungeachtet hat man bedenkenlos „heilige Kriege“ gegen feindliche Völker führen können, und aus ihrer Bibel wussten die puritanischen Führer sogar eine Rechtfertigung zum Völkermord zu gewinnen. Die große Erweckungsbewegung (Great Awakening: 1740–1840) ist zum Kennzeichen jenes „calvinistischen Jahrhunderts“ geworden. Sie bezieht ihre Kraft aus den Quellen der biblischen Tradition und wurde von den drei großen kirchlichen Gruppen getragen, den Separate Baptists, der Philadelphia Association und den Presbyterianern. Zu ihren einflussreichsten Wegbereitern gehören Jonathan Edwards (1703–1758) und der aus England stammende charismatische Methodistenprediger George Whitefield, der das Modell einer gefühlsbetonten „Herzensreligion“ verbreitete. Man hat Edwards den „größten amerikanischen Theologen“ genannt, vergleichbar nur mit Schleiermacher oder Barth, der als Erneuerer des calvinischen Erbes bis ins 19. Jahrhundert in die amerikanischen Kirchen hinein gewirkt hat.15 Daher kann man die Erweckungsbewegung jedenfalls „zum Teil als Welle einer calvinistischen Reform verstehen“.16 Edwards hat den geistlichen Aufbruch theologisch reflektiert und ihn auf diese Weise „für die weitere Zukunft zu einem charakteristischen Modell amerikanischer Frömmigkeit gemacht“.17 Zu seinen herausragenden Texten gehört die große Untersuchung „A Treatise Concerning Religious Affections (1746), in der er die untrennbare Verbindung von Religiosität und Emotionalität (dem umstrittensten Phänomen des „Awakeness“) vertritt. Im Zuge dieser Bewegung kommt es zur Gründung zahlreicher Akademien und Colleges, unter denen Princeton/NJ bald den ersten Rang einnimmt und das nicht nur als Ausbildungsstätte künftiger Pfarrer, die hier mit den Errungenschaften der schottischen Aufklärung (Ethik sittlicher Gesinnung; Erkenntnistheorie des common sence) vertraut gemacht werden, sondern auch als Sprungbrett politischer

15 M. Zeindler, Jonathan Edwards: Calvin in der Neuen Welt, in: M. Hofheinz u. a. (Hg), Calvins Erbe, Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Göttingen 2011, 280–307. 16 J.D. Bratt, Calvinismus in Nordamerika (Anm. 14), 76. 17 M. Zeindler, ebd. 285.

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Calvin und der „Calvinismus“

Führungskräfte. Hier wächst ein politischer Calvinismus heran, der zur Verantwortung im öffentlichen Leben erzieht und die zentrale Bedeutung der Gesetze als Ferment öffentlicher Wohlfahrt betont. Im 19. Jahrhundert kommen wichtige neue Impulse von den in Amerika ansässigen deutschen und niederländischen Gemeinden hinzu. Eine der interessantesten Erscheinungen ist die von John W. Nevin, einem amerikanischen Presbyterianer, und Philip Schaff, einem in Deutschland ausgebildeten Kirchenhistoriker, geprägte Theologie des reformierten Seminars von Mercersburg/PA. Beide Theologen sind Kritiker des amerikanischen Christentums, seiner kaum entwickelten Ekklesiologie und der Tendenz zum Sektierertum. Die Kirchenfrage ist für sie das wichtigste Thema der Gegenwart.18 Nevin, der das puritanische Erbe als rationalistisch verwirft, entdeckt die eigene reformierte Herkunft, in Sonderheit die eucharistische Theologie Calvins. Sakrament und Liturgie gelten ihm als Mittel, die Glaubenden dauernd mit Christus zu verbinden, – ein für die kirchliche Szene Amerikas „unerhörter Neuanfang“ (J.D. Bratt). Ph. Schaff unterstützt ihn auf der ganzen Linie („Principles of Protestantism“, 1845), wechselt jedoch später an das Union Seminary von New York und wird dort zu einem der wichtigsten Lehrer und Vermittler reformatorischer Theologie an die traditionellen Mainline Churches. Diese Saat ging jedoch erst in den 30er Jahren des neuen Jahrhunderts auf, als sich erneut die Frage erhob, wie die Kirche jenseits von allem kulturellen Konformismus sich zu den anstehenden Fragen der Gegenwart stellen sollte. Aus der Kirchenunion der deutschen Reformierten in den Vereinigten Staaten mit den Nachkommen einer im Herzogtum Nassau geschlossenen Union (1817) stammen die beiden einflussreichsten amerikanischen Theologen des 20.Jahrhunderts, Reinhold (1892–1071) und H. Richard Niebuhr (1894–1962), die bewusst an das calvinistische Erbe anknüpfen (sog. Neo-Orthodoxie). Sie treten – gleichsam ein Gegenstück zur Dialektischen Theologie in Deutschland – mit scharfer Kritik gegen die Kulturbesessenheit der Jahrhundertwende, ihre Gleichsetzung von Fortschritt und Reich Gottes, an und sind so für einen theologischen und gesellschaftlichen Umbruch weit über das kirchliche Milieu hinaus verantwortlich. Reinhold Niebuhr, ehemaliger Pfarrer einer Arbeitergemeinde in Detroit, erneuerte mit seinem christlichen Realismus in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen das Verständnis der Sünde als strukturell relevanter, im Egoismus und Erfolgsstreben des Bürgers sich manifestierender Tat. Richard Niebuhr entwarf eine kritisch-konstruktive Verantwortungsethik, die bis in die 70er Jahre die Reformansätze protestantischer Kirchen

18 J.W. Nevin, Sermon on „Catholic Unity“, Harrisburg 1844. Diesen zentralen Aspekt hat Gesine von Kloeden, Evangelische Katholizität, Münster 1998, in einer ökumenischen Studie ausführlich und sorgfältig untersucht.

Der politische Aspekt

bestimmte. Beide stießen als Verteidiger einer freien Zivilisation auf ein großes Echo einer neuen Generation in Universitäts- und auch Regierungskreisen. Man kann die Tragweite dieser Aufbruchsbewegungen erst angemessen würdigen, wenn man sieht, dass sie zugleich vorbereitet und wohl auch ein Stück weit getragen wurden von einem älteren Impuls, der von den Niederlanden ausgegangen ist. Es war Abraham Kuyper (1837–1920), der als Theologe und Staatsmann die modernisierende Kraft des Calvinismus, insbesondere das Ideal der Heiligkeit der Gesellschaft, in seiner vielleicht reinsten Gestalt verkörperte. Weithin bekannt wurde er in Amsterdam als Initiator einer kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Bewegung und später durch die Stone lectures (1898 in Princeton), in denen er seine „Weltanschauung“ zusammenfasste.19 Als Theologe hat er den Unzulänglichkeiten des Liberalismus und Säkularismus eine realistische christliche Option gegenübergestellt, als Staatsmann die reformierten Christen zu einer aktiven Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben ihrer Gegenwart aufgerufen. Kein Zweiter hat für die Überwindung des sozialen Elends in den Niederlanden so viel getan wie er. Was an Calvins Bemühungen um ein soziales Gemeinwesen, seinem Ethos der Weltgestaltung, über die Jahrhunderte lebendig geblieben ist, hat in dieser Gestalt des Calvinismus – James D. Bratt spricht mit Blick auf Amerika von einer „evangelikalen Befreiungstheologie“20 – ihren überzeugendsten Ausdruck gefunden.

8.3

Der politische Aspekt

Der von mir mehrfach gebrauchte Begriff des „politischen Calvinismus“ bedarf einer genaueren Klärung.21 Die Richtung ist in der These Ernst Troeltschs vorgezeichnet: Danach ist der Calvinismus „diejenige Form des Christentums geworden, die heute mit der modernen Demokratisierung innerlich verwachsen ist und ohne Schaden an seiner religiösen Idee auf sie eingehen kann.“22 Auch die gegenwärtige Forschung sieht die bedeutendste Fernwirkung des Genfer Kirchenmodells in dessen Beitrag zur demokratischen Kultur Europas. Wohl war Calvin wie nur wenige ein homo politicus, doch weder hat er so etwas wie das Prinzip der Volkssouveränität proklamiert, noch war er ein Anwalt der Menschenrechte in der Weise, wir sie heute verstehen. Doch er hat die Voraussetzungen geschaffen, unter denen

19 J.D. Bratt, Abraham Kuyper. Modern Calvinist, Christian Democrat, Grand Rapids 2013; vgl. auch: „Wo er auftrat gab es Krach“, in: Zeitzeichen, 21 Jg., Nov 2020, 22–24. 20 J.D. Bratt, Calvinismus (Anm. 14), 92. 21 Vgl. dazu E. Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, in: C. Schott (Hg), Texte und Studien zur politischen Theorie des 14–18. Jahrhunderts, Bd. I, Freiburg – München 1972, 100f. 22 E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911), Tübingen 1923, 703.

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Calvin und der „Calvinismus“

beide Postulate bis zur politischen Artikulation heranreifen konnten. Dietrich Ritschl führt die Forderung nach Religionsfreiheit an (oft genug im Existenzkampf um die eigene Kirche), die Betonung des Bundesgedankens und schließlich das presbyterial-synodale System, „das zweifellos einen Einfluss auf die Begründung und die Struktur der modernen Demokratie gehabt hat.“23 Am folgenreichsten ist der Bundesgedanke gewesen: Das Verhältnis, in dem Regierung und Bürger zueinander stehen, hat sein Urbild in der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Es wird durch das Prinzip gegenseitiger Verpflichtung (mutua obligatio) geregelt, ist freilich noch weit entfernt von der naturrechtlichen Fassung eines Gesellschaftsvertrags. Vielmehr werden beide, Herrscher und Volk auf das überlegene Recht des Bundes verpflichtet. Auch der Herrscher muss als Untertan Gottes sich Gott gegenüber verantworten. So wird legitime Herrschaft als Verpflichtung auf das allgemeine Wohl (bien commun) des Volkes interpretiert, und das schließt den Auftrag in sich, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Die Schrecken der Bartholomäusnacht treiben die Entwicklung einen weiteren Schritt voran. Theodor Beza, Calvins treuester Schüler und Rektor der Genfer Akademie, hebt angesichts des Terrors der französischen Staatsgewalt die Theorie vom Untertanengehorsam auf und erklärt für solche Notsituationen den Willen des Volkes (crie au peuple) zur letzten Instanz. Darin liegt die Bedeutung seines einflussreichen Traktats „De iure magistratuum“ (1574). Die Basis seiner Argumentation ist das jetzt naturrechtlich begründete Vertragsdenken, das nicht mehr wie bei Calvin an biblische Vorbilder zurückgebunden und dadurch legitimiert werden müsste. Das macht den modernen Zug seines Denkens aus. Der Magistrat, so lautet ein Spitzensatz, wird durch den Beschluss der Bürger konstituiert. Denn „Bürger, die sich freiwillig von einem Fürsten oder von anderen, durch Wahl bestimmen Herren regieren lassen, sind älter als ihre Magistrate; folglich ist kein Volk für den Magistrat geschaffen, sondern im Gegenteil der Magistrat für das Volk.“24 Und weiter: Wer die Macht hat, einen König einzusetzen, hat auch die Macht, ihn abzusetzen, und diese Macht ist dann gefordert, wenn der Regent seine Gewalt über seine Mitbürger gegen die vertragsmäßigen Gesetze – im vorliegenden Fall gegen die Bestimmungen des Friedens von St. Germain (1570) – ausübt. Der nun gebotene gerechte Widerstand (juste resistance) auch mit Waffengewalt widerspricht weder der Geduld noch dem Gebet der Christen. Das alles, Volkssouveränität, Vertragslehre, Revolutionsrecht, ist hier im Grundriss bereits ausformuliert und brauchte nur noch von seinen theologischen Klammern befreit zu werden, um zu welthistorischer Geltung zu kommen. Es war Johann

23 D. Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens, in: Konzepte. Ökumene, Medizin. Ethik, München 1986 (301–315), 305. 24 Th. Beza, Du droit des Magistrats sur les sujets, Genf 1574.

Der ökonomische Aspekt

Althusius, der diesen Schritt zu einer rein naturrechtlich begründeten Konstruktion von Staat und Gesellschaft tat, indem er die (allgemeine) Freiheit und Gleichheit der Individuen dem ‚Staatsvertrag’ vorordnete.25 Es war Hugo Grotius, der die Freiheit des Menschen zur Übereinkunft in Form von Verträgen als eine zweite Quelle des Rechts (etwa des Völkerrechts ius gentium) erschloss – weshalb das Naturrecht gilt, „auch wenn es Gott nicht gäbe“ (etsi Deus non daretur) – und damit den ganzen Bereich des Natürlich-Sittlichen der Zuständigkeit der Theologen entzog.26

8.4

Der ökonomische Aspekt

Die Geschichte der Reformation ist von ihren Anfängen an in gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen eingebunden. Calvin ist mit wirtschaftlichen und finanziellen Gebräuchen wohlvertraut. Während Luther seine Maßstäbe und Normen des Wirtschaftens aus den Lebensformen einer agrarischen Gesellschaft gewinnt, ist Calvins Erfahrungsfeld die städtische Kaufmannschaft und die mit ihr verbundene frühindustrielle Produktion samt der für sie notwendigen Geldwirtschaft, die er als Grundlage der Berufsarbeit selbstverständlich anerkennt. Seine Wirtschaftsethik ist von jeher ein bevorzugter Gegenstand der Forschung.27 Zu den klassischen Darstellungen gehört die in früherem Zusammenhang erwähnte Studie Max Webers über den „Geist des Kapitalismus“ und die „protestantische Ethik“ (1904). Sie macht, wie umstritten sie heute sein mag, auf ein virulentes Problem des Calvinismus aufmerksam. Es ist die Prädestinationslehre, so Webers zentrale These, wie sie in den reformierten Kirchen der Niederlande und im englischen Puritanismus mit besonderen Nachdruck gelehrt (und gelebt) wurde, die ihm zufolge einen nachhaltigen Einfluss auf das strenge Berufsethos dieser Gesellschaften ausgeübt hätte. Denn, so seine Interpretation, wer zum Heil prädestiniert sei, müsse diese „Erwählung“ durch seine Lebensführung unter Beweis stellen. Maßstab dieser Erwählung sei nach innen der „methodisch“ eingeübte Berufseifer, nach außen der Ertrag seiner Arbeit, also das messbare Vermögen und Geld, das er auf diese Weise erwirtschaftet. Die vereinfachte, aber weit verbreitete Fassung dieses Gedankens besagt dann, „dass die calvinistischen Frommen sich ihre Erwählung durch wirtschaftlichen Erfolg glaubten bestätigen zu müssen“. Jedenfalls habe die Suche nach Erwählungsgewissheit zum Motor irdischer Pflichterfüllung und der dafür charakteristischen 25 O. von Gierke, Johann Althusious und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880), 1958 (4.Aufl.). 26 Dazu: H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1980, 123ff. 27 Zu den besten neueren Untersuchungen gehört das breit angelegte Werk von André Biéler, La Pensée Économique et Sociale de Calvin, Genève 1961.

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Calvin und der „Calvinismus“

Haltung einer „innerweltlichen Askese“ werden können. Diese Argumentation ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Dieter Schellong bemerkt mit Recht, dass Weber hier nicht von einer vorgegebenen Ethik aus zum Geist des Kapitalismus kommt, sondern umgekehrt „von einer Bestimmung des ‚Geistes des Kapitalismus’ zur Behauptung von dessen religiösen Wurzeln’.28 Der Schluss, auf den er hinaus will, verläuft somit von der Lebenspraxis, der „Bewährung“, auf das zu erreichende Ziel der Erwählung. Dieser Schluss ist im übrigen sehr viel älter als Webers Theorie und führt in der theologischen Dogmatik den Namen Syllogismus practicus Demgegenüber, argumentieren Sozialhistoriker, lasse sich ein nennenswerter Einfluss der Prädestinationslehre auf das religiöse und weltliche Leben der calvinischen Gemeinden des 16.Jahrhunderts kaum nachweisen. Den mentalitätsgeschichtlichen Abstand zwischen dem Puritanismus des 17. und den Genfer Verhältnissen des 16. Jahrhunderts habe Weber ignoriert und dementsprechend den Einfluss Calvins offensichtlich überschätzt.29 Und die Sache selbst? Dass der Syllogismus practicus mit der Rechtfertigung („ohne des Gesetzes Werke“) unvereinbar ist, liegt auf der Hand. Auf der anderen Seite konnte Calvin die Frage der Heilsgewissheit nicht mit Schweigen übergehen. Er spricht im Zusammenhang der Prädestination von den „signa posteriora“, nachfolgenden Zeichen, an die wir uns halten sollen, und spielt damit auf „Gottes Berufung“ an.30 Deutlicher noch heißt es im Rechtfertigungs-Abschnitt, der einzigen Stelle, die den Syllogismus eigens zum Thema hat, dass die Glaubenden „an den Früchten ihrer Berufung merken [können] dass sie von dem Herrn an Sohnes Statt angenommen sind“, und hier geht es tatsächlich um ihre Werke.31 Nur wie? Berufen können wir uns auf sie nicht. Wenn sie unsern Glauben als Argument doch „stützen“ können, so allein deshalb, weil und wenn sie ein Zeugnis des „in uns wohnenden und uns regierenden Geistes“ sind. Der Geist also ist das beweisfähige, „nachfolgende Zeichen“. Mit Luther gesprochen ist es der gute, von Gottes Geist gut gemachte Baum, der die Werke als Argument für Gott sprechen lässt. Sehr viel vorsichtiger als Weber hat daher Ernst Troeltsch in dieser Sache geurteilt. Calvin sei weder der Entdecker noch der inspirierende Geist moderner Wirtschaftsformen gewesen, sondern habe deren Vereinbarkeit mit christlichem Denken gesehen und den Genfer Verhältnissen entsprechend praktiziert.32 Der

28 So die Nachzeichnung der „Konstruktion“ Webers von D. Schellong, Calvinismus und Kapitalismus, in: H. Scholl (Hg), Karl Barth und Johannes Calvin, Neukirchen 1995 (74–101), 79. 29 H. Lehmann, Asketischer Protestantismus und ökonomischer Rationalismus, in: W. Schluchter (Hg), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums, Frankfurt 1088, 529–553. 30 Inst III, 24,4; OS IV, 414. 9f. und 415.4. 31 Ebd, III,14, 19; OS IV, 237. 12.–14 und 23f. sowie 236.36 (conscientia operum). Vgl. dazu die sorgfältigen Beobachtungen von W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, 162–165. 32 E.Troeltsch, Soziallehren (Anm. 22), 706. 718 u.ö.

Der kulturelle Aspekt

Anwalt einer Ethik der Gemeinschaft hätte jedoch die Idee einer Wettbewerbsgesellschaft (wie sie Adam Smith voraussetzt) niemals gutheißen können. Dennoch hat Max Weber Recht, wenn er das Arbeitsethos der Puritaner als ein, für den Ökonomen sogar als das signifikanteste Merkmal des Calvinismus herausstellt. Die preußischen Könige jedenfalls wussten, was sie taten, wenn sie möglichst viele der französischen Glaubensflüchtlinge zu gewinnen suchten, um ihr nach dem 30jährigen Krieg daniederliegendes Land wirtschaftlich zu neuer Blüte zu bringen. Der von Weber so betonte ethisch-asketische Zug lässt sich am besten in der Form eines Zitates aus einer der vielen Reden zum 400. Geburtstag Calvins veranschaulichen: Auf calvinischem Boden ist das Sprichwort entstanden: Der Glaube versetzt Berge und arbeitet dabei mit Hacke und Spaten. Auch das Luthertum brachte die Arbeit zu Ehren; aber indem sie diese auf den ‚Beruf ’ bezog, wurde die freie Initiative des einzelnen weniger bestimmt entfesselt. […] Calvin hat wie kein anderer unter den Reformatoren betont, was die Arbeit produktiv mache, seien nicht allein die physischen und die geistigen, sondern vor allem die moralischen Kräfte […] Der objektive Wert des in der Arbeit Geleisteten, der ökonomische Erfolg, besteht danach nicht in dem augenblicklichen Gewinn, sondern einzig und allein darin, dass reell gearbeitet wird! Ein Gedanke von geradezu ungeheurer Tragweite! Man verkennt diese Tragweite deshalb so leicht, weil man es für ebenso selbstverständlich hält, wie es einfach ist.33

8.5

Der kulturelle Aspekt

Auch auf dem Gebiet der Kultur hat sich der Calvinismus als Wegbereiter der Moderne erwiesen. Ein besonders augenfälliges Beispiel ist der Wandel, der sich im 16. Jahrhundert in der Malerei vollzogen hat. Das Verbot von Bildern in Kathedralen und kirchlichen Räumen nötigt die Künstler, in weltliche Bereiche auszuwandern, sich vom Stillleben über Landschaftsstudien bis hin zum naturalistischen Portrait Szenen des Alltags zuzuwenden, so dass nun auch Themen, die als unvereinbar mit christlichen Prinzipien gelten, ins Bild gesetzt werden können.34 Das hat die beispiellose Blütezeit der profanen Malerei in den Niederlandenden hervorgebracht und beflügelt. Ein ähnlicher Wandel, allerdings von sehr viel größerer Tragweite, hat sich im Bereich der Naturkunde vollzogen. Sie wird nun erst im Sinne der Neuzeit zur

33 C.F. Arnold, Calvin. Rede, Breslau 1909. 34 Dazu vgl. G.W. und J.L. Locher, Image, „Communal House“, and Word in relation to some important changes in the visual arts of Europe, in: H. Oberman u. a. (Hg.), Reformiertes Erbe (FS G.W. Locher) Bd. 2, Zürich 1993, 195–208.

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Calvin und der „Calvinismus“

Wissenschaft umgebildet. Calvins These einer zweifachen Gotteserkenntnis – in säkularisierter Form verstanden als Quelle einer zweifachen Wahrheit, und zwar nicht nur in und aus der Schrift, sondern auch aus den Spuren der Schöpfung – hat den Weg zu einer im modernen Sinn wissenschaftlichen Durchdringung der Natur geöffnet, die sich nicht nur von der Autorität der Schrift emanzipieren, sondern die nun auch den Rahmen der biblischen Natur- und Welterklärung verlassen kann. Ein bisher wenig beachtetes Vorbild sind hier die Anfänge der historisch-kritischen Schriftauslegung gewesen. Von der am biblischen Urtext geschulten Exegese breitet sich der neue Geist kritischer, wirklichkeitsbezogener Analyse mit seiner Fähigkeit, überlieferte Denkweisen durch Beobachtung und neue Theoriebildung zu durchbrechen, gewissermaßen auf das Gebiet des „Buches der Natur“ aus. Das muss – man denke an Forscher wie Newton oder Faraday – durchaus keinen Bruch mit theologischer Wahrheitserkenntnis bedeuten. Calvin selbst hat eine explizit theologische Brücke namhaft gemacht, welche die seit der Renaissance auseinander strebenden Bereiche des kirchlichen und des wissenschaftlichen Umgangs mit Fragen der Erforschung unserer Welt miteinander verbindet. Er erklärt: Sooft wir heidnische Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit entgegen. […] Bedenken wir nun, dass der Geist Gottes, die einzige Quelle der Wahrheit ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten – sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes!35

Es ist Gottes Geist, der nicht nur in den Frommen, sondern auch in den Skeptikern und Ungläubigen und deshalb als inspirierende Quelle auch einer säkularen Rechtsund Naturwissenschaft wirksam ist. Der Calvinismus versteht die Kultur als ein Instrument der Weltregierung Gottes, der wie seiner Kirche, so auch der von ihm geschaffenen Welt die Treue hält. Bewusst aufgegriffen werden diese Anregungen erst wieder im sogenannten Neocalvinismus der Jahrhundertwende, den kein Zweiter so repräsentiert wie der schon zitierte Abraham Kuyper36 . Man meint die Stimme Calvins zu hören wenn er mit Blick auf die eigene Positionsbestimmung Coram Deo („vor Gott“) erklärt: „Das ist unser Standort“, der den Sinn des Lebens im Lobpreis Gottes und der Erfüllung seines Willens erkennt und dementsprechend den Calvinismus als „reinste Offenbarung“ des Christentums ansieht. Die ungewöhnliche Weite seiner

35 Inst II, 2,15; OS III, 258. 10–12. 14–17. 36 Dirk van Keulen, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, in: M. Hofheinz u. a. (Hg), Calvins Erbe, Göttingen 2ü11 (338–359), bes. 348–351.

Der kulturelle Aspekt

weltzugewandten Aktivitäten, die er in seinen theologischen Horizont zu integrieren vermag, findet ihren klarsten Ausdruck in der Lehre von der „allgemeinen Gnade“, die er (freilich sehr weitherzig) der Institutio (II, 3,3) entnimmt. Sie hat nichts mit unserer Erlösung zu tun, wohl aber besagt sie in ihrem Kern, dass Gott der völligen Vernichtung der Schöpfung – einer Folge der menschlichen Sünde – heilsam entgegentritt, indem er Welt und Menschheit aufrecht erhält und ihre Entwicklung ermöglicht. Sie verbindet sich einerseits mit einer scharfen Antithetik gegen den, wie Kuyper es sieht, „antichristlichen“ Modernismus, der „eine Welt aus dem natürlichen Menschen und diesen Menschen aus der Natur [statt aus der Gnade] aufbauen“ will. Hier meldet sich der für ihn, den großen Konservativen, so charakteristische Gegensatz von Reformation und Revolution. Sie verbindet sich andererseits mit einer umfassenden Kulturtheorie, die diese Gnade gleichsam freisetzt und demonstriert, statt uns, wie Calvin es lehrt, von ihr abhängig zu machen. Doch neben Kuyper steht (in derselben Generation und derselben öffentlichen Funktion) auch ein Mann wie der presbyterianische Pfarrerssohn und spätere amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson (1856–1924), der sich an vorderster Front für die Verwirklichung des Völkerbundes – gleichsam als irdisches Abbild des göttlichen Bundes – eingesetzt und als dessen Residenz die Stadt Calvins vorgeschlagen hat. Doch in seiner vielleicht klarsten Gestalt tritt das, was Calvin gemeint und gewollt hat, im Lebenswerk des Schweizer Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945) zu Tage. Ragaz hat mit seinem Eintreten für eine demokratisch-genossenschaftliche Ordnung der Gesellschaft und später als einer der Wortführer der internationalen Friedensbewegung unter Beweis zu stellen versucht, dass die Aufgabe der Kultur kein Selbstzweck sein kann. Sie ist der Wanderschaft (peregrinatio) der Christen zugeordnet und muss deshalb die nationalen Grenzen sprengen. Es ist kein Zufall, dass Ragaz die aufkommende Bewegung der Sozialdemokratie als „Licht der Wahrheit“ im Sinne Calvins, das heißt als ein weltliches Zeichen des verheißenen Gottesreiches begriffen hat. An diesen drei Gestalten, so unterschiedlich sie ihren Auftrag wahrgenommen haben, wird ein einheitlicher Grundzug des Calvinismus sichtbar: Die Kirche kann sich von den uns gestellten Fragen und Aufgaben der Weltgestaltung nicht dispensieren und deshalb in eine Aufgabenteilung zweier Sphären – hier das geistliche, dort das weltliche Arbeitsfeld – nicht einwilligen. Eine Kultur, die ihrem calvinischen Auftrag treu bleibt, kann sich eben deshalb aber auch dort, wo sie im Labor, in Atelier oder im Parlament zu ihrer spezifischen Entfaltung kommt, niemals als autonome Domäne menschlicher Tätigkeit etablieren. Sie steht vielmehr im Dienst der Ehre Gottes, die ihr Grenzen setzt. Dazu braucht sie (was der Calvinismus nie vergessen hat) die Theologie als ihren kritischen und anregenden Begleiter. Auf dem Höhepunkt der Calvin-Rezeption im 20. Jahrhundert hat Karl Barth ihr legitimes Motiv in dem Satz formuliert: „Darum ist uns die Vergangenheit so wich-

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Calvin und der „Calvinismus“

tig, nicht nur wahr, nicht nur interessant, nicht nur nützlich zu kennen, sondern lebensnotwendig, weil sie die Gegenwart bedeutet. Dazu schlagen wir die alten Bücher auf, um zu uns selbst zu kommen.“37 Das ist es, was Calvin mit dem ersten Satz der Institutio (1559) seiner eigenen Arbeit und der seiner Interpreten als Motto vorangestellt hat: „So gut wie die gesamte Summe unsere Weisheit, sofern sie am Ende den Namen Weisheit verdient, besteht in zwei Stücken, der Gotteserkenntnis und unserer Selbsterkenntnis.“

37 K. Barth, Die Theologie Calvins (1922), GA Zürich 1993, 11.

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 82, 271 Althaus, Paul 106–107 Althusius Johannes 389 Anselm von Canterbury 207, 209, 219–220, 222–223 Aquila, Caspar 33 Aristoteles 42, 147, 160, 174, 183, 245, 366 Armstrong, Brian G. 10, 40, 338 Augustin passim   Baars, Arie 142 Balke, Willem 347–348 Barth, Karl 9, 41, 49, 71, 105, 127, 135, 137, 164, 232, 294, 303, 313, 339, 352, 359, 385, 393 Beintker, Michael 36, 300, 360, 366–367, 380 Berkhof, Hendrikus 128, 197, 284 Bernhardt,Reinhold 149, 154, 156–157, 159, 164, 293 Biéler, André 295, 389 Birmelé, André 311, 326 Bouwsma, William 40 Bohatec, Josef 65, 79, 84, 88, 91, 128, 132–133, 145, 147f., 155, 160, 170, 190, 272, 276, 363, 366f., 373f. Bouyer, Louis 79 Bratt, James D. 384–387 Briconnet, Guillaume 22, 26 Bucer, Martin 10, 22, 36, 43, 49, 50, 53, 95, 98, 117, 156, 193, 199, 201f., 217, 240f., 277, 329–330, 343, 347f., 351 Budé, Guillaume 26, 28, 65–67, 79, 117, 128, 147, 170 Burger, Christof 26

Bullinger, Heinrich 36, 43, 49–50, 59, 61, 85–86, 98, 130, 327, 350–351, 355f., 382–383 Busch, Eberhard 144, 283, 306, 375

  Campi, Emidio 20 Castellio, Sebastian 221, 294 Cop, Nicolas 26 Cordier, Maturin 26 Cottret, Bernard 23, 60, 131–312, 330, 336, 338 Courvoisier, Jaques 43 Cranmer, Thomas 35 Crüsemann,Frank 216, 233

  Davis, Thomas J. 350, 353 Dee, Simon P. 106, 241, 245 Dempsi, J. 398 Detmers, Achim 96–97, 216 Doumergue, Emil 194, 247, 265, 272 Dowey, Edward 46, 64, 69, 85, 121, 123, 127, 188f., 194, 243, 247 Duns Scotus, Johannes 10, 18, 42, 147, 224, 245, 367

  Ebeling, Gerhard 64–65, 359 Edward VI. 35 Erasmus Desiderius 22, 26, 27f., 50, 65, 67, 79, 102, 117, 147, 183, 200, 301, 354 Estoile, Pierre de L’ 27 Eßer, Helmut 134

406

Personenregister

Faber, Eva-Maria 61, 71, 124–127, 149, 206, 264, 293, 321 Farel, Guillaume 26, 36, 135–136, 324, 347, 350 Ferrario, Fulvio 272–273 François I. 22–23, 26–27 Freudenberg, Matthias 279, 281, 284   Gamble, Richard 64 Ganoczy, Alexandre 61, 319–320, 322, 324 Gassmann, Benno 17, 20, 318 Geiger, Max 295, 399 Gerrish, Brian A. 57, 295, 380 Gisel, Pierre 75 Graafland, Cornelis 87, 94 Grotius, Hugo 389   Heinrich II. 279 Herminjard, Aimé-Louis 34 Hesselink, John 68, 180, 188–189, 191, 193, 228, 234f., 256, 283f., 286, 289, 320, 339, 348, 361, 363 Houkema, Anthon 87 Hoffmann, Manfred 53 Hundeshagen, Carl B. 23 Hwang, Jung-Uck 57, 172–173   Iwand, Hans Joachim 97, 201, 202   Janse, Wim 350–351, 355–357   Kamlah, Wilhelm 317, 399 Kendall, Robert T. 245 Keulen, Dirk van 392 Kingdon, Robert M. 20, 295, 335, 338, 365 Klappert, Bertold 258 Kloeden, Gesine von 386

Kooi, Cornelis van der 212, 219–220 Krusche, Werner 106, 108, 121, 141, 149, 166, 171, 228f., 230, 233, 236, 244f.   Lang, August 400 Lange van Ravenswaay, J. Marius 97 Lasco, Johannes a 383 Lefèvre d’Etaples 22, 26–27, 60 Leppin, Volker 42–43 Lienemann, Wolfgang 380, 400 Lillback, Peter A. 84–85 Locher, Gottfried W. 34, 48, 87, 97, 108, 110, 234, 311 Locher, Gottfried W. jr. 278, 391 Luther, Martin passim.   Manetsch, Scott 338 McKee, Elsie 45–46, 284, 291 Margarete von Navarra 26 Melanchthon passim Milner jr., Benjamin C. 315, 400 Moltmann, Jürgen 138, 305, 375 Müller, Karl 22f., 401 Muller Richard A. 9, 18, 40–41, 45–46, 52–54, 59, 86, 147, 232, 242, 245, 250   Nijenhuis, Willem

34–35, 318

  Oberman, Heiko 18–21, 87, 206, 213, 217, 234, 391 Olivetan (Robert, Pierre) 26, 59, 60 Opitz, Peter 20, 25, 44, 50, 69, 85, 93, 125, 135, 138, 201, 206, 207, 392   Parker, Thomas H.L. 64, 71, 116–121, 189 Partee, Charles 154, 160, 401 Pettegree, Andrew 381–382, 384

Personenregister

Pitkin, Barbara 240, 242, 256 Potter-Engel, Mary 175   Quervain, Alfred de 115, 401 Quistorp, Heinrich 288   Reichel, Hanna 104, 109 Ritschl, Dietrich 190, 267 Roussell, Gerard 20 Ruler, Arnold A. van 314   Sadoleto, Jacobo 19, 34, 37, 61, 65, 76, 193f., 243, 311, 318, 322, 339 Sallmann, Martin 379 Saxer, Ernst 25, 59, 60, 63, 157, 165 Schellong, Dieter 85, 212, 380, 390 Schilling, Heinz 19 Scholl, Hans 24, 29, 31, 33–34, 286–292, 319, 324, 347 Schreiner, Susan 79, 120, 131, 133, 145, 157, 161, 170, 172, 176 Schützeichel, Heribert 245 Schulze, Martin 83, 170, 272 Schweizer, Alexander 48, 57 155, 294f. Selderhuis, Herman 26, 79, 156, 194, 334 Smidt, Udo 115 Spijker, Willem 221 Stancaro, Francisco 148, 211–212 Stadtland, Tjarko 248, 252–253, 255f. Steinmetz, David 40, 42, 117, 371 Stauffer, Richard 46, 120, 145, 152–153, 176, 311 Strohm, Christoph 40, 43, 46–47, 338, 362, 379

Thiel, Albrecht 46, 86, 370 Thomas von Aquin 71–72, 77, 102, 108, 121, 189, 213, 245, 247, 359, 369, 374 Torrance, Thomas F. 177–178, 180, 191 Troeltsch, Ernst 84, 276, 380, 387, 390 Turchetti, Mario 366

  Veen, Mirjam van 221 Vischer, Lukas 37, 104, 311, 320 Volmar, Melchior 27

  Wallace, Ronald S. 45, 261, 263, 265, 269f., 282, 293, 337–338 Warfield, Benjamin B. 227–228, 230 Weber, Max 294–295, 380, 389, 390–391 Weber, Otto 78, 103, 110, 303, 319, 380–381 Weinrich, Michael 11, 30, 34, 36, 37f., 93, 249, 283, 313 Wendel, François 9, 18, 26f., 42, 54, 65, 123, 147, 154f., 170, 182, 202, 204, 224, 238, 256, 270, 286, 349, 351f. Werner, Ilka 52, 65, 68, 70 Willis, David 75, 127, 205, 208–210, 212, 214, 320 Wolf, Ernst 134

  Zeindler, Matthias 385 Zwingli, Huldrych 20, 22, 25, 65, 85–87, 98, 130, 158, 182, 193, 316, 330, 339–340, 343, 346–348, 350f., 356, 374

407

Sachregister

Abendmahl (s. a. Sakrament) 24, 30, 48f., 214f., 326f., 330f., 341, 349–352 – historische Kontexte 350–253 – Institutio (1536) 353f. – Kontroversen 340–342 – Zwingli und Luther 352–253 – Consensus Tigurinus 340, 350f., 355f. Akkomodation 69, 196, 277 Adiaphora 32, 125, 206f., 342 Ämterlehre (s. a. Christologie) 216–219, 149, 195, 202, 206f., 209, 211f. – kirchliche Ämter 332–335 Anthropologie 168–172, 185, 245 – Bild Gottes 174, 176–178, 180, 263 – Finalismus 147, 170, 178 – Geist 173–174 – philosophische Quellen 42f. – Seele (Wille, Verstand) 172–175 – Sündenfall 181, 245 – Erbsünde 178–180 Antitrinitarier 36, 133, 139, 148 Auferstehung (Christi) 109, 218, 221, 231f., 263, 275 – allgemein 97, 174f., 271   Beharrlichkeit (Perseveranz) 305f. Bekenntnis 12, 29, 32–34, 51f., 97, 133, 136, 240 – Alte Kirche 185 – Grundlage der Frömmigkeit (s. a. Nikodemiten) 52 – Bekenntnisschriften 156, 320 – Bekenntniszwang 135f. Berufung 60, 102f., 174, 257f., 305

Bild Gottes (s. Anthropologie) Bilderverbot 25, 129–131 Bund (theol. Kategorie) 18, 25, 46, 59, 62, 81, 84–94 – Abraham-Bund 86, 304 – Bundeszeichen 99, 341 – Bundestheologie 87, 93, 95, 199 – Taufe, Erwählung 85, 87 – Deuteronomium 86 – Einheit Alter und Neuer Bund 85, 87, 90, 94 – Israelbund 89, 93, 98 – Verfassung (s. a. Gesetz) 186 – zweiseitiger Vertrag 85, 88

  Calvinismus 379–394 – zum Begriff 379–381 – innerkirchliche Aspekte a) in Europa 381–384 – Puritaner, (Dordrechter Synode) 379, 383–384 – innerkirchliche Aspekte b) in Nordamerika 384–387 – Great Awakening (John Edwards) 385 – 20. Jh. Reinhold und H. Richard Niebuhr 386f. – politische Aspekte 386–389 – Wurzeln der Demokratisierung 387, 380 – ökonomischer Aspekt 389–391 – Max Weber-These und ihre Kritik 380f. – kulturelle Aspekte 391–394

410

Sachregister

– Wegbereiter der Moderne 373, 380, 388 – Neocalvinismus: A. Kuyper, L. Ragaz 387, 392f. – republikanischer C. 20 Christologie (s. a. Extra-Calvinisticum) 204–225 – in der Trinität 141, 149, 213, 215 – Christus als Mittler 185, 204, 206–209, 211f. – Inkarnation (1Tim 3,16) 207f., 210–211 – Logos-Christologie 213, 216 – Fluchtpunkt der Schöpfungslehre 124–125, 215 – Verbindung mit Israellehre 98 – Zweinaturenlehre 205, 208, 212 – Versöhnungslehre (Vgl. mit Anselm) 209, 219–220, 222f. – sog. „Höllenfahrt“ 221f. – condition humaine 69   Dekrete 74, 124, 146, 155 Demokratisierung 387 Dialektik 69, 82, 98, 195, 319   Erbsünde 178–182, 184–185, 345 Erwählung (s. a. Prädestination) 294–299 – Kontexte 18, 25, 89 – Bund 25, 90, 92f. – Israel 101 – Schöpfung 164, 169 – Christus 206–208, 212 – Erwählungslehre 90, 207, 222, 303 – vor Grundlegung der Welt 222, 304 – Christus als Urheber 306 – Erwählung und Geschichte 58, 63, 299–301

– eschatologischer Aspekt 304 – Perseveranz als Ziel 305 Ethik 18, 21, 82, 249, 265f., 359 Evangelium und Gesetz (s. a. Kirche und Israel) 94–96, 197–199 – kein anderer Grund des Heils 95f., 99 Extra-Calvinisticum (s. a. Logos) 7, 213–216, 235 – im Abendmahl 211, 214 – in der Christologie 214–215 – in der Kosmologie 213, 235   Flüchtlingsgemeinden 24–25, 35, 324, 330, 382 Forschungsgeschichte (s. a. Historik) 39–43 Frömmigkeit 44, 51, 52f., 76 Frankreich 26, 29f, 31f, 51 – politische Krise 16, 32f. – religionspolit. Situation 21–24, 30–34 Fremdlingschaft 15, 82, 169, 266   Genf 20–21, 31 – Akademie 35, 40, 334, 381 – Ausstrahlung 20–21 – Bürgerschaft 21, 131 – Cité de Dieu 21 – Flüchtlinge 356 – Konflikte 18, 330f, 337f., 359 – Magistrat 359–362 Gegenreformation 17, 30, 326 Gesetz – Verfassung des Bundes 186–196 – Träger von Verheißungen 199, 202 – adventliche Bedeutung 187, 190, 201, 194 – Christus im Gesetz 187

Sachregister

– dreifacher Gebrauch 190–193, 369 – Billigkeit (aequitas) 190, 263, 358, 362 – usus politicus 367f. – Billigkeit 194, 268, 364, 368f. – natürliches Gesetz vs. Mose-Gesetz 188f, 190 – Gesetz und Evangelium 197 – Evgl. als Ergänzung bzw. Ziel 200 – Freiheit vom Gesetz (Adiaphora) 194–196 Gott – Allmacht 181, 280, 294, 298 – Ehre 75–82, 88 – Freiheit 74, 78, 93, 101, 117f, 124, 145f., 293 – Herrlichkeit 144f, 147, 150, 151f. – Selbstdarstellung 144 – Selbstverständlichkeit 71, 118, 123 – Verherrlichung 80, 164, 236 Gottesbildlichkeit (s. Anthropologie) Gotteserkenntnis, zweifach 116–118 – natürlich 70–73, 118–121, 126, 148 – naturphilosophische Tradition 145–147 – Thomas v. A. 121f. – Eindruck Gottes 72f., 122 – semen religionis 72f., 117, 122 – aus der Schrift 116, 123–125f. – Vermittlung 124 Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis 63–69, 71, 171, 285f., 394 – Herkunft der Formel 65f. – griech. philos. Tradition 65–66 – Calvins Interpretation 67–68 – Allgemeingültigkeit 69   Heiliger Geist 68, 103–109, 228–238 Heiligung 80f., 141, 178, 193f., 229, 260–268

– vor (!) Rechtfertigung 249f., 256–257 – Buße als Erkenntnisvorgang 256, 258, 261 – kein Sakrament 262 – Selbstverleugnung 265f. – Tragen des Kreuzes 268f. – imitatio-Frömmigkeit 270 – Rechtfertigung und Heiligung 256–260 – das Problem 256f. – Primat der Rechtfertigung 258–259 – Ziel des christlichen Lebens 260–264 Hermeneutik (s. a. Bund, Evgl. und Gesetz) 28, 46, 51–52, 81f., 93f. – Kirche und Israel 94–102 – Schrifthermeneutik 102–106 Historik 39, 41f., 48 Humanismus 22, 26–28, 65, 67, 272 – Distanz 70, 133, 157 – Kreis von Meaux 26f. – philosophische Traditionen 65–66f. – profane Wissenschaften 28, 67f. – Rezeption 28f., 145f., 172f., 180 – Seneca Kommentar 27, 79, 152   Institutitio (s. a. Römerbrief) – Ausgabe 1536 51, 296 – Kritische Revision 43f. – Ausgabe 1539 44f., 52f. – Widmungsschreiben (Apologie) 22, 23f. Israel-Theologie (s. a. Bundeszeichen, Israelbund) 49, 86f., 93–101 – bleibende Erwählung 99–100f. – Israel und die Kirche 99–102 – zeitgenöss. Judentum 95, 100 – primäre, sekundäre Israellehre 96

411

412

Sachregister

– primäre 96f. – sekundäre 100f. – Verwerfung Israels? 101

  Kirche – Definitionen: 313f., 316f. – Attribute 315, 319 – Kennzeichen 315, 319, 321, 325–27 – unsichtbare / sichtbare K. 315, 319f. – augustinische Wurzeln 316–318 – doppelter Kirchenbegriff? 317 – geglaubte Kirche (Attribute) 318–319, 325 – erfahrene Kirche (Kennzeichen) 318f. – Einheit der Kirche 318–320 – Kriterium 320f. – Genfer Gemeindemodell 312 – Kirchenspaltung 322f. – unter dem Kreuz 17, 119, 269 – Ordnung (Verfassung) der Kirche 328–334 – Ordonnances ecclésiastiques 29, 312, 331–335 – kirchliche Ämter 332–335 – Kirchenzucht 335–338 – Jurisdiktion (Schlüsselamt) 336–337 – Exkommunikation 337–338 Kirchenzucht 335–337 – Exkommunikation 338f.

  Logos (präexistent) (s. a. ExtraCalvinisticum) 74, 211, 213, 215, 235, 237, 242 – in der Christologie 124, 214 – in der Schöpfung 125, 127, 213 – in der Vorsehung 242

Max Weber-These 19, 295, 380 Methodische Überlegungen 39–49 – Loci-Methode 45, 115 – Ordnung des Lehrens 44–45 – Arbeitsteilung: Kommentar/ Disputation 45 Meditatio futurae vitae 81–84, 271–276 – Ars moriendi 272f, – Eschatologie 81, 153f., 271f. – Schlüssel der Hermeneutik 81f., 272 – Tradition geistlicher Ruhe 82, 153 – Weltflucht? 82f. 266f., 271   Naturrecht 91, 145, 189, 192, 268, 364 – Vertrag 91, 372f. Naturphilosophische Tradition 145–148 Nikodemiten 16, 29–32   Ökumene

15, 34–38, 324

  Papsttum 76, 91, 323f, 366 Protestantismus 32, 36, 49, 96, 199, 329 Prädestination (s. a. Erwählung) 221, 294–299, 306, 314f. – ewiges Dekret 298, 302 – himmlischer (ewiger) Ratschluss 207–208, 298 – Gespräch mit Paulus 296–299 – Geheimnis des göttl. Willens 145f., 147, 155 – Vorsehung und P. 155, 188 – doppelte P. 294 (Definition), 298, 304, – Verwerfung (decr. horribile) 181, 197, 300f., 304f. – Zwei Lehrformen: Prädest. und Gnade 301, 303

Sachregister

– Ziel der Erwählung: Perseveranz 305–307 – Probleme der Präd.lehre 297f., 304

Straßburger Jahre (1538–41) 49, 52, 98 – Bucer und Capito 97f. – methodischer Neuansatz 53 – Entwurf der Israel-Theologie 98f. – Schriften der S. 49–55 Syllogismus practicus 390

  Rechtfertigung (s. a. Heiligung, Römerbrief) 247–250 – -Matrix der R. 251f. Reformation 15, 18f. – als Prozess 15 – Ausläufer des Mittelalters 17 – Bedingungen der 15, 19, 24 – „dritte Reformation“ 18f., 21 – europäisches Ereignis 15 – Gestaltungsaufgaben 15f. – Grenzen der R. 32f. – historische Situation 16f. – Themen 42, 75f., 102f., 222–225 – „zweite Reformation“ 15f., 20f. – theol.geschichtlicher Ort 18f. Regiment, geistlich/bürgerlich 360–362 Rhetorik 43, 50 Religionsgespräche 36–38 Renaissance 27, 43, 65, 148, 153 Rezeptionsgeschichte 51f., 58–59, 61f. – antike Quellen 42, 157–159f. – theologia naturalis 46, 119f. Römerbrief 49–55, 59, 73, 92, 96, 98 – Entlastung von dogmat. Interpretation 53f. – hermeneutischer Zirkel 54 – Matrix der Rechtfertigung 251–253 – methodischer Leitfaden 44, 50, 53f., 58 – Wurzel der Prädestination 296f.

  Taufe 343–349 – Bekenntniszeichen 346 – heilsnotwendig? 345 – Kindertaufe 343, 347–349 – Vollzug der Rechtfertigung 344 Täuferbewegung 347–349 – als Sekte 347f. – Position Calvins 347–348 – Schleitheimer Artikel 347 – Täufergemeinden 347 – Wiedertäufer 36, 323, 234, 343, 347–348 Theologie (s. a. Gotteserkenntnis) 1, 17, 19, 25, 29, 47 – Märtyrertheologie 32, 62 – natürliche 71, 116f., 123, 144f. Trient (Konzil) 17, 36, 254 Trinität 131–142 – Antitrinitarier s. dort – Begriff „Person“ 139–142 – Bekenntniszwang 135f. – Erfahrungsorte 143 – immanent / ökonomisch 141–143 – Kontroversen: Caroli, Servet 134f., 138f. – Trinitätlehre 142, 148 – trinitätstheologische Regel 140, 146

  Sakrament 338–342 – im Alten Testament 345 – Thema der „Elemente“ 340 – Zeichen und Sache 341

  unio mystica (Christologie) 48, 237, 248, 254 Unionsverhandlungen (s. Religionsgespräche)

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Sachregister

Verheißung (s. a. Gesetz) 190, 194, 199, 202f. Verpflichtung (mutua obligatio) (s a. Bund, Vertrag) 85, 88, 372, 388 Vorsehung 131f., 138, 154–166 – „Stammlehre“ der Prädestination 155 – allgemeine/besondere V. 162–164 – antike Entwürfe: Stoa, Epikur 155–157–159 – Definition 161 – im bürgerlichen Regiment 363, 368 – Kirche als Werkstatt der V. 164f. – Rahmen der Schöpfung 163 – Schlüssel der Welterfahrung 162 – Werk des Geistes 159, 165, 169 – Vater Unser 164f. – Vorsehung und Gebet 164, 293f.

Weisheit 45, 52f., 62–65, 67 – als Erkenntnis Gottes 63 – Christus als Weisheit 80, 139 – Gespräch mit der Philosophie 42, 170 – Weltweisheit als Gesprächsort 52, 65, 70, 157 – Schöpfung als Quelle (Logos) 77–79, 119, 153 – Todesweisheit 83 Weltgestaltung 359, 380, 387, 393 Widerstand 370–375 – Diensteid der Pfarrer 370f. – passiv 371f. – - spflicht/- recht 373–374