Die Probleme der Theologie Calvins [Reprint 2021 ed.] 9783112491263, 9783112491256


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Die Probleme der Theologie Calvins [Reprint 2021 ed.]
 9783112491263, 9783112491256

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DIE P R O B L E M E DER THEOLOGIE CALVINS VON

HERMANN BAUKE

LEIPZIG VERLAG DER J. C. HINRICHS'SCHEN BUCHHANDLUNO 1922

Druck von Karras & Koennedce, Halle a. ò. S.

Herrn D. Dr. Dr. FRIEDRICH LOOFS Professor der Theologie an der Universität Halle-Wittenberg,

in Dankbarkeit und Verehrung

Vorwort. Die vorliegende Arbeit verdankt ihre Entstehung einer gütigen Anregung meines hochverehrten Lehrers, Herrn Geheimen Konsistorialrat Professor D. Dr. Friedrich Loofs. Diese Anregung lautete dahin: Es sollte die bis zur Unübersichtlichkeit für den nicht speziell mit Calvin beschäftigten Kirchenhistoriker angeschwollene CalvinLiteratur durchgearbeitet und der heutige Stand der Forschung der Theologie Calvins in kritischer Darstellung so vorgeführt werden, dass offenbar werde, was zweifellos sicher geworden ist, und die Punkte aufgezeigt werden, an denen die weitere historische Arbeit ihre nächsten Aufgaben zu suchen habe. — Bei näherem Eindringen in die Calvin-Literatur wurde mir zuerst alsbald der eigentümliche Zustand des Zwiespaltes, in dem sich die Forschung befindet und den ich auf den folgenden Seiten als »Antagonismus" bezeichnet habe, deutlich; in ihm erkannte ich den eigentlichen Grund, warum die Forschung über die Theologie Calvins trotz lebhafter Arbeit im einzelnen, doch im ganzen wesentlich zum Stillstand kam und nicht mehr gefördert wurde. Dieser Beobachtung ging ich welter nach durch die ganze Literatur hindurch auf Calvin selbst und fand sodann die Ursache des „Antagonismus" und damit der besonderen Lage der Forschung, in der wir sie antreffen und über die sie nicht hinauskommt, bei ihm selbst in der eigentümlichen Art seiner Theologie. Diese Eigenart der Calvinischen Theologie, welche, soweit ich sehe, von der gesamten bisherigen Forschung nicht erkannt worden ist, musste also im ganzen wie im einzelnen dargestellt werden, damit die Calvin-Forschung den toten Punkt, auf den sie gekommen ist, überwindet. Ich bin der Ueberzeugung, dass "hiermit wenigstens der Weg zum wirklichen Verständnis der Theologie Calvins und zur Erkenntnis und Lösung des Problems, die sie der historischen Forschung aufgegeben hat, gewiesen ist. Das gesamte Material für die Arbeit war so umfangreich geworden, dass es den Stoff für einen Band von mehreren hundert Seiten gegeben hätte, der zuerst ein kritisches Referat über die bisherige Calvin-Forschung und dann eine Gesamtdarstellung der Theologie Calvins nach Anleitung der neugewonnenen Richtlinien enthalten hätte. Mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Druckschwierigkeiten aber musste davon abgesehen werden. Das kritische

VI Referat ist so kurz wie nur möglich gehalten worden, nur das wirklich Förderliche ist vorgeführt aus dem dem Verfasser bekannten Gesamtbilde. Als eigentliche Aufgabe aber ist die Darstellung der Eigenart der Calvinischen Theologie in ihrem Wesen, wie ich es erkannt zu haben meine, vorgenommen worden, die die Grundlage für die historische Lösung der Probleme der Theologie Calvins und für ihre künftige historische Gesamtdarstellung bildet. Um eine wirklich g e s c h i c h t l i c h e Erkenntnis dieser Theologie handelt es sich mir in dieser Schrift. Aus Gründen der Raumersparnis sind auch nur ganz besonders wichtige Stellen Calvins oder solche, die von der bisherigen Forschung überhaupt nicht beachtet oder m. E. nicht richtig gedeutet und gewertet sind, abgedruckt. Im übrigen musste ich mich mit der Stellenangabe Calvins oder des betreffenden Calvin-Forschers begnügen, wo dann die Originalstellen nachzulesen sind. Ausser dem Danke, den ich Herrn Professor D. Loof s für die Anregung und die stete Beratung bei der Ausgestaltung der vorliegenden Schrift schulde, darf ich den Herren Professoren DD. K a t t e n b u s c h und L a n g für die eingehende Förderung, mit der sie mich bei dieser Arbeit begleitet haben, meinen Dank zum Ausdruck bringen. Der Anfang meiner theologischen und kirchengeschichtlichen Studien liegt in Strassburg. Dort bin ich auch zum ersten Male mit der Arbeit an der westländischen Reformationsgeschichte in Berührung gekommen, habe dort die Stätten der Entwicklung Calvins und seine geschichtliche Wirkung gesehen und seine Schriften kennen gelernt. So darf ich es auch als ein freundliches Zusammentreffen erkennen, dass mein erster Lehrer in der Kirchengeschichte, Herr Professor D. J o h a n n e s F i c k e r , durch den ich in Strassburg in die Reformationsgeschichte eingeführt worden bin, jetzt hier in Halle wieder hilfreichen Anteil an dieser meiner Arbeit genommen hat. Schliesslich aber ist es mir ein Bedürfnis, auch in dieser in Halle geschriebenen und zum Abschluss gebrachten Arbeit mit herzlichem Danke meiner beiden Berliner Lehrer, der Herren Professoren DD. Adolf von H a r n a c k und R e i n h o l d S e e b e r g , und dessen, was ich von ihnen an wissenschaftlicher Ausrüstungempfangen habe, zu gedenken. Halle (Saale), Oktober 1921. Hermann Bauke, Licentiat der Theologie, Privatdozent an der Universität Halle-Wittenberg.

Inhaltsverzeichnis. Seit»

Vorwort

V

Inhaltsverzeichnis

VII

I. Kapitel: Die bisherige Calvin - Forschung und die Formgestaltung der Theologie Calvins 1. Uebersicht über die bisherige Calvin - Forschung und ihr Ergebnis 2. Die gegenwärtigen Aufgaben für die Calvin-Forschung 3.- Die Gruppenbildung in der bisherigen Calvin-Forschung 4. Die erklärende Ursache dieses „Antagonismus" in der Calvin-Forschung: Die Bedeutung der Formgestaltung der Theologie Calvins 5. Der erste Wesenszug der Formgestaltung der Theologie Calvins: der formal • dialektische Rationalismus 6. Der zweite Wesenszug: Die complexio oppositornm 7. Der dritte Wesenszug: Der Biblizismus

II. Kapitel: Die Probleme Theologie Calvins

der

Grundlegung

i 1 4 7 11 13 16 19

der

1. Die materialen Prinzipien 2. Die formalen Grundlagen a) Das Verhältnis von Theologie und Philosophie . . b) Erfahrungstheologie und spekulative Theologie . . c) Der Biblizismus und die Lehre von der Heiligen Schrift aa) Der Biblizismus als Wesenszug der Formgestaltung bb) Biblizismus und Inspirationslehre an sich und in ihrem Verhältnis zu einander cc) Die Stellung des Alten Testaments bei Calvin und seine „Mittelalterlichkeit" dd) Die Begründung des Glaubensinhaltes . . . .

21 21 35 35 39 44 45 47 55 55

VIII HI. Kapitel: Die Probleme in den einzelnen Hauptlehren der Theologie Calvins 1. Die Qotteslehre a) Die Qotteslehre an sich b) Die Lehre Ton der Providentia Dei c) Trinität and Christologie 2. Die Heilslehre a) Die Süodenlehre . b) Der Glaube c) Die Busse d) Die Rechtfertigung e) Die Einheit von Religion und Ethos {) Eschatologie und Jenseits-Christentum 3. Die Prädestinationslehre Die Heilsgewissheit 4. Die Lehre von der Kirche

IV. Kapitel: Das Grundproblem der Theologie Calvins: Die geschichtliche Selbständigkeit dieser Theologie und des in ihr erscheinenden Religionstypus a) Die Theologie Calvins b) Der Religionstypus Calvins

58 58 58 66 68 71 74 75 76 76 79 80 81 86 88

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I. K a p i t e l .

Die bisherige Calvin-Forschung und die Formgestaltung der Theologie Calvins. 1. U e b e r s i c h t über die b i s h e r i g e C a l v i n - F o r s c h u n g und ihr Ergebnis. Die wissenschaftliche Erforschung der Theologie Calvins hat begonnen, nachdem der eigentliche Kampf der Konfessionskirchen im 18. Jahrhundert zum Abschluss gekommen war, das ist in der Zeit Schleiermachers. Ihr Entstehungspunkt liegt bei den kirchlichen Unionsbestrebungen und deren Erfolgen und Fehlschlägen. Schleiermacher selbst, der sich öfters ausdrücklich als „einen von der reformierten Schule herkommenden" Theologen 1 bezeichnet hat, hat sich auch vielfach mit Calvins Theologie beschäftigt.2 Dennoch wird man Hundeshagen recht geben müssen, wenn er sagt: „Selbst Schleiermacher drang in das Charakteristische beider Lehrbegriffe (lutherisch und reformiert) nicht ein".3 Man wird dies Urteil dahin ergänzen können, dass Schleiermacher wohl den Anstoss gegeben, aber die eigentliche historische Forschimg selbst noch nicht eröffnet hat.4 Sie ist dann aber in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts im vollen Gange. Allerdings steht in dieser Zeit durchaus im Vordergrunde des Interesses das allgemeine symbolische Problem des lutherischen und reformierten 1) cf. vor allem im Sendschreiben an Lücke W . W . I, 2 p. 605, Auch W . W . I 5 p. 341. 2) cf. besonders die Schriften „Ueber die Erwählungslehre" W . W . I, 2 p. 393—484; „Ueber seine Glaubenslehre an Dr. Lücke" ibid. p. 575—653. „ Z w e i unvorgreifliche Gutachten usw." W . W . I, 5 p. 41—156. „ A n Ammon über die Harmsischen Sätze" ibid. p. 327 bis 422 u. ö. 3) Hundeshagen, Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik. I. 1864. p. 303. 4) cf. die bezeichnende Aeusserung Schleiermachers, Glaubenslehre 2 § 24. Zusatz. — Die (bisher unveröffentlichte) Promotionsschrift des Verf. hat zum Gegenstand: „Der reformierte Charakter der Schleiermacherschen Theologie." B a u k e : Probleme.

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„Lehrbegriffs", und man darf wohl sagen, dass die Beschäftigung mit der Theologie Calvins in besonderer Weise nur Mittel zum Zweck ist; die historische Absicht tritt hinter der polemischen zurück. Immerhin ist festzuhalten, dass die geschichtliche Erforschung damals in Bewegung gekommen ist.6 Schon damals erschien sofort d a s Problem der Theologie Calvins, von dem d i e einzelnen Probleme die Auseinanderfaltung und die Folgerungen sind, nämlich die Frage der eigentlichen Wesensart der Calvinischen Theologie und ihrer geschichtlichen Stellung. Und weiter standen sich schon damals alsbald Parteien unter den Forschern gegenüber, deren äusserste Vertreter auf der einen F. Ch. Baur, auf der anderen Seite A. Schweizer sind, während M. Schneckenburger eine mehr vermittelnde Stellung einnahm. Von da ab ziehen sich die Verhandlungen durch das ganze Jahrhundert hindurch. Wenn auch die allmählich entstehenden Calvin-Biographien6 auf die Beschäftigung mit Calvins Theologie an sich selbst hinweisen, so bleibt doch die symbolische Aufgabe herrschend. Die eine Seite findet ihren schärfsten und folgerichtigsten Ausdruck durch A. Ritsehl'und seine Nachfolger; gegenüber stehen etwa A. Kuyper und E. F. K. Müller-Erlangen an der Spitze der westländischen und deutschen reformierten Theologen. Obschon die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts manche wertvolle Einzelarbeit über die Theologie Calvins brachte, es sei hier nur an J. Köstlin,7 P. Lobstein,8 J. M. Usteri,9 P. J. Müller10 erinnert, begann doch erst mit dem Ausgange des Jahrhunderts (besonders ermöglicht durch die Vollendung der Ausgabe der Werke Calvins im Corpus Reformatorum) eine intensivere, rein historische Beschäftigung mit der Calvinischen Theologie, die ihren zeitlichen Gipfelpunkt mit dem Jubiläumsjahr 1909 erreichte und deren umfangreichste Leistung das Calvin-Werk E. Doumer5) Ueber diesen ersten Abschnitt der Calvin - Forschung unterrichtet am besten Hundeshagen 1. c. p. 303—309; ferner M. Schneckenburger, Yergl. Darstellung. 1855. I. p. 12, sqq. 6) H. Henry, 3 Bde., 1835/1844. — E. Stähelin, 2 Bde. 1863. — F. W. Kampschulte, 2 Bde., 1869/99. — A. Kuyper, het Calvinism. 1898. — Auch C. A. Cornelius, Historische Arbeiten 1899. — Williston Walker, J. Calvin, The Organiser of reformed Protestantisme. New York 1906. 7) Calvins Institutio. Tbeol. Stud. u. Krit. 1868. 8) Calvins Ethik. 1877. 9) Calvins Sakramentslehre. Th. St. Kr. 1884. 10) De Godsleer van Calvijn. 1881.

gues 11 ist. ia Trotz dieser ausgebreiteten und eindringenden Arbeit, der es auch zweifellos gelungen ist, über wesentliche Einzelpunkte der Calvinischen Theologie eine relative Einmütigkeit unter den Forschern zu erzielen, ist doch im Grunde der alte Gegensatz und die alte Fragestellung bis auf den heutigen Tag geblieben. Auch die neuesten Behandlungen des Gegenstandes — vor allem R. Seeberg 18 auf der einen und S. P. Dee 14 auf der andern Seite — stehen unter diesem Gegensatz und führen nicht über ihn hinaus. Abgesehen von den Dogmengeschichten und Symboliken, die im Rahmen ihres Arbeitsgebietes natürlich das Ganze der Calvinischen Theologie in Betracht ziehen mussten, und dem schon genannten Werk von Doumergue, hat sich die in den letzten Jahrzehnten so stark anschwellende Calvin-Forschung im wesentlichen nur mit Einzelpunkten der Dogmatik Calvins beschäftigt.16 Aber so überaus Verdienstliches dadurch auch für die Erkenntnis der Theologie Calvins geleistet worden ist, so gewiss" man wohl sagen darf, dass eben die einzelnen Bestandteile dieser Theologie in sich selbst weitestgehend erforscht und aufgehellt sind, so sicher hat doch auch die so eifrige Arbeit gezeigt, dass solche Einzeluntersuchungen uns nun im ganzen nicht mehr weiterführen. Man konnte dies an einem sehr bezeichnenden Punkte besonders deutlich erkennen, nämlich beim Erscheinen der kleinen Schriften 11) Jean Calvin. Bisher 5 Bde. Lausanne 1899/1917. 12) Den besten Ueberblick über die neuere Calvin-Forschung bis 1909 gibt: E. Knodt, Die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt im Lichte der neueren und neusten Forschung. Giessen 1910. 13) Lehrbuch der Dogmengeschichte I V 2 Leipzig 1920. p. 551 sqq. 14) Het Geloofsbegrip van Calvijn. Kempten 1918. 15) Neben den schon genannten Arbeiten sollen hier als die Forschung wesentlich fördernd erwähnt werden: M. Scheibe, Calvin's Prädestinationslehre 1897; Joh. Ficker, Jean Calvin, in: Handschriftenproben des 16. Jahrh. ed. Ficker und Winkelmann. Bd. II. 1905. p. 72 sq.; F. Kattenbusch, Artikel .Protestantismus" in: Prot. Real. Encykl. 8 Bd. XVI. 1905. p. 165 sqq.; B. Bess, Calvin, in: Unsere religiösen Erzieher. Bd. II. 1908; W. Lüttge, Calvin's Rechtfertigungslehre 1909; J . Bohatec, Calvin's Vorsehungslehre, in: Calvin-Studien 1909; ders., Die Methode der reformierten Dogmatik, in Th. St. Kr. 1908. H Strahtmann, Calvin's Busslehre, in: Th. St. Kr. 1909 u n d : Calvin-Studien 1909; Calvin-Nummer der Christi. Welt. 1909; A. Lang, Rechtfertigung und Heiligung nach Calvin, 1911; G. Beyerhaus, Studien zur Staatsanschauung Calvin's, 1910 (darin ausführliche Untersuchungen zu Calvin's Gotteslehre); B. B. Warüield, Calvin's Doctrine of God, i n : The Princeton Theological Review, Juli 1909. — Die vollständigste Uebersicht über die gesamte Literatur des Jubiläumsjahres und der nächsten Zeit gibt E. Doumergue 1. c. Bd IV, p. 419—480.



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M. Schulze's,16 der ein bis dahin augenscheinlich übersehenes oder mindestens nicht genügend gewürdigtes inhaltliches Einzelelement der Theologie Calvins zum Ausgangspunkt seiner Arbeit nahm, die ganze Calvinische Theologie auf dieses, nämlich die Eschatologie zurückführte und sie also aus diesem inhaltlichen Einzelelement, endgültig zu „erklären" glaubte, deshalb denn auch für diese seine Erklärung Allgemeingültigkeit und Allgemeinanerkennung beanspruchte.17 Es ist zwar von den übrigen Porschern durchaus zugestanden worden, dass M. Schulze einen wertvollen Beitrag zur geschichtlichen Erkenntnis der Calvinischen Theologie geleistet und die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Stück der Dogmatik und der Frömmigkeit Calvins gelenkt hat. Aber es ist doch ebenso zweifellos allgemein festgestellt, dass er das Problem der Theologie Calvins nicht gelöst — ja, wie ich glaube, nicht einmal richtig erkannt hat. E. Doumergue hat mit Recht auf die Abhängigkeit der These M. Schulzes von A. Ritsehl hingewiesen18, und schliesslich hat die gesamte Calvin-Forschung aller Richtungen, bei aller Anerkennung im einzelnen doch im Grundsatze diese „Erklärung" Calvins abgelehnt.19 Das konnte auch gar nicht anders sein. Denn eben das hat nun die Arbeit eines Jahrhunderts gelehrt, dass die Calvinische Theologie nicht von einem einzelnen inhaltlichen Elemente aus zu „erklären" ist. Die folgende Untersuchung hofft dies auch innerlich zu begründen. 2. Die g e g e n w ä r t i g e n A u f g a b e n f ü r die CalvinForschung. Am Ende eines Jahrhunderts wissenschaftlicher Bearbeitung der Theologie Calvins steht fest, dass deren Verständnis, die „Erklärung" — wenn anders dies Wort recht verstanden wird — dieses gewaltigen geschichtlichen Phänomens zur Zeit durch Untersuchung einzelner Bestandteile nicht mehr entscheidend gefördert werden kann. (Diese sind im wesentlichen genügend aufgehellt, wenn 16) Meditatio futurae vitae. Leipzig 1901. — Calvine Jenseitschrietentum in seinem Verhältnis zu den religiösen Schriften des Erasmus. Görlitz 1902. 17) Meditatio futurae vitae. p. 3. 18) J. Calvin, Bd. IV. 1910. p. 306. 19) cf. hierzu im besonderen noch: A. Lang, Neuere CalvinLiteratur. In: Reform. Kirchenzeitung. 25. 1902. p. 34 sqq. — ders., Calviniana. In: Gött. gel. Anz. 1912. Nr. 5.

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auch gewiss im einzelnen hier und da noch manches schärfer herausgearbeitet werden kann, vor allem durch stärkere Benutzung der exegetischen und homiletischen Schriften Calvins.) Denn diese einzelnen Bestandteile und ihre Probleme sind zunächst alle abhängig von dem, was v o r h e r erklärt werden muss, sie stehen sozusagen unter dem Problem der Theologie Calvins und unter dem Antagonismus der Betrachtungsweisen, in welchem diese im ganzen sich befindet. Hier muss also vielmehr die Förderung der Calvin-Forschung einsetzen. Die Aufgabe, die demnach jetzt zu leisten wäre, ist die, eine Gesamtdarstellung und -beurteilung der Theologie Calvins zu geben, also etwa das, was E. Doumergue im IV. und V. Bande seines Calvin-Werkes für Franzosen geschaffen hat, aber nun auf dem Boden und aus dem Geiste deutscher Wissenschaft, mit unseren Methoden und nach unseren Arbeitsmassstäben. Dazu sind aber eben nach unserer Auffassung und Gestaltung historischer Forschung vorerst noch Vorarbeiten nötig, die Doumergue keineswegs geleistet hat, und die freilich in der nächsten, absehbaren Zeit für einen Deutschen nur sehr teilweise zu leisten möglich sind. Zunächst muss die ganze Atmosphäre, in der Calvin innerlich herangewachsen ist, ganz neu und umfassend erforscht werden, d. h. der französische Humanismus und dessen Grundlagen in Frankreich und im allgemeinen Geistesleben des ausgehenden Mittelalters. Ohne das Material der französischen Bibliotheken ist das nicht durchzuführen. Ebenso muss die theologische und allgemeinkulturelle Einwirkung Calvins in den romanischen und angelsächsischen Ländern sehr viel eindringender und ausgebreiteter erkannt werden; auch dies ist, wie ohne weiteres einleuchtet, ohne Arbeit an Ort und Stelle nicht möglich. Jene erste Vorarbeit führt dann aber gleich zu weiteren Aufgaben, die allerdings Einzelprobleme darstellen, aber nicht so sehr der Calvinischen Dogmatik selbst, als vielmehr der Prolegomena zu ihr. Und hier wäre in erster Linie die Psychologie und die Erkenntnistheorie Calvins zu nennen, mit der seine Religionspsychologie unmittelbar zusammenhängt. Wir sind hier noch ganz im Dunkeln, weil eben die Erkenntnis der Grundlagen fehlt. Eines aber kann geleistet und soll hier versucht werden: es sollen die wesentlichen Probleme der Theologie Calvins, die sich über das ganze Gebiet der Dogmatik erstrecken, festgestellt und ihre versuchten Lösungen beurteilt, und so der Gesamtstand der Forschung an der Theologie Calvins



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aufgezeigt werden. Das ist zunächst die notwendigste Vorarbeit für eine wirklich historische Bearbeitung und Darstellung der Theologie Calvins. — Damit kommt man aber zu etwas weiterem, und da scheint mir jetzt die Hauptsache und die entscheidende Aufgabe zu liegen. Die nähere Untersuchung der einzelnen Bestandteile und Probleme der Calvinischen Theologie bestätigt, was wir schon erwähnten, dass alle irgendwie unter einander zusammenhängen und schliesslich alle auf einen Mittelpunkt hinführen, auf eine Gesamterkenntnis, auf das, was man am einfachsten als d a s Problem der Theologie Calvins bezeichnen kann: nämlich die F r a g e der e i g e n t l i c h e n W e s e n s a r t , G e s t a l t u n g und S t e l l u n g der C a l v i n i s c h e n Theologie. Das war gemeint, wenn gesagt wurde, dass durch Einzelheiten das Verständnis der Theologie Calvins nicht welter gefördert, diese selbst nicht weiter erklärt werden kann. Vielmehr gilt es, sie in ihrer Ganzheit, in ihrer Gesamtart, ihrem Gesamtwesen ins Auge zu fassen. Dazu aber muss man dann mit einer neuen Fragestellung an sie herantreten, die sich auf dem Wege über die bisherigen Calvin-Forscher und -Beurteiler und ihre Erkenntnisse, die dabei keinesfalls aus den Augen gesetzt werden sollen, an sie selbst wendet. Denn die folgenden Fragen muss man sich, wenn man die Calvin - Forschung genau durchgeht, m. E. mit Notwendigkeit vorlegen. Wie kommen z. B. A. Ritsehl und seine Nachfolger zu ihrer ganz bestimmten CalvinAuffassung? Von seinen Gegnern ist die Frage bisher meist ohne näheres Eingehen einfach abgetan worden. Es ist aber unmöglich anzunehmen, • dass er, dem man doch zum mindesten eine ausgezeichnete Gabe der Divination in der Historie nicht wird absprechen können, (und noch weniger natürlich seinen Nachfolgern, soweit sie Kirchenhistoriker von Fach sind), aus reiner kirchlicher Polemik heraus Calvin als Schüler Luthers auf der einen, als Intellektualisten und als im Banne des Mittelalters befangenen Mann auf der anderen Seite behandelt, wenn nicht irgendwo zu dieser Beurteilung in Calvin selbst gewisse Grundlagen vorhanden sind, mögen sie auch durch Ritsehl nicht immer richtig gedeutet sein. Eine analoge Erwägung aber muss natürlich über die andere Seite angestellt werden. Es ist ebenso unmöglich zu glauben, dass die reformierten Theologen mit ihrer gerade entgegengesetzten Erkenntnis und Beurteilung Calvins einzig und allein unter der Macht konfessioneller Vorurteile stehen.



1 —

Damit sind wir an dem Punkte, wo wir eben mit neuer Fragestellung hinter diese Gegensätze auf die Theologie Calvins selbst zurückfassen müssen. W e l c h e s i s t die e i g e n t l i c h e W e s e n s a r t der C a l v i n i s c h e n Theologie, die e i n e s o l c h e G e g e n s ä t z l i c h k e i t d e r E r k e n n t n i s und Beurteilung ermöglicht und beg r ü n d e t ? Durch solche Untersuchung wird es, wie ich gewiss glaube, gelingen, die Calvin - Forschung aus dem „Antagonismus", in dem sie sich befindet, insofern wenigstens herauszuführen, als jedenfalls ganz deutlich wird, w a r u m sie in ihn hineinkommen musste. Und das ermöglicht eine „Erklärung" dessen, was als d a s Problem der Calvinischen Theologie bezeichnet wurde, wenn „Erklärung" richtig als Deutung der notwendigen Entstehung verstanden wird. Damit hängen wiederum die Einzelprobleme der Theologie Calvins zusammen und können im Rahmen des Ganzen erkannt und erklärt werden. Und so nehme ich doch an, dass dadurch, dass das Problem neu und umfassend herausgehoben, eine neue Fragestellung herangetragen wird, wenigstens der Weg zu einer w i r k l i c h g e s c h i c h t l i c h e n Erkenntnis und Würdigung der Calvinischen Theologie aufgezeigt ist. 3. Die Gruppenbildung in der b i s h e r i g e n CalvinForschung. Um mit der neuen Fragestellung an die Theologie Calvins herantreten zu können, ist vorher noch nötig, dass die bisherige wissenschaftliche Arbeit an Calvin, über die wir oben eine kurze Nachricht gaben, eingehender angesehen wird. Ueberblickt man die Reihe der Calvin-Forscher und -Beurteiler, so wird man zuerst, solange man bei den Einzelheiten stehen bleibt, nicht gleich einen rechten Einteilungsgrund finden können. Es hat sich namentlich in der letzten Zeit, durch die Einzelforschung und ihre Ergebnisse veranlasst, ein gewisser Eklektizismus herausgebildet; der eine nimmt einen Teil der Meinungen des anderen an, einen anderen lehnt er ab, es ist ein Hinüber und Herüber. Sieht man jedoch auf das Ganze, so heben sich die Gruppen doppelter, gegensätzlicher Beurteilung schliesslich doch sehr deutlich ab. Die e r s t e Scheidung unter den Forschern bildet die Konfession: Hie Reformierte — hie Lutheraner! Das ist der erste und tiefste Antagonismus, der die Calvin-Forschung und -Beurteilung spaltet. Auf der einen Seite geht die

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Reihe von Schweizer und Goebel zu Doumergue, Lang, Scheibe und Bohatec — auf der anderen beginnt sie mit F. Ch. Baur und Gass und findet ihre klassische Gestaltung in A. Ritsehl und seinen Nachfolgern, zu denen in diesem Falle auch, trotz mancher Abweichungen in einzelnen Fragen, ganz sicher R. Seeberg zu rechnen ist.20 Hier stehen wir ja an dem sehr ernsten und schwierigen Punkte, wo ganz deutlich der persönliche, und mehr noch: der allgemein-konfessionelle Glaubensstandpunkt unmittelbar in die wissenschaftliche Arbeit hineinwirkt. Im persönlichen Gespräch hat mir D. A. Lang auch als reformierter Theologe selbst dieses ausdrücklich bestätigt. Dieser Zwiespalt kann der Natur der Sache nach endgültig nie überwunden werden. Es soll aber doch als die Aufgabe der historischen Bearbeitung erkannt und festgestellt werden, dass die Untersuchung bis zu dem Punkte hingeführt wird, wo die Entstehung dieses Zwiespaltes, d. h. die Einwirkung der persönlichen Glaubensstellung auf die historische Forschung und Würdigung notwendig einsetzt. Die z w e i t e Scheidung unter den Forschungen bildet die Nation: Hier stehen Deutsche und Franzosen einander gegenüber. Mit den Franzosen müssen aber in diesem Falle alle westlichen Völker, Holländer,21 Engländer, Amerikaner, zu einer Einheit zusammengefasst werden. M. E. genügt ein ganz geringer Einblick in das — für Franzosen! — klassische Werk Doumergue's auf der einen, und dann in die Arbeiten der deutschen „reformierten" Theologen auf der anderen Seite, also etwa von A. Lang, M. Scheibe oder J. Bohatec, um sofort den fundamentalen Unterschied und Gegensatz der beiden Gruppen zu erkennen. Gerade Scheibe's Untersuchung ist hierfür besonders geeignet. Bei dem Franzosen geht alles in wunderbar leichtem Flusse dahin, ohne Anstoss und ohne besondere Schwierigkeiten, bei dem Deutschen bewegen wir uns dauernd unter tiefgründigen Erwägungen, die oft keinen Ausgang zeigen, 20) Das wird R. Seeberg von Doumergue auch immer bestätigt; cf. besonders die bezeichnende Aeuaserung Bd. IV. p. 123: „son manuel presque classique", nämlich S.'s Dogmengeschichte für die Geschichtsbetrachtung der Lutheraner. — Eine vermittelnde Stellung nahm in den 40er Jahren, wie oben bemerkt, Schneckenburger ein. Vielleicht kann man in etwa Seebergs Stellung mit der seinen vergleichen. Beide sind und bleiben auch in ihrer Grundstellung zu Calvin durchaus Lutheraner. 21) Das lehrt die genannte Arbeit von S. P. Dee besonders deutlich, ebenso aber A. Kuyper und H. Bavinck, Gereformierde Dogmatiek. 1895—1901.



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oft zu einem non liquet führen, das für den Franzosen gar nicht existiert. Und das liegt keineswegs nur an der äusseren Form, obwohl diese gewiss nicht bedeutungslos ist; sondern es liegt an der inneren Verwandtschaft, die zwischen dem französischen — und durch ihn dem westindischen Forscher überhaupt — und seinem Gegenstande besteht. Ich möchte es wagen, zur Verdeutlichung hierzu einen Satz auszusprechen, von dem ich wohl weiss, dass er acuminos gesagt ist und cum grano salis verstanden werden muss, dass auch der reformierte Theologe ihm von vornherein skeptisch gegenübersteht: es g i b t im Grunde keinen deutschen „ C a l v i n i s t e n " . Denn dem Deutschen fehlt ein Grundelement, das Calvin zu dem macht, der er ist: die französische Form im weitesten Sinne. (Nicht ganz so einfach, aber doch ähnlich steht es mit einem entsprechenden Satze, dass es keinen französischen „Lutheraner" gibt.) Von hier aus ergibt sich ein weiterer geschichtlicher Ausblick. Damit, dass im 16. und 17. Jahrhundert französische Kultureinflüsse nach Westdeutschland kamen, konnte auch der Calvinismus — in eigentümlicher Umprägung — dort Eingang finden; und damit, dass in der Tat etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein nicht immer bemerkter, innerlich aber recht starker Einmarsch französischer, verbunden mit englischer Art in Kultur, Wirtschaft und Politik über ganz Deutschland hin stattfindet, hat auch das reformierte Wesen über das ganze lutherische Kirchengebiet eine vermehrte Einwirkung gewonnen. Das ist wohl am stärksten auf den Gebieten von Kirchenrecht und -Verfassung geschehen, aber keineswegs dort allein. Sehr oft war und ist es derart, dass man sich der Art und Herkunft der Dinge gar nicht bewusst geworden ist. Dem innersten Wesen des Deutschen aber entspricht der Calvinismus in seiner eigentlichen Art nicht, Calvin bleibt für ihn eine letztlich nicht völlig komensurable Grösse. Der beste und augenfälligste Beweis hierfür ist die völlige Verschiedenheit der Calvin-Untersuchungen deutscher reformierter Theologen von denen der Franzosen. Nun lässt die eindringende Beobachtung der CalvinForschung erkennen, dass diese zweite Gruppenteilung sich vielfach mit der ersten kreuzt. Daher stammt denn auch manche Unsicherheit. Es wird wiederum unsere Aufgabe sein, den Ausgangspunkt der Scheidung von Deutschen und Franzosen festzustellen, und nachzusehen, wo er in Calvin sich selbst findet.



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Schliesslich ist noch eine d r i t t e Gruppenscheidung zu nennen, die freilich nicht so weitgreifend wie jene ersten, aber doch für die Erkenntnis Calvins von besonderer Bedeutung ist; auch sie liegt wieder mit den beiden ersten in einer gewissen Kreuzung. Sie befindet sich auf lutherischem und deutschem Gebiete selbst und wird durch die Namen A. Ritsehl - F. Loofs auf der einen, W. DiltheyE. Troeltsch auf der anderen Seite bezeichnet. Ihr Problem ist auch wieder die Calvinische Theologie in ihrer Ganzheit; es fasst sich schliesslich in der Frage zusammen, die nichts anderes als eine besondere Ausdrucksform des Problems der Theologie Calvins bildet, nämlich: Haben wir in dieser einen selbständigen Typus vor uns oder nicht? Wir sind an dem berühmtgewordenen Satze von Calvin, als dem „Epigonen der Reformation", von dem nachher noch mehr zu reden sein wird. Hier zeigt sich nun das Wichtige und Bedeutungsvolle, dass zwei lutherische und deutsche Forscher die bisherigen Gruppenbildungen völlig kreuzen und auf Seite der Reformierten und Franzosen treten. Die Frage als solche wird uns später ausführlich beschäftigen; hier soll nur im voraus ein kurzes Wort über die Entstehung dieser Gruppenbildung gesagt werden. Bei Dilthey bin ich zunächst persönlich der Ueberzeugung, dass der Einfluss Schleiermachers offen und latent noch nachwirkt; für Schleiermacher ist mir der reformierte Charakter seiner Theologie in wesentlichen Zügen zweifellos. Doch kommt schon für Dilthey und dann für Troeltsch noch ein anderes hinzu. Dilthey betrachtet die Theologie Calvins nicht zunächst für sich gesondert, sondern von vornherein in dem weiteren Beziehungskreis der gesamten theoretischen und praktischen Gedankenwelt, des ganzen geistigen Lebens und Werkes Calvins und seiner Zeit. Dadurch aber treten die eigentlich theologischen Probleme und Gedanken zurück in eine Reihe mit allgemeinen Geistesinhalten, und es ergibt sich eine veränderte Sachlage. Bei Troeltsch erscheint dann noch im besonderen ein gesteigertes Interesse an den praktischen Weiterführungen der Gedanken in Kirche, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft. Dadurch aber entsteht eine Verschiebung des Schwerpunktes, eine grössere Ausdehnung der Theologie Calvins gegenüber der lutherischen und melanchthonischen, somit gewinnt sie selbst ein anderes Aussehen und andere Ausmasse, und für das Urteil von ihrer selbständigen Wesenheit ist der Boden bereitet. Das ist keine willkürliche Konstruk-



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tion, sondern die Ursache dafür ist bei Calvin selbst gegeben. Es soll hier nur ihr äusseres Zeichen genannt werden: Die Lehre von der Kirche, verbunden mit der vom Staate, nimmt ein gutes Drittel der ganzen institutio Calvins ein, ein Verhältnis, das in einer normalen lutherischen Dogmatik unmöglich wäre. — Dass auch Dilthey und Troeltsch trotz ihres Hinüberneigens auf die reformierte und westländische Seite doch mit ihrer Auffassung nicht durchgedrungen sind, dass sie das Problem der Calvinischen Theologie nicht gelöst, ja nicht richtig aufgestellt haben, und dass sie im letzten Grunde auch durchaus auf der lutherischen Seite stehenbleiben, das zeigt die glatte Ablehnung, die sie trotz allem durch die reformierten und westländischen Theologen — vor allem durch A. Lang und E. Doumergue — erfahren haben, genau so gut wie A. Ritsehl und F. Loofs. Ueber das Problem selbst und die Einzelbegründung dieser Gruppe wird später zu reden sein. 4. Die erklärende U r s a c h e dieses „ A n t a g o n i s m u s " in der Calvin - F o r s c h u n g : Die Bedeutung der F o r m g e s t a l t u n g der Theologie Calvins. Betrachten wir diese verschiedenen Gruppenbildungen unter den Calvin-Forschern, diesen mehrfachen Antagonismus, näher und achten wir auf dessen Entstehungspunkte, so werden wir eben hinter die bisherigen Einzelfragestellungen und Einzelgruppen in die Theologie Calvins selbst geführt. Hier muss doch zuerst die Wurzel gesucht werden, aus der dieser mehrfache Antagonismus der Forscher nicht nur entstehen konnte, sondern geradezu entstehen musste. Nicht der einzelne Forscher mit seinem einzelnen Verständnis, sondern vielmehr der Gegensatz der Forscher selbst muss und kann uns weiterführen. Es muss ein Schlüssel des Verständnisses Calvins gefunden werden in ihm selbst, der n i c h t zu v o r h a n d e n e n „ E r k l ä r u n g e n " seiner Theologie eine neue hinzufügt, die dann selbstverständlich das Schicksal aller bisherigen „Erklärungen" teilen würde, sondern ein solcher, der in i h r s e l b s t u n d a u s i h r s e l b s t h e r a u s d i e E n t s t e h u n g dieser „ E r k l ä r u n g e n " , ihre Notwendigkeit, a b e r auch ihre E i n s e i t i g k e i t begreifen lehrt. Dieser kann aber nicht ein einzelnes inhaltliches Element sein, ein Einzelpunkt der Calvinischen Dogmatik, eine „Zentrallehre" oder „Stammlehre", aus der dann alles



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andere hergeleitet werden könnte. Dass dies ein falscher Weg ist, der nicht weiter führt, sondern bestenfalls an eine der bestehenden Gruppenbildungen ein neues Glied anreiht, ohne doch den Antagonismus aufzuheben, unter Umständen aber noch eine neue Gruppenscheidung herbeiführt und dadurch den ganzen „Antagonismus" noch komplizierter und unentwirrbarer macht, das bestätigte uns unsere Betrachtung der Calvin - Forschung der letzten hundert Jahre aufs deutlichste, ganz besonders eindringlich noch das Schicksal des letzten derartigen Erklärungsversuches von M. Schulze. Wir müssen vielmehr unser Augenmerk auf etwas anderes richten, wo allein das wirkliche Verständnis Calvins gewonnen werden kann, und das ist die Form. Die Form natürlich nicht nur in dem Sinne der äusseren Gewandung, des Stiles, der Anordnung, Einteilung usw., sondern in dem umfassenderen und tieferen Sinne der Verarbeitung sowohl wie der Gestaltung und inneren Formgebung des gesamten theologischen Inhaltes. Wir wollen daher in dieser Arbeit von der „ F o r m g e s t a l t u n g der Theologie Calvins" sprechen: der Ausdruck soll uns die Form in dem eben aufgezeigten, tieferen und umfassenderen Sinne bezeichnen. Hier muss ganz anders und weit mehr als bisher auf Art und Wesen des Franzosen und Lateiners Calvin geachtet werden, in der Form kommt das Wesen des Franzosen und so auch des Franzosen Calvin in ganz anderer Weise zur Erscheinung als bei dem Deutschen. Im letzten Grunde kann dies wohl überhaupt nicht mehr diskursiv beschrieben werden, oder wenigstens reicht unsere bisherige wissenschaftliche Sprache noch nicht aus; es muss unmittelbar erkannt werden. Die beiden Hauptwesenszüge dieser Form sollen aber gleich nachher vorgelegt werden.22 Hier liegt auch der Grund, warum das wirkliche Verständnis Calvins dem Deutschen zunächst wenigstens so schwer ist, wenn er nämlich diese Hauptsache nicht im Auge hat und aus seiner eigenen Wesensart allein heraus sich Calvins bemächtigen zu können glaubt. — Und noch ein A. Lang hat dafür einen Blick gehabt, wenn er (J. Calvin, 1909 p. 72) von der „vorwiegend formalen Begabung" Calvins spricht. Ebenso cf. B. Bess in: Unsere relig. Erzieher, Bd. II. 1908. p. 69. Auch M. Scheibe 1. c. p. 77, sqq. Aber sie alle haben sich doch das Wesen und die Bedeutung dieser Form nicht klar gemacht, k o n n t e n es von ihrem deutschen Standpunkt aus auch wohl zunächst überhaupt nicht.



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anderes wird klar, warum nämlich französische Arbeiten über Calvin, wie die von E. Doumergue, und auch holländische wie etwa von A. Kuyper, trotzdem sie unseren Anforderungen an wissenschaftliche Untersuchung keineswegs immer gerecht werden, sondern oft als unzulänglich bezeichnet werden müssen, 23 warum diese doch, auf das Ganze gesehen, dem Genius ihres Gegenstandes weit eher gerecht werden und in Wahrheit „calvinischer" sind als die wissenschaftlich-methodisch ihnen weit überlegenen Arbeiten deutscher „calvinistischer" Theologen, wie etwa A. Lang's oder M. Scheibe's. Der Westländer lebt eben noch heute, wenn der Ausdruck erlaubt ist, mit Calvin in der gleichen Luft. Er trägt dieses formale Denken und Leben selbst in sich, und so ist für ihn die kongeniale Erfassung Calvins weit eher möglich, wogegen der Deutsche erst auf grossem Umwege dahin gelangen und das letzte Verständnis wohl überhaupt nur annäherungsweise erreichen kann. Dass es für den Franzosen umgekehrt mit Luther ganz analog ist und sein Verständnis aus verschiedenen Gründen noch viel früher aufhört als das deutsche gegenüber Calvin, soll nur nebenbei angemerkt werden. 5. Der e r s t e W e s e n s z u g der F o r m g e s t a l t u n g der Theologie Calvins: der f o r m a l - d i a l e k t i s c h e Rationalismus. Es gilt nun die Wesenszüge dieser Formgestaltung der Theologie Calvins festzustellen, denn damit wird der Weg zu ihrem wahren Verständnis und zu ihrer Erklärung gewonnen. — Der erste, der uns da entgegentritt, ist der Rationalismus der Calvinischen Theologie. Man erschrecke nicht vor diesem Wort, das der besseren Verdeutlichung und der Kürze halber zunächst unentbehrlich erscheint, wenn es auch weiterhin so sehr als möglich vermieden werden soll. Es handelt sich hier keinesfalls um einen materialen Rationalismus, wie den der Stoiker oder der Theologen des 18. Jahrhunderts. Es wäre also durchaus falsch, Calvin einen Rationalisten in dem üblichen Sinne des Wortes, etwa nach Art der spä23 ) Man beachte die unzureichenden Ausführungen Doumergues zur Geschichte der einzelnen dogmatischen Lehren, wo sich oft zeigt, daes er nur aus zweiter oder dritter Hand schöpft, sich auch häufig mit blossen Autorenzitaten begnügt; ferner seine unmittelbare Abhängigkeit von Schneckenburger, z. B. Bd. IV. p. 195 sq.



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teren Aufklärer, zu nennen, der rationale Wahrheiten zum Inhalt seines Systems gemacht habe. Von dieser Auffassung muss man sich zunächst ganz freimachen. Jeder derartige Versuch führt auf einen Abweg, wie oft gesehen worden ist. Sondern hier ist ein rein f o r m a l e r Ration a l i s m u s , der auf den Inhalt der Theologie, auf ihre Prinzipien und ihre einzelnen Lehren dem Inhalte nach gar keinen Einfluss hat. Man könnte den fast paradoxen Ausdruck wagen: Welche Grund- und Binzel-Theologumena Calvin in seiner Dogmatik auch habe, und wenn es auch ganz andere wären, als es tatsächlich sind, ist ganz gleichgültig, er bleibt der Rationalist der Form, nicht des Inhalts. Diese Art von Rationalismus ist der eine Wesenszug seines französisch-formalen Charakters, der sich nun auf beliebige Inhalte erstrecken kann. Der Rationalismus ist die Form, in der seine dogmatischen Inhalte erscheinen, durch die sie untereinander verbunden und in der als Gefäss sie dargestellt und systematisiert werden. Es wird das noch deutlicher werden, wenn wir das Wort Rationalismus näher beschreiben: Wir haben hier die dialektische Form oder auch die formale Dialektik vor uns, die den französischen Geist und die Calvin als einen hervorragenden Repräsentanten dieses französischen Geistes charakterisiert.24 Um die Form handelt es sich, nicht um den Inhalt, das kann nicht oft genug gesagt und betont werden, und diese Form der Theologie ist eine andere, als wir sie etwa bei Luther finden, selbst wenn der jeweilige Inhalt genau der gleiche, weil durch Calvin von Luther übernommen, wäre. Das gleiche Theologumenon bei Luther und Calvin wird doch durch die veränderte formale Gestaltung im einzelnen wie in dem Rahmen des Ganzen bei Calvin etwas anderes, auch wenn am eigentlichen Inhalt gar keine Veränderung vor sich gegangen ist. Es ist das die Form, in der der Franzose Doumergue auch lebt und in der er darum ein ganz unmittelbares Verständnis Calvins entwickeln kann, wogegen die Deutschen Ritsehl und Lang erst auf einem Umwege zu einem vielleicht annähernden Verständnis kommen können, auch wenn sie den Inhalt der Calvinischen Theologie im einzelnen wie im ganzen in ganz anderer Tiefe und Schwere erfassten, als das dem Franzosen Doumergue möglich ist. Diese Form der Dogmatik lässt sich am einfachsten und kürzesten als formal-rationale Dialektik 24) cf. hierzu u. a. besonders G. Lanson, histoire de la littérature française. Paris 1906. p. 259 sqq.

— 15 — oder als Dialektik der Form bezeichnen. Und hier wird der erste entscheidende Schritt zum wirklichen Verständnis Calvins getan. Weil man nicht erkannt hat, dass es, wie überall, so besonders bei dem Franzosen Calvin, gilt, die Form seiner Theologie zu beachten und zu untersuchen, und dass diese Form für seine Theologie in erster Linie wesentlich ist, sondern weil man immer nur auf ihren Inhalt sah und alles inhaltlich betrachtete und wertete, darum konnte man nicht weiter kommen, und die Forschung blieb in ihrem Zwiespalt, in ihrem „Antagonismus" stecken. Die Franzosen konnten die dialektische Form, d. h. diesen Wesenszug der Calvinischen Theologie als Form nicht erkennen, weil sie selbst unmittelbar darin leben, — die Deutschen nicht, weil sie in allem, und so ganz besonders in der Wissenschaft, „inhaltlich" nicht nur denken, sondern leben. Wir werden in der Erkenntnis dieses ersten Wesenszuges der Calvinischen Theologie das eine Hauptwerkzeug haben, Calvin zu verstehen, und das Problem und dann die Probleme der Calvinischen Theologie mindestens insoweit zu erklären, dass deutlich wird, warum der Antagonismus, die Gegnerschaft in der Forschung entstehen muss. 25 25) Aach R. Seeberg hat, wie schon oben bemerkt, in seiner neuesten grossen Darstellung über den „Antagonismus" nicht hinausgeführt und bleibt bei der materialen Auffassung von „Rationalismus" stehen. Er schreibt: „Es ist selbstverständlich, dass Calvin kein Rationalist war". (Dggesch. Bd. IV, 2 p. 637.) Das ist gewiss richtig, wenn an den Rationalismus im üblichen, materialen Sinne gedacht wird. An diesen denkt Seeberg allein, wenn er fortfährt: ,.Es handelt sich hier aber nur darum, ob etwa in dem Aufbau der Calvinischen Gedankenwelt E l e m e n t e vorhanden sind, die für den Rationalismus praedisponieren". Der Ausdruck „Element" deutet doch jedenfalls auf etwas Materiales, Inhaltliches. Ein solches bringt denn Seeberg auch sofort, wenn er w e i t e r s a g t : „Hier ist nun vor allem auf die massgebende Vorstellung der göttlichen Providenz zu verweisen". Von dieser einzelnen Lehre wird später noch ausführlich zu handeln sein. Hier soll nur soviel gesagt werden, dass die Lehre von der Providenz ihrem Inhalte nach, so wie Calvin sie übernommen hat, rein religiös und nichts weniger als material-rationalistisch ist. (cf. auch J . Bohatec, C's Vorsehungslehre, 1. c p. 387: „Die Providenzlehre Calvins ist keine allgemeinreligiöse, sondern trägt einen spezifisch christlichen Charakter".) Rationalistisch dagegen ist die formale Dialektik, durch die sie in das gesamte System eingebaut und mit den einzelnen Teilen verbunden ist d. h. wir haben einen rein formalen, dialektischen Rationalismus. Wenn wir diesen erkannt haben, wird man allerdings dem ersten Satz Seebergs widersprechen müssen. Die Behauptung von rationalistischen Elementen, also einem, wenn auch umfänglich noch so geringen materialen Rationalismus bei Calvin macht sein Verständnis unmöglich. Man kommt über den Antagonismus der Forschung nicht hinaus lind



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Wegen dieses alles umfassenden Wesenszuges der Theologie Calvins würde ich es sogar vorziehen, Calvin eher einen Dialektiker als einen Systematiker, wenigstens aber einen dialektischen Systematiker zu nennen.86 6. Der zweite W e s e n s z u g : Die complexio oppositorum. Mit dieser formal-rationalistischen Dialektik als einem ersten wichtigsten Wesenszuge der Formgestaltung der Calvinischen Theologie hängt ein anderer, der ebenso bedeutsam ist, eng und notwendig zusammen. J. Bohatec hat Calvin den „Theologen der Diagonale" genannt.27 In analogem Sinne spricht E. Doumergue von dem Vertreter des „juste milieu" 28 und P. Wernle von ihm als dem „besonnenen Manne des Mittelweges, der er als Denker sein will".29 Das Bild von dem „Theologen der Diagonale", das die zieht sich sofort die in diesem Falle unvermeidliche Gegnerschaft aller „Calvinistischen" Theologen zu, wie es die Beurteilung der 1. Auflage von Seebergs Werk gezeigt hat. Der Rationalismus ist bei Calvin reine Form und gar nicht inhaltlich. In diesem Sinne ist Calvin keineswegs und nirgends Rationalist, in jenem ist er es von Anfang bis zum Ende Erwähnt soll hier noch werden, dass Fuchs in seinem Werk „Der Geist der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft" München 1914, p. 9 in einer Darstellung der Weber'schen Thesen von dem .strengen Rationalismus" Calvins und seiner Epigonen spricht. Er scheint manchmal dem richtigen Verständnis ganz nahe zu kommen, bleibt aber im Grunde doch bei der materialen Bestimmung des Rationalismus. 26) Ich möchte hier doch eine bedeutsame Aeusserung Schleiermachers hersetzen, in der er sich über seine eigene systematische Arbeit ausspricht: „Meine systematische Kunst, wenn ich mich einer rühmen kann in der Dogmatik, hängt aber mit Prinzipien und Doktrinen in diesem Sinne gar nicht zusammen, sondern ist nur ganz einfach das Geschick, solche Teilungsformeln aufzufinden, dass man dadurch eine Ueberzeugung von der Vollständigkeit der Darstellung gewinnt, und dass man, wenn nicht unmittelbar, doch mittelbar von jedem dogmatischen Satze auf das durch ihn repräsentierte unmittelbare Selbstbewusstsein zurückgeführt wird" (W. W. I, 2 p. 626). Hier ist selbstverständlich nicht Calvins theologische Methode beschrieben — Schleiermachers eigene auch nur zu einem sehr geringen Teile —, aber der Satz wirft dpch auf das oben Gesagte ein eigentümliches Licht. 27) Bohatec, in „Calvin-Studien", 1909, p. 353. 28) E. Doumergue, J. Calvin. Bd. IV, 1910, p. 319 u. ö. 29) P. Wernle, Calvin, 1919, p. 280, 282.



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anderen ja nur in einer anderen Form ausdrücken, ist wohl unter dem Eindruck einer richtigen Empfindung entstanden, aber es trifft das Richtige schliesslich doch nicht. Das zeigt gerade die Untersuchung von Bohatec. Denn dies Bild von der Diagonale deutet auch wieder auf etwas Materiales, Inhaltliches. Und weiter auf eine künstliche inhaltliche Einheitsbildung, eine systematische Vereinheitlichungskonstruktion innerhalb der Calvinischen Theologie. So hat es in der Tat auch Bohatec gemeint, wenn er sein Resultat dahin zusammenfasst: „Die Praedestinationslehre ist die Zentrallehre Calvins, aber nicht im Sinne des dogmatischen Ausgangsprinzips. Demgegenüber kann die Vorsehungslehre als Stammlehre bezeichnet werden. . . ."30, und wenn er am Schluss Calvin mit starken Worten als den „Theologen der Einheit" preist. 31 Gerade eben dies ist, sobald wir es auf den Inhalt der Calvinischen Theologie beziehen, ganz sicher falsch. Das hat der Streit der Konfessionen und das hat die theologische Arbeit der letzten hundert Jahre ganz deutlich gezeigt. Denn wenn Calvin tatsächlich der „Theologe der Diagonale", der Theologe einer Einheit im inhaltlichen Verstände wäre, dann müsste es zweifellos gelungen sein, über diese materiale Diagonale, dies m ateríale Einheitsprinzip, zur Klarheit und zum allgemeinen Einverständnis zu kommen, auch wenn ein Teil diesem Prinzip sachlich zugestimmt, ein anderer Teil es abgelehnt hätte. Das würde ja für die historische Untersuchung nichts besagt haben. Daraus aber, dass es eben nicht gelungen ist, diese Diagonale zu finden, sich über dies Einheitsprinzip zu verständigen, dass vielmehr eine Gruppe von Forschern dieses, eine andere jenes, wieder eine andere zwei oder drei Einheitsprinzipien, Zentral- und Grundlehren Calvins festgestellt und oft mit recht guten Gründen verteidigt haben, und dass diese Gruppen sich auch wieder vielfach kreuzen, wird ganz klar: Diese Betrachtungsweise geht in die Irre, Calvin ist nicht der „Theologe der Diagonale", der ein materiales Einheitsprinzip hat, woraus dann alle Einzelheiten der Dogmatik abgeleitet werden können. Es bewährt sich viemehr auch hier der vorher gefasste Grundgedanke, dass die Formgestaltung der Calvinischen Theologie zu allererst zu beachten ist, dass von ihr aus das wirkliche Verständnis dieser Theologie gewonnen wird, 30) Bohatec, 1. c. p. 414. 31) ibid. p. 440. Bauke: Probleme.

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dass man darin ein Mittel hat, über den Streit um das materiale Einheitsprinzip der Theologie Calvins hinwegzukommen, hinter den Antagonismus in der Forschung zurückzufassen. Und der zweite Wesenszug dieser Form der Calvinischen Theologie, der uns in dem entgegentritt, was die oben genannten Forscher fälschlich als „Diagonale", als „juste milieu", also als etwas Materiales gedeutet haben, ist das In-sich-Begreifen, das Zusammenfassen aller einzelnen dogmatischen Lehren, wie sie durch die allgemein christliche und reformatorische Tradition gegeben waren, auch das Zusammenfassen des Gegensätzlichen und dadurch sein Neutralisieren bis zu einem gewissen Grade, die Verbindung des gesamten dogmatischen Stoffes zu einem dialektisch systematisierten Ganzen. A. Harnack hat einmal die römische Kirche die „complexio oppositorum" genannt. 82 Der Verlauf meiner Untersuchungen hat mir gezeigt, dass diese Bezeichnung, wenn sie richtig als ein Formbegriff verstanden wird, genau das Wesen der Formgestaltung der Calvinischen Theologie nach einer zweiten Richtung hin beschreibt und uns zum wirklichen Verständnis der Calvinischen Theologie führt. Es handelt sich also hier keineswegs, wie ausdrücklich betont werden soll, um die öfters gehörte Meinung, der Calvinismus sei ein Rückfall in den Katholizismus — ob und wieweit dies Urteil berechtigt ist oder nicht, kann hier nicht erörtert werden; es wird darüber später noch ein Wort zu sagen sein. (Harnack meinte diese Bezeichnung auch gar nicht so sehr als Charakterisierung für die römische Lehre, als vielmehr hauptsächlich für die Stellungnahme und Arbeit des Katholizismus in Kirche und Welt.) Aber eben um eine formale Bestimmung handelt es sich. Und als formale Bestimmung ist dies für die Theologie Calvins unbedingt konstitutiv: complexio oppositorum. Er ist in seiner Dogmatik der Zusammenfasser aller Einzelheiten, auch der Gegensätze. Er sucht nicht eine Diagonale, eine Stammlehre oder eine Zentrallehre oder ein materiales Grundprinzip, aus dem sich dann alle einzelnen dogmatischen Lehren heraus deduzieren, ableiten und entwickeln Hessen, sondern er verbindet vielmehr alle vorhandenen einzelnen dogmatischen Lehren zu einem systematischen Gesamtzusammenhang, und auch gerade solche, die metaphysisch oder logisch unter Umständen zu einander in Gegensatz stehen.88 Seine theologische Arbeit ist nicht so sehr unter 32) cf. jetzt auch A. von Harnack, Marcion. 1921. p. 5 sqq. 33) Hier kann besonders auf seine Sündenlehre verwiesen werden.



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dem Bilde eines mittleren Richtweges quer durch ein Gelände hindurch anzusehen, von dem aus dann alle einzelnen Geländepunkte bestimmt und beobachtet, aber damit zum Teil auch abgetrennt werden, als vielmehr unter dem einer alles Stück für Stück abmessenden und dann das Ganze zusammen genauestens berechnenden Landesaufnahme zu begreifen. Er sucht nicht so sehr einen Mittelweg zwischen zwei Extremen dogmatischer Erkenntnis, also sozusagen eine inhaltlich neue Lehre zu bilden; er ist vielmehr der complexor oppositorum, er stellt alle Gegebenheiten, alle vorliegenden Einzelelemente, auch die Gegensatzpunkte in sein System ein und verbindet sie miteinander. Für die Verbindung der einzelnen dogmatischen Elemente, für die complexio der opposita dient ihm wiederum seine formale Dialektik: die dialektische Vermittlung zwischen den einzelnen Punkten der Dogmatik, der formale Rationallsmus, der als Form eben auch imstande ist, dialektische Verbindungen zwischen Extremen und Gegensätzen herzustellen. So hängen diese beiden Wesenszüge der Calvinischen Theologie zusammen, sie bilden beide ihre Formgestaltung, nicht etwas irgendwie Materiales. Und gerade der zweite Wesenszug erklärt ganz besonders deutlich die Geschichte der Calvin-Forschung und ihre Antagonismen. Auch hier ist das Beispiel M. Schulzes wieder charakteristisch: er zieht ganz richtig ein wichtiges extremes Element der Theologie Calvins in das Licht einer besonderen Untersuchung; indem er aber dies zum materialen Grundprinzip erhebt, gerät er auf einen völligen Abweg. Er übersieht dabei gänzlich, dass Calvin das oppositum, eine Ekklesiologie, Politik und Ethik mit genau entsprechendem Akzent hat, und wie er die beiden opposita nicht von einander abhängig macht, sondern rationaldialektisch mit einander verbindet. Das wird sich des Näheren noch später ausweisen. 7. Der d r i t t e W e s e n s z u g : der Biblizismus. Schon hier soll um des Zusammenhanges und der Vollständigkeit willen der dritte Wesenszug der Theologie Calvins genannt werden, über den freilich erst an späterer Stelle ausführlich zu verhandeln sein wird: es ist Calvins Biblizismus. Wie den Rationalismus, so hat man auch den Biblizismus als ein materiales Element seiner Theologie bezeichnet. Und das ist hier insofern natürlich richtig, als Stoffe 2*



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aus der Bibel Materien, Inhalte seiner Theologie bilden. Damit ist aber der entscheidende Punkt noch nicht getroffen. Denn das gilt in grösserem oder geringerem Grade schliesslich von jedem christlichen Theologen; in jeder christlichen Dogmatik finden sich Gedanken, religiöse, dogmatische, ethische Konzeptionen aus der Bibel als Stoffelemente. Um hier die Eigenart der Formgestaltung der Calvinischen Theologie zu verstehen, wird es nötig, eine neue Unterscheidung einzuführen, und zwar zwischen materialem und formalem Biblizismus.81 Unter materialem Biblizismus verstehen wir das, was wir eben beschrieben: die tatsächliche Uebernahme biblischer Stoffelemente in die Dogmatik. Unter formalem Biblizismus aber ist ein Formgestaltungsgesetz der Dogmatik zu verstehen: das P r i n z i p , nach dem g r u n d s ä t z l i c h die Dogmatik eine Darlegung biblischer Stoffe sein soll. Um das Prinzip, um das Formgesetz handelt es sich hier, und darum ist der formale Biblizismus logisch etwas durchaus anderes, als jener materiale Biblizismus, und geht grundsätzlich weit über ihn hinaus; auch wenn es tatsächlich durchaus denkbar ist, und auch oft vorkommt, dass ein bloss „materialer" Biblizist biblischen Stoff in grösserer Menge oder in treuerer Reproduktion bringt als ein „formaler". — .Vom Gesichtspunkte dieser Unterscheidung angesehen ist Calvin — so gewiss man ihn auch als materialen Biblizisten ansprechen muss — eben in erster Linie formaler Biblizist: der Biblizismus ist ein F o r m g e s e t z seiner Theologie und das muss zuerst erkannt werden, wenn sein Biblizismus, wenn die Formgestaltung seiner Theologie verstanden werden soll. Nicht auf die biblischen Einzelelemente in seiner Dogmatik, erst recht nicht auf den Biblizismus als sogenanntes Materialprinzip35 kommt es hier an, sondern auf das Gesetz der Form, nach dem diese Dogmatik aufgebaut werden sollte, wobei es eine Frage zweiter Ordnung ist, wieweit dies Formgesetz immer befolgt worden ist, ja ob es überhaupt befolgt werden konnte. 34) Die Unterscheidung ist von mir gebildet worden in Analogie zu der zwischen materialer und formaler Häresie. 35) cf. unten p. 26, 45.

II. Kapitel.

Die Probleme der Grundlegung der Theologie Calvins. 1. Die m a t e r i a l e n Prinzipien. Die Erkenntnisse, welche sich uns aus der bisherigen Untersuchung der Calvin-Forschung und deren Verhältnis zu Calvin selbst ergaben, müssen sich jetzt in der weiteren Betrachtung der Calvinischen Theologie bewähren, sie bilden uns aber gleichzeitig die Wegleitung, an der entlang wir das Problem und die Probleme der Theologie Calvins erfassen und erörtern können. Dabei muss ausdrücklich im voraus bemerkt werden, dass es sich für uns n i c h t um eine aus den Quellen erhobene G e s a m t d a r s t e l l u n g der Calvinischen Theologie handelt.36 Vielmehr sollen auf Grund der vorliegenden Forschung das Problem und die Probleme der T h e o l o g i e Calvins geschichtlich festgestellt, und ihre Bedeutung und der Weg zu ihrer Lösung aufgezeigt werden. Das Erste, was die Calvin-Forschung von Anfang an beschäftigt hat, ist die Frage nach den materialen Prinzipien, den materialen Grundlagen der Theologie Calvins. Bei der Erörterung dieses Problems zeigt sich uns sofort die Richtigkeit dessen, was wir oben im allgemeinen aus der Uebersicht über die Calvin-Forschung entnommen haben. Welches ist die Grundlage, das Urprinzip der Calvinischen Theologie, aus der man alles andere ableiten könne? Von Schleiermacher an haben alle, die sich damit beschäftigten, nach dieser Springwurzel gesucht, die die Tür zum Eindringen in das System öffnen sollte. Jedesmal, wenn ein Forscher eine solche gefunden zu haben meinte, durch 36) Das erwähnte Werk Doumergues ist wohl eine Gesamtdarstellung, aber doch keine eigentliche „Theologie Calvins", wie wir sie brauchen. In deutscher Sprache haben wir vor kurzem das hervorragende Werk von P. Wernle, Der evangelische Glaube nach den Haupt8chriften der Reformatoren. Bd. III. Calvin. Tübingen 1919, bekommen, das eine in ihrer Art vollkommene Beschreibung der R e l i g i o n Calvins, aber auch keine eigentliche „Theologie Calvins" ist.



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die er hineinkäme, erklärten ihm andere, dass sie damit nichts anzufangen vermöchten, und empfahlen eine andere, die dann auch alsbald das Schicksal der ersten teilte. Von vornherein war das symbolische, um nicht zu sagen polemische Interesse massgebend. Schweizer, Baur und Schneckenburger wollten den Unterschied und Gegensatz des lutherischen und reformierten Systems darstellen, und unter diesem Gesichtspunkt suchten sie nach dem Prinzip der Calvinischen Theologie. Ihnen, ihren Zeitgenossen und auch ihren Nachfolgern stand es fest, dass die Theologie Calvins ein einziges und einheitliches Prinzip habe, aus dem das ganze System deduktiv abzuleiten sei. Dass dabei die allgemein-geistige Struktur des Zeitalters, das seit der Aufklärung auf einen systematischen Monismus hinsteuerte, der seine theologische Vollendung in Schleiermacher, seine philosophische in Fichte - Schelling - Hegel erreicht hatte, auf diese symbolischen Forschungen entscheidend eingewirkt hat, ist zweifellos; die unmittelbare Abhängigkeit Schweizers von Schleiermacher und Baurs von Hegel beweist es mit unbedingter Sicherheit. W e l c h e s aber ist das Grundprinzip der Calvinischen Theologie? Darüber ergaben sich fast soviel Meinungen, als Forscher da waren. Schweizer nahm ein theologisches Prinzip an, die gloria Dei, allerdings mit subjektiver Wendung der Abhängigkeit von Gott.37 Baur stimmte dem durchaus zu, nur dass er nun von seinem lutherischen Gesichtspunkte aus eine bestimmte inhaltliche Gottesidee auch ganz objektiv als Materialprinzip setzte.88 Hierauf folgt Schneckenburger mit seinem zwischen beiden Parteien vermittelnden Standpunkt. 39 Bs ist gewiss, dass er sich Schweizer mehr nähert und versucht, zwischen der objektiven und subjektiven Wendung des Verhältnisses zu Gott eine Vereinigung herzustellen; er hat sicher eine feine Beobachtungsfähigkeit, vor allem hat er einen sehr guten Sinn für die eigentümliche Bestimmtheit von Frömmigkeitstypen, aber auch er sucht eben nach einer Art „Diagonale". Wieder in ganz scharf geschnittener Vereinseitigung sieht z. B. G. Frank als „das materiale Prinzip des Calvinischen Systems, welches überall durchschlägt, das ,aeternum et 37) Glaubenslehre der ev. ref. Kirche. Bd. I. p. 40 sqq., 135 sqq. 38) Theol. Jahrbücher 1847—48. 39) Theol. Jahrbücher 1848. — Theol. Stud. u. Krit. 1848.



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immutabile Dei decretum'" an.40 H. Heppe setzt als Prinzip des Calvinismus eine rein theozentrische Schöpfungsund Erlösungsidee.41 Man kann durch die ganze symbolische Literatur diese Versuche, e i n Materialprinzip der Theologie Calvins herauszustellen, verfolgen. Allerdings werden sie im Laufe der Zeit immer unklarer, weil doch die psychologische Betrachtungsweise stärker einsetzt, und dann von den Symbolikern Theologie und Frömmigkeit nicht mehr klar genug begrifflich geschieden werden: man sieht eben doch die Fülle der Erscheinungen, kann sich aber von dem Lieblingsgedanken des e i n e n Prinzips nicht freimachen. Dafür ist zuletzt besonders charakteristisch E.F.K. Müller, welcher sagt: „Der zentrale G e d a n k e reformierter F r ö m m i g k e i t ist die Ehre Gottes, nicht in dem Sinne, dass Zwingli und Calvin mit vollem Bewusstsein ein theologisches System aus diesem obersten Gesichtspunkte entworfen hätten, wohl aber so, dass dieser Gedanke ihr ganzes Sinnen beherrscht, der Mensch ist zur Ehre Gottes geschaffen . . .*'42 Bei diesen und anderen Aeusserungen derselben Zeit und Art muss man sich klar machen, dass es eigentlich Symboliker sind, welche reden, dass die Untersuchung der Theologie Calvins nur ein Mittel zum Zweck ist, um den reformierten Lehrtypus feststellen zu können. Wie aber vor allem Schneckenburgers Beispiel zeigt, machten sich doch auch schon damals polemische Zweifel an der Einheitlichkeit der Prinzipien geltend. Trotzdem blieb man dann auch in der eigentlich historischen Calvin-Forschung, die sich allmählich aus der symbolischen Arbeit heraus entwickelte, wenn sie auch, wie schon erwähnt, bis zum heutigen Tage sich nicht völlig von ihr freigemacht hat, zunächst durchaus dabei, das Einheitsprinzip der Theologie Calvins weiterhin zu suchen und sicherzustellen. F. W. Kampschulte, der, wie F. Kattenbusch an E. Doumergue schrieb, auf Jahrzehnte hinaus die deutsche Calvin-Forschung überaus stark beherrscht und ungünstig beeinflusst hat, 43 hat es als Erster in grossem Umfange durchgesetzt, die Prädestinationslehre als Materialprinzip der Calvinischen Theologie 40) Geschichte der protest. Theologie. Bd. I. 1862 p. 81. 41) Dogmatik des deutschen Protestantismus im 16. Jahrhundert 1857. Bd. I. p. 155. 42) Symbolik. 1896 p. 445. 43) Doumergue Bd. IV. p. 421.



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anzusehen,44 und man darf wohl sagen, dass diese seine Auffassung bis auf den heutigen Tag im besonderen in der nichtwissenschaftlichen Welt, wie es Kattenbusch von ihm im allgemeinen sagt, eine Art kanonischen Ansehens geniesst. Für Kampschulte erstand aber wenigstens in dieser Auffassung schon zur gleichen Zeit der Gegner in A. Ritsehl, der erklärt, dass die Prädestinationslehre keineswegs die Stammlehre oder der prinzipielle Gedanke der Theologie Calvins sei, vielmehr nur ein Anhängsel der Lehre von der Erlösung.45 Ritsehl selbst geht nun aber — obgleich er sich darüber nie direkt so deutlich ausspricht — wieder in den alten Weg der Auffassung von der Einheitlichkeit und Einlinigkeit der Calvinischen Theologie zurück; man wird sagen dürfen, dass er an diesem Punkte ganz mit Baur übereinstimmt und eine objektive Gottesidee als Prinzip der Theologie Calvins herausstellt, dem die Abzweckung der gesamten Religion auf die Ehre Gottes sozusagen als die innerliche, frömmigkeitsbildende Seite entspricht.46 Diese Stellungnahme hat sich bei den von Rltschl beeinflussten Historikern bis auf den heutigen Tag erhalten; man wird doch den Satz K. Holl's in der gleichen Weise zu verstehen haben: „Die Bedeutung von Calvin's theologischer Arbeit beruht eben auf der Energie, mit der er die Gottesidee in den Mittelpunkt gezogen hat. Jedes Einzelproblem mündet bei Calvin in den Gottesbegriff. Die Deutung einer Paradoxie gilt ihm dann erst als abgeschlossen, wenn die Tatsache von Gott aus verstanden ist".47 Allein P. Loofs, soweit er sich im historischen Zusammenhange seiner Dogmengeschichte mit dieser Frage beschäftigt hat, scheint hier andere Bahnen zu weisen, 48 und ebenso der im wesentlichen der Calvin-Beurteilung freilich auch zu den von Ritsehl beeinflussten Theologen gehörende R. Seeberg.49 44) J. Calvin. Bd. I. 1869. p. 263: „Die Lehre von der göttlichen Vorher bestimmnng ist der Grundgedanke, welcher das Calvinische System beherrscht. Man darf sagen: von ihr wird Calvins Lehrgebäude in allen seinen Teilen getragen, von ihr empfängt es Charakter und Farbe . . ." Er polemisiert ausdrücklich gegen den Versuch Bungneers (Calvin, sein Leben, sein Wirken und seine Schriften, p. 65), die Prädestinationslehre in dem System Calvins nur als ein Anhängsel erscheinen zu lassen. 45) Geschichte des Pietismus. Bd. I. 1880. p. 134. — Studien zur christlichen Lehre von Gott. Ges. Aufs. N. F. 1896. p. 94. 46) ibid. p. 94 sqq. Dazu cf. Rechtfert. u. Versöhn. Bd. I, 8 p. 228. 47) Johannes Calvin. 1909. p. 8. 48) D o g m e n g e s c h i c h t e 1 9 0 6 p, 876 sqq. 49) Dgg. IV.ä, p. 551 sqq.

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Besonders beachtenswert ist aber noch, dass der Philosoph, der in anderer Beziehung geradezu als der Antipode A. Ritschis und seiner Schule bezeichnet werden kann, und von dem ja auch Troeltsch mit seiner ganz anders weiterführenden Auffassung in erheblichem Masse abhängig ist, nämlich W. Dilthey, doch in dieser Hinsicht mit der älteren, von Ritsehl übernommenen Meinung übereinstimmt, wenn er sagt: „Der geniale konstruktive Ausdruck der Calvinischen Religiosität ist, dass die Lehre vom Menschen keinen Hauptteil der institutio bildet, sondern, da Gottes Wirken den ganzen Gegenstand der religiösen Anschauung bildet, in allen Teilen von dem dominierenden Verhältnis zu ihm aus zur Darstellung gelangt . . . Diese systematische Entwicklung des ganzen religiösen Stoffes aus dem Wirken Gottes auf den Menschen, nach dem in seinem Ratschluss enthaltenen Zusammenhang seiner Punktionen, ist der einzige echte architektonische Gedanke, welcher aus dem unermesslichen Bücherhaufen protestantischer Dogmatik bis auf Calixt, wie er den Boden von einundeinhalb Jahrhunderten bedeckt, dem kritischen Forscher entgegentritt." 60 Eine Veränderung ist an diesem Punkte eigentlich erst eingetreten, als die neuere kirchenhistorische Forschung, vor allem auf reformierter Seite, sich mit Calvin allein, für sich genommen, zu beschäftigen begonnen hat. Zuerst hat besonders deutlich M. Scheibe gegen A. Schweizer51 und E. F. K. Müller62 bestritten, dass die Prädestinationslehre — auch in ihrer besonderen Beziehung auf den Gottesbegriff — d e r Ausgangspunkt und d a s Materialprinzip der Dogmatik Calvins sei. Er stellt der Prädestinationslehre die Lehren vom Werke Christi und von der Rechtfertigung als gleichwertige Grundprinzipien zur Seite.53 Demgegenüber hat dann J. Bohatec behauptet, dass dadurch Calvins System unharmonisch und zerrissen erscheine.54 Er hat das aber sachlich nicht bewiesen und seinerseits die Providenzlehre als Stamm- und die Prädestinationslehre als Zentrallehre aufgestellt. 55 An anderer Stelle56 50) Die Glaubenslehre der Reformatoren, Preuss. Jahrb. 1894. p. 80. 51) A. Schweizer, Centraidogmen. Bd. I. p. 57. 52) E. F. K. Müller, Symbolik. 1896. p. 431. 479. 53) M. Scheibe, Calvins Prädestinationslehre. 1897. p. 91 sqq., 99 sqq , 103. 54) J. Bohatec, in: Calvin-Studien 1909 p. 408. 55) ibid. p. 414. 56) idem, Die Methode der reformierten Dogmatik. Th. St. K. 1908. p. 286.



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setzt doch aber auch er noch andere Prinzipien daneben, wenn auch nicht besonders deutlich. Dann hat A. Lang wiederum z w e i Zentren oder Materialprinzipien der Theologie Calvins angenommen: 57 die Prädestinationslehre und die Rechtfertigungslehre, beide durch Bucers Vorarbeit beeinflusst. Er hat auch deutlich erkannt, dass es Calvin nicht gelungen ist, eine wirkliche s y s t e m a t i s c h e Vereinigung beider Prinzipien herzustellen.58 Lang hat später wiederholt von diesen „zwei Brennpunkten" der Calvinischen Theologie gesprochen,59 hat allerdings auch bisweilen den Biblizismus Calvins als neues Materialprinzip eingeführt. 60 P. Loofs beschäftigt sich mit der Calvinischen Theologie allein nicht, aber eben, indem er ihren einzelnen Bestandteilen in ihren dogmenhistorischen Zusammenhängen nachgeht, wird deutlich, dass er ein einheitliches materiales Grundprinzip nicht mehr annimmt. 61 Bei R. Seeberg ist es trotz seiner neuerdings wesentlich ausführlicheren glänzenden Darstellung der Lehre Calvins insofern nicht anders, als er die Frage nach dem Materialprinzip an sich nicht eingehend behandelt.82 In diesen Zusammenhang 63 gehören am Ende auch noch die besonderen Gedanken M. Schulzes.64' 65 Zu erwähnen ist dann noch an dieser Stelle die Arbeit W. Lüttges über Calvins Rechtfertigungslehre, 66 weil sich an diese eine ausführliche Diskussion in der dann folgenden grossen Monographie E. Doumergues angeschlossen hat. Lüttge spricht von „Spannungen" und „Widersprüchen", die in Calvins Rechtfertigungslehre erkennbar werden, sich aber von da aus durch sein ganzes System hindurchziehen. So kommt er auch auf eine „Hauptspannung 57) A. Lang, Der Evangelienkommentar M. Bucers. 1909. p. 6,365. 58) ibid, p. 365: „je mehr man jedoch zu der Anerkennung sich genötigt sieht, dass die Theologie Calvins zwei für ihn religiös gleichwertige Zentren besitzt, das prädestinatianische und das in der Heilslehre wurzelnde . . 59) A. Lang, Rechtfertigung und Heiligung nach Calvin, Gütersloh 1911, p. 28. 60) id. J. Calvin. 1909 p. 74. 61) F. Loofs 1. c. 62) E. Seeberg 1. c. 63) cf. oben p. 4. 64) cf. dazu Loofs, 1. c. p. 879. — W. Lüttge, Calvins Rechtfertigungslehre 1909 p. 108. 65) cf., dagegen besonders A. Lang, Neuere Calvin-Literatur, in: Reform. Kirchenzeitung 1902 p. 34 sqq. 66) Berlin 1909.



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zwischen dem Gottesbegriff und der Gnadenerfahrung." 67 Er versucht weiter, den Gedanken M. Schulzes möglichst gerecht zu werden.68 In der eben erwähnten Auseinandersetzung hat E. Doumergue 69 ganz richtig empfunden, wenn er es auch wiederum nicht so ausdrücken kann, dass hier Lüttge sich in echt deutscher Weise in den Tiefen religiöser Methaphysik bewegt, dass er aber über die französische dialektische Klarheit Calvins, in der auch er, Doumergue, selbst lebt, einfach hinwegsieht, weil er sie gar nicht sehen kann. Die schweren Spannungen und Widersprüche, mit denen der Deutsche überhaupt und also auch in der Betrachtung der Calvinischen Theologie ringt, sind für den Franzosen gar nicht vorhanden. Er erkennt aber auch sofort, dass bei dem Deutschen die Klarheit des formal-rationalen „distinguo" fehlt, dass in der Tat bei Lüttge — wie auch bei andern — Theologie, Dogmatik und Frömmigkeit durcheinander gehen. Der für Doumergues französische, „calvinistische" Darstellung unbedingt bezeichnende Absatz ist dieser: „On ne saurait mieux dire (wie Lüttge 1. c. p. 107/108) et nous sommes a b s o l u m e n t d'accord. Seulement ce que M. Lüttge dit de la piété de Calvin, nous le disons de sa pensée ellemême, qui embrasse sa doctrine comme sa piété, son intelligence comme son coeur. Il y a une vie de la pensée comme une vie de la piété. Et cette vie combine et fond dans une unité réelle les éléments, qui nous paraissent contradictoires. Oui, la pensée de Calvin est une ellipse avec deux foyers. Et ce sont ces deux foyers, aussi distincts, qu'inséparables, foyer d'intelligence, et foyer de sensibilité, foyer des faits externes et foyer des expériences internes, ce sont ces deux foyers dont les feux combinés constituent la flamme même du calvinisme, la flamme qui éclaire, réchauffe, et ne se dévore pas. Supprimer un des deux foyers, c'est éteindre la flamme".70 Hier spricht seinerseits der französische Orator, der das ganze Problem an sich in seinen letzten Tiefen gar nicht erfasst hat, — der aber allerdings darauf mit einem gewissen Recht hinweisen kann, dass Calvin ebenfalls ein französischer Orator war. Sehen wir gleich Doumergues Werk noch weiter darauf hin an, was er als das Materialprinzip der Calvinischen 67) 68) 69) 70)

W. Lüttge 1. c. p. 78 sq. ibid. p. 108. E. Doumergue 1. c. p. 263—279. E. Doumergue 1. c. p. 279.



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Dogmatik annimmt, so finden wir, dass er auch nach alter reformierter Tradition in der gloria Dei, in der souveraineté de Dieu erkennt „le dogme calviniste fondamental", 71 daneben hat aber doch auch die Heilslehre, wie die eben angezogene Diskussion mit Lüttge beweist, ihren festen selbständigen Platz. Vor allem aber ist weiter zu beobachten, dass Doumergue die einzelnen Hauptpunkte der Dogmatik einfach nebeneinander stellt; ich glaube, dass er hier instinktiv etwas Richtiges fühlt, wenn er es auch nicht ausdrücklich erfasst und dem innersten Wesen der Calvinischen Theologie in seiner Darstellung wenigstens nicht gerecht wird. Man kann sagen, dass er eine Ahnung von der Mehrzahl der Materialprinzipien Calvin hat, dass er aber nun doch sich eben um die tieferen Fragen nicht kümmert. Bezeichnend für Doumergues formale Methode, in der er über Calvin noch hinausgeht, scheint mir dann weiter zu sein, dass er sich stellenweise einfach gar nicht mehr an den Gang der institutio Calvins hält, obwohl er doch im allgemeinen genau dem folgt: so bringt er die Rechtfertigungslehre vor der meditatio futurae vitae 72 und die Eschatologie vor der Prädestination. 73 Das ist sowohl beachtenswert für Calvins Theologie wie für Doumergues Arbeitsmethode. Man kann nicht sagen, dass Calvin dadurch vergewaltigt werde. Aber man kann ebenso wenig sagen, dass Doumergue Calvin bis zum letzten verstehe und ihm gerecht werde, wie ja auch die oben zitierte Stelle deutlich zeigt. Er erfasst das Problem des Materialprinzips oder der Materialprinzipien im Grunde überhaupt nicht. Die einfache Einsetzung von „pensée elle-même" für „piété" spielt stark in eine material-rationalistische Religionsauffassung hinüber, und mit der etwas kurzgeschnittenen Behauptung, dass es „intelligence et coeur" gebe, ist weder das Gebiet der Religion, noch die Theologie Calvins wirklich umschrieben; hier muss auch gerade Calvin gegenüber eine viel tiefere und reichere Religionsauffassung einsetzen. Dass in der letzten grossen Monographie über Calvin von P. Wernle, eine ausgebreitete theologische Kenntnis und Arbeit zu Grunde liegt, ist zweifellos, auch wenn sie sich ihrer eigentlichen Absicht nach mit den speziell theologischen Problemen nicht beschäftigt. Ich meine 71) E. Doumergue 1. c. p. 361. 72) E. Doumergue p. 263 sqq; 288 sqq. 73) ibid. p. 342 sqq; 351 sqq.



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persönlich, dass Wernle zu denen gehört, die dem religiösen und theologischen Genius Calvins mit gerechtester und bester Würdigung gegenüberstehen. An das uns beschäftigende Problem des Materialprinzipes der Calvinischen Theologie ist aber eben Wernle auch nicht herangegangen. Er bezeichnet Calvin an einer Stelle als „schroffen Dualisten",74 rühmt dann wieder, dass er eine universale, harmonische Seite habe, 75 um alsbald danach wieder von ihm als in der Luft des kirchlichen Dualismus stehend zu reden.76 Diese Aeusserungen, wie auch andere,77 zeigen doch, dass er unserer Frage nicht weiter nachgegangen ist, zeigen auch die ganze Unsicherheit der Lage, in der wir uns bis auf den heutigen Tag befinden. Besonders erwähnenswert erscheint mir allerdings noch seine ausdrückliche Warnung vor jeder einseitigen Systematisierung Calvins, die er bei der Darstellung der Prädestinationslehre ausspricht; 78 hier verwirft er alle schematisierenden Betrachtungen gerade von der rein religiösen Behandlung und Bewertung aus, die er Calvin angedeihen lässt. Ueberblickt man so die Calvin - Forschung an diesem fundamentalen Punkte — wobei wir, wie ersichtlich, keine absolute Vollständigkeit anstrebten, sondern nur das wirklich Wertvolle und Fördernde herauszuarbeiten uns bemühten, — so wird man sich des Eindrucks einer grossen Unklarheit nicht erwehren können. Die Erwägungen unseres vorigen Kapitels werden uns ermöglichen, diese Unklarheit wenigstens grundsätzlich zu überwinden. Dabei ist dann noch ein Allgemeines zunächst zu bemerken. Während die ältere Calvin-Forschung ganz im Banne des symbolisch-polemischen Interesses stand, und von hier aus im wesentlichen die Marschrichtung für ihre Arbeit empfing, trat für die letzte Generation allmählich ein anderer massgebender Faktor in den Vordergrund. Unter dem Einflüsse der allgemeinen religionswissenschaftlichen, religionsgeschichtlichen und religionspsychologischen Bewegung in der Theologie begann man auch bei Calvin sich wesentlich mit seiner Frömmigkeit, dem inneren Korrelat seiner Theologie, mit 74) 75) 76) 77) „Calvins 78)

P. Wernle 1. c. p. 183. ibid. ibid. p. 186. Schon früher sagt Wernle in seiner Calvin-Rede 1909, p. 200: Denken hat tatsächlich mehr als einen Mittelpunkt." P. Wernle, 1. c. p. 300 sq.



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der persönlichen Seite seiner Religion zu beschäftigen. Das erste besonders deutliche Beispiel für die völlige Veränderung der ganzen Forschungsrichtung sind wieder die mehrfach erwähnten Arbeiten M. Schulzes; später macht sich diese dann besonders bemerkbar in den Untersuchungen J. Bohatecs und W. Lüttges. Dass die eingehende Erforschung der Frömmigkeit Calvins ein dringendes Erfordernis ist, welches von Doumergue keineswegs erfüllt worden ist, und wofür wir in Wernles Buch ausgezeichnete Vorarbeit und Anweisungen haben, und dass jede neue umfassende Darstellung der Theologie Calvins auch eine ausführliche Behandlung seiner Frömmigkeit bririgen muss, ist ganz selbstverständlich. Für die Aufhellung der Probleme der Theologie Calvins aber ist es zunächst unbedingt erforderlich, dass jede unklare Vermischung peinlich vermieden wird. Die historische Erforschung der Theologie Calvins muss sich vorerst genau an diese Aufgabe halten und darf nicht — wie das besonders M. Schulze und W. Lüttge getan haben — von vornherein sich mit innerpsychologischen Fragen bei Calvin befassen. Dass man das doch immer wieder getan hat, dass man sich meist nicht klar und einseitig genug nur an die theologischen, also gedankenmässigen, lehrhaften Ausprägungen Calvins gehalten hat, das hat wesentlich mit beigetragen zu der Unklarheit der Lage der Forschung und zu der Unmöglichkeit, auf klare Fragen klare Antworten zu erhalten. Und gerade bei Calvin ist die Sachlage grundsätzlich meines Erachtens nicht so schwer wie bei manchem anderen, denn er ist und bleibt immer Theologe, ganz gleich, ob man ihm in der Institutio, in den Katechismen, in den Kommentaren oder in den Predigten nachgeht. 79 Aber die vorbezeichnete Lage hat es, wie ja auch unsere Uebersicht zeigt, mit sich gebracht, dass man von der neueren Forschung die Frage nach dem oder den Materialprinzipien der Calvinischen Theologie nicht klar aufgestellt findet, geschweige denn eine klare Antwort darauf erhält. Wir gehen nun mit den im vorigen Kapitel hergestellten Richtmitteln an unser Problem heran, mit den beiden Hauptgrundzügen der Formgestaltung der Calvinischen Theologie, dann wird uns am Ende der Uebersicht über 79) Damit ist natürlich nichts darüber oder dagegen gesagt, dass er nicht zugleich auch immer der fromme, religiöse Mann und Prophet sei — wie er ja auch unter gewissem Gesichtswinkel betrachtet immer nnd überall der Kirchenmann und Organisator ist.



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die bisherige Behandlung des Problems sofort klar, dass alle die im Unrecht sind, die da meinen, Calvins Theologie aus einem einheitlichen materialen Grundprinzip deduktiv ableiten zu können.83 Calvin war eben nicht systematischer Theologe in demselben Sinne und derselben Art wie Schleiermacher. Der hat in der Tat ein absolut einheitliches Materialprinzip der Theologie in seiner Religionsdefinition, in der alles zur materialen Einheit zusammengeschweisst ist, und aus der sich das ganze System — soweit das von einem menschlichen Lehrgebäude überhaupt bis heute möglich erscheint — ableiten lässt. Aber gerade darin ist Schleiermacher, wie hier nicht weiter erörtert werden kann, wesentlich von der lutherischen Tradition abhängig; und das ist der Grundfehler A. Schweizers, dass er um seiner historischen wie dogmatischen Gesamtkonzeption willen Schleiermachers ganzes System material wie formal in Calvin oder doch mindestens in den genuinen Calvinismus hineingeheimnist hat. Dass diese Auffassung von dem einen Materialprinzip irrig ist, ist unbedingt deutlich, und die neuere Forschung hat sie ja auch im allgemeinen aufgegeben. Aber wir kommen auch nicht weiter, wenn nun statt dessen das berühmte Gleichnis von der Ellipse mit den zwei Brennpunkten vielfach angenommen ist, wenn überhaupt sozusagen religionsmetaphysische Materialprinzipien gesucht werden, aus denen sich das ganze System systematischdeduktiv ableiten lässt. Die im vorigen Kapitel herausgestellten Grundsätze führen uns hier in der Tat weiter. Die Theologie Calvins hat überhaupt kein Materialprinzip, wie das Schleiermacher hat oder etwa auch Origenes oder Thomas Aquinas, auch nicht mehrere in der Art. Denn sie ist kein spekulatives System — das Wort im weitesten Sinne genommen. Sie hat vielmehr einzelne, mehrere Elemente, Bestandteile und darunter auch „opposita", die nebeneinander stehen und durch die grosse formal-dialektische Kunst Calvins zu einer Einheit verbunden sind. Diese Einheit ist eine flächenhafte, nicht eine dynamische, wie das dem formal-rationalen Geiste ihres Urhebers und seiner nationalen und besonderen Eigenart entspricht. Natürlich ragen einzelne Spitzen heraus entsprechend ihrer dogmatischen beziehungsweise ihrer religiösen Wichtigkeit; man kann auch so sagen: selbstverständlich haben 80) cf. oben p. 22 über den Einfluss der monistischen Tendenz des Schelling - Hegeischen Zeitalters.



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einzelne Elemente ebendaher einen stärkeren Akzent als andere. Sowie man aber eine von diesen Spitzen, eines dieser Elemente zur alleinigen Hauptsache, zum Ausgangspunkte macht, ergibt sich sofort ein falsches Bild, man wird dem Ganzen der Theologie Calvins nicht mehr gerecht. Diese Lage der Dinge ist oft geahnt worden, aber man kam nie wirklich an sie heran. So schrieb schon A. Lang im Jahre 1900 von zwei bei Calvin deutlich zu unterscheidenden „ G e d a n k e n k r e i s e n " : „auf der einen Seite das, was man das lutherische Erbgut in Calvins System nennen dürfte: die Lehre von der Busse und Rechtfertigung, die Sakramentsauffassung, wenigstens in der Hauptsache, und andere Lehren (!); aber demgegenüber steht die Prädestination, der in der gloria Dei gipfelnde Gottesbegriff, die von Luther abweichende Schriftbetrachtung, die Lehre von der Kirche."81 Wäre der Ausdruck „Gedankenkreise" weiter aufgelöst worden, so wäre man auf das Richtige gekommen, denn jeder Gedankenkreis umfasst doch völlig disparate Elemente, die gar nicht auseinander ableitbar sind, so vor allem im zweiten der Gottesbegriff der zweifellos ein materiales Prinzip darstellt, neben dem Biblizismus Calvins, den wir als einen Zug der Formgestaltung erkannt haben. 82 Lang selbst scheint später auf diesem Wege nicht weiter gegangen zu sein, sondern ist fortgeschritten in der verengenden Betrachtung von den „zwei Brennpunkten". In Wahrheit ist aber die Entstehung, wie das innere Wesen der Calvinischen Theologie so vorzustellen, dass hier einfach Element um Element nebeneinander gestellt sind, und fast jeder locus der Dogmatik mit seinem Gegenstück als ein einzelnes Materialprinzip — wir sagen nun besser: als ein G r u n d e l e m e n t der D o g m a t i k — anzusehen ist.88 Die einzelnen Grundelemente der Dogmatik stehen nebeneinander und sind dialektisch miteinander verbunden,84 nicht aber deduktiv von einem oder zwei Grundprinzipien abgeleitet.85 81) A. Lang, Der Evangelienkommentar M. Butzers p. 365. 82) cf. oben p. 19 sq. 83) Dafür ist die Darstellung Doumergues besonders lehrreich. 84) Dabei soll natürlich nicht bestritten werden, dass es einzelne Elemente und Elementengruppen gibt, die untereinander in besonderen, systematischen Verbindungen stehen. Das hat seine Wurzeln in der gemein - christlichen Ueberlieferung; hier für die Beschreibung des Charakteristischen der Dogmatik Calvins kommt es nicht in Betracht. 85) Nähere Aufklärung hierzu gibt die Behandlung des Biblizismus. cf. unten p. 44 sqq.



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Diese f ü r d a s V e r s t ä n d n i s C a l v i n s g r u n d l e g e n d e E r k e n n t n i s hat sich uns sowohl aus derUebersicht über die Calvin-Forschung als aus der Untersuchung Calvins selbst ergeben. Der Anfang der Institutio ist, wenn richtig verstanden, höchst bezeichnend und lehrreich: „tota fere sapientia nostrae summa, quae vera demum ac solida sapientia censeri debeat, duabus partibus constat, Dei cognitione et nostri." Zwei doch zunächst durchaus koordinierte und voneinander unabhängige materiale Elemente stehen am Anfange; mit ihnen wird nun im ersten Kapitel eine dialektische Behandlung vorgenommen, durch die diesen beiden „opposita" zu einer formalen Einheit verbunden werden, aber nicht zur wirklich „metaphysischen" Einheit. Und die neuen Absätze der Dogmatik setzen dann wieder ganz neu ein. Diese Beobachtung ist durch die ganze institutio hindurch zu verfolgen. Und noch an etwas anderes, überaus Wichtiges ist zu erinnern: Calvin spricht selbst von den koordinierten materialen Grundelementen seiner Theologie. Es muss hier vorher aber zum Verständnis eine besondere Beobachtung aus den alten Dogmatikern methodischer Art herangezogen werden. Es gilt, wie bei anderen Dogmatikern, so auch bei Calvin ganz besonders, auf sozusagen verborgene Stellen und Aeusserungen zu achten. Wir finden z. B. die Gedanken der orthodoxen lutherischen Dogmatiker über ihr ethisches Ideal gar nicht so sicher in ihrer Behandlung etwa des Dekalogs, sondern sie sprechen sich darüber viel offener und gewissermassen naiver in der Urstandslehre aus. (Etwas Aehnliches gilt u. a. auch für Schleiermacher.) Es ist mit Calvin nicht anders. So gibt die Prädestinationslehre wichtige Aufschlüsse über seinen Gottesbegriff sowohl88 wie über seine Christologie; 87 die Busslehre über seine Psychologie;88 besonders interessanten Einblick in die ganze Struktur und Art seiner Arbeit, gerade seiner theologischen Arbeit, erhalten wir z. B. auch in seiner Staatslehre.89 In unserem Zusammenhange ist nun von besonderer, ja ausschlaggebender Wichtigkeit das Kapitel über die Aehnlichkeit des Alten und Neuen Testamentes. Da erklärt sich Calvin, wenn man so sagen darf, per accidens 86) Op. Calv. I. p. 871. 87) Institutio 1559. III, 22,7. 88) Op. Calv. I. p. 723 sqq. 89) Ich erinnere an ein charakteristisches Zitat Calvins: Solon ohne weiteres neben der Bibel. Op. Calv. I. p. 233. B a u k e : Probleme.

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über materiale Grundprinzipien oder Hauptelemente seiner Theologie in folgendem Satz: „Primum ut teneamus, non carnalem opulentiam ac felicitatem metam fuisse Judaeis propositam, ad quam demum aspirarent, sed in spem immortalitatis fuisse cooptatos, atque huius adoptionis revelationem illis fuisse tum oraculis, tum lege, tum prophetiis certo commendatum. D e i n d e foedus, quo conciliati Domino fuerunt nullis eorum meritis, sed sola Dei vocantis misericordia fuisse suffultum. Tertium, et habuisse ipsos, et cognovisse mediatorem Christum, per quem et Deo coniungerentur et promissionum eius compotes forent. Ex quibus s e c u n d u m n o t i s s i m u m e s s e nobis debet." 90 In diesen drei Punkten sieht Calvin die Aehnlichkeit zwischen Altem und Neuem Testament, erkennt er die Elemente, welche beide zur Einheit verbinden. Jedem, der von Calvin nur eine ungefähre Vorstellung hat, ist ohne weiteres deutlich, dass er hier wichtigste Prinzipien, Grundelemente nennen muss. Und es sind ja doch wesentlichste Dinge: die Unsterblichkeitshoffnung, der Gnadenbund auf Grund der Rechtfertigung, die Christologie. Das sind eben „Materialprinzipien", Grundelemente der Calvinischen Theologie, die bei ihrer Darstellung und Erklärung wohl festzuhalten sind. Wollte man aber nun von hier aus die ganze Theologie Calvins „erklären", so würde man wieder auf einen Irrweg kommen. Denn Calvin hat eben, wie allgemein bekannt ist, noch andere Grundelemente, also z. B. die schon genannten cognitio Del und cognitio nostrl, die sich doch nicht aus diesen dreien ableiten lassen, die aber wohl dialektisch mit ihnen — wie mit anderen — verbunden sind. Unsere Erörterung über die Materialprinzipien ist damit zu Ende. Sie sollte das Problem aufstellen, und den Weg zu seiner Lösung aufzeigen. Es wird, wie schon angedeutet, die Aufgabe der weiteren Forschung der Calvinischen Theologie sein, die einzelnen Elemente genau zu bestimmen, auf ihre Herkunft zu untersuchen 91 und ihren dialektischem Zusammenhange festzustellen; also vor allem auch die Arbeit A. Längs fortzusetzen. Dabei wird dann noch besonders genau festgestellt werden müssen, was Calvin von Luthers Schriften gelesen und wieviel er aus diesen wahrscheinlich übernommen hat. In solcher Arbeit muss man dann aber 90) Op. Calv. I. p. 802. cf. ed. 1559. II, 10,2. 91) Hier ist auch ein besonders guter Anfang in der Arbeit von Ö. Beyerhaus gemacht worden.



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auch mit voreiligen Herkunftsbestimmungen sehr vorsichtig sein. Das Ganze aber muss unter den von uns aufgestellten Gesichtspunkten betrachtet und dargestellt werden. 2. Die formalen Grundlagen. Von gleicher Wichtigkeit wie die Betrachtung der materialen Prinzipien der Calvinischen Theologie ist die Untersuchung ihrer formalen Grundlagen. Es handelt sich da um eine ganze Reihe bedeutsamer Fragen, die zum Teil ihrer Lösung noch gar nicht entgegengeführt werden können, weil die Vorarbeiten noch nicht geleistet sind. So ist vor allem die Psychologie und die Religionspsychologie Calvins eingehend zu untersuchen, und zwar aus ihrer Entstehung aus der scholastischen und humanistischen Psychologie heraus. Dabei wird dann die besonders wichtige Frage der Art und des Umfanges der Abhängigkeit von der Scholastik und von dem Humanismus in Psychologie, auch in Erkenntnistheorie und schliesslich in dogmatischer Methode genauestens zu erforschen sein, wozu wir bisher noch kaum Ansätze haben.92 Hier werden weiter auch eingehende Feststellungen nötig und möglich werden über das Verhältnis von Religion bezw. Frömmigkeit und Theologie bei Calvin.93 a) Das Verhältnis von Theologie und Philosophie. Wir haben uns jetzt mit dem im Rahmen der Theologie Calvins unmittelbar selbst auftretenden Fragen zu beschäftigen. Da ist die erste die nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie. Bei ihr tritt uns denn in der bisherigen Calvin-Forschung auch sofort wieder der Antagonismus in seiner ganzen Schärfe entgegen. Und zwar bewegt er sich hier auf der einen Linie: Ist Calvin ein „philosophischer" Theologe oder nicht? ist sein dogmatisches System das Ergebnis einer philosophischen Spekulation oder zum mindesten doch seinem wesentlichen Inhalt nach auf solche gegründet und von ihr erfüllt, oder haben wir ein rein religiöses Lehrgebäude vor uns? Eine ergänzende Frage, um die sich die Forschung bemüht hat und die von unserer Untersuchung mit berührt wird, die aber doch schon nicht mehr rein und klar dogmatisch 92) cf. J. Bohatec, Die Methode der ref. Dogmatik. Th. St. K. 1908; auch in: Calvin-Studien p. 409. 93) cf. E. Doumergue Bd. IV. p. 21 sqq., keineswegs zureichend.

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ist, sondern in das Gebiet der Religionspsychologie hinüberspielt, ist die: Ist Calvin als Erfahrungstheologe oder als spekulativer Theologe anzusehen? Die Scheidung der Forschergruppen ist an diesem Punkte ganz besonders klar und deutlich. Die einen erklären Calvin für einen Metaphysiker und Intellektualisten, die anderen lehnen auch jeden philosophischen Einschlag bei Calvin ab. Die beiden Gruppen verteilen sich ganz einfach auf die Konfessionen, jenes ist die Annahme der Lutheraner von Baur an, am schärfsten hervorgehoben durch Ritsehl,94 dieses die Auffassung der Reformierten, am energischsten behauptet von Doumergue 95 und Lang.96 Ein einziger bildet hier den Uebergang, und das ist der, dessen Sonderstellung schon oben charakterisiert wurde, nämlich Dilthey. Seine Haltung, die hier ganz auf die reformierte Seite hinüberschlägt, lässt uns das da vorliegende Problem ganz besonders deutlich erkennen. Er formuliert so, dass er Calvin den philosophischen Geist überhaupt abspricht und behauptet, dass Calvin jede, auch formale Hilfe der Philosophie, abgelehnt habe.97 Hat er damit Recht oder nicht? Für die Beantwortung dieser wiederum zum Verständnis Calvins höchst wichtigen Frage leisten uns die von uns festgestellten Grundsätze von neuem die besten Dienste. Die Antwort ist eigentlich in dem Bisherigen schon enthalten. Es handelt sich hier nur darum, unsere aufgefundenen Methoden anzuwenden und sie aus Calvin selbst zu erhärten. Dieselbe Erwägung, welche uns schon vorher bei der Untersuchung des Materialprinzips leitete, führt uns auch hier weiter. Wenn Calvin wirklich seine Dogmatik auf ein bestimmtes philosophisches System aufgebaut hätte, dann müsste es doch gelingen, diesen philosophischen Inhalt allmählich näher und eindeutig zu bestimmen. Aber gerade darin ist man nicht weiter gekommen, und der dauernde scharfe Widerspruch sämtlicher reformierter Forscher, zu denen sich Dilthey hinzugesellt, sollte doch zum mindesten zu grösster Vorsicht gemahnt haben. Auf der anderen Seite indessen ist es aber nicht so leicht zu nehmen, wie die Reformierten es tun 98 , dass die Be94) A. Ritsehl, Geschichte des Pietismus Bd. I. p. 90 u. ö. 95) E. Doumergue 1. c. Bd. IV. p. 21 sq. u. ö. p. 430. 440. 96) A. Lang, Joh. Calvin p. 63, 69 u. ö. — Besonderes verdanke ich hier noch persönlicher Aussprache. 97) W. W. Bd. II. p. 235 sq. 98) cf. vor allem Doumergue 1. c.



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hauptung von Calvin, als dem Intellektualisten, dem Philosophen, nicht verstummen will. Uns löst sich aber dieser Antagonismus, dieser Widerspruch, ganz einfach. Es ist zweifellos, dass Dilthey — mit ihm die Reformierten — Recht hat In Rücksicht auf das Materiale der Theologie Calvins. Calvin war kein Philosophenschüler, noch weniger Philosoph in deutschem Verstände. Darin irren die Lutheraner und die deutschen Forscher, soweit sie sich damit beschäftigt haben und auf dieser Bahn gehen, sämtlich völlig.99 Er hat kein philosophisches System, keine spekulativen Prinzipien und geht nicht metaphysischen Problemen nach. Man verbaut sich sofort sein Verständnis, wenn man ihn als Philosophen mit philosophischem Grundprinzip und philosophischen Problemen annimmt.100 Dann müsste sein System ganz anders aussehen, es müsste eine ganz andere Einheitlichkeit vorhanden sein, und vor allem auch ganz andere Probleme, wie z. B. das der Theodicee, zur Verhandlung kommen. Am deutlichsten wird das an dem Punkt, um den sich ja schon immer der Kampf abgespielt hat, und worüber wenigstens kurz hier schon berichtet werden muss, bei der Prädestinationslehre. J. Bohatec, der doch gewiss nicht für die Auffassung von Calvin als dem spekulativen Philosophen eintritt, sagt an einer Stelle: „Calvin dachte in Regionen, wo den Meisten das Denken vergeht." 101 Das ist nach unseren Feststellungen, so wie es hier ausgedrückt und gemeint ist, nicht richtig. Im Gegenteil, Bohatec widerspricht ja dem auch selbst durch seine — von uns freilich als unzulänglich erkannte — Bezeichnung Calvins als des Theologen der „Diagonale". Die gemina 99) Dilthey ist hier die einzige bedeutsame Ausnahme. Ganz scharf bleibt er auch nicht immer auf seiner Linie, aber doch im allgemeinen hält er sie richtig inne. Seine Charakteristik ist wichtig: „ein denkmächtiger, aber unschöpferischer Kopf" (1. c. p. 74). Ebenso W. W. Bd. II. p. 236: .Alle philosophischen Richtlinien, die Zwingli zum Zweck der Erklärung gezogen hatte, sind in Calvins Institutio ausgelöscht. Und so findet sich doch diese Dogmatik überall auf die Unerkennbarkeit ihres letzten Zusammenhangs, auf das Mysterium, oder was dasselbe ist, auf die scotistische Willkür in Gott und die Verurteilung der menschlichen Neugier zurückgeworfen. Dieses hätte einen philosophischen Geist zum Problem der menschlichen Erkenntnis von den höchsten Dingen hinführen müssen". 100) Troeltsch stellt richtig fest, dass es für Calvin ein Theodiceeproblem nicht gibt. (W. W. Bd.I. p. 617 ; Kultur der Gegenwart. Bd. IV. 1907. p. 308). Er verknüpft damit gleich ein Werturteil, was hier in der historischen Untersuchung natürlich nicht ausgesprochen werden darf. 101) Bohatec in: Calvin - Studien p. 379. Seeberg scheint dem zuzustimmen. Dg. IY 2, p. 576.



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praedestinatio bedeutet auf keinen Fall eine Erklärung, etwa gar noch metaphysischer Art, der betreffenden Probleme; sie ist vielmehr der prinzipielle Verzicht auf jede Erklärung und die Beruhigung bei einfacher Feststellung und dialektischer Verknüpfung der vorliegenden Tatsachen. Hier muss der Deutsche und der Lutheraner — in diesem Falle auch Bohatec — sich völlig anders einstellen, wenn er Calvin wirklich verstehen will.102 Wir werden später bei der Behandlung einzelner Lehren der Calvinischen Theologie dies noch ganz deutlich erkennen; es ist aber schon nach dem Bisherigen unbedingt klar. Die einzelnen Elemente der Calvinischen Dogmatik sind übernommenes, religiöses Gut, Calvin selbst ist kein spekulativer Philosoph, auch kein spekulativer Dogmatiker, er hat mit Fichte und Hegel, aber auch mit Biedermann oder Lipsius nichts gemein. Ganz anders aber ist die Sachlage, wenn wir uns die Formgestaltung der Calvinischen Theologie ansehen. Da herrscht in der Tat eine Methode, die eben, wie wir schon sagten, als rational-dialektisch, d. h. doch aber als philosophisch, bezeichnet werden muss. Wir haben hier über die formal-philosophische Methode nichts weiter zu sagen, es ist uns unbedingt deutlich, dass sie es ist, die den Deutschen und den Lutheranern stets den Eindruck der »philosophischen", „spekulativen" Art der Calvinischen Theologie erweckte. Es rächt sich hier das Fehlen einer pünktlichen Unterscheidung der beiden Begriffspaare 102) Eine Nebenbemerkung soll an dieser Stelle eingeschaltet werden. Es ist eine interessante und wichtige Beobachtung, welche Rolle das .Geheimnis" — mysterium, arcanum, absconditum, labyrinthus, le secret usw. — in der Theologie und in der Frömmigkeit Calvins spielt. Diese Rolle ist viel grösser und bedeutsamer, als m. E. bei Luther. Ich notiere nur ein paar wichtige Stellen: Op. Calv. I p. 293 (gleich am Anfang der ed. 1530): Sic enim c o g i t a n d u m est: fulgorem divini vultus, quem et apostolus inaccessum vocat (I. Tim. 6,16), esse nobis instar i n e x p l i c a b i l i s l a b y r i n t h i , nisi verbi linea in ipsum dirigamur! — Op. I. p. 802, 805: Mysterium sublimius. — Op. I. p. 861. — Op. I. p. 862. Nihil arcani Deo relictura. — Inst. I, 17, 2 Abyssus. — Op. XXII p. 46. Le grand secret du conseil de Dieu. — Man verleiche hierzu was Doumergue (Bd. IV. p. 385—387) sagt, wo er die teilen Calvins gegen die Assimilation, d. h. gegen den materialen Rationalismus anführt. Das ist einerseits durchaus richtig, es fasst aber die Sache eben wieder nicht ganz. Denn gerade mit seiner Auffassung vom „Geheimnis" bleibt Calvin selbst durchaus in formalem Rationalismus. Er steht nicht als homo religiosus vor dem „Geheimnis", der gerade darüber eine Offenbarung Gottes erwartet und empfängt, sondern rational: sein logisch-dialektischer Verstand kann es niaht fassen.

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rational und dialektisch auf der einen, intellektualistisch und metaphysisch auf der anderen Seite. Das ist aber schliesslich der Unterschied und Gegensatz der beiden geistigen Arbeitsarten, der westlichen und der deutschen, überhaupt. Und nur einer genauen Betrachtung der beiden Geistesarten wird dieser Unterschied, und dann dadurch das wirkliche Verständnis Calvins deutlich. Hier zeigt sich denn auch der Irrtum Diltheys, der wohl in dem ersten Teil seines Satzes recht gesehen hat, aber dann sich durch seine eigene Geistesart zu falscher Konsequenz hat verleiten lassen. Gegenüber Dilthey ist an den Aufsatz von Brunetiere hier zu erinnern, der als Franzose wohl etwas verstand von dieser besonderen Art der Calvinischen Methode, aber doch wieder in die eigentliche Struktur der Sache nicht eindrang, auch als Katholik (trotz etwa vorhandener Verbindung mit der Scholastik) nicht eindringen konnte. Immerhin lebt eben er auch in dieser formalen Geistesart.103 Schliesslich soll noch eines neuesten Forschers gedacht werden, der im Zusammenhang seiner im ganzen alles rationalisierenden Geschichtsmethode etwas von dem formal - rationalen Charakter der Calvinischen Theologie wohl erkannt, freilich dann durch seine sofortige Systematisierung und Schematisierung das eigentlich geschichtliche Verständnis Calvins doch nicht gefördert hat, nämlich 0. Spengler's.104 An diesem Punkte stehen nun vor der Calvin-Forschung die wichtigsten Aufgaben. Diese formale Methode, diese Abhängigkeit Calvins von der Philosophie in formaler Beziehung bedarf genauester Untersuchung und Aufhellung. Wir sehen hier noch sehr wenig von den Zusammenhängen der Umwelt und Vor weit Calvins, in der er aufgewachsen, durch die er gebildet und beeinflusst worden ist. b) Erfahrungstheologie und spekulative Theologie. Nur eine Modifikation des gleichen Problems ist die Frage, die dann noch ausgesprochen werden muss, nämlich: Ist Calvin als Erfahrungstheologe oder als spekulativer Theologe anzusehen? Während für die erste Form des Problems uns der erste Grundsatz der Formgestaltung der Calvinischen Theologie, die rationale Dialektik wegweisend 103) F. Brunetiere, Das Werk Calvins. Chr. "W. 1902. — Dagegen haben sich gewandt: J. Bohatec, in: Calvin-Studien p. 425. 430. E. Doumergue, 1. c. Bd. III. p. 553—563. 104) 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Bd. I. p. 197.

— 40 — war, müssen wir uns hier an den anderen, an die complexio oppositorum erinnern. Es ist ganz falsch, Calvin immer wieder vor ein aut-aut zu stellen, wie wir das schon gesehen haben.105 Es ist an dieser Stelle nicht anders. Wenn beides richtig verstanden wird, so ist von Calvin auch beides auszusagen. Calvin ist sowohl Erfahrungstheologe, als auch nun freilich nicht spekulativer Theologe im deutschen, im metaphysischen Sinne, wohl aber formal-dialektischer Theologe, der die ihm zukommenden Inhalte mit den Mitteln seiner f o r m a l e n Philosophie bearbeitet. Auf jener Seite haben die reformierten Theologen, die das sämtlich betonen, durchaus recht, auf dieser Seite liegt der Grund und die Berechtigung der Lutheraner für ihre Meinung von dem philosophischen Charakter der Calvinischen Theologie. Beide haben recht in dem, was sie behaupten, und unrecht in dem, was sie ablehnen. Es ist nicht weiter unsere Aufgabe, diesen Dingen im einzelnen der Calvinischen Theologie nachzugehen, dazu sind eben die Vorarbeiten noch nicht getan. Nur ein paar besonders charakteristische Sätze aus Calvin, die unsere Grundthese unbedingt sicher machen, sollen hier noch herangezogen werden. Es kann nicht verkannt werden, dass Calvin sich immer wieder und überall gegen die spekulative Philosophie als Grundlegung der Theologie wendet. Das muss jedem Leser der Gotteslehre im Anfang wie der Prädestinationslehre im dritten Buch der Institutio klar werden, wenn anders er nicht von vornherein mit einer vorgefassten Meinung an Calvin herantritt. Gerade Institutio I, 17,2 gibt eine besonders scharfe Auseinandersetzung mit den dogmatischen, materialen Rationalisten der Zeit. Wir erinnern weiter nur an den eigentümlichen Gebrauch des Wortes „philosophia" an der Stelle: „Haec quidem secreta est absconditaque philosophia, et quae syllogismis erui non potest: sed scilicet eam perdiscunt, quibus oculos aperuit Deus, ut in suo lumine lumen videant."106 Das ist nicht die Sprache eines spekulierenden Philosophen,107 aber es 105) Auch Wernle hat schon richtig erkannt, dass man an Calvin nieht immer wieder mit der Entscheidungsfrage entweder — oder herantreten solle (1. c. p. 226). 106) Institutio III, 20,1. 107) Dass diese Stelle — wie allen anderen ähnlichen — auf eine formal-rationale Auffassung der Religion hindeutet, d h. dass Calvins R e l i g i o n s p s y c h o l o g i e einen inteüektualistischen, besser gesagt, einen rationalen Einschlag hat, soll hier nurwieder nebenbei gegen Doumergue, 1. c. p. 329, angemerkt werden.



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lässt sich freilich auch verstehen, wie diese Stelle und ihre Sprache in dieser Richtung missdeutet werden konnte. Charakteristische Stellen befinden sich auch bei der Prädestinationslehre.108 Ferner aber scheint mir besonders wichtig die Polemik gegen die Philosophie bei der Behandlung der Auferstehung und Unsterblichkeit.109 Gerade aus der Eschatologie soll die Philosophie auf jeden Fall ausgeschlossen werden. Vor allem ist in diesem Zusammenhang dann noch die scharfe Ablehnung zu beobachten, die Calvin immer wieder den ethischen Folgerungen der rationalistischen, spekulativen Philosophie zuteil werden lässt, nämlich dem Stoizismus.110 Das ist nicht zu verstehen, wenn Calvin mit ihren metaphysischen Prinzipien überein käme. Auf der anderen Seite haben wir aber überall die deutlichsten direkten und indirekten Zeugnisse für die Abhängigkeit Calvins von der Philosophie in formaler Beziehung. Das kann ja auch wohl bei seiner humanistischen und juristischen Bildung111 und bei seiner ganzen Geistesart nicht anders sein. Da, wo Calvin gegen die Philosophen meint polemisieren zu müssen, gesteht er doch ein, dass er ihre formalen Methoden übernommen hat.114 Und nun sehe man zu, wie er sie handhabt, wie seine ganze Denkund Arbeitsweise unter dem Einflüsse solcher formallogisch - rationalen Geistesart und -Schulung steht. Es 108) Institutio III, 21,4. 109) ibid. III, 25, 3; Op. Calv. I. p. 680. 110) Hier ist die Hauptstelle Op. Calv. I. p. 1140 sqq. = Inst. III, 8 , 9 s q q : gegen Uebermenschentum. 111) cf. hierzu vor allem das schon erwähnte Buch von Beyerhaus. — Calvin kommt immer wieder zu juristischen Formeln; das Ziel der vita christiana: amor justititae et sanctitas (III, 6, 2), erscheint mir auch dann charakteristisch, wenn man den alttestamentlichen Einschlag nicht vergisst. 112) Op. Calv.I. p. 1123: „Mihi abunde erit, s i m e t h o d u m ostendero, qua vir pius ad rectum constituendae vitae scopum deducatur; ac regulam quandam universalem breviter finiero, ad quam officia sua non male exigat. Declamationibus suum aliquando forte tempus erit; praesentis autem operis ratio postulat, u t simplicem doctrinam, quanta licebit brevitate, perstringamus. Quemadmodum autem certos recti et honesti fines habent philosophi, unde particularia officia, totumque virtutum chorum deducunt, ita nec ordine suo caret in hoc scriptura; quam pulcherrimam oeconomiam tenet, ac philosophicis omnibus multo certiorem. Hoc tantum interest, quod illi ut erant ambitiosi homines, exquisitem dispositionis perspicuitatem, qua ingenii dexteritatem ostentarent, sedulo affectarunt, spiritus vero Dei, quia sine affectatione docebat, non ita exacte, nec perpetuo methodicam rationem observavit; quam tarnen dum alicubi ponit, satis innuit, non esse a nobis negligendam": — ausserordentlich bedeutsam!



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handelt sich ja hier nicht um einzelne Stellen, die das besonders zeigen,11* sondern besonders um die Form, in die das ganze Lebenswerk Calvins gegossen ist, seine Institutio und seine übrigen Schriften, aber ebenso das praktische Werk seiner Kirchengründung. Das lässt sich, wie schon gezeigt, strikte nachweisen an den einzelnen Belegstellen, es muss aber auch vor allem im Ganzen erfasst werden. Ich möchte vermuten, dass uns Calvin in seinen Auseinandersetzungen darum oft so geradezu „modern", moderner als andere Männer des 16. Jahrhunderts anmutet, — wobei für mich „modern" keineswegs ein Werturteil bedeutet, — weil er in seiner Darstellungsart diese formale Methode befolgt, zu der wir jetzt durch lange Beeinflussung seitens der lateinisch-westländischen Dialektik auch gekommen sind. Wir sahen, dass mit diesem Problemkomplex zusammenhängt die Frage, ob Calvin als Erfahrungstheologe oder nicht anzusehen sei. Diese muss von dem Formprinzip der complexio oppositorum aus betrachtet werden. Auch hierfür haben wir die Fülle der Beweise bei Calvin selbst, an denen man auf keinen Fall vorbeikommt. Die Worte experientia und usus sind bei ihm überaus häufig; 114 ich führe hier nur eine besonders bezeichnende Stelle der editio von 1539 an: „Non est haec evanida speculatio (sc. die Sündenverknechtung des Menschen) cuius in vitam usus non veniat, sed e m p i r i c a , ut ita loquar, doctrina, et cuius certissimum e x p e r i m e n t u m sentire nos opportet, si filii Dei sumus."116 Ganz von tiefster christlicher Erfahrung durchdrungen ist vor allem auch die Behandlung des Gebets,116 und in gleicher Weise zeigt die Ethik ihre sichere Basierung auf dem Grunde der Erfahrung. 117 Auch hier können alle einzelnen Lehren den Beweis liefern, 113) Hier soll vor allem an die formal-logische Behandlung der Rechtfertigungslehre erinnert werden: Op. C. I. p. 766sqq = III, 14, 17. Sehr wichtig ist auch die peinlich genaue Anwendung des „distinguo", so z. B. I, 18, 3, 4, ferner op. Calv. I. p. 228, 897 u. ö. "Weiter die sehr wichtige Ptoblembehandlung, z. B. bei der Frage nach Mensch, Satan oder göttlichem Wirken als Ursache der Sünde: II, 4, 2—5. — Besonders charakteristisch ist mir doch aber die Prozentberechnung über die Wirkung der Predigt (op. I. p. 886 = III, 24, 12): bei 80% ist sie wirkungslos! 114) Doumergue hat 1. c. p. 244 sqq. eine ganze Anzahl solcher Stellen zusammengetragen. 115) Op. Calv. I. p. 347, 116) Inst. III, 20,12. 117) Op. Calv. I.p. 1129, 1133.



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noch yor diesen aber die religiöse Persönlichkeit Calvins selbst, wie sie uns entschieden am grossartigsten in dem ganzen Abschnitt de vita christiana entgegentritt.118 Das Ergebnis dieser für das Verständnis Calvins wichtigsten Peststellungen liegt klar zu Tage, die Grundsätze unseres ersten Kapitels bewähren sich durchaus und lassen uns das Wesen und die Struktur der Calvinischen Theologie aus dem Grunde verstehen: Calvin ist in materialer Hinsicht von der Philosophie völlig unabhängig, formal arbeitet er rational-dialektisch mit ihren Methoden. Er ist keineswegs spekulativer Philosoph oder Theologe, sondern er ist durchaus Erfahrungstheologe, aber zugleich der geschulte Dialektiker, der „philosophisch arbeitende" Theologe. Wenn der Deutsche nach seiner wissenschaftlichen Arbeitsart für Calvin nun doch nach Bezeichnungen sucht, die ihn in die philosophischen Reihen einordnen, so muss er sich immer dabei ganz klar sein, dass das für den Franzosen und Humanisten Calvin nur ganz annäherungsweise, sozusagen per metonymiam möglich ist. Unter solchem Vorbehalt könnte man dann vielleicht sagen: Calvin ist keineswegs spekulativer Metaphysiker, sondern r a t i o n a l e r E m p i r i k e r , d i a l e k t i s c h e r Positivist und Psychologe. Der Begriff der Empirie, der Erfahrung, ist freilich, wie jeder Kundige weiss, schwer belastet, und bedeutet ein dauerndes, stets zur Diskussion stehendes Problem der Philosophie. So ist es auch gewiss, dass der Erfahrungsbegriff und seine Bedeutung wieder anders im einzelnen gefasst werden muss in einer auf Luther aufgebauten Glaubenslehre als in der Theologie Calvins. Daher soll, um hier Missverständnissen von vornherein zu begegnen, ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass „Empiriker" nicht im engsten Sinne einer modernen philosophischen Begriffsbestimmung zu nehmen ist, sondern in einem weiteren Verstände. Die Bezeichnung „Positivist" soll dies erläutern.119 Zu dem empirisch, positiv Gegebenen, muss in diesem Falle auch der Inhalt der Schrift hinzugenommen werden — denn dieser lag Calvin als positiv, empirisch gegebene Grösse vor und kann keinesfalls auf die metaphysisch-spekulative Seite gestellt werden. Dabei ist es hier völlig irrelevant, dass ein grosser 118) Institutio III, 6—10. 119) Als besonders bezeichnende Stellen für seine „empiristische" Art sollen aus seiner Ethik: Inst. 1539 cp. XVII, 8 und 12, und aus seiner Kirchenlehre: Inst. 1559, IV, 12, angeführt werden.



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Teil, vielleicht der grössere, des Schriftinhaltes an und für sich nichtempirisch oder überempirisch ist. Sieht man dann weiter Calvin noch auf seine Grundprinzipien an, so ist weder die Bezeichnis „Monist", noch die „Dualist" am Platze: Calvin hat nicht ein und nicht zwei Materialprinzipien gehabt, sondern er reiht der Elemente seiner Theologie mehrere aneinander und verbindet sie dialektisch miteinander. Und daher scheint es denn am richtigsten, indem man einen Ausdruck aus der neueren Philosophie übernimmt, ihn einen „ P l u r a l i s t e n " zu nennen.1'4 Aber es sei nochmals ausdrücklich betont, dass dies nur V e r s u c h e sind, mit unserer Sprache dem Problem der Theologie Calvins nahezukommen, sie bringen zu dem, was wir als grundlegend für das Verständnis Calvins erkannt haben, nichts wesentlich Neues hinzu. c) Der Biblizismus und die Lehre von der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang der formalen Grundlagen der Calvinischen Theologie muss schliesslich noch der wichtige Gegenstand besprochen werden, den man den Biblizismus Calvins nennt, und die besonderen Probleme, die sich hier einstellen. Die allgemeine Richtlinie wurde schon im ersten grundlegenden Kapitel über die Formgestaltung der Theologie Calvins herausgestellt: Wir werden der hier auftretenden Fragen nur Herr, wenn wir uns die eigentümliche Art der theologischen Arbeit Calvins klarmachen, und wenn wir erkennen, dass zwischen „materialem" und „formalem" Biblizismus zu unterscheiden ist, und dass, so gewiss Calvin auch „materialer" Bibliztst war,121 sein Biblizismus doch in der für das Verständnis seiner Theologie grundlegenden Beziehung als „formaler" anzusprechen ist. Ueber die Tatsächlichkeit des Biblizismus Calvins im allgemeinen ist man sich auf allen Seiten einig. Es besteht bei Lutheranern und Reformierten, Deutschen und Westländern darüber keine Meinungsverschiedenheit, dass Calvin 120) Auch von diesen Erwägangen aus kann ich mich dem Eindruck einer entfernten formalen Verwandtschaft der Theologie Calvin« mit manchen modernen Erscheinungen, in Amerika und Frankreich •or allem, nicht verschlieBsen. 121) Wie ja jeder „formale" Häretiker ganz gewiss auch „materialer" Häretiker ist, aber nicht umgekehrt.



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in der Tat Biblizist ist, d. h. dass die Bibel für ihn eine andere, und zwar in bestimmtem Sinne erhöhte Bedeutung hat als für Luther, dass er in einer anderen Art der Abhängigkeit von der Bibel steht als Luther. Auch A. Lang spricht von der „Starrheit der Schriftauffassung Calvins"," 1 Wir dürfen hier einen wirklichen communis sensus annehmen. Die Schwierigkeiten und die Meinungsgegensätze beginnen da, wo es sich um die Beschreibung und Wertung dieses Biblizismus und dann um seine Bedeutung im Ganzen des Calvinischen Systems handelt. Im Rahmen dieser Arbeit kann dabei nur die Herausstellung der Fragen und die Anweisung der Richtlinien gegeben werden, zumal gerade hier die Hauptvorarbeit, nämlich Calvins Stellung zum Humanismus und dessen Quellenund Bibelbenutzung noch nicht geleistet ist. aa) Der Biblizismus als Wesenszug der Formgestaltung. Folgende Punkte sind hier wesentlich. Zuerst grundlegend: 123 Das Gesamtverständnis der Theologie Calvins zeigt, dass der für ihn wesentliche Biblizismus etwas Formales, ein Gesetz, ein Stück der Formgestaltung seiner Theologie und nicht etwa ein materiales Prinzip oder stoffliches Grundelement ist. Man ist sich hierüber nicht klar geworden, weil man eben, soweit ich sehe, zwischen Biblizismus als Formgestaltung, also dem von uns sogenannten „formalen" Biblizismus, und zwischen dem „materialen" Biblizismus, d. h. den aus der Bibel übernommenen Stoffen, nicht deutlich genug unterschieden hat. Und doch ist ohne solche scharfe Unterscheidung an diesem wichtigen Punkte ein Vorwärtskommen nicht möglich. Selbstverständlich — dies brauchte eigentlich nicht erwähnt zu werden — hängt beides miteinander zusammen, und es handelt sich um eine begriffliche Distinktion. Aber eben diese ist unbedingt notwendig bei der eigentümlichen Art der Theologie Calvins. 1 " 122) A. Lang, J . Calvin p. 75. 123) cf. hierzu oben p. 19 sq. 124) Bezeichnend für die Lage erscheint mir u. a. die kurze Behandlung, die v. Schulthess-Rechberg dem Biblizismus Calvins gibt, und die die Probleme keineswegs klärt, geschweige erklärt: „Das Verhältnis Calvins zur Bibel ist gesetzlicher als das Zwingiis oder gar Luthers. Das lag in seiner Natur, aber zugleich in seinem praktischen Individualismus! Die Bibel sollte für jeden Menschen und für jede innere und äussere Situation das göttliche Licht enthalten. Allein weil er in ihr das Leben sucht, macht seine Abhängigkeit von der Bibel niemals den Eindruck des sklavischen und formalen . . . Für

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Im Grunde erkennen auch alle Calvin-Forscher diesen Tatbestand an, auch wenn sie diese Unterscheidung bisher nicht haben machen können. Denn es bedeutet ja schliesslich doch nichts anderes, wenn sie davon sprechen, dass die Bibel für Calvin eine lehrgesetzliche Autorität sei. tM Das heisst doch: Die Bibel ist das Gefäss, aus dem er die Inhalte seiner Theologie schöpft. Und diesem Gefäss wohnt als solchem — nicht dem einzelnen Inhalte zuerst — Normcharakter bei: Der Biblizismus bedeutet ein Formgesetz, nicht eine Anzahl von Materien. Calvin will alles aus der Bibel herausholen, er will die ganze Bibel ausschöpfen. Und diese Absicht, dieses Grundgesetz seiner Dogmatik ist sein Biblizismus als Wesenszug der Formgestaltung seiner Theologie."6 Die deutlichste und charakteristische Aeusserung Calvins selbst hierüber, Ist nach meiner Kenntnis diese: „. . . nec quemquam posse vel minimum gustum rectae sanaeque doctrinae percipere, nisi qui Scripturae fuerit discipulus: unde etiam emergit verae intelligentiae principium, ubi reverenter amplectimur quod de se illic testari Deus voluit. Neque enim perfecta solum vel numeris suis completa (siel) 4,1,7 Ildes, sed omnis recta Dei cognitio ab obedientia nascitur. Das ist der formale Biblizismus, der Biblizismus als Formgesetz der Theologie in höchster Ausprägung. Und die ganze Dogmatik Calvins ist, wie allgemein bekannt, dazu das Exempel. Dass er freilich, so wenig wie irgend ein Biblizist, sein Formalgesetz nun auch material, in allen Einzelpunkten, bis zum letzten und in allen Beziehungen nicht durchgeführt hat, ist fraglos. Hier sieht sicher Wernle ganz richtig, wenn er sagt, dass sein systematisches Denken hat ihm Bein Biblizismus einen eigentümlichen Dienst geleistet. Seinem Geiste mochte die Gefahr nahe liegen, die Gedanken bis in ihre letzten Eonsequenzen zu verfolgen und so ins Abstrakte zu geraten. Hieran hat ihn die Autorität der Bibel verhindert, denn er lässt sich von ihr die Schranken für seine Reflexion bezeichnen." (J. Calvins Gedankenwelt. In: Zwingliana Bd. II. 1912. p. 301). Hier sind richtige Eindrücke nicht auf ihre letzten Ursachen zurückgeführt. 125) z. B. Loofs, Dg. * p. 883. — Seeberg, Dg. IV, 2 p. 569. — A. Lang 1. c. p. 75. — G. Hoffmann, Lehre von der fides implicita Bd. II. 1906. p. 213. — W. Walker, J. Calvin 1906. p. 412. 126) Es wird mit Absicht gerade auch hier immer dieser Ausdruck gewählt, und nicht etwa „Formalprinzip", denn das erinnert an ein inhaltliches Element und bedeutet so etwas ganz anderes. 127) Inst. I, 6, 2; cf. auch Op. Calv. I. p. 144: Quaecumque ad christianismum pertinent, omnia scripturis perscripta ac comprehensa esse.



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„Calvin gar nicht der Biblizist ist, als den er sich so gern gibt".1*8 Nur dass Wernle das auch nicht richtig klärt, weil er zwischen „Biblizismus" und „Biblizismus" nicht unterscheidet. Ebenso hat Wernle recht mit seiner Bemerkung, dass bei Calvin eine gewisse Unsicherheit eintritt, 1Mwo ihn sein Hauptgewährsmann Paulus im Stiche lässt. Alles dies ändert aber an der grundsätzlichen Lage nichts, dass ein absoluter, reiner Biblizismus als Formgestaltung, als formales Gesetz seiner Theologie Calvins Ideal und Absicht nicht nur, sondern auch deren tatsächliches Wesen ist.180 Die gesamte Calvin-Forschung ist sich über diese Tatsache einig, aber sie hat sie nicht in ihrer eigentümlichen Art erkannt und nicht erkennen können, weil sie die Formgestaltung der Theologie Calvins in ihrer Bedeutung für diese und in ihrem Wesen nicht gefasst hat. Wenn Calvin dies sein Ideal nicht erreicht, seinen formalen Biblizismus nicht restlos in materialen hat überführen können, so liegt das vor allem, wie jetzt wohl einleuchtend ist, in der Natur der Sache selbst, in der Natur des Evangeliums wie in der Natur der Bibel.181 Kein Biblizist hat je einen absoluten, formalen und materialen Biblizismus wirklich schaffen können. bb) Biblizismus und Inspirationslehre an sich und in ihrem Verhältnis zu einander. Von dem Biblizismus des Calvin aus kommen wir zu dem Locus dogmaticus von der Inspiration der Heiligen Schrift. Diese seine Lehre selbst ist von der bisherigen Forschung in ihrer Sonderstellung durchaus klargestellt und richtig beschrieben. E. Doumergue hat188sie mit Recht in die Prolegomena der Dogmatik gestellt, R. Seeberg weist ihr ebenfalls einen besonderen Abschnitt in seiner 128) P. Wernle 1. c. p. 369. — Wernle versieht den Satz noch mit dem Werturteil „gottlob nicht!" 129) P. Wernle 1. c. p. 233. — Auch A. Lang stellt fest, dass der Biblizismus Calvins mit seinem Paulinismus in einer gewissen Kreuzung liegt, dass da eben die Begrenzungen seines Biblizismus sind. 130) cf. Inst. 1,18, 4: Nam sapere nostrum nihil aliud esse debet, quam mansueta docilitate amplecti et quidem sine exceptione, quicquid in sacris Scripturis traditum est. 131) cf. dazu besonders op. Calv. I, 237—239. P. Wernle 1. c. p. 153: dagegen dann wieder in der Inst. 1559. IV, 20, 5. cf. Wernle p. 162. 132) 1. c. Bd. IV. p. 54 sqq.



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Darstellung zu.188 Aber zwei ganz neue Probleme tauchen nun auf; zunächst: In welchem Verhältnis steht bei Calvin — und man darf dann weiter sagen: überhaupt — der formale Biblizismus zur Inspirationslehre? Und sodann: Wo sind die eigentlichen Wurzeln dieser beiden Theologumena, des Biblizismus und der Inspirationslehre, zu suchen? Wir befinden uns hier an einer Stelle, wo wir, geschichtlich und sachlich betrachtet, noch ganz im Dunkeln gehen. Die erste Frage ist, soweit ich sehe, in dieser scharfen Form, trotz ihrer, nicht für Calvin allein, überaus grossen Bedeutsamkeit überhaupt noch nirgends gestellt worden; das zweite Problem ist zwar wohl von allen eindringenden Forschern erkannt, aber man hat doch nicht genügend beachtet, dass es sich hier wieder um zwei verschiedene Dinge handelt, und hat es bisher erst recht nicht einer genügenden Lösung entgegengeführt. 1 " In der Frage nach den Wurzeln drückt sich am vorsichtigsten A. Lang aus, wenn er sagt: „In dieser grundlegenden Eigentümlichkeit (des Biblizismus und der Quellen benutzung) d ü r f t e der stärkste Einfluss des Humanismus auf unseren Reformator zu erkennen sein." 1 " Und mit dieser Vorsicht hat er sicher recht. Denn die bisherige Forschung ist hier über allgemeine Andeutungen nicht hinausgekommen. Wenn, um noch als hervorragendes Beispiel den Letzten zu nennen, der sich zu diesen Fragen geäussert hat, R. Seeberg, sagt: „Calvin hat also die Autorität der Helligen Schrift einerseits durch den Gedanken, dass sie göttliches Diktat ist, andererseits durch das von ihr ausgehende oder auch über sie ergehende Zeugnis des heiligen Geistes begründet. Historisch betrachtet, kombiniert er demnach die Inspirationslehre des späteren Mittelalters mit Luthers Gedanken"" 6 — so ist das Problem in seiner Doppelgestalt im Grunde damit nicht herausgehoben, selbst wenn die Sätze sachlich richtig sein sollten, was m. E. nicht ganz sicher ist. 133) 1. c. p. 566 sqq. cf. die besonderen Untersuchungen von J. Pannier, l'autorité de l'Ecriture sainte d'après C. In: Revue de théologie et des questions religieuses. Montauban 1906. — E. Gauteron, l'autorité de la Bible d'après C. Diss. 1902. 134) cf. Seeberg, Dgg. Bd. II. 1. Aufl., p. 384 sq. — Loofs Dg. 4 p. 882 sq. — Sehr bezeichnend ist, dass Doumergue ausser ganz kurzen Bemerkungen Bd. I. p. 97 sqq. sich mit dem eigentlichen Problem gar nicht befasst. Vielleicht liegt es auch hier so, dass die Sache für den Franzosen selbstverständlich erscheint. 135) A. Lang, J. Calvin p. 75. 136) Seeberg. 2. A., 1. c. p. 569.



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Die Aufgaben, die hier vor der Forschung stehen, sind, soweit ich sehe, die folgenden. Zunächst muss Calvins Stellung im Rahmen des Humanismus klargestellt werden. Darauf ist das Verhältnis des Humanismus zur Bibel nicht nur, sondern überhaupt zu historischen und dogmatischen Quellen, und schliesslich das Verhältnis dieser humanistischen Auffassungen zu denen des Mittelalters, vornehmlich der Scholastik, zu untersuchen. Gerade Seeberg beispielsweise, der sonst wohl die Bedeutung des Humanismus für Calvin hervorhebt, 187 geht an dieser Stelle an ihr vorbei. Schliesslich aber erhebt sich noch die grosse Frage, in welcher Beziehung Calvin an diesem Punkte zu Luther steht und ob hier überhaupt von einem massgebenden Einflüsse Luthers die Rede sein kann. In deutscher Sprache haben wir m. W. nur ein Buch, das an den Gegenstand überhaupt heranführt; es ist das unvollendete Werk von F. Kropatschek: Das Schriftprinzip in der lutherischen Kirche. 188 Aber selbst dies trägt weiter für unsere Sache wenig aus, da die Hauptfragen nicht in deutlicher Unterscheidung aufgestellt werden. Ueberdies fehlt der Humanismus ganz. Nicht viel anders ist es in der Geschichte der Exegese in englischer Sprache. 189 Es wird mehrfach eine kurze Darstellung der Inspirationslehre Calvins gegeben und dann eine Beschreibung seiner exegetischen Methoden, die Frage nach dem Verhältnis von Inspirationslehre und Biblizismus aber kommt nicht vor, und erst recht nicht die eigentliche Quellenfrage. Die Richtung, in der die Lösungen dieser Probleme liegen, erscheint mir ganz deutlich, wenn es auch aus mehrfach vorgetragenen Gründen noch nicht möglich ist, sie völlig durchzulühren. Die Inspirationslehre und der Biblizismus stehen bei Calvin in einem notwendigen Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit von einander. Die starr-dogmatische Inspirationslehre bildet zu dem formalen Biblizismus, dem Biblizismus als Formgesetz, das Komplement. Wenn man sich dies klargemacht hat, so kommt man zu dem bestimmten Eindruck, dass Calvins Stellung zur Bibel völlig verschieden ist von der Luthers. Wernle 137) 1. c. p. 558. 138) Leipzig 1904. Bd. I. Die Vorgeschichte. Das Erbe des Mittelalters. 139) F. W. Farrar, history of interpretation. London 1886. — G. H. Gilbert, Interpretation of the Bible. A short history. New York 1908. — K. Fullerton, Prophecy and authority. New York 1919. B a u k e : Probleme.

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— 50 — hat dafür ein sehr richtiges Gefühl, wenn er sagt, dass „dem Streit Calvins um die Bibel ganz das Dämonische und Grandiose fehlt, das Luthers Kampf mit Erasmus sein besonderes Interesse gab",140 und dass „Luther als Exeget genialer, Calvin vorsichtiger arbeitet."141 Ebenso erscheint wichtig eine Beachtung des Referates über Calvins Art der Bibelkritik, das E. Doumergue gibt, 141 im Vergleich mit Luthers Bibelkritik. Man wird nicht irren, wenn man sagt, dass Luthers Bibelkritik auf ihrer Höhe unter rein religiösen Motiven und Gesichtspunkten steht, deren Wurzeln nirgends in formalen Traditionen und Erwägungen ruhen. Demgegenüber zeigen die von Doumergue notierten Stellen schon ganz deutlich die philologisch-historische, d. h. doch der Form n a c h jedenfalls rationale Bibelkritik Calvins.143 Der Rückgang auf die literarischen Urkunden, die Losung: ad fontes! ist etwas, das von Luther durchaus unabhängig ist und vor ihm auf allen Geistesgebieten erschienen ist. Demgegenüber war Luthers persönliche religiöse Stellung zur Bibel etwas völlig Anderes und Neues. Mir erscheint es daher unbedingt notwendig, die Wurzeln für den Biblizismus wie für die Inspirationslehre Calvins anderswo zu suchen als bei Luther. A. Lang hat mit seinem oben erwähnten Hinwels sicher etwas Richtiges berührt, wenn er auch sich nicßt weiter geäussert und das Problem 140) P. Wernle 1. c, p. 210. — Ich würde unter allem Vorbehalt hinzufügen, dass der Kampf Luthers mit Erasmus im letzten Grunde eben gar nicht um die Bibel ging. 141) 1. c. p. 311. 142) Bd. IV. p. 76 sqq. 143) K. Fullerton 1. c. p. 133 schreibt Folgendes: „Calvin may not unfittingly be called the first scientific interpreter in the history of the Christian Church. As an exegete he is the acknowledged chief among the Reformers. Adopting the same principles of interpretation as Luther did, he consistently applied them in his commentaries as Luther did not. This is all the more astonishing as Calvin held many theological presuppositions which would have logically led to a complete abandonment of the historical meaning of the Old Testament in general and of prophecy in particular. The most astonishing difference between Luther and Calvin is that, whereas Luther's religious canon of interpretation the Christocentric theory of Scripture, dominated his exegetical method at every turn, Calvin's dogmatic theories of Scripture controlled his exegesis only to a limited extent. In the case of no great commentator is it more necessary to distinguish between the theologian and the exegete than in the case of Calvin . . ." Auch F. gibt keine Lösungen und stellt das Grundproblem hier noch nicht deutlich auf. Aber er ahnt doch wohl etwas von der Notwendigkeit einer pünktlichen Unterscheidung zwischen Biblizismus und Inspiration und einer genauen Feststellung des eigentümlichen Verhältnisses, das zwischen beiden besteht.



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nicht seiner Lösung entgegengeführt hat. Der formale Biblizismus Calvins, sein Biblizismus als Formgesetz, steht durchaus im Zusammenhang und unter dem Binfluss des Humanismus, von dem er herkommt. Luthers Stellung zur Bibel ist eine ganz andere: er hat keinen formalen Biblizismus (und aus praktischen Gründen würde ich überhaupt in der Diskussion diesen allein als „Biblizismus" bezeichnen); er argumentiert wohl überall mit Stoffen aus der Bibel, aber die Bibel ist nicht das Pormgesetz seinér Religion und seiner Theologie."4 Mit der eigentlichen Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift bei Calvin ist es nicht anders. Auch hier sind die Fundamente in Calvins französisch-lateinischer Umgebung und nicht anderswo zu suchen. Die Inspirationslehre, ganz allgemein gesprochen, ist, wie wohl bekannt und in dem erwähnten Buche von F. Kropatschek im einzelnen nachgewiesen ist, ein Gemeinbesitz des Mittelalters. Dann scheint mir hier aber für die Bestimmung des historischen Zusammenhangs eine besondere Beobachtung wichtig. R. Seeberg schreibt an einer Stelle: „Bemessen an dem Standpunkte Occams ist Luthers Schriftlehre einfach häretisch, denn nach Occam ist jeder Christ verpflichtet, alle biblischen Bücher anzuerkennen und ihren ganzen Inhalt anzunehmen."146 Der betreffende Satz Occams lautet: „Qui dicit aliquam partem novi vel veteris testamenti aliquod falsum asserere aut non esse recipiendam a catholicis, est haereticus et pertinax reputandus."146 Gegenüber Luther hat nun Calvin eine Inspirationslehre, die genau in den Bahnen der Scholastik und ihrer Nachfolger weiterläuft. F. Kropatschek hat in seinem genannten Buch Stellen über die Inspiration am Ende des Mittelalters zusammengetragen, von denen besonders charakteristisch sind diejenigen, welche die biblischen Schriftsteller als 147 secretarius oder calamus des heiligen Geistes bezeichnen. Er schreibt weiter: „Das war durchweg Lehre des Mittelalters; ja vielleicht steigerte sich kurz vor der Reformation noch die Kühnheit der Bilder von den „amanuenses" des heiligen Geistes, oder von der 144) Es ist mir zweifellos, dass überall da, wo in der Geschichte der lutherischen Kirche formaler, eigentlicher Biblizismus auftritt, dieser stets im Grunde wenigstens irgendwo eine reformierte Wurzel hat. 145) Dgg. Bd. IV, l,a p. 345. 146) Occam. Dial. p. 449. Seeberg l.-c. Bd. i n , 2 p. 615. 147) F. Kropatschek 1. c. p. 425. 4»

— 52 — absoluten Irrtumslosigkeit der Bibel."148 Und als die Meinung Wiclefs stellt Kropatschek fest: „Von der Heiligen Schrift gilt, dass sie in allen Teilen von völlig gleicher Autorität sei, im Alten und im Neuen Testament, und zwar deswegen, weil der heilige Geist den Inhalt eingegeben hat." 148 Dazu setzt nun Kropatschek den interessanten Satz: „Einige Jahrhunderte später können wir diese Theorie (Begründung der Autorität der Bibel durch ihre wunderbare Entstehung) von Calvin wieder aufgenommen finden, von dem die lutherischen Dogmatiker sie übernehmen." Ich bin gewiss, dass Kropatschek hier das ganz Richtige angezogen hat, wenn er es freilich auch noch nicht in voller Ausdehnung nachweisen und seine Bedeutung im Rahmen der allgemeinen Religions- und Theologiegeschichte nicht richtig einstellen und abmessen kann. An der Hauptstelle, an der Calvin sich über die Inspiration ausspricht, haben wir den typischen Ausdruck „amanuenses" und ganz klar die durch den Humanismus zu ihm gekommene orthodox-mittelalterlich-scholastische Lehre: „Quamquam inter Apostolos et eorum successores hoc, ut dixi, interest, quod illi fuerunt certi et authentici spiritus sancti a m a n u e n s e s : et ideo eorum scripta pro Dei oraculis habenda sunt: alii autem non aliud habent officii, nisi ut doceant, quod sacris scripturis proditum est hac consignatum. Constituimus igitur, non esse iam fidelibus ministris relictum, ut novum aliquod dogma excudant, sed simpliciter inhaerendum esse doctrinae, cui Deus omnes sine exceptione subiecit." 160 Dass bei Calvin in der Zeit seiner Entwicklung auch Begegnungen mit Luthers Gedanken über die Bibel und dabei Einwirkungen Luthers stattgefunden haben, ist selbstverständlich und brauchte gar nicht erst betont zu werden. Aber ebenso sicher ist, dass das für Calvin an diesem Punkte Wesentliche, sein eigentümlicher Biblizismus und seine Inspirationslehre, von Luther unabhängig ist und aus Wurzeln stammt, die nicht in der deutschen Reformation liegen. 148) F. Kropatschek ibid. 149) F. Kropatschek p. 333 sq. — Wiclef, Trialogus ed. Lechler 1869 p. 240: „Et ita paria auctoritatis sunt omnes codices novae legis et veteris, de quanto credimus, quod suae sententiae a Spiritu Sancto emanarunt". 150) Inst. IV. 8, 9. In der französischen Uebersetzung sind die charakteristischen Worte ausgelassen.



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cc) Die Stellung des Alten Testaments bei Calvin und seine „Mittelalterlichkeit". Unmittelbar hiermit hängt noch eine weitere Frage zusammen, nämlich die, inwieweit Calvin dem Alten Testament eine vorherrschende Bedeutung für die Aufstellung seiner Dogmatik gegeben hat, und ob daraufhin von einem Zurücksinken Calvins ins Mittelalter gesprochen werden muss oder nicht. Die erste gehört eigentlich noch in den vorigen Abschnitt mit hinein, wird aber um der Verbindung mit der zweiten willen aus praktischen Gründen hier besonders behandelt. Die in der ersten Frage liegende Tatsache ist wiederum allgemein, auf allen Seiten festgestellt. Nicht nur Ritsehl und seine Nachfolger,151 ebenso wie R. Seeberg,1M auch A. Lang sprechen es aus, dass Calvin den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament verwischt, dass die Bibel eine lehrgesetzliche Autorität in ihrem ganzen 183 Umfange erhält. Und ebenso wird es von W. Dilthey angesehen.1" Es kann «ja auch auf Grund der gesamten dogmatischen Arbeit Calvins und nach unseren ganzen bisherigen Feststellungen ein Zweifel darüber nicht bestehen. P. Wernle findet an einer Stelle auf Grund des Calvinischen Textes die prägnante Formel dafür: „Das Neue Testament muss sich der Autorität des Alten fügen, Christus wird nach Moses ausgelegt."166 Problematisch ist nun aber im höchsten Grade die Beurteilung der Sachlage: Muss von einer „Mittelalterlichkeit" Calvins gesprochen werden oder nicht? Die lutherischen Theologen sind sich in Nachfolge der Auffassung A. Ritschis darüber ganz einig; R. Seeberg hat in der zweiten Auflage seines Werkes sich erneut, wenn auch mit einer gewissen Abschwächung dahingehend ausgesprochen.156 Und vor allem hat sich W. Dilthey, der doch sonst, wie schon festgestellt, nicht mit den Lutheranern geht, hier ganz klar und scharf geäussert: „Da die Idee einer Entwicklung zur christlichen Frömmigkeit fehlte, so musste die haarscharfe von der 151) cf. Loofs, Dg>, p. 883. 152) R. Seeberg, Dg. Bd. IV 2, p. 631. 153) A. Lang, J. Calvin p. 75. 154) W. Dilthey, Ges. W. W. Bd. II, p. 236. 155) P. Wernle, 1. c. p. 30. — Ich möchte doch noch hinzufügen, dass mir persönlich für den Calvinismus immer wieder als bezeichnend aufgefallen ist die Benennung des Gotteshauses: temple. cf. Inst. III, 20,29. 156) R. Seeberg 1. c. p. 631.



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Voraussetzung der Einheitlichkeit des heiligen Geistes in der Schrift getragene Interpretation den harten Begriffen des Alten Testamentes die christliche Weite, Milde und unergründliche Tiefe opfern, welche gerade durch den universalen Gesichtskreis des Zeitalters Christi ermöglicht war, und als die eigentliche Lebendigkeit, weniger fassbar, aber überall verbreitet, die Evangelien und paulinischen Briefe durchdringt. So ist gerade durch die meisterhafte dogmatische Beweisführung Calvins die reformierte Religiosität an wichtigen Punkten hinter das Neue Testament zurückgeführt worden."157 Bemerkenswert ist auch, dass A. Lang, der an anderer Stelle kräftig gegen die Auffassung von der „Mittelalterlichkeit" Calvins polemisiert,"»gerade hier im Zusammenhang seiner Calvin-Biographie die Frage nicht anschneidet. Trotz159alledem muss die Entgegnung E. Knodt's gegen R. Seeberg, die dieser auch anführt, wohl beachtet werden. Denn wir stehen hier wieder einmal an dem Punkte, wo der Glaubensstand in das historische Urteil hineinwirkt. Calvin steht in anderen geschichtlichen und Bildungszusammenhängen als Luther, wie das der vorige Abschnitt besonders zeigte. Und darum muss er hier auch, wie es ja immer von uns versucht wurde, ganz anders angesehen und beurteilt werden als dieser. Dass dabei »eine juristische Herkunft und die dauernde juristische Beeinflussung seines Lebens und Denkens mit in Betracht gezogen werden muss, versteht sich von selbst. Aber das grosse Problem der „Mittelalterlichkeit" Calvins kann an dieser Stelle nicht endgültig seiner Entscheidung nähergeführt werden. Es wird im letzten Kapitel darüber noch weiteres zu sagen sein. Gewiss liegt an diesem Punkte ein fundamentaler Unterschied zwischen Luther und Calvin, wie wir schon vorher gesehen haben. Dessen Beurteilung aber muss m. E. hier in der Schwebe bleiben; fraglich ist, ob er überhaupt zu einem Austrage vorläufig kommen kann. Denn gerade der Biblizismus und das Alte Testament sind für die grossen dogmatischen Konzeptionen des Mittelalters nicht die alleinige Quelle, ja wohl nicht einmal die hauptsächliche. Und ehe wir nicht die Lage des Humanismus im weitesten Sinne ganz klar erkennen, wird eben eine letzte Entscheidung über Calvin nicht möglich 157) W. Dilthey 1. c. W. W. Bd. II. p. 236. 158) A. Lang, Neuere Calvin - Literatur, in Ref. Kirchenzeitung 1902. p. 34. 159) E. Knodt, Die Bedeutung Calvins. 1910. p. 53.



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sein. Doch verhelfen uns jedenfalls die Erkenntnisse des vorigen Abschnitts hier zur deutlichen Erfassung des Problems und warnen vor übereilten Lösungsversuchen. dd) Die Begründung des Glaubensinhaltes. Die letzte Frage, die hier noch zu behandeln ist, ist nach K. Heims Ausdruck das Gewissheitsproblem, die Frage nach Schrift und Geist, nach der Begründung der Schriftwahrheit, d. h. aber schliesslich nach der Begründung der Offenbarungs-, der Glaubensinhalte. Dieser ganze Komplex muss ohne Zweifel bei den formalen Grundfragen der Theologie mit zur Verhandlung kommen. Aber auch hier kann es sich für uns selbstverständlich nur um einen kurzen Ueberblick handeln. Wir haben wiederum in unseren Formgestaltungszügen das Richtmittel in der Hand. K. Heim stellt in seiner tief eindringenden Untersuchung erhebliche Widersprüche an diesem Punkte bei Calvin fest.160 Verschiedene Auffassungen über das testimonium spiritus sancti gehen nach ihm durcheinander: „1. Das testimonium muss zum unmittelbaren Worteindruck als ein zweites Element hinzukommen, um diesem Gewissheit zu verleihen, das Wort erhält also nur durch das testimonium Gewissheit. 2. Das testimonium ist mit dem Worteindruck identisch. 3. Das testimonium erhält seine Legitimation erst durch die Uebereinstimmung mit dem Wort, zu dem es hinzukommt, die Gewissheit entsteht also durch eine Kopulation der verbi certitudo mit der spiritus certitudo, das Wort hat somit schon als solches eine eigenartige, dem testimonium übergeordnete Gewissheit, die es nicht durch das letztere erst erhält."191 Dadurch komme Calvin zu keiner klaren Entscheidung über die Begründung der Schriftwahrheit. Und am Ende muss dann die gemina praedestinatio, die Heim als den leitenden Obersatz des Systems ansieht, gerade ein unbegreifliches Mysterium bleiben.16' R. Seeberg hat demgegenüber richtig betont, dass Heim die Widerspräche Calvins übertreibt.165 Er selbst bemüht sich mit Recht darum, sie aufzulösen. Wir können jetzt auf Grund unserer Untersuchungen die Problemlage ganz deutlich erkennen. Calvin hat die Frage in ihren letzten Tiefen gar nicht theologisch ergriffen und 160) 161) 162) 163)

K. Heim, Das Gewissheitsproblem. K. Heim, 1. c. p. 274 sq. ibid. p. 278. R. Seeberg 1. c. p. 568.

1911. p. 268 sqq.



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behandelt, wahrscheinlich weil er das gar nicht konnte. Mir erscheint dafür charakteristisch seine Beschreibung der Wahrheitskraft der Schrift: „Quod autem rogant, Unde persuadebimur a Deo fluxisse (scripturam) nisi ad ecclesiae decretum confugiamus? perinde est acsi quis roget, Unde discemus lucem discernere a tenebris, album a nigro, suave ab amaro? non enim obscuriorem veritatis suae sensum ultro Scriptura prae se fert, quam coloris sui res albae ac nigrae; saporis suaves et amarae." 184 Das ist doch an dieser entscheidenden Stelle nach unseren Auffassungen mindestens nicht zureichend: Ein nicht einmal genügendes psychologisches Gleichnis wird zur Beschreibung der eigentlichen Sache, der Evidenz und Gewissheit der Schriftwahrheit gemacht. Wir dürfen und brauchen hier für Calvin aber auch gar nicht so tief zu gehen, wie Heim das versucht, der im übrigen auch wieder unter der Auffassung von dem einen Materialprinzip der Calvinischen Theologie steht. Sondern wir haben hier wieder die von uns festgestellte complexio vor uns. Calvin verbindet durch seine dialektische Art und Kunst die einzelnen Gegebenhelten. Und Seeberg ist durchaus auf dem rechten Wege, wenn er die anscheinenden Dissonanzen auflöst. In Calvins Sinne sind das gar keine Dissonanzen, denn er kommt t h e o l o g i s c h an die letzten Tiefen gar nicht heran. Es ist für uns darum auch hier wieder durchaus beweisend, dass Doumergue dies ganze Problem gar nicht behandelt. Er gibt wohl eine ausführliche Darlegung der Lehre von dem testimonium spiritus sancti,186 aber von den Spannungen und Widersprüchen, die den deutschen Theologen bewegen, weiss er nichts. Und er wird damit wohl instinktiv Calvin ganz nahe kommen. Die Richtigkeit der Auffassung von der komplexen Art der Calvinischen Theologie und ihrem dialektischen Charakter wird gerade in diesem Zusammenhang deutlich an der auch von Heim zitierten, aber m. E. nicht genügend ausgewerteten und in ihrer Art klar erkannten Stelle in derer sich über dies Problem äussert: „mutuo enim quodam nexu Dominus verbi spiritusque sui certitudinem inter se copulavit, ut solida verbi religio animis nostris insidat, ubi affulget spiritus, qui nos illic Dei faciem contemplari faciat; ut vicissim nullo hallucinationis timore spiritum amplexemur, ubi illum in sua imagine, hoc est in verbo, recognoscismus."160 Auch das Gewissheitsproblem bewegt 164) Inst. I, 7, 2. 165) E. Doumergue. Bd. IV. p. 54 sqq. 166) Op. Oalv. I. p. 302.



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sich in Calvins Absicht theologisch nicht in den letzten Tiefen, eine metaphysische „ "Widerspru chskritik" kann ihn also gar nicht treffen, und geht an seiner Art und damit an seinem Verständnis vorbei. Allerdings wird es nun auf Grund unseres Verständnisses der Calvinischen Theologie, ihrer Formgestaltung und ihrer „Prinzipien" notwendig sein, auch gerade dies Gewissheitsproblem bei Calvin wie alle mit dem Biblizismus zusammenhängenden Probleme, in seiner eigentümlichen Verzweigimg erneuter Untersuchung, vor allem im Rahmen der historischen Verbindungen, zu unterziehen.

III. K a p i t e l .

Die Probleme In den einzelnen Hanptlehren der Theologie Calvins. Es gilt nun, dass wir die einzelnen Hauptstücke der Theologie Calvins auf ihre Problematik hin durchsehen. Wiederum kann es sich nicht um eine Gesamtdarstellung der Theologie Calvins in allen ihren einzelnen inhaltlichen Elementen handeln, sondern es sollen die Hauptpunkte herausgestellt und an ihnen der Stand der Forschung und die Problemlage aufgezeigt werden. Dabei wird sich vor allem zweierlei erkennen lassen: E r s t e n s , dass im Grunde in allen entscheidenden Einzelproblemen d a s Problem der Theologie Calvins in die Erscheinung tritt oder dahintersteht, nämlich die Frage der historischen Gesamtstellung und -Beurteilung Calvins überhaupt. (Selbstverständlich bezieht sich das nicht auf die ganz speziellen Fragen geschichtlicher Einzelverbindungen und Zusammenhänge.) Und z w e i t e n s : dass wir durch unsere bisherigen Untersuchungen und Ergebnisse in den Stand gesetzt sind, auch an den einzelnen Stellen die Problemlage genau zu erkennen, sie deutlich zu erfassen und sie über das Stadium des „Antagonismus" herauszuheben, der im Einzelnen so gut erscheint wie im Ganzen, ja den wir am ersten an den einzelnen dogmatischen Hauptpunkten beobachtet haben. 1. D i e

Gotteslehre,

a) Die Gotteslehre an sich. Das erste Hauptstück der Theologie Calvins ist die L e h r e von Gott. Dass wir in dieser ein wichtigstes Grundelement vor uns haben, darüber kann gar kein Zweifel sein, und darüber sind sich denn auch alle Forscher einig. Trotzdem haben wir über diesen wichtigsten Gegenstand noch keine wirklich zureichende Mono-



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graphie.187 Alle bisher erwähnten Forscher, soweit sie überhaupt nur in die Nähe des Gegenstandes kommen, beschäftigen sich mit ihm und müssen sich mit ihm beschäftigen. Die letzte Zusammenfassung der Calvinischen Gotteslehre bringt wiederum R. Seeberg.188 Aber, wie es ja bei Abzweckung seiner besonderen Arbelt auch nicht anders sein kann, gibt er keine umfassende Behandlung. Und auch er steht hier wie überall schliesslich auf der einen Seite des Antagonismus, und die klare Herausstellung des Problems sowohl wie seine genaue Disposition sind nicht durchgeführt. Eine wirkliche Behandlung der Gotteslehre Calvins muss sich m. E. mit folgenden Punkten befassen: Der Inhalt und die Form der Gotteslehre in scharfer Unterscheidung, ferner die Frage des Ursprungs und der geschichtlichen Zusammenhänge und schliesslich die Frage der religiösen Wertung und des inneren Gehaltes der Calvinischen Gotteslehre. Daran schliessen sich dann die Behandlung der Vorsehungslehre und der Trinität an. Bei allen diesen Hauptfragen stehen wir tatsächlich bis heute noch mitten In der Kontroverse, und gerade hier, wie es ja auch von diesem Fundamentalstück nicht anders zu erwarten ist, tritt der Zwiespalt unter den Forschern besonders stark hervor; ebenso macht sich der Mangel einer ausreichenden Kenntnis der geschichtlichen Vorbedingungen Calvins an dieser Stelle besonders fühlbar. Wir haben hier die Fragen herauszustellen und zu zeigen, wo ein Weg zu ihrer Lösung zu finden sein wird. Wenn man das Problem, wie es an seinem eigenen Fusspunkt erscheint, einmal ganz kurz und etwas grobgeschnitten sagen darf, so geht es auf folgende Frage zurück: Hat Calvin den scotistischen oder auch nominalistischen Gottesbegriff oder nicht? Ich weiss wohl, dass diese Formulierung für die einzelnen geschichtlichen Feinheiten nicht ausreicht, aber schliesslich trifft sie doch die entscheidende Frage. Man kann sie dann aber wohl auch noch so ausdrücken: Hat Calvin einen spekulativen, philosophisch bestimmten Gottesbegriff, oder hat er einen religiösen? Denn darauf läuft das Problem, auch wenn sich beides nicht immer völlig deckt, doch letztlich hinaus, 167) Die tatsächlich einzige besondere Schrift von P. J. Müller, De Godsleer van Calvijn, 1881, war mir nicht zugänglich; ich ersehe aber ans Zitaten, dass sie keineswegs genügt. 1881 lagen dafür auch noch längst nicht einmal die notwendigsten Vorarbeiten vor. 168) R. Seeberg Bd. IV, 2 p. 570—578.



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und es ist das die kürzeste Formel, auf die sich der Gegensatz der lutherischen, — d. h. aber hier wesentlich A. Ritschis189 — und der reformierten170 Forscher bringen lässt, und darum dreht sich der Kampf, der an diesem Brennpunkt besonders heftig ist. Gerade wenn es uns ganz deutlich ist, dass diese Formeln die Einzelheiten der geschichtlichen Zusammenhänge und Beurteilungen übergehen und nicht fassen, sind sie imstande, uns als heuristisches Prinzip unserer Untersuchung zu dienen. Denn indem die Forschung, trotz aller Vermittlungsversuche, an denen R. Seeberg und neben ihm noch E. Troeltsch 1 " am erfolgreichsten gearbeitet haben, doch nicht über den Antagonismus hinweggekommen, sondern bis auf den heutigen Tag darin stehen geblieben ist, wird deutlich, dass im Ansatz der Fragestellung ein Fehler sein muss, — eben der Fehler, oder besser die Unterlassung, die für die ganze Calvin-Forschung bezeichnend ist: Es ist nicht zwischen Inhalt und Form, zwischen Stoff und Methode unterschieden worden, und man hat sich hier besonders nicht klar gemacht, was denn unter „philosophischer" Art überhaupt und bei Calvin im besonderen zu verstehen ist. Und weiter hat man allzuschnell und ohne Unterscheidungen damit sofort die historische Herkunftsfrage, ferner die Frage der Stellung innerhalb des Systems, und ebenso gleich eine religiöse Wertung vermischt. Diese Unklarheit rächt sich bis jetzt; nur wenn an ihrer Stelle genaue Unterscheidungen eintreten, ist ein Weiterkommen möglich. Selbstverständlich handelt es sich hierbei vornehmlich um eine klare begriffliche Scheidung. In der Praxis der Untersuchung werden die einzelnen Punkte immer wieder zusammengehen. Das ist, wie uns jetzt schon aus unserer bisherigen Erkenntnis der Theologie Calvins deutlich ist, gerade bei der Arbeit an ihm, nicht anders zu erwarten. Denn für ihn als humanistischen Franzosen178 ist eben dies bezeichnend und wesentlich, dass die Inhalte seiner 169) Grundlegend für A. Ritschis Auffassung sind hier seine Studien zur christlichen Gotteslehre. Ges. Aufs.8 N. F. 1896 p. 94—104. Ferner: Rechtfertigung und Versöhnung Bd. I, p. 228. — Auch Seebergs neuste Darstellung muss trotz aller Polemik gegen Ritsehl in diese Reihe eingeordnet werden. 170) Ich zitiere nur E. Doumergue Bd. IV. p. 85 sqq., bes. p. 119 sqq, 427 sqq. Im übrigen ist die ganze reformierte Calvin - Literatur voll von der Polemik gegen A. Ritschl. 171) E. Troeltsch, Soziallehren, 1912. p. 615 sqq. 172) cf. hierzu die ausgezeichneten Bemerkungen R. Seebergs 1. c. Bd. IV, 2 p. 575 sqq.



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Theologie mit einer bestimmten Formgestaltung notwendig verbunden sind. Der Untersuchende muss da ganz klar hindurchsehen können. Von einer genauen Berichterstattung über die bisherige Forschung an der Gotteslehre Calvins kann hier abgesehen werden, da uns das nicht entscheidend weiterbringt. Eine Veröffentlichung der letzten Zeit jedoch scheint mir geeignet, Anknüpfungspunkt zu sein zur richtigen Fortführung des Problems. Ich meine die schon mehrfach erwähnte Arbeit von G. Beyerhaus.173 Ausser von E. Troeltsch174 ist diese Arbeit im allgemeinen nicht genug gewürdigt worden, wie mir scheint. Das hat seinen Grund darin, dass Beyerhaus das ganze Problem des Gottesbegriffs — wie das bei der Entstehung und dem Charakter seiner Arbeit nicht anders zu erwarten war — wiederum zu einseitig unter die juristisch-staatswissenschaftliche Beleuchtung und Beurteilung gerückt hat, und dass er sich dann der Tragweite seiner Feststellungen gerade für die eigentliche Theologie Calvins selbst gar nicht so bewusst geworden ist, während er auf der juristischstaatswissenschaftlichen Seite sie — wiederum naturgemäss — wohl doch für zu bedeutungsvoll hält. Das Wertvolle der Beyerhausschen Arbeit ist m. E., dass er, nach meiner Kenntnis zum ersten Mal in energischer und umfassender Weise, die Gotteslehre Calvins in dem Zusammenhang seiner juristischen Bildung, Kenntnisse und Denkweise hineingestellt hat.178 Für ihn ist das nur eine Nebenarbeit gewesen, und sie ist noch keineswegs vollständig erledigt. Für uns aber ist es entscheidend zu sehen, dass dies geht, dass etwas dabei herauskommt, und dass unsere Richtlinien von dieser neuen Seite her bestätigt werden, wohl verstanden, ohne dass Beyerhaus das selbst erkannt hat. Denn diese juristische Grundlage, die Beyerhaus in dem Gottesbegriff Calvins (er spricht immer von Souveränitätsbegriff) feststellt, ist nichts anderes als ein Teil, und zwar ein eminent wichtiger, der Formgestaltung der Calvinischen Gotteslehre. Wollte man j etzt sagen: Also stammt Calvins Gottesbegriff und seine Gotteslehre — ihrem Inhalt nach — aus dem Recht,178 so wäre das eine gänzlich 173) Studien zur Staatsanschauung Calvins. Mit besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffes. Berlin 1910. 174) E. Troeltsch, Soziallehren 1912. p. 658 u. ö. 175) G. Beyerhaus, 1. c. p. 26 sqq. und 48 sqq. 176) Das scheint A. Lang, m. E. zu Unrecht, als Eonsequenz der Arbeit von Beyerhaus anzunehmen. Gött. gel. Anz. 1912. Nr. 5.



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falsche Folgerung. Das Juristische ist — m. E. überhaupt — ganz gewiss aber hier, die Form, in der Calvin den Inhalt seines Gottesbegriffs auszudrücken unternimmt. Das zeigen die von Beyerhaus herangezogenen Materialien, die verschiedenen Bezeichnungen für Gott, die er bespricht, 1 " und anderes mehr, ganz sicher. Der I n h a l t des Calvinischen Grottesbegriffs ist seinem Wesen nach ein anderer und hat ganz andere Wurzeln als das Recht.178 Das Recht bedeutet doch, wenn mir hier eine Definition gestattet ist, das Rationalmachen (in bestimmter Weise) eines Tatsächlichen, Wirklichen — es ist nicht an sich etwas Allgemeingültiges und Notwendiges, mit Kant zu reden. So ist es mit Calvins Gottesbegriff. Das Materiale, Wirkliche, welches in der juristischen Form erscheint, ist etwas Religiöses, eben etwas Tatsächliches. Und dieser religiöse Inhalt stammt in e r s t e r Linie, das dürfen wir auf Grund der gesamten Forschung wohl sagen, von Luther, wenn auch vielleicht teilweise auf dem Umwege über andere Zwischenträger. Dieser Inhalt ist keine einheitliche Formel, sondern eine Mehrzahl von Elementen auf Grund religiöser Erfahrungen, auf Grund der Ausbeute der Bibel. Darum hat Doumergue sicher recht, wenn er in seiner Darstellung der Gotteslehre Calvins die verschiedenen Wesenszüge und Attribute Gottes zusammenstellt179 und auf die Methode Calvins a posteriori hinweist.180 Ebenso hat Wernle recht, wenn er sagt: „Hier (im ersten Artikel), nicht bei der Prädestinationslehre, muss man Calvins Gottesglauben — wir fügen nur betonend hinzu: seinem Inhalte nach — zu erfassen suchen." 181 Ebenso ist der Aeusserung Seebergs in Hinsicht auf die Herkunft eines einzelnen inhaltlichen Elementes des Calvinischen Gottesbegriffes durchaus zuzustimmen: „Der Gedanke der E h r e Gottes spielt bei Luther eine kaum minder erhebliche 177) Beyerhaus 1. c. p. 53 sqq. 178) Beyerhaus hat auch dafür schon ein richtiges Gefühl gehabt, wenn er sagt: „Die Frage, war es neu, die Souveränität Gottes, die Souveränität des Guten und Heiligen aufzurichten? kann, nachdem der Monotheismus, vor allem das Christentum, in die Erscheinung getreten ist, überhaupt nicht mehr gestellt werden." (L c. p. 78). Nur ist eben auch er, wie gesagt, sich über die grundlegenden Unterscheidungen nicht klar. 179) E. Doumergue Bd. IV. p. 85 sqq. 180) ibid. p. 89. 181) P. Wernle, 1. c. p. 39.

cf. Calvin op. I, 63.



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Rolle als bei Calvin."181 Um unserer ganzen Erhebungen willen, können wir nun am Ende aber Seeberg nicht beipflichten, wenn er so zusammenfasst: „Die deutlich erkannte göttliche Allwirksamkeit und ein konsequent durchgeführter Determinismus — das sind die Grundelemente in Calvins Gottesbegriff."188 Das stellt eine, ich möchte sagen: spekulative Reduktion in der Richtung eines Einheitsstrebens dar, wie es dem deutschen Forscher liegt, die nicht im Sinne des dialektisch arbeitenden Calvin ist. Wir werden wieder urteilen müssen, dass der Franzose Doumergue an dieser Stelle besser sieht. Denn es ist weiter nun noch festzustellen, dass das Juristische sicher nicht der einzige Zug der formalen Bildung und Arbeltsweise Calvins ist. Vielmehr werden wir hier die gesamten wissenschaftlichen Arbeitsmethoden der Zeit in Anschlag zu bringen haben, d. h. aber in erster Linie die formal - dialektische Methode des westländischen Humanismus. Ebenso wird an die scholastischen Methoden zu denken sein. Gleichermassen ist es selbstverständlich, dass Luther nicht die einzige Quelle für den Inhalt der Calvinischen Gotteslehre ist. Um das im allgemeinen sicherzustellen, genügt die einfache Erwägung, dass Calvin doch ausser seiner entscheidenden Beeinflussung durch Luther auch noch in anderen Zusammenhängen, nämlich denen seiner Jugendbildung und seiner Umgebung, gestanden hat, die doch nicht von Luther bis zum letzten völlig umgewandelt sind. Und weiter steht doch auch Luther in seiner Gottesauffassung in den geschichtlichen Zusammenhängen seiner Zeit, und baut gerade da auf ihnen auf, analog wie das Neue Testament in seiner Gottesauffassung mit dem Material des Alten Testamentes und des Judentumes arbeitet. Für Calvin wäre also hier die Abhängigkeit von Luther allein geradezu unmöglich. Und der komplexe Charakter seiner Arbeit ist gerade hier unbedingt sicher und deutlich. A. Lang hat mit seinem grundlegenden Buch über Bucer angefangen 184 aber hier muss nun ebenfalls erst die eigentliche Arbeit geleistet und genaue Untersuchungen 182) R. Seeberg, 1. c. Bd. IV, 2 p. 152. — Dabei wird gewiss noch daran zn denken sein, dass auch hier feinere Differenzen in der weiteren Ausführung, vor allem auch in der frömmigkeitsmässigen Ausprägung zwischen Luther und Calvin vorliegen. 183) ibid. p. 578. 184) A. Lang, Der Evangelienkommentar M. Butzers und die Grundzüge seiner Theologie. 1900.



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der Gotteslehre des Humanismus, des Faberschen Kreises und anderer, der Spätscholastik usw. gegeben werden. Aber es soll doch noch eine Einzelbeobachtung hier angeführt werden, die uns der endgültigen Problemstellung näher führt. Calvin sagt an einer hervorragenden Stelle: „ . . . iubemur cogitare quis sit Deus ? Quomodo enim ullam iniquitatem admitteret, qui iudex est orbis? AdDeinaturam si proprie pertinet iudicium facere, iustitiam ergo naturaliter amat, iniustitiam aversatur."186 Er umschreibt hier die „natura Dei" ja nicht geradezu mit „iustitia", aber durch diesen Satz werden beide doch in eine möglichst nahe Verbindung gebracht. Das scheint mir ausserordentlich bedeutsam. Iustitia ist eine formale Wesensbestimmung, im Unterschied etwa von Allmacht oder Liebe. So gewiss auch Luther Gott als gerecht beschreiben kann,186 so erscheint mir doch zweifellos, dass eine derartige D e f i n i t i o n des G o t t e s b e g r i f f s , und eine solche haben wir hier vor uns, bei Luther nicht möglich ist. Es soll freilich nicht behauptet werden, dass hier Calvin nur in seiner Eigenschaft als »Jurist" spricht; durch das Alte und Neue Testament ist solche Definition natürlich auch ermöglicht und begründet, aber es ist doch sicher charakteristisch, dass Calvin bei dieser wichtigen „Naturbestimmung Gottes" den formalen Begriff der Gerechtigkeit einsetzt. Das deutet wiederum auf die besonderen Zusammenhänge der Bildung Calvins und seiner Stellung in der Verbindung mit dem stark formal-juristisch orientierten französischen Humanismus. Weiter bestätigt uns diese Beobachtung, was wir bereits hervorhoben, dass die Scheidung von Form und Inhalt wiederum nicht überspannt werden darf. Gerade bei der dialektischen Arbeitsart Calvins ist ein Hinüber und Herüber von vornherein anzunehmen und wird immer wieder angetroffen werden. Für jede Untersuchung aber muss die Scheidung scharf festgehalten werden. Schliesslich aber führt uns die Bemerkung, die Wernle an die vorher genannte Stelle anknüpft, wieder an das Hauptproblem. Er sagt: „Der Willkürgott (des Irrationalismus) ist gerade nicht der Gott, vor dem ein Calvin in Ehrfurcht sich beugt."187 Und weiter: „Der Rekurs auf Gottes Willen ist darum wohl die erste, aber nicht 185) Op. Calv. I. p. 871 = Inst. III, 23, 4. 186) cf. Loofs, Dg. 4 p. 758 u. ö.; Seeberg, Dg. Bd. IV, 2 p. 149 sq. 187) P. Wernle, 1. c. p. 286.



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die letzte, die definitive Antwort Calvins, er schlägt damit die Frechheit der Kritiker nieder, die meinen, Gott zur Rechenschaft ziehen zu können, aber sich selbst und die Gläubigen tröstet er niemals bloss mit dem WilJensgott : Gott ist gerecht."188 Nur dass Wernle auch hier nicht das Problem klar herausgestellt hat. Denn wir sind hier in der Tat wieder scharf an dem Antagonismus, der die CalvinForschung durchzieht, zwischen dem Lutheraner A. Ritsehl auf der einen und den Reformierten auf der anderen Seite, im Vordergrunde steht die Frage, ob Calvin den scotistischen Gottesbegriff des Willkürwillens habe, dahinter aber das Problem, ob Calvins Gottesbegriff spekulativer, metaphysischer Art ist oder nicht.189 Nun hat Seeberg wohl schon mit Recht darauf hingewiesen, dass A. Ritschis Vorstellungen von der göttlichen „Willkür" unklar seien.1M in der Erkenntnis des Problems aber führt uns die genaue Betrachtung des Begriffes iustitia weiter. Iustitia ist ein formaler, und zwar ein formal - rationaler Begriff. Es kann sich also nicht um eine Spekulation über das Irrational-Metaphysische handeln, sondern wir sind in einer rational-dialektischen Behandlung des religiös Gegebenen. In diesem Zusammenhange ist es wichtig und zweifellos richtig, wenn F. Loofs sagt: „Calvin unterscheidet nicht, wie Luther, eine voluntas Dei revelata und eine voluntas Dei abscondita."" 1 Wir sind hier vielmehr in der klaren Luft rational - dialektischer Gedankenarbeit an religiösen Erfahrungen und theologischen Elementen, nicht in tiefgrabender metaphysischer Spekulation.192 Was Ritsehl und 188) ibid. p. 287. cf. auch p. 319. 189) Wir haben in der Tat bei Schleiermacher eine ganz analoge Kontroverse. 190) R. Seeberg 1. c. p. 576. 191) Loofs 1. c. p. 887. cf. dazu auch Scheibe 1. c. p. 69, 115 u. ö. Bohatec 1. c. p. 401. F. Kattenbusch, Deus absconditus bei Luther, in: Festschrift für J. Kaftan. 1920. 192) Scheibe hat das für den Gedanken der göttlichen Alleinursächlichkeit schon ganz richtig festgestellt (1. c. p. 91). Wenn man, — ich sage das jedoch unter allem Vorbehalt — einen von beiden einen metaphysischen, spekulativen Theologen nennen wollte, so könnte das viel eher Luther sein als Calvin. Davon hat K. Heim einen Eindruck gehabt: „Während bei Luther der. Verlegung der doppelten Determination ins transzendente Gebiet (voluntas Dei abscondita) die entgegengesetzte Anwendung des erkenntnistheoretischen Schemas die Wage hält, ordnet Calvin infolge seiner stärkeren systematischen Tendenz den transzendenten Doppflwillen der subjektiven Erfahrung der Gnade Gottes über, so dass die letztere zum ersteren nicht mehr in einer Antinomie steht, sondern in kausale Abhängigkeit von ihm tritt" (Gewissheitsproblem p. 278.) B a u b e : Probleme.

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überhaupt die Lutheraner immer wieder bewogen hat, eine solche bei Calvin anzunehmen, war hier wie überall die richtige Beobachtung einer methodisch - philosophischen Gedankenarbeit, deren rein f o r m a l e n Charakter sie nicht erkannten und die sie fälschlich als Spekulation ansahen. Die Reformierten erkannten wiederum richtig, dass Spekulation und Metaphysik nicht vorliege, sahen aber nicht die rational-dialektische Formgestaltung auch der Gotteslehre Calvins. b) Die Lehre von der Providentia Dei. Damit ist das Problem der Gotteslehre Calvins herausgestellt und die mit ihm gestellten Aufgaben der Forschung aufgezeigt. Es bleibt noch in einem kurzen Absatz der für Calvin so bedeutsamen Lehre von der Providentia Dei zu gedenken. Wir besitzen darüber die gute Monographie von J. Bohatec. 19 ' Man wird wohl sagen dürfen, dass seine überaus sorgfältige Arbeit die Providenzlehre Calvins in sich klar und erschöpfend darstellt. Auch die eine Fage, ob der Gottesbegriff, der in der Prädestinationslehre in Erscheinung tritt, wesentlich verschieden ist von dem Gott der Providentia, ob man also von einem Bruch in Calvins System reden kann oder nicht, 194 erscheint nach Scheibe's Vorgang 195 durch ihn erledigt; 198 von Widersprüchen kann h i e r nicht gesprochen werden. Ferner ist es m. E. überaus wichtig und als Fortschritt zu bemerken, dass er in der Behandlung des Determinismus die Unterscheidung des psychologischen und ethischen Freiheitsbegriffs einführt197 und sich mit dem psychologischen Freiheitsbegriff weiter beschäftigt, den Calvin selbst bewusst vom ethischen unterschieden hat. Auch ist bedeutsam seine Auseinandersetzung mit M. Schulze. Weiter hat Bohatec eine Reihe von Beobachtungen gemacht, die ihn hätten voranführen können. So schreibt er: „Diese Folgerungen (über das Verhältnis von Prädestination Gottes und menschlicher Freiheit) zieht aber Calvin nicht, aus dem einfachen Grunde, 193) J. Bohatec, Calvins Vorsehungslehre, in : Calvin - Studien 1909 p. 339 sqq. 194) Dies ist ja die besondere These A. Ritschis, der die Prädestination nur als ein „für Calvin wegen der Autorität des Paulus immerhin sehr wichtiges Anhängsel seiner Lehre von der Erlösung" ansieht. Ges. Aufs. N. F. p. 103. 195) Scheibe 1. c. p. 105. cf. Seeberg 1. c. p. 580. 196) Bohatec 1. c. p. 394. 197) ibid. p. 363 sqq.



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well es sich ihm nicht um eine theoretische Aufstellung und Lösung eines solchen metaphysischen, mit Kausalitätsbegriffen operierenden Problems der Willensfreiheit handelt"." 8 Und weiter: „Eine theoretische Lösung der Frage, wie es doch möglich sei, dass neben der göttlichen Vorherbestimmung der Mensch doch selbständig handeln kann, hat Calvin nicht gegeben, auch nicht geben können".1** Von hier aus war es naheliegend, sich nach dem Wesen der formalen Arbeit Calvins, nach der Formgestaltung seiner Theologie, umzusehen. Aber gerade dies tut nun doch Bohatec nicht mehr. Er führt, wie wir schon im ersten Kapitel sahen, an das eigentliche Problem der Calvin-Forschung nicht heran und über den Antagonismus nicht heraus. Auch er steht noch zu stark unter diesem und seine Polemik gegen die Lutheraner, besonders gegen Ritsehl,100 lässt ihn einen höheren Standpunkt nicht gewinnen. Die Formgestaltung der Theologie Calvins und deren Bedeutung wird ihm nicht klar. So kann er z. B. auch das Wahrheitsmoment in der These M. Schulzes, das von Kattenbusch201 festgestellt ist, nicht würdigen, weil er die umfassende Art der theologischen Arbeit Calvins nicht deutlich erkennt. Er weist einerseits noch mannigfache Diskrepanzen und Widersprüche im System auf — so z. B. in der Sündenlehre Calvins808 — und beweist dadurch, dass er sich doch von dem Herantragen eigentümlich deutscher, metaphysischer Betrachtungsweise an Calvin nicht freimachen kann ; 8M andererseits rühmt er Calvin als den Theologen der Einheit,8"4 wo er selbst dann auch wieder unter einem Calvin fremden methodischen Gesichtspunkt steht. Und vor allem sein Haupturteil von Calvin als dem „Theologen der Diagonale", über das oben808 schon ausführlich gehandelt wurde, zeigt, dass er seine zum grossen Teile gewiss ausgezeichneten und richtigen Beobachtungen und Erkenntnisse über die Lehre von der Providentia in dem Zusammenhang des Ganzen nicht richtig einstellen, beurteilen und bewerten kann; damit ist aber der Weg zum 198) 199) 200) 201) 202) 203) 204) 205)

l. c. p. 362. 1. c. p. 367. 1. c. p. 39t u. ö. P. R. E.8, XVI p. 170. 1. c. p. 378. Trotz seiner richtigen Beobachtungen s. o. 1. c. p 440. cf. p. 16 sqq.

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wirklichen Verständnis der Theologie Calvins im einzelnen wie im ganzen versperrt. Die Weiterarbeit an der Erkenntnis der Providenzlehre muss also auch unter den aufgestellten Gesichtspunkten vor sich gehen: sie bildet ein inhaltliches Element, das aber, wie ja auch Bohatec selbst zeigt, nicht einheitlich und einfach ist, und das, nachdem seine mannigfachen Wurzeln erforscht sind, nun in dem dialektischen Zusammenhange mit allen anderen Bestandteilen der Theologie Calvins erkannt und beschrieben werden muss. Nur das eine muss noch erwähnt und besonders hervorgehoben werden, dass es mir ganz selbstverständlich ist, dass Calvin nicht als Stoiker im eigentlichen Verstände anzusehen ist; seine fortwährende Polemik gegen den Stoizismus und den Fatalismus muss schon diese Meinung von vornherein verhindern. Aber dass ihn seine formaldialektische Arbeitsweise dahin geführt hat, den r e l i g i ö s e r f a s s t e n Vorsehungsglauben bis in seine letzten Konsequenzen r a t i o n a l — nicht spekulativ — zu verfolgen, steht mir ebenso fest, wie das andere, dass seine Art als complexor oppositorum die verschiedenartigsten Elemente, also auch solche, die durch den Humanismus zu ihm kamen, dialektisch zu verbinden wusste. Darum muss man auch, wie gesagt, viel vorsichtiger in der Feststellung von Diskrepanzen, Spannungen und Brüchen bei Calvin sein, als Bohatec das in der Tat ist.808 Was dem Deutschen in seinem, ich möchte sagen: metaphysischen Einheitsstreben, in seiner ganz anderen Art zu denken und denkend zu gestalten, als Bruch erscheint, ist es für den dialektischen, das Einzelne zum Ganzen verbindenden, „pluralistischen" Franzosen nicht. c) Trinität und Christologie. Anhangsweise muss wenigstens noch auf die T r i n i t ä t s l e h r e hingewiesen werden, mit der im engsten Zusammenhang die C h r i s t o l o g i e steht. Hier steht wieder wesentliche Arbeit noch bevor. In der h i s t o r i s c h e n Forschung sind beide bislang recht stiefmütterlich behandelt worden, wenn auch vorher in der s y m b o l i s c h e n Literatur die Christologie naturgemäss einen etwas breiteren Raum einnahm. Die Lage des Problems ist von jetzt an klar zu erkennen. Es ist Tatsache, dass Calvin sich bemüht hat, die altchristlich-orthodoxe Trinitätslehre und Christologie 206) Bohatec 1. c. p. 406, 408.



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in seine Dogmatik einzustellen. Seine Trinitätslehre und Christologie sind zweifellos in erster Linie einfach als Uebernahme des altkirchlichen Dogmas anzusprechen. E. Doumergue40T wie P. Wernle1108 haben sicher recht, wenn 6ie dabei spekulative Interessen an Calvin abweisen, ebenso R. Seeberg, wenn er die rein religiöse Grundlage seiner Christologie ins Licht rückt. 308 Man kann nicht übersehen, wie energisch Calvin sich gegen die „vagae speculationes"*1* der anderen wendet — er war wirklich kein Metaphysiker. Und auch das persönliche religiöse Verhältnis Calvins zu Christus kann nicht ausser Acht gelassen werden' 11 — so gewiss es allerdings ein ganz anderes war als das Luthers. Aber ebenso ist Tatsache, dass Calvin auch die Trinitätslehre und die Christologie in der eigentümlichen dialektischen Formgestaltung in seine Theologie hineingestellt hat. Ich halte allerdings nicht dafür, dass z. B. P. Wernle die ganze Problemlage richtig erkannt hat.811 Auch kann nach unserem ganzen Verständnis Calvins seinSatz: „Für Calvins Christentum ist der Christusglaube zentral"; „Der Christusglaube ist das Herz des Calvinismus"*1» als grundlegend und zureichend für das Verständnis Calvins und seiner Theologie nicht anerkannt werden. Aber eben von dieser eigentümlichen dialektisch-rationalen Formgestaltung gibt gerade P. Wernle Zeugnis, wenn er fortfährt: „Nur dass es ihm leider so gar nicht gelang, mit der Sprache des Herzens davon zu reden!" Das ist ganz richtig, aber das ist der Gesamtcharakter der Theologie Calvins in formaler Hinsicht, der ebenso, ja ganz besonders in der Trinitätslehre und Christologie in die Erscheinung tritt, wie sonst überall.414 207) E. Doumergue Bd. IV., p. 92 sqq., 214 sqq. 208) P. Wernle 1. c. p. 36. 5 209) R. Seeberg 1. c. Bd. IV, p. 585. 210) Inst. II, 12, 4 u. ö. 211) z. B. Op. Calv. I, 51. 212) Auch die Ausführungen Wernle's über das alte Dogma und seinen religiösen Wert in diesem Zusammenhange scheinen mir nicht richtig, z. B. p. 41. 213) Wernle p. 47. — Auch wenn Wernle hier wesentlich an die „Frömmigkeit" und nicht an die „Theologie" Calvins gedacht hat, halte ich das nicht für richtig. Das wird jedem Leser der Inetitutio, aber auch der exegetischen und homiletischen Schriften sofort klar. 214) Nicht unerwähnt soll noch eine mir für Calvin charakteristisch erscheinende Bezeichnung Christi bleiben: „supremua cognitor ac magister". Inst. III, 22, 7. Auch das ist ganz formal.



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Hier wird nun die genauere historische Arbeit einzusetzen und noch Erhebliches zu schaffen haben. 8 " Wir wissen von der Trinitätslehre und der Christologie des Humanismus, isoweit er eine solche gehabt hat, überhaupt nichts. Durch diese Vermittlung aber ist die orthodoxe Lehre des Mittelalters doch zuerst an Calvin herangetreten. Darum wird auf die eigentümliche Formung zu achten sein, die das trinitarische und christologische Dogma in diesem Zeitalter und in dieser Gegend gefunden hat. Dass dabei in der Trinitätslehre gerade auch die Juristischen" Methoden ihre Bedeutung haben, zeigt der Streit mit Caroli. Ganz besonders wichtig aber ist hier natürlich die Frage der Beeinflussung Calvins durch Luther. Ich glaube indessen nicht, dass sie für Calvins „Theologie" — so bedeutsam sie ist — quantitativ so viel austrägt. Auch Luther will ja das altkirchliche Dogma reproduzieren. Bedeutsamer ist hier sicher der Einfluss auf die „Religion" und „Frömmigkeit" Calvins. Aber jedenfalls müssen nun diese Elemente, die zur Trinitätslehre und Christologie Calvins zusammengekommen sind, in ihren Wurzeln festgestellt und ihrer neuen Gesamtgestaltung unter den soeben vorgelegten Richtlinien beschrieben werden: Calvin hat auch hier seine Formungskraft bewiesen und dialektisch-rational die gegebenen Inhalte bearbeitet. Nur noch eine Bemerkung soll hier hinzugefügt werden. Sie betrifft Servet. Meine Erwägungen leiten mich dazu, dass ich es nicht als geschichtlichen Zufall ansehen kann, wenn gerade Calvin in diesen so überaus schweren Konflikt mit Servet gekommen ist, genau wie es m. E. kein Zufall ist, dass eine einigermassen durchdringende unitarische Bewegung nur auf reformiertem Boden entstanden ist. Calvin musste in Servet die letzte und äusserste Konsequenz seiner eigenen Gedanken, ja man möchte fast sagen: seine eigene Karikatur sehen. Und gegen diese sich überschlagende Konsequenz m u s s t e er allerdings um seiner selbst, wie um seiner Sache willen, sich bis zum letzten wehren. 2,6 Es wäre aber durchaus falsch, wollte man Servets Kritik der Trinität und Calvins Trinitätslehre als Ergebnisse metaphysischer Spekulationen hinstellen. Wie die Geschichte deutlich lehrt, ist keineswegs meta215) Gerade hier hat Doumergue nichts Wesentliches gefördert. 216) Man wird hier unwillkürlich an ein analoges Verhältnis zwischen Luther und Karlstadt erinnert.



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physische Spekulation der gefährliche Gegner der Trinität und der Christologie, — sind sie doch selbst mindestens unter Mitwirkung metaphysischer Spekulation entstanden,— aber ihr Todfeind ist allerdings rational-dialektische Arbeit. Diese ist bei Calvin die Form für einen positiv gegebenen Inhalt. Bei Servet hat die Form diesen Inhalt selbst in ihrem eigenen Scheidewasser aufgelöst. Das war die Konsequenz, die dann Calvins Religion völlig zu vernichten drohte. Hier musste er unbedingt Halt gebieten. Aber die reformierte Christologie nachher mit ihrer Formel: Finitum non capax inüniti, zeigt genau, welcher Art und Formgestaltung die trinitarische und christologische Arbeit in den Calvinischen Kirchen ist. Mir ist es nicht zweifelhaft, dass eine genauere Untersuchung dieser Punkte hier Klarheit und Bestätigung schaffen wird. 2. D i e H e i l s l e h r e . Als zweites Hauptstück der Theologie Calvins ist seine Heilslehre in ihrem gesamten Umfange zu betrachten. Der Mangel einer umfassenden Gesamtdarstellung der Calvinischen Theologie macht sich hier am schwersten fühlbar. Wir haben eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen, darunter recht wertvolle Schriften. Aber eine erschöpfende Bearbeitung auch nur der Soteriologie in allen i h r e n Teilen und i h r e m G e s a m t z u s a m m e n h a n g fehlt bisher ganz. D a r u m ist auch hier ein Weiterkommen, ein Hinauskommen über den Zwiespalt, der sich auf diesem Gebiet in einer ganzen Fülle von Einzelproblemen ausdrückt, vorläufig nicht möglich gewesen. Ebenso zeigt sich gerade an dieser Stelle, dass die Einzeluntersuchung uns jetzt nicht mehr weiter bringt. Man wird sagen dürfen, dass eine ganze Anzahl der einzelnen dogmatischen Loci in sich bei Calvin so weit klar erkannt sind, dass da Wesentliches nicht mehr zu tun ist. Das Problem hängt eben immer wieder am Zusammenhang des Ganzen, dem grundlegenden Verständnis der Theologie Calvins und an der Feststellung der historischen Zusammenhänge. Die erste Aufgabe, die sich hier aufdrängt und noch vor der Betrachtung der einzelnen Teile zu erledigen ist, ist die Frage, in welcher R e i h e n f o l g e die einzelnen Loci der Calvinischen Heilslehre zu behandeln sind, und welche Bedeutung etwa ihrer Reihenfolge beizulegen ist. Soweit ich sehe, hat gerade die deutsche Calvin - Forschung sich diese Frage, die ebenso mit dem Problemkomplex der



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Formgestaltung der Calvinischen Theologie wenigstens zusammenhängt, niemals deutlich vorgelegt. Man hat sie in Gesamtdarstellungen nicht beachtet.817 Auch E. Doumergue stellt darüber keine Erwägungen an. Ich glaube aber, dass er aus seinem geistigen Zusammenleben mit Calvin das Richtige instinktiv fasst, wenn er im grossen und ganzen einfach der Anordnung Calvins in der Institutio 1559 folgt.818 Denn dabei zeigt sich die besondere Art Calvins ganz deutlich. Die Anordnung der einzelnen Loci der Soteriologie ist nicht deduktiv - systematisch im eigentlichen Sinne; eine solche müsste entschieden mit der Rechtfertigungslehre anfangen, sie müsste auch die Ethik an den Schluss des Ganzen stellen. Sondern sie ist dialektisch-psychologisch. Nur so ist Calvins Soteriologie zu verstehen und nur so werden die Schwierigkeiten und Widersprüche überwunden, die die CalvinForschung immer feststellen zu sollen geglaubt hat. Wichtig ist hier eine Anmerkung Doumergues darüber, dass sich bei Calvin Wiederholungen gerade in der Heilslehre finden sollen. Er sagt dazu weiter: „heureusement: Car pour les éviter, il faudrait couper, séparer, les membres les uns des autres par quelques-unes de ces opérations chirurgicales dont certaine systématisation est coutumière, mais dont la vie — et la vérité — ont horreur."819 Und noch eine andere Stelle aus Doumergues Behandlung der Sündenlehre möchte ich anführen: „Le grand logicien arrête intrépidement les déductions de sa dialectique. Il y a un fait, un fait d'experience facile et universelle. Et le fait dit à la dialectique: On ne passe pas!ttM0 Doumergue erkennt ganz richtig die dialektische und psychologische Art Calvins, die von den deutschen Forschern — so z. B. auch von W. Lüttge nicht — niemals wirklich in Anschlag gebracht worden ist. Darum ist sein Widerspruch gegen die Feststellung von Gegensätzen gerade in der Heilslehre Calvins durchaus berechtigt; das sind im Sinne Calvins keine inneren Kontradiktionen.281 Aber Doumergue kann eben, als selbst Franzose und Dialektiker, nicht erkennen, dass die Dialektik — wie auch im gewissen Sinne die Psycho217) Auch R. Seeberg beschäftigt sich mit dieser Frage nicht. 218) Mail kann P. Wernle, der die beiden ersten Ausgaben der Institutio genetisch darstellt, in dieser Hinsicht wohl neben Doumergue stellen. 219) Doumergue 1. c. p. 263. 220) ibid. p. 173. 221) Doumergue 1. c. p. 274.



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logie — zur Formgestaltung der Theologie Calvins gehört und daher in ihrer ganzen Ausdehnung, in allen ihren Teilen zur Erscheinung kommt, nicht aber besondere Abschnitte in Anspruch nimmt. Die Dialektik macht vor der religiösen Erfahrung n i c h t Halt, sondern verbindet die Inhalte, die die Psychologie vorfindet, formal-rational zu einem Ganzen, nachdem sie ihr durch historische Ueberlieferungen, d. h. hier vornehmlich durch Luther, nahegebracht worden sind. Dass Doumergue dem Richtigen nahe ist, zeigt er, wenn er sich gegen die Auffassung Calvins als Intellektualisten ebenso wendet, wie gegen die, welche ihn als blossen Positivisten hinstellt. Gerade bei der Rechtfertigungslehre erfasst er damit einen für das ganze Calvin - Verständnis wichtigsten Punkt.828 Aber wie schon oft gezeigt ist, kann er um seiner eigenen Stellung willen die richtige Erklärung für beides nicht finden.MB Noch eines muss für das Gesamtverständnis der Soteriologie gesagt werden. Gerade in ihr berühren sich ja überall Theologie und Frömmigkeit am allernächsten und stehen am stärksten in Wechselwirkung mit einander. Gerade darum muss aber auch in der wissenschaftlichen Untersuchung ganz scharf zwischen Calvins persönlicher Frömmigkeit und seiner Theologie unterschieden werden. Darin scheint mir, wie schon erwähnt, ein Hauptmangel neuerer Calvin - Untersuchungen vor allem der sonst so verdienstvollen von Lüttge, zu liegen, dass sie das nicht tun. Gewiss hängt im Geistesleben Calvins selbst beides aufs innigste zusammen. Aber die historische Arbeit muss sich jedesmal genau darüber klar sein, auf welcher Linie sie sich bewegt. Und bei Calvin ist das in seiner Unterschiedenheit doch wohl festzustellen. Nur so kann die Klärung der vorliegenden Probleme erreicht werden.

222) ibid. 223) Ich meine, dass auch Lang dem richtigen Verständnis an einer Stelle sehr nahe ist, wenn er sagt: „Die Worte Heiligung, Busse, Wiedergeburt, Bekehrung bedeuten für Calvin im wesentlichen dasselbe." (A. Lang, Rechtfertigung und HeiJigung nach Calvin, Gütersloh 1911 p. 21). Nur zieht auch er aus dieser richtigen Beobachtung nicht die richtige Folgerung: Nur eine dialektisch-psychologisch arbeitende Dogmatik kann so geartet sein — Ich glaube, nebenbei bemerkt, dass hier der Punkt ist, an dem sich die nächste Beziehung zwischen Calvin und dem Dialektiker Paulus zeigt.



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a) Die Sündenlehre. Wir wollen noch ganz kurz die einzelnen wichtigeren Teile der Heilslehre überblicken. In der Sündenlehre erscheint mir charakteristisch, dass, soweit ich sehe, eine genaue Auseinandersetzung über das m e t a p h y s i s c h e Wesen der Sünde, wie sie etwa Augustin hat, bei Calvin fehlt. Wir haben auch in der Literatur darüber keine Nachrichten. Was Doumergue darüber referiert, tM sind psychologische Erwägungen. Es zeigt sich auch hier wieder, dass Calvin eigentlicher metaphysischer Spekulation durchaus fernsteht. Dagegen bewegt ihn, wie Wernle richtig erkannt hat,M* natürlich die Frage des Ursprungs der Sünde; ihr konnte er ja gar nicht aus dem Wege gehen. Und nun beurteile ich die A n t w o r t , die er für diese Frage an einer berühmten Stelle der Institutio gibt, als einen der w i c h t i g s t e n Beweise für den von mir vorgeschlagenen Weg zum wirklichen Verständnis der Theologie Calvins: „Cadit igitur homo, Dei Providentia sie ordinante: sed suo vitio cadit."818 Wollte man diesen Satz als Ergebnis philosophischer Spekulation und als metaphysische Lösung des Problems ansehen, so ist klar, dass er in sich widerspruchsvoll und unzureichend ist, aber als dialektische Darstellung des Problems hat er seine grosse Bedeutung und erleuchtet uns durchaus den Charakter der Calvinischen Theologie.147 Denn Calvin ist imstande, die positiven, biblischen und psychologischen Gegebenheiten wirklich aufzustellen und dialektisch miteinander zu verbinden. Damit war für ihn die eigentliche Arbeit der Theologie getan. Gerade in der Sündenlehre wie allen anderen damit zusammen224) E. Doumergue, 1. c. p. 139 sqq. 225) P. Wernle 1. c. p. 190. 226) Inst. III, 23, 8. 227) R. Seeberg, 1. c. p. 577 erkennt richtig, dasB diese und andere Worte Calvins keine Lösung des Problems bringen woüen Aber der eigentlichen formalen Natur der Calvinischen Sätze ist er dann nicht weiter nachgegangen. — Auch die Frage, ob Calvin Supra- oder I n f r a l a p s a r i e r war, gehört in diesen Zusammenhang. Hierzu sei nur soviel angemerkt, dass die Deutschen, sowohl M. Scheibe (1. c. p 90) wie R. Seeberg (1. c. p. 664) sich für Calvin als Supralapsarier entscheiden. Der Franzose Doumergue fühlt wieder instinktiv richtig, dass auch dieser Punkt von Calvin dialektisch behandelt wird und dass eine wirkliche Entscheiduni; über Calvins Stellung im einen oder anderen Sinne gar nicht gegeben werden kann, weil Calvin selbst sie nicht vorgenommen hat. Doumergue nimmt mit Recht die geschichtliche Weiterentwicklung dafür zum Zeugen (1. c. p. 375 sqq.)



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hängenden Fragen wird übrigens ein wirkliches Fortschreiten erst möglich sein, wenn die Psychologie Calvins genügend aufgeklärt ist. b) Der Glaube. Ueber Calvins Lehre vom Glauben haben wir vor kurzem die erwähnte umfangreiche Monographie von S. P. Dee erhalten. Auf sie muss hier vor allem verwiesen werden. Sein Gegenbeweis gegen eine Auffassung, die den Glaubensbegriff als intellektualistisch meint beschreiben und beurteilen zu können, ist ihm zweifellos gelungen. Doch war ja diese Meinung in dieser schroffen Form, wie er sie sich bei seinem Gegner: „die Ritschlsche Schule (!)" vorstellt, überhaupt nicht vorhanden."" Aber gerade den Hauptpunkt hat er nicht getroffen. Denn auch er achtet nicht auf die Formgestaltung der Theologie Calvins; er erkennt ebensowenig den formal-dialektischen Rationalismus, der auch die Darstellung des Glaubensbegriffs bei Calvin beherrscht und daher ihn t h e o l o g i s c h anders gestaltet, als es der Glaubensbegriff Luthers ist, wie er richtig die allseitig umfassende Art in Anschlag bringt, in der Calvin auch in seinem Glaubensbegriff verschiedene Elemente zusammenzubringen imstande ist. Darum kann auch er an dieser Stelle nicht über den Antagonismus hinausführen, er bleibt auf der einen Seite, bei den Reformierten, stehen. Und den überaus feinsinnigen Untersuchungen G. Hoffmanns m wird er nicht gerecht. Denn dieser kommt dem richtigen Verständnis ganz nahe, wenn er an einer Stelle schreibt: „Wir haben in den einschlägigen Ausführungen Calvins mehr die kunstvolle Rhetorik, als die logische Gedankenentwicklung zu bewundern." a®° Nur hat auch er diesen Ansätzen keine weitere Folge gegeben. Und doch kann eben Calvins Glaubensbegriff nur als eine dialektische Bearbeitung verschiedener Momente in eigentümlicher Form wirklich begriffen werden, 8 " wobei 228) Ihm ist Wernle zur Seite zu stellen mit seinen Sätzen 1. c. p. 236 sq. Daneben ist dann Wernles Bemerkung sehr beachtenswert, gerade aus seinem Munde, dass Calvin die Höhe des lutherischen Glaubens nicht erreicht habe. (p. 254). 229) G. Hoffmann, Lehre von der fldes implicita Bd. II. p. 182 sqq. 230) G. Hoffmann 1. c. p. 202. 231) Zu erwähnen ist auch noch die immerhin interessante k a t h o l i s c h e Arbeit von J. Fritz, Der Glaubensbegriff bei Calvin und den Modernisten. Freiburg i. Br. 1913.

— 76 — der religiöse Hauptton auf dem auch für Calvin durch Luther erschlossenen evangelischen Verständnis des Glaubens beruht. c) Die Busse. Ueber die Busslehre haben wir die erwähnten Arbeiten von H. Strahtmann. Sie geben eine gute Uebersicht über die Entwicklung und den späteren Stand der Lehre. Dass an diesem Punkte eine Entwicklung in Calvins theologischer Auffassung stattgefunden hat, hat P. Loofs nach Koestlins und Ritschis Vorgang festgestellt. M2 Theologisch erscheint hiernach Calvins Darstellung durchaus Luthers ursprünglicher Auffassung entsprechend. Jedoch muss- nun hier wieder besonders genau die dialektische Form seiner Theologie, wie seine psychologische Art und dann sein persönlicher Frömmigkeitscharakter beachtet und unterschieden werden. Doumergue hat mit Recht darauf hingewiesen, dass poenitentia und regeneratio bei Calvin die gleiche Definition haben.489 Für das Verständnis der Calvinischen Theologie in ihrem dialektischen und in ihrem komplexen Charakter sind solche Feststellungen ebenso wichtig, wie die feinsinnigen Beschreibungen der Frömmigkeit Calvins durch Wernle.'84 Calvin erklärt selbst an einer wichtigen Stelle poenitentia und regeneratio gegenseitig durch sich selbst.234 An solchen Stellen liegen auch die Wurzeln für die Entstehung der Anweisung zur Ethik, die von da aus als dialektische Weiterentwicklungen zu verstehen sind. d) Die Rechtfertigung. Für die Rechtfertigungslehre, dies Herzstück der reformatorischen Dogmatik ist auf die Darstellung W. Lüttges und den Vortrag A. Längs hinzuweisen.286 Das hier erscheinende Grundproblem ist die Frage, ob Calvin Luthers Recht232) Loofs 1. c. p. 885. 233) Doumergue 1. c. p. 271, cf. Inst. III, 3, 9 und op. Calv. XXII p. 50/51. 234) Wernle 1. c. p. 232 u. ö. 235) Op. Calv. I. p. 690: „uno ergo verbo poenitentiam interpretor, regenerationem, cuius non alius est scopus, nisi ut imago Dei, quae per Adae transgressionem foedata et tantum non obliterata fuerat, in nobis reformetur." 236) Ueber die Bedeutsamkeit der Besprechung Lüttges durch Doumergue und die Vorzüge und Mängel der Lüttge'schen Arbeit, e t oben p. 26 sq.



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fertigungslehre vollkommen, unverkürzt und unverändert übernommen hat oder nicht. Lüttge237 berichtet über die Stellung der bisherigen Forscher zu dieser Frage, unter denen Schneckenburger, Schenkel, Schweizer, Dilthey und Troeltsch eine Differenz in der Gestaltung und vor allem in der Wertung der Rechtfertigungslehre bei Calvin gegenüber Luther annehmen. Dawider bemüht er sich mit Recht, die innere Uebereinstimmung zwischen Calvin und Luther zu zeigen. Eine gegensätzliche Stellung zu Lüttge nimmt A. Lang"' 8 ein; wir wissen, dass dieser „Antagonismus" aus der verschiedenen Grundstellung der verschiedenen Forscher stammt. In gewisser Weise müssen wir Lang Recht geben wenn er sagt, dass Lüttge „im letzten ¡Grunde damit auf die Linie der Ritschl'schen Deutung des Calvinischen Christentums zurücksinkt".289 Das heisst: wir müssen richtiger sagen, auch Lüttge erkennt den besonderen Charakter der Formgestaltung der Theologie Calvins nicht, der natürlich gerade in der Rechtfertigungslehre erscheint. Sie ist mit der Heiligung dialektisch in anderer Weise verbunden als in der Dogmatik Luthers. Das bedeutet aber noch keineswegs, dass sie irgendwie logisch von ihr abhängig gemacht wird.240 Jedoch gewinnt sie in ihrer theologischen Formung dadurch ein etwas anderes Ansehen. Und auch der Biblizismus als Formgesetz ist hier — wie sonst — von entscheidender Bedeutung. Denn er bindet Calvin in ganz anderer Weise an Gegebenheiten der Bibel, als Luther gebunden war. Darum führt weder Lüttge noch Lang über den Antagonismus in der CalvinForschung hinaus; denn sie beide erkennen nicht die formale Art der Theologie Calvins und besonders Lang sieht nicht seine besondere Art als Uebersetzer der Religion Luthers in ein fremdes Sprach- und Lebensgebiet. Denn um eine solche Uebersetzung, nicht aber um eine sklavische Nachahmung der Religion Luthers kann es sich natürlich nur handeln. Lang fasst den Unterschied von Religion und Theologie nicht scharf genug ins Auge und geht darum m.E. an dem Hauptpunkte vorüber: der Religion Calvins, die hier zum Austrage kommt. Denn er denkt an die Theologie Calvins, während den Lutheranern bei ihren Untersuchungen dessen Religion vorschwebt. Und, wie auch 237) 238) 239) 240)

W. Lüttge 1. c. p. 1—10. A. Lang, Calviniana. Gött. gel. Anz. 1912. Nr. 5. p. 261. A. Lang-, ibid. cf. hierzu Seebergs Darstellung, Dg. Bd. IV 2 p. 599.

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Lang zugeben muss: Die hinter der Rechtfertigungslehre stehende Religion ist die gleiche wie bei Luther, Calvin hat sie von Luther übernommen.441 Hier aber haben wir letztlich die Hauptsache, jedenfalls die Hauptsache, um die sich die Forschung bisher bemüht hat, und von der auch am Ende die geschichtliche Gesamteinstellung und -beurteilung Calvins abhängt. Den deutlichen Beweis für meine Auffassungen sehe ich in der Darstellung Doumergues, der im Grunde mit Lüttge ganz übereinstimmen muss und das auch durchaus zugibt; nur hat er eben die formale Art Calvins im Unterschied von Luther, wodurch natürlich die theologische Ausgestaltung äussere Veränderungen erleidet, sozusagen im Gefühl,444 und empfindet darum doch noch eine feine Differenz mit Lüttge. Aber schliesslich wendet Doumergue, wenn er seine eigene Auffassung gibt, Formeln an, die merkwürdig an A. Ritsehl und W. Herrmann anklingen.448 Das ist für seine ganze Arbeitsweise höchst bezeichnend. Dass gerade seine Darstellung der Rechtfertigungslehre Calvins keineswegs zureichend ist, soll überdies ausdrücklich gesagt sein, jedenfalls aber zeigt er an diesem Punkte selbst die tiefste innerliche Einheit Luthers und seines Helden, und dessen Abhängigkeit von dem, der den neuen Religionstypus innerhalb des Gesamtgebietes des Christentums brachte. Eine neue, wirklich zureichende historische Behandlung der Rechtfertigungslehre Calvins müsste nun vor allem auf die Verbindungen und Zwischenglieder achten, durch die Calvin die Rechtfertigungslehre Luthers überkommen hat. Hier ist dann sein Verhältnis zu Melanchthon von entscheidender Wichtigkeit; 244 eine genaue Untersuchung dieses Verhältnisses wird manches klären. Ebenso ist notwendig seine Stellung zu Osiander herauszuheben. Die Hauptsache aber wird auch hier die genaue Unterscheidung von Inhalt und Form und die Beachtung vor allem der zweiten sein. Dann wird es gelingen, auch in der wissenschaftlichen Diskussion zu einem einheitlichen Urteil zu kommen. Denn gerade hier befinden sich im letzten Grunde die reformierten Forscher nicht in einer so sehr grossen Entfernung von den Lutheranern, gerade 241) A. Lang, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin p. 28. 242) E. Doumergue 1. c. p. 263 sqq. 243) ibid. p. 285 sqq. 244) W. Lüttge spricht davon überhaupt nicht. Kurze Andeutungen bei R. Seeberg 1. c. p. 599.



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hier wirkt doch, in etwa wenigstens, die schliesslich vorhandene höhere Einheitlichkeit der gesamten Reformation, des evangelischen Christentums. e) Die Einheit von Religion und Ethos. Unmittelbar hiermit hängt aber die grosse Streitfrage zusammen, die wiederum fast zum Schiboleth des Gegensatzes lutherischer und reformierter Calvin - Forscher geworden ist: Hat Calvin eine wirkliche innerliche Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung gegeben, d. h. hat er eine wirkliche innere Einheit und Harmonie von Religion und S i t t l i c h k e i t erfasst oder nicht? Wir haben wieder das gleiche Bild: P. Loofs hat in sehr vorsichtig abwägender Form die Frage verneint," 6 und hier ist ihm Wernle mit feinsinnigen Bemerkungen aus der religiösen Psychologie heraus beigetreten.246 Auf der anderen Seite ist von A. Lang die Frage sehr energisch bejaht worden.847 Aber eben Lang zeigt selbst den Weg an, auf dem die Entscheidung dieser Frage zu suchen ist,*48 obwohl er selbst ihn nicht geht, dadurch, dass er den „ Mi tt elbegriff" Calvins, die „insitio in Christum", hervorzieht. Calvin hat, wie Wernle richtig hervorhebt,*49 das Problem wohl erkannt. Nun aber zeigt sich hier ganz deutlich der dialektische Theologe, der eben auf formalem Wege eine Verbindung s u c h t und dann eine solche auch findet, gegenüber dem religiösen Genius, der sie in seiner Religion hat. Eine erschöpfende Behandlung der Sache an dieser Stelle zu geben ist natürlich nicht möglich. Denn dazu wäre zunächst eine systematische Darstellung des Grundproblems der Religion überhaupt erforderlich. Weiter zeigt sich hier deutlich der Mangel, dass in der bisherigen Forschung zwischen Religion, Theologie und Frömmigkeit niemals pünktlich und klar geschieden wird. An dieser Stelle ist der Punkt, wo die drei in einer eigentümlichen und unmittelbaren Beziehung und Auseinandersetzung mit einander stehen, und wo es besonders schwer Ist, sie aus245) F. Loofs 1. c. p. 881 bei Anm. 2. 246) P. Wernle, 1. c. p. 354, 355, 360. — Die schärfste Formulierung dieser Auffassung finde ich bei Fuchs, Der Geist der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. 1914. p. 14: „Die Verbindung: von Religion und Ethos war im Calvinismus von vornherein eine recht lose, und schon von Anfang an stellte das religiöse Bekenntnis weniger eine wirkliche Religion, als vielmehr eine religiös bestimmte Ethik dar." 247) A. Lang, Rechtfertigung und Heiligung, p. 20, 26. 248) ibid p. 19 sq. 249) P. Wernle 1. c. p. 260.

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einander zu halten. Nur eine Andeutung über die Richtung, in der die Lösung des Problems liegt, soll versucht werden. Bei Luther geht die Ethik in gewisser "Weise in der Religion auf. Sie ist das n o t w e n d i g e Komplement der Religion, man könnte last sagen: Sie ist die Religion selbst, unter einem neuen, besonderen Gesichtspunkte betrachtet. Seine theologischen Formulierungen sind dann der Ausdruck des unmittelbaren Tatbestandes, den er als Genius der Religion in seiner Frömmigkeit hat. Für Calvin aber tritt die Theologie als Verbindungsglied zwischen Religion und Frömmigkeit, und zwar die Theologie in ihrer formaldialektischen Art, diese schafft dann erst die Verbindung von Religion und Sittlichkeit. Ueber den Antagonismus der Forscher aber wird man hier wie so oft urteilen müssen: Beide haben recht und beide haben unrecht. Das heisst: Calvin hat wohl eine Vereinigung zwischen Religion und Sittlichkeit, es ist aber keine innerlichste Einheit, sondern eine dialektische Verbindung der Gegenstände seiner Religion, das ist des Inhaltes seiner Frömmigkeit. f ) Eschatologie und Jenseitschristentum. Ueber das letzte Stück, die Eschatologie und das Jenseitschristentum Calvins, das durch die Arbeiten M. Schulzes wieder in den Vordergrund der Verhandlungen gerückt wurde, genügt hier ein ganz kurzes Wort. Die Bedeutung der Schulze'schen Schriften wurde schon gewürdigt, auch erkannt, dass die von ihm beabsichtigte „Erklärung" Calvins aus einem einzigen Materialprinzip misslungen sei. Gerade an dieser Stelle ist uns der komplexe Charakter der Calvinischen Theologie besonders deutlich geworden, so dass es als eine irreführende Betrachtungsweise zu bezeichnen ist, wollte man von da aus etwa der Kirchen- und Staatslehre Calvins wie seiner praktischen Ethik gegenüber „Widersprüche" feststellen, und dann zu vereinheitlichenden Systematisierungsversuchen schreiten. Hier ist einer der wichtigsten Punkte, an dem sich Calvins Theologie als eine wirkliche „complexio oppositorum" unmittelbar erweist, von dem aus man diesen Wesenszug der Formgestaltung der Calvinischen Theologie mit am deutlichsten erkennen kann. Hat man ihn hier wirklich gefasst, so wird man ihn in allen übrigen Teilen seiner Dogmatik umso leichter auffinden und würdigen können für deren Verständnis im ganzen und im einzelnen.



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Ich möchte nur noch hinzufügen, wie gerade in dem Abschnitt Inst. III, Kap. 6 bis 10 die religiöse Persönlichkeit Calvins in besonders hellem Licht erstrahlt; jede Behandlung seiner F r ö m m i g k e i t muss diese Stücke ganz besonders in Betracht ziehen. Hierbei wird neben seinen starken Jenseitsgedanken und -Stimmungen auch auf seine ausgezeichnete Nüchternheit in der Eschatologie vornehmlich zu achten sein.2"4 Von hier aus muss man sich weiter wohl hüten, seinen religiösen Ernst in das Finstere zu übertreiben. Auch hier ist Calvin der Mann, der sich nicht auf einer Linie bewegt, sondern die verschiedensten und auch gegensätzlichen psychologischen Inhalte in sich befasst und theologisch zu verbinden imstande ist.451 3. Die P r ä d e s t i n a t i o n s l e h r e . Das dritte Hauptstück der Theologie Calvins, die Prädestinationslehre, ist, wie allgemein bekannt, das Feld, das von der gesamten Forschung am intensivsten beackert worden ist. Dazu hat natürlich von vornherein das Konfessionsinteresse den Hauptanstoss gegeben. Denn in ihr sah der Calvinismus in der Heldenzeit sein eigentliches Palladium. Und so gewiss der Anlass dazu bei Calvin selbst gegeben ist, so hat die Lehre doch im Verlauf der Geschichte der Calvinischen Kirche und Theologie infolge des konfessionellen Gegensatzes ein grösseres Gewicht bekommen, als sie im Rahmen der eigentlichen Theologie Calvins hat. Das ist heute von der gesamten Forschung festgestellt. 262 Ebenso sicher ist aber, dass in der Theologie Calvins selbst die Prädestinationslehre ein eminent wichtiges Stück darstellt. Auch darüber kann ein Zweifel nicht mehr bestehen, vor allem nach der schon erwähnten ausgezeichneten Untersuchung von M. Scheibe. Für uns handelt es sich hier, wie überall, nicht um eine eingehende Darstellung der Lehre. Eine solche, die ihre Einzelheiten gut aufklärt, auch die Verbindungen im 250) cf. Inet. III, 25. — Doumergue 1. c. p. 342 sqq. — Wernle 1. c. p. 71. 251) Darauf hat Doumergue m. E. mit Recht hingewiesen Bd. IV. p. 323 sqq., gegen B. Bess, Calvin, in: Unsere religiösen Erzieher. Bd. II. p 81, 82, und M. Schulze, Jenseitschristentum p. 31. 252) Insofern kann man doch sagen, dass A. Ritsehl mit seiner Auffassung der Prädestinationslehre Calvins (Ges. Aufs. N. F p. 103, a. oben) wenigstens den Anstoss zu einer wirklich historischen Betrachtung gegeben hat, auch wenn seine eigene Beurteilung an sich nicht richtig ist. Bauke: Probleme. 6



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Zusammenhange des Ganzen beleuchtet, haben wir in Scheibes Arbeit, deren Ergebnisse auch von der neueren dogmengeschichtlichen Forschung anerkannt worden sind. ,M Trotzdem ist auch durch M. Scheibe das P r o b l e m der Prädestinationslehre Calvins noch nicht auf den Weg seiner Lösung gekommen. Das zeigt die schon behandelte Deutung von Bohatec, der noch immer von der Prädestination als der „Zentrallehre" spricht,aM ihr aber die Lehre von der Providenz als „Stammlehre" zur Seite stellt. Gerade diese Aussage von Bohatec zeigt uns die ganze Unsicherheit, in der wir uns bisher in der Calvin-Forschung überhaupt und der Prädestinationslehre gegenüber im besonderen befinden. Denn dass hierdurch Charakter und Wesen der Prädestinationslehre an sich sowohl wie in ihrer Stellung und Bedeutung für das Ganze nicht klar wird, ist sicher; und Bohatec ist nicht imstande gewesen, diese beiden Begriffe „Zentrallehre" und „Stammlehre" wirklich deutlich zu machen. Wenn die Prädestinationslehre, wie von A. Ritsehl an alle lutherischen und reformierten Forscher übereinstimmend sagen, mit alleiniger Ausnahme vielleicht von Bohatec, n i c h t die Z e n t r a l l e h r e Calvins ist, was ist sie denn überhaupt und welche Stellung nimmt sie im Ganzen der Calvinischen Theologie ein? Das ist das Problem, dessen Lösung immer noch nicht gefunden, in dem sich wieder der Antagonismus der Forschung aufs schärfste zeigt. Im Rahmen unserer Arbeit liegt es dabei nicht, die Entwicklung der Prädestinationslehre im Zusammenhang des Auswachsens der Theologie Calvins von 1536 bis 1559 genau zu verfolgen. 3 " Es kommt für uns auf das Problem an, wie es in der vollendeten Gestalt der Calvinischen Theologie erscheint, und wie es doch seiner gesamten theologischen Lebensarbeit zugrunde liegt. Ebensowenig haben wir es hier mit der an sich überaus wichtigen religionspsychologischen, frömmigkeitsbestimmenden Deutung der Prädestinationslehre zu tun. Ich würde niemals leugnen, dass Seeberg recht hat mit dem Satz: „Calvin empfand 1 6 6 in dem Prädestinationsgedanken je länger desto mehr eine Stütze der Heilsgewissheit."267 Aber eben 253) cf. Loofs, Dg.* p. 886 sq. - R. Seeberg 1. c. Bd. IV. 2 p. 578 8qq. 254) J. Bohatec in: Calvin-Studien p. 414. 255) Hierüber unterrichtet ausgezeichnet der erste Teil der Scheibeschen Arbeit, auf den darum hingewiesen werden kann. 256) Von mir gesperrt 257) R. Seeberg, 1. c. p. 602.



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diese wie auch andere sind religionspsychologische, nicht eigentlich dogmatische Erwägungen." 8 Dass wir in der Prädestinationslehre Calvins kein spekulativ deduziertes, durchgearbeitetes Philosophumenon haben, darüber ist seit dem Einsetzen der eigentlich historischen Forschung keine Diskussion mehr. Hier hat ja auch Ritsehl nichts derartiges behauptet.859 Bohatec fasst m. E. ganz richtig zusammen, wenn er sagt: „Es darf wohl als angenommen gelten, dass die unbedingte Prädestination Calvins nicht dem spekulativen Interesse entsprungen ist."»40 Aber seine Portsetzung schon ist nicht mehr genau und fährt darum das Problem auf ein falsches Geleise: „ . . . sondern dem tief religiösen, nämlich das Heilsbewusstsein zu gründen und zu stärken." Schon der Ausdruck „Interesse" ist falsch und geeignet, unrichtige Vorstellungen zu erwecken, und dann gehen da wieder Theologie und Frömmigkeit, Religionspsychologie und Dogmatik, ebenso wie Form und Inhalt durcheinander. Hier muss anders und genauer unterschieden werden. — Den einen Satz von Bohatec, der noch hier in den Zusammenhang gehört, haben wir schon oben abgelehnt: „Calvin dachte wirklich in Regionen, wo den Meisten das Denken vergeht. " a61 Denn dieser würde ja, wenn er auf den Inhalt bezogen werden sollte, entschieden ein spekulativmetaphysisches Denken bezeichnen müssen — anders hätte er keinen Sinn: aber gerade dies ist es doch, was Bohatec an anderen Stellen mit Recht ablehnt. Vergegenwärtigen wir uns die Ergebnisse unserer Feststellung der Formgestaltung der Calvinischen Theologie, so können wir nun neben die aus der bisherigen CalvinForschung — freilich wie das letzte Beispiel zeigt, längst nicht immer mit der genügenden Klarheit — sich ergebende richtige Negation die richtige Position setzen: Die Prädestinationslehre ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Spekulation, sondern ist die dialektisch-rationale Bearbeitung eines irgendwie vorgefundenen religiösen Tatbestandes. ,M 258) So gründet sich auch Seebergs vorsichtige Formulierung 1. c. p. 581: „In diesem Sinne (in Rücksicht auf die Entwicklung im Laufe seines ganzen Lebens) mag die Prädestinationslehre dann als „Zentrallehre" bezeichnet werden," wesentlich auf religionspsychologische und praktische Betrachtung. 259) cf. Scheibe p 71. 260) J. Bohatec, in: Calvin-Studien p. 404. 261) ibid. p. 379, cf. oben Kap. II. p. 37. 262) Dazu ist, wie schon an anderer Stelle gesagt, die traditionelle, biblische Gegebenheit mit hinzuzunehmen, cf. auch nachher p. 85. 6*



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Sie ist keine metaphysische Erklärung für das tiefste Geheimnis der Religion, denn Calvin war überhaupt kein religiöser Metaphysiker und drang gar nicht spekulativ in die tiefsten Tiefen der Religion und der Gottheit ein. Vor dieser Auffassung Calvins sollte man sich doch wohl hüten. Denn man wird wirklich immer wieder aufs kräftigste erinnert und gewarnt durch seine dauernden Bestrebungen r klar zu machen, dass das „absconditum" in seiner Verborgenheit gewahrt bleiben soll. Und auch sein berühmtes Wort von der „docta ignorantia" hat er doch nicht umsonst gesprochen. 21 " Jede genauere Betrachtung der Prädestinationslehre selbst muss davon abhalten : Sie ist gar keine Erklärung des tiefsten Problems und kann das gar nicht sein. Denn eben das, worauf es jedem spekulativen Denker ankommen muss, nämlich den Urgrund zu erkennen, in dem das decretum horribile innerlich, allgemeingültig und notwendig begründet ist, wird gerade nicht von Calvin behandelt, sondern die ganze Frage abgewiesen. Macht man sich die Prädestinationslehre, so wie sie sich bei Calvin vorfindet, im Ganzen klar, so kann man zu gar keinem anderen Ergebnis kommen, als zu dem, dass sie in keiner Weise irgend eine Weiterführung eines Problems, eine letzte Erklärung und Begründung ist, sondern nichts anderes als die theologische Formung eines Inhaltes, der gegeben ist. Das heisst aber, die Prädestinationslehre stellt nur, in der Calvin eigenen Form, etwas fest, bedeutet jedoch im Grunde gerade den völligen Verzicht auf jede wirkliche innere Herleitung> Erklärung und Begründung. Diesen Verzicht auf Erklärung aber bietet sie in der eigentümlich formal-rationalen Ausgestaltung, und diese war es, welche deutsche Forscher, und so auch in einem gewissen Masse Bohatec, verleitet hat, in ihr eine tiefsinnige Spekulation sehen zu wollen. Wiederum hat der calvinistische Franzose Doumergue ein instinktiv richtiges Gefühl gehabt, wenn er als Charakterisierung der Prädestinationslehre den bildlichen Ausdruck „clef de voûte", Gewölbeschlusstein, findet.2®4 In der Tat hat die Prädestinationslehre für das Ganze der Calvinischen Theologie auch eine zusammenbindende Bedeutung, sie hat es aber vermöge ihres eigenen rationaldialektischen Charakters, welcher derselbe ist wie der der 263) cf. lost. III, 23, 6—10. cf. Wernle, ]. c. p. 238 f=qq. — Aber auch Wernle hat das Wesen der Prädestinationslehre nicht zur Darstellung gebracht. 264) Doumergue 1. c. p. ?57 sq.



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gesamten Theologie Calvins. Dabei zeigt sich aber weiter, dass der Franzose Doumergue das wieder nicht in seiner wahren Art erkennen kann, weil er selbst in dieser Formgestaltung mitten inne steht. So genügt ihm das Gleichnis, und es genügt ihm zugleich die Calvinische Prädestinationslehre als wirkliche Lösung des letzten Problems, denn er selbst lebt in dieser formal - rational - dialektischen Theologie.146 Wenn wir diese formal-rationale Art der Prädestinationslehre erkannt haben, und wenn wir besonders in dieser Art den Grund dafür gesehen haben, warum sie so oft als spekulative Doktrin missverstanden worden ist, so können wir noch den anderen Wesenszug der Formgestaltung. der Calvinischen Theologie an ihr beobachten und zu ihrem Verständnis heranziehen. In dem schon genannten Satze A. Ritschis, sie sei „ein für ihn wegen der Autorität des Paulus immerhin wichtiges Anhängsel seiner Lehre von der Erlösung,"266 liegt eine ganz richtige Erkenntnis zugrunde, nur dass Ritsehl sie durch die völlig falsche Bezeichnung „Anhängsel" sich und anderen wirkungslos gemacht hat. Es ist nämlich in Wahrheit der Biblizismus als Wesenszug der Formgestaltung, als Formgesetz der Calvinischen Theologie, der sich in seiner eigentümlichen Art hier ganz deutlich zeigt. Die Prädestination ist ein biblisches Element — neben der ganzen Reihe der anderen, — also weder ein Anhängsel noch die Zentrallehre, sondern ein Element dieser alle Einzelheiten zu einem formalen Ganzen dialektisch verbindenden Theologie neben dem andern: die stoffliche Quelle ist jedenfalls im theologischen Bewusstsein Calvins die Bibel. Und nun hat die Lehre selbst noch wieder formal-dialektische Bedeutung für die Bearbeitung der Tatsachen des religiösen Lebens — worauf Doumergue mit seiner Bezeichnung „clef de voüte" ganz richtig hindeutet. Wenn wir aber eben sagten, die Bibel sei die stoffliche Quelle im theologischen Bewusstsein Calvins, so muss uns das noch auf ein Letztes hinweisen. Wer Luthers „de servo arbitrio" kennt und es mit den Erörterungen Calvins über die Prädestinationslehre vergleicht, der muss schliesslich erkennen, dass das religiöse Gut, 265) Für den metaphysischen Theologen könnte sie nicht genügen. — Wie die Behandlung der Prädestinationelehre, und insbesondere der calvinistischen, durch einen deutschen Theologen aussieht, zeigt am besten Schleiermacher. 266) A. Ritsehl, Ges. Auf«. N. F. p. 103.



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was in der Prädestinationslehre Calvins erscheint, eben von Luther ergriffen und in „de servo arbitrio" zum Ausdruck gebracht worden ist, und dass hier die unmittelbare hauptsächliche Quelle für Calvins Darstellung ihrem eigentlichen Religionsgehalt nach ist.8'7 Hat man aber dann die Richtlinien der Formgestaltung der Calvinischen Theologie im Sinne, so wird auch alsbald der Unterschied Calvins von Luther klar, der bisher, solange man immer nur an theologische Inhalte dachte, überhaupt nicht zu präzisieren war. Man sah dieselben theologischen Inhalte, man las fast die gleichen Worte und man hatte doch das unmittelbare Empfinden, sich trotzdem bei Calvin in einer ganz anderen theologischen Welt zu finden. Das Problem ist für uns jetzt gelöst, oder mindestens auf den Weg seiner Lösung gebracht: der Franzose Calvin hat das religiöse Gut Luthers überhaupt nur übernehmen können, indem er es in eine völlig andere Formgestaltung, eben eine rational - dialektische hineinbrachte, In einer neuen anderen Gestaltung theologisch zum Ausdruck kommen liess, und das Ergebnis dieser seiner „Uebersetzerarbeit" im eigentlichsten Sinne, die nicht nur die Buchstaben überträgt, sondern das religiöse Gut aus anderen in die eigenen Formen abwandelnd hinüberbringt, ist seine besondere Prädestinationslehre.2118 Die Heilsgewissheit. An die Behandlung der Prädestinationslehre hat sich schliesslich immer noch die Diskussion einer besonderen Frage angeschlossen, nämlich die: Gibt der Calvinismus im letzten Grunde eigentlich H e i l s g e w i s s h e i t oder nicht? Wir können diese Frage auch hier nicht erschöpfend behandeln, sondern nur in ein paar Sätzen zeigen, wie auf Grund unserer Erkenntnis der Weg zur Lösung dieser Frage zu denken ist. Wir stehen wieder an einer der 267) Das hat auch Scheibe ganz richtig nach mannigfachen Vorgängern festgestellt, p. 15 — wobei hier selbstverständlich die verschiedenartigen anderen Beeinflussungen nicht geleugnet werden sollen. 268) Nur anmerkungsweise soll auch hier noch einmal darauf hingewiesen werden, dass in der Prädestinationslehre auch die empirischpsychologische Art und Arbeit Calvins sehr deutlich zum Ausdruck kommt. Das hat schon Schneckenburger (Th. St. u. Kr. 1847 p. 973 sqq) ganz richtig erkannt und ihm ist Doumergue auch hierin gefolgt. Auch in dieser Beziehung zeigt sich Calvin als echter Franzose. Dessen Stärke liegt bis heute in scharfer psychologischer Erfassung und Behandlung der Dinge, gegenüber dem viel tiefer grabenden metaphysischen Deutschen.



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Stellen, wo der Antagonismus in der Calvin - Beurteilung am ernstesten und tiefsten ist, und zwar nochmals wirklich wo der persönliche Glaubensstandpunkt zuletzt allein entscheidet. Wir haben in einer sehr tüchtigen Arbeit von G. Klingenburg, in der man es dem Titel nach gar nicht vermuten sollte,289 die beste und ausführlichste Untersuchung dieser Frage; auf sie muss hier verwiesen werden. Sie stellt mit ausgezeichneter Objektivität die beweisenden Momente für die Heilsgewissheit bei Calvin zusammen und kommt zu einem bestimmt bejahenden Urteil vom historischen Standpunkte aus, führt auch richtig die Reihe der übrigen Forscher, die zu gleichem Ergebnis kommen, an.'70 Als für den französischen Calvinismus heute massgebender Zeuge muss dann Doumergue hervorgehoben werden, der immer wieder die certitudo salutis als eine Hauptposition Calvins feststellt.871 Nun hat vorher F. J. Schmidt behauptet, dass der Calvinismus eigentlich keine Heilsgewissheit gebe, sondern dass bei ihm die Sicherheit der Beziehung zu Gott erst durch die guten Werke persönlich gewiss gemacht werde.*72 F. J. Schmidt ist freilich, wie man wohl sagen darf, überhaupt kein Historiker und ganz gewiss nicht Calvin-Forscher. Seine Darstellung ist sicher falsch, wenn man sie als eine historische Calvin-Untersuchung ansehen will, und die scharfe Zurückweisung, die er durch Doumergue273 und die klare Widerlegung, die er durch Klingenburg erfährt,874 ist sicher berechtigt und richtig. Theologischinhaltlich folgt Calvin hier wirklich Luther und ist durchaus korrekt, wie Klingenburg überzeugend nachgewiesen hat. Aber doch kommt bei F. J. Schmidt ein religiöses-frömmigkeitsmässiges Empfinden des deutschen Lutheraners instinktiv zum Ausdruck, wenn ihm die Calvinische Darstellung der Heilsgewissheit nicht genügt, wenn er da etwas vermisst, wenn er nämlich eine solche eigentliche Heilsgewissheit, die der Gesamtperson aus der Verbindung mit Christus zukommt, bei Calvin als fehlend erkennt und 269) G. Klingenburg, Das Verhältnis Calvins zu Butzer, untersucht auf Grund der wirtschaftsethischen Bedeutung beider Reformatoren. (Bonner Diss.) 1912. p. 64 sqq. 270) ibid. p. 70: Sieffert, Lobstein, Troeltsch, Doumergue, Scheibe, Lüttge, Lang, Strahtmann, Knodt. 271) Doumergue 1. c. p. 221 sqq. 351—55. 272) Preuss. Jahrb. 1905. p. 200 sqq: „Kapitalismus und Protestantismus". 273) Doumergue, Bd. V. p. 654 sq. 274) Klingenburg, 1. c. p. 70 sq.



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annimmt, dass nur eine Wirkung auf die individuellen Kräfte des Menschen, vornehmlich den Willen, stattfindet. In der Tat, die Diskussion zwischen F. J. Schmidt und seinen Gegnern lässt uns so recht deutlich hineinsehen in die letzten Differenzen in der Religionserfassung und in der Frömmigkeit und beleuchtet uns hell die ganze Schwierigkeit einer wirklich historischen Erkenntnis und Wertung der Theologie Calvins. Das Urteil des Historikers kann nur so lauten: Der Calvinist hat recht, wenn er in Calvins Theologie die Heilsgewissheit im evangelischen Vollsinne ausgedrückt findet. Und er hat recht, vor allem, soweit er Franzose und Westländer, oder aber in die innere Gemeinschaft dieser besonderen Formung des reformatorischen Religionstypus hineingezogen ist, wenn er in dieser theologischen Darstellung den völlig genügenden Ausdruck seines eigenen heilsgewissen Glaubens findet. Ebenso hat der wissenschaftliche Historiker recht, wenn er diese Tatsachen feststellt, d. h. wenn er im Sinne der Theologie Calvins selbst die Frage der Heilsgewissheit mit Ja beantwortet. Aber doch hat auch der deutsche Lutheraner recht, wenn er seinerseits für sich die theologische Darstellung Calvins als nicht ganz zureichend empfindet. Denn die theologische Ausprägung seiner Religion steht unter anderen Formgesetzen als die Calvins. Dahinter stehen andere religionsmetaphysische und religionspsychologische Faktoren und Motive. Hier ist die letzte historische und psychologische Wurzel des Gegensatzes und des Kampfes der Konfessionen untereinander, und wir können sie historisch schliesslich nur mit dem Hinweis auf die besondere Formgestaltung der Theologie Calvins und auf seine besondere religiöse Psychologie bestimmen. Diese letztere würde noch wieder eine eigene ausführliche Untersuchung fordern.

4. Die L e h r e von d e r K i r c h e . Als letztes Hauptstück der Theologie Calvins haben wir noch seine Lehre von der Kirche zu nennen, die in jüngster Zeit, wie bekannt, besonders in den Mittelpunkt des Interesses getreten ist, vor allem durch die Arbeiten M. Webers 17S und E. Troeltsch's. 27 ' So wichtig diese Schriften und die sich daran anschliessende Dis275) M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Arch. f. Sozialwissensch. XX. XXI. Tübingen 1905. 276) E. Troeltsch, Die Soziallehreu der christlichen Kirche. 1912.



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kussion auch für die Erforschung des Calvinismus geworden sind, so gehören doch ihre Probleme und Ergebnisse im einzelnen nicht mehr in unsere Untersuchungen über die Probleme der T h e o l o g i e Calvins hinein. Denn hiermit ist die Calvin-Forschung auf das Gebiet der Politik und Nationalökonomie, der Staats- und Wirtschaftslehre übergeführt worden. Für die Erkenntnis des Gesamtwerkes sowie des gesamten Geisteslebens Calvins sind diese Gebiete unbedingt notwendig. So hat denn auch E. Doumergue danach den fünften Band seines grossen Werkes unter dem Titel : „La pensée ecclésiastique et la pensée politique de Calvin" herausgegeben, Î7T und grössere Partien darin bringen eine ausführliche Auseinandersetzung mit Weber und Troeltsch. 878 Warum gerade jetzt sich das Interesse diesen Gebieten entgegenbewegt, wurde schon erwähnt. Und hier liegt wieder noch die grosse Aufgabe der Forschung vor uns, nämlich die genaue Erkundung der Vorstufen und der Umgebung Calvins. Es ist auch an dieser Stelle nicht mehr unsere Aufgabe, eine ausführliche Darstellung der Lehre Calvins von der Kirche zu geben.879 Für uns kommt es hier nur noch darauf an, das eine grosse t h e o l o g i s c h e Hauptproblem der Calvinischen Lehre von der Kirche herauszuheben und das lässt sich mit den Formeln der alten Kirchengeschichte so beschreiben: Ist Calvins Kirchenbegriff donatistisch oder nicht? Anders ausgedrückt: Stellt Calvin in seinem Kirchenbegriff den religiös-dogmatischen Kirchenbegriff der allgemeinen, der una sancta catholica ecclesia oder den ethisch-juristischen der Heiligkeitskirche — man kann schiesslich auch sagen: die Kirche oder die Sekte dar?" 80 Hiermit kreuzt sich in der Forschung sehr merkwürdig die andere Frage, nämlich : Stellt Calvins Lehre von der Kirche eine Rückwärtsbewegung zum Mittelalter und zur katholischen Kirchenlehre dar oder nicht? Die beiden Fragen hängen dadurch zusammen, dass die erste auch für das Mittelalter und die katholische Lehre ein ganz eigentümliches Problem bildet und sich da in 277) E. Doumergue, J. Calvin. Bd. V. Lausanne 1917. 278) ibid. p. 624 sqq. u. ö. 279) cf. hierzu, neben dem genannten Bande Doumergues, R. Seeberg, Studien zur Gesch. d. Begriffs der Kirche. I. 1885. p. 119 sqq. K. Werdermann, Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung in: Calvin-Studien. 1909. p. 26t sqq. 280) Der Verfasser denkt hierzu nächstens eine Abhandlung über: Kirche, Kirchen und Sekten zu veröffentlichen.

— 90 — ihr merkwürdige Spannungen finden, die sie religiös und theologisch nicht lösen kann. Unsere bisherige Arbeit lässt es uns erkennen, dass wir hier wieder hart vor dem die Forschung durchziehenden Antagonismus stehen. Wiederum ist es A. Ritsehl, der die eine Seite am schärfsten vertritt, indem er die äusserste lutherische Calvin-Beurteilung zum Ausdruck bringt. Seine kürzeste Formulierung ist die: „Soweit das christliche Lebensideal des Calvinismus antikatholisch ist, ist es aus Luthers Anregung entsprungen; sofern es von Luthers Auffassung abweicht, ist es auf die Linie des franziskanischen Lebensideals zurückgebogen.• 881 Es ist das wohl diejenige Aeusserung Ritschis, die den Anlass zu der schon erwähnten verallgemeinerten Form gegeben hat, und in dieser Form in die allgemeine Debatte hinausgetragen worden ist, obwohl er selbst sie niemals in solch generalisierender Weise ausgesprochen hat, und es ist auch die, welche den reformierten Historikern an Ritsehl immer den schwersten Anstoss und das schlimmste Aergernis bereitet hat. äM Die Gegenseite der reformierten Forschung wird wohl am deutlichsten und energischsten vertreten durch A. Lang, welcher schreibt: „Calvin schafft in Anlehnung an Butzer den einzig evangelischen Kirchenbegriff",381 und von dem Fortschritt Calvins über Luther hinaus spricht. Wir haben von der Auffassung A. Ritschis schon gesprochen, und gezeigt, dass er hier bezüglich der Lehre von der Kirche historisch nicht richtig gesehen hat. Das ist denn auch von F. Loofs88* und R. Seeberg 285 durchaus anerkannt worden. Calvin hat ganz zweifellos an den Hauptstellen eine im wirklichen Sinne evangelische Lehre von der Kirche entwickelt in der Richtung der sichersten Erkenntnisse Luthers. Trotzdem muss doch bei Ritsehl irgend ein berechtigter Gedanke zugrunde liegen. Und 281) A. Ritsehl, Gesch. d. Pietismus Bd. I, p. 76. 282) A. Lang hat darauf erwidert: „Ritsehl hat Calvin nicht verstanden." (A. Lang, A. Ritsehl als Reformationshistoriker, in: Reformation und Gegenwart, 1918 p. 313). Daran ist gewiss so viel richtig, dass Ritsehl für die eigentümliche theologische Art und für den besonderen Frömmigkeitstypus Calvins kein wirkliches Organ gehabt hat, noch haben konnte. Aber doch ist auch Längs Urteil ein symbolisch-polemisches und kein rein historisches. Ritsehl hat für viele Dinge historischer Art zweifellos einen genialen Blick gehabt. 283) A. Lang, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung, ibid. p. 161. cf. E. Doumergue, Bd. Y, 1917, p. 35 u. ö. 284) Loofs, Dg. 1 p. 895. 285) Seeberg, Dg. Bd. IV, 2 p. 608 sqq.

— 91



für dessen Auffindung hat A. Lang, trotz seines scharfen Gegensatzes zu Ritsehl, den richtigen Blick gehabt, er hat nur hier die Dinge nicht weiter grundsätzlich verfolgt. Er sagt: „Für Calvin sind die beiden Begriffe: Anstalt und Gemeinschaft, keine ausschliesslichen Gegensätze."886 Das heisst: in der Kirchenlehre Calvins haben wir jedenfalls eine komplexe Grösse vor uns; das hat Ritsehl empfunden und das ist auch von Lang beobachtet.887 Darauf aber, dass dies d e u t l i c h erkannt und die Folgerungen daraus gezogen werden, darauf kommt alles an und davon hängt das wirkliche Verständnis der Calvinischen Kirchenlehre ab. Calvin hat das Problem: „Evangelium und Welt" auch im Rahmen seiner Dogmatik mit seiner scharfen Dialektik theologisch bearbeitet; er hat dies nicht der praktischen Theologie und der Jurisprudenz allein überlassen. Hier zeigt sich wieder der formalrationale und auch der juristische Zug seines Wesens und der andere, den wir die complexio oppositorum nannten. Für ihn war mit der grundsätzlichen Feststellung des Wesens der Kirche im evangelischen Sinne die theol o g i s c h e Aufgabe noch nicht erledigt, sondern nach seiner — der wesentlich französischen — Art gehört die dialektische Bearbeitung und Verbindung mit umliegenden, auch entgegengesetzten Gebieten und Problemen in die Dogmatik hinein. Ueber diese Formgestaltung seiner Theologie muss man sich klar sein, wenn man das Problem seiner Lehre von der Kirche verstehen will. Dabei wird dann wohl deutlich, dass Calvin in historischen Zusammenhängen steht, die ganz anders sind als die Luthers; es gehen selbstverständlich Traditionen und Ansätze zur Lösung des Problems Evangelium und Welt fort, die aus dem Zusammenhange der mittelalterlichen Lösung dieses Problems stammen. Das war aber auf dem Gebiet des Luthertums nicht anders, wenn es auch dort nicht in der gleichen Stärke vorlag.488 Denn der Kampf, den Luther mit dem Papste führen musste, war gewiss unmittelbarer 286) A. Lang, ibid. p. 161. — Und in der Tat, (las ist im Katholizismus zweifellos ebenso. 287) Ich würde mich in einer Beschreibung des calvinischen Kirchenbegriffs allerdings etwas anders ausdrücken als A. Lang. 288) Ich erinnere hier an ein Wort von Dilthey, Die Glaubenslehre der Reformatoren. Preuss. Jahrb. 1894 p. 59: „Die landeskirchlichen Verfassungen sind so Venig die Erfüllungen des kirchlichen Ideals von Luther als die Dogmen des 16. und 17. Jahrhunderts die Erfüllung seines theologischen Ideals*.

— 92 — und darum zweifellos viel schärfer als der Kampf Calvins mit Rom. Und darum war dann auch der Bruch in den theologischen Traditionen sehr viel härter. Aber vorhanden sind die verbindenden Traditionen auch da, wenn, auch in sehr viel geringerem Masse. Des weiteren ist dann hier noch der dritte Wesenszug der Formgestaltung der Theologie zu beachten, nämlich sein formaler Biblizismus. Dieser hat hier einen ganz besonders starken Einfluss, wie allgemein bekannt ist. Das Formgesetz, das Calvin in seinem Biblizismus für seine Theologie angenommen hat, gibt uns zum grossen Teil die Quellen für die Elemente seiner Lehre von der Kirche, auch für die, welche in logischer Hinsicht opposita sind. Wenn wir so die Formgestaltung der Calvinischen Kirchenlehre ins Auge fassen, vor allem ihren Charakter als complexio oppositorum, ihre Absicht der dogmatischen Bearbeitung des grossen Problems Evangelium und Welt, Reich Gottes und irdisches Volk und Staat, dann ist der Weg zu ihrem Verständnis da. Es wird verstanden, warum der einen Forscherreihe diese Kirchenlehre als Rückfall ins Mittelalter erscheinen konnte: weil nämlich Calvin sich energisch an die Bearbeitung des vom Mittelalter in seiner Art ergriffenen Problems heranmachte, und er dabei natürlich noch manche Elemente aus früherer Zeit einfach mitbringen musste. Dabei kann als an einen interessanten und bezeichnenden Zug noch an seinen Gedanken über die Ordination der Prediger erinnert werden: „certe nimis improbi sunt, dum sacramenti titulo insignire audent."*8* Calvin würde die Bezeichnung der Weihe der Geistlichen als Sakrament für seinen Kirchenneubau, theoretisch wenigstens, wieder aufnehmen, weil er ihm brauchbar erschien. Wernle gibt zudem noch einige beachtenswerte Erwägungen: „(entgegen Zwingli) hat Calvin in der Nachfolge Butzers die Kirche mit ihrem Predigtamt und ihren Sakramenten wieder religiös gewertet. . „Es ist erstaunlich, wie schroff und entschieden Calvin beide Male, nur in entgegengesetzter Richtung, seine Gedanken zu Ende denkt; das eine Mal verkündet er das: ,Gott allein die Ehre!' das andere Mal das ,Ausser der Kirche ist kein Heil'. Nur starke Naturen vermögen solche Spannungen in ihrer Seele zu tragen. Calvin aber muss es irgendwie gefühlt haben, dass das eine Extrem das andere zur Ergänzung fordert und dass zum Wesen des Christentums 289) Inst. IV, 19,28.

— 93 — die Freiheit der Seele in Gott so gut als ihr Halt in einer starken Gemeinschaft steht. Jedenfalls war die Verbindung dieser beiden Gegensätze mit ein Grund der gewaltigen Wirkungen des Calvinismus. "290 WernleisthierdemRichtigen wieder ganz nahe. Doch stimmt es, wie wir mehrfach ausgeführt haben, mit dem „Zu-Ende Denken" in unserem Sinne nicht, und Wernle kann die Spannungen, die opposita in ihrer dialektischen Art und Verbindung nicht erkennen. Um der komplexen Art dieses Kirchenbegriffs willen aber ihn einen Rückfall ins Mittelalter zu nennen, ist historisch falsch — vor solchem Urteil hütet uns die Beachtung der Formgestaltung der Calvinischen Theologie. Auf der anderen Seite aber ist es ebenso kein historisches Urteil, Calvin habe den „einzigen evangelischen Kirchenbegriff" geschaffen. Davor muss uns wiederum unsere bisherige Untersuchung bewahren. Zu seiner L e h r e von der Kirche gehört nicht nur ein bestimmtes religiöses Grundelement, dass in diesem Falle von Luther stammt, sondern es gehört ebenso dazu dessen theologische Gestaltung und dialektisch - rationale Bearbeitung und Verbindung. Und diese ist beeinflusst durch seine persönliche und nationale Eigenart und stellt eine besondere Lehrausprägung des religiösen Grundelementes dar, nicht aber das „einzig Evangelische". 2 " Mit dem eben besprochenen Problem der Lehre Calvins kreuzt sich nun das andere, das wir so ausdrückten : Stellt Calvin in seinem Kirchenbegriff den religiös - dogmatischen oder den juristisch-ethischen, die Kirche oder die Sekte dar? A. Ritsehl hat wieder an der gleichen Stelle282 vom Calvinismus die Annäherung 290) Wernle, 1. c. p. 406, 407. 291) Eine besondere und nicht leicht zu nehmende Frage bildet in diesem Zusammenhange freilich noch die Aufnahme der diseiplina in das Wesen der Kirche durch Calvin: op. V p. 394: constat et fuleitur potissimum ecclesiae incolumitas: doctrina, diseiplina et sacramentis" (cf. Loofs, Dg. 4 p. 894 sq. Seeberg ]. c. p 612). Indessen schon die Aeusserung in der Inst. IV, 12, 1: „Quemadmodum salvifica Christi doctrina anima est ecclesiae, ita ilJi diseiplina pro nervis est", schwächt jene scharfe Formulierung durch ein Gleichnis doch sehr ab. Auch hier hat iran auf der Linie der dialektischen Verbindung der 'verschiedenartigen, auch im Gegensatz zu einander stehenden Elemente den Schlflssel zum Verständnis in der Hand. Und der Biblizismus als Formgesetz gibt die weitere Wegleitung, cf. die bezeichnende Aeusserung Calvins op. XI p. 281: „ exposui non posse consistere ecclesiam, nisi certum regimen constitueretur, qualp ex verbo Dei nobis praescriptum est." 292) A. Ritsehl, Gesch. d. Pietismus Bd. I, p. 75 sqq.



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an mönchische Weltflucht ausgesagt, d. h. er hat seine Verwandtschaft mit dem Sektentypus, sein Interesse an der HeiJigkeitskirche hervorgehoben. Diese Auffassung hat sich weiter verbreitet; wie tiefe Wurzeln sie in der allgemeinen Anschauung gefasst hat, zeigt eine gelegentliche Aeusserung P. Heilers: „Nur Calvins Gottesstaat bewahrt den Sektentypus".298 Wir haben hier wieder die Entgegnung auf der anderen reformierten Seite. Lang polemisiert ausführlich in dem schon genannten Aufsatze gegen Ritsehl und stellt als den Calvinischen Kirchenbegriff den der allgemeinen Glaubenskirche auf. Mi Dieselbe Auffassung vertreten alle anderen reformierten Historiker.Ms Hier ist nun die merkwürdige Erscheinung, dass E. Troeltsch, der als lutherischer Forscher im übrigen oft und stark auf die Seite der Reformierten hinüberneigt, in der Art seines Verständnisses und seiner Würdigung Calvins an dieser Stelle im Ergebnis wenigstens mit der lutherischen, Ritschl'schen Auffassung übereinkommt, wenn er sagt: „An diesem Punkt (des Kirchenbegriffs) ist nun aber die Annäherung an den Sektentypus mit Händen zu greifen". aM Und ich glaube wohl, obgleich mir eine direkte Entgegnung gegen diesen Abschnitt des Troeltsch'schen Werks nicht vorgekommen ist, dass hier das oder wenigstens ein Hauptmoment für die Ablehnung vorliegt, die Troeltsch's ganze Arbeit von seiten der reformierten Historiker erfahren hat.a9T Es ist nicht unsere Aufgabe, uns mit dieser besonderen Debatte hier weiter zu beschäftigen, noch weniger die neueren Definitionen des Kirchen- und Sektenbegriffes nachzuprüfen. Denn Troeltsch geht ja überhaupt in seiner ganzen Darstellung von umfassenderen, nicht rein theologischen Gesichtspunkten aus; er wird daher von rein theologischen Erwägungen seiner Gegner gar nicht getroffen. Für uns ist aber hier nur das rein theologische Problem wesentlich. Und dabei ist dann allerdings bedeutsam, dass sich auch Troeltsch der Annahme, dass in Calvins Kirchenbegriff mindestens eine Berührung mit der Sekte vorliegt, nicht entziehen kann, wenn auch 293) F. Heiler, Das Gebet«, 1920, p. 276. 294) A. Lang, A. Ritsehl als Reformationshistoriker. 1. c. p. 313 sqq. 295) z. B. Doumergue Bd. V, 1917, p. 36 sq. Bd. IV, 1910, p. 396. 296) E. Troeltsch, Soziallehren, 1912, p. 627. 297) z. B. Doumergue Bd. IV, p. 473 sq. Bd. V, p. 633 sqq. — Es ist befremdend, dass Doumergue in der eigentlichen Behandlung der Kirchenlehre keine Auseinandersetzung mit Troeltsch bringt, cf. auch A. Lang, Die Reformation und das Naturrecht. 1909.



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wohlverstanden seine Wertbeurteilung der Sekte eine ganz andere ist als etwa die A. Ritschis. Für die Erfassung des uns beschäftigenden Problems ergibt sich aber aus diesem Antagonismus und der Betrachtung seiner Grundlagen bei Calvin ein ganz klares Bild. Wenn irgendwo, so ist hier der Charakter der Calvinischen Theologie als einer complexio oppositorum unbedingt sicher. Calvin hat eben beide in seiner Theologie verbunden, 898 das zeigt die Forschung, das zeigen die zahlreichen Aeusserungen, das zeigt das praktische Werk Calvins absolut deutlich. Es wäre durchaus falsch, wenn man ihm hieraus Widersprüche nachweisen wollte; in seiner dialektischen Behandlungsart sind das keine Widersprüche, sondern es ist das der Versuch, auf formalrationalem Wege die vorliegenden theologisch-inhaltlichen Elemente mit einander zu verbinden. Ob ihm das für unsere deutsche — lutherische — Art, ob ihm das etwa für die heutige Lage der ganzen theologischen und praktischen Aufgaben gelungen ist oder nicht, das ist wieder ein dogmatisches oder praktisches Werturteil, keine historische Untersuchung des Problems bei Calvin. Das historisch - theologische Problem seiner Kirchenlehre Ist nur so zu erfassen und seiner Lösung entgegenzuführen, dass wir hinter den Antagonismus in der Forschung zurückgehen, die eigentümliche Formgestaltung der Theologie Calvins als complexio oppositorum erkennen und sehen, wie er die gegensätzlichen Elemente dialektisch mit einander verbunden hat. Daneben steht der Biblizismus als Formgesetz, der wie schon gesagt, gerade hier seine bedeutsame Rolle spielt. Von dieser von uns gewonnenen Erkenntnis aus wird die Kirchenlehre Calvins nun im einzelnen zu erörtern und darzustellen sein. Auf die besondere Verbindung, in der sie mit der Prädestinationslehre steht, haben sowohl A. Lang39* wie E. Troeltsch 300 hingewiesen; allerdings haben beide dabeidenbesonderenformal-rationalenCharakter der Prädestinationslehre, wie wir ihn vorher erörtert haben, nicht erkannt; gerade hier aber erweist sich besonders die Wichtigkeit dieses Gesichtspunktes für das Verständnis Calvins. 298) Hierfür hat Wernle ein feines Gefühl gehabt, cf. 1. c. p. 58 sqq., 379 sq : .Wie wenig Calvins neues Kapitel von der Kirche ein Werk aus einem Gasse ist, wird deutlich geworden sein." 299) A. Lang, in „Reformation und Gegenwart", 1918, p. 315. 300) E. Troeltsch, Soziallehren, p. 625 Bqq.

IV. K a p i t e l .

DasGrnndproblem der Theologie Calvins: Die geschichtliche Selbständigkeit dieser Theologie nnd des in ihr erscheinenden Religionstypns. Alle bisherigen Untersuchungen haben jedes einzelne Mal immer schon daran angestossen und führen mit Notwendigkeit auf die letzte Frage gegenüber der Theologie Calvins, deren Beantwortung wirklich das Problem dieser Theologie lösen müsste, nämlich: Ist diese Dogmatik der selbständige theologische Ausdruck eines besonderen Religionstypus innerhalb des gesamten Christentums des 16. Jahrh. oder ist sie es nicht? Das heisst mit anderen Worten in der schon erwähnten klassischen Formulierung: Ist Calvin als Epigone der Reformation anzusehen oder nicht? Man erkennt nunmehr, dass in der sicheren Erkenntnis über diesen Punkt die Krönung des Werkes der historischen CalvinForschung liegt. Ebenso deutlich ist nach dem, was in den vorliegenden Blättern über die Theologie Calvins festgestellt worden ist, dass es zwar möglich ist, mit historischen Mitteln Art und Wesen der Calvinischen Theologie nach Form und Inhalt darzulegen, dass es auch gelingen wird, die historischen Zusammenhänge zu erkennen, in denen sie steht, dass aber ein abschliessendes Urteil, vorläufig wenigstens, wie die bisherige Forschung lehrt, am Ende immer noch von einer persönlichen Stellungnahme, d. h. von einem Glaubensurteil mit bedingt und mit abhängig ist. Und doch bin ich gewiss, dass die vorhergehende Untersuchung uns auch in der historischen Lösung des Hauptproblems einen wichtigen Schritt weitergeführt hat. Es ist zunächst klar, dass das Verständnis Calvins vorerst aus sich selbst heraus und aus den Zusammenhängen, in denen er für sich steht, gesucht werden muss. Das symbolische Interesse nicht nur, sondern auch der Hinüberblick zu Luther muss zunächst zurückgestellt werden.



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Wie man Luther immer mehr in seinen zeitlichen Zusammenhängen erkannt und dadurch für das Verständnis seines Werkes und seiner „Theologie* bedeutsame Weisungen empfangen hat, so steht nun vor der weiteren CalvinForschung für ihren Helden die entsprechende Aufgabe. Die geschichtlichen Zusammenhänge sind für Calvin durchaus andere als für Luther. Sie hängen wesentlich mit der nationalen und kulturellen Umgebung zusammen, aus der er stammte und in der er aufwuchs und lebte. Denn wenn auch gewiss die Reformation Luthers das Entscheidende und im eigentlichen Sinne epoche-machende Ereignis des 16. Jahrhunderts ist, so is doch in Westeuropa das Leben der Kultur, des Humanismus, des französischen Staates und der französischen Kirche weiter fortgegangen. Darinnen steht Calvin und kann vor allem für eine Beurteilung nicht daraus ohne weiteres herausgelöst werden. a) Die Theologie Calvins. In der Richtung auf die Gesamterkenntnis der Theologie Calvins haben sich für uns aus unseren bisherigen Feststellungen bedeutsame Ergebnisse herausgestellt. Die Aufzeigung des „Antagonismus" in der bisherigen CalvinForschung beweist, dass wir in der Theologie Calvins als solcher, und um diese handelt es sich hier zuerst, etwas Selbständiges zu erkennen haben. Wir haben den Grund dafür gefunden in der eigentümlichen F o r m g e s t a l t u n g , die wir als für sie charakteristisch herausgestellt haben. Der Theologe Calvin ist ein selbstständiger Typus. Und es ist uns klar, warum damit für seine französischen Nachfolger das Problem überhaupt seine Erledigung findet. Theologie ist eine formale Bearbeitung der Religion mit formal-wissenschaftlichen Mitteln und unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Für die echten, westländischen Calvinisten ist darin schon das Wesentliche gegeben: Für sie ist die „Formgestaltung" d. h. in erster Linie die formal - dialektische Bearbeitung neben deren anderen Wesenszügen von entscheidender Wichtigkeit. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass etwa bei Calvin oder den heutigen Calvinisten der religiöse Inhalt keine Rolle spielte. Wollte man diese Ausführungen so deuten, so wäre das ein völliges Missverständnis. Aber es ist eben doch eine andere Art des Lebens in der Religion und der Religionsbetrachtung bei Calvin und den Calvinisten, als etwa bei Luther und B ä n k e : Probleme.

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den Deutschen, und die kann nicht wohl anders näher bezeichnet werden, als hier geschehen ist, eben die Theologie als formale Bearbeitung der Religion, mit der Betonung ihrer „Formgestaltung". Ich möchte mich bis zu dem Satze vorwagen: Selbst wenn es gelingt, alle Einzelelemente der Calvinischen Theologie aus Luther und etwa nötigenfalls noch aus anderen Quellen abzuleiten, so ist doch diese T h e o l o g i e als r e f o r m a t o r i s c h e Theologie ein s e l b s t s t ä n d i g e s e i g e n a r t i g e s P h ä n o m e n , eben d u r c h i h r e e i g e n t ü m l i c h e F o r m g e s t a l t u n g . Und j e d e s e i n z e l n e T h e o l o g u m e n o n L u t h e r s , das sich der S a c h e n a c h g e n a u bei Calvin w i e d e r f i n d e t , ist doch in dem n e u e n R a h m e n d u r c h die v e r ä n d e r t e F o r m g e s t a l t u n g zu e t w a s Neuem geworden. Das i s t d i e S e l b s t ä n d i g k e i t der C a l v i n i s c h e n Theologie. Noch ein anderes kann hier erkannt werden, auf das schon hingedeutet wurde. Wenn die reformierten Theologen Calvin als selbständige historische Grösse erkennen, so sehen sie seine Theologie im eigentlichen Sinne in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Kirchen-, Staatsund Wirtschaftslehre. Es gehört das für sie zur Einheit zusammen. Und wiederum kann nicht geleugnet werden, dass sie damit sich an Calvin selbst halten und ihn zu ihrem eigentlichen Kronzeugen haben. Für ihn gehörte dies alles zusammen und ihm ist es gelungen, für seine Zeitgenossen und seine Nachfolger die „opposita": Religion und praktisches Leben, Reich Gottes und Welt, Kirche und Staat, zu einer rational-dialektischen Einheit zu verbinden. Wir haben auf die äusseren Proportionen seiner Dogmatik in Hinsicht auf die Lehre von der Kirche schon hingewiesen. Es sind aber nicht nur die äusseren Grössenverhältnisse, sondern es ist das Wesen der Sache selbst, das hier beweisend ist. Die Calvinisehe Dogmatik unterscheidet sich eben darin fundamental von der lutherischen, dass in ihr alle die Fragen, welche die äussere Einrichtung, Verfassung der Kirche, ihr Verhältnis zum Staat und was dazugehört, aber auch die Verfassung des Staates, Leben und Stellung des Christen im Staate, die Wirtschaft und ihre verschiedenen Zweige betreffen, ihre eingehende dogm a t i s c h e — nicht nur praktische — Behandlung finden. Dabei steht ihr dann für diese Arbeit neben den anderen noch das weitere Hauptinstrument, das wir schon oft nannten, der Biblizismus, zur Verfügung. Dass darin dann, wie gezeigt, das Alte Testament eine hervorragende Stelle einnehmen muss, ist selbstverständlich.



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Es ist das j a nun der kritische Hauptpunkt, an dem von der M i t t e l a l t e r l i c h k e i t Calvins, seinem Zurücksinken in den Katholizismus, auf Seiten der lutherischen Theologen gesprochen und ein entsprechendes Urteil gefällt worden ist. Unsere Untersuchung aber gibt uns die Möglichkeit, dies Urteil über den T h e o l o g e n C a l v i n als zum mindesten unzulänglich und nicht hinreichend begründet zu erkennen. Calvin* hat von seinem neuen Standpunkt aus — wie immer er ihn gewonnen hat und welche Einzelströme dabei zugeflossen sind, das genau festzustellen, wird eben die Aufgabe späterer Forschung sein — alle Probleme und Aufgaben, die durch das Zusammenstossen von Evangelium und Welt sich nur regen können, in Angriff genommen und dialektisch-dogmatischer Bearbeitung in seinen theologischen Schriften unterworfen, so wie sie in seiner Tätigkeit als Kirchenmann Gegenstand seiner praktisch - organisatorischen Arbeit waren. Er hat dieses selbe Streben den von ihm abhängigen Kirchen und Theologen eingepflanzt z u e i n e r Z e i t , i n der die l u t h e r i s c h e Kirche die Notwendigkeit der t h e o l o g i s c h e n B e a r b e i t u n g dieser P r o b l e m e n o c h n i c h t e r g r i f f e n h a t t e . Damit hat er allerdings auf dem Gebiete seiner Kirchen eine Arbeit geleistet oder zum mindesten deren Grund gelegt, wie sie die mittelalterliche Theologie für i h r e Kirche und i h r e Zeit eben in der dogmatischen Bearbeitung dieser Probleme geleistet hatte. Wollte man aber deswegen Calvin einen mittelalterlichen Mann nennen, so müsste man dieselbe Bezeichnung — dies ist cum grano salis zu verstehen — auch etwa dem Lutheraner Hegel zu teil werden lassen.301 Dabei ist es dann sehr beachtenswert, wenn gerade die beiden Lutheraner Dilthey und Troeltsch für Calvin als den selbständigen Typus eintreten. Mir ist ganz deutlich, dass der entscheidende Grund für beide dabei hier liegt, nämlich in ihrem besonderen Interesse an der Lösung dieser Probleme, der Verbindung von Evangelium und Welt. Dass Calvin die einzig mögliche oder die endgültige Lösung dieser Probleme gegeben habe, hat auch Troeltsch nicht behauptet.801 Aber e i n e Darstellung der Probleme und eine d o g m a t i s c h e Be301) Von der „Mittelalterlichkeit Calvins" spricht zuletzt R. Seeberg, Dg. Bd. IV 2 p. 621. Doch kann ich mich, wie aus dem Gesagten hervorgeht, nicht mit allen seinen Ausführungen identifizieren — ich verdanke ihnen aber ausserordentlich viel. 3u2) cf. Troeltsch, Soziallehren, p. 985.

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arbeitung auf dem Grunde seiner reformatorischen Stellung und dann im Zusammenhang mit seiner reformatorischen Arbeit hat er gegeben. Das ist eine selbständige Arbeit des T h e o l o g e n Calvin. Und so erkennen wir auch hier den Theologen Calvin als eine selbständige geschieht* liehe Grösse. b) Der R e l i g i o n s t y p u s Calvins. Darüber hinaus aber erhebt sich nun noch die letzte Frage, an der diese Arbeit, die sich wohl mit der Theologie Calvins beschäftigt, d. h. in erster Linie mit ihrer Formgestaltung, aber doch nicht nur mit dieser, sondern ebenso mit ihrem Inhalt, doch schliesslich nicht ganz vorbeigehen kann, nämlich die, ob Calvin — und nach ihm der genuine Calvinismus — als e i n s e l b s t ä n d i g e r R e l i g i o n s t y p u s anzusehen ist innerhalb des reformatorischen Christentums im 16. Jahrhundert oder nicht. Hier sind wir an dem letzten und entscheidenden Punkt, wo in der Tat die Glaubensstellung des Forschers unmittelbar in seine historische Arbeit hineinwirkt und wo darum ein abschliessendes Urteil nicht möglich ist, wenigstens vorläufig nicht. Aber doch glaube ich, dass eben die vorgelegte Betrachtung der Theologie Calvins, so wie sie uns genaue, neue Fragestellungen und scharfe Unterscheidungen gebracht hat, nun doch auch wenigstens für die klare Erkenntnis dieses letzten und höchsten Problems ihre Dienste leistet und uns durch diese klare Problemerkenntnis weiter vorführt. Ist Calvin der Epigone der Reformation oder nicht? Stellt er einen s e l b s t ä n d i g e n Religionstypus innerhalb des reformatorischen Christentums dar oder nicht? Die Frage spitzt sich, historisch betrachtet, schliesslich auf die nach dem Verhältnis Calvins zu Luther zu. Es ist wiederum selbstverständlich, dass diese schwierige historische Arbeit, zu der auch noch längst nicht die nötigen Vorarbeiten geleistet sind, hier nicht erschöpfend behandelt werden kann, noch soll. Luther hat an einer Stelle seiner Tischreden von Melanchthon gesagt: „Philipus macht's anders als ich, ihn bewegen die grossen Fragen der Politik und Religion — mich drückt nur p r i v a t e S o r g e . " 3 0 ' Dieser gelegent303) Uebersetzt von W. Köhler, Martin Luther und die deutsche Reformation. Leipzig 1916, p. 46. Luther, W. A., Tischreden. Bd. I. p. 30. No. 80. Veit Dietrichs Nachschriften yon 1531): „ Parvae et

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liehe Ausspruch Luthers in seiner humorvollen Form erscheint mir von entscheidender Wichtigkeit, und zwar ebenso für das Verhältnis Melanchthons zu Luther, wie für das Calvins zu ihm. Was Luther hier von Melanchthon sagt, könnte er genau so gut von Calvin sagen. Die „private Sorge" ist der Ausgangspunkt der Bewegung, der Entstehungsquell des neuen christlichen Religionstypus gewesen; Calvin dagegen ist der Mann, der, wie Melanchthon dies Neue hineingebracht hat in die Fragen der Politik und Religion, und umgekehrt die Fragen der Politik und Religion in dies Neue hineingetragen. Auch dies Problem ist m. E. bisher nicht klar und deutlich genug gestellt worden. Man hat sich auch gegenseitig oft missverstanden. Das erkennt man besonders deutlich an einer Stelle des hervorragenden Werkes von Wernle, welcher über Calvins Lehre vom Glauben in der 2. Ausgabe der Institutio sagt: „So lehrt kein Epigone vom Glauben, so schreibt ein Mann, der selber den Glauben hat und aus Erfahrung seine Lebendigkeit kennt."80* Der zweiten Satzhälfte wird ja doch keiner widersprechen, der auch Calvin im übrigen nicht für einen selbständigen Religionstypus hält, und so etwas hat weder A. Ritsehl noch F. Loofs auch nur von fern gemeint. Gott sei Dank können doch auch einfache Christenmenschen selber den Glauben in seiner Lebendigkeit, unmittelbar haben, ganz zu geschweigen von solchen Grössen nach dem Ausmasse Calvins. Die eigentliche Frage, um die es sich hier für uns handelt, ist dabei von Wernle gar nicht angerührt.»45 Aber auch die Darstellung A. Längs erhebt unser Problem noch nicht zur wünschenswerten Klarheit, wenn er schreibt: . . . „Man wird nicht umhin können, anzuerkennen, dass Calvin in Fortentwicklung der schweizerischen und oberdeutschen Reformation einen n e u e n T y p u s e v a n g e l i s c h e n C h r i s t e n t u m s mit eigentümlichen praktischen Zielen, aber auch mit eigentümlicher Lehrausprägung ausgestaltet und zu dauerndem Leben befähigt hat. Es leves causae me multum movent, sic eaim cogito: Hoc est supra te, du kannst es nit halten, ergo so lass es gehn. D i v e r s u m f a c i t P h i l i p p u s . I s m e i s n e g o t i i » n o n m o v e t u r , sed m o v e n t e n m i l l a g r a n d i a r e i p u b l i c a e e t r e l i g i o n i s . Me p r i v a t a t a n t u m p r e m u n t . S i c s u n t v a r i a dona." 304) P. Wernle, Calvin p. 228. 305) P. Wernle selbst spricht indirekt dann wieder so und so oft von einem Epigonentum Calvins, cf. vor allem p. 120, 121 und auch sonst an vielen Stellen, wo er Calvin auf Luther zurückführt.

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wird uasere Aufgabe sein, den F r ö m m i g k e i t s t y p u s , den Calvin verkörpert, . . , zu charakterisieren".80* Dass Calvin eigentümliche Lehrausprägungen hat, ist von keinem Forscher bestritten worden, am wenigsten von den vorher von Lang herangezogenen und dort abgelehnten F. Loofs und R. Seeberg, ebensowenig die eigentümlichen praktischen Ziele. Aber gerade im Sinne der dialektischen Klarheit Calvins und seiner scharfen Distinktionen muss doch nun zwischen einem „ n e u e n T y p u s e v a n g e l i s c h e n C h r i s t e n t u m s " und einem „ F r ö m m i g k e i t s t y p u s " unterschieden werden. Auch dass Calvin einen neuen und besonderen, für die Folgezeit ausserordentlich bedeutsamen und wirkungsvollen Frömmigkeitstypus darstellt, ist wohl nie bestritten worden; der Fehler mancher neueren Untersuchung war nur, wie schon angedeutet wurde, dass man dies nicht klar genug herausgearbeitet hat. Und auch A. Lang scheidet hier nicht scharf genug. Denn das Problem, um das es sich für uns handelt, ist dies, ob Calvin einen neuen und selbständigen R e l i g i o n s typus innerhalb des reformatorischen C h r i s t e n t u m s d e s 16. J a h r h u n d e r t s , das ist aber „einen neuen Typus evangelischen Christentums", und das ist etwas anderes als einen neuen Typus reformatorischer Theologie oder einen neuen Frömmigkeitstypus, darstellt oder nicht. Wie schwierig die Lage des Problems gerade bei den deutschen reformierten Forschern ist, das zeigt schliesslich noch besonders die Ausführung E. F. K. Müllers-Erlangen. Er kann nicht umhin, Luther als denjenigen zu bezeichnen, .welchem Gott die entscheidende und durchschlagende evangelische Erkenntnis verliehen hat." 307 Aber doch wendet er sich dann gegen den Terminus „Epigone" mit scharfen Worten, indem er nun wiederum die Tätigkeit Calvins als Reformators und Kirchen grün ders als selbständig und neu erklärt. Auch dies ist ja auf der anderen Seite nie bestritten, im Gegenteil, von F. Loofs ausdrücklich hervorgehoben worden.308 Zwischen dem Kirchengründer, dem Reformator und dem, der einen neuen selbständigen Religionstypus in einem religionsgeschichtlichen Gesamtgebiet heraufführt, muss eben wiederum genau unterschieden werden, und es muss versucht werden, das 306) A. Lang, J. Calvin, p. 63 sq. 307) E. F. Karl Müller, Symbolik, 1896. 308) F. Loofs, Dg.*, p. 876.

p. 385.



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symbolische Urteil hiervor zurückzustellen. In der Tat erscheint dann die — historisch und wissenschaftlich freilich nicht zureichende — Lösung Doumergues der Wirklichkeit weit näher zu kommen, wenn er im Vorwort zum IV. Bande seines Werkes das naiv-unmittelbare Bekenntnis ablegt: „Personnellement je suis comme l'enfant, à qui l'on demande de choisir entre son père et sa mère: je préfère, j'aime mieux ... tous les deux (Calvin und Luther)."*0* Dahinter steht wirklich eine für den F r a n z o s e n und g e n u i n e n C a l v i n i s t e n ausreichende Lösung der Präge. In Wirklichkeit hat doch A. Ritsehl durch die Aufstellung der Formel von Calvin als dem „theologischen Epigonen der Reformation""* das Verdienst gehabt, die ganzen Fragen wenigstens von dem Qebiet konfessioneller Polemik auf das historischer Betrachtung und Beurteilung herüberzurücken. Er selbst hat diese Formel zunächst nur für ein ganz bestimmtes Gebiet benutzt, nämlich für die Anwendung der Heiligen Schrift als Gesetzbuch für die Lehre. Er hat das darin liegende historische Urteil dann später noch bekräftigt durch die Bezeichnung Calvins als „ Mannes derzweiten Generation"8Uund durch die Feststellung: „Calvin hat das vollständige Gefüge der Lehre Luthers sich angeeignet, weil er als Theologe im Ganzen Luthers Aufstellungen treuer gefolgt ist, als irgend ein anderer, namentlich auch als Melanchthon." m In die allgemeine theologische — und auch kirchliche — Diskussion ist die P'ormel aber erst durch die Präzisierung hineingekommen, die sie durch F.Loofs erfahren hat: „So zweifellos Calvin seiner praktischen Tätigkeit wegen als Reformator bezeichnet zu werden verdient, so war er doch als Theologe ein Epigone der Reformation". 81 * Diese Formel ist nun in den weitergehenden theologischen und kirchlichen Behandlungen freilich sehr oft vergröbert worden, bis zu der Gestaltung, die man hören konnte: Calvin ist Luthers Schüler; was er Gutes, d. h. Evangelisches hat, hat er von Luther — alles übrige ist Rückfall in Katholizismus und Mittelalter. Dass das ein polemisches und kein historisches Urteil ist und darum in einer historischen Behandlung Calvins keine Stelle haben kann, darüber lässfc die ganze neuere wissenschaftliche Calvin - Forschung — 309) 310) 311) 312) 313)

E. Doumergue, 1. o. Bd. IV p. VIEL A. Ritschl, Ges. Aufs. N. F. p. 97. A. Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bd. I, p. 71. ibid. p. 133 sq. F. Loofs, 1. c. p. 876.

— 104 — darunter auch ganz besonders die Dogmengeschichten von P. Loofs und R. Seeberg — darüber lassen auch die Ergebnisse dieser Untersuchung keinen Zweifel.*" Und auch die scharfe und ironische Kritik E. Doumergues über einige Erscheinungen des Calvin-Jubiläumsjahres auf lutherischer Seite, vor allem über das naive Nennen von Calvin auf der einen Seite zusammen mit Harms, Löhe(!), Wichern und Fliedner(!) auf der andern ist durchaus berechtigt.*16 Allerdings scheint es unvermeidlich, dass die Formul i e r u n g , die F. Loofs der These A. Ritschis — und damit schliesslich doch der heute auf lutherischer Seite allgemein angenommenen Auffassung — gegeben hat, nicht als endgültig und bleibend geeignet angesehen werden kann, wie die Ergebnisse dieser Untersuchung lehren. Was mit der Formulierung gemeint ist, und dass damit der eine Hauptteil des Problems jedenfalls richtig gelegt ist, ist ganz deutlich. Zunächst ist allgemein — auch auf Seiten der Franzosen und Reformierten, — zugestanden, dass Calvin die entscheidenden Elemente seiner Theologie, welche die Darstellung des neuen Verständnisses des Evangeliums sind, von Luther übernommen hat. Und das ist doch kurz gesagt die Religion, der Religionstypus Luthers, zu dem Calvin in einem Epigonen Verhältnis steht. Das wollen A. Ritsehl und F. Loofs mit ihrer Bezeichnung im Grunde sagen, und dazu haben sie zweifellos, wie aus dem eigenen Zeugnis Calvins und der calvinistischen Theologie hervorgeht, ein historisches Recht. Dann aber ist zweierlei zu bedenken. Zunächst das Ergebnis unserer Untersuchungen, welche Calvins Theologie als selbständiges geschichtliches Phänomen festgestellt hat, insofern, als Theologie zu dem Religionsinhalt hinzu doch eine formale Bearbeitung bedeutet. Diese formale Bearbeitung als Formgestaltung, wozu alles das gehört, was vorher darüber vorgeführt worden ist, durch die die theologischen Inhalte doch erst zur Theologie im eigentlichen Sinne zusammengefasst werden, ist bei Calvin selbständig und neu. Durch diese Formgestaltung haben alle inhaltlichen Elemente, wie es schon oben gesagt wurde, eine andere und neue Art und Weise bekommen, auch wenn sie sich inhaltlich von den Theologumena Luthers 314) Berechtigte Polemik A. Längs in: Reformierte Kirchenzeitung XXV. 1902 p 34 sqq., die sich nur nicht ganz mit .Recht gegen A. Ritsehl und seine ersten Schüler wendet. 315) E. Doumergue Bd. IV, p. 452. — Der betreSende Aufsatz steht Ev. luth. Kirchenztg. 1909 p. 669.



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nicht unterscheiden. Und weiter ist sozusagen die Verteilung der Akzente etwas anders geworden. Das ist der erste Grund, warum die reformierten Theologen sich gegen die Auffassung von P. Loofs wenden, und man wird von ihrem Standpunkt aus sagen müssen, dass sie es wohl nicht anders können. Für den Franzosen und Humanisten — auch Juristen — Calvin aber, und ihm nach für die ganze westländische und auch für die deutsche reformierte Theologie ist diese Formgestaltung etwas Wesentliches • und lässt sich t a t s ä c h l i c h gar nicht mehr so ohne weiteres von dem Inhalt trennen — so gewiss das beg r i f f l i c h und h i s t o r i s c h immer wieder versucht und durchgeführt werden muss. Und noch ein anderes kommt hinzu. Auch das hat Ritsehl schon wenigstens in der Grundlage erkannt, wenn er auf die besondere Wichtigkeit hinweist, die die „Disz i p l i n " für Calvin hat." 6 Wir haben schon darauf hingewiesen, welche überragende Rolle die Lehre von der Kirche und mit ihr zusammenhängend die von Staat und Wirtschaft in der Theologie Calvins spielt.317 Dass auch da die Grundelemente Luthers vorliegen, wird nicht geleugnet. Aber hier hat Calvin nun eine umfassende Ausarbeitung vorgenommen und an diesem Punkte tritt besonders in die Erscheinung, dass Calvin „die grossen Fragen der Politik und Religion bewegen". Das ist aber abhängig von Calvins persönlicher Veranlagung, wie auch ganz besonders von dem nationalen Geiste, dem er angehört. 318 Wer den Franzosen kennt, — und gerade auch die jüngste geschichtliche Vergangenheit und die Gegenwart lehrt uns dies hervorragend deutlich — der weiss, dass für ihn die Tatsache der Gesellschaft, des Staates, eben überhaupt der Verbindung der Individuen zu einem sozial-rechtlichen Verbände eine ganz andere, viel grössere und viel tiefer in das Einzelleben des Individuums hineinreichende Bedeutung hat als etwa für den Deutschen. Es gehört das viel unmittelbarer zusammen. Hier liegen psychologisch notwendige Zusammenhänge vor. Und darum musste Calvin zu dieser weitergreifenden dogmatischen Bearbeitung der Lehre von der Kirche kommen, zu der seine kirchliche Praxis sozusagen die 316) A. Ritsehl, Geschichte des Pietismus, Bd. I p. 73 sqq. 317) cf. oben p. 10 sq., 88 sq. 318) Auch dafür hat Ritsehl schon einen Blick gehabt. Bauke: Probleme. 7



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Aussenseite, die äussere Erscheinungsform ist. Seine Stellungnahme auf diesem Gebiet hat er seiner Kirche vermacht — in den westindischen Gebieten kam ihm dabei die nationale Eigenart der Kirchenglieder entgegen. Aber sobald sich die reformierte Kirche nun auch auf deutsches Gebiet erstreckte, gelang es dem Geiste Calvins ebenso, sich in dieser Beziehung in den deutschen reformierten Kirchen und auch bei der Mehrzahl ihrer Theologen durchzusetzen. Wir zeigten oben die allgemeinen geschichtlichen Zusammenhänge, in denen diese Tatsachen stehen. 3 " Und hier liegt der andere hauptsächlichste Grund, aus dem die reformierten Theologen Calvin als besonderen Religionstypus ansehen wollen und müssen, eben um dieser besonderen Ausgestaltung der Lehre von der Kirche willen und vor allem wegen ihrer besonderen Stellung im Rahmen des Ganzen. Damit wäre unsere Untersuchung dieses Hauptproblems bis zu dem Punkte geführt, bis zu dem hin sie eigentlich gehen sollte. Denn es ist klargestellt, an welcher Stelle der „Antagonismus" in der Forschung einsetzt, wie er auf die Wurzeln letzter persönlicher Eigenart und Entscheidungen, ebenso wie auch besonderer geschichtlicher, nationaler Geistesstrukturen zurückführt. Eine endgültige historische Lösung des Problems wird sich wohl vorläufig nicht geben lassen, so sehr natürlich eine symbolische und dogmatische Verständigung sich ermöglichen lässt. Es soll doch aber noch ein Abschluss des Problems, wenigstens in einigen Sätzen gegeben werden. Sicher ist doch, dass der Ausgangspunkt neuen Religionslebens — mindestens in den höheren Religionen und ganz gewiss auf dem Gebiete des Christentums — „ p r i v a t e S o r g e " ist, wie Luther sagt, auch wenn gewiss irgendwelches Gemeinschaftsleben — das bedeutet hier dann vor allem historische Tradition — vorangeht, und das Persönliche sofort gemeinschaftsbildend wirkt. Dassindempersönlichen Erleben Luthersdietatsächlichereligiöse Wurzel des reformatorischen Christentums als neuer Religionstypus innerhalb des gesamten Religionsgebietes des Christentums liegt, wird doch auch von allen reformierten Theologen angenommen. Das h a t Calvin ü b e r n o m m e n — darin ist er der e c h t e N a c h f o l g e r L u t h e r s , a b e r er ist kein n e u e r selbs t ä n d i g e r R e l i g i o n s t y p u s . A. Harnack sagte einmal, dass man bei aller vollkommenen Würdigung Calvins als 319) cf. oben p. 9.



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Heros der Frömmigkeit, als grossen Theologen, Reformators und Kirchengründers hinter seiner Religion doch immer wieder „das grosse Auge Luthers leuchten sehe". Ich glaube gewiss, dass dies doch schliesslich das letzte, geschichtliche Urteil über Calvin sein wird, wie es auch der Meinung von P. Loofs, nicht mehr ganz der von A. Ritsehl, entspricht. Damit wird die überragende Grösse Calvins keineswegs geschmälert — im Gegenteil, je mehr man sich mit ihm beschäftigt, umso grösser wird er, und seine theologische wie seine praktische Tat stellt sich neben das Grösste, was die Geschichte der Kirche gesehen hat. Aber neben Luther tritt er doch in dem historischen Urteil zurück. Dieser war der Anfang, Calvin ist eine Portführung auf dem Grunde und mit den Lebenskräften des Anfanges. Will man eine Formel, so kann man vielleicht sagen: Luther ist der religiöse Genius, der Genius der Religion, Calvin ist der geniale Theologe und Kirchengründer und gewaltige Held der Frömmigkeit. Einen neuen Religionstypus bedeutet Calvin nicht, dass er aber, dem durch Luther heraufgekommenen neuen Religionstypus eine selbständige und eigentümliche Gestaltung in Theologie, Kirche und Frömmigkeit auf Jahrhunderte hinaus gegeben hat, dafür ist die von ihm gegründete Kirche, die in ihr lebende und arbeitende Theologie und die in ihr wirksame Frömmigkeit das lebendige Zeugnis. Man wird ruhig sagen dürfen, dass das neue Evangelium Luthers nur darum nach Westeuropa hat übertragen werden können, weil es in Calvin einen wirklichen Uebersetzer fand — einen solchen Uebersetzer, der nicht nur Buchstaben übertrug, sondern wirklich imstande war, die Sache in die ganz andersartige Form hinüberzuführen. Nur auf dem Umwege über die Theologie Calvins — und das ist in erster Linie über ihre Formgestaltung — konnte Westeuropa zu dem Wesen des neuen Evangeliums Luthers herankommen. So wird man historisch urteilen müssen, dass Calvin ein Epigone810 Luthers ist, ein Epigone In dem, was dem grössten Genius der Neuzeit offenbar geworden ist, als das innerste Zentrum des neuen Lebens; aber eben doch ein solcher Epigone, der durch seine grosse Geisteskraft und Genialität diesen neuen Religionstypus auf seinem Gebiet und über sein Gebiet hinaus zu selbständiger Gestaltung und Wirkung 320) Wenn man, wie Seeberg (Dogmengeech. Bd. IV a p. 559) den Ausdruck Epigone lieber vermeiden will, so ist dagegen natürlich nichts einzuwenden — sachlich besteht trotzdem hier keine Differenz.



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gebracht hat. 841 Damit ist gewiss keine endgültige Lösung des Problems der Religion und der Theologie Calvins im Ganzen und in allen seinen Teilen aufgestellt, aber das Problem selbst erscheint klar und der Weg zu seiner Lösung frei. 321) Von dieser meiner Stellung zu dem Problem aus kann ich allerdings F. Wernle nicht zustimmen, wenn er am Schlüsse seines Werkes sagt: „Wir stehen damit (mit der Aufhebung der paulinischen Antithese von Gesetz und Evangelium durch Calvin — dabei muss denn doch aber auch an Calvins Religion und Theologie als Ganzes gedacht werden) vor der reifsten Ausprägung des evangelischen Gnadenglaubens." (1. c. p. 400). Ich bin der Meinung, dass Wernle sich hier auch mit seiner eigenen Erkenntnis p. 13 und 32 in Widerspruch setzt. Sollte jener Satz nur heissen: „ E i n e selbständige Ausprägung", so wäre er richtig; wie er aber dasteht, bedeutet er doch ein Glaubens- und Wert- und nicht ein historisches Urteil. Wobei denn freilich dazu zu bemerken ist, dass Wernle sich j a keineswegs auf historische Urteile in seinem Buche beschränken will, und dass auch gerade darin der überragende Wert seines Buches ruht. Ich möchte hier schliesslich doch noch einen Vergleich, den der holländische Theologe Bavinck gezogen hat, nicht unerwähnt lassen. E r sagt: „Calvin ist nicht der Piaton oder der St. Augustin, aber der Aristoteles und der Thomas Aquinas unter den Reformatoren gewesen." (The leading ideas of Calvins Institutes. I n : The Calvin Commemoration Meeting 1909, London p. 19). Gewiss ist das schliesslich nur ein geistvoller Einfall, der für die strenge historische Erkenntnis nichts Wesentliches einträgt, interessant und lehrreich erscheint er mir aber doch jedenfalls, namentlich wenn man auch daran denkt, dass der „Epigone" Piatons auf dem Gebiete der Philosophie durch die Umformung, die er der platonischen Lehre gab, den breiteren Einfluss ausgeübt hat, als der Anfänger selbst.

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M. 17.20

D . H . H a a s in dnr Zeitschrift für Missionskunde «.Religionswissenschaft: „Die Arbeit wird Ihmels, Troeltsch, Eucken, Dunkmann, Schäder, Otto, Österreich, auch Söderblom auf den Plan rufen, den Autor selber aber, so hoffeich, recht bald auf einen a k a d e m i s c h e n L e h r s t u h l . Sein Vorwort ist datiert M e c k e s h e i m bei Heidelberg (Baden), 29. November 1920. Das ist gewiss sein Platz nicht".

Simmeis Religionstheorie Ein Beitrag zum religiösen Problem der Gegenwart Von

Lic. Wilhelm Knevels 1920. M. 12Korrespondenzblatt für die evang.-luth. Geistlichen in Bayern: „Der Verfasser versteht es sehr s c h a r f s i n n i g u n d d r i n g l i c h , Simmeis eigene Lehren zu entwirren und auf die ihnen eigentümlichen Grundantriebe zurückzuführen, sodann die Selbstwidersprüche aufzuzeigen, in die Simmel gerät. Er zeigt, wie Simmel gerade an dem entscheidenden Punkt versagt und versagen muss, bei der Frage nach der Persönlichkeit G-ottes."

Die religiösen Erlebnisse Ihr Sinn und ihre Eigenart Ein Beitrag zur Frage nach dem W e s e n der Religion Von

Lic. Wilhelm Mundle 1921.

M. 10—

Die Arbeit sucht im Anschluss an die religionswissenschaftlichen und philosophischen Forschungen der Gegenwart (bes. Husserls und seiner Schule) einen Beitrag zur Frage nach dem Wesen der Religion zu liefern. Der Verfasser sucht diese Frage dadurch zu beantworten, dass er seinen Ausgangspunkt bei dem Sinn dor religiösen Aussagen selbst nimmt und; festzustellen versucht, was sich daraus mit Wesensnotwendigkeit für das Bewusstsein religiöser Menschen ergibt. Sein Ziel ist, nicht irgend welche dogmatische oder religionsphilosophische Begriffsbestimmungen über Religion, sondern eine beschreibende Analyse der wirklich lebendigen Religion zu geben und verständnisvolles Interesse für ihre Eigenart zu erwecken. 'An vorstehenden Preisen tritt k e i n Teuerungszuschlag des Verlages. Nach dem Ausland unter Hinzurechnung des jeweils gültigen Valutaausgleichs.