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German Pages [448] Year 2011
Flemming Schock Die Text-Kunstkammer
BEIHEFTE ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE IN VERBINDUNG MIT KARL ACHAM, GÜNTHER BINDING, EGON BOSHOF, WOLFGANG BRÜCKNER, KURT DÜWELL, HELMUT NEUHAUS, GUSTAV ADOLF LEHMANN, MICHAEL SCHILLING HERAUSGEGEBEN VON
KLAUS HERBERS HEFT 68
DIE TEXT-KUNSTKAMMER Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der »Relationes Curiosae« von E.W. Happel
von
Flemming Schock
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Ludwig Sievers Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der freien Berufe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: »Eine menschlich-gestalte Rübe«, Relationes Curiosae, Hamburg 1683, S. 117, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20615-4
Inhalt
Vorwort ....................................................................................................................
I.
Einführung: (Periodische) Medien des Wissens im 17. Jahrhundert ...... 1.1. Von „toll gewordenen Realenzyklopädien“: Annäherung an den Gegenstand....................................................... 1.2. Forschungsstand .................................................................................. 1.3. Erkenntnisinteresse, methodische Perspektiven und Aufbau der Arbeit........................................................................
II. Entstehungshintergründe und pressegeschichtlicher Rahmen................ 2.1. Zwischen Börse, Kaffeehaus und der Welt: Hamburg als Medienmetropole........................................................................... 2.2. Berufschriftsteller und Dichter-Journalisten: Literarisches Leben in Hamburg....................................................... 2.3. Die Medientypologie im Verlag Wiering und Happels Rolle als Redakteur ...................................................... 2.4. Barocke Wissensarchive: Die Relationes Curiosae im Kontext von Happels Œuvre....................................................... 2.5. Die Relationes Curiosae im Kontext anderer ‚Journale’: Merkmalsvergleiche.............................................................................
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III. Kulturelle Voraussetzungen: Diskurse über das „Curieuse Seculum“ ... 84 3.1. Weltverfallenheit: Ambivalenz und Aufstieg der Neugier im 17. Jahrhundert......................................................... 87 3.2. Neugier und neue Medien: Die Pressedebatte des 17. Jahrhunderts............................................................................ 94 3.3. „Curiosität“: Semantische Dimensionen in den Relationes Curiosae ...................................................................... 98 3.4. Neugier und neues Wissen? Die Relationes Curiosae als Komplement zur Tagespresse...................................................... 103 3.5. Neugierige Kultur / Sammeln als Wissen: Von „Curiositäten“.............................................................................. 106
VI IV. (Un-)Ordnungen des Wissens: Die Relationes Curiosae im enzyklopädischen Zeitalter............................................................................ 4.1. Polyhistorismus und enzyklopädisches Wissen .............................. 4.2. Bücherlust und Bücherfrust: Wissensverarbeitung und Ordnungstechniken..................................................................... 4.3. Die Relationes Curiosae im weiteren enzyklopädischen Umfeld................................................................................................... 4.3.1. Gefällige Unordnung: Die Strukturtradition der ‚Buntschriftstellerei’...................................................................... 4.3.2. „Angenehme Confusion“ und assoziative Textorganisation in den Relationes Curiosae ...................................................................... 4.4. Knotenpunkte im Wissenskosmos: Vorläufer und Quellen Happels .......................................................................... 4.5. Selektion, Reproduktion, Vermittlung: Happels kompilatorisches Selbstbild ................................................ V. Wissenspopularisierung: Publizistische Konzeption und Programmatik der Relationes Curiosae .................................................... 5.1. Alte und neue Paradigmen der Popularisierungsforschung.......... 5.2. Konzept und Dimensionen der Wissenspopularisierung in den Relationes Curiosae ...................................................................... 5.3. Schnittstellen: Happels persönliche Kontakte zur Gelehrtenwelt ................................................................................ VI. Reale und virtuelle Sammlungsräume: Wissen zwischen Materialität und Textualität ................................................................................................ 6.1. „Die Wunderbare Kunst-Kammer“: Ausgreifen von Wissensform und Wissensraum ........................................................ 6.2. Die Integration von Kunst- und „Buchkammer“ .......................... 6.3. Die (Text-)Kunstkammer: Medienübergang und -vergleich......... 6.3.1. Bruchstücke und Projektion fremder Welten ................................. 6.3.2. Ein Kompendium aller merkwürdigen Dinge................................. 6.3.3. Ordnung der (Text-)Kunstkammer und religiöser Überbau ........ VII. Schlüsseldiskurse der Text-Kunstkammer: Beispielanalysen des Wissenshorizontes .......................................................................................... 7.1. Außenansichten der „Welt-Kunstkammer“: Von Seltsamkeiten fremder Nationen .............................................. 7.1.1. Die „Curiosität“ des Anderen: Determinanten der Fremdwahrnehmung .................................................................... 7.1.2. Abwehr durch religiöse Gegenfiguren: Christen und ‚heidnische Barbaren’ ..................................................................
Inhalt
111 112 115 119 125 129 144 162 167 168 171 182 188 191 199 204 206 207 212 216 217 222 223
Inhalt
7.1.3. Zeitlose Medienthemen: Von Hottentotten und „solennen Exekution[en]“.................................................................. 7.1.4. Exotismus und Verlangen: Von ‚künstlichen’ Chinesen ............... 7.1.5. Fazit: Leistungen und Grenzen wöchentlicher ‚Lehnstuhlethnographie’ ..................................................................... 7.2. Die abweichende, spielende und künstliche Natur ........................ 7.2.1. Künstliche Wunder der Natur / Natürliche Wunder der Kunst .............................................................................................. 7.2.2. Mediengeschichte eines Kunstwunders: „Das Wunder-Horn zu Oldenburg“................................................. 7.2.3. „Die seltsam gebildete Mandragora“ und andere anthropomorphe Pflanzen ................................................................. 7.3. Neue Wunder: Die Popularisierung der ‚neuen’ Wissenschaften..................................................................................... 7.3.1. „Himmels-Wissenschaft“ und „Sternen-Gucker“.......................... 7.3.2. „Die neulich erfundene Microscopia oder Vergrösserungs-Gläser“...................................................................... 7.3.3. Wissen aus (medialer) Erfahrung? Semantik und Pragmatik eines Begriffs ........................................................................................ VIII. Schlussbetrachtung und Ausblick: Periodizität und wissenskultureller Wandel?............................................................................ 8.1. Semantiken und Kritik des Wunderbaren........................................ 8.2. Medientypus des Barock – Medientypus der Moderne?................ 8.3. Epilog: Skizze zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Relationes Curiosae ..................................................................................
VII
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Literaturverzeichnis ........................................................................................ 382 Abbildungsnachweise..................................................................................... 407 Register ............................................................................................................. 409
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Philologisch-historischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Ohne die Förderung und den Rückhalt von verschiedenen Seiten wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Verbunden fühle ich mich allen, die die Entstehung meiner Dissertation unterstützt und begleitet haben. Herzlich danken möchte ich voran meinen beiden Betreuern, Prof. Dr. Paul Münch und Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Johannes Burkhardt und Prof. Wolfgang E. J. Weber für die Aufnahme in das Augsburger DFG-Graduiertenkolleg Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur, das meine Arbeit mit einem dreijährigen Stipendium finanziell ermöglicht hat. Sehr verbunden bin ich Prof. Dr. Holger Böning von der Bremer Presseforschung für vielfältige Auskünfte und Gespräche zur Pressegeschichte. Für ihre Hilfsbereitschaft insbesondere im Hinblick auf die Übernahme des Drittgutachtens danke ich Prof. Dr. Stefanie Stockhorst. Der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, namentlich Frau Sommer, danke ich für ihr freundliches Entgegenkommen bei den Reproduktionen, den Herausgebern der Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe. Verpflichtet fühle ich mich zudem der Stiftung Geschwister Böhringer Ingelheim sowie der Ludwig Sievers Stiftung für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Die unermüdlichsten Korrekturarbeiten leisteten meine Frau Imke Harjes und meine Mutter Elke Schock – ihnen und meinem Vater HansJoachim Schock gilt mein größter Dank, auch für weit wichtigere Dinge. Unerlässlich in allen Phasen der Dissertation und darüber hinaus waren mir überdies der Rat und die Ermunterung von Freunden und Bekannten: PD Dr. Nikola Roßbach, Prof. Dr. Gernot Michael Müller, Prof. Dr. Gerhild Scholz Williams. Auch ihnen gilt mein herzlichster Dank. Hamburg, im Dezember 2010
I. Einführung: (Periodische) Medien des Wissens im 17. Jahrhundert
1.1. Von „toll gewordenen Realenzyklopädien“: Annäherung an den Gegenstand „Nachdem meine unvolkommene Compositionen diejenige Beystimmung erreicht / deren den aller berühmtesten Scribenten nicht vergönnet gewesen / bey ihrem Leben zu geniessen“. Happel: Relationes Curiosae, 1688
Die Entstehung und Wirkung der periodischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts sind eingehend erforscht. Aus pressehistorischer Sicht ist hier allein ein Mangel an inhaltsanalytischen Arbeiten auffällig.1 Dagegen liegt die Formationsphase deutschsprachiger ,Zeitschriften’2 trotz aller Erkenntnisse über die Ausdifferenzierung frühneuzeitlicher Wissensmedien nach wie vor weitgehend im Dunkeln.3 Unlängst hat Herbert Jaumann dieses Defizit eindringlich mit einer „katastrophalen Lage“4 verglichen. Die vorliegende Arbeit kann dieses umfassende Desiderat nicht schließen, möchte aber einen Baustein anhand einer Fallstudie liefern, die sich zwischen Medien- und Kulturgeschichte positioniert. Im Mittelpunkt steht eine der ersten deutschen ,Zeitschriften’ überhaupt, die zwischen 1681 und 1691 wöchentlich in Hamburg erschien: Die Grösten Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae5 des Polyhistors, Kompilators und Romanautors Eberhard Werner 1
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Eine der wenigen Ausnahmen: Schultheiß-Heinz, Sonja: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Band 16), Stuttgart 2004. Mit Blick auf das 17. Jahrhundert ist der Terminus anachronistisch, da er noch unbekannt war. Zur Begriffsproblematik siehe unten S. 27. Schon 1983 mahnte Bernhard Fabian einen weiterhin gültigen Befund an: „Eine zureichende Geschichte des gesamten wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens [...] fehlt bis heute“. Fabian, Bernhard: Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung, Göttingen 1983, S. 337. Jaumann, Herbert: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlung, in: Grunert, Frank / Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 103-113, hier S. 107. Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae [...], Hamburg 1683 [Band 1.2]; im Folgenden zitiert als Relationes Curio-
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Einführung
Happel6 (1647-1690) (Abb. 1). Das Periodikum war außergewöhnlich erfolgreich, von Beginn an aber ebenso umstritten wie andere Werke aus der Feder Happels, wie zeitgenössische Reaktionen im jungen Medium ,Zeitschrift’ selbst zeigen. So fand sich im Januar 1689 für die erste Ausgabe der Monatlichen Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern7 eine Gruppe fiktiver Diskutanten zusammen, um im kritischen Dialog für Auswahl und Orientierung innerhalb der anwachsenden Bücherberge der Zeit zu sorgen. Im Gespräch über die Neuerscheinungen des Druckmarktes werden auch Werke des Erfolgsautors Happel zur Hand genommen. Dessen erst im Vorjahr 1688 veröffentlichte völkerkundliche Enzyklopädie Thesaurus Exoticorum8 wird als erstes der Kritik unterzogen. Das Urteil ist zwiespältig: Abgesehen von einer mangelhaften Übersetzung des Korans, wird vor allem Happels offenbar argloses Verhältnis zu „alten Fabeln“ moniert: „Darauff nahmen sie noch Happelii zwey Schrifften vor / und weil Herr Leonhard den Thesaurus Exoticorum schon durchlesen / sagte er / daß feine Historien von ausländischen Sachen darinnen enthalten / und die fremden Nationen in ihren eigenen Kleidungen abgebildet wären. Es wäre auch am Ende ein teutscher Alcoran zu finden / der aus dem Frantzösischen übersetzet worden. Es hat aber der Auctor nicht allezeit die besten Scribenten ausgelesen / setzte Antoni darzu / denen er doch billich hätte folgen sollen. Zum Exempel / in Habessinischen oder Aethiopischen Sachen hat er unterschiedliche Fabeln / die der Herr Ludolf deutlich verworffen / in dessen Aethiopischen Historie9 er viel bes-
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sae. Neben seiner wöchentlichen Erscheinungsweise wurde das Periodikum jeweils jedes Jahr (50 nummerierte Bögen) und alle zwei Jahre (100 nummerierte Bögen) als eigenständiges Werk publiziert. Zitiert werden im Folgenden überwiegend die Erstauflagen der jeweils 100 Bögen umfassenden Zweijahreskumulationen (1683 [Band 1.2], 1685 [Band 2.2], 1687 [Band 3.2], 1689 [Band 4.2], 1691[Band 5.2]). Die kürzeren ‚Jahresbände’ (1682 [Band 1.1], 1684 [Band 2.1], 1686 [Band 3.1], 1688 [Band 4.1], 1690 [Band 5.1]) sind – abgesehen von den Vorreden und Nachworten – textidentisch mit den Zweijahreskumulationen. Für weitere Details zur Erscheinungsweise siehe den maßgeblichen Eintrag in: Böning, Holger / Moepps, Emmy: Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften, Band 1.1: Hamburg, Stuttgart 1996, Sp. 75-87, besonders Sp. 83-84. Zur Vita siehe unten S. 13. Tentzel, Wilhelm Ernst: Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten [...] 1689 / Allen Liebhabern Der Curiositäten Zur Ergetzligkeit und Nachsinnen Heraus gegeben [...], Leipzig 1689f. Happel, Eberhard Werner: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer: Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes [...], Hamburg 1688. Gemeint ist die Historia Aethiopica, Sive Regni Habessinorum Christianorum In Africa [...] (Frankfurt 1680) des Orientalisten Hiob Ludolf (1624-1704).
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sere Dinge hätte finden können. Es ist zu bedauren / wenn gleich rechtschaffene Leute sich bemühen / die Warheit / sonderlich von unbekanten ausländischen Nationen / der gelehrten Welt kund zu thun / daß dennoch andere mit Fleiß die alten Fabeln behalten. Ich weiß auch nicht / fuhr der Theologus fort / ob es mit der teutschen version des Alcorans gar zu wol gethan ist. Die Frantzösische Ubersetzung ist ja nicht allenthalben richtig / wie sollte denn die jenige accurat seyn / die nur aus dieser gemacht / und deren Arabische Text wol nicht einmal dabey angesehen worden? Es wäre zu wünschen / daß man einmahl eine rechte Version des Alcorans machte / auf die man sich verlassen könte“.10
Auch das zweite Werk aus der Feder Happels, der ebenfalls 1688 publizierte Roman Der Ottomanische Bajazet,11 erscheint in keinem milderen Licht; es ist im Gegenteil die wüste Struktur- und Planlosigkeit einer offensichtlich flüchtigen Schreibart, die hier dem „Politicus“ übel aufstößt: „Der Politicus hatte den Ottomannischen Bajazet durchgangen / und sprach: Mir koemmt es vor / als wenn der Auctor nicht eine gewisse Methode darinnen observirt / sondern wie ihm die Sachen zur Hand kommen / nieder geschrieben. Bißweilen scheinet es ihm an Materien gefehlet zu haben / daß er nicht nur alte Historien / sondern auch neue Fabeln / die er vielleicht selbst erdacht / mit eingeflicket“.12
Angesichts dieser Missbilligung überrascht es nicht, dass auch Happels Relationes Curiosae in der Juli-Ausgabe der Unterredungen von 1689 grundsätzlich kritisiert werden. Zwar findet sich unter den Diskutanten auch ein Fürsprecher, die Anfechtungen lassen die Relationes im Ganzen jedoch nicht bestehen. Der Verlauf der Argumente gibt einen ersten Einblick in mehrere Eigenarten des Textes: „So wird man auch Herrn Happels curiose Relationes corrigiren müssen / verfolgte Herrn Constantin, in deren ersten Theil (pag. 117.118) er ein großes Wesen gemacht von diesem angebohrenen güldenen Zahn / und selben unter die grössesten Seltsamkeiten gerechnet / ja nach geendigter Erzehlung gar einen oratorischen Schluß beyfüget / und dieses Wunder allen denen vorgezogen / welche ihre Zähne mit auff die Welt gebracht / oder im hohen Alter wieder bekommen / etc. welche Prahlerey ganz umsonst ist. Man findet noch viel mehr in diesen Relationen zu corrigiren / setzte Herr Antoni hinzu / welche nichts anders sind / als ein Mischmasch von allerley Geschichten / sie mögen wahr oder unwahr / recht oder unrecht seyn. Ich wil nur aus dem ersten Tomo ein Exempel anführen. Wer wolte doch glauben / daß des Hohen-Priester Aarons seine 10 11
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Tentzel: Monatliche Unterredungen, 1689, Ianuarius, S. 149f. Happel, Eberhard Werner: Der Ottomannische Bajazet, Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman, Auf Das Jahr 1688: Darinn abgehandelt werden Alle Denck-würdige Geschichte / welche dieses Jahr über fürgefallen sind in Kriegen / Estats-Sachen / Wundern / [...], Ulm 1688. Tentzel: Monatliche Unterredungen, 1689, Ianuarius, S. 151.
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Kleidung also ausgesehen / wie sie Herr Happelius abbildet? Johannes Braunius in seinem gelehrten Tractat de Vestitu Sacertodum Ebraeorum, so zu Amsterdam an. 1680 gedruckt / und also drey Jahr vor Happelii Relationibus heraus kommen / hat sie uns viel besser vor Auge gestellet / mit einem applausu aller Gelehrten / darum auch hernachmahls in vielen Büchern desselben Kupfer behalten / und die alten Irrthümer abgeschafft worden. Gleicher gestalt haette es der Herr Happelius machen sollen / wenn er cum judicio verfahren waere. Herr Leonhard meynete / das waere doch wohl zu entschuldigen / weil viele andere vor ihm eben solch Bild gemacht / und koente man ja nicht alle neue Buecher kauffen oder lesen. Aber Herr Antoni gab zur Antwort: Man solte lieber mit Leuten correspondiren / die gute Wissenschaft tragen um die Sache / davon man schreiben wil / dieselben werden einem bessere Instructionen geben. Der Herr Happelius ist kein Theologus oder in Rabbinischen Schrifften erfahrner Philologus, ob er wol in mancherley Historien und der Mathesi ziemlich bewandert ist“.13
Das ungnädige Urteil deutet erstens an, dass Erscheinungsformen des Wunderbaren, die Happels Periodikum offensichtlich marktschreierisch zu Markte trug, im Wissenshaushalt anderer Teilnehmer des zeitgenössischen Mediendiskurses bereits ein Problem darstellten. Die Kritik bezieht sich auf Happels Bericht „Der angebohrne güldene Zahn“,14 ein vermeintlicher Vorfall aus dem Jahr 1593, den Happel, wie oben beanstandet, seinen Lesern wie folgt schmackhaft macht: „Ich trage keine Scheu / dieses / als eines von den grössesten Seltsamkeiten / in gegenwärtiger Relation mit einzurücken“.15 Über das Alter des rund hundert Jahre zurückliegenden Vorfalls lässt sich eine erste medientypologische Differenz zu den periodischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts benennen: Denn anders als in den Zeitungen spielt die größtmögliche Zeitnähe – das Kernmerkmal der Aktualität – für die Inhalte der Relationes Curiosae nur eine marginale Rolle. Vielmehr kolportiert Happels Wochenblatt auch das, was schon lange in den Kreislauf immer wieder reproduzierter Geschichten übergegangen war und als ,Medienthema’ über eine gesicherte Popularität verfügte.16 Zweitens kritisieren die Diskutanten der Monatlichen Unterredungen das heillose Durcheinander der Stoffe in den Relationes einerseits („[...] ein Mischmasch von allerley Geschichten [...]“) sowie das leichtgläubige Miteinander von Wahrheit und Fiktion andererseits („[...] sie mögen war oder unwahr [...] seyn“). Drittens stößt auf, dass Happel 13 14 15 16
Tentzel: Monatliche Unterredungen, Julius, S. 741f. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 15, S. 117f. Ebd., S. 117. Der Bericht über den goldenen Zahn ist exemplarisch für die häufige Reproduktion bestimmter Wundertypen im frühneuzeitlichen Mediensystem; dazu: Jütte, Robert: „Ein Wunder wie der Goldene Zahn“: Eine „unerhörte“ Begebenheit aus dem Jahre 1593 macht Geschichte(n), Ostfildern 2004.
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nicht „cum judicio“ verfahre, die Dinge also keinem eigenen Urteil aussetze. Angesichts dieser Defizite fällt auch das apologetische Argument nicht mehr ins Gewicht, dass Happel als Einzelner die gesamte Literatur zu einem Wissensfeld gar nicht mehr überblicken könne („[...] und koente man ja nicht alle neue Buecher kauffen oder lesen“). Diese kurze, aber prägnante Debatte der Unterredungen ist eines der wenigen noch vorliegenden Dokumente, die Rückschlüsse auf das zeitgenössische Echo und die Rezeption des neuen Hamburger Presseerzeugnis zulassen. Tatsächlich erzeugt die Annäherung an die Relationes Curiosae auch heute noch den gleichen Eindruck wie vor dreihundert Jahren: den einer enzyklopädisch-wuchernden, arbiträr angehäuften Stofffülle – ein „Mischmasch“ in der Kritik der Unterredungen. Was diese an der sperrigen ,Architektur’ von Happels Romanen bemängeln – dass „[...] der Autor nicht eine gewisse Methode darinnen observirt“ –, gilt gleichermaßen für dessen Periodikum. Einen späten Widerhall findet diese Kritik noch im 19. Jahrhundert in einer Sentenz Joseph von Eichendorffs17 (1788-1857). Zwar bezieht sich dessen Verdikt nur auf die Romanproduktion des Barock, strukturell trifft es jedoch auch den Kern von Happels Periodikum. So hätten sich die Autoren des 17. Jahrhunderts verstanden als „[...] Klasse [...] der eigentlich Gelehrten, denen es lediglich um eine breite Schaustellung ihrer Gelehrsamkeit zu tun ist, wo alle erdenklichen Artikel des Wissens [...] mit großer Prätention und Selbstschätzung an die lernbegierige Lesewelt angeboten werden. Man könnte ihre Romane poetische, gewissermaßen toll gewordene Realenzyklopädien nennen“.18
Prätentiös war Happel zwar nicht – mit Blick auf die Relationes Curiosae spricht er von seinen „unvolkommene[n] Compositionen“. Doch erzeugt sein Periodikum auch heute noch das Bild einer eigenartigen, ,verrückten Enzyklopädie’: So zeigt sich das Hamburger Wochenblatt als ein typisch ,barockes’ Produkt universaler Gelehrsamkeitsdemonstration aus einer Zeit, in der umfassende Wissensaufbereitung meistens noch nicht das Ergebnis kollektiver Arbeitsteilung im Rahmen einer Redaktion war, sondern auf der individuellen Anstrengung einzelner ,Wissensarbeiter’19 beruhte – ganz unabhängig davon, ob diese monumentale Nachschlagewerke in klassischem Buchformat verfassten oder enzyklopädische Projekte im Rahmen des noch jungen periodischen Mediensystems erprobten. Von einem einzigen Autor 17 18 19
Eichendorff gehörte selbst noch zu den Lesern der Relationes Curiosae; siehe Kapitel 8.3. Eichendorff, Joseph von: Geschichte der Poetischen Literatur Deutschlands. Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, hrsg. v. Gerhart Baumann, Band 4, Stuttgart 1958, S. 102. Siehe: Zedelmaier, Helmut: Bibliotheca universalis und bibliotheca selecta: Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit, Köln 1992, S. 45f.
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zusammengetragen, entfaltet sich auf den rund viertausend Seiten der Relationes eine aus heutiger Sicht befremdliche Wissensfülle. Neben den Inhalten ist es aber auch die fragmentarische, zusammenhangslose Struktur, die dem Periodikum seinen sperrigen Charakter verleiht und die Erschließung erschwert: Wöchentlich wurde in Hamburg ein nummerierter Bogen zu je acht Seiten im handlichen Quartformat veröffentlicht, wobei Happel das versammelte Textmaterial in zahllose, überwiegend kurze ,Artikel’20 zerlegt – in Anlehnung an etablierte Titelkonventionen der periodischen Presse nennt er sie „Relation“ (= Nachricht, Neuigkeit). Die Relationes Curiosae verweilen bei kaum einem Thema länger, das diskontinuierliche ,Textpatchwork’ erzeugt bei seinem sprunghaften Streifzug durch zahllose Quellen und Texte eine schier endlose Kette an Exkursen, die zu keinem Mittelpunkt findet. Da sich Happels Periodikum modernen Systematisierungsversuchen entzieht, würde es ihm anachronistische Gewalt antun, die heterogene Masse der Inhalte nach heutigen Wissens- und Wissenschaftskategorien ex post klassifizieren zu wollen. Im Kontext der textuellen Traditionen des 17. Jahrhunderts erscheinen die Relationes auf den ersten Blick am ehesten mit der Gattung der Kosmographie, der Weltbeschreibung, vergleichbar; mit dem erheblichen Unterschied allerdings, dass die Relationes lediglich eine Kosmographie in selektiver Absicht sind – es geht Happel allein um die Grösten Denkwürdigkeiten der Welt, um das also, was der Welterfahrung des Lesers auf ,denkwürdige’ Weise zuwiderlief, zusammengehalten allein durch den Filter der „Curiosität“.21 Dass ein Querschnitt durch die Inhalte trotz dieses suggerierten Auswahlcharakters ein tendenziell enzyklopädisches Gepräge aufweist, deuten bereits die Titelblätter der insgesamt fünf erhaltenen Bände an. Wie für periodische Publikationsformen schon im 17. Jahrhundert üblich, erschienen die Relationes in zweifacher Weise – zunächst im wöchentlichen Rhythmus, dann wurden sie ein bzw. alle zwei Jahre in ,Jahresbänden’ gebunden und nachträglich mit Titelblättern versehen (Abb. 2).22 Diese versu20
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Im Folgenden wird mit Blick auf die einzelnen Textblöcke des Periodikums von ,Artikeln’ (gleichwohl nur provisorisch, da der Begriff noch nicht existierte) oder ,Relationen’ gesprochen. Während die Überschriften in den Zeitungen des 17. Jahrhunderts nur das Datum und die Herkunft der Nachricht vermerken, nutzt Happel schon das themenzentrierte Element der ,Schlagzeile’; zur Textstruktur der Zeitungen weiterführend: Schröder, Thomas: Die ersten Zeitungen: Textgestaltung und Nachrichtenauswahl, Tübingen 1995. Münch, Paul: Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600-1700, Stuttgart 1999, S. 146. Im ersten Band heißt es in der „Erinnerung an den Käuffer: Fürs künfftige sollen diese Relationes allemahl also eingetheilet werden / daß alle Ostermesse ein neues Stück von 50 Bogen / und alle zwey Jahr ein gantzes Volumen in 100 Bogen bestehend [...] herauß komen soll“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 3v.
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chen, das Panorama der wöchentlich bestellten Wissensfelder durch die Hervorhebung von Schwerpunkten mit einer thematischen Klammer zu versehen und zugleich den Anspruch der Darstellung festzuhalten. Der vollständige Titel der ersten Zweijahreskumulation lautet: E.G. HAPPELII Gröste Denkwürdigkeiten der Welt oder so genannte Relationes Curiosae. Worinnen dargestellet / und Nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret werden / die vornehmsten Physikalische / Mathematische / Historische und andere Merckwürdige Seltsamkeiten / Welche an unserm sichtbaren Himmel / in und unter der Erden / und im Meer jemahlen zu finden oder zu sehen gewesen / und sich begeben haben.
Bereits im zweiten ,Jahresband’ von 1685 wirkt es allerdings, als hätten Happel und sein Verleger Thomas von Wiering (1640-1703) die Aussichtslosigkeit des Versuchs erkannt, mit den Titelblättern eine Zusammenschau aller wesentlichen Inhalte geben zu können: Die Benennung einzelner Wissensfelder wird aufgegeben, vage ist nur noch von Denckwürdigsten Seltzamkeiten die Rede. Bemerkenswert ist die Ergänzung um den konzeptionellen Anspruch der Erklärung und die zentrale Kategorie des Wunderbaren.23 Auch der Titel der dritten Zweijahreskumulation von 1687 hebt weniger auf konkrete Einzelinhalte als auf marktgängige Etiketten und scheinbare ,Typen’ des Wissens ab; angepriesen werden Antiquitäten / Curiositäten / Critische / [...] Künstliche und andere merckwürdige Seltsamkeiten.24 Der vierte Zweijahresband wiederholt wiederum fast unverändert die Titelei des ersten Bandes,25 während der fünfte und letzte, im Jahre 1691 publiziert, in zweifacher Hinsicht eine Ausnahme markiert: Erstens sind dessen Bögen, da Happel 1690 starb, von diesem wohl nur noch zum Teil angefertigt worden, zweitens gibt sich dieser Band im Vergleich zu den vorigen frappierend monothematisch, da er die inhaltliche Gewichtung eindeutig zu historischen Stoffen hin verschiebt; im Titel heißt es: Worinne fürgestellet und angeführet werden Die Merckwürdigste Historien und Geschichte Der vorigen und jetzigen Zeiten.26 Da diese themati23
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Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae: Worinnen dargestellet / außgeführet und erklähret werden Die Denckwürdigste Seltzamkeiten / So da in Historien / natürlichen Wundern / am Himmel / auff und in der Erden / wie auch in und unter dem Meer zu finden seyn [...], Hamburg 1685 [Band 2.2]. Ders.: E. G. Happelii gröseste Denkwürdigkeiten der Welt oder so genandte Relationes Curiosae: Worinnen fürgestellet / und auß dem Grund der gesunden Vernunfft examiniret werden / allerhand Antiquitäten / Curiositäten / Critische / Historische / Physicalische / Mathematische / Künstliche und andere Merckwürdige Seltzamkeiten [...], Hamburg 1687 [Band 3.2]. Ders.: E.G. Happelii Vierter Theil. Grösseste Denkwürdigkeiten der Welt oder so genandte Relationes Curiosae. In welchen eingeführet / erwogen und abgehandelt werden / allerhand Historische / Physikalische / Mathematische auch andere Merckwürdige Seltsamkeiten / [...], Hamburg 1689 [Band 4.2]. Ders.: E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae: Worinn fürgestellet und aus den bewehrtesten Scribenten angeführet werden Die Merckwürdigsten Geschichte Der vorigen und jetzigen Zeiten [...], Hamburg 1691 [Band 5.2].
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sche Konzentration für die ,Stammleser’ der Relationes überraschend sein musste, ist sie den Herausgebern zu Beginn des Textes eine eigene Stellungnahme wert: „Wir haben uns / curieuser Leser / entschlossen / diesen fünfften Tomum durchgehens historisch aus zu führen / [...] und kanstu dich versichert halten / daß wir sothane Historien durchgehends anführen werden / welche wegen ihrer Merckwürdigkeit und grossen Seltsamkeit unter die leswürdigsten Materien können und müssen gezogen werden“.27
Dem eingelösten Versprechen eines ,Best Of’ sensationeller rezenter, aber auch älterer historischer Ereignisse – im Mittelpunkt steht u.a. eine umfassende Darstellungen der Kreuzzüge28 – im fünften Band steht die disparate Wissensfülle der ersten Bände gegenüber. Wie angedeutet, lassen sie sich nach heutigen disziplinären Grenzen kaum quantifizieren und trennen: So heben die titelgebenden physikalischen Seltsamkeiten der Relationes noch nicht auf eine ,neuzeitliche’ Physik im Sinne einer vor allem mathematisch fundierten Erklärung von Naturgesetzmäßigkeiten ab. Vielmehr verweisen sie auf das spektakuläre Potential der revolutionär-experimentellen und technischen Methoden der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts, die Happel immer wieder zum Gegenstand seines Wochenblattes macht. Wo sich die ,neuen’ Wissenschaften der Zeit selbst bereits als Medienereignis inszenierten, wurden sie auch für den populären Diskurs interessant. Happel berichtet neben den zeitgenössischen Umwälzungen auf dem Gebiet der Astronomie etwa auch über die Aufsehen erregenden Experimente von Otto von Guericke29 (1602-1686) oder Robert Boyle (1627-1691).30 Auch medizinischanatomische Sensationsmeldungen finden sich in ähnlicher Breite („Die vom Tode wieder erwachte Henne“31) wie in den ersten gelehrten Periodika. Einher mit der Vermittlung empirisch-gelehrten Wissens geht die nachdrückliche Begeisterung für die Geschichte von Kunst und Technik, für Automaten und alle erdenklichen ,künstlichen’ Maschinen, vor allem aber für den Epoche machenden Charakter der neuen optischen Beobachtungsinstrumente. Nicht weniger steht die natürliche Welt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: So finden sich im gesamten Erscheinungszeitraum der Relationes 27 28 29 30 31
Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Nr. 1, S. 1. Ebd., Nr. 18, S. 138ff. Etwa: Ebd., Band 1.2, Relation „Ein schöner Discurs und etliche Experimenta von der Lufft / aus Herrn Ottonis von Guerike Tractat / de Vacuo Spatio“, Nr. 17, S. 129f. Etwa: Ebd., Band 4.2, Relation „Die Würckung des Fühlens und Reibens“, Nr. 92, S. 730. Ebd., Nr. 1, S. 7.
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zahllose Naturbeschreibungen in erster Linie außereuropäisch-,exotischer’ Weltgegenden, die für die Neugier des europäischen Publikums besonders attraktiv waren. Der Schwerpunkt in der überwiegend gerafften Beschreibung der Flora und Fauna liegt klar in der Kategorie pflanzlicher und tierischer Naturwunder, eine Perspektive, der auch die Wahrnehmung der Naturbesonderheiten in Europa selbst entspricht. Hier zeigt sich die Affinität des neuen Mediums zum kaum mehr überschaubaren Feld frühneuzeitlicher Sensationspresse und seinem Faible für einen immer wieder zitierten Kanon an Miss- und Wundergeburten, singulären Monstren und monströsen Rassen. Im 17. Jahrhundert schienen diese nicht mehr nur die geographische Peripherie, sondern zunehmend auch Europa selbst zu bevölkern32 und eroberten mit den Relationes Curiosae erstmals auch die periodische Presse in größerem Stil. Quantitativ weniger präsent als es der Titel des ersten Jahresbandes vermuten lässt, sind die Mathematischen Seltsamkeiten; zwar teilt Happels Periodikum in wiederholten Zahlenspielen die generelle Begeisterung der zeitgenössischen Wissenskultur für die exakte Berechnung der Welt. Die Vermittlung mathematischer Themen wird bei Happel jedoch erneut von der Suche nach verblüffenden Extremen angetrieben, beispielhaft verkörpert durch den barocken Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602-1680). Kircher versuchte unter anderem berechnend nachzuweisen, dass der babylonische Turm niemals hätte bis zum Mond reichen können.33 Neben solchen skurrilen ‚Superlativen’ greift Happel in der Folge des Nürnberger Polyhistors und Dichters Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658) auch auf die spielerischdidaktische Dimension mathematischer Probleme zurück. Harsdörffer hatte bereits 1651 in seinen Delitiae physico-mathematicae oder mathematische und philosophische Erquickstunden34 mathematisches Wissen als gesellige Unterhaltungsform etabliert. Nicht nur im fünften Band von 1691, sondern insgesamt nehmen die Historischen Seltsamkeiten in den Relationes Curiosae breiten Raum ein. Dabei weisen sie jedoch weder zeitlich noch geographisch klare Beschränkungen auf und demonstrieren eindrücklich den ,globalen’ Fokus des Periodikums – so wird „Der jämmerliche Todt des Muntezuma II“,35 des letzten Aztekenherrschers im 16. Jahrhundert, ebenso zum Gegenstand wie eine ganze Serie 32 33
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Hierzu umfassend: Daston, Lorraine / Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750, Berlin 2002, S. 30ff. Weiterführend: Wegener, Ulrike: Die Faszination des Maßlosen. Der Turmbau zu Babel von Pieter Bruegel bis Athanasius Kircher (= Studien zur Kunstgeschichte, Band 93), Hamburg 1995. Siehe ausführlich Kapitel 4.4. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 98, S. 777.
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von ,Artikeln’ über die „[...] Revolutiones der nechsten abgelebten 60 Jahren [...]“36 vor allem in Europa. Im ersten Vergleich mit dem Zeitungsmedium ist daher noch einmal zu betonen: Während die periodischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts ihre zeitnahen Informationen ‚roh’ und redaktionell unaufbereitet druckten, war das gesammelte Nachrichtenmaterial in den Relationes Curiosae bereits zur Geschichte ‚geronnen’, indem es Happel auf der Basis diverser Quellen – Chroniken, historische Darstellungen, Zeitungsextrakte37 – interpretiert und kommentiert. Von der Zeitung unterscheiden sich diese ,historiographischen’ Passagen des Periodikums nicht nur durch ihre kontextualisierende und meinungsbildende Funktion, sondern auch durch die enorme Breite der Darstellung: Happel beschränkt sich nicht auf politische Aspekte, sondern entwirft streckenweise ganze ,Zivilisationsminiaturen’ vor allem außereuropäischer Kulturen. Hier berichten die Relationes immer wieder fasziniert über ,den’ Anderen anhand zentraler Merkmale wie Nahrung und Wohnung, Bekleidung, Jenseitsvorstellungen und religiöse Rituale, aber auch der sagenhaften Prachtentfaltung entlegener Potentaten. Dieser ,ethnographische’ Sektor des Wissens verhält sich komplementär zu weiten naturgeschichtlichen Passagen von Tieren und Pflanzen exotischer Provenienz, aber auch zu vielen geographisch-topographischen Abschnitten. Wie der zeitgenössische Boom der Reiseberichte trugen sie dazu bei, dass der Leser in der Lektüre des neuartigen Hamburger Periodikums der Enge frühneuzeitlichen Lebens zumindest imaginär entkommen konnte. Unter die im Titel des ersten Jahresbandes zuletzt angepriesenen anderen Merckwürdigen Seltsamkeiten lässt sich schließlich all das subsumieren, was sich mit der Breite der genannten Themen eventuell deckte, aber nicht notwendigerweise decken musste: die Masse der kurzen Berichte über verwunderliche Vorfälle, verblüffende Superlative und Höchstleistungen jeglicher Art, Paradoxien und erstaunliche Abseitigkeiten, die als „Curiositäten“ in der (populären) Wissenskultur des 17. Jahrhunderts allgemein und in den Relationes Curiosae im Besonderen eine zentrale Rolle spielen. Wie bemerkt, weist Happels Periodikum hier starke Affinitäten zur nicht-periodischen Sensationspublizistik der Frühen Neuzeit auf. Einige der unzähligen, nach gleichem Muster formatierten Artikel-Überschriften illustrieren, mit welchen Themen ein erfolgreiches Wochenblatt des späten 17. Jahrhunderts seine Leserschaft erreichte: „Die grosse Glocke“,38 „Der künstliche Wasser-Sprützer“,39 „Das 36 37
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.1, Vorbericht, Bl. 3r. Zu dieser bislang kaum erforschten Pressegattung: Körber, Esther-Beate: Zeitungsextrakte. Aufgaben und Geschichte einer funktionellen Gruppe frühneuzeitlicher Publizistik (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 46), Bremen 2009. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 39, S. 307ff. Ebd., Nr. 57, S. 452f.
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duellierende Frauenzimmer“,40 „Der gelährte Bauer“,41 „Das seltsame Zeichen“,42 „Der neue Amsterdammische Irr-Garte“,43 „Die wunderliche Schnee-Brücke“,44 „Der widerkäuende Mensch“,45 „Die lebendig begrabene Frau“,46 „Eine überaus nachdenkliche Mißgebuhrt“47 etc. Der obige Themenquerschnitt vermag jedoch nur an der Oberfläche zu kratzen, bieten die Relationes Curiosae doch ein facettenreiches Konglomerat all dessen, was die Wissens- und Medienkultur der Frühmoderne von der heutigen so deutlich zu trennen scheint: das maßlos Überfrachtete des Barockzeitalters,48 sein geradezu manischer Konsum von ausgefallenen Denkund Merkwürdigkeiten jeder Couleur, seine Wunder- und Leichtgläubigkeit. Es ist jedoch gerade diese Differenz und Fremdartigkeit, die auch den Quellenwert für wissens- und kulturhistorische, literatur- und mediengeschichtliche Fragestellungen andeutet; mit wenigen Ausnahmen (siehe unten) wurde dieser aber bisher von keiner der genannten Disziplinen in nennenswertem Umfang erkannt. Der zeitgenössische Erfolg von Happels literarischen und publizistischen Werken verhält sich antiproportional zu ihrer (traditionellen) Marginalisierung in der Forschung.
1.2. Forschungsstand Die zeitgenössische Missbilligung der Relationes in den Monatlichen Unterredungen wurde vor allem von Seiten der Literaturwissenschaft und Enzyklopädik des 19. Jahrhunderts (siehe Kapitel 8.3.) wieder aufgenommen und noch verschärft. Sie verhinderte trotz einer erstaunlich langen Popularität des Werks bis heute eine nennenswerte Wahrnehmung in der Forschung. Gerade die normierende Konzentration der älteren Literaturwissenschaft auf den Kanon barocker ,Hochliteratur’ führte dazu, dass Happels heterogenes Œuvre als zweitklassig herabgestuft und quasi komplett ignoriert wurde. Ausschlaggebend dafür war jenseits ästhetisch-poetologischer Kriterien das im 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 58, S. 442. Ebd., Band 4.2, Nr. 5, S. 35f. Ebd., Nr. 92, S. 735. Ebd., Band 2.2, Nr. 71, S. 567f. Ebd., Band 3.2, Nr. 100, S. 800. Ebd., Band 2.2, Nr. 15, S. 115. Ebd., Band 3.2, Nr. 99, S. 790f. Ebd., Band 1.2, Nr. 14, S. 109. Vergleiche: Moser, Walter: Artikel Barock, in: Barck, Karlheinz (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1, Stuttgart 2000, S. 578-617, hier S. 589.
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Zuge eines veränderten Wissens- und Wissenschaftsideals seit dem 19. Jahrhundert entstehende Bild des „Universalschmierer[s]“49 Happel. Etwas provokativ lässt sich daher konstatieren, dass die Untersuchung von Text- und Wissensformen jenseits der Spitzenliteratur in der universitären Routine ,seriöser’ Barockforschung heute zwar nicht länger anrüchig, aber doch weiter vernachlässigungswert ist. Dabei ist Happel kein Einzelfall. Vergleichbares gilt für nicht minder erfolgreiche Vielschreiber des 17. Jahrhunderts – wie Johannes Praetorius (1620-1860) oder Erasmus Francisci (1627-1694). Eine tatsächliche „Schmelze des barocken Eisberges“50 (Klaus Garber) ist daher nur bedingt in Sicht. So ist das Feld der auf Deutsch publizierenden Polyhistoren und populären ,Buntschriftsteller’ (siehe Kapitel 4.3.1.) des 17. Jahrhunderts, die sich wie Happel der ,bunten’, das heißt vielfältigen Wissensvermittlung an ein breites Publikum verschrieben, weiterhin erst in Ansätzen erschlossen. Das Desiderat gilt jedoch nicht nur für die Literaturwissenschaft. Auch die historische Forschung hat den Quellenwert von Happels Texten besonders für wissens- und kulturgeschichtliche Fragestellungen bislang nur am Rand wahrgenommen. Die Schwierigkeit einer strukturellen und typologischen Erfassung der Relationes erhöht sich daher noch zusätzlich durch den Mangel an einschlägiger Forschungsliteratur. Eine erste unter den wenigen Ausnahmen erschien schon 1942 und bezeichnenderweise nicht in Deutschland: Frederick Wagmans Magic and Natural Science in German Baroque Literature51 untersucht neben Prosatexten des erwähnten Georg Philipp Harsdörffer auch Werke von Praetorius, Francisci und Happel – die Relationes werden allerdings nicht berücksichtigt. Rund zehn Jahre nach Wagmanns Studie erschien die bislang einzige monographische Arbeit über Francisci, Helmut Sterzls Dissertation aus dem Jahre 1951.52 1977 gab Gerhard Dünnhaupt dann in einem der wenigen Aufsätze über den Nürnberger Polyhistor zu bedenken: „Die Geschichte der Nachwirkungen Franciscis auf die deutsche Literatur ist noch ungeschrieben“.53 Für Johannes Praetorius legte Gerhild Scholz Williams 49 50
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Grässe, Johann Georg Theodor: Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, 4 Bände, Leipzig 1837-60, Band 3, S. 249. „Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass sich die Erforschung des Barockzeitalters nicht allein auf die bekannten Werke der kanonischen Autoren beschränken dürfe, sondern das Kleinschrifttum mit einbeziehen müsse“. Hausmann, Frank-Rutger in Süddeutsche Zeitung vom 2.12.2006 [Rezension zu Garber, Klaus: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents, München 2006]. Wagman, Frederick Herbert: Magic and Natural Science in German Baroque Literature. A Study in the Prose Forms of the Later Seventeenth Century, New York 1942. Sterzl, Helmut: Leben und Werk des Erasmus Francisci, Erlangen 1951. Dünnhaupt, Gerhard: Das Œuvre des Erasmus Francisci (1627-1694) und sein Einfluss auf die deutsche Literatur, in: Daphnis, 6, 1977, S. 359-364, hier S. 363; sowie: Ders.: Erasmus Francis-
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erst 2006 die Studie Ways of Knowing in Early Modern Germany54 vor, nachdem auch der Leipziger Erfolgsautor zuvor jahrzehntelang nahezu unbeachtet blieb. Scholz Williams’ Arbeit ist Teil des erst gegenwärtig wachsenden Forschungsinteresses für populäre Formen frühneuzeitlicher Wissensliteratur.55 Für Happel sieht die Literaturlage ähnlich dürftig aus; vor mittlerweile einhundert Jahren erschien mit Theo Schuwirths Studie Eberhard Werner Happel: ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts56 der noch immer maßgebliche biographische Beitrag.57 Ungeachtet ihres sentimentalen Tonfalls ist die durch die Verwendung etlicher Archivmaterialien gründlich gearbeitete Dissertation mit Blick auf Happels nur schwer zu erhellenden Lebenslauf weiterhin unentbehrlich – auch wenn zu dessen Hamburger Zeit, die in vorliegender Arbeit besonders interessiert, bis auf die 1679 dokumentierte Heirat mit einer Kaufmannstochter und das kurz darauf erworbene Bürgerrecht sonst nichts überliefert ist.
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ci, in: Philobiblon, 19, 1975, S. 272-303; die geringe Anzahl jüngerer Aufsätze: Ferraris, Francesca: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen des 17. Jahrhunderts: Erasmus Francisci (1627-1694) und Eberhard Werner Happel (1647-1690), in: Kohut, Karl (Hrsg.): Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett: Amerika im deutschen Humanismus und Barock, Frankfurt 1995, S. 91-107; Kramer, Roswitha: Die Neue Welt als Lustgarten: Amerika im Werk von Erasmus Francisci, in: Kohut (Hrsg.): Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett, S. 108-152; Dies.: Gespräch und Spiel im ,Lustgarten’: Literatur und Geselligkeit im Werk von Erasmus Francisci, in: Adam, Wolfgang (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, Wiesbaden 1997, S. 505-529. Scholz Williams, Gerhild: Ways of Knowing in Early Modern Germany: Johannes Praetorius as a Witness to his Time, Aldershot 2006. 2005 machte Hans-Jörg Uther erstmals in einer digitalen Edition dreißig Werke volkssprachlicher Polyhistoren des 16. und 17. Jahrhunderts zugänglich: Uther, Hans-Jörg: Merkwürdige Literatur (Berlin: directmedia 2005 (Digitale Bibliothek 111). Paul Michel (Zürich) plant derzeit ein größeres Projekt über die ‚Buntschriftstellerei’, Gerhild Scholz Williams (St. Louis) arbeitet an einer Monographie über die Geschichts- und Zeitungsromane von Happel. Schuwirth, Theo: Eberhard Werner Happel (1647-1690), ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts, Marburg 1908. Happel, geboren in Kirchhain (Hessen) als Sohn eines lutherischen Pfarrers, begann das Studium der Rechte, der Medizin und Mathematik zunächst an den Universitäten Marburg und Gießen (1663-1666). Nachdem sein Vater das Amt verloren hatte, musste Happel sein Studium aufgeben und durchstreifte unter anderem Sachsen und Mecklenburg. In den 1670er Jahren hielt er sich mit Hauslehrertätigkeiten in Hamburg und Schleswig über Wasser und studierte kurzzeitig an der Universität Kiel (1673), bis er sich gegen Ende des Jahrzehnts endgültig in Hamburg niederließ. Am 15.5.1690 starb Happel 43-jährig unter ungeklärten Umständen; siehe: Kühlmann, Wilhelm: Artikel Eberhard Werner Happel, in: Killy, Walther (Hrsg.): Literaturlexikon: Autoren und Werke deutscher Sprache, Band 4, Gütersloh / München 1989, S. 511-512; auch: Singer, Herbert: Artikel Eberhard Werner Happel, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7, Berlin 1996, S. 644-645.
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Generell lassen sich die spärlichen Happel-Studien auf zwei Ebenen bilanzieren: erstens auf der Ebene von Arbeiten germanistischer, teils volkskundlicher und kulturgeschichtlicher Provenienz; zweitens – mit Blick auf die Relationes im Besonderen – auf der Ebene der Presse- und Mediengeschichte (siehe unten). Für die erste Ebene ist zunächst folgender Befund auffällig: Seit Gerhard Locks nationalsozialistisch getränkter Studie über den Höfischgalanten Roman des 17. Jahrhunderts bei Eberhard Werner Happel58 von 1937 befassten und befassen sich die wenigen über Handbuchartikel hinausgehenden Beiträge zu Happels Werk vorrangig mit dessen Romanen.59 Das Interesse ist aktuell. Jüngst erschien die von Stefanie Stockhorst besorgte Neuedition vom Insulanischen Mandorell60 (1682, siehe Kapitel 2.4.); 2008 ist aus einer Tagung über die frühneuzeitliche Theatrum-Metapher zudem ein Aufsatz von Gerhild Scholz Williams hervorgegangen, der Happels Romane als mediale Mischformen zwischen Zeitungsnachrichten und narrativ-fiktionaler Rahmenhandlung charakterisiert,61 ein zweiter Aufsatz wurde unlängst veröffentlicht.62 Auf dieses für Happels Œuvre insgesamt charakteristische Gefüge von Fakt und Fiktion hat in den 1990er Jahren erstmals Lynne Tatlock in ihren Untersuchungen zum deutschen Roman der frühen Neuzeit63 hingewiesen. Daneben wurden bislang nur wenige Beiträge publiziert, die Happels Werke auch über die Romane hinaus in kurzen Aufrissen analysieren: Schon 1968 veröffentlichte Hans Wagener einen knappen Artikel über Vernunft und Aberglaube im Spätbarock,64 1975 folgte Volker Meid mit einen Beitrag über die 58 59
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Lock, Gerhard: Der höfisch-galante Roman des 17. Jahrhunderts bei Eberhard Werner Happel, Würzburg 1939. Kühlmann, Wilhelm: Happels „Academischer Roman“ und die Krise späthumanistischer Gelehrtenkultur, in: Schöne, Albrecht (Hrsg.): Stadt, Schule, Universität, Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, München 1976, S. 383-395. Stockhorst, Stefanie (Hrsg.): Eberhard Werner Happel: Der Insulanische Mandorell (1682) Im Anhang: Pierre-Daniel Huets Traitté de l’origine des romans (1670) (= Bibliothek seltener Texte, Band 12), Berlin 2007. Scholz Williams, Gerhild: Staging Novelties. The Theatre of Passions and Politics in Eberhard Happel’s ,Eduard’ (1690 / 91), in: Schock, Flemming / Koller, Ariane / Bauer, Oswald und metaphorik.de (Hrsg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen, Hannover 2008, S. 361-378. Dies.: A Novel Form of News: Facts and Fiction in Happel’s Geschicht-Romane (Der Teutsche Carl – Der Engelländische Eduard – Der Bäyerische Max [1690-1692]), in: Daphnis 37, 2-3, 2009, S. 523-547. Tatlock, Lynne (Hrsg.): Konstruktion. Untersuchungen zum Roman der Frühen Neuzeit, Amsterdam 1990; Dies.: Selling Turks: Eberhard Werner Happel’s Turcica (1683-1690), in: Colloquia Germanica, 28, 1995, N. 3/4, 307-335; ähnlich auch: Sagarra, Eda / Skrine, Peter: A Companion to German Literature, New York 1997, S. 39. Wagener, Hans: Eberhard Werner Happel – Vernunft und Aberglaube im Spätbarock, in: Hessische Blätter für Volkskunde, 59, 1968, 45-55.
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Amerikarezeption in den Werken Franciscis und Happels;65 auch hier werden die Relationes Curiosae nur kursorisch gestreift. Wiederum erst in den 1990er Jahren folgten ein Aufsatz von Francesca Ferraris66 sowie zwei substantielle Beiträge von Gerd Meyer, einer davon als Nachwort einer Neuausgabe von Happels Autobiographie, die dieser in kaum verschleierter Form dem Roman Der Teutsche Carl67 (1690) beigegeben hatte.68 Unter den explizit nicht-fiktionalen Texten Happels wurde die Kosmographie Mundus Mirabilis Tripartitus (Ulm 1687-1689, siehe Kapitel 2.4.) von Wolfgang Neuber in dessen Studie zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der frühen Neuzeit zumindest flüchtig erwähnt. In einer der seltenen Anerkennungen wertet Neuber Happel hier als den „[...] neben Francisci bedeutendsten curiösen Polyhistor im Gefolge von Harsdörffer [...]“.69 Seit 2006 liegt ein weiterer Aufsatz über die ,Wissensarchitektur’ und die Quellen des Mundus Mirabilis von Happel vor,70 summarisch abgehandelt wurde die Kosmographie mit weiteren Werken Happels und Franciscis zudem von Annette Katzer in ihrer 2008 erschienen Studie über das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert.71 Bezüglich der Relationes Curiosae kommt Jürgen Westphal und Uwe Hübner das Verdienst zu, durch einen behutsam modernisierten und treffend kommentierten Teil-Reprint des Werks72 aus dem Jahre 1990 die punktuelle Wahrnehmung in der Forschung erheblich befördert zu haben; diese Ausga65
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Meid, Volker: Francisci, Happel und Pocahontas. Amerikanisches in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Bauschinger, Sigrid (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur, Stuttgart 1975, S. 17-27. Ferraris: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen des 17. Jahrhunderts. Happel, Eberhard Werner: Der Teutsche Carl, Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman, Auf Das 1689. Jahr: Darinnen Die Merckwürdigsten Geschichten an Wundern / Krieg / EstatsSachen / Glück- und Unglücks-Fällen / hohen Veränderungen [...], Ulm 1690. Könnecke, Gustav: Lebensbeschreibung des E.W. Happel, mit einem Nachwort von Gerd Meyer, Marburg 1990; Meyer, Gerd: Vom „Lehr-reichen Marburgischen Parnasso“ in die „Welt-bekandte Stadt Hamburg“: Die Studien- und Wanderjahre des Polygraphen Eberhard Werner Happel (16471690), in: Berns, Jörg Jochen (Hrsg.): Marburg-Bilder: Eine Ansichtssache; Zeugnisse aus fünf Jahrhunderten, Marburg 1995, S. 265-292. Neuber, Wolfgang: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen AmerikaReiseberichte in der Frühen Neuzeit, Berlin 1991, hier S. 233. Schock, Flemming: Von Kirchhain in die Welt. Aspekte der barocken Kosmographie am Beispiel Eberhard Werner Happels (1647-1690), in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Band 56, 2006, S. 49-72. Katzer, Annette: Araber in deutschen Augen. Das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Paderborn 2008; hier besonders das Kapitel „Araber in der unterhaltsam belehrenden Literatur Franciscis und Happels“, S. 303-315. Hübner, Uwe / Westphal, Jürgen (Hrsg.): Eberhard Werner Happel: Grösste Denkwürdigkeiten der Welt oder Sogenannte Relationes Curiosae, Berlin 1990.
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be wurde und wird über die Literaturwissenschaft hinaus weit häufiger zitiert als die Originalbände.73 Den bis dato einzigen Versuch einer Typologie der populären Publizistik des Barock jenseits von Flugblatt und Flugschrift hat Markus Fauser in seinem Aufsatz über die Klatschrelationen74 1996 / 1997 geliefert. Auf Fausers Erwähnung der Relationes stützt sich Dirk Niefanger in seiner Einführung in die Literatur des Barock.75 Bezeichnenderweise erst auf der vorletzten Seite – und damit an der Peripherie des Diskurses – tauchen die Relationes unter der summarisch-vagen Kategorie der Konversationsliteratur auf. Jedenfalls benennt Niefanger unter dem letzten Punkt „Forschungsgebiete, Tendenzen und Aufgaben“76 klar die Versäumnisse einer wesentlich kanonorientierten Forschung: „Die nicht-fiktionale Prosa [...]“ – unter die auch die Relationes gezählt werden – „[...] ist bis heute eher ein Stiefkind der literaturwissenschaftlichen Barockforschung geblieben“.77 Niefanger zufolge lasse erst eine Neupositionierung der Germanistik in die Nähe anderer Disziplinen eine Ausweitung des Forschungsgegenstandes erhoffen: „Die Öffnung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft bringt es mit sich, dass in neuerer Zeit auch die wissenschaftliche und gelehrte Prosa immer mehr Beachtung gewinnt“.78 Dass dieser Öffnungsprozess aktuell auch umgesetzt wird, hat Volker Meid 2009 mit seinem Überblick über Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock gezeigt – das enzyklopädische Panorama liefert mit eigenen Kapiteln zu nicht-fiktionaler Prosa und Dialogliteratur die überfällige Erweiterung des ‚kanonfähigen’ Gattungsspektrums;79 insofern ist es 73
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Einige Beispiele in chronologischer Folge: Gormans, Andreas: Ein eurozentrischer Blick auf die Welt, die Lust an der Malerei und die Macht der Erinnerung. Die Erdteilbilder Jan van Kessels in der Alten Pinakothek, München, in: Büttner, Frank / Wimböck, Gabriele (Hrsg.): Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes (= Pluralität und Autorität, Band 1), Münster 2003, S. 363-401, hier S. 363; Roper, Lyndal: Witch Craze. Terror and Fantasy in Baroque Germany, Yale 2004, S. 288; Wimböck, Gabriele / Leonhard, Karin / Friedrich, Markus (Hrsg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (= Pluralisierung & Autorität, Band 9), Münster 2007, S. 38. Fauser, Markus: Klatschrelationen im 17. Jahrhundert, in: Schmidt-Glintzer, Helwig (Hrsg.): Fördern und Bewahren. Studien zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (= Wolfenbütteler Forschungen, Band 70), Wiesbaden 1996, S. 255-263; geringfügig überarbeitet in: Adam (Hrsg.): Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, S. 391-399. Niefanger, Dirk: Barock. Lehrbuch Germanistik, 2. Auflage, Stuttgart 2006. Ebd., S. 247. Ebd. Ebd. Meid, Volker: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Band 5), München 2009, S. 717-877. Nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Meierhofer, Christian: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht (= Epistemata Literaturwissenschaft, Band 702), Würzburg 2010.
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nur konsequent, dass Meid auch Happel in einer knappen Verortung zwischen Roman und Journalismus berücksichtigt.80 Dieses Umdenken hin zur Beachtung vormals peripherer Textformen und Gattungen lässt sich in der Presse- und Mediengeschichte ebenfalls nur allmählich beobachten. Da die Relationes periodisch und als Beilage zum Relations-Courier, einer erfolgreichen Hamburger Zeitung, veröffentlicht wurden,81 gehören sie ebenso in den Bereich der historischen Presseforschung und nicht zuletzt zur Frühgeschichte des Journalismus, hier allgemein verstanden „[...] in der Ausrichtung auf die Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Kommunikation“.82 Tatsächlich tauchen die Relationes in einer der ältesten Geschichten des Journalismus auf, bevor sie im 20. Jahrhundert wieder größtenteils vergessen wurden: Robert Eduard Prutz’ materialreiche Geschichte des deutschen Journalismus83 von 1845 war der erste Versuch, ein systematisches und diachrones Bild von Funktionen, Aufgaben und Medien des Journalismus zu entwerfen. Dass es auch für lange Zeit der einzige Versuch blieb, die historische Differenzierung periodischer Publikationsformen vollständig zu erfassen und zu beschreiben, dürfte zum Teil schon daran gelegen haben, dass das gigantische Projekt wegen der von Prutz beklagten Materialfülle unvollendet blieb und nicht über den ersten Band hinauskam.84 Hier werden die Relationes sogar an „[a]n die Spitze [...]“85 der Gattung „historische Journalistik“86 gestellt, allerdings ohne nähere Erläuterung.87 In der Geschichte des deutschen Journalismus deuten zwei Momente schon die Schwerpunkte (und Probleme) der späteren Mediengeschichtsschreibung: 1. Wäh80 81 82 83 84
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Meid: Barock, S. 568-571. Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 83. So die Definition von Rühl, Manfred: Journalismus und Gesellschaft – Bestandsaufnahme und Theorieentwurf, Mainz 1980, S. 322f. Prutz, Robert Eduard: Geschichte des deutschen Journalismus. Zum ersten Male vollständig aus den Quellen gearbeitet, Hannover 1845. Hierzu: Conter, Claude D.: Kommunikationsgeschichte als Literaturgeschichte. Robert Eduard Prutz’ Geschichte des deutschen Journalismus (1845) als Vorläufer einer historischen Kommunikationswissenschaft, in: Blöbaum, Bernd / Neuhaus, Stefan (Hrsg.): Literatur und Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien, Wiesbaden 2003, S. 139-157. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus, S. 383. Ebd. Eingangs unterlässt Prutz dennoch nicht den obligatorischen Seitenhieb gegen das veraltete Wissensideal des Polyhistorismus als Grundlage dieser Form des Journalismus: „Die Gelehrsamkeit und das gelehrte Interesse [...] war dazumal ein allgemeines Eigenthum der Zeit; man excerpirte, katalogisierte, registrirte damals, wie man späterhin schematisierte, kritisirte, philosophirte; die Vielwisserei war in der Mode, wie es später die Ästhetik, hundert Jahre die Philosophie war. Je mechanischer diese Gelehrsamkeit war und je weniger Herz und Geist von ihr ergriffen wurden, je größer war die Anzahl derjenigen, die von ihr ein äußerliches Handwerk machten [...]“. Ebd., S. 374.
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rend Prutz den Medientypus ,Zeitung’ über das Prinzip der Periodizität gegenüber früheren nicht-periodischen Gattungen eindeutig abgrenzt, trifft er keine theoretisch-definitorische Unterscheidung von ,Zeitung’ und ,Journal’ – also all dem, was bereits im späten 17. Jahrhundert periodisch erschien, sich aber nicht als ,Zeitung’ klassifizieren lässt. Obwohl der heutige Gattungsbegriff ,Zeitschrift’ zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits geläufig war, findet er sich bei Prutz nur selten; zudem bezeichnet er ,Journale’ verschiedentlich auch als „Zeitung“.88 Gegenüber dieser schwammigen Differenzierung tendiert die heutige historische Presseforschung dazu, die vielen Periodika des 17. Jahrhunderts unter der anachronistischen Sammelbezeichnung ,Zeitschrift’ zu subsumieren (siehe unten). 2. Prutz benennt Initialmomente in der Entstehung der ,Zeitschriften’, die die Narrative der Presseforschung bis heute dominieren: Das ist zum einen die Betonung des Gattungsursprungs in der französischen Gelehrtenrepublik mit dem 1665 erstmals erschienenen Journal des Scavans89 und zum anderen die überragende Rolle von Christian Thomasius (1655-1728) für die Genese der deutschsprachigen ,Zeitschriften’ durch die Herausgabe seines Rezensionsblattes Monatsgespräche90 im Jahre 1688. Gerade die Wahrnehmung von Thomasius wirkt weiterhin einseitig normierend: So beginnt noch eine jüngere Bibliographie über Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik91 mit dem symbolischen ,Gründungsjahr’ 1688. Auch zeigt sich in der stereotypen Koppelung des Mediums mit seiner epochalen Qualität (Aufklärung) ein weiter bestehendes Defizit der Forschung. Ein Gemeinplatz ist etwa seit langem, dass die Zeitschrift – im 18. Jahrhundert erstmals auch als solche 88 89
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Etwa: Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus, S. 299. In klassischer Perspektive etwa: Dann, Otto: Vom Journal des Savants zur wissenschaftlichen Zeitschrift, in: Fabian, Bernd / Raabe, Paul (Hrsg.): Gelehrte Bücher vom Humanismus bis zur Gegenwart (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Band 9), Wiesbaden 1983, S. 63-81, hier S. 66. Die Monatsgespräche markieren demnach einer der wenigen ,Zeitschriften’ des 17. Jahrhunderts, mit der sich die Forschung im Kontext der Wirkungsgeschichte von Thomasius überhaupt näher befasst hat; aus der Literatur siehe etwa: Beetz, Manfred: Konversationskultur und Gesprächsregie in den „Monatsgesprächen“, in: Ders. (Hrsg.): Thomasius im literarischen Feld: Neue Beiträge zur Erforschung seines Werks im historischen Kontext, Tübingen 2003, S. 3560; Jaumann, Herbert: Bücher und Fragen. Zur Genrespezifik der „Monatsgespräche“, in: Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Christian Thomasius (1655-1728): Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997, S. 395-404; Kirchner, Joachim: Deutschlands erste LiteraturZeitschrift: die Monatsgespräche des Christian Thomasius, in: Welt und Wort, 15, 1960, S. 37ff. Kuhles, Doris: Deutsche literarische Zeitschriften von der Aufklärung bis zur Romantik: Bibliographie der kritischen Literatur von den Anfängen bis 1990 (Stiftung Weimarer Klassik, HerzoginAnna-Amalia-Bibliothek), 2 Teile, München 1994, hier Teil 1: „Für die untere Grenze der Berichtszeit ist die Praxis von Jürgen Wilke beispielgebend, der [...] die Monatsgespräche [...] als erste literarisch-kritische Zeitschrift in deutscher Sprache wertete“. Ebd., S. VII.
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betitelt – als Schlüsselmedium aufgeklärter Kommunikation in der bürgerlichen Mediengesellschaft92 gar nicht überschätzt werden könne;93 ihr mediales ,Vorleben’ dagegen wurde und wird weitgehend marginalisiert. Etwa einhundert Jahre nach Prutz wurden die Relationes Curiosae in einer weiteren Bibliographie von Joachim Kirchner erwähnt, die sich als erste ausschließlich den ,Zeitschriften’ widmet: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme (ab 1942).94 Wie Prutz beklagt Kirchner „[...] die fast verwirrende Fülle [...]“95 periodischer Druckwerke seit dem 17. Jahrhundert – allein für den Zeitraum zwischen 1680 und 1720 katalogisiert er 58 Titel.96 Obwohl sich Kirchner an späterer Stelle theoretisch über den Begriff der ,Zeitschriften’97 verbreitete, bricht auch bei ihm die typologische Abgrenzung zur Zeitung ein. In der Einleitung zum Zeitschriftenwesen spricht er irritierend vom „[...] Anfang des deutschen Zeitungswesens [...]“,98 meint damit aber das seit 1670 monatlich auf Latein erscheinende Schweinfurter Gelehrtenjournal Miscellanea Curiosa.99 Bezüglich der Relationes ist Folgendes bemerkenswert: Während sie Prutz noch als Ausdruck eines sich ausdifferenzierenden periodischen Mediensystems den ,historischen Journalen’ zuordnete, lässt sich Kirchner auf eine Genrebestimmung gar nicht mehr ein. Unter dem Kapitel „Die Frühzeit des Zeitschriftenwesens (1670-1720)“100 fragt er in einem Unterpunkt nach den Periodika in führenden Presse- und Verlagsstandorten wie Hamburg, geht in der Zuordnung also von geographisch92 93 94
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Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830) (= Geschichte der Medien, Band 4), Göttingen 2002. Exemplarisch: Raabe, Paul: Die Zeitschrift als Medium der Aufklärung, in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Band 1, 1974, S. 99-136. Kirchner, Joachim: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme, Teil 1: Von den Anfängen des Zeitschriftenwesens bis zum Aufbruch der Französischen Revolution, Leipzig 1942, 2. erw. Aufl. 1958; Teil 2: Vom Wiener Kongress bis zum Ausgange des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1962; auch: Ders.: Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900, 4 Bände, Stuttgart 1969f. Ders.: Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil 1, Vorwort. Ebd., S. 37. Kirchner, Joachim: Einige Gedanken zur Definition der Zeitschrift, in: Publizistik, 5, 1969, S. 14-20. Ders.: Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil 1, S. 18. Miscellanea Curiosa Sive Ephemeridum Medico-Physicarum Germanicarum Academiae CaesareoLeopoldinae Naturae Curiosorum, Schweinfurt 1670ff. Sie erscheint bis heute; dazu jüngst umfassend: Mücke, Marion / Schnalke, Thomas: Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz der deutschen Akademie der Naturforscher um 1750, Berlin 2009, hier S. 9-39; Toellner, Richard / Müller, Uwe / Parthier, Benno / Berg, Wieland (Hrsg.): Die Gründung der Leopoldina – Academia Naturae Curiosorum – im historischen Kontext. Johann Laurentius Bausch zum 400. Geburtstag (= Acta Historica Leopoldina, Nummer 49), Stuttgart 2008. Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil 1, S. 16-54.
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institutionellen und nicht von strukturellen Aspekten aus. Der Abschnitt über die Relationes zeigt sich zudem – bei der Masse des von ihm bearbeiteten Materials verständlich – als eine flüchtige Kopie aus der Allgemeinen Deutschen Biographie und der Bibliographie von Prutz (beide bleiben gleichwohl ungenannt). Über diesen Rezeptionsweg fand das Verdikt über Happels Romane (siehe Kapitel 8.3.) auch Eingang in die Pressegeschichte. So spielt auch Kirchner in fast wörtlicher Zitation aus der ADB die Relationes gegen den Romancier Happel aus: „Länger als seine abenteuerlich-phantastischen Romane hat sich in der Achtung der Nachwelt ein wöchentlich erscheinendes Periodikum erhalten, das den Titel führte: Größte Denkwürdigkeiten der Welt [...]“.101 Weitere Erwähnung finden die Relationes bei Kirchner nicht. Für die folgenden Jahrzehnte gilt, dass nicht nur Happels Wochenblatt aus der Presse- und Mediengeschichte weitgehend verschwand, sondern ein Stück weit auch die ,Zeitschrift’ insgesamt: Wegen der stets akzentuierten, überragenden Bedeutung der älteren Zeitungsperiodika blieb, so lässt sich zugespitzt bilanzieren, die ,Zeitschrift’ trotz ihres Status als zweite „Urform“102 moderner Massenmedien ein Stiefkind der Forschung103 – blendet man ihre erwähnte Rolle für die intensiv betriebene Aufklärungsforschung einmal aus.104 Auch ein jüngst erschienener Tagungsband über Das MedienSystem im Alten Reich berücksichtigt lediglich den Typus der historischpolitischen ,Zeitschrift’105 an der Wende zum 18. Jahrhundert. Für die Früh101 102
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Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil 1, S. 47. Gebhardt, Hartwig: Mediengeschichte als Kulturgeschichte, in: Böning, Holger / Gebhardt, Hartwig / Nagel, Michael / Weber, Johannes (Hrsg.): Deutsche Presseforschung. Geschichte, Projekte und Perspektiven eines Forschungsinstituts der Universität Bremen (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 13), Bremen 2004, S. 17-29, hier S. 17. Mit einer ähnlichen Blianz jüngst: Habel, Thomas: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 17), Bremen 2007, S. 79. Zum Teil hat sich die niederländische Forschung der hiesigen Desiderate angenommen. Eine Studie liegt etwa zu den Acta Eruditorum vor: Laeven, Augustinus Hubertus: De „Acta Eruditorum“ onder redactie van Otto Mencke: de geschiedenis van een internationaal geleerdenperiodiek tussen 1682 en 1707, Nijmegen 1986; für die französischen Anfänge vergleiche etwa: Mattauch, Hans: Die französischen Zeitschriften des 17. und 18. Jahrhunderts als Medium der literarischen Kritik und ihre Spiegelung der Literatur dieser Epoche, Göttingen 1986. Schon 1973 gab Heinz-Dietrich Fischer in seinem Sammelband – in dem die Relationes nicht mehr erwähnt werden – zu bedenken: „Gemessen an den zahlreichen Untersuchungen über Zeitungen, stellt der Gesamtkomplex ein nach wie vor wenig bearbeitetes Terrain dar“. Fischer, Heinz-Dietrich (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts, München 1973, Vorwort, S. 7. Arndt, Johannes: Die historisch-politischen Zeitschriften innerhalb der zirkulären Struktur des Mediensystems der politischen Publizistik, in: Ders. / Körber, Esther-Beate (Hrsg.): Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600-1750) (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 75), Göttingen 2010, S. 139-173.
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geschichte der Zeitung werden indessen immer wieder aktualisierte Gesamtüberblicke veröffentlicht.106 Mit dieser Schieflage der Forschung verbindet sich ein schematisches und simplifizierendes Bild der Gattungsgenealogie der ,Zeitschrift’, das bis heute nicht vollständig ausgeräumt ist. In einer älteren extremen Position drückt sich das wie folgt aus: Der in den Bibliographien von Prutz und Kirchner noch betonte Varianten- und Provenienzreichtum der Frühformen periodischer Druckmedien im 17. Jahrhundert weicht beim Pressehistoriker Wilmont Haacke einer monolithischen Stellung der ‚ersten Zeitschrift’ überhaupt, dem erwähnten Journal des Scavans. Dieses sei, so Haacke, „[...] die Wurzel der gesamten wissenschaftlichen, beruflichen, fachlichen und ernsthaften kulturellen Zeitschriften [...]“.107 In direkter Herleitung führt der normierende Blick auch heute noch zum bedeutendsten deutschen Gelehrtenjournal Acta Eruditorum,108 das ab 1682 in Leipzig veröffentlicht wurde. Die Annahme, dass verschiedene Typen periodischer Schriften über verschiedene medienhistorische Wurzeln verfügen können, war daher lange Zeit ebenso wenig selbstverständlich wie eine Beschäftigung mit ,Zeitschriften’ jenseits ihre gelehrten Varianten und den Monatsgesprächen von Thomasius. Und seit Haackes monokausalem Urteil haben sich die Schwerpunkte der Wahrnehmung nicht wesentlich verschoben. Zwar können knappe Handbuch- und Überblicksdarstellungen zwangsläufig nur bedingt nuancieren. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass das für das späte 17. Jahrhundert vermittelte Bild über die Genese des Medientypus ,Zeitschrift’ erstens diffus bis widersprüchlich ist und dass zweitens etablierte Narrative lediglich einzelne Typen hervorheben, wohingegen andere – wie die Relationes – notorisch übersehen werden. Als erste, weil differenzierende Ausnahme ist die schon ältere Deutsche Presse109 (1969) von Margot Lindemann zu nennen. Lindemann sensibilisiert zunächst mit Kirchner für die 106
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So etwa der Band zu einer 2005 in Mainz anlässlich des 400-jährigen ,Geburtstages’ der Zeitung abgehaltenen Tagung: Welke, Martin / Wilke, Jürgen (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung: Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 22), Bremen 2008; zuvor auch: Kutsch, Arnolf / Weber, Johannes: 350 Jahre Tageszeitung, Forschungen und Dokumente (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 2) Bremen 2002. Knapp erwähnt werden die Relationes Curiosae im Rahmen eines Ausstellungskatalogs: Blome, Astrid / Böning, Holger: Täglich neu. 400 Jahre Zeitungen in Bremen und Nordwestdeutschland, Bremen 2005, S. 151-153. Haacke, Wilmont: Die politische Zeitschrift 1665-1965, 2 Bände, Stuttgart 1968 / 1982, Band 2, S. 15f. Es ist bemerkenswert, dass auch die Enzyklopädie der Neuzeit längst überholte Einsichten aktualisiert, wenn Andreas Gestrich die Acta weiterhin als „[...] die erste dt. Gelehrtenzeitschrift“ einstuft. Gestrich, Andreas: Artikel Acta Eruditorum, in: Jäger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 1, Stuttgart 2005, Sp. 37-38, hier Sp. 37. Lindemann, Margot: Deutsche Presse bis 1815 (= Geschichte der deutschen Presse, Teil 1), Berlin 1969.
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„verwirrende Fülle“110 der Periodika am Ende des 17. Jahrhunderts. Mit ihrem Hinweis auf die ab 1676 in Hamburg publizierten Erbaulichen RuhStunden111 (siehe Kapitel 2.5.) vermag sie zweierlei zu zeigen: erstens, dass die erst zwölf Jahre später erscheinenden Monatsgespräche mitnichten als die erste deutschsprachige ,Zeitschrift’ gelten dürfen. Gleichwohl wurde auch diese Einschätzung 1994 noch einmal von Johannes Weber revidiert, der in dem seit 1674 publizierten Verkleideten Götter-Both / Mercurius112 nicht nur die Urgeschichte der politischen Zeitschrift,113 sondern auch die erste deutschsprachige ,Zeitschrift’ überhaupt identifizierte. Zweitens ist wichtig, dass Lindemann die Ruh-Stunden als „Unterhaltungsjournal“ klassifiziert und damit den Blick frei gibt auf die Entstehung eines von ausländischen Vorbildern autonomen Typus: „Dieses Blatt ist [...] ein Unterhaltungsjournal. Diese Tatsache wirft nun die Frage auf, ob neben der einen bekannten Wurzel des Zeitschriftenwesens, den gelehrten Zeitschriften der Wissenschaftler (die erst nach den Ruh-Stunden in Deutschland erschienen114), noch eine andere, bisher weniger beachtete Wurzel vorhanden ist, die in den Bedürfnissen einer ganz anderen Lesergruppe (der Durchschnittsleser von Wochen- bzw. Tageszeitungen) ihren Ursprung hat. Diese Lesergruppe verlange vermutlich neben der Unterrichtung über Vorgänge und Tatsachen auch nach Unterhaltung und Belehrung“.115
Lindemanns Postulat, in dieser doppelten Wurzel der ,Zeitschrift’ die „Unterhaltungsjournale“ als autonome Entwicklungslinie wahrzunehmen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Während die Gelehrtenjournale in etablierten Darstellungen ihren Platz behaupten, wird das zweite Element (Unterhaltung und Belehrung) je nach terminologischer Vorliebe und Perspektive alterniert, wobei vor allem die Monatsgespräche weiter als die erste „literarisch-
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Lindemann: Deutsche Presse, S. 180. Frisch, Johann: Erbauliche Ruh-stunden / Das ist: Merckwürdige und nachdenkliche Unterredungen / darin allerhand nützliche und erbauliche Materien abgehandelt / zugleich auch jedes mal die vornehmste Begebenheiten gegenwertiger Zeiten kurtzlich eingeführet werden, Hamburg 1676ff. Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius: Welcher durch Europa wandernd / einige wichtige Discoursen / Muthmassungen und Meynungen / so bey denen Teutschen / als Benachbarten dieses Welt-Theils begriffenen / und in jetzigem Krieg mit interessirenden Höffen und Ständen [...] warhafftig der Welt zum Nachricht entdecket / und verlässet, Nürnberg 1674. Weber, Johannes: Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland, Bremen 1994. Einmal mehr zeigen sich die Unstimmigkeiten in den Hierarchisierungen und genealogischen Abläufen: Lindemann nimmt keine Notiz von den Miscellanea Curiosa, die, wenngleich auf Latein publiziert, die älteste deutsche ,Zeitschrift’ sind. Lindemann: Deutsche Presse, S. 187.
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kritische Zeitschrift“116 und auch als die erste deutsche ,Zeitschrift’ überhaupt geführt werden.117 Einige weitere Beispiele illustrieren das verworrene Bild: Heinz-Dietrich Fischer erkennt in der Zeit von 1680 bis 1700 lediglich „historisch-politische“ und „wissenschaftliche Universalzeitschriften“,118 aus denen sich sämtliche weitere Varianten entwickelt hätten; dem folgt auch Carsten Winter, der in der Entwicklung universaler Periodika wiederum eine Zäsur durch Thomasius sieht.119 Rudolf Stöber behilft sich in einer Einführung zur Mediengeschichte noch jüngst mit der Ergänzung um einen dritten ,Urtypus’, der auf Lindemanns Ergebnisse reagiert: „Zunächst existierten nur politische Zeitschriften, Moralische Wochenschriften und Gelehrtenzeitschriften. Seit dem 18. Jahrhundert differenzierten sich die Zeitschriften jedoch aus“.120 Lindemann hatte die Ruh-Stunden in ihrer belehrendunterhaltenden Funktion auch als Vorläufer der späteren Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts eingestuft.121 Dass Stöber sich jedoch nicht auf ihren Gattungsvorschlag des „Unterhaltungsjournals“ einlässt,122 zeigt einmal mehr die Beliebigkeit und Instabilität der Klassifikationsschemata. Der einzig neuere Überblick zur allgemeinen Pressegeschichte, der auf Grundlage der Bibliographie Holger Bönings (siehe unten) die Relationes Curiosae zumindest streift, ist Jürgen Wilkes Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte.123 Auf knappem Raum konstatiert auch Wilke den Varian116
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Etwa: Vollmer, Annett: Der Dialogcharakter der Presse. Zum Einbezug des Lesers in den öffentlichen Raum, in: Vickermann-Ribémont, Gabriele / Rieger, Dietmar (Hrsg.): Dialog und Dialogizität im Zeichen der Aufklärung, Tübingen 2003, S. 201-217, hier S. 201. Püschel, Ulrich: Präsentationsformen, Texttypen und kommunikative Leistungen der Sprache in Zeitungen und Zeitschriften, in: Leonhard, Joachim-Felix / Ludwig, Hans Werner / Schwarze, Dietrich (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin 1999, S. 864-881, hier S. 874. Fischer, Heinz-Dietrich: Die Zeitschrift im Kommunikationssystem, in: Ders. (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften, S. 11-29, hier S. 18. Winter, Carsten: Zeitschrift, in: Faulstich, Werner (Hrsg.): Grundwissen Medien, 3. erw. Aufl., München 1998, S. 413-432, hier S. 419. Stöber, Rudolf: Mediengeschichte. Die Evolution „neuer“ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine Einführung, Band 1: Presse – Telekommunikation, Wiesbaden 2003, S. 66. Lindemann: Deutsche Presse, S. 187 und S. 236. Gleichwohl nimmt Stöber später auf die unterhaltenden Elemente der Ruh-Stunden Bezug und macht seine wenig befriedigende Gattungstypologie damit angreifbar: „Ähnlich konnte es sich mit der Unterhaltungspresse verhalten: [...]. Eine der ältesten deutschsprachigen Zeitschrift, die in Hamburg herausgegebenen ,Erbaulichen Ruh-Stunden’ von 1676, kann als Vorläufer sowohl ausländischer als auch deutscher Moralischen Wochenschriften angesehen werden“. Stöber: Mediengeschichte, Band 1, S. 67f. Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln 2000.
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tenreichtum124 der ,Zeitschriften’ und gibt zu bedenken, dass sich dieser keinesfalls nur aus den Gelehrtenjournalen entwickelt habe.125 Die historische Situation würde sich zudem, wie er als einer unter wenigen bemerkt, einer „[...] normativen Begriffsdefinition nicht fügen [...]“.126 Beachtlich ist, dass Wilke das von Lindemann vorgeschlagene Gattungsspektrum leicht umakzentuiert – so seien die Ruh-Stunden in gleicher Weise eine „[...] belehrendmoralische und belehrend-unterhaltende Zeitschrift [...]“127 – und hier auch die Relationes erwähnt, wenn auch erst supplementartig am Ende des Kapitels. So heißt es in nur loser Zuordnung zum Typus der „belehrendunterhaltenden“ Periodika: „Als eine weitere Variante der sich differenzierenden Zeitschrift sind schließlich noch die ,Relationes Curiosae’ erwähnenswert. Der Herausgeber befasste sich darin überwiegend mit natur- und völkerkundlichen Besonderheiten und Beobachtungen, lieferte Städte- und Reisebeschreibungen, ja befriedigte vor allem das Bedürfnis der Leser nach dem Außerordentlichen und Abnormen. Die Mischung großenteils staunenswerter, ja sensationeller Inhalte und ihre leicht fassliche, optisch attraktive Darbietung machten die ,Relationes Curiosae’ zu einem der populärsten und erfolgreichsten Periodika am Ende des 17. Jahrhundert“.128
Wilke stützt sich in seiner Charakterisierung auf das von Holger Böning und Emmy Moepps erarbeitete bio-bibliographische Handbuch zur periodischen Presse in Hamburg129 von 1996, das mit Blick auf die Hansestadt weit über die von Kirchner erschlossene Titelzahl hinausgeht;130 insofern werden die Relationes auf der Ebene lokaler Pressegeschichte eher wahrgenommen als in Aufrissdarstellungen, die auf regionale Binnendifferenzierungen und Son124 125
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Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 76ff. „Die funktionale Erweiterung der Massenkommunikation durch die Zeitschrift hat man in Deutschland [...] in der Regel auf die Anregung des in Frankreich vorgebildeten ,Journal des Scavans’ zurückgeführt. Mittlerweile ist aus der pressehistorischen Forschung jedoch deutlich geworden, dass dies nur für einen Typ, nämlich den des Gelehrtenjournals, gilt, dass andere Zeitschriftentypen aber aus anderen Wurzeln erwachsen sind“. Ebd., S. 74. Wenig hilfreich schlägt Wilke als weitere Ursprungsgattung der ,Zeitschrift’ noch das „Salonblatt“ vor, dessen erster Vertreter ab 1672 mit dem Mercure Galant in Paris erschien: Ist es jedoch bereits problematisch genug, allein für den deutschsprachigen Raum eine konzise und widerspruchsfreie Typologie der ersten ,Zeitschriften’ zu entwerfen, so wirkt eine international gültige Gattungstypologie noch konstruierter. Ebd., S. 72. Ebd., S. 76. Ebd. Böning / Moepps: Deutsche Presse. Auch die vorliegende Arbeit stützt sich auf die Vorstudien von Holger Böning. „Von den rund 1000 Titeln, die für Hamburg nachgewiesen werden konnten, finden sich gut 600 nicht in Joachim Kirchners Zeitschriftenbibliographie“. Ebd. „Hinweise für den Benutzer der bibliographischen Handbücher“, S. IX.
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derentwicklungen kaum rekurrieren.131 Zu den detaillierten und aufschlussreichen Pressegeschichten einzelner Städte gehört auch Carsten Pranges ältere Dissertation über Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona.132 Der von Wilke zitierte Passus über die Relationes findet sich schon in der Einleitung133 zu Bönings Bibliographie, die Hamburgs Stellung als herausragender Pressestandort der Frühen Neuzeit eindrucksvoll dokumentiert. Zudem formulierte Böning hier das Desiderat pressehistorischer Gesamtdarstellungen einzelner deutscher Städte, das er 2002 mit seiner Pionierstudie Welteroberung durch ein neues Publikum134 am Hamburger Beispiel einlöste. Den Relationes Curiosae als Modell der ersten „populärwissenschaftlichen Zeitschrift“135 widmet Böning hier einen kurzen Abschnitt, den er jüngst noch einmal akzentuierte.136 Damit sind zentrale Vorarbeiten zu einer Fallstudie über Happels Periodikum am Bremer Institut für Deutsche Presseforschung137 geleistet worden. Ein vom Institut 2004 herausgegebener Band über die Perspektiven der historischen Presseforschung mahnte noch einmal an, dass es „[...] insgesamt noch vielfach an sichtbaren Ergebnissen einer Grundlagenforschung“138 mangele. Einer der jüngsten Beiträge des Bremer Instituts reagiert auf diesen Befund mit der ersten Monographie zu den Relationes Curiosae: Uta Egenhoffs Studie Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit.139 Die vorliegende Arbeit verfolgt eine komplementäre Per131
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In dem von Wilke verfassten Abschnitt „Pressegeschichte“ im Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation werden die Relationes wiederum nicht erwähnt. Wilke, Jürgen: Pressgeschichte, in: Noelle-Neumann, Elisabeth / Schulz, Winfried / Wilke, Jürgen (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, 2. Aufl., Frankfurt 2004, S. 460-492, hier S. 469. Prange, Carsten: Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona: Ein Beitrag zur Publizistik der Frühaufklärung, Hamburg 1978. Siehe zudem die Erwähnung der Relationes in Kopitzsch, Franklin: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona (= Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Band 21), Hamburg 1990, S. 252. Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, S. XXII. Ders.: Welteroberung durch ein neues Publikum: Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung; Hamburg und Altona als Beispiel (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 5), Bremen 2002. Ebd., S. 199-209. Böning, Holger: Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientype der Moderne, in: Burkhardt, Johannes / Werkstetter, Christine (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (= Historische Zeitschrift, Band 41), München 2005, S. 105137; Ders.: Hamburg als Vorreiter in der deutschen Pressegeschichte: Erste populärwissenschaftliche Zeitschriften im 17. Jahrhundert und die Anfänge des deutschen Zeitschriftenwesens, in: Brietzke, Dirk (Hrsg.): Hamburg und sein norddeutsches Umland: Aspekte des Wandels seit der Frühen Neuzeit; Festschrift für Franklin Kopitzsch, Hamburg 2007, S. 123-136. http://www.presseforschung.uni-bremen.de. Böning (Hrsg.): Deutsche Presseforschung, S. 7. „Mit der Untersuchung Happels als Zeitschriftenherausgeber und der Beschreibung seiner Relationes Curiosae soll somit in der Nachfolge von Holger Böning die Lücke in der
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spektive zu Egenhoffs Beitrag, indem sie andere inhaltliche Akzente setzt und vor allem im methodischen Zugriff abweicht: Egenhoff entwickelt ihre Studie primär von den Quellen der ,Zeitschrift’ her und verfolgt dabei in erster Linie rein literatur- und pressegeschichtliche Fragestellungen. Das Interesse der vorliegenden Arbeit weicht davon erheblich ab.
1.3. Erkenntnisinteresse, methodische Perspektiven und Aufbau der Arbeit Die Konzeption dieser Studie bewegt sich auf experimentellem Terrain. So fehlen nicht nur wesentliche Vorarbeiten zu den Relationes und vergleichbaren Wissensformen, die eine Eingliederung in eine bestehende Forschungsdebatte erleichtert hätten; vielmehr liegt auch das Erkenntnisinteresse zu Teilen jenseits des Mainstreams einer Presse- und Mediengeschichte, die sich einseitig auf die (diachron erzählte) Abfolge einzelner Epochen konzentriert statt nach ihren Kontexten, Wechselwirkungen und Verknüpfungen zu fragen. Das heißt zunächst: Auf einer Makroebene geht es vorliegender Arbeit einerseits darum, Entstehung und Funktionalität der Relationes Curiosae aus einem Komplex kultureller und wissensbezogener Prozesse heraus zu entwickeln, also seine historischen Bedingtheiten und Entstehungszusammenhänge zu klären. Diese sind, wie zu zeigen ist, andererseits in enger Verbindung mit den ,Gattungsumwelten’ des Periodikums zu sehen, jenem Ensemble an textuellen Formen und Traditionen, die eine Gattungsbestimmung erst ermöglichen und die Relationes maßgeblich ,konfigurierten’. Grundlegend ist die zunächst banal erscheinende Annahme, dass die ersten Formen periodischer Medien jenseits der Zeitung im späten 17. Jahrhundert nicht „[...] aus dem Nichts [...]“140 auftauchen. Dieses Defizit schreibt Rudolf Stöber der älteren Pressegeschichte von Haacke und Kirchner zu. Allerdings ist ebenso zu konstatieren, dass die jüngere Forschung in der Beantwortung der Frage, was an Stelle dieses „Nichts“ denn eigentlich anzunehmen sei, nicht wesentlich vorangekommen ist. Erstaunlich ist dabei vor allem auch, dass die Institutionalisierung der ,Zeitschrift’ überwiegend nur eindimensional in Abhängigkeit zum älteren Medientypus Zeitung gedacht wird und andere genealogische Modelle kaum diskutiert werden; so etwa die hier zugrunde gelegte Annahme, dass in neuen (Wissens-)Medien alte – und eben
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bisher recht einseitig ausgerichteten Rezeptionsgeschichte weiter geschlossen werden“. Egenhoff, Uta: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit: Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 33), Bremen 2008, S. 20. Stöber: Mediengeschichte, Band 1, S. 67.
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nicht nur periodische Medien – verschmelzen und daher nicht von einer einfachen sequentiellen Abfolge medialer Epochen gesprochen werden kann. Es geht um den bislang nur unzureichend verfolgten Blick einer ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’, also um ein Miteinander von Neuerung und Tradition im Mediensystem, von Kontinuität und Innovation. Um die üblichen Pfade der Mediengeschichte verlassen zu können und die Gattungsfrage mit Blick auf Happels Periodikum neu zu stellen, ist es zunächst nötig, den Hilfsbegriff ,Zeitschrift’ zwar nicht zu verabschieden, aber erheblich zu problematisieren.141 Wie angedeutet, ist er historisch verkürzt und verstellt den Blick auf die heterogenen Wurzeln periodischer Druckformen jenseits der Zeitung. Denn zu guten Teilen wurzelt das verzerrte Bild über die frühe periodische Presse darin, dass seit jeher versucht wurde, ihre Formenfülle in das Korsett ex post herangetragener Kategorien wie die der ,Zeitschrift’ zu pressen.142 So wird suggeriert, dass sich ,die Zeitschrift’ als distinktiver und gleichsam normativer Typus quasi schlagartig im System der Medien konstituiert habe und weniger von dem Bestehenden abhängig als für das Kommende prägend gewesen sei. Dieses Vorgehen ist anachronistisch, weil sich die Selbstbezeichnung der Gattung erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts belegen lässt,143 der Terminus ,Zeitschrift’ im 17. Jahrhundert also noch ebenso wenig existierte wie ein Gattungsbewusstsein.144 Zeitgenössisch geläufig war im deutschsprachigen Raum als Lehnwort nur das französische ,Journal’, und auch dieses war keinesfalls ohne Alternative; stattdessen stand es um 1700, wie Herbert Jaumann jüngst betont hat, „[...] inmitten einer ganzen Palette alter Gattungsäquivalente[n] [...]“145 – ,Mercurius’ etwa, ,Unterredungen’, ,Gespräche’, ,Gedanken’, ,Bibliothek’, ,Nouvellen’, ,Historien’, ,Fragen’, ,Transactions’, ,Acta’ usw.146 Neue Medientypen machten sich demnach durch die Aufnahme von Titelkonventionen verständlich und setzten formal eher auf Anlehnung denn auf Autonomie gegenüber etablierten, älteren Medien. Die Relationes Curiosae bilden hier keine Ausnahme: Relation aller fürnemmen und gedenckwürdigen Historien hieß die 141
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Die anhaltende Diskussion um die Gattungsbestimmung der ,Zeitschrift’ muss an dieser Stelle nicht rekapituliert werden; dazu etwa: Kieslich, Günter: Zur Definition der Zeitschrift, in: Publizistik, 10, 1965, S. 314-319; aus der jüngeren Literatur: Egenhoff: Berufschriftstellertum und Journalismus, S. 24f. Ich folge hier: Jaumann, Herbert: Critica. Untersuchungen zur Literaturkritik zwischen zwischen Quintilian und Thomasius (= Brill’s Studies in Intellectual History, 62), Leiden 1995, S. 275. Winter: Zeitschrift, S. 413; auch: Straßner, Erich: Zeitschrift, Tübingen 1997. Ähnlich auch: Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. So sei nicht zu übersehen, „[...] dass es den periodischen Druckschriften des 17. und 18. Jahrhunderts in der Regel an einer klaren terminologischen ‚Selbst-Bestimmung’ fehlt“. Ebd., S. 74. Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, S. 108. Ebd., S. 109.
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weltweit erste, 1605 in Straßburg gedruckte Zeitung. Indem Happel neben der Relation auch die gedenckwürdigen Historien (Gröste Denkwürdigkeiten der Welt) wieder aufgreift, steht sein Periodikum schon der Titelei nach in publizistischer Nähe zum Zeitungsmedium. Zwar ist es nachvollziehbar, den ,Zeitschriften’-Begriff für das 17. Jahrhundert aus arbeitspragmatischen Gründen beizubehalten, um all das pauschal unter einem notdürftigen ,umbrella term’ zu subsumieren, was periodisch, aber doch nicht Zeitung war.147 An der Vielfalt der Periodika in ihrer „[...] breiten Streuung der Vor-, Zwischen- und Nebenformen [...]“148 geht jedoch gerade die normative Nutzung des Begriffs vorbei.149 Die vorliegende Arbeit versteht die Relationes Curiosae daher weniger als einen Medientypus, der sich als ,Zeitschrift’ fassen lässt – eine Selbstwahrnehmung des Periodikums als ,Journal’ oder spezifisch neues Medium existierte auch überhaupt nicht. Vielmehr werden die Relationes mit Jaumann als ein „[...] nahe an den Grenzen der Sammlung verbleibende[s] Unternehmen [...]“150 verstanden, als periodische Wissenssammlung oder periodisch wachsendes Sammelwerk. Diese zunächst vage Gattungszuordnung wird in der Struktur dieser Studie auf verschiedenen Ebenen präzisiert (siehe unten). Der heuristische Mehrwert gegenüber dem Zeitschriftenbegriff liegt erstens darin, dass die Charakterisierung als Sammlung weit deutlicher auf die spezifische Medialität der Relationes verweist – auf die Verfasstheit des Periodikums als Resultat eines 147
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Im Mittelpunkt steht die hier immer wieder getroffene Merkmalsdefinition der Publizistikwissenschaft. Sie versucht, die erst im 19. Jahrhundert näher bestimmten vier ,Merkmale’ der Zeitungen auf die ,Zeitschrift’ zu übertragen – und pflegt damit einen Tunnelblick, der für individuelle Phänomene kleinen Platz lässt: „Die Zeitschrift besitzt mit der Zeitung gemeinsam die Merkmale Publizität und Periodizität, dagegen ist eines der Merkmale Aktualität und Universalität (oder beide) nur abgeschwächt, ,begrenzt’ [...] oder gar nicht vorhanden“. Wilke: Pressegeschichte, S. 469. Es wundert nicht, dass diese verkürzte, schematisch von der Zeitung her gedachte Definition der ,Zeitschrift’ regelmäßig resignierte Urteile produziert. So musste Rudolf Stöber etwa einräumen, dass sich „[...] die Zeitschrift selbst allen Definitionsversuchen erfolgreich widersetzt“ hat. Stöber, Rudolf: Pressegeschichte, 2. Aufl., Konstanz 2005, S. 84. Definitiv abzugrenzen von der Zeitung ist Happels Wochenblatt nach den genannten Merkmalen nur durch die geringere Aktualität. Die thematische Universalität, die die Pressegeschichte immer wieder nur für die ersten Zeitungen konstatiert, gehört dagegen ganz wesentlich zum Profil der Relationes Curiosae. Jaumann: Critica, S. 26. „Dabei greift man [in der Etablierungsphase neuer periodischer Formen, F.S.] selbstverständlich auf die bewährten Genres bzw. deren Komponenten zurück, integriert und bündelt sie aber mehr oder weniger neu für die Bedürfnisse der periodisch organisierten Erscheinungsweise [...]. Und man hat anfangs keineswegs ein festes, normatives Konzept des ,Journals’ oder der ,Zeitschrift’ im Sinn“. Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, S. 108. Jaumann: Critica, S. 274.
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sammelnden Lesens und Schreibens. Mehr als der anachronistische Terminus ,Zeitschrift’ läuft die Praxis des Sammelns auch mit der historischen Selbstauffassung des Periodikums analog. Zweitens verweist die Wertung als Wissenssammlung implizit auf die oben angedeuteten Kontinuitäten im Mediensystem, da das Phänomen der Kompilation von Texten die frühneuzeitliche Wissenskultur schon lange vor der periodischen Presse bestimmte. Die vorliegende Arbeit will daher nicht von einer zweiten Medienrevolution durch die ,Zeitschrift’ nach der Zeitung sprechen, sondern eher von Medienevolution, von einem „Medienumbruch“.151 Vertreten wird damit nicht das Konzept eines „[...] entwicklungsgeschichtlichen Ablösungs- oder Überwindungsmodells [...]“,152 demzufolge neue Medien die älteren einfach verdrängen. Stattdessen geht es darum, allmähliche Wandlungsprozesse und Übergangsphänomene zu beobachten und zu charakterisieren. Im Zusammenhang damit eignet sich das Konzept der Wissenssammlung – drittens – dazu, den üblichen Fragehorizont der Presse- und Mediengeschichte im Hinblick auf die vielfältigen Verbindungen von materieller und textueller Kultur in der Frühen Neuzeit auszudehnen. Das Erkenntnisinteresse geht also dahin, Happels Periodikum in seinen maßgeblichen kulturellen wie wissensbezogenen Kontexten auszuleuchten und in seinen Funktionsweisen systematisch zu beschreiben. Mit dieser Perspektive verbindet sich die These, dass die periodischen Medien des 17. Jahrhunderts nicht nur als Träger politischer Information und beginnenden Räsonnements zu verstehen sind, sondern auch bereits als Träger umfassend kultureller Kommunikation. Methodisch verfolgt dieser Ansatz eine plurale Perspektive: Er orientiert sich an Werner Faulstichs Konzept einer ‚Medienkulturgeschichte’, die „[...] die Rolle von Kommunikationsmedien im kulturellen und gesellschaftlichen Wandel [...]“153 untersucht. Dazu teils äquivalent, jedoch den Kulturbegriff exakter fassend verhält sich die bislang kaum erprobte „[...] kulturhistorische Medien- und Kommunikationsgeschichte“.154 Als deren „[...] Grundprämisse ist namhaft zu machen, dass jenes Geflecht von Wahrnehmungen, Orientierung, Sinnstiftung, Symbolik und Handlungsdispositionen, welches Kultur ausmacht, kommunikativ und damit gegebenenfalls auch medial zustande kommt, sich erhält und fortentwickelt“.155 Diese Prämisse konvergiert zudem mit einigen Grundannahmen der Wissensgeschichte und der historischen Diskursanalyse. Nach einer neueren 151 152 153 154 155
Wenzel, Horst: Mediengeschichte vor und nach Gutenberg, Darmstadt 2007, S. 10-28. Ebd., S. 7. Faulstich, Werner: Mediengeschichte von 1700 bis ins 3. Jahrtausend, Frankfurt 2006, S. 8. Tschopp, Silvia Serena / Weber, Wolfgang E.J.: Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S. 13f. Ebd., S. 14.
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Definition von Achim Landwehr kommt der Wissensgeschichte „[...] die Aufgabe zu, die Relationen zwischen Wissensformen und ihren Kontexten in ihrer historischen Spezifizität auszuleuchten“.156 Da es mit den Formen auch um die Inhalte des Wissens geht, lässt sich auch eine diskursgeschichtliche Perspektive aufwerfen – ,Diskurs’ verstanden in der pragmatischen Definition Siegfried Jägers als „[...] Fluss von Wissen und Wissensvorräten durch die Zeit“.157 Übertragen auf die zu leistende Teilanalyse der Inhalte wirft sich damit folgender Fragenkatalog auf: Welches Wissen greift das Periodikum aus welchem Grund auf? Wie organisiert, vermittelt und kommentiert Happel seine Wissensbestände; übernimmt das Wissen orientierende, unterhaltende und/oder andere Funktionen, dadurch etwa, dass es Ausdruck kulturell übergeordneter Prozesse ist? Kommt es im Transfer des Wissens auch zu dessen Transformation, zu kreativer Aneignung und zu Akzentverschiebungen im Vergleich zu den Quellen, unter Umständen zu deren Kritik? Wie sehen – anders gewendet – die Mechanismen und Leistungen des Schreibens aus? Vor allem: Hat der mediengeschichtlich neue Aspekt der Periodizität des Wissens Konsequenzen nicht nur für die Form, sondern auch für die Inhalte des Wissens selbst? Bedeutet die periodische Organisation und ,Formatierung’ des Wissens folglich einen umfassenden Strukturwandel, der sich hinsichtlich einer prinzipiellen Differenz früher periodischer und nichtperiodischer Medien verallgemeinern ließe?158 Ist also auch in diesem Fall – in Anlehnung an Marshall McLuhan159 – das Medium die Botschaft? Das sind Fragen, die vor allem in Kapitel VII der Arbeit zu beantworten sind, aber auch in den vorangehenden und folgenden Abschnitten gestreift werden. Zum Aufbau der Arbeit:160 Im Sinne einer breiten historischen Herleitung der Relationes Curiosae und ihrer Gattungsbestimmung geht es zunächst um die den Text regulierenden Kontexte: Kapitel II skizziert die allgemeinen Entstehungsbedingungen des Periodikums in presse- als auch in sozialge156
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Landwehr, Achim: Wissensgeschichte, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung (= Erfahrung – Wissen – Imagination. Schriften zur Wissenssoziologie, Band 15), Konstanz 2007, S. 801-814, hier S. 802. Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 3. Aufl., Duisburg 2001, S. 82. Vergleiche Jaumann: „Die Hauptfrage nach der Ursache von Periodizität, was die partielle Umstellung auf Periodisierung veranlasst hat, halte ich für vorläufig nicht beantwortbar. Deshalb lieber die folgenden Fragen: Worin genau besteht diese Umstellung (dort, wo sie erfolgt), und was kann man aus dieser Umstellung schließen [...]“. Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, S. 107. McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964, S. 7f. Der folgende Überblick verzichtet auf Literaturverweise; sie finden sich im Anmerkungsapparat der jeweiligen Kapitel.
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schichtlicher Hinsicht. Ohne die Stadt Hamburg, schon im 17. Jahrhundert die ,deutsche Pressehauptstadt’, wäre das neue Medium nicht denkbar gewesen. Nur hier, in einem dynamischen Klima kommerzieller, urbaner und kommunikativer Verdichtung, fanden sich nicht nur geschäftstüchtige, sondern auch innovative Verleger und Zeitungsmacher, die mit neuen publizistisch-periodischen Formaten experimentierten; so auch Thomas Wiering, der Verleger von Eberhard Werner Happel. Dieser selbst konnte wie andere davon profitieren, dass die Presselandschaft Hamburgs neue ökonomische Existenzformen und Berufsrollen für Autoren möglich machte, die im Grenzbereich von Publizistik, ,Journalismus’ und Literatur erstmals allein von den Meriten ihrer Feder lebten. Eine erste Verortung der Relationes wird zum einen im Kontext des Verlagsprogramms von Happels Verleger vorgenommen, zum anderen über einen vergleichenden Blick auf das Profil von Happels Œuvre und die periodische Presse in Hamburg insgesamt. Hier ist auch nach etwaigen Vorläufern des Wochenblatts zu fragen. Kapitel III setzt die Relationes in Beziehung zu einer für wissens-, kulturund mediengeschichtliche Zusammenhänge entscheidenden Signatur des 17. Jahrhunderts: Der auch durch die periodische Presse beförderte Wissensdurst der Zeit war untrennbar mit der moralischen Aufwertung der Neugier (curiositas) verbunden. Der theoretische Diskurs der neuen Medien insgesamt formte sich entlang der Diskussion über illegitime und legitime Formen der Neugier. Schon dem Titel nach – Relationes Curiosae – bezieht das Selbstverständnis des Periodikums in dieser Debatte um das ,neugierige Jahrhundert’ eine dezidierte Position. Zudem verweist die Neugier unmittelbar auf ihre Objekte, auf die gesammelten „Curiositäten“ der Zeit. Diese konnten, anders als die möglichst aktuellen Meldungen der Zeitungen, grundsätzlich auch ,von gestern’ sein. Kapitel IV beschreibt die Gattungsspezifik der Relationes vor dem Hintergrund der dominanten Wissensideale der Epoche und der sie bestimmenden Prozesse – etwa das Problem der schieren Quantität des Wissens, das um 1700 drängender denn je erschien. Doch antwortete das ,enzyklopädische Zeitalter’ auf die Frage, wie das Wissen der ausufernden Büchermassen überhaupt noch sinnvoll strukturiert werden könne, nicht nur auf nur streng systematische Weise. Entscheidend ist die These, dass ein großes Segment ,halb-gelehrter’ enzyklopädischer Literatur von den elaborierten Ordnungsentwürfen der Zeit unberührt blieb: die ,Buntschriftstellerei’. Die gewollte Ordnungsschwäche ihrer Wissensarchitektur liefert, so ist zu zeigen, die Struktur- und Gattungstradition der Relationes Curiosae. Weitere Punkte des Kapitels entwerfen einen Querschnitt durch die wichtigsten Quellen des Periodikums und klären das mit der Adaption und Verarbeitung dieser Texte zusammenhängende Autoren- und Selbstbild.
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Kapitel V und VI untersuchen anhand der Paratexte die publizistische Konzeption der Relationes und gehen davon aus, dass das Periodikum eines der frühesten Beispiele programmatischer Wissenspopularisierung darstellt. Popularisiert wurde mit den Relationes jedoch nicht nur das Wissen selbst, sondern auch das aus dem elitären Kontext stammende Modell der Kunstkammer. Wie zu zeigen ist, bildet dieser Sammlungstypus das ,Leitmedium’ für die Relationes, die sich als textuelles Pendant zu den Kunstkammern des Barock, als ,Text-Kunstkammer’ verstehen und als (periodische) Wissenssammlung insofern eine ganz spezifische Prägung erhalten. Nicht nur spiegelt sich die materielle Welt der Kunstkammern im Text des Periodikums, sondern auch ihr theoretisches Konzept und ihr kommunikativer Überbau. Ein Medienvergleich zwischen materieller und imaginärer Kunstkammer entwickelt die Entsprechungen und Diskrepanzen beider Sammlungstypen. Kapitel VII überträgt das Modell der Kunstkammer konsequent weiter auf die Quelle und schlägt exemplarische Schneisen in ihre Stofffülle, indem sich die Analyse der Inhalte entlang der Sammlungsschwerpunkte der Kunstkammer bewegt. Wie diese vereinen die Relationes alles Bewunderungswürdige aus den (Grenz-)Bereichen von Natur, Kunst, Technik und fremden Welten. Die Analyse der Schlüsseldiskurse stellt die Analogien – in dieser Sequenz – zu den Sammlungsgruppen der ,ethnographica’ (Kapitel 7.1.), ,naturalia’ und ,artificialia’ (7.2.) sowie den ,scientifica’ (7.3.) her. In Happels Periodikum zirkulieren in Text- und teilweise auch in Bildform jedoch nicht nur all jene heterogenen Objekte, die in den Kunstkammern zur Schau gestellt wurden und das neugierige Europa begeisterten – anthropomorphe Pflanzen und außereuropäische Kleidung etwa; mit ihnen vermittelt Happel auch abstraktere, grundsätzliche Vorstellungen über den in den Kunstkammern angelegten Natur- und Kunstbegriff, über das Verhältnis beider und die Rolle des Wunderbaren in diesen Kontexten. Größere Wissenszusammenhänge reflektieren sich hier, so ist zu zeigen, in der Geschichte von Einzelobjekten der Text-Kunstkammer, etwa im ,Oldenburger Wunderhorn’ (Kapitel 7.2.2.). Gerade auch die exemplarische Analyse von Einzelinhalten soll Antwort auf die oben formulierten Fragen geben – so geht es auf einer zweiten Ebene darum, die Funktionsweisen und Leistungen des Mediums offen zu legen: wie bereitet Happel seine Wissensangebote auf, welcher Schreibstrategien bedient er sich, wie ist das Verhältnis zu den Quellen und tragen die Relationes Curiosae durch deren Beurteilung zu einem Wandel von Denkmustern und kulturellen Einstellungen bei? Das Resümee in Kapitel VIII bündelt erstens die verschiedenen Dimensionen des allgegenwärtigen Wunderbegriffs in den Relationes; zweitens fragt es nach dem Verhältnis von Wundergläubigkeit und aufkommender Wunderkritik, danach, ob die schon im Titel angelegte „Vernunfft“ der Relationes
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Happels Wissenssammlung in die Frühgeschichte der aufgeklärten Periodika des folgenden Jahrhunderts rückt. Abschließend ergibt sich daraus die Frage, ob die Relationes insgesamt als ein ,Medientypus der Moderne’ zu werten sind. Der Epilog liefert eine Skizze der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Happels Periodikum. Dem bereits angedeuteten Facettenreichtum der Quelle kann diese Arbeit schon aus Gründen notwendiger Eingrenzung nicht erschöpfend gerecht werden; sie kann nur aussagekräftige Segmente hervorheben. Weitere Aspekte bleiben zukünftigen Studien vorbehalten.
II. Entstehungshintergründe und pressegeschichtlicher Rahmen
2.1. Zwischen Börse, Kaffeehaus und der Welt: Hamburg als Medienmetropole „Wann ich / [...] / gefraget würde / wie mein Vatterland hiesse / würde ich ihm antworten: Die Welt“. Happel: Mundus Mirabilis, 1688
Dass Mediengeschichte unlösbar mit dem Ort der Medienproduktion verbunden ist, trifft im 17. Jahrhundert besonders für Hamburg zu. Als Happel um 1688 im kosmopolitischen Ton von der Elbe aus die gesamte Welt zu seinem „Vatterland“ erklärt, spielt dies nicht nur darauf an, dass die Beschreibung der Welt in der Mehrzahl seiner Werke eine prominente Rolle einnimmt.1 Implizit bezieht sich Happel hier auch auf das weltoffene Klima in Hamburg, wo er sich in den 1670er Jahren niederließ. Die maritime Metropole erlebte als „Sonderfall“2 der deutschen Geschichte in der Frühen Neuzeit einen beispiellosen Aufschwung und erschien wie eine Welt im Kleinen. Diese allgemeinen Entstehungskontexte der Relationes Curiosae in Verbindung mit der pressegeschichtlichen Entwicklung sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Eine Verflechtung von sozioökonomischen, infrastrukturellen, kommunikativen und kulturellen Dynamiken beförderte Hamburg im 17. Jahrhundert relativ schnell in den Rang der Presse- und Medienmetropole des Alten Reiches.3 Der Fokus des Kapitels richtet sich besonders auf die Hamburger Börse, deren urbanes Umfeld die Entstehung von Happels Periodikum erheblich befördert haben dürfte. Am zentralen Versammlungsort der Kaufleute wurden spätestens seit Etablierung der ersten festen Postrouten nicht mehr nur Waren, sondern auch Informationen 1 2
3
Zur Repräsentation außereuropäischer Welten in den Relationes siehe Kapitel 7.1. Schramm, Percy Ernst: Hamburg. Ein Sonderfall in der Geschichte Deutschlands, Hamburg 1964. Schramms Sonderfall-These geht davon aus, dass es in der Geschichte Hamburgs seit dem 16. Jahrhundert „[...] keine rückläufige Phase, nicht einmal eine solche des Stillstandes gegeben“ habe. Ebd., S. 15. Vergleichbar auch für Hamburg: Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 19ff.; Prange: Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts, S. 25-41. In kritischer Perspektive kann hier gleichwohl daran erinnert werden, dass die Hervorhebung Hamburgs nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass für andere – und gerade auch süddeutsche – Städte weiterhin keine vergleichbar umfänglichen pressegeschichtlichen Bibliographien vorliegen wie für die Hansestadt.
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aus aller Welt gehandelt – ein Geschäft, das von Happels Drucker und Verleger Thomas von Wiering4 in direkter Nachbarschaft zur Börse vielseitig institutionalisiert wurde. Dieser spezifische Ort ist ein Präzedenzfall für die These Peter Burkes, derzufolge die kommunikative Verdichtung im frühneuzeitlichen urbanen Raum auch der Genese neuer Orte der Kommunikation zu verdanken ist.5 Vor allem zwei Faktoren trugen dazu bei, dass Hamburg seit dem 16. Jahrhundert in rasantem Tempo zu Deutschlands größtem „Marktplatz“6 und Handelszentrum aufstieg: Erstens verlor der Ostseehandel der Hanse an Bedeutung, während sich etwa zeitgleich in globaler Sicht mit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien der Schwerpunkt des Welthandels vom Mittelmeer sukzessiv auf den Atlantik verlagerte. Während dies für den Handel binnendeutscher Städte eine Schwächung bedeutete, profitierte Hamburg von seinem geographischen „Standortvorteil“.7 Damit wurde – zweitens – Hamburgs ohnehin schon „[...] verkehrsgünstige Lage an den Handelsrouten nach Westeuropa und in das Innere des Alten Reiches [...]“8 gestärkt. Mit zunehmenden Warenströmen zog die prosperierende und international aufgeschlossene Stadt schon Ende des Jahrhunderts eine Vielzahl von Emigranten und Fremden an.9 Im Jahr 1677, als Happel bereits in Hamburg lebte, notierte der Engländer Edward Brown in seiner Reisebeschreibung, die Stadt sei „[...] full of Strangers and Merchants of Several Countries“.10 Hamburg steht insofern exemplarisch für eine gesamteuropäische Entwicklung, als Peter Burke die entscheidende Rolle der Handelsflüsse für den 4
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Zu Wiering: Reske, Christoph: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Band 51), Wiesbaden 2007, S. 342-343. Burke, Peter: Urbanisierung und Kommunikation. Die vorindustrielle Stadt als Informationszentrale, in: Freibeuter, Band 68, 1996, S. 3-18. Büsch, Johann Georg: Versuch einer Geschichte der Hamburgischen Handlung, nebst zwei kleineren Schriften, eines verwandten Inhalts, Hamburg 1797, S. 171. Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, S. 139. Krieger, Martin: Geschichte Hamburgs, München 2006, S. 58; auch Prange: Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts, S. 31. Hipp, Hermann: Hamburg, in: Behringer, Wolfgang / Roeck, Bernd (Hrsg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400-1800, München 1999, S. 235-244, hier S. 235; siehe auch: Loose, Hans-Dieter: Das Zeitalter der Bürgerunruhen und der großen europäischen Kriege, in: Ders. (Hrsg.): Hamburg. Geschichte einer Stadt, Hamburg 1982, S. 259-350, hier S. 266. Brown, Edward: An account of several travels through a great part of Germany, in four journeys, London 1677, S. 147. Schon 1628 behauptete der Vertreter General Tillys in Hamburg, dass ein Drittel der Bevölkerung nicht aus der Stadt selbst stammen würde. Schramm, Percy Ernst: Dreihundert Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie (1648 – 1948), Göttingen 1963, S. 7.
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Import von Information und Wissen gerade in Hafenstädten betont hat.11 Dass sich Hamburg nach und nach auch zur „[...] wichtigsten Nachrichtenzentrale im Norden Deutschlands“12 entwickelte, ist darüber hinaus auch auf die Kommunikationsrevolution (Wolfgang Behringer) durch die Post zurückzuführen: Erst das Netzwerk eines institutionalisierten Postsystems seit dem 16. Jahrhundert stellte den Nachrichtenverkehr zwischen den Städten auf eine beschleunigte sowie kontinuierliche Basis und lieferte damit die Voraussetzung für die Entstehung des neuen Medientypus Zeitung – Hamburg stand hier mit der ab 1618 erscheinenden Wöchentlichen Zeitung auß mehrley örther von Johann Meyer im deutschen Vergleich zeitlich zunächst nur an fünfter Stelle.13 Dass die Elbstadt jedoch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zur „führenden Zeitungsstadt“ Deutschlands aufrückte, sieht Wolfgang Behringer in Hamburgs „[...] einzigartige[r] Infrastruktur des Kommunikationswesens“14 begründet: Die Stadt war über eine Postanstalt nicht nur an das Streckennetz der Reichspost angebunden; durch Unterbindung eines Monopols über den Senat existierten nicht weniger als fünfzehn weitere konkurrierende Postvertretungen, unter anderem von Schweden und Dänemark.15 Die Bedeutung des Zeitungsmediums und der sich an der Börse (siehe unten S. 38ff.) verdichtenden Kommunikationswege wurde bereits von Zeitgenossen erkannt und gefeiert. So lässt der in Hamburg auch als Literat erfolgreiche Pfarrer Johann Rist (1607-1667) in seinen Monatsgesprächen (1663) einen fiktiven Diskutanten etwa Folgendes festhalten: „Begehret aber jemand noch mehr und eigentlichere Zeitung zu erfahren / [...] der verfüge sich nur an die Börse / [...] und eben dises schätze ich für eine gahr grosse Glükseligkeit der Stattleute / das sie vermittels ihrer Zusammenschreibung / Briefewechselung / oder correspondentz fast alles / was in der Welt geschiehet, können erfahren. Es sind ja die Posten [Postanstalten, F.S.] in den großen Stätten / absonderlich in unserem Hamburg dermahssen wol bestellet / das man in gahr kurtzer Zeit / die auch manchem sehr unglaublich solten fürkommen / aus allen Ländern und Königreichen Briefe und Zeitungen kan haben“.16
Ähnlich imposant zeigte sich Hamburgs Infrastruktur in der Außenperspektive. Im gleichen Jahr wie Rist notiert der italienische Geograph und Historiker Galeazzo Gualdo Priorato (1608-1678) in seiner Reisebeschreibung: 11 12 13 14
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Burke, Peter: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2002, S. 77. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 20. Ebd., S. 27. Behringer, Wolfgang: Im Zeichen des Merkur: Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 189), Göttingen 2003, S. 423. Klessmann, Eckart: Geschichte der Stadt Hamburg, 4. Aufl., Hamburg 2002, S. 186. Rist, Johann: Das AllerEdelste Leben [...] (Monatsgespräche, Februar), Hamburg 1663, S. 152f.
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„Hamburg kann das Thor Deutschlands von der Seeseite genannt werden [...]. Die Zahl der Fremden aller Nationen ist hier groß, da Hamburg der Hauptverbindungsort zwischen Deutschland, Polen und anderen Ländern, und Frankreich, England, Holland, Dänemark, Schweden und Spanien ist, und sich hier stete Reisegelegenheit sowohl zu Wasser als zu Lande findet. Von hier aus gehen Posten nach alle Gegenden“.17
Auch Happel stimmt in diese Elogen ein. Um 1688 zollt er in seiner Kosmographie Mundus Mirabilis Tripartitus wie schon Johann Rist der Dichte der Hamburger „Correspondentz“ höchsten Beifall – gerade auch in ihrer Bedeutung für die eigene Situation: „Ich wohne aber in einer Stadt / da man von solchen Dingen / die einer von meines Gleichen wünschet / nemlich von grosser Correspondentz / einen reichen Überfluß hat / und da man die Wissenschafften noch höher aestimiret / als ich mir eingebildet hätte“.18
Mit dem Lob der „Wissenschafften“ spielt Happel einerseits darauf an, dass sich neben der wirtschaftlichen auch die kulturelle Prosperität der Stadt in der Präsenz geachteter Gelehrter wie des Naturphilosophen und Mathematikers Joachim Jungius (1587-1657) spiegelte. Von 1629 bis 1657 leitete Jungius das 1613 gegründete Akademische Gymnasium und trug wesentlich zum Ruhm der Institution bei, die die ältere Gelehrtenschule des Johanneums (gegründet 1529) ergänzte. Andererseits verweist Happel indirekt auf die Bedeutung öffentlicher Bibliotheken für die erhöhte Verfügbarkeit des Wissens in Hamburg insgesamt. So überließ Jungius, wie andere Akademiker vor und nach ihm, mit seinem Ableben seine mehrere tausend Bände umfassende Büchersammlung der Stadt,19 auf die Happel später als Teil der öffentlichen Bibliothek Zugriff hatte (siehe unten S. 43f.). Der Nachrichtenfluss aus allen Richtungen wurde von einem ökonomisch-kulturellen Konjunkturschub begleitet, dessen Kontinuität auch über den 30-Jährigen Krieg hinaus anhielt. Gerade die Zeit zwischen 1618 und 1648 festigte Hamburgs Ausnahmestellung:20 Während die Bilanz des Krieges für den Rest von Deutschland überwiegend verheerend war, überdauerte Hamburg den Krieg nicht nur dank einer massiven Befestigungsanlage na17 18
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Hudtwalcker: Des Grafen Galeazzo Priorato Beschreibung von Hamburg im Jahre 1663, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Dritter Band, 1851, S. 140-157, hier S. 152. Happel, Eberhard Werner: Mundus Mirabilis Tripartitus, Oder Wunderbare Welt / in einer kurtzen Cosmographia fürgestellet [...], 3 Bände, Ulm 1687-1689, hier Band 1, 1687, Vorrede, Bl. 2 r. Klessmann: Geschichte der Stadt Hamburg, S. 202; ausführlich: Meinel, Christoph: Die Bibliothek des Joachim Jungius: ein Beitrag zur Historia litteraria der frühen Neuzeit, Göttingen 1992. Umfassend: Knauer, Martin / Tode, Sven (Hrsg.): Der Krieg vor den Toren: Hamburg im Dreißigjährigen Krieg 1618-1648, Hamburg 2000.
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hezu unbeschadet, sondern auch wegen einer auf Neutralität bedachten Außenpolitik.21 Mehr noch: als Zentrum der Rüstungsindustrie und der schwedischen Kriegsfinanzierung hatte die Stadt aus dem Krieg sogar Kapital schlagen können – optimale Bedingungen auch für den konstanten Ausbau des Pressewesens;22 zudem wuchs die Bevölkerung durch Kriegs- und Glaubensflüchtlinge weiter rasant an: Kurz nach 1648 hatte Hamburg zwischen 50000 und 60000 Einwohner, um 1662 sollen es bereits ca. 75000 gewesen sein.23 Nach Wien war Hamburg damit zur zweitgrößten Reichsstadt geworden. Wohlstand und Selbstbewusstsein zeigten sich auch in einer repräsentativen Flotte, die selbst Konvoischiffe gegen notorische Piratenangriffe unterhielt; das Neueste unter ihnen, die Wappen von Hamburg II, will Happel 1686 selbst besichtigt haben. Seine Huldigung ist zugleich eines der seltenen Beispiele zeitnaher Lokalberichterstattung in seinem Periodikum, sogar unter Beigabe einer Abbildung des Schiffes: „Du edles Hamburg / ich muß es dir zur Ehre nachsagen / daß du die eintzige von den Teusche Städte bist / welche 2 solcher Convoy-Schiffe bauen/ außrüsten und unterhalten kannst / du hast den allergrössesten See-Handel von allen Städten und Haven des Römischen Reichs / darumb nehme ich dieß dein neues Convoy / so dieses 1686te Jahr allererst erbauet worden / zum Muster / ich bin selber mit etlichen guten Freunden im Außgang des Novembris an dieses Schiff gefahren / und habe es zur Gnüge besichtiget / und mich bey denen der Sache erfahrnen solcher Dinge erkündiget / die ich dem curieusen Leser zur Lust / Vergnügen und Verwunderung mitteilen wil“.24
„The wealth and the Trade of this City encrease daily“25 heißt es 1693 in einem weiteren Reisebericht. Hamburgs ökonomisches Wachstum kristallisierte sich besonders an der Börse. Wie zu zeigen ist, war die Börse im späten 17. Jahrhundert jedoch nicht nur kommerzieller Stadtmittelpunkt; vielmehr entstand hier, so in Anknüpfung an die obige These, ein kosmopolitisches Zentrum, dessen Atmosphäre erst den entscheidenden Impuls zur Herausgabe der Relationes gab. Gleichzeitig lässt sich über diesen Ausschnitt ein allgemeines Bild der Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Happels Periodikum gewinnen. 21
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Reincke, Heinrich: Hamburgs Bevölkerung, in: Ders.: Forschungen und Skizzen zur hamburgischen Geschichte (= Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Hansestadt Hamburg, Band 3), Hamburg 1951, S. 167-200, hier S. 167; auch: Loose: Das Zeitalter der Bürgerunruhen, S. 265. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 33. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 16. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Der Unterschied der heutigen Schiffen“, Nr. 80, S. 627. Carr, William: Travels through Flanders, Holland, Germany, Sweden, and Denmark: Containing an account of what is most remarkable in those countries [...], London 1693, S. 107.
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Im Zuge des expandierenden Großhandels wurde die Börse auf Betreiben der hamburgischen Kaufmannschaft 1558 „[...] für den Abschluss von Geschäften und tägliche Zusammenkünfte [...]“26 gegründet. Der Rat wies den Handelstreibenden den Marktplatz am Alsterhafen gegenüber dem Rathaus für den zu errichtenden Börsenbau zu27 – ein nach allen Seiten hin günstig gelegener Punkt inmitten des Stadtkerns. Vorbild war die Börse in Amsterdam (1531), die ihrerseits eine zentrale Rolle im Informationshaushalt der Stadt spielte.28 Hamburg erhielt damit die vierte überhaupt auf europäischem Boden gegründete Institution dieser Art,29 wenn auch noch vorerst ohne Gebäude. Schon früh zeigte sich der Ort als kommunikative Drehscheibe: Von hier aus wurde vor Errichtung eigener Postanstalten seit den 1570er Jahren das Briefbotenwesen in alle Städte organisiert, über das die Hamburger Kaufleute ihre Geschäfte abwickelten.30 Ein großzügiges, 1583 errichtetes Börsengebäude im Renaissancestil wurde bald zur Attraktion für Reisende. Schon 1592 deutet ein Reisebericht die Verflechtung von kleinen und globalen Kommunikationsräumen an. So werde in Hamburg „[...] auch eine freye Bürß allda gehalten [...], da die Kauffleute täglich zusammen kommen, allda einer den zustandt der gantzen Welt erfahren kan“.31 Als Begleiterscheinung der intensivierten Handelskommunikation entwickelte sich die Börse auch zum Anziehungspunkt von Städtern und Fremden, für die das Warenangebot nicht das eigentlich Interessante war. Ihnen wird es vielmehr um jene „gantze Welt“ gegangen sein‚ um den Reiz des geschäftigen, belebten Platzes, um das tägliche Gespräch über lokale und überregionale Neuigkeiten.32 Bald galt das urbane Areal rund um die Börse als der „[...] Ort, wo man alles wisse, was die Öffentlichkeit betreffe“.33 Es lag daher nahe, dass sich hier zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch der Mittelpunkt des Zeitungsmarktes ansiedelte:34 Hamburgs erste periodische Zeitung wurde in unmittelbarer Nähe der Börse herausgegeben.35 Hier konnten jene, die in 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Postel, Rainer: Reformation und Gegenreformation 1517-1618, in: Loose (Hrsg.): Hamburg, S. 191-256, hier S. 233. Lehe, Erich von: Die Märkte Hamburgs von den Anfängen bis in die Neuzeit (= Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 50), Wiesbaden 1966, S. 53. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 79. Dazu: Klein, Gottfried: 400 Jahre Hamburger Börse. 1558 bis 1958, Hamburg 1958. Ebd., S. 4. Heberer, Michael: Von einigen älteren Berichten über Hamburg und deren Verfasser, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Dritter Band, 1851, S. 241-250, hier S. 243. Weiterführend: Dürr, Renate / Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Kirchen, Märkte und Tavernen: Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 2005. Baasch, Ernst: Der Einfluss des Handels auf das Geistesleben Hamburgs, Leipzig 1909, S. 14. Siehe auch: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 32. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 27f.
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das noch junge publizistische Tages- und Nachrichtengeschäft einstiegen, auf das gesteigerte Informationsbedürfnis vieler Leser gerade auch angesichts des begonnenen Krieges (1618) hoffen. Doch nicht nur der Verkauf neuer periodischer Druckmedien blühte an der Börse: Früh siedelten sich hier auch Buchhändler an,36 unter ihnen viele niederländische Immigranten wie Happels Drucker und Verleger Thomas von Wiering. Etwa zur gleichen Zeit als Happel in Hamburg eintraf – gegen Mitte oder Ende der 1670er Jahre – ließ sich Wiering mit seinem Laden direkt „Bey der Börse“ nieder: Zwar kaufte er das „güldene ABC“ benannte Haus gegenüber dem alten Kran des Börsengebäudes angeblich erst 1683.37 Jedoch gab Wiering schon seit 1677 Einblattdrucke heraus, die den Vermerk „Werden verkaufft im Güldenen A.B.C. in Hamburg“38 trugen. Ein Stich aus dem späten 17. Jahrhundert vermittelt einen Eindruck des Lebens an der Börse (Abb. 3). Im rechten Hintergrund ist das Börsengebäude zu sehen, links davon die Stadtwaage, daneben der alte Lastenkran. Entweder den Arbeitsraum im Kran oder einen Teil des oberen Stockwerks der Waage mietete Wiering ab 1688 an,39 um ihn als Lager für seine Drucke zu nutzen – so auch für Happels Werke. Wenngleich der Kupferstich die Dichte der Menschentrauben auf dem Börsenplatz neben dem Rathaus (am Bildrand rechts) zweifellos dramatisiert,40 wird noch einmal deutlich, dass Wiering seine Presseerzeugnisse direkt am Knotenpunkt von städtischer Kommunikation und Information absetzte. Neben der urbanen Stimmung des Ortes trugen noch zwei weitere Faktoren dazu bei, dass ein neuartiges Wochenblatt wie die Relationes Curiosae in Hamburg wahrscheinlich schnell sein Publikum fand. So erwies sich Wiering als äußerst findig darin, für neue Medien auch neue Absatzwege zu erpro36
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Krieger: Geschichte Hamburgs, S. 68. Einer der niederländischen Buchhändler bei der Börse war Peter Groot. Siehe dazu etwa den Anzeigenteil in Wierings Zeitung Relations-Courier, Jg. 1684, Nr. 8, 25. Januar. Colshorn, Hermann: Hamburgs Buchhandel im 17. Jahrhundert – Drucker, Verleger und Sortimenter, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 21. Jg., Frankfurt 1965, Sp. 2369-2374, hier Sp. 2373. Beispielsweise das Flugblatt Unpartheyische Beschreibung und Abriß der sehr scharffen Bataille Welche am 11 April des 1677 Jahrs in Flandern zwischen Königs von Franckreichs Herrn Bruder Duc de Orleans, und Seiner Hoheit dem Herrn Printzen von Oranien fürgangen, Hamburg: Güldenes A.B.C., 1677. Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 343. Zeitgenössische Reiseberichte unterstützen jedoch den Eindruck, dass das Börsenareal zu den belebtesten Plätzen der Stadt gehörte: „In der Börse versammeln sich jeden Morgen, außer an Festtagen, die Kaufleute zur Verhandlung ihrer Geschäfte in solcher Anzahl, daß es kaum zu begreiffen ist“. Des Grafen Galeazzo Priorato Beschreibung von Hamburg, S. 148.
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ben: Seit 1672 besaß er nachweislich den ersten Zeitungsladen Hamburgs,41 den er als „Wierings Kram“ auch „Bey der Börse“ weiterführte. Hier bot Wiering neben dem Kleinschrifttum aus seinem breiten Verlagsprogramm seit 1674 auch seine äußerst erfolgreiche Zeitung Relations-Courier, die Relationes Curiosae sowie auswärtige Zeitungen an.42 Mehr noch: In „Wierings Kram“ fanden sich generell all jene Dinge, die in einer Hafenstadt gefragt waren – neben einer großen Palette an Seekarten und Atlanten waren hier auch nautische Instrumente zu erstehen.43 Zudem waren die hier angebotenen Drucke nicht nur käuflich zu erwerben. Innovativ war, dass Wiering gegen ein geringeres Entgelt zusätzlich die Möglichkeit bot, es bei der Lektüre vor Ort zu belassen; Zeitungen und andere Periodika mussten also nicht gekauft werden.44 Diese erweiterte Absatzstrategie beförderte zugleich eine breite Rezeption des Angebots, da einzelne Drucke mehrfach gelesen wurden. Die Druckerei mit angeschlossenem Buchladen und „Kram“ wird sich so zu einem regen Ort der Unterhaltung und der Auskunft über aktuelle Publikationen entwickelt haben.45 Dass dieses Vermarktungsmodell Wierings spätestens zu Beginn des folgenden Jahrhunderts in Hamburg Schule gemacht hatte, deutet eine von Paul Jacob Marperger46 (1656-1730) ca. 1720 verfasste Anleitung zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung allerhand [...] Zeitungen und Avisen oder auch der sogenannten Journalen.47 Früh erkennt Marperger die „Avisen-Buden“ als Multiplikatoren einer ‚Medienöffentlichkeit’ und als Schnittstelle sozial übergreifender Kommunikation: „Zum welchem Ende dann sonderlich in Hamburg die Avisen-Buden, rund umb die Börß herum, von allerhand Avisen, z. Ex. derer im güldnen ABC, der Heußischen und Greflingerischen und andrer mehr angeleget, nechst solchen auch gantze Boutiqven zu finden sey, wo alle solche und auch andere fremde Zeitungen, als Holländische, so wohl Frantzösische als Niederländische, Englische, Italiänische [...] samt andern Piecen und Novitäten mehr, gegen Erlegung eines wenigen, oder auch gegen ein veraccordirtes Jahr-Geld können gekaufft oder nur gelesen werden. Solche Zeitungs-Buden, Boutiqves oder Comptoirs [...] dienen 41 42 43
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Colshorn: Hamburgs Buchhandel, Sp. 2373. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 74. Kayser, Werner: Thomas von Wiering und Erben. Ein bedeutendes Kapitel hamburgischer Druckgeschichte, in: Auskunft. Mitteilungsblatt Hamburger Bibliotheken, 10, Dezember 1990, S. 343-371, hier S. 345. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 179. Allgemein dazu: Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 72. Zu Marperger: Dünnhaupt, Gerhard: Paul Jacob Marperger (1656-1730), in: Ders.: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, Band 4, Stuttgart 1991, S. 2638-72. Marperger, Paul Jacob: Anleitung zum rechten Verstand und nutzbarer Lesung allerhand so wohl gedruckter als geschriebener [...] ordentlicher und ausserordentlicher Zeitungen oder Avisen wie auch der sogenannten Journalen, o.O. 1720.
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hernach zur Versammlung und Entretien vieler curiosen Leute von allerhand Ständen, Gelehrten und Ungelernten, Staats- Kauff- und Kriegs-Leuten, Fremden und Einheimischen; Wobey man dann mit Lust das raisonniren über allerhand Staats- und Welt-Händel [...] anhören kann“.48
Es liegt nahe, dass auch die Relationes in einer vergleichbaren Atmosphäre konsumiert und diskutiert wurden. Doch nicht nur über diesen Weg werden die Inhalte neuer Periodika in Hamburg schnell weite Verbreitung gefunden haben. Neben den ‚Zeitungsläden’ trat ebenfalls ab den 1670er Jahren nahe der Börse noch eine weitere, bald modische Teilöffentlichkeit hinzu, in der sich der Informationsaustausch simultan zu neuen Konsumgewohnheiten institutionalisierte: das Kaffeehaus.49 1677 wurde in Hamburg bei der Börse durch einen Engländer eines der ersten Kaffeehäuser im Alten Reich eröffnet50 – und ähnlich wie in „Wierings Kram“ lagen hier deutschsprachige und niederländische Periodika zur Lektüre aus.51 Um 1700 bestanden in Hamburg bereits sechs solcher Foren neuer Geselligkeit.52 Auch wenn es aufgrund mangelnder Quellenbelege spekulativ bleiben muss, ist es wahrscheinlich, dass Wiering neue Presseerzeugnisse wie die Relationes auch in den nahen Kaffeehäusern anbot und auf Akzeptanz erprobte.53 Peter Burke hat diese Verflechtung von neuen Orten des alltäglichen Konsums und neuen Medien wie Zeitungen, Plakaten und ,Zeitschriften’ als grundlegend für die Kommunikationsverdichtung im städtisch-metropolitanen Raum der Frühen Neuzeit bezeichnet.54 Ein vergleichbares Gefüge bildete auch in Hamburg den strukturellen Entstehungshintergrund der Relationes Curiosae – die Entwicklung als Stadt der Medien, die Etablierung neuer Absatzstrategien, die Entstehung neuer, konsumorientierter Öffentlichkeiten, die eine schnelle 48
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Marperger: Anleitung zum rechten Verstand, S. 95. Zitiert nach: Kopitzsch, Franklin: Zeitungen – ,Das Idol von Hamburg’. Zeugnisse zur Zeitungslektüre der Hamburger im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, 24, 2006, S. 101-114, hier S. 105. Verschiedene Studien haben unlängst die Bedeutung des Kaffeehauses für die Entstehung einer aufgeklärt-räsonierenden Teilöffentlichkeit betont. Über das erste deutsche Kaffeehaus in Bremen siehe etwa: Seling-Biehusen, Petra: Coffi, Schokelati und Potasie. KaffeeHandel und Kaffee-Genuss in Bremen, Idstein 2001. Klessmann: Geschichte der Stadt Hamburg, S. 180. Krieger: Geschichte Hamburgs, S. 70. Ebd. Andererseits reagierte Wiering schon 1690 auf die Modewelle der Kaffeehäuser mit einer satirischen Schrift: Caffe- und The-Logia. oder Kurtze Anzeigung und Beschreibung dieser Geträncke: [...] Auffgesetzt von Einem zimlich erfahrnen Caffe-Schlucker, Hamburg 1690. Burke: Urbanisierung und Kommunikation; auch: Requate, Jörg: „Unverbürgte Sagen und wahre Fakta“. Anmerkungen zur „Kultur der Neuigkeiten“ in der deutschen Presselandschaft zwischen dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Sösemann, Bernd (Hrsg.): Kommunikation und Medien in Preussen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Band 12), Stuttgart 2002, S. 239-255, hier S. 241.
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Aufnahme von Verlagsinnovationen wahrscheinlich machten und die Nachfrage nach einer Ausdifferenzierung des Medienangebots überhaupt erst artikulierten. Vor diesem Kontext mag es mehr als bloße Werberhetorik gewesen sein, wenn Wiering die Herausgabe von Happels neuem Periodikum damit begründete, dass „Viele Lesens- und Wissens-Begierige Gemüther [...] mir zum öfftern angelegen [haben] / [...] nebst meinem ordinairen Courier [seiner Zeitung Relations-Courier, F.S.], wochentlich eine so genandte Curieuse Relation außzugeben [...]“.55 War durch diese Voraussetzungen eine prinzipielle Affinität zu neuen Medien geschaffen, so wurde die Öffentlichkeit gedruckten Wissens in Hamburg auch dadurch erheblich befördert, dass die Stadt im späten 17. Jahrhundert über eine der größten öffentlichen Bibliotheken Deutschlands verfügte.56 Viel Lob fanden zudem die imposanten privaten Büchersammlungen; vereinzelt hieß es gar, dass es Hamburg im Sammeln von Büchern „[...] keine Stadt in der Welt [...] zu vor thue“.57 Zwar konnte man auf europäischer Ebene keinesfalls etwa mit Paris konkurrieren, das gegen Ende des Jahrhunderts über mehr als dreißig Bibliotheken verfügte.58 Im Rahmen des Reiches jedoch verzeichnete Hamburg schon im späten 15. Jahrhundert die überhaupt erste öffentliche Bibliotheksgründung.59 Angesichts eines wachsenden Bücherbestandes entschloss sich der städtische Rat im Jahre 1648, die Räume der mittelalterlichen Klosterbibliothek, die Liberei im Johanniskloster, zur „Gemeinen Bibliothek“ auszubauen;60 sie sollte zum einen als Stadt- und zum anderen als Gymnasialbibliothek des Akademischen Gymnasiums dienen.61 In den folgenden Jahren wuchs die „Gemeine Bibliothek“ durch bedeutende Schenkungen des erwähnten Joachim Jungius, des Stadtphysikus Paul Marquard Schlegel (1605-1654) oder des Mathematikers Johann Adolph Tassius (1585-1654) so weit an, dass ihr bald selbst der Ruf einer „Curiosität“ anhing.62 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verfügte die 55 56 57 58 59
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Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v. Klessmann: Geschichte der Stadt Hamburg, S. 202. Gebauer, Hans Dieter: Bücherauktionen in Deutschland im 17. Jahrhundert (= Bonner Beiträge zur Bibliotheks- und Bücherkunde, Band 28), Bonn 1981, S. 54. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 86. Petersen, Christian: Geschichte der Hamburgischen Stadtbibliothek, Hamburg 1838, S. 8. Trotz ihres Alters ist Petersens Studie weiterhin grundlegend – eine neue Gesamtdarstellung der Geschichte der Hamburger Bibliotheken bleibt ein Desiderat, das jedoch aufgrund verschiedener Überlieferungslücken (Brand von 1842 etc.) kaum zu schließen sein wird; siehe auch: Gottsleben, Klaus: Führer durch die Hamburger Bibliotheken, Hamburg 1997, S. 347. Kayser, Werner: 500 Jahre wissenschaftliche Bibliothek in Hamburg. 1479-1979. Von der Ratsbücherei zur Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg 1979, S. 40. Petersen: Geschichte der Hamburgischen Stadtbibliothek, S. 26. Als ‚Rarität’ wird die Bibliothek noch in Periodika des frühen 18. Jahrhunderts beschrie-
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Bibliothek bereits über ca. 25000 Bände – nur unwesentlich weniger als die fürstliche Büchersammlung in Wolfenbüttel63 und weit mehr als beispielsweise die Bibliotheken der norddeutschen Nachbarstädte Lübeck und Bremen, die lediglich rund 8000 bzw. 6000 Bände umfasst haben sollen.64 Vor Happel gehörte Johannes Rist schon früh zum Benutzerkreis der Bibliothek,65 was deren anzunehmenden Rang für das literarische Leben und den entstehenden publizistischen Markt der Stadt unterstreicht. Eine weitere Bücherei existierte im Hamburger Dom; beide lokalen Ressourcen werden von Happel in den Relationes gegen 1684 in einem Themenkreis über die weltweit größten Bibliotheken erwähnt, wobei insbesondere der die Zeitgenossen beeindruckende Umfang der Stadtbibliothek hervorgehoben wird. So „[...] möchte man mir es vor eine Undanckbarkeit außlegen / wann ich nicht auch unserer Edlen Stadt Hamburg ein wenig gedächte. Hier sind 2 schöne Bibliotheken zu sehen / eine auff St. Johannis Gymnasio, welche nicht vor eine / sonder 2 oder gar 3 Bibliotheken passiren kan / allermassen sie mit verschiedenen vollen Bibliotheken in wenigen Jahren ist vermehret worden [...] Diese Bibliothek ist sonsten täglich zwey Stunden Vor- und Nachmittags einem jeden Liebhaber offen / und mag einer sich nach Belieben aller Bücher darauß bedienen. [...] Die andere Bibliothek stehet auf dem Thum allhier / hat gleichfalls sehr viel / insonderheit aber köstliche und rare Bücher / die man nicht allenthalben antreffen wird. [...] und stehet in der Woche zwey Stunden offen [...]“.66
Dass Happel die Verfügbarkeit öffentlicher Bibliotheken in Hamburg thematisiert, hatte seinen konkreten Grund. Auch wenn er es an keiner Stelle
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ben; so 1704 in der Curieusen Bibliothec: „Als nun endlich unser Paullini von Copenhagen wegzoge / besuchte er seine Bekandten in [...] Hamburg / in welcher letzten Stadt er sich etwas auffhielte und die rare Bibliothec zu S. Johannis nuetzlich gebrauchte“. Curieuse Bibliothec, [...] allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergötzlichkeit und Nachsinnen herausgegeben, Leipzig 1704, sechstes Fach, S. 606. In Barthold Feinds Fortsetzung der Relationes Curiosae (siehe Kapitel 8.3.) heißt es: „Diese Bibliothec ist [...] vor wenig Jahren erstlich durch den grossen Bücher-Vorrath des seel. Herrn Lic. Placii zu der Vollkommenheit angewachsen / in welcher man sie heute zu Tage sihet“. Feind: Relationes Curiosae, Hamburg 1707, S. 194. Burke zufolge verfügte die Bibliotheca Augusta im Jahre 1662 über rund 28000 Bände (den Angaben auf der Website der HAB zufolge sogar über 35000). Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 86. Voigt, Christian: Die Staats- und Universitäts-Bibliothek Hamburg – ihr Weg von der Gelehrtenbibliothek zur wissenschaftlichen Gebrauchsbibliothek, in: Voigt, Christian / Zimmermann, Erich (Hrsg.): Libris et Litteris. Festschrift für Hermann Tiemann zum sechzigsten Geburtstag am 9. Juli 1959, Hamburg 1959, S. 11-39, hier S. 25. Kayser: 500 Jahre wissenschaftliche Bibliothek, S. 45; siehe auch: Rist: Das AllerEdelste Leben, S. 146f. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die Holsteinische Bibliotheken“, Nr. 41, S. 332.
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erwähnt – oder in dem befürchteten Vorwurf der „Undanckbarkeit“ nur indirekt andeutet –, wären die Relationes Curiosae ohne den Unterbau der städtischen Bibliothekslandschaft nicht denkbar gewesen. Weil Happel auf die Verarbeitung tagesaktueller Publizistik weitgehend verzichtete, wird er in der Bibliothek seinen Arbeitsplatz gehabt oder hier zumindest die Masse seiner Quellen gefunden haben, aus denen er sein eigenes Periodikum zusammen trug. Die Relationes dezentralisierten das Wissen der Bibliotheken, indem Happel deren Bücherwelten zur Grundlage eines periodischen Projektes machte. Strukturell gesehen, wurde damit das Spektrum der aktuellen, aber schnell veraltenden Zeitungen in Wierings „Kram“ um ,nachhaltiges’ Buchwissen ergänzt. Mit den Relationes vermittelt Happel jedoch nicht nur wöchentlich Extrakte aus den Hamburger Bibliotheken. Darüber hinaus hatte er Zugriff auf eine der größten privaten Büchersammlungen der Stadt: auf die Bibliothek seines Freundes, des Senators und späteren Bürgermeisters Julius Surland (1657-1703).67 Dass Happel den Zugang zur Bibliothek als Privileg im Rahmen eines Mäzenatenverhältnisses schätzte, zeigt eine Widmung an Surland im Ungarischen Kriegsroman. Dankbar notiert Happel hier am 12. August 1685 in der „Zuschrifft“ an seinen „Best und Hoch-gelahrten Herrn“: „Wie lange Zeithero hat mir dero herrliche Bibliothec offen gestanden? Darinnen habe ich gesehen / gelesen / und zum öffteren consultirt / die entweder transferirte / oder in ihrer Original-Sprach beschriebene gelährte Lateiner / die spitzfündige Griechen / die tieffsinnige Spanier / die Sinnreiche Frantzosen / die subtile Niederländer / die berühmteste Italiäner / und die bekandtesten und besten Teuschen Scribenten. Diese Bibliothec wächset annoch täglich / und wird / meines Ermessens / dermaleins für eine von den curieusesten passiren können“.68
Hauptsächlich wird Happel das Material für sein Periodikums jedoch während der vier Stunden täglicher Öffnungszeit in der „Gemeinen Bibliothek“ gesammelt haben. Zusammenfassend wird deutlich, dass die Standortgebundenheit die Entstehung der Relationes Curiosae maßgeblich beeinflusste. Hamburg war im 17. Jahrhundert im kleineren Maßstab als die europäischen „Hauptstädte des Wissens“69 Paris, London oder Amsterdam Teil eines Geflechts der Auswei67 68
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Schuwirth: Eberhard Werner Happel, S. 34. Happel, Eberhard Werner: Der Ungarische Kriegs-Roman, Oder Außführliche Beschreibung / Deß jüngsten Türcken-Kriegs: Wobey Aller darinnen verwickelter Hoher Potentaten Länder / Macht / und Herrschafft / absonderlich aber eine curieuse Beschreibung von Ungarn / Persien / und Türckey / [...] Unter einer anmuthigen Liebes- und Helden-Geschichte [...] verfasset, Anderer Theil, Ulm 1685, Zuschrifft, unpag. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 80.
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tung des Handels, der Verdichtung von Wissen und Information und der Ausdifferenzierung der Medienlandschaft. In der führenden Pressestadt des Alten Reiches etablierten sich neue Trends rasch und neue Periodika wie die Relationes trafen auf eine weit entwickelte urbane Öffentlichkeit. Sie konstituierte sich, wie gezeigt, aus verschiedenen Teilöffentlichkeiten und Teilzentren wie der Börse – Schnittstellen gedruckter und mündlicher Kommunikation – und neuen Foren der Geselligkeit wie dem Kaffeehaus, wo Neues angeregt diskutiert und verbreitet wurde. Diese Hintergründe schufen einen ,Möglichkeitsraum’ auch im Hinblick darauf, dass in Hamburg zu einem frühen Zeitpunkt Lebensentwürfe denkbar waren, die von der Literaturgeschichte in aller Regel erst im 18. Jahrhundert verortet werden: die Etablierung der ersten hauptberuflichen Autoren. Sie waren nicht selten zugleich Dichter, ,Journalisten’ und Zeitungsredakteure.
2.2. Berufsschriftsteller und Dichter-Journalisten: Literarisches Leben in Hamburg Viele Reiseberichte des 18. Jahrhunderts schrieben den Topos der blühenden Reichsstadt fort;70 Hamburg erwies sich zunehmend als Magnet für Fremde und intellektuelle Eliten. Die Bedeutung des Orts für den Wirkungszusammenhang von weiter entfaltetem Pressewesen und literarischer Aufklärung darf als gut erforscht gelten.71 Früh- und Spätaufklärung in Hamburg verbinden sich vor allem mit den überragenden Namen Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) und Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), obwohl dieser nur drei Jahre in Hamburg lebte. Mit Lessing verbindet sich weiterhin auch das Urteil, entscheidend zur Veränderung der sozialen Grundlagen der Schriftstellerexistenz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beigetragen zu haben: Er verkörpert demnach erstmals den Typus des ‚freien’ Autors,72 der eine unabhängige Existenz als ‚Berufsschriftsteller’ 70
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Dazu: Griep, Wolfgang: „Die Handlung steht in Flor ...“: Über das Bild Hamburgs in Reisebeschreibungen aus dem 18. Jahrhundert, in: Stephan, Inge / Winter, Hans-Gerd (Hrsg.): Hamburg im Zeitalter der Aufklärung (= Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft, Band 6), Berlin 1989, S. 16-41. Besonders hinzuweisen ist hier auf die Arbeiten von Kopitzsch, Franklin: Aufklärung und Reform: Hamburg als Beispiel, in: Frühsorge, Gotthard / Klueting, Harm / Kopitzsch, Franklin (Hrsg.): Stadt und Bürger im 18. Jahrhundert, Marburg 1993, S. 56-65; Ders.: Die Aufklärung in Hamburg, in: Rausch, Wilhelm (Hrsg.): Städtische Kultur in der Barockzeit (= Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, Band 6), Linz 1982, S. 177-194. Grundlegend: Haferkorn, Hans J.: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: Lutz, Bernd (Hrsg.): Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750-1800, Stuttgart 1974, S. 113ff.
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bestritt. Die materielle Sicherheit wurde mit dem Verlust der intellektuellen Autonomie jedoch teuer erkauft, eine Situation, die generell kritisch reflektiert wurde73 – zum einen konnte auch im 18. Jahrhundert noch kaum ein Autor allein von der finanziell einträglichen Vermarktung seiner Schriften leben, unabhängig davon, ob er als Buchautor, Zeitungs- oder ‚Zeitschriften’-Redakteur tätig war. Ständig drohte die soziale Verelendung, vor der Lessing von Hamburg aus warnte.74 Zum anderen ging mit der allein literarischen Karriere auch ein sozialer Prestigeverlust einher, weil die unsichere Position des Autors innerhalb der starren Ständegesellschaft kaum geschätzt wurde.75 Schließlich täuscht das Attribut ‚frei’ nicht über die Abhängigkeit der literarischen Produktion von den Zwängen des Marktes hinweg – Rudolph Zacharias Becker (1752-1822) hielt 1789 diesbezüglich fest, dass „[...] er [der Schriftsteller] seine Werke zu einer Kaufmannsware machen und um Lohn arbeiten muß“;76 eine nüchterne Erkenntnis, die etwa ein Jahrhundert zuvor auch für Happel zutraf. Er machte keinen Hehl daraus, dass er die Erzeugnisse seiner Feder weniger nach den Prinzipien literarischer Selbstverwirklichung entwarf, sondern in erster Linie Produkte für den wachsenden Wissensmarkt und seine „curieuse“ Leserschaft liefern wollte (siehe Kapitel V). Schon diese Anmerkungen zeigen, wie sehr die historische Entfaltung von Berufen im Literatur- und Medienbetrieb „[...] im hohen Maße von außerliterarischen Bedingungen und Voraussetzungen [...]“77 des jeweiligen städtischen Umfeldes abhängig war. Insbesondere für das 17. Jahrhundert gilt jedoch, dass die sozialgeschichtlichen Grundlagen des Schriftstellerlebens und das kulturgeschichtliche Beziehungsgeflecht von Stadt und Literatur ebenso wenig untersucht sind wie jenes von Stadt und Publizistik.78 Bereits 1982 bemerkte Franklin Kopitzsch, dass die „[...] Übergangszeit vom Barock zur Frühaufklärung für die Entwicklung der freien Schriftsteller von einer bisher nicht genügend gewürdigten Bedeutung“79 sei. Dass die Stadt als 73 74
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Dazu: Münch, Paul / Kiesel, Helmut: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland, München 1977, S. 77ff. Am 26. April 1768 schreibt er an seinen Bruder: „Nimm meinen brüderlichen Rat, und gib den Vorsatz ja auf, vom Schreiben zu leben. [...] Sieh, daß du Sekretär wirst, oder in eine Kollegium kommen kannst. Es ist der einzige Weg, über lang oder kurz nicht zu darben. Für mich ist es zu spät einen andern einzuschlagen“. Zitiert nach: Kiesel / Münch: Gesellschaft und Literatur, S. 77f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 88. Tarot, Rolf: Stadt und Literatur im 17. Jahrhundert, in: Schöne (Hrsg.): Stadt – Schule – Universität, S. 3-9. Ausnahme: ebd. Kopitzsch: Sozialgeschichte der Aufklärung, S. 252.
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,literarischer Agent’ in der Forschung seit jeher zurückstand, bemängelte in Anschluss an Kopitzsch auch noch ein 1998 von Klaus Garber herausgegebener Band über Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit.80 Dieser Befund gilt bis heute: Die Stadt als bestimmender Faktor der Produktion, Distribution und Rezeption literarischer und publizistischer Kommunikation81 bleibt für die Zeit zwischen 1500 und 1800 vernachlässigt82 – insbesondere bezüglich jenes neuen Autorentypus, für den das Vermarkten seiner Werke in der Stadt selbst zur „ökonomischen Existenzgrundlage“83 wurde. Ziel des vorliegenden Abschnittes ist daher, das Phänomen des reinen ‚Berufsschriftstellers’ mit Happel ins späte 17. Jahrhundert ‚vorzuverlagern’.84 Zu fragen ist danach, welche Situation er in Hamburg vorfand und ob Vorläufer in der literarisch-publizistischen Szene der Stadt anzunehmen sind. Naheliegend ist, dass Happel angesichts seiner gescheiterten akademischen Vita und den unsicheren sozialen Optionen seine Chancen wohl gerade in Hamburg mit gutem Grund besonders hoch einstufte, sowohl mit Blick auf die Presselandschaft als auch mit Blick auf die Möglichkeiten als Buchautor. Obwohl unklar bleibt, welche konkreten Umstände Happel nach Hamburg brachten, dürfte feststehen, dass die Anziehungskraft der Stadt eine bestimmende Rolle spielte. Die Voraussetzungen für eine dynamische Entfaltung von Literatur und Presse waren günstig und wurzelten, wie angeführt, unter anderem schon in der Verfügbarkeit öffentlicher Bibliotheken und im expandierenden publizistischen Markt. Wer seine Schreibkraft gewinnbringend unterbringen wollte, wird in Hamburg gute Aussichten gehabt haben – kein klar geregelter Ausbildungsgang hinderte daran. Jene, die sich als Literaten oder Publizisten versuchen wollten, konnten sich frei entfalten, 80
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Garber, Klaus (Hrsg.): Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit, 2 Bände, Tübingen 1998; siehe hier den grundlegenden Problemabriss von Garber (S. 2-89): „Es gibt keine Arbeit aus der neueren Barockforschung, die sich [...] durchschlagend mit der Stadt im Kontext von Kultur und Literatur des 17. befassen würde“. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Im September 2009 hat eine internationale Konferenz dieses Desiderat für Hamburg erstmals geschlossen: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung 1500-1800, Universität Hamburg, 7.-10.9.2009. Schilling, Heinz: Stadt und Publizistik, in: Garber: Stadt und Literatur, S. 114-141, hier S. 119. Bemerkenswerterweise verweist Schilling auch auf Happel: „Selbst in Fällen, in denen das publizistische Oeuvre einzelner Autoren offensichtlich als ökonomische Existenzgrundlage gedient hat, mithin ein neuer Autorentypus entstanden ist, wie bei Praetorius, Greflinger oder Happel, liegen kaum Untersuchungen vor, und die wenigen, die es gibt, beschränken sich auf Einzelaspekte“. Ebd. Uta Egenhoffs Studie trägt den Begriff ‚Berufsschriftstellertum’ bereits im Titel. Es erstaunt daher besonders, dass der Begriff im Text weder erklärt noch historisiert wird. Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus.
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anders als etwa die Hamburger Maler, die ihre Kunst erst nach der Mitgliedschaft im hiesigen Maleramt ausüben durften.85 Auch war es – und hier ist die Diskrepanz zur Situation im 18. Jahrhundert besonders deutlich – durchaus möglich, als Schriftsteller öffentliches Ansehen zu erlangen und innerhalb des sozialen Gefüges der Stadt Fuß zu fassen.86 Dass Happel 1685 das Hamburger Bürgerrecht erwarb, mag daher nicht unwesentlich auf seinen beachtlichen Ruf unter den städtischen Autoren zurückzuführen gewesen sein. Mit typischem Understatement erwähnt Happel dieses Renommee nicht nur in den Relationes Curiosae, sondern auch in seinen Romanen, etwa im Spanischen Quintana von 1687. So würden ihn „[...] demnach andere Leute [...] unter die Gelährten mitzehlen wollen / ohnerachtet ich selber gestehe / dass meine Studia eben so gar hoch nicht gestiegen“.87 Spätestens seit den 1640er Jahren konnte Hamburg nicht nur als publizistisches Zentrum gelten, sondern auch als „Mittelpunkt barocker Poesie und der barocken deutschen Sprachbewegung“.88 Chronologisch an erster Stelle steht Philipp von Zesen89 (1619-1689), ein älterer Zeitgenosse Happels, der noch zeitgleich zu diesem in Hamburg wirkte. Ein persönlicher Kontakt zwischen Happel und Zesen ist nicht zu belegen, wenn er auch denkbar ist. Laut Wilhelm Kühlmann hat Zesen „[z]um literarischen Profil des Barockjahrhunderts [...] mit einer vielgestaltigen Lebensleistung beigetragen“,90 unter anderem als Autor einer der wichtigsten Barockpoetiken.91 Zesen ging Happel im Verfassen barocker Romane voran, während sein sonstiges, von Schäferdichtungen, Liedersammlungen und Poetiken dominiertes Œuvre kaum Überschneidungen zu Happel aufweist. Vor allem um die Sprachreinigung machte sich Zesen verdient: Zum Ziel des Gebrauchs der Volkssprache gründete er 1642 in Hamburg die „Teutschgesinnte Genossenschaft“.92 85
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Klessmann: Geschichte der Stadt Hamburg, S. 190; auch: Adam, Wolfgang: Urbanität und poetische Form. Überlegungen zum Gattungsspektrum städtischer Literatur der Frühen Neuzeit, in: Garber: Stadt und Literatur, S. 90-141, hier S. 109. Ebd. Happel, Eberhard Werner: Der Spanische Quintana, Oder So genannter Europaeischer GeschichtRoman, Auf Das 1686. Jahr: Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten [...] und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1686. Jahr passiret [...] in einer [...] Liebes- und Helden-Geschichte leß-würdig fürgestellet [...], Ulm 1687, S. 432. Krieger: Geschichte Hamburgs, S. 71. Aus der neueren Literatur: Bergengruen, Maximilian / Martin, Dieter (Hrsg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur, Tübingen 2008. Kühlmann, Wilhelm: Philipp von Zesen, in: Grimm, Gunter / Max, Frank Rainer (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren (Band 7: Vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts), Stuttgart 1990, S. 266-276, hier S. 266. Niefanger: Barock, S. 70. Dazu: Ingen, Ferdinand von: Die Erforschung der Sprachgesellschaften unter sozialgeschichtlichem
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Hier pflegte er vor allem Kontakt zu Johann Rist, der wenig später nach Hamburg übersiedelte (siehe unten). Nicht zuletzt bemühte sich die erste Hamburger Sprachgesellschaft um eine soziale Anerkennung ihrer Literaten, die ausschließlich bürgerlicher Provenienz waren93 – mit unmittelbarem Erfolg für Zesen selbst: 1677 beschenkte ihn die Stadt zum Geburtstag und gewährte damit die keineswegs selbstverständliche Anerkennung seiner Sprachgesellschaft.94 Zesen wird zudem immer wieder als der überhaupt erste ‚freie’ Schriftsteller angeführt.95 Ferdinand von Ingen bezweifelte dies jedoch schon 197096 – über Auftragswerke hinaus habe Zesen immer wieder Zuwendungen von Gönnern erhalten. Da keine Dokumente jenseits des Hochzeitsdatums und dem Erwerb des Bürgerrechts Happels Hamburger Zeit erhellen und Auskunft über etwaige Nebentätigkeiten geben, ist davon auszugehen, dass er der erste ‚Berufsschriftsteller’ der Stadt war, wenn auch aus der Not geboren. Um 1646 kam der Regensburger Dichter und kaiserliche Notar Georg Greflinger97 (1618-1677) nach Hamburg. Für den Zusammenhang von Literatur- und Pressebetrieb ist Greflinger besonders gewichtig, da er sich unter anderem als Zeitungsmacher einen Namen machte. Greflinger erwarb relativ bald das Bürgerrecht und schöpfte die literarisch-publizistischen Möglichkeiten Hamburgs voll aus, indem er verschiedene Betätigungsfelder miteinander kombinierte. In Personalunion war er Beamter (Notarius Publicus), Historiker (Der Deutschen Dreyssig-Jähriger Krieg, Hamburg 1657), Übersetzer, Autor vieler Gelegenheitsgedichte – und zugleich Herausgeber und Redakteur einer eigenen Zeitung. So ergänzte Greflinger ab 1664 den städtischen Blätterwald um eine eigene Zeitung, den Nordischen Mercurius. Ihre „avangardistische Qualität“98 liegt in pressegeschichtlicher Perspektive darin, dass Greflinger das Nachrichtenmaterial erstmals einer behutsamen redaktionellen Bearbeitung unterzog und solcherart frühe journalistische Maßstäbe etablierte.99 Damit verkörpert er beispielhaft den Mischtypus des „Dichter-
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Aspekt, in: Bircher, Martin / Ingen, Ferdinand von (Hrsg.): Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen, Hamburg 1978, S. 9-26. Kühlmann: Philipp von Zesen, S. 266. Breuer, Ingo: Literarische Sozietäten, in: Meier, Albrecht (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band 2), München 1999, S. 201-208, hier S. 206. So in: Szyrocki, Marian: Die deutsche Literatur des Barock, Stuttgart 1979, S. 176. Ingen, Ferdinand von: Philipp von Zesen, Stuttgart 1970, S. 15. Weiterführend: Dünnhaupt, Gerhard: Georg Greflinger (1620?-1677), in: Ders.: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, Band 3, S. 1680-1751. Böning, Holger: Wie man Leser glücklich macht, in: Die Zeit, 16.06.2005; http://www.zeit.de/2005/25/A-Zeitung. Ders. / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 21f.
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Journalisten“,100 der zu dieser Zeit wohl nur in Hamburg Fuß fassen konnte. Schon 1655 wurde Greflinger von seinem Freund Johannes Rist zum poeta laureatus gekürt. Mit Rist, der seit 1635 das Pastorat in Wedel unweit von Hamburg innehatte und daher ebenfalls über gesicherte Einkünfte verfügte, kam wenig später als Greflinger einer der bedeutendsten geistlichen Barockdichter in die Hansestadt. Rist gelang ein rasanter sozialer Aufstieg. 1650 hatte sich er zunächst als Gelegenheitsdichter im Dienste städtischer Repräsentation empfohlen101 und bereits 1663 stimmte er in den auch von Happel rezipierten102 Monatsgesprächen Elogen auf Hamburg an. Ein anfänglich freundschaftliches Verhältnis zwischen Rist und Zesen schlug jedoch bald in literarische Rivalität um, die Rist 1658 dazu brachte, in Konkurrenz zu Zesens „Teutschgesinnter Genossenschaft“ mit dem „Elbschwanorden“ Hamburgs zweite Sprachgesellschaft zu gründen. Wie Georg Greflinger, den er in seine Sozietät aufnahm,103 entspricht Rist dem Typus des „Dichter-Journalisten“: Seine fast zeitgleich mit Greflingers Zeitung erstmals publizierten Monatsgespräche stehen als publizistische Mischform zwischen Konversationsliteratur und monatlichem Periodikum, wobei sie bereits auf belehrend-unterhaltende Periodika vorausweisen. Schließlich war das Hamburger Milieu auch für den ersten Zeitungstheoretiker Kaspar Stieler (1632-1707) nicht unerheblich; er steht gleichfalls zwischen Presse und Dichtung: Stieler, wie Rist Mitglied der größten literarischen Sozietät des 17. Jahrhunderts, der „Fruchtbringenden Gesellschaft“,104 hatte seinen Lebensmittelpunkt zwar nicht in Hamburg. Jedoch besuchte er die Stadt mehrmals und ließ hier zwei seiner wichtigsten Schriften drucken – seine Sammlung weltlicher Lieder (Die Geharnschte Venus105) bereits 1660 sowie seine systematische Erstdarstellung des Zeitungswesens, Zeitungs-Lust und Nutz,106 im Jahre 1695 (siehe Kapitel 3.2.). Diese nur kursorischen Bemerkungen über die wichtigsten Figuren literarischen Lebens im Hamburg zu Happels Zeit täuschen nicht über den unzu100 101
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Kopitzsch: Sozialgeschichte der Aufklärung, S. 253. Dammann, Günter: Das Hamburger Friedensfest von 1650: Die Rollen von Predigt, Feuerwerk und einem Gelegenheitsgedicht Johann Rists in einem Beispielfall städtischer Repräsentation, in: Mayer, Inge (Hrsg.): Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen (= Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs, Teil 2), Hamburg 2004, S. 351-387. Zitiert etwa in: „Das wunderlich gestalte Satyrion“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 516. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 128. Breuer: Literarische Sozietäten, S. 202. Stieler, Kaspar: Die Geharnschte Venus oder Liebes-Lieder im Kriege gedichtet mit neuen GesangWeisen zu singen und zu spielen gesezzet nebenst ettlichen Sinnreden der Liebe [...], Hamburg 1660. Ders.: Zeitungs Lust und Nutz / Oder: [...] was bey deren Lesung zu lernen / zu beobachten und zu bedencken sey? [...], Hamburg 1695.
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reichenden Kenntnisstand bezüglich des Bedingungsgefüges von Stadt und Literatur hinweg. Jedoch konnten einige Faktoren und Kontexte erhellt werden, die Hamburg im späten 17. Jahrhundert zu einem der lukrativsten Orte für das Wagnis einer ‚freien’ Schriftstellerexistenz machten. Happel nahm sie als einer der ersten wahr – und wie Zesen und Rist brachte er es zu nicht geringem Ansehen. Dem Unkonventionellen und Alternativen dieses Lebensentwurfs versucht Happel in den Relationes mit dem Schein der Normalität zu widersprechen. In einem Artikel mit dem sprechenden Titel „Die ernährende Feder“107 hält er gegen 1685 fest: „Daß die Feder aber auch nähre / ist ohne allen Zweiffel / und niemand unwissend / ohne denen / die nie eine gesehen“.108 Tatsächlich dürfte Happel erfolgreicher als Zesen gewesen sein, weil er seinen Status eines „[...] wirklichen Sklaven der Feder [...]“109 produktiv zu wenden wusste – mit seinem Verleger Wiering reagierte er flexibel auf die Lektüreansprüche des städtischen Publikums und konnte sich als ‚Dienstleister’ auf dem Feld der Wissensvermittlung effizient verkaufen (siehe Kapitel V). Er reklamierte insofern nicht nur ein originäres Marktsegment für sich, sondern auch ein Selbstverständnis, das für Zesen, Rist und andere allenfalls randständig war. Ohne Zweifel lockte Hamburg Zugewanderte mit der Aussicht an, sich in der ausdehnenden Presselandschaft an eines der bestehenden oder gerade entstehenden Projekte angliedern zu können. Im folgenden Abschnitt soll daher ein Querschnitt durch das publizistische Programm des Verlages Wiering gegeben und gefragt werden, auf welchen Ebenen dieses Programms Happel tätig wurde.
2.3. Die Medientypologie im Verlag Wiering und Happels Rolle als Redakteur Die Skizze der Entstehungshintergründe der Relationes Curiosae wäre unvollständig ohne einen genaueren Blick auf das Verlagsangebot im „Güldenen ABC“. Was druckte und verlegte Thomas von Wiering „Bey der Börse“? Zu fragen ist also nach den spezifischen Publikationskontexten der Relationes. In zwei Schritten soll dabei Folgendes verdeutlicht werden: Erstens ist durch eine vergleichende Charakterisierung des von Wiering vertriebenen Medienspektrums, seiner Themen und Funktionen der Frage nachzugehen, wie Happels Periodikum innerhalb des Verlagssortiments zu verorten ist. Zweitens ergibt sich daraus weit deutlicher als dies bislang in der Forschung her107 108 109
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 24, S. 186f. Ebd., S. 186. Kühlmann: Happels „Academischer Roman“, S. 15.
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ausgestellt wurde, dass sich Happels Mitarbeit im Wiering’schen Verlag durch erstaunlich umfassende und tendenziell ‚multimediale’ Züge auszeichnete. So zeigen sich bemerkenswerte generative Vernetzungen in den von Happel bearbeiteten Medientypen. Grundstein und „Kernpunkt“110 des Erfolges von Wiering war die Herausgabe der Zeitung Relations-Courier111 seit 1674; ohne sie hätten sich die Relationes kaum etablieren können, da sie zunächst als wöchentliche Beilage zur Zeitung erschienen. Der schnelle Aufstieg des Relations-Couriers zu einem der beliebtesten Blätter Hamburgs verdankt sich Wierings Geschick, die Konkurrenz in gleich mehreren Aspekten zu überbieten: So erschien der Courier häufiger als andere Zeitungen (teils vier Mal wöchentlich), denen er somit einen höheren Grad an Aktualität voraus hatte. Hinzu kam der relativ niedrige Kaufpreis,112 der auch für die wöchentlichen Bögen der Relationes Curiosae anzunehmen ist, obwohl sich keine konkreten Angaben über den Preis von Happels Periodikum erhalten haben. Da der Relations-Courier inhaltlich auf einen primär kaufmännischen Rezipientenkreis zugeschnitten war,113 ist naheliegend, dass der Absatz des Blattes besonders von der direkten Nachbarschaft von Wierings „Kram“ zur Börse profitierte. Trotzdem traten im Vergleich zum bereits 1664 in Hamburg gegründeten Nordischen Mercurius, der Zeitung Georg Greflingers, wirtschaftliche Inhalte zurück. Stattdessen dominierten, wie in den damaligen Zeitungen üblich, auch in Wierings Courier politisch-militärische Themen, für die das späte 17. Jahrhundert genügend Stoff bot.114 Ein weiteres Charakteristikum kommt hinzu: Wie es für den Anspruch der frühen Zeitungsherausgeber typisch war,115 lassen Stil und Schreibweise des Relations-Couriers eine ‚redaktionelle’ Aufbereitung vermissen und folgen einer nüchternen, kommentarlosen Berichtsform. Ihre mediale Funktion lag vor allem in der reinen Information über das aktuelle Tagesgeschehen. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, besonders hervorstechende Ereignisse, die über den Status einer wenigen Zeilen langen Meldung hinausgehen und durch erweiterte Kommentierung und Kontextualisierung Ansätze einer ‚redaktionellen’ Leistung erkennen lassen. 110 111
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Kayser: Thomas von Wiering, S. 347. Wiering erhielt um 1673 vom Hamburger Senat die Konzession zum Zeitungsdruck. Das älteste erhaltene Exemplar des Blattes stammt aus dem Jahr 1674. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 69. Ebd., S. 70. Ebd. Exemplarisch erwähnt seien die wiederholt im Mittelpunkt des Medieninteresses stehenden ,Türkenkriege’ oder die ,Réunionskriege’ Ludwigs XIV. Dazu etwa: Weber, Johannes: Geburt und Entwicklung der modernen Zeitung im 17. Jahrhundert, in: Böning, Holger / Blome, Astrid (Hrsg.): Täglich neu!: 400 Jahre Zeitungen in Bremen und Nordwestdeutschland, Bremen 2005, S. 10-24, hier S. 16.
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Die Zahl der von Wiering beschäftigten Zeitungsschreiber und ‚Redakteure’ lässt sich nicht mehr bestimmen. In einem Exkurs ist an dieser Stelle jedoch die wiederholt aufgeworfene Frage zu diskutieren, ob Happel auch für den Relations-Courier schrieb, wenngleich diese Annahme durch keinerlei explizite Textzeugnisse zu stützen ist. Anders als ältere Positionen hält die jüngere Forschung eine Mitarbeit Happels an Wierings Zeitung für fraglich.116 Zieht man jedoch einen längeren Artikel im Relations-Courier von 1684 als Beispiel heran, lässt sich die Vermutung von Happels Verfasserschaft im direkten Text- und Stilvergleich mit den Relationes Curiosae auf zwei Ebenen plausibilisieren: zum einen durch die in beiden Fällen genannte Referenzliteratur und zum anderen durch charakteristische rhetorische Wendungen. Ausgangspunkt des Artikels aus dem Relations-Courier ist die „Moßkowitische Kälte“117 im Februar 1684. Im Bericht über die erstaunlichen Phänomene dieser Kälteperiode beschränkt sich der anonyme Autor nicht nur auf die Wiedergabe des Nachrichtenstoffes; diesen beglaubigt er vielmehr durch den Rückgriff auf ,gesichertes’ Buchwissen: Genannt wird die Autorität gewisser „Geographi und Historici“.118 Die hier nur angedeuteten Quellen119 – der Historische Blumengarten (1626) Antonio de Torquemadas (1507-1569), die Geographiae Universalis (ab 1678) des Kartographen Pierre du Vals (1619-1683), ein ungenanntes Werk des vielgelesenen Polyhistors Martin Zeiller (1589-1661) sowie ein vager Verweis auf Reiseberichte – bilden auch wiederkehrende Referenzen im bibliographischen Apparat der Relationes Curiosae.120 Selbst wenn die hohe Verbreitung der populären Werke in Rechnung gestellt wird, ist es unwahrscheinlich, dass neben Happel eine zweite Person in Wierings Verlag simultan die gleichen Quellen nutzte. Der Befund wird textlich zudem durch eine typische Wendung gestützt, mit der Happel auch in den Relationes die Reproduktion von Textabschnitten aus seinen Quellen kenntlich macht – „So weit gemelter Autor“.121 Erst durch den umfassenden Einsatz von ‚Redakteuren’ wie Happel wird es Wiering möglich gewesen sein, die Variationsbreite der angebotenen Me116 117 118 119
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Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 83. Relations-Courier, Nr. 10, 1. Februar 1684. Ebd. Zitiert und in Antiqua-Type hervorgehoben als: „Torqvemada in seinem HistorischenBlumengarten Dialogo 5. Pierre du Val schreibet [...]. Was sonsten die Kälte vor seltsame Würckung thut / kan man aus den Grünländischen und Spitzbergischen Schifffahrten zum Theil ersehen. Zeilerus schreibet [...]“. Relations-Courier, Nr. 10, 1. Februar 1684. Mit den „Schifffahrten“ bezieht sich der Redakteur / Happel wahrscheinlich auf diverse, im Hamburger Verlag Neumann verlegte Grönlandberichte und ,Walfang-Journale’. Du Val etwa im Artikel „Die grosse Glocke“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 39, S. 310. Relations-Courier, Nr. 10, 1. Februar 1684.
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dien über das Kerngeschäft mit der Zeitung hinaus auszudehnen. Durch ihre Hilfe und die Ausnutzung seines „[...] weit verzweigte[n] und international tätige[n] Korrespondentennetz[es]“122 ergänzte Wiering sein Programm schon kurz nach der Etablierung des Relations-Couriers durch Flugblätter und Flugschriften, so dass sich im „Güldenen A.B.C“ sukzessiv der Vertrieb eines weiten Medienspektrums entfaltete. Wie die Relationes Curiosae wenig später auch, reagierte die Fülle der von Wiering veröffentlichten Flugblätter, schriften und Broschüren auf die erweiterten Lektüreinteressen eines zunehmend heterogenen Publikums und stand im komplementären Verhältnis zur Zeitung;123 von deren thematischem Schwerpunkt wichen sie kaum ab – auch hier überwogen die politischen Stoffe. Wiering konzipierte dieses nicht-periodische Kleinschrifttum als funktionales Vertiefungsangebot zur Zeitung, indem das ,rohe’ Nachrichtenmaterial „[...] um spezielle ZeitDokumente zum weltgeschichtlichen Geschehen“124 ergänzt wurde. Nicht zuletzt wurden die Zeitungsmeldungen solcherart zum Gegenstand einer kommerziellen Zweitverwertung. Ab den späten 1670er Jahren publizierte Wiering Dutzende, vielleicht sogar Hunderte125 von Urkunden, Dekreten, Friedensschlüssen, Briefwechseln, Manifesten, Krönungspredigten, aber auch Verordnungen des städtischen Lebens. Da für die Lektüre dieser Texte ein gewisser Grad an Vorwissen vorauszusetzen war, adressierten die politischen Flugschriften eher ein gebildetes oder zumindest umfassend lesefähiges Publikum;126 anders die eher „populär gehalten[en]“127 Flugblätter, die im Relations-Courier – wie auch die Relationes Curiosae – beworben wurden und von denen Thomas von Wiering weit mehr als hundert gedruckt hat.128 Auch wenn die Autorenschaft im Einzelnen nur schwer zu belegen ist und Wierings Kleindrucke überwiegend anonym publiziert wurden, ist Happels Mitarbeit an Flugschriften und Flugblättern vor und während des Erscheinungszeitraumes der Relationes Curiosae sehr wahrscheinlich. So veröffentlichte Wiering im Jahr 1680 etwa einen großformatigen Einblattdruck129 zu einem im gleichen Jahr beobachteten Kometen, der zu einem erstrangigen 122 123 124 125
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Blome, Astrid: Tagespublizistik und Geschichtsschreibung (nicht nur) im 17. und 18. Jahrhundert, in: Böning / Gebhardt (Hrsg.): Deutsche Presseforschung, S. 49-63, hier S. 55. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 140. Kayser: Thomas von Wiering, S. 351. Die genaue Höhe ist aufgrund der hohen Verlustrate unter Ein- und Mehrblattdrucken nicht mehr zu ermitteln. Der Bestand des VD17 ordnet Thomas von Wiering für den Zeitraum 1673-1703 lediglich 42 Drucke der Gattung „Flugschrift“ zu. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 137. Kayser: Thomas von Wiering, S. 352. Ebd. Abriß und Beschreibung / Des in diesem noch lauffenden Jahre 1680. in Novemb. und Decemb. erschienenen sehr langen und erschrecklichen Cometen, Hamburg: Güldenes A/B/C, 1680.
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Medienereignis avancierte.130 Dass Happel auch hier als Verfasser in Frage kommt, begründet sich zum einen erneut durch charakteristische rhetorische Wendungen, die auch in den Relationes den imaginären Dialog mit dem Leser anleiten: „Mich deucht / der günstige Leser winke mir schon zu / ihme etwas mehrers hievon zu erzehlen“.131 Zum anderen legen die vergleichend referierten Quellen erneut die Handschrift Happels nahe, da diese (Athanasius Kircher, Caspar Schott etc.) auch in dessen Wochenblatt zahllose Male ausgewertet wurden (siehe Kapitel 4.4.). Anders als im Fall der Flugblätter schreibt zumindest das VD17 etliche von Wiering veröffentlichte Flugschriften der Feder Happels zu; der Grund dürfte Wierings erfolgreiche Strategie des mehrfachen ,Recyclings’ seiner Drucke sein: Die zunächst separat publizierten Flugschriften wurden später zu großen Teilen der bereits seit 1670 veröffentlichten Jahreschronik KernChronica der merckwürdigsten Welt- und Wunder-Geschichte einverleibt (siehe unten). Sie speiste sich ihrerseits aus den gesammelten Inhalten des RelationsCouriers und auch hier wird Happel als Autor vermutet. Für die Publikationszusammenhänge der Relationes Curiosae ist zunächst jedoch nochmals auf Happels Rolle in der Zeitungsproduktion zurückzukommen. So war er neben den Relationes Curiosae zeitweise nicht nur für den Relations-Courier tätig, sondern simultan, ab 1683, auch ,Redakteur’ zweier thematisch begrenzter „Serienzeitungen“;132 die erste entstand als Reaktion auf das einschneidende Zeitereignis der türkischen Belagerung Wiens im Sommer 1683, aus der Wiering unmittelbares Kapital zu schlagen wusste. Noch im September des gleichen Jahres kündigte er das wöchentliche Erscheinen einer zweiseitigen Zeitung an,133 die sich jeweils dienstags und donnerstags exklusiv mit türkischen Themen befassen sollte – parallel also zur bereits laufenden Publikation der Relationes Curiosae. Gegen Ende 1684 wurde die ,Türkenzeitung’ (Prange) eingestellt. Der Titel der als Buch zusammengebundenen Zeitungsausgaben134 lautet: 130
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Dazu weiterführend: Friedrich, Martin: Der Komet von 1680/81 im Urteil evangelischer Theologen, in: Mahlmann-Bauer, Barbara (Hrsg.): Scientiae et artes: Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik, Wiesbaden 2004, S. 411-423. Abriß und Beschreibung; in den Relationes etwa im Artikel „Die Abassenische Busse“: „Aber mich deucht / der Leser wincke mir / [...] daß ich ihm von [...] noch eine und andere Curiosität erzehle. Wohlan!“. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 64, S. 509. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 72. Dazu vor allem: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 193-198, hier S. 193. Der zweigleisige Vertriebsmodus der Zeitung verhielt sich analog zu dem der Relationes Curiosae. Dies belegt etwa eine werbende Bemerkung im Relations-Courier. Hier heißt es: „Es dienet hiermit zuwissen / daß wofern ein oder der ander / die bißhero Montags und Donerstags außgegebene Türckische Estats-Avisen / entweder gantz oder zum theil versamlet haben möchte / sie zu dem gantzen Werck den darzu verfertigten Titul / oder der
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Türckischer Estats-und Krieges-Bericht Oder eine kurtze und gründliche Beschreibung des Türckischen Kaysers / Groß und anderer Veziers / Militz / Land und Leuten / Gewonheiten / Krieges- und Lebens-Arth / Gewehr / Kleydung / und was davon ferner zu berichten nöthig. Bey Gelegenheit jetzigen Türckischen Krieges allen treuhertzigen Christen und ehrlichen Patrioten zur Nachricht auffgesetzet.135
Einerseits handelt es sich bei dem Periodikum um ein Derivat, da Wiering erneut eine Zweitverwertung der Nachrichten aus Wien betrieb, die zuvor bereits im Relations-Courier publiziert wurden.136 Andererseits deutet der Titel im Vergleich zur regulären Zeitung Wierings eine Ausdehnung des Themenspektrums an, speist sich doch der ,Nachrichtenwert’ fremder Länder nicht mehr allein aus dem Ausschnitt rezenter politischer Ereignisse, sondern aus einem umfänglicheren Interesse für die Kultur als Ganzes ([...] Land und Leuten / Gewonheiten [...]“). An dieser Schnittstelle zur frühen ,ethnographischen Reportage’ dehnt sich nicht nur die inhaltliche Bandbreite von Wierings Verlag weiter aus, sondern auch die Funktionalität des Mediums Zeitung: Neben die Information des Lesers treten gleichgestellt die Funktionen der Unterhaltung, der kommentierenden Belehrung und nicht zuletzt der Propaganda gegen den ,Erzfeind’.137 Da der Türckische Estats-und Krieges-Bericht ebenfalls aus anonymer Feder stammt, ist Happels Autorenschaft auch hier nicht eindeutig zu sichern. Elgar Blüm und Else Bogel haben sie jedoch über die Zusammenhänge der Text- und Bildvorlagen plausibel gemacht, die sich für die ,Türkenzeitung’ und spätere Werke Happels im Wieringschen Verlag rekonstruieren lassen.138 So wurden Passagen aus dem Türckischen Estats-und Krieges-Bericht in spätere monographische Werke Happels übernommen, die gleichfalls bei Wiering erschienen – so im Roman Ottomanischer Bajazet (1688).139 Zudem basieren die Illustrationen der ,Türkenzeitung’ auf den Holzschnitten der 1626 erstmals in Hamburg verlegten Wolgerissenen und geschnittene Figuren / zu Rosß und Fuß / sampt schönen Türckischen Gebäwen140 Mel-
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sie nicht zusammen hat / die ihnen noch ermangelnde Numers haben können / umb ein gantzes Buch daraus zu machen. Solch ein Buch ist [...] complet [...] vor 4 Marck zu bekommen / bey Thomas von Wiering [...]“. Relations-Courier, 1685, Nr. 5, 16. Januarius. Zitiert nach: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 193. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 72. Im nachgelieferten Vorwort der Zeitung kommentiert Wiering, dass „[...] der Hochmuth / Krieges- und Lebens-Arth der Türcken den Christen nicht länger verborgen bleiben [...]“. Zitiert nach: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 193. Blüm, Elgar / Bogel, Else: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Band 1, Bremen 1971, S. 257f. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 197. Lorich, Melchior: [...] Wolgerissene und geschnittene Figuren / [...] / sampt schönen Türckischen Gebäwden, Hamburg 1626; zu Lorich siehe jetzt grundlegend: Fischer, Erik: Melchior Lorck, 5 Bände, Kopenhagen 2009.
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chior Lorichs (1527-1583); zeitgleich zum Bajazet wurden die Holzschnitte auch für Happels kompendiöse Völkerkunde Thesaurus Exoticorum (1688) ausgiebig wiederverwertet.141 Wiering verfolgte damit nicht nur ein Recycling von Text-, sondern auch von Bildmaterial, das insofern medienübergreifende Züge trug, als es Monographien, periodische und nicht-periodische Drucke gleichermaßen umfasste. Am Anfang dieser Verwertungskette stehen jedoch die Relationes Curiosae. So bringt Happel schon vor Erscheinen der ,Türkenzeitung’ um 1682 im 54. Bogen seines Periodikums den Artikel „Der Türckische Bothen-Läuffer“;142 beigefügt ist der Nachdruck einer Illustration von Lorich, ohne diesen jedoch als Quelle zu nennen (Abb. 4). Ein Referenzwerk wird bibliographisch mit „Busbequius“143 im Artikel allerdings angeführt – die 1664 auf Deutsch veröffentliche Reisebeschreibung144 des flämischen Diplomaten und Orientreisenden Ogier Ghislain de Busbecq (1522-1592), die auch auf Latein, Tschechisch, Spanisch, Französisch und Englisch vorlag.145 Dass sich die ,Türkenzeitung’ rund zwei Jahre nach den Relationes Curiosae auf Busbecqs Text beruft,146 liefert ein weiteres Indiz für Happels Verfasserschaft auch dieser ersten Serienzeitung von Wiering. Ausgehend vom Befund einer ähnlichen Quellengrundlage von Relationes Curiosae und ,Türkenzeitung’ lässt sich über den generativen Zusammenhang beider Blätter Folgendes konstatieren: Mit den Relationes Curiosae hatten Wiering und Happel seit 1681 ein lukratives Format etabliert, das Modellcharakter für die Konzeption weiterer Periodika Happels hatte und mit der ,Türkenzeitung’ anlässlich rezenter politischer Ereignisse weiter ausgebaut wurde. Deutlich wird dies in der funktionalen, thematischen und programmatischen Ausrichtung der Medien: Die komplementäre Unterhaltungs- und Kommentarfunktion der ,Türkenzeitung’ gegenüber der reinen Informationsqualität des Relations-Couriers leistete man bereits mit den Relationes Curiosae. Vor allem aber thematisch ist eine Vorbildfunktion von Happels Wochenblatt insofern naheliegend, als die Relationes die Beschreibung anderer Länder nicht mehr auf den Ausschnitt politischer Geschehnisse beschränkten, sondern umfassendere ,ethnographische’ 141 142
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Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 145. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der Türckische Bothen-Läufer“, Nr. 54, S. 430. Der gleiche Artikel samt Bild wird auch für den Thesaurus Exoticorum (siehe unten) wiederverwertet. Ebd., S. 80. Ebd. Busbecq, Ogier Ghislain de: Vier Sendschreiben der Türkischen Bottschaft [...]: Darinnen viel politische Lehren / lustige Geschichte / philosophische Discursen [...], Nürnberg 1664. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 225. 1684 heißt es dort: „Ich kan bey dieser Figur unerinnert nicht lassen / was Busbequius von den Türkis. Bogen Schützen schreibet [...]“. Türckis Estats- und Krieges-Bericht, 1684, Nr. 38, S. 1f. Zitiert nach: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 195.
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Kategorien anlegen (siehe Kapitel 7.1.). Im Kontext von Wierings Verlagssortiment kam den Relationes zudem die initiale Rolle zu, die außereuropäische Welt erstmals in den Fokus der periodischen Publizistik gerückt zu haben. Happels Periodikum befriedigte damit zum einen die steigende Nachfrage nach dezidiert ‚welthaltigen’ Lesestoffen, zum anderen wird es konzeptionell ähnliche Projekte legitimiert haben, die sich inhaltlich dennoch nicht zu deutlich mit den Relationes überschneiden sollten: Während die Relationes einen Eindruck tendenziell aller Länder Außereuropas vermitteln, konzentriert sich Happel mit dem Türckischen Estats-und Krieges-Bericht auf die intensive Beschreibung lediglich eines Landes. Dass beide Blätter womöglich aber parallel bzw. in ergänzender Perspektive gelesen wurden, legt ein Brief des damaligen Hamburger Bürgermeisters Johann Schulte (1621-1697) nahe. An seinen in Lissabon als Kaufmann tätigen Sohn schreibt er im Jahr 1684: „[...] vnd sende Dir als hiebei die continuation von denen courieusen relationen [Relationes Curiosae, F.S.] vnd waß bißhero in denen Türckischen estats Sachen gedruckt worden“.147 Auch eine zweite, ab 1684 neben der ,Türkenzeitung’ angebotene Serienzeitung, die ebenfalls von Happel mit betreut wurde, ist zumindest partiell als ein Derivat der Relationes Curiosae einzustufen. Am 1. Januar 1684 kündigt Wiering im Relations-Courier an, dass der Türckische Estats- und Krieges-Bericht zwar fortgesetzt werde, dass man aber angesichts des Erfolges bereits an ein Anschlussprojekt denke: „Dem günstigen Leser muß auch unverhalten bleiben / daß / nachdem unsere wochentliche Türckische Estats- und Kriegs-Actiones von vielen Liebhabern des Lesens gewürdiget worden / wir dieselbe künfftig / mit Gottes Hülffe / zu continuiren entschlossen; Und wan die Türckische Materie zu Ende / so dann alle Nationes von der gantzen Welt / eine nach der andern vor die Hand nehmen / und bey einer wohlgethanen Figur mit einer wohlgefasseten Beschreibung erklären wollen / worauß mit der Zeit ein solches Werck erwachsen wird / daß von vielen gewünschet / aber niemahlen zu bekommen gewesen / von verschiedenen angefangen / und von keinem vollführet worden“.148
Mit Erscheinen der ersten Ausgabe ein Jahr später umreißt Wiering das Profil dieser Ausländischen Potentaten Krieges- und Stats-Beschreibung noch genauer. So sei man „[...] nun einmahl resolviret [...] / zu den übrigen Potentaten, Ländern und Nationen der gantzen Welt zu schreiten [...] dabey wird der Leser allemahl die gantze Beschaffenheit eines jeden Landes / als nehmlich dessen Situation und Gele147 148
Schulte, Johann: Briefe des Hamburgischen Bürgermeisters Johann Schulte Lt. an seinen in Lissabon etablirten Sohn Johann Schulte, geschrieben in den Jahren 1680-1685, Hamburg 1856, S. 34. Relations-Courier, 1684, Nr. 1, 1. Januarii.
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genheit / Früchte und Gewächse / berühmteste Stätte / Flüsse / nachbahren / Handel und Wandel / Gottesdienst / Regiment oder Policey / Macht zu Felde [...] zugewarten haben“.149
Wie der Titel der Zeitung andeutet, bilden politische Stoffe auch hier die Schwerpunkte der Berichterstattung, die sich wiederum aus der aktuellen Nachrichtenkorrespondenz Wierings speiste.150 Inhaltliche Parallelen zu den Relationes Curiosae zeigen sich in der geographisch umfassenden Perspektive, die gegenüber der ‚Türkenzeitung’ erneut geweitet wird – so sollten neben Persien auch Japan, China und Amerika in den Blick geraten.151 Die strukturelle Abhängigkeit dieser zweiten Zeitung von den Relationes zeigt sich darin, dass auch die Potentaten Krieges- und Stats-Beschreibung zum Teil auf Buchexzerpten (der Hamburger Bibliotheken) aufbaute. So würde „[...] alles und jedes genommen werden / auß den neuesten und accuratesten Beschreibungen / womit die Europäische Bibliotheken itzo ziemlich angefüllet sind“.152 Tatsächlich deckt sich der Quellengrundstock des wöchentlich zweimal publizierten Blattes exakt mit jenen Werken, über die bereits der Zusammenhang der ,Türkenzeitung’ mit den Relationes Curiosae nachzuweisen ist: Auch für die Potentaten Krieges- und Stats-Beschreibung wurden die Holzschnitte Melchior Lorichs noch einmal reproduziert,153 während sich Teile des Textes auf die Vorlage Busbecqs zurückführen lassen,154 auf den von Happel bereits für den Relations-Courier exzerpierten Martin Zeiller155 und den bedeutenden persischen Reisebericht von Adam Olearius (1603-1671)156. Dieser intertextuelle Verwertungszusammenhang lässt sich zudem auch in jenen Werken Happels beobachten, die von Beginn an in Buchform erschienen sind: So tauchen Textbausteine der zweiten Serienzeitung in der 1688 ebenfalls bei Wiering publizierten Völkerkunde Thesaurus Exoticorum wieder auf.157 Anders als vorige Periodika unter der Beteiligung Happels scheint die Potentaten Kriegesund Stats-Beschreibung jedoch nicht gewinnbringend gewesen zu sein – neben 149 150 151 152 153 154 155 156 157
Ausländischer Potentaten Krieges- und Stats-Beschreibung, 1685, Nr. 1. Zitiert nach: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 199. Ebd. Ebd., S. 201. Zitiert nach: Ebd., S. 200. Blühm / Bogel: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts, S. 260f. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 200. Ebd. Ebd. In der fünften Ausgabe der Serienzeitung vom 19. Januar 1685 findet sich beispielsweise eine Beschreibung Indiens, beginnend mit einer geographischen Positionsbestimmung: „Indien ist ein sehr grosses Land / und lieget zwischen dem 110 und 150 Grad [...]“. Exakt jene Passage wird von Happel im Thesaurus Exoticorum 1688 erneut verwertet. Ebd., S. 7.
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wenigen erhaltenen Ausgaben finden sich keine Hinweise über ein Fortbestehen des Blattes.158 Für Happels multiplen Einsatz im Wiering’schen Verlag ist schließlich noch ein Projekt erwähnenswert, das wiederum enorm lukrativ war und sich von den Relationes und den beiden Serienzeitungen dadurch abhob, dass es nicht auf Buch-, sondern auf Zeitungsextrakten fußte; zudem diente es als Zweitverwertung der zuvor separat vertriebenen Flugschriften und teilweise auch als Quelle der Relationes Curiosae: Ab 1676 erschien bei Wiering Des Couriers Historischer Kern159 – eine Chronik im jährlichen Rhythmus, die laut Böning „[...] zu einem der größten publizistischen Erfolge des 17. Jahrhunderts [...]“160 wurde und noch Jahrzehnte über Happels Tod hinaus fortgesetzt wurde. Durch Ansätze einer „[...] zusammenfassenden Interpretation der vergangenen Geschehnisse [...]“161 leistete der Historische Kern mehr als eine bloße Reproduktion der bereits im Relations-Courier veröffentlichten Meldungen. Zur Informationsfunktion der Zeitung trat durch die rückblickende Kontextualisierung der Nachrichten in größere Ereigniszusammenhänge die Funktion zeitgeschichtlicher Orientierung. Auch hier ist Happel als ‚Redakteur’ nicht sicher nachzuweisen, aber wahrscheinlich – allerdings veröffentlichte Wiering erst nach Happels Tod weitere Jahresbände der Chronik unter dessen Namen.162 Bemerkenswert sind die inhaltlichen Querverbindungen zu den Relationes Curiosae: Zwar liegt der Schwerpunkt des Historischen Kerns quellenbedingt auf politisch-militärischen Ereignissen, jedoch tauchen teilweise auch klassische Topoi der Sensationspresse auf – Unglücks- und Kriminalfälle oder auch Naturkatastrophen, unterhaltende Themen, die in den Relationes einen breiten Raum einnehmen. Die Analysen zur Verortung der Relationes im Medienspektrum Wierings und zur ‚redaktionellen’ Rolle Happels demonstrieren die eng abgestimmte Zusammenarbeit zwischen Autor und Verleger. Folgende Befunde lassen sich resümieren: 1. Vor dem Erscheinen der Relationes Curiosae war das Verlagsprofil über das lukrative Kerngeschäft mit dem Relations-Courier vom Vertrieb politisch-militärischer Informationen dominiert. Insofern lassen sich Wegbereiter und Vorläufer der Relationes auf der verlagsinternen Ebene ausschließen. Die Unterhaltungspresse jenseits gängiger Zeitungsstoffe und rein sachlicher Berichterstattung etablierte sich in Wierings Verlag erst mit Hap158 159 160 161 162
Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 201. Des Couriers Historischer Kern / oder Kürtze Chronica Der Merckwürdigsten Welt- und WunderGeschichte: Welche sich [...] von 1669 biß 1676 zugetragen [...], Hamburg 1676. Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 146. Ebd. Etwa: Des Historischen Kerns Oder so genandten kurtzen Chronica [...]. Des weyland Everhardi Guerneri Happelii [...] Chronica zur Nachfolge und Continuation [...], Hamburg 1695.
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pels Wochenblatt. Denn auch das übrige Kleinschrifttum Wierings mit ausdrücklichem Unterhaltungsanspruch wurde erst nach 1681 und somit nach den Relationes veröffentlicht. Dieser Neuerungsanspruch wird noch dadurch unterstrichen, dass Happels Periodikum die erste Publikation aus dem Sortiment von Wiering war, die sich schon mit dem plakativen Titel in die ausgeprägte „Curiositäten“-Kultur der Zeit einschrieb (siehe Kapitel 3.3.). Der umfassende Medienverbund163 im „Güldenen A.B.C.“ ebnete dem neuen Format jedoch den Weg, indem Wiering schon früh Erfahrung in der Produktion vielfältiger Beilagen und ‚Extrablätter’ gesammelt hatte – vor allem in Form von Einblattdrucken und Flugschriften. 2. Happels Periodikum differenzierte das Wiering’sche Verlagsprofil nicht nur funktional. Die Ausweitung vollzog sich zudem in thematischer und struktureller Hinsicht, da Happel mit den Relationes erstmals auf die Ressourcen eines breiten Buchwissens zurückgriff. Erst durch die Auswertung von maßgeblichen Reiseberichten wurde die außereuropäische Welt im Verlag Wiering erstmals zu einem gewichtigen Thema – Wierings Erben profilierten den Verlag im 18. Jahrhundert schließlich noch weit deutlicher über die Reiseliteratur.164 Diese erfolgreiche Expansionsstrategie hatte Auswirkungen auf folgende Serienzeitungen und monographische Werke Happels, der marktorientiert und innovativ zugleich produzierte. 3. Das ‚generative’ Geflecht der Medien konnte über quellenbedingte und intertextuelle Verknüpfungen rekonstruiert werden: Werke aus dem bibliographischen Apparat der Relationes finden sich simultan oder wenig später in der ‚Türkenzeitung’ und der Potentaten Krieges- und StatsBeschreibung referiert und exzerpiert. Für die effiziente Produktion seines Wochenblattes wird sich Happel demnach einen Grundstock an Quellen angeeignet haben, der in den 1680er Jahren auch das ‚Rohmaterial’ für die Komposition und Kompilation immer neuer Projekte aus seiner ‚Schreibfabrik’ stellte – etwa für seine völkerkundlichen und kosmographischen Einzeldarstellungen und wahrscheinlich auch für seine Romane (siehe unten). So findet sich wohl nicht zufällig kurz nach Einstellung der ‚Türkenzeitung’ im Ungarischen Kriegsroman eine curieuse Beschreibung der Türkei und der jüngsten kriegerischen Ereignisse;165 in deren Schilderung wird Happel noch 163
164 165
Das differenzierte Profil von Wierings Verlag belegt exemplarisch die Einschätzung von Wolfgang Behringer zum frühneuzeitlichen Medienverbund: „Nachrichten-Übermittlung und -verarbeitung, Buch- und seit dem 17. Jh. Zeitungs- und Zeitschriftendruck, Buchund Zeitschriftenhandel und -versand [...] hingen nicht nur jeweils eng zusammen, sondern wurden auch oft von denselben Personen betrieben [...]“. Behringer, Wolfgang: Artikel Kommunikation, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 7, Sp. 995-1018, hier Sp. 1012f. Kayser: Thomas von Wiering, S. 361. Bereits im Titel: Happel, Eberhard Werner: Der Ungarische Kriegs-Roman, Oder Außführliche Beschreibung / Deß jüngsten Türcken-Kriegs: Wobey Aller darinnen verwickelter Hoher Potentaten
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einmal auf seine bereits für die periodische Produktion genutzten Exzerpte zurückgegriffen haben. Diese Methode des mehrfachen Recyclings von Texten und Themen ermöglichte einen enormen Output, um den Preis jedoch, dass sich Happel nicht zuletzt selbst kopierte, was er durch ausbleibende textliche Querverweise jedoch zu kaschieren wusste. 4. Die Verwertung eines flexiblen Literaturfundus verdeutlicht Happels produktive und medial übergreifende Rolle im Wiering’schen Verlag: Neben den Relationes und den selbständigen Monographien war er ‚redaktionell’ auch am Relations-Courier beteiligt, an der chronikalischen Produktion, den Serienzeitungen, Flugblättern und Flugschriften.
2.4. Barocke Wissensarchive: Die Relationes Curiosae im Kontext von Happels Œuvre Die Befunde über die engen Verzahnungen im publizistischen Spektrum von Wierings Verlag sind symptomatisch für die übrigen Medien und Gattungen in Happels Gesamtwerk; sie stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Abschnittes. Im Folgenden wird versucht, die Relationes im Gesamtwerk Happels zu verorten, indem Parallelen und wechselseitige Zusammenhänge von Medien und Wissensformen akzentuiert werden – so ist der Romancier Happel vom Publizisten und Kosmographen Happel nicht trennbar. Hervorzuheben ist einerseits: Wie sich Zeitungen und neuartige Periodika im späten 17. Jahrhundert gattungstypologisch noch nicht klar abgrenzen ließen und sich vielmehr durch mediale Nähe auszeichneten, so repräsentieren auch die Relationes, die Romane Happels, seine Kosmographie und die Völkerkunde zu Teilen analoge Wissensformen; mit Blick auf den Roman noch anders formuliert: Wie Happel mit den Relationes in einem Format experimentierte, das im zeitgenössischen Mediensystem noch nicht verankert war, so zeigte sich auch das poetologische Programm des Romans im Barock noch offen für Mischformen von Erzähl- und Wissenskonzeptionen, die zwischen fiktionalem und ‚faktographischem’ Anspruch changierten. Dieser verwickelten und heterogenen Formenvielfalt würde eine anachronistische Rückprojektion heutiger Gattungsschemata nicht gerecht.166 Abermals sind hier Einblicke in die Arbeitsweise des Vielschreibers möglich: So zeigt sich mit Blick auf die textuellen Verwertungszusammenhänge erneut eine gemeinsame Quellengrundlage, wie sie oben bereits für den Verbund verschie-
166
Länder / Macht / und Herrschafft / absonderlich aber eine curieuse Beschreibung von Ungarn / Persien / und Türckey [...] vorgenommen und erhalten haben, Ulm 1685f. So mit Blick auf Happel auch: Meyer: Die Studien und Wanderjahre des Polygraphen Eberhard Werner Happel, S. 292.
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dener Periodika aufgezeigt wurde. Auch hier gilt, dass Happel für eine effiziente wie zeitsparende Produktion nicht mehr nur aus Primärquellen abschrieb, sondern zunehmend auch aus den eigenen Texten: Wie die Relationes ohne die ab 1673 entstandenen und dann parallel zum Periodikum produzierten Romane Happels nicht denkbar waren, so profitierten die Romane ihrerseits von den Inhalten der Relationes. Ähnliches gilt für die später veröffentlichte Kosmographie und die Völkerkunde. Was in Happels Œuvre verschiedene Medien (Periodikum und Buch), Textsorten (informative, belehrende und unterhaltende) und Textgattungen zusammenhält, ist das Kernanliegen, das Wissen der Zeit zu inventarisieren und verfügbar zu machen (siehe auch Kapitel 4.1.). Nach dieser Prämisse modelliert Happel auch von Beginn an seine Romanproduktion. Die Parallelen – und Differenzen – zu den Relationes sollen im Folgenden durch die exemplarische Analyse zweier Romantypen Happels herausgestrichen werden: am älteren ‚geographischen Informationsroman’ sowie an den ab 1685 erscheinenden ‚Zeitungs- und Geschichtsromanen’. In beiden Fällen gibt jüngere Forschungsergebnisse: Zum ersten Typus legte Stefanie Stockhorst die erwähnte Neuedition des Insularischen Mandorell167 vor, den zweiten Typus erschließt Gerhild Scholz Williams aktuell in einem größeren Forschungsprojekt, aus dem bereits einige Ergebnisse veröffentlicht wurden.168 Nach dem strukturellen und inhaltlichen Vergleich der Romane mit den Relationes Curiosae werden in einem weiteren Schritt die gleichen Fragen an die Kosmographie Mundus Mirabilis Tripartitus und die Völkerkunde Thesaurus Exoticorum gestellt. 1. Der ‚geographische Informationsroman’: Das von Gerd Meyer geprägte Etikett169 verweist pointiert auf die doppelte Funktion und den thematischen Zuschnitt dieses Romantypus. So zeigt bereits der vollständige Titel von Happels frühestem Roman aus dem Jahr 1673 (zugleich sein überhaupt erstes Werk), dass die narrative Rahmenhandlung lediglich als Gerüst für die Vermittlung geographischen Wissens dient: Der Asiatische Onogambo / Darin der jetzt-regierende Kayser Xunchius. Als ein umbschweiffender Ritter vorgestellet / nächst dessen und anderer Asiatischer Printzen LiebesGeschichten und ritterlichen Thaten / auch alle in Asien gelegene Königreiche / und Länder / sampt deren Beschaffenheit / Ordnung ihrer Regenten / und deren vornehmsten Thaten etc. kürtzlich mit eingeführet (Hamburg 1673). 167 168
169
Stockhorst, Stefanie (Hrsg.): Eberhard Werner Happel: Der Insulanische Mandorell (1682). Scholz Williams, Gerhild: Staging News, in: Schock / Bauer / Koller und metaphorik.de (Hrsg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit, S. 369-389; Dies.: A Novel Form of News. Fact and Fiction in Happel’s Geschicht-Romane (Der Teutsche Carl – Der Engelländische Eduard – Der Bäyerische Max [1690-1692]), in: Daphnis 37, 2-3, 2009, S. 523-547. Meyer: Nachwort, in: Könnecke: Lebensbeschreibung des Eberhard Werner Happel, S. 99.
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Zwei Momente weisen auf die Relationes voraus: Erstens antizipiert der Onogambo mit seinem Fokus auf Außereuropa einen thematischen Grundzug von Happels Wochenblatt. Zweitens konkretisiert sich die inhaltliche Verwandtschaft von Roman und Periodikum in der identischen Quellengrundlage: Dass der Onogambo nicht das alleinige Produkt der ‚Erfindungskraft’ des Autors ist, lässt Happel nicht unerwähnt und legitimiert diese Entscheidung mit einem strategischen Argument: Der Plan ist, kostenintensives (Buch)Wissen verfügbar zu machen, weniger, allein eine selbst erdachte Geschichte zu erzählen. So sei die „[...] Chinesische Beschreibung [...] fast von Wort zu Wort auß des Neuhofs Gesandtschafft genommen / weil selbige und andere Holländische von dergleichen handelnde Bücher / welchen der Kostbarkeit nicht in jedermanns Hände kommen“.170 Der einflussreiche Reisebericht Die Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft171 (1666) des Niederländers Joan Nieuhof (1618-1672) wird später auch in den Relationes zu einer der zentralen Autoritäten im Hinblick auf das Wissen über Asien (siehe Kapitel 7.1.4.). Happels konzeptionelles Schema, den Roman zum „Vehikel für Wissensdinge“172 zu machen, zeigt sich noch klarer im Titel eines 1682 veröffentlichten Werks: Der Insolarische Mandorell, Ist eine Geographische, Historische und Politische Beschreibung. Aller und jeden Insulen Auff dem gantzen Erd-Boden / vorgestellet in einer anmüthigen und wohlerfundenen Liebes- und Heldengeschichte: worbey auch sonsten allerhand schöne Discurse und Materien, insonderheit der Uhrsprung der so genannten Romanen, gründlich und in einer guten Teutschen Redens-Arth an- und außgeführet werden. Alles genommen auß den bewehrtesten so neuen als alten Scribenten (Hamburg 1682).
Auch hier findet sich der entscheidende Hinweis, dass der Roman weniger der Phantasie des Autors geschuldet ist denn der Auswertung einer breiten Quellengrundlage – genommen auß den bewehrtesten so neuen als alten Scribenten (siehe Kapitel 4.3.). Der aus dieser Strategie erwachsende Anspruch über Aufgaben und Funktionen des Romans wird im Werk auch theoretisch reflektiert: Wie im Titel des Mandorells angedeutet, liegt Happels Beitrag zur zeitgenössischen Romandiskussion darin, dass er den Traitté de l’origine des romans (1670) von Pierre Daniel Huet (1630-1721) ins Deutsche übersetzte.173 Einem der Protagonisten seines Romans legt Happel die Theorie Huets in den Mund. Sie zeigt einmal mehr, dass der Roman gattungstheoretisch noch nicht kanonisiert war und sich daher auch an der Funktionsbe170 171 172 173
Happel: Der Asiatische Onogambo, Vorrede, Bl. 1v. Nieuhof, Joan: Die Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft in den Vereinigten Niederländern / [...] Darinnen begriffen Die aller märkwürdigsten sachen [...], Amsterdam 1666. Meyer: Die Studien und Wanderjahre des Polygraphen Eberhard Werner Happel, S. 265. Näheres: Stockhorst: Nachwort, in: Dies. (Hrsg.): Happel: Der Insulanische Mandorell, S. 638ff.
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stimmung ,faktischer’ Wissensliteratur orientieren konnte. In Happels Übersetzung: „Den vornehmsten Zweck der Romanen / oder welches zum wenigsten derselbe sein solte [...] / ist die Unterrichtung in einigen Dingen oder Wissenschafften / da man dan allemahl die Tugent rühmen und das Laster straffen muß“.174 Dieses theoretische Postulat realisiert Happel im „[...] Erfolgskonzept des polyhistorischen Liebes- und Abenteuerromans [...]“175 – eine eigenwillige Mischform aus ‚hohem’, höfisch-historischem Roman und universaler Gelehrsamkeitsdemonstration, die als realienkundliches Kompendium strukturell nahe an die Relationes Curiosae heranrückt. So wird die Romanhandlung im Mandorell „[...] zwischendurch immer wieder [durch] oft handlungslogisch völlig unmotivierte populärwissenschaftliche Digressionen insbesondere zu den Gebieten der Historie und der Geographie gleichsam collagenartig [...]“176 angereichert. Das Kompositionsprinzip einer dauernden Einmischung von Wissensexkursen in das fiktionale Rahmengeschehen folgte einem ‚Baukastenprinzip’ und optimierte die produktiven Arbeitsabläufe des Schreibenden: Für sein Periodikum konnte Happel die allerhand schönen Discurse und Materien dann erneut verwerten und vice versa dienten die Relationes als Fundus späterer Romane.177 So finden sich im Mandorell neben einer Enzyklopädie außereuropäischer Inseln viele Einlassungen zu exotischen Weltgegenden,178 etwa zum indischen Mogulreich unter Aurangzeb (1658-1707), dessen legendäre Prachtentfaltung zu einem Topos zeitgenössischer Asienberichte wurde. Auch in den Relationes taucht das Aurangzeb wiederholt als Faszinosum auf.179 Dass Happel zeitgleich an seinen ‚Wissensromanen’ und den Relationes schrieb, schlägt sich ebenfalls in einer vergleichbaren Quellengrundlage nieder; im Mandorell ist es eine wahllose Mixtur „[...] aus antiken und neuzeitlichen, fiktionalen und faktualen, biblischen, mythologischen, monographischen und enzyklopädischen Quellen“.180 Neben Plinius’ Historia Naturalis zitiert Happel etwa den antiken Geographen Strabon oder die zeitgenössischen Wissenschaftsgröße Athanasius Kircher181 – Auto174 175 176 177
178 179 180 181
Happel: Der Insulanische Mandorell, S. 433. Stockhorst: Nachwort, S. 649. Ebd., S. 650. Diese strukturelle Verwandtschaft zeigt sich bereits auf der Titelebene: Wie die Relationes im Umfeld der „Curiosität“ (siehe Kapitel 3.3.) mit den semantisch synonymen Etiketten der „Denk- und Merkwürdigkeiten“ für sich werben, so hebt auch die Titelei der meisten Romane darauf ab, „Curiose Begebnüsse“ sowie Denk- und Merkwürdigkeiten zusammenzutragen. Stockhorst: Nachwort, S. 654. Etwa im Artikel „Der Hersch-süchtige Aureng-Zeb“. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 25, S. 201. Stockhorst: Nachwort, S. 650. Ebd.
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ritäten, die auch das Schreiben in den Relationes wesentlich anleiten (siehe Kapitel 4.4.). 2. Der ,Zeitungs- und Geschichtsroman’: Speziell der zweite Romantypus demonstriert als Synthese aus Zeitungsextrakten und fiktiver Romanhandlung einmal mehr die prinzipielle Nähe verschiedener Wissens- und Medienformen in Happels Œuvre; sie war historisch ohne Vorläufer. Die wesentliche Differenz dieser zweiten Gruppe gegenüber den ‚geographischen Informationsromanen’ und den Relationes liegt im Element der Aktualität: Zusätzlich zu jenen Passagen, die Happel aus Büchern exzerpierte, verarbeitete er relativ rezente Zeitungsnachrichten (unerwähnt bleibt allerdings, um welche Blätter es sich handelt) und rückte den Text damit an den ‚Tagesjournalismus’ heran. Zu seinem letztem Werk dieses Musters, dem posthum publizierten Engelländischen Eduard182 (1691), bemerkt Gerhild Scholz Williams: „Happel offers his audience, alongside engaging ephemeral fictions and intertwined with the comings and goings of the novels’ characters, news from and about the real world, information gleaned from many sources, specifically from newspapers variously identified as Zeitungen, Avisen, and Relationes. He confidently and diligently gathers such news items, using them to fashion a frame into which he places the mix of fact and fiction that makes up his novels“.183
Die strukturelle Differenz ist bemerkenswert, da die genannten Zeitungen, Avisen und Relationen in den Relationes insgesamt eine nur untergeordnete Quellengruppe darstellen, obwohl ihre weitgehende Ausklammerung an keiner Stelle konzeptionell begründet wird. Mit Blick auf die Produktion des neuen Romantypus war eine nochmalige Verwertung der von Happel selbst produzierten Zeitungen und Chroniken wie Des Couriers Historischer Kern als ökonomisches Motiv mit ausschlaggebend, wenngleich die Romane größtenteils in Ulm und nicht in Hamburg verlegt wurden. Ab 1685 erschienen in jeweils vierteljährlichem Rhythmus Romane, die vor allem ereignisgeschichtliche Highlights des laufenden bzw. vorhergehenden Jahres verarbeiteten;184 mit Abstrichen allerdings: In der Vorrede des 1685 begonnenen Italienischen Spinelli merkt Happel an, dass der Erscheinungsrhythmus entscheidend von 182
183 184
Happel, Eberhard Werner: Der Engelländische Eduard, Oder so genannter Europaeischer Geschicht-Roman, Auf Das 1690. Jahr: In welchem Neben deß Königreichs Groß-Brittannien Merckwürdigkeiten / die Denckwürdigste Kriegs- und Politische Staats-Sachen / Wunder-Geschichten [...] nach Weise der vorigen Geschicht-Romanen / beschrieben wird [...], Ulm 1691. Scholz Williams: Staging News, S. 361. Im Italienischen Spinelli heißt es: „[...] und gehet mein Concept dahin / dass / [...] alle Quartal oder Viertel-Jahr ein Theil davon in dieser Grösse herauß soll gegeben werden“. Happel, Eberhard Werner: Der Italiänische Spinelli, Oder So genanter Europaeischer Geschicht-Roman, Auff Das 1685. Jahr: Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten [...] in einer [...] Liebes- und Helden-Geschichte anmüthig fürgestelt [...], Ulm 1685f., Vorrede, unpag.
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der Nachrichtenlage abhängig sei: „[...] und man wird zwar in diesem ersten Theil [des Romans, F.S.] wenige Geschichten dieses Jahres finden / weil in den kalten Winter-Tagen selten etwas Hauptsächliches vorfället / dass man demnach den Winter das Tempus Deliberativum und den darauf folgenden Sommer das Tempus Activum nennen möchte / weil man dasjenige bey warmen Tagen in freyen Felde außzuführen pfleget / was man vorher in den eingehitzten Estaats-Cabinetten beschlossen und abgehandelt hat“.185
Als Romane mit chronikalischem Zuschnitt bilden die „Geschicht-Romane“ in gewisser Weise ein Pendant zur Form der zeitgeschichtlichen Chronistik, die ebenso auf den Zeitungen und anderen publizistischen Quellen aufbaute – neben dem prominenten Theatrum Europaeum gehört auch des Des Couriers Historischer Kern zu dieser Gattung.186 Der erste der „Geschicht-Romane“, Der Ungarische Kriegs-Roman, Oder Außführliche Beschreibung / Deß jüngsten Türcken-Kriegs (Ulm 1685f.), brachte es, wie die folgenden Werke auch, auf insgesamt über 1500 Seiten im Oktav-Format. In der Vorrede rekurriert Happel auf die Synthese aus einem zeitgeschichtlichen „Journal“ und offensichtlich bewährter fiktionaler Rahmung: „Selbiger [Roman] dienet zu einem absonderlichen Journal, als darin der jüngste Türcken-Krieg sehr genau und nach den merckwürdigsten Umständen beschrieben ist / nach meiner gewöhnlichen Romanischen Erfindung / welche dem geneigten Leser noch allemal gefalle hat“.187 Im Italiänischen Spinelli reproduziert Happel noch einmal die bereits im Mandorell angeführte Romandefinition als Medium zur „[...] Unterrichtung in einigen Dingen oder Wissenschafften [...]“.188 Konkretisiert wird diese funktionale Bestimmung noch durch eine zielgruppenspezifische Ergänzung: In Form eines gefälligen, ‚romanisierenden’ Prosa-Stils seien gerade jüngere Leser zum mühelosen Lernen von Gegenständen angehalten, die sie auf anderem Wege kaum erreicht hätten.189 In der „[...] at times confusing structure“190 des Engelländischen Eduard sind das etwa detaillierte Exkurse zu Politik, Krieg, Wirtschaft, Wissenschaft, der Abdruck von internationalen Verträgen und sonstigen diplomatischen Dokumenten – auf den 185 186 187 188 189
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Happel: Der Italiänische Spinelli, Vorrede, unpag. Dazu: Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 145ff. Happel: Der Ungarische Kriegs-Roman, Vorrede, unpag. Ders.: Der Italiänische Spinelli, Vorrede, unpag. „[...] es werde dieser Europaeische Geschicht-Roman, wofern man sich an seine Continuation hält / insonderheit der lieben Jugend zu grossem Nutzen gereichen / als welche durch die liebliche Romanische Schreib-Art ohne Verdruß / und vielmehr zu ihrer höchsten Vergnügung hinter viele Dinge gelanget / welche derselben sonsten ohne Mühe schwerlich hätten können beygebracht werden“. Ebd. Scholz Williams: Staging News, S. 363.
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Wiering ohnehin schon spezialisiert war –, Passagen zu höfischen Hochzeiten, Geburten und Todesfällen, Phänomenen des allgemein Wunderbaren und moralischen Fragen des Alltagslebens. Wie Gerhild Scholz Williams gezeigt hat, will sich Happel damit zum einen als Stofflieferant für eine Leserschaft empfehlen, die fähig ist, zwischen Fiktion und Fakt zu differenzieren.191 Bereits im Spinelli erwartet er vom Leser: „Was Romanische Außzierungen / und was warhaffte Geschichten [...] / wird aus dem Tractat selbst zur Gnüge erhellen [...]“.192 Zum anderen sieht sich Happel durch die Einbindung von Zeitungsnachrichten in die fiktionale Rahmung kaum mehr als Romancier, sondern bereits auf der Schwelle zur Geschichtsschreibung. Wie die Zeitungsschreiber des Jahrhunderts stilisiert er sich als Anwalt einer „unpartheyischen“ Feder und legitimiert in der Vorrede des Eduard sein Programm wie folgt: „Es bleibet aber der Author nicht nur bey der blossen Romanisierung; sondern ist bemühet / unter diesem Liebes- und Helden-Gedicht / auch die vornehmste Handlung und Verrichtung so wol in Kriegs- als auch in andern Sachen [...] ohne Zusatz / oder Jemanden Nachtheil / wie es einem Historico geziemet / Unpartheyisch [...] mit einzuflechten“.193
Noch deutlicher formulierte Happel die Indienstnahme des Romans für historiographische Zielsetzungen bereits fünf Jahre zuvor im ersten Teil des Spanischen Quintana.194 Hier heißt es: „Die Historie ist ein solch nützlich Werck / daß wir ohne diesselbe / wie blinde Leute / gleichsam im Finstern tappen würden / darum ist es hoch nöthig / daß man die Geschichten unserer Zeit fleissig auffzeichne / welches von diesem auf diese / von jenem auf eine andere Weise geschiehet. Ich habe mir die Romanische Weise hiebey am bequemsten düncken lassen [...]“.195
Doch will er mit seinem Konzept jenen, „[...] so die Historie eines jeden Jahrs ex professo [...]“196 und damit in „weitläufftigen Umständen“197 schreiben, nicht ins Amt fallen. Auch in paratextuellen Elementen zeigt sich eine Verwandtschaft zwischen den Romanen und den Relationes. Hinsichtlich ihrer Erschließung 191 192 193 194
195 196 197
Scholz Williams: Staging News, S. 362. Happel: Der Italiänische Spinelli, Vorrede, unpag. Ders.: Der Engelländische Eduard, Vorbericht, unpag. Ders.: Der Spanische Quintana, Oder So genannter Europaeischer Geschicht-Roman, Auf Das 1686. Jahr: Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten / von Wundern / Krieg / Estats-Sachen [...] in einer [...] Liebes- und Helden-Geschichte leß-würdig fürgestellet [...], Erster Teil, Ulm 1686. Ebd., Vorrede, unpag. Happel: Der Italiänische Spinelli, Vorrede, unpag. Ebd.
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durch den Leser konzipiert Happel beide Formate über den Anhang eines alphabetischen Registers als eine Art enzyklopädisches Nachschlagewerk – dem Periodikum wurde das Register jeweils in den gebundenen Jahresbänden nachträglich beigegeben. Mit diesem ‚Lektüreschlüssel’ ändert sich potentiell auch der Rezeptionsmodus: Statt den Roman linear und sequentiell lesen zu müssen, ermöglicht das Register den selektiven und ausschnitthaften Zugriff auf einzelne, vom fiktionalen Rahmen unabhängige Wissenssegmente. Anders gewendet: Mit der projektierten Nutzung des Romans als ‚faktographisches’ Kompendium rücken die Aspekte der Akkumulation, Inventarisierung und der Erschließung von Wissen noch weiter in den Mittelpunkt des Schreibens. Auch nimmt Happel das Sachverzeichnis des Registers zum Anlass, eine zu den Relationes (siehe Kapitel 5.2.) vergleichbare Kommunikationssituation mit dem Leser herzustellen – indem er sich als Dienstleister empfiehlt, der flexibel auf die an ihn herangetragenen Wissensbedürfnisse reagiert: „Sollte sich nun jemand finden / er sey wer er wolle / der da Lust hätte / eine oder andere Materie gerne in unserm Geschicht-Roman angeführet und abgehandelt zu wissen / der hat mich allemahl zu seinen bereitwilligen Diensten / und kann sothane Materie entweder an mich / allhier nach Hamburg / oder nach Ulm an den Verleger senden / so soll der Sache schon geschehen / was recht ist“.198
Obwohl in den Relationes kaum Zeitungsquellen verwertet wurden, lässt sich schließlich auch auf dieser Ebene eine Parallelität zu den Romanen erkennen: Gerhild Scholz Williams hat am Beispiel des Eduards angedeutet, dass die Zeitungsromane von Happel nicht ausschließlich auf aktuelle Geschehnisse Bezug nehmen. Von Interesse für die Verwertung sind demnach nicht nur – so lässt sich ergänzen – die jüngsten Nachrichten, sondern durchaus auch jene älteren Datums, solange sie über die Qualität eines Medienereignisses verfügen und damit von längerfristigem Interesse sind. So beziehen sich die Exkurse der „Geschicht-Romane“ zu Teilen aus aufsehenerregenden Ereignissen voriger Jahre und Jahrzehnte, die Happel zuvor schon in den Relationes Curiosae verarbeitet hatte – etwa den großen Brand Londons im Jahre 1666.199 Ebenso lassen sämtliche Register der Zeitungsromane Mehrfachverwertungen von Textbausteinen erkennen; im Spinelli wird das zeitliche Spektrum auf diese Weise sogar bis in die Antike rückverlängert: Im Register des Romans findet sich etwa der Lemmaeintrag „Brücke des Trajani über die Donau“,200 nachdem Happel bereits drei Jahre zuvor den 198 199 200
Happel: Der Italiänische Spinelli, Vorrede, unpag. Ders.: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der Londische Brand“, Nr. 59, S. 469. Ders.: Der Italiänische Spinelli, Zweiter Teil, Register, unpag.
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Artikel „Trajani Brücke“201 in den Relationes als Teil eines Diskurses über spektakuläre Bauwerke gebracht hatte. Diese wiederholte Verwendung eigener Exzerpte verschleiert er jedoch grundsätzlich. Auch findet sich in den Romanen ein erheblich dünneres bibliographisches Verweisnetz als in den Relationes. Eine erhebliche Differenz liegt zudem in der Darstellungsform des Wissens: Während die Artikel der Relationes – modern gewendet – zwischen Bericht und Reportage schwanken, stehen Happels Romane ganz im Zeichen der aufblühenden Dialog- und Konversationskultur des Barock: alle Themen werden in Rede und Gegenrede erörtert, die Anlass auch zu längeren monologischen Abschweifungen geben. So schaltet Happel im dritten Teil des Spanischen Quintana ein mehrere Dutzend Seiten langes „Journal“202 über den kriegerischen Konflikt zwischen Hamburg und Dänemark im gleichen Jahr (1686) ein. Strukturell neigen die Zeitungsromane hier deutlich in Richtung jener Periodika, die eine Dialogorientierung schon programmatisch im Titel trugen (wie die Monatsgespräche von Rist und später von Thomasius). Allerdings lässt sich über die dialogische Struktur auch eine Parallele zu den Relationes konstatieren, und zwar mit Blick auf die Disposition der Gesprächsinhalte: In den Relationes wie auch in den Zeitungsromanen versammelt Happel eine heterogene Wissensfülle, unterstellt diese aber keinem Ordnungsschema (siehe Kapitel 4.3.1.); was immer in den Unterhaltungen des Romanpersonals thematisiert wird, folgt den Zufälligkeiten des Gesprächsverlaufs und der Weise assoziativer, sprunghafter Einlassungen. Insgesamt wird deutlich, dass Happel sowohl im ‚geographischen Informationsroman’ als auch im ,Zeitungs- und Geschichtsroman’ die noch schwach profilierte Gattung des Romans nutzt, um sie an andere, rein ‚faktuale’ Wissensformen wie die Relationes anzunähern. Die Verknüpfung der verschiedenen Medienfunktionen Unterhaltung, Information und Belehrung sowie die Sichtung und Aufbereitung eines breiten Schrifttums verweisen auf gemeinsame Wurzeln mit den Relationes Curiosae – unabhängig vom konkreten Gattungsrahmen setzt Happel die „gelehrte Grundlage“203 allen Schreibens durch. Jenseits der „curieusen“ Qualität der Objekte (siehe Kapitel 3.5.) werden allerdings auch im Roman keine Selektionskriterien für die einzelnen Wissensinhalte formuliert. Anders sieht das, bedingt durch die lange Gattungstradition, in Happels Kosmographie Mundus Mirabilis Tripartitus (1687-1689) aus; mit dem Thesaurus Exoticorum (1688) und der Historia Moderna Europae (1692) wird sie im folgenden Punkt als dritter Werktypus im Vergleich zu den Relationes diskutiert. 201 202 203
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 89, S. 741f. Ders.: Der Spanische Quintana, Dritter Teil, S. 304ff. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 220f.
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3. Der ,globalisierte’ Blick – Kosmographie, Völkerkunde und Zeitgeschichte: Die parallel zu den Zeitungsromanen und den Relationes verfasste dreiteilige Kosmographie Mundus Mirabilis wirkt im Kontext von Happels Wissensproduktion als der logische nächste Schritt; zunächst deswegen, weil die konstitutiven Verwertungszusammenhänge im Werk des Vielschreibers auch seinen Beitrag zur Gattung der Weltbeschreibung erst möglich machten. Der umfängliche Mundus Mirabilis erweist sich zu Teilen als Kopie hinsichtlich der Themen, die Happel in den Relationes bereits etabliert und der Quellen, die er zuvor für seine publizistischen Produktionen als auch für seine Roman-Varianten eingesetzt hatte. Mit dem Mundus trug Happel zur späten Blüte der Kosmographie im 17. Jahrhundert bei.204 Der enzyklopädische Fokus der Relationes dehnt sich hier noch einmal aus und bereits in der Vorrede des Werks formuliert Happel seinen Anspruch, möglichst umfassende Kenntnisse zu vermitteln. Zugleich unterstreicht der selbstbewusste Tonfall, dass Happel um 1687 allen Grund zu haben schien, sich als Autor etabliert zu fühlen. Einfordernd heißt es mit Blick auf Weltaneignung und Wissensprogramm: „Ich verlangete aber eine solche Cosmographie zu sehen / welche die Sachen der gantzen Welt tractirete / wie sie von einem Geographo, Historico, Politico, Chronologo abgehandelt werden / ja / darinn man auch eines jedes Reichs und Standes Jus Publicum finden möchte“.205 Anders als seine Romane fügt sich Happels Kosmographie jedoch viel deutlicher den konkreten Vorgaben der alten Gattung: Der vollständige Titel206 zeigt den enzyklopädischen Zuschnitt des Werkes – so nähert sich der erste der drei Bände der Erde zuerst in astronomischer, dann in geographischer und zuletzt in ,ethnographischer’ Erfassung. Was hier an Stofffülle nur noch schwer kontrollierbar scheint, weist frappierende Analogien zu den Relationes auf. So zeigt sich schon in den einleitenden Passagen des Mundus, dass Happel die Kosmographie nutzt, um die Relationes noch einmal auszuschöpfen. Während die textlichen Übereinstimmungen zwischen einzelnen Werken in anderen Fällen oft nur schwer zu identifizieren sind, geht Happel hier weiter: Er übernimmt im Mundus aus seinem Periodikum das dort erstmals angewandte Beschreibungs- und Ordnungsmuster der Kosmographie (siehe Kapitel 4.3.2.): Beginnt Happel die Relationes mit dem Artikel „Die allereigentlichste Betrachtung der Sonnen“,207 so ist auch im Mundus zunächst vom „Vom 204 205 206
207
Ausführlich: Schock: Von Kirchhain in die Welt. Happel: Mundus Mirabilis, Teil 1, Vorrede, Bl. 1r. Ders.: Mundus Mirabilis Tripartitus, Oder Wunderbare Welt/ in einer kurtzen Cosmographia fürgestellet: Also / daß der Erste Theil handelt von dem Himmel [...] / [...] Meer und dessen Beschaffenheit [...] Der Andere Theil / von den Menschen und Thieren der Erden / [...] Der Dritte Theil / Von den Universitäten [...] Seehafen / Vestungen / Residentzien / [...] / grossen Städten [...]. Ders.: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1ff.
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Firmament“208 die Rede. Auch die kommunikative Ausrichtung beider Medien zeigt sich als vergleichbar: Astronomische Gegenstände und der Blick in den Himmel genügen sich nicht selbst; entscheidend ist vielmehr das, was als hinter den Dingen liegend erkannt werden soll – Ziel und Antrieb des Wissens ist Gott (siehe auch Kapitel 5.2.): „Derselbe Allmächtige GOTT verleihe uns seine Gnade und Krafft / auch Lust und Verstand / daß wir diesen Außzug / oder kleinen Kern der Welt-Beschreibung zu seines H. Namens Ehre / und zu unsers Nächsten Nutze / vollenziehen mögen“.209 Hinsichtlich der Quellengrundlage kommen zahllose weitere Parallelen zwischen Relationes und Mundus hinzu: So synthetisiert Happel die Kosmographie teilweise erneut aus einem Spektrum von publizistischen Quellen (Theatrum Europaeum210), Gelehrtenjournalen (Philosophical Transactions211) und populären Reiseberichten wie der Reiß-Beschreibung (1674) von Pietro Della Valle (15861652)212 (siehe Kapitel 4.4.). Im direkten Vergleich mit den Relationes sind nicht zuletzt zwei formale Entsprechungen hervorzuheben: Erstens wurden Kosmographie und Periodikum im handlichen Quartformat geliefert, zweitens geht Happels Tendenz zum Selbstplagiat hier so weit, dass die kleinteiligen Kapitel der Kosmographie offenbar nach dem Vorbild der Artikel im Periodikum formatiert werden: Die dem astronomischen Diskurs zugehörigen „Capitul“ sind nicht länger als die im Schnitt nur eineinhalb Seiten umfassenden Artikel der Relationes. Noch markanter ist, dass Happel zudem seine eigenen ‚Schlagzeilen’ als „Capitul“ recycelt. Findet sich in den Relationes etwa die Überschrift „Der verschiedene Geschmack des Meers“,213 so heißt es zwei Jahre später im Mundus: „Das VIII. Capitul / Von dem verschiedenen Geschmack deß Meers“.214 Im Ganzen ist festzuhalten, dass Happels Periodikum und seine Kosmographie im Hinblick auf Struktur, Inhalt und Quellen markante Ähnlichkeiten aufweisen. Beide Werke verfügen über einen ,globalen’ Blick und den damit einhergehenden enzyklopädischen Zuschnitt. Zugespitzt kann von einer Zweitverwertung der Relationes durch den Mundus Mirabilis gesprochen werden; hauptsächlich wird dies dem Produktionsdruck, der daraus resultierenden Arbeitsökonomie und dem Hang zur ‚Selbstkopie’ geschuldet sein. Auffällig ist zudem erneut die Diskrepanz in der Quellengrundlage zwischen den Relationes und dem Mundus einerseits sowie den Romanen andererseits: 208 209 210 211 212 213 214
Happel: Mundus Mirabilis, Teil 1, S. 1. Ebd. Etwa: Ebd., S. 94. Etwa: Ebd., S. 110. Etwa: Ebd., S. 111. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 57, S. 155f. Ders.: Mundus Mirabilis, Teil 1, S. 148.
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Dass Happel auch in der Kosmographie nicht auf Zeitungsnachrichten zurückgreift, wird durch den Gattungsanspruch bedingt gewesen sein, autoritär abgesichertes Weltwissen zu liefern. Die kurze Halbwertszeit von Zeitungsnachrichten verhielt sich zu diesem Konzept nur bedingt kompatibel. Ähnlich zeigt sich auch das Profil der parallel zum Mundus Mirabilis veröffentlichten Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer im Thesaurus Exoticorum (1688). Rein optisch hebt sich das Werk durch das unhandlichere Folioformat und eine reiche Bebilderung von den Relationes, der Kosmographie und den Romanen zunächst sichtlich ab. Jedoch lässt schon der vollständige Titel dieser Völker-Enzyklopädie vermuten,215 dass sich auch dieses Werk an den Strukturelementen der Kosmographie orientiert und im Schreiben Happels keine Ausnahme markiert. Ergänzend zum Themenspektrum des Periodikums und der Kosmographie liegt das Hauptaugenmerk des Thesaurus noch intensiver auf außereuropäischen Kulturen, die dem Leser als „[...] Liebhaber der Welt [...]“216 beschrieben werden. Happel häuft hier aber nicht nur ‚ethnographisches’ Material an, sondern auch geographisches, topographisches217 etc. Die Vorrede des Thesaurus lässt einen umfassend kosmographischen Anspruch erkennen, der grundsätzlich anerkennt, „[...] daß die Curiosität des Menschen eyferigst dahin trachtet / wie sie die Beschaffenheit der Welt / und eines jeden Theils derselben sich möge bekant machen“.218 Auch in der Völkerkunde finden sich unzählige inhaltliche Querverbindungen zu Happels anderen Werken. Die Verbindung zur publizistischen Produktion im Verlag von Wiering liegt hier, wie bereits angesprochen, zum einen in der Wiederverwertung der Druckstöcke aus Melchior Lorichs Geschnittenen Figuren; neben anderen, teils hochwertigen Kupferstichen machen sie den Thesaurus Exoticorum zur bilderreichsten Wissenssumme von Happel. Zum anderen wird die Kongruenz zu den Relationes hinsichtlich der verwendeten Quellen schon in der Vorrede des Thesaurus deutlich. In einer einige Zeilen umfassenden Bibliographie führt Happel die für ihn maßgeblichen Werke ‚aus erster Hand’ an, von jenen, „[...] die selber solche Länder / die 215
216 217
218
Happel: Thesaurus Exoticorum [...] Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / [...] Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst [...] / Alles mit grosser Mühe und Fleiß aus den brühmtesten Scribenten zusammen getragen [...], Hamburg 1688. Ebd., Vorrede, Bl. 4r. Über Ostindien heißt es im Thesaurus etwa: „Indien ist ein sehr grosses Land / und lieget zwischen dem 110 und 150 Grad der Länge / und der Nordlichen Breite aber zwischen dem 2 und 40 Grad [...]“. Ebd., S. 7. Diese zunächst topographische Erfassung der beschriebenen Länder wiederholt sich schematisch. Happel: Thesaurus Exoticorum, Vorrede, Bl. 1r.
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sie beschreiben / eigentlich besichtiget [...]“.219 Die genannten Titel220 stimmen erneut mit dem Kernkorpus überein, auf das Happel in seinen anderen, parallel produzierten Arbeiten zurückgreift – in den Romanen, in den Relationes, in der Kosmographie und, wie etwa im Beispiel des Reiseberichts Ghislain de Busbecqs, auch in der ,Türkenzeitung’. Simultan zur Kosmographie zeigt sich zudem auch im Thesaurus, dass Happel die in den Relationes etablierte Darstellungsform des Artikels als Textbaustein relativ zeitnah wiederverwertet: So findet sich um 1687 in den Relationes der Bericht „Der Ceylonische Perlen Fang“.221 Im Thesaurus wird wenig später im Kontext eines Exkurses über Indien die Zwischenüberschrift „Der Ceilonische PerlenFang“222 angeführt. Nur eine bedingt identische Quellengrundlage zu den Relationes ist indessen bei Happels letztem Werk gegeben, der im Jahr 1692 erst posthum veröffentlichten Chronik Historia Moderna Europae.223 Bedingt durch die zeitgeschichtliche Ausrichtung – im Mittelpunkt steht die ereignisgeschichtliche Spanne zwischen 1648 und 1690 – weist das Werk zum einen kaum zeitliche Übereinstimmungen mit Happels Wochenblatt auf, zum anderen auch thematisch-räumlich: Die Historia beschränkt den Fokus auf die Haupt- und Staatsaktionen im Mächtekonzert des europäischen Kontinents seit dem Westfälischen Frieden. Zwar kündigt der vollständige Titel des Werks auch Berichte von dem an, was ausser dessen in Asia, Afria und America, zu Wasser und Land fürgefallen. Quantitativ sind diese Passagen den Berichten über das jüngere politische und militärische Geschehen Europas jedoch deutlich nachgeordnet. Dennoch war Happels Ulmer Verleger Matthäus Wagner im vollmundigen Vorwort davon überzeugt, dem „seeligen“ Happel sei hier nichts weniger gelungen als ein Entwurf der „[...] Geschichte der gantzen Welt / [...] kurtz / aber sehr vollständig / [...] wie in [...] eine Nuß-Schale / gefasset“.224 Durch ein anderes Moment rückt die Historia noch deutlicher in die Nähe der ,Zeitungs- und Geschichtsromane’: Wie für diese hat Happel auch die Inhalte seines letzten Werkes primär aus Zeitungsextrakten und 219 220
221 222 223
224
Happel: Thesaurus Exoticorum, Vorrede, Bl. 3r. „Johan Neuhoff, Frantz Caron, Philippus Baldaeus, Walther Schultz, Jean Baptista Tavernier, Petrus della Valle, Neitschitz, Troilo, Martinus Martinius, Trigantius, Chardin, Alvaretz, Busbequius, Olearius, Thevenot, Melton, Gage, Piso, à Costa, Linschot, und dergleichen unzehlbare viele [...]“. Ebd. Ders.: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 28, S. 117. Ders.: Thesaurus Exoticorum, S. 14. Ders.: Historia Moderna Europae, Oder eine Historische Beschreibung Deß Heutigen Europae: Welche zum Anfang und Fundament hat den Münsterischen Frieden-Schluß / und von dar an fortfähret / Unpartheyisch zu beschreiben / dieses Letztere Semi-Seculum Mirabile, das ist / die Jüngste [...] Zeit [...], Ulm 1692. Ebd., Voransprache/ an den unpartheyischen Leser, Bl. 2r.
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Chroniken gewonnen. Damit wird die Historia zu einer originären Mixtur aus Historiographie, Zeitungschronistik und ersten politischen Periodika, ohne jedoch deren ,journalistische’ Leistung in Form einer rückschauenden Reflexion über die Ereignisse zu teilen.225 Obwohl die Quellen des Textes nur punktuell kenntlich gemacht sind, legt der Aufbau der Historia nahe, dass Happel hier ein letztes Mal auf die bei Wiering verfügbaren Zeitungsjahrgänge und maßgebliche Chroniken wie das Theatrum Europaeum zurückgriff – wie dieses kleinteilig und chronologisch nach Jahren geordnet, präsentiert Happel das europäische Geschehen in einem detailgenauen Panorama; der Abdruck langer Vertragsklauseln226 und Rezesse gestaltet die Lektüre dabei prinzipiell mühseliger als in den anderen Werken des Autors. Trotzdem findet sich auch in der Historia eine inhaltliche Parallele zu den Relationes: Im Anschluss an die politisch-militärischen Ereignisse eines jeden Jahres folgt eine im Schnitt zwei Foliospalten umfassende Rubrik, die das alte, aus Sensationspresse und ‚Newen Zeitungen’ bekannte Themenspektrum in den chronikalischen Rahmen übernimmt. Mit wechselnd reißerischen Titeln wie „Greuliche Thaten“227 liefert Happel hier in willkürlicher Reihung kurze Meldungen über Unwetter, Unglücke, Wunder- und Geistererscheinungen und sonstige spektakuläre Vorkommnisse aus den letzten fünfzig Jahren. Der eher trockene Berichtsstil des Haupttextes wird durch die unterhaltsamen und weniger informativen Elemente sichtlich aufgelockert.228 Schließlich wird Happel diese vermischte Rubrik auch deswegen eingefügt haben, weil er hier, wie schon in der Kosmographie, erneut ganze Textbausteine aus den Relationes wiederverwerten konnte. Resümieren lassen sich die Ökonomien in der ,Schreibfabrik’ des Kompilators und die Position der Relationes im Kontext von Happels Ouevre wie folgt: Die vielen (inter-)textuellen Abhängigkeiten und inhaltlichen Übereinstimmungen in Happels Werk insgesamt zeigen, dass die imposante Arbeitsleistung des Polyhistors nur auf der Grundlage eines Recyclings von modular handhabbaren Textbausteinen möglich war. Dass Happel sich nicht der Mühe unterziehen wollte oder konnte, permanent neues Wissen zu erschließen, sondern sich stattdessen selbst kopierte und bestehendes Wissen für 225 226
227 228
Zu den politischen ,Zeitschriften’ siehe: Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 157ff. So rückt er etwa den vollständig wiedergegebenen „Friedens-Artickel / zwischen Spanien und den Vereinigten Provintzen Niederlanden / in Münster aufgerichtet“ ein. Happel: Historia Moderna Europae, S. 37ff. Ebd., S. 122. Etwa: „Im Martio [des Jahres 1658, F.S.] haben sich in der Stadt Legi, so ein vornehmes Glied des Königkreichs Sicilien / zween Männer sehen lassen / welche wegen der ungemeinen Länge der Haare und Bärte gar ein antiquisches An-sehen gehabt / daß man gemeynet / sie wären wohl tausend Jahr alt“. Ebd., S. 493.
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neue Werke ,umschichtete’ und neu kontextualisierte, war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Anders gewendet: Der Produktionsdruck, dem Happel als Herausgeber eines Periodikums und anderer, zeitgleich produzierter, nicht-periodischer Wissensformate ausgesetzt war, forcierte eine besonders wirtschaftliche Form des Schreibens, die verschiedene Gattungen und Medien eng miteinander kombinierte. Sie bildeten einen Medien- und Wissensverbund, da sie dem gleichen Zweck untergeordnet waren – der Vermittlung eines möglichst breiten, ,welthaltigen’ Wissenshorizontes. So trugen fast alle von Happels Werken den Charakter enzyklopädischer Kompendien, die sich, mit der Ausnahme der aktuelleren ,Zeitungs- und Geschichtsromane’, zudem aus dem gleichen Quellenfundus speisten. Die Nähe von Happels Periodikum zu den Büchermassen der Zeit wirft die Frage auf, ob dieses Charakteristikum ein Alleinstellungsmerkmal der Relationes ist oder ob es noch andere, zuvor oder gleichzeitig erscheinende Periodika in Hamburg und darüber hinaus gab, die über ein ähnliches Profil verfügten wie die Relationes Curiosae.
2.5. Die Relationes Curiosae im Kontext anderer ,Journale’: Merkmalsvergleiche Der vergleichende Blick auf die deutschsprachige Presselandschaft des späten 17. Jahrhunderts muss sich aus pragmatischen Gründen auf einige grundlegende Bemerkungen zu jenen ,Zeitschriften’ beschränken, die den Relationes zeitlich vorausgingen oder parallel zu diesen erschienen.229 Den kursorischen Blick auf jene Periodika, die nach dem Erscheinen der Relationes (ab 1691) publiziert und möglicherweise von diesen beeinflusst wurden, bietet Kapitel 8.3. Klar zu verneinen ist die Frage, ob Happels Wochenblatt in den Periodika jenseits der Zeitung in und außerhalb Hamburgs eindeutige Vorbilder gehabt hat. Allerdings sind indirekte Einflüsse anzunehmen. Was die Relationes mit anderen Periodika zunächst einte, war die bereits betonte publizistische Nähe zur Zeitung. Ohne sie wäre die Distribution neuer Presseprojekte kaum denkbar gewesen: So war Thomas Wiering nicht der einzige Verleger, der neue Periodika zunächst als ergänzende Beilagen zu erfolgreichen Zeitungen auf dem Markt zu etablieren versuchte; eine gleiche Konstellation gilt etwa für Nürnberg, wo die historisch-politische Vierteljahresschrift Götter-Both Mercurius seit 1674 ebenfalls als Zeitungsbeilage verkauft 229
Auch hier zeigt sich einmal mehr die defizitäre Forschungslage. So existiert weiterhin keine vergleichende Pressegeschichte für das 17. Jahrhundert, die über die Reproduktion älterer Auffassungen zur Entstehung der ,Zeitschriften’ hinauskäme. Siehe hierzu schon Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 247.
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wurde.230 Doch zunächst zur Situation in Hamburg und dem angrenzenden Altona:231 Als mithin erste ,Zeitschrift’ der Stadt gelten die Erbaulichen RuhStunden des Theologen Johann Frischs (1636-1692), die ab 1676 erschienen und heute als Vorgänger der Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts gewertet werden.232 Ob auch sie als Beilage zur Zeitung publiziert wurden – in diesem Fall der Altonaischen Relation – ist nicht gesichert;233 Bogel und Blühm gestehen den Ruh-Stunden gegenüber der Zeitung ein relativ hohes Maß an publizistischer Eigenständigkeit zu und begründen dies mit den nachgelieferten Jahrestitelblättern und Registern234 – ein formales, publikationsgeschichtliches Element, das später auch für die Relationes Curiosae zutrifft. Eine erste Differenz zu Happels Periodikum liegt in der stärkeren inhaltlichen Bedingtheit der Ruh-Stunden durch die Zeitung Altonaische Relation, als deren Redakteur Frisch seit 1672 arbeitete.235 Frisch greift in seinem ebenfalls wöchentlich in einem Bogen erscheinenden Blatt relativ aktuelles Nachrichtenmaterial der Zeitung auf.236 Damit rückt das Periodikum im Vergleich zur Zeitung tendenziell in den Status des ,Sekundärmediums’. Anders als in Happels Relationes und bedingt durch das Aktualitätskriterium spielt der Rekurs auf die Wissenswelten des Buches keine Rolle. Die gesammelten Nachrichten dienen Frisch als Ausgangspunkt umfassender moralpädagogischer Einlassungen;237 Programmatik und Inhalt der Ruh-Stunden spiegeln sich im ausführlichen Titelblatt: Johann Frischen Erbauliche Ruh-stunden / Das ist: Merkwürdige und nachdenkliche Unterredungen / darin allerhand nützliche und erbauliche Materien abgehandelt / zugleich auch jedesmal die vornehmste Begebenheit gegenwertiger Zeiten kürtzlich eingeführet werden. Denen Liebhabern der Geschichte / und anderer Curieusen Sachen / insonderheit der anwachsenden Jugend zu Nutz verfertiget.
Mit Blick auf die Relationes sind folgende Punkte bemerkenswert: zunächst der Bezug auf die „Curieusität“ / „Curiosität“ als Qualität der Inhalte, die Happel später weit deutlicher akzentuiert (siehe Kapitel 3.3.); sodann betont Frisch die didaktischen Implikationen (allerhand nützliche und erbauliche Materi230 231 232 233 234 235 236
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Dazu: Weber: Götter-Both Mercurius. Böning: Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, S. 118f. Etwa die ältere Einschätzung von Lindemann: Deutsche Presse, S. 187 und S. 232f. Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 248. Blühm / Bogel: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Band 1, S. 212. Böning: Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, S. 124. „Schließlich ist auch dieses zu mercken: Es soll inskünftig ob Gott will! Alle Woche ein Discurs und also erfolgreich ein Bogen heraus gegeben werden / ein theils wegen der Wochentlichen einkommenden Zeitungen / die allemahl angeführet werden müssen“. Zitiert nach: Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 65. Böning: Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, S. 124.
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en) seines Projektes, was in der Vorrede noch dahingehend ergänzt wird, dass neben dem Nutzen nicht zuletzt das Vergnügen als Prämisse leitend sei – so wolle man „[...] zugleich Lehr- und Lustreich seyn [...]“.238 Diese prinzipielle Wirkintention eines nützlichen und unterhaltsamen Anspruchs ist für die Barockliteratur im weitesten Sinne Standard und taucht auch in den Relationes als zentrales Element der publizistischen Konzeption wieder auf (siehe Kapitel 5.2.). Was die Ruh-Stunden von Happels Periodikum hingegen deutlich unterscheidet, ist die geringere Themenbandbreite: Wo die Relationes ein tendenziell universales Profil aufweisen, beschränken sich die Ruh-Stunden, bedingt durch die Zeitung als Quelle, auf zeitgeschichtliche Ereignisse. Nur vage ist im Titel von anderen Curieusen Sachen die Rede. Noch zwei weitere Punkte weichen von den Relationes ab: zum einen die explizite Adressierung vor allem einer jugendlichen Zielgruppe. Happel wollte mit den Relationes hingegen auch im Hinblick auf das Alter ein möglichst heterogenes Publikum ansprechen. Zum anderen ist strukturell entscheidend, dass Frisch, wie schon zuvor Johannes Rist mit seinen Monatsgesprächen, auf den Dialog als Präsentationsmodus setzt239 und sich so innerhalb der barocken Gesprächskultur positioniert – ein Element, das von späteren Periodika wie Thomasius’ Monatsgesprächen wieder aufgenommen und von Happel gerade nicht befolgt wird. In ihrem ,subjektivitätsfreien’ Berichtsstil ähneln die Relationes stilistisch eher vergleichbaren Artikeln in den Gelehrtenjournalen und nehmen unter den frühen deutschsprachigen Periodika damit einen Sonderstatus ein. Zwei programmatische Aspekte der Ruh-Stunden könnten die Relationes trotzdem beeinflusst haben, zumal Frischs Periodikum im bibliographischen Apparat der Relationes mehrmals auftaucht:240 zunächst Frischs implizites Modell der Wissenspopularisierung, das die Inhalte teurer und schwer verständlicher Bücher für ein ungelehrtes, breiteres Publikum aufbereiten will: „Da nun einem jeden jungen Menschen nicht möglich diejenige Autores die ihm von einem und andern Nachricht geben müssen selbst zulesen; weil entweder ihm noch nicht möglich / der Autoren Meinung zubegreiffen; oder auch sowoll 238 239
240
Zitiert nach: Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 67. Bemerkenswerterweise sieht Frisch die ,Methode’ des Gesprächs dem Roman entlehnt und deutet so indirekt an, dass sich die Gattung als Rahmen der Wissensvermittlung eigne. Hinderlich sei allerdings das durch die amouröse Rahmenhandlung bedingte ,Abschweifen’ des Romans: „[...] und mir daher düncket / daß keine anmuthiger Methode seyn kan / als Unterredungen / da nemblich nach Art der Romanien (die eben diesen Zweck zwar haben / aber gemeiniglich durch Liebeshändel in einander verknüpffet werden) allerhand Beysammenkunfften und Vorfälle eingeführet / und also allerhand Discurse und Fragen auf die bahn gebracht werden“. Zitiert nach: Ebd., Sp. 67f. Etwa: Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die Meißnische Heldin“, Nr. 57, S. 443f. Zitiert als: „Joh.Frischius: Anderer Theil der erbaulichen Ruhstunden“. Ebd., S. 443.
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an Gelegenheit und Mittel die Autores zu kennen und zu gebrauchen / als an Erfahrung und notwendiger Nachforschung ermangeln: So habe jederzeit davor gehalten / daß es nützlich währe / wenn allerhand Miscellanea zusammen getragen und der Jugend bekand gemacht würden“.241
Zur Umsetzung dieser Prämisse betont Frisch ferner die Relevanz der Muttersprache und der deutschen Übersetzung von lateinischen Autoren, wie sie von Happel und Wiering in den Relationes später noch intensiver akzentuiert wird (siehe Kapitel 5.2.). So müsse „[...] ein jeder solches verstehen [...] / und ’der jenige / der etwa der Lateinischen Sprach nicht völlig möchtig / nicht gezwungen werde seine Gedancken zu Distrahiren. Hierzu kömt / daß man so wol denen die vom Studiren keine / als denen die davon Profeßion machen wollen / zu dienen gemeinet ist“.242
Nach den Ruh-Stunden erschienen in Hamburg bis zu den Relationes keine weiteren Periodika neben verschiedenen Zeitungen, so dass eventuelle Einflüsse über das Blatt von Frisch hinaus auszuschließen sind. Ab der Mitte der 1680er Jahre – parallel zum Publikationszeitraum der Relationes – wurden dann weitere Periodika aus der Taufe gehoben, die den Reichtum der Hamburger Presse um die Jahrhundertwende vor Augen führen. Die Mehrzahl dieser Blätter war aber weder langlebig noch konvergierte sie mit dem Profil der Relationes; nur einige Beispiele: Ab 1684 erschienen beim Verleger Heinrich Heuß (1664-1713), der auch schon die Ruh-Stunden von Frisch publiziert hatte, die Monathlichen Relationes und Universal-Historien.243 Anders als in der älteren Literatur wiederholt behauptet, handelt es sich bei dem nur in monatlicher Periodizität bis 1686 veröffentlichten Blatt nicht um eine Fortsetzung oder um ein zeitgleiches Derivat der Relationes Curiosae.244 Zwar suggeriert der vollständige Titel mit seiner Betonung der Merckwürdigkeiten der gantzen Welt ein ähnliches Programm wie bei Happels Größten Denkwürdigkeiten der Welt (und womöglich lehnt sich der Titel gezielt an dessen Periodikum an). De facto war das nahezu ausschließlich zeitgeschichtlich ausgerichtete Blatt jedoch als Ergänzung zu den politischen Zeitungen gedacht und baute erneut auf Zeitungsquellen auf, die vom Periodikum nachträglich systematisiert und redigiert wurden.245 Geringfügige thematische Parallelen zu den Relationes Curiosae finden sich in den Rubriken der „Glücks und Unglücks241 242 243 244 245
Frisch: Erbauliche Ruh-Stunden, 1. Teil, 1676, S. 3f. Zitiert nach: Prange: Zeitungen und Zeitschriften, S. 249. Zitiert nach: Ebd., S. 251. Monathliche Relationes und Universal-Historien: Darin von Monath zu Monath Alle Estats- und Kriegs-Geschichte / [...] vorgestellet werden [...], Hamburg 1684f. Siehe auch: Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 94. Ebd.
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Fälle“ und in den gehäuften Berichten über Kriminalfälle. An der Hamburger Börse und damit in wahrscheinlich direkter Nachbarschaft zu Wierings Verlagshaus246 wurde 1686 das kurzlebige Journal Emphemerides litterariae / Ephemerides Scavantes247 sowohl auf Latein als auch auf Französisch herausgegeben. Ein Einfluss von Happels Blatt auf die ebenfalls wöchentlich gedruckten Ephemerides ist denkbar, da diese ebenfalls weniger aus der Welt des Politischen und damit aus den Zeitungsthemen berichten wollten, sondern aus der Welt der Wissenschaften. Auch hier speist sich die Quellengrundlage daher vorwiegend aus den Büchermassen der Zeit – in den Ephemerides finde man, wie es in der Vorrede heißt, „[...] tout ce qui se fait de nouveau en toutes sortes de sciences, ce qu’ il y a de rare dans lese bibliothèques publiques et particulières [...]“.248 Doch griffen diese ersten Typen universal-gelehrter Wochenschriften zumindest partiell auch auf die Inhalte der älteren Gelehrtenperiodika (Philosophical Transactions, Journal des Scavans, Acta Eruditorum) zurück. Von dieser Entwicklung weit entfernt, etablierte sich etwa zeitgleich in Halle mit Thomasius’ Monatsgesprächen ab 1688 der genuine Typus der literarisch-kritischen Periodika – durch sie wurde das Bücherwissen nicht mehr in redaktionell (mehr oder minder) bearbeiteten Exzerpten aneinander gereiht, vielmehr wurden die Bücher selbst zum Gegenstand der Kritik. Bereits 1689 wurde Thomasius mit den eingangs zitierten Monatlichen Unterredungen Tentzels in Leipzig kopiert.249 Über ihr grundsätzlich anderes kommunikatives Interesse hinaus unterscheiden sich beide Periodika erneut durch ihre dialogische Struktur von den Relationes Curiosae. Unter den wenigen frühen, von der Forschung weiter als ,Zeitschrift’ klassifizierten Periodika ist schließlich noch einmal auf den Götter-Both Mercurius zurückzukommen. Im Spektrum der bisher genannten thematischen Profile der Periodika aus den 1670er und 1680er Jahren nahm es die Position des ersten „politisch-räsonierenden“250 Blattes ein. Auch dieses wurde – erneut anders als Happels Relationes – zu großen Teilen durch das ,rohe’, recycelte Nachrichtenmaterial der Zeitungen strukturiert.251 Gegenüber etwa den Monathlichen Relationes, die auf einen Kommentar zum gesammelten zeitgeschichtlich-politischen Material verzichteten, lag die Leistung des GötterBothen darin, einen „[...] sinnstiftenden Umgang mit dem disparaten Nachrichtenmaterial [...]“252 zu bieten. Durch Reflexion und Einbettung der Erei246 247 248 249 250 251 252
Auf dem Titelblatt heißt es Proche la Bourse & autre Libraires. Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 97-100. Zitiert nach: Ebd., Sp. 100. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus, S. 344. Weber: Götter-Both Mercurius, S. 150. Ebd. Ebd., S. 153.
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gnisse in größere Erklärungszusammenhänge rückte der Götter-Both in die Funktion eines vertiefenden Komplementär- und Orientierungsmediums zur Zeitung. Über diese nur skizzenhaften Bemerkungen lässt sich festhalten, dass den Relationes Curiosae in der Formationsphase früher deutschsprachiger Periodika jenseits der Zeitung nichts Vergleichbares zur Seite stand. Erste moralisch-unterhaltende Blätter wie die Erbaulichen Ruh-Stunden und erste politisch-historische Periodika wie der Götter-Both Mercurius ähnelten sich trotz aller inhaltlichen Unterschiede in der Quellengrundlage, dem Nachrichtenmaterial der Zeit. Als ,Sekundärmedien’ im Vergleich zur Zeitung wären sie auch ohne deren Vertriebswege und Infrastruktur nicht möglich gewesen. Eine zweite, davon unabhängige Tradition der Periodika – erwähnt am Beispiel der einflussreichen Monatsgesprächen – hatte bis auf die regelmäßige Erscheinungsweise mit dem Medientypus Zeitung kaum etwas mehr gemeinsam, sondern begründete mit der literarischen Kritik ein eigenes publizistisch-periodisches Genre. Stilistisch ähnelte Thomasius’ Magazin gleichwohl den Ruh-Stunden und teils auch dem Götter-Both, weil alle drei Medien auf den Modus des Dialog setzten und damit auch eine ähnliche Zielgruppe adressierten – ein politisch-kulturell interessiertes, ,kosmopolitisches’ Publikum. Happel dagegen setzte, wie gezeigt, nicht auf den Gesprächsmodus, sondern auf die ,journalistische’ Form des Berichts. Doch nicht nur in dieser Hinsicht werden die zeitgenössischen Gelehrtenjournale (Philosophical Transactions, Miscellanea Curiosa) für Happel modellhaft gewesen sein: neben dem universalen Inhaltsspektrum unterscheiden sich die Relationes auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild (Textgestalt und Layout) von den übrigen deutschen Periodika des späten 17. Jahrhunderts. Wie angedeutet, kamen die frühen Zeitungen noch ohne jede visuelle Gliederung nach Sachbereichen aus und verfügten zudem – im Vergleich weit wichtiger – noch nicht über das Element der themenbezogenen Überschrift oder Schlagzeile;253 die Überschriften rekurrierten stattdessen nach standardisiertem Muster nur auf die geographische Provenienz der Nachricht und ihre Datierung.254 Schwach ausgeprägt sind Überschriften auch in den obigen Periodika jenseits der Zeitung. Dagegen waren typographisch betonte, themenzentrierte Schlagzeilen als ,Eyecatcher’ in der frühneuzeitlichen Publizistik bereits lange etabliert, vor allem in Flugschriften und Flugblättern der nicht-periodischen Sensationspresse. Es ist offensichtlich, dass sich Happel mit der teils reißerischen ,Schlagzeilen-Rhetorik’ der Relationes (mit Titel wie „Das abscheuliche Mon253 254
Ausführlich: Schröder: Die ersten Zeitungen, S. 51f. „Zentrales Element des Textaufbaus ist also nicht die selbstständige, durch Überschrift und Gestaltung klar von anderen abgegrenzte Nachricht, sondern die Korrespondenz, in der unterschiedlichste Nachrichten zusammengefasst sein können“. Ebd., S. 51.
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strum“255) an diese erfolgreiche Medientradition anlehnte. Überschriften gehörten als Synopsen der Inhalte einzelner Beiträge jedoch auch zur Struktur der gelehrten Periodika. Mit Blick auf die Rezeptionsweise lag ihre Leistung darin, dass sie das Wissen in optisch klar getrennte Textblöcke zerlegten und dem Leser auf diese Weise beim nicht-linearen, beliebigen Einstieg in die Lektüre halfen – in den Philosophical Transactions ist etwa zahllose Male von „Observations of...“256 die Rede. Da Happel für die Relationes immer wieder auch die Gelehrtenjournale exzerpierte (siehe Kapitel 4.4.), ist naheliegend, dass er sich typographisch-strukturell zum einen an der Sensationspublizistik und zum anderen an der gelehrten Presse der Zeit orientierte. Neben dem Berichtsstil und dem Element der Überschrift macht noch ein drittes, augenfälliges Erscheinungsmerkmal der Relationes Curiosae den Einfluss gelehrter Traditionen plausibel: die Ausstattung des Textes mit einem bibliographischen Anmerkungsapparat, der sich durch die AntiquaType deutlich vom Fließtext abhebt (Abb. 5). Über die umfassende Referenzierung der maßgeblichen Quellen und Autoritäten zum jeweiligen Thema machen die Relationes damit schon rein äußerlich klar, dass sie nicht im kurzzeitigen Material der Tagespresse verankert sind, sondern im beständigen Wissen der Bibliotheken. Vereinzelt bis auf die Seitenzahl genau führt Happel hier die bibliographischen Belege an. Ein erstes Resultat dieser ,gelehrten Ausstattung’ ist, dass die Komposition der Relationes schon auf der Oberfläche des Textes einem Verweisnetz des Wissens folgt; wer mehr über den jeweiligen Gegenstand wissen wollte, hatte über die bibliographischen Angaben den Schlüssel zur vertiefenden Lektüre. So erfüllte Happels Wochenblatt seine Funktion als kompaktes Orientierungsmedium. Bis zu diesem Punkt ist die Entstehung der Relationes Curiosae aus den allgemeinen (presse-)historischen Kontexten und den Charakteristiken von Happels Œuvre heraus verfolgt worden. Das nächste Kapitel nimmt eine kulturelle Voraussetzung in den Blick, die das Profil des Periodikums entscheidend geprägt hat und zugleich als eine Signatur des 17. Jahrhunderts zu werten ist: der Diskurs über die Legitimität der Neugierde, der auch wesentlich den Diskurs über die neuen periodischen Medien regulierte.
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Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 85f. Redi, Franceso: Some Observations of Vipers, in: Philosophical Transactions, Volume 1, 1665, S. 160-162.
III. Kulturelle Voraussetzungen: Diskurse über das „Curieuse Seculum“
„Anitzo will ich [...] des curieusen Lesers Begierde einiger Massen zu vergnügen suchen“. Happel: Relationes Curiosae, 1683 „Der Zweck der Zeitungen ist die Ersättigung der Lesenden Neugierigkeit [...]“. Stieler: Zeitungslust und Zeitungsnutz, 1695
Moralische Kontroversen entzünden sich an der Neugier schon lange nicht mehr. Als Wissensdrang scheint sie vielmehr zur ,anthropologischen Grundausstattung’ zu gehören und lässt als solche eine zeitlos positive Einschätzung vermuten. Das kulturelle Klima, in dem Happel die Relationes Curiosae veröffentlichte, urteilte über die moralische Legitimität der Neugier (curiositas) jedoch noch empfindlich anders.1 Das vorliegende Kapitel entwickelt ein wesentliches Spezifikum von Happels Periodikum aus der historischen Semantik der Neugier.2 In der Medien- und Wissensproduktion des 17. Jahrhunderts regulierte der Diskurs über die curiositas3 je nach Standpunkt entweder die erweiterte Partizipation am Wissen oder seine Restriktion. Zudem berührte die Debatte auch zentrale Medienfunktionen wie Unterhaltung und Belehrung, die in der konzeptionellen Programmatik der Relationes eingehender analysiert werden (siehe Kapitel V). Anders formuliert: Die (Kultur-)Geschichte der Neugier im 17. Jahrhundert bietet eine adäquate Folie, vor der sich mehrere Prozesse und Praktiken miteinander verbinden, die für Happels Periodikum eine konstitutive Rolle spielen und im Fokus der weiteren Kapitel stehen: So ist die „Curiosität“ oder „Curieusität“, wie es zeitge1
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Nach Barbara Benedict hat die Neugier in der Frühen Neuzeit „[...] distinct historical shapes [...]“ durchlaufen. Benedict, Barbara: Curiosity. A Cultural History of Early Modern Inquiry, Chicago 2001, S. 3. Spätestens seit Hans Blumenbergs einflussreicher Studie über den Prozess der theoretischen Neugierde (Frankfurt 1973) hat sich die geisteswissenschaftliche Debatte über die curiositas weit verzweigt. Ein profunder Forschungsüberblick findet sich bei: Evans, Robert John Weston / Marr, Richard (Hrsg.): Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment, Aldershot 2006. Hervorzuheben sind auch die beiden Studien Neil Kennys: Curiosity in Early Modern Europe, Wiesbaden 1998; Ders.: The Uses of Curiosity in Early Modern France and Germany, Oxford 2004. Siehe auch: Vincken, Barbara: Artikel Curiositas / Neugierde, in: Barck (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, S. 794-813.
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nössisch heißt, im wechselseitigen Zusammenhang mit der kulturellen Praxis des Sammelns von „Curiositäten“ zu sehen (siehe Kapitel 3.5.). Sie bildeten die privilegierten Objekte der Neugier und waren überdies mit einer zweiten ,kognitiven Leidenschaft’4 (Lorraine Daston) verbunden, die auch das Wissen in den Relationes maßgeblich konfiguriert: die Verwunderung und das Wunderbare. Beide Phänomene – Wunder und Neugier – bilden wiederum die epistemologische Basis des frühneuzeitlichen Sammlungsraumes der Kunst- und Wunderkammer, als deren textuelles Pendant die Relationes in dieser Arbeit insgesamt bewertet werden (siehe Kapitel VI und folgende). Schon in der Spätantike5 hatte Augustinus (354-430) mit seinen Bekenntnissen den „Urtext“6 vorgegeben, der für jede Beschäftigung mit der Neugier bis weit ins 17. Jahrhundert maßgeblich blieb und eine beispiellose Wirkungsgeschichte entfaltete. Noch in Texten der 1670er Jahre, die auch Happel bekannt waren, ist Augustinus die zentrale Autorität der Diskussion (siehe unten). Zwar hatten schon frühere Autoren die potentiellen Gefahren und Irrwege menschlicher Neugier angemahnt. Doch erst mit Augustinus’ Bekenntnissen wurde die Neugier in den Katalog der menschlichen Hauptlaster aufgenommen und als eine der fleischlichen Sünde verwandte Augenlust systematisch verwendet.7 Für Augustinus war die menschliche Neugier nur dann zulässig, wenn sie der Gotteserkenntnis diente. Bei seiner Kritik einer lasterhaften Weltverfallenheit stützte er sich auf eine Schlüsselstelle des ersten Johannesbriefs: „Denn alles, was in der Welt sich findet: Lust des Fleisches, Begierlichkeit der Augen, Hoffart des Lebens, kommt nicht vom Vater her, vielmehr kommt es von der Welt“.8 Im besten Fall galt die Neugier als nutzloser Müßiggang, im schlimmsten Fall als verhängnisvoll, dann etwa, wenn sie versuchte, in die Geheimnisse der Natur vorzudringen.9 Im weitesten Sinne war daran ein folgenreiches und über Jahrhunderte immer wieder auftauchendes Tabu gekoppelt – der Neugierige dürfe sich nicht in jene Dinge einmischen, die ihn ,nichts angehen’.10 Bemerkenswert hinsichtlich der Entwicklung im 17. Jahrhundert ist 4 5 6 7 8 9 10
Daston / Park: Wunder, S. 15. Zur Bewertung der curiositas durch Augustinus: Bös, Gunther: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffs durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin, Paderborn 1995, S. 90-131. Daston, Lorraine: Curiosity in Early Modern Science, in: Word and Image, 11, 1995, 391-404, hier S. 393. Blumenberg: Der Prozess der theoretischen Neugierde, S. 103. Neues Testament, 1. Johann. 2. v. 16. Dazu etwa: Ginzburg, Carlo: High and Low. The Theme of Forbidden Knowledge in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Past and Present, 73, 1991, S. 28-41, hier S. 32. Daston, Lorraine: Die kognitiven Leidenschaften. Staunen und Neugier im Europa der frühen Neuzeit, in: Dies.: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt 2001, S. 77-99, hier S. 81.
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die von Augustinus kategorisch getroffene Unterscheidung von ,studiosus’ und ,curiosus’: Nur der sich den sinnlichen Verlockungen der Welt entziehende ,studiosus’ habe die Möglichkeit, zu göttlicher Weisheit (,sapientia’) zu gelangen.11 Das Doppelte der Sündenstruktur – die unstillbare und zugleich ungeregelte Gier nach Neuem – wurde in der mittelalterlich-scholastischen Rezeption von Augustinus noch verschärft.12 Bernhard von Clairvaux (19901153) stigmatisierte die curiositas als eine der Ursachen des Sündenfalls und rückte sie im Katalog der Hauptsünden in direkte Nachbarschaft zum Hochmut13 (superbia). Diese Zuordnung behauptete sich selbst noch in der Ikonographie des 17. Jahrhunderts, ebenso wie Clairvauxs weitere Annahme, eine in Folge der Neugier erkrankte Seele zeige sich in einem unruhigen Äußeren, in gespitzten Ohren und ruhelosem Umherblicken14 (siehe unten). Als Strategie des Widerstands gegenüber einer verhängnisvollen weltlichen Ablenkung empfahl Clairvaux einen in Demut gen Boden gerichteten Blick.15 Eine gemäßigtere Position findet sich bei Thomas von Aquin (12251274), für den die Gotteserkenntnis nicht mehr die notwendige Prämisse, sondern die Erfüllung der legitimen Neugier ist.16 Thomas’ Konzept der ,studiositas’ geht von einer tugendhaften, weil gemäßigten Wissbegierde aus, zu der sich die Neugier wie eine „quantitative Verzerrung“17 verhält. Insgesamt wurde die curiositas bei den Kirchenvätern so zu einer Art Füllbegriff, mit dem prinzipiell alles verurteilt werden konnte, das unter dem Generalverdacht der Heillosigkeit stand. Jenseits des theologischen Diskurses deutete sich jedoch bereits in einigen Kontexten ein allmählicher Bewertungswandel der Neugierde an, so etwa in vielen Reiseberichten des Spätmittelalters. Während die Pilgerreise dem zu durchmessenden Raum idealiter keine Aufmerksamkeit schenkte und stattdessen wiederholt vor der Gefahr warnte, sich nicht den Verlockungen der sichtbaren und physischen Welt hinzugeben, stand für den Reisenden des anbrechenden ,Entdeckungszeitalters’ zunehmend nicht mehr die Sorge um das Seelenheil, sondern die Reise selbst im Mittelpunkt des Interesses – und damit einhergehend auch die Neugier.18 Gleichwohl war 11 12 13 14 15 16 17 18
Zacher, Christian: Curiosity and Pilgrimage. The Literature of Discovery in Fourteenth Century England, Baltimore 1976, S. 20. Bös: Curiositas, S. 91ff. Ebd., S. 159. Ebd., S. 157. Ebd., S. 154. Blumenberg: Der Prozess der theoretischen Neugierde, S. 324. Ebd., S. 325. Stagl, Justin: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550-1800, Köln 2002, S. 71. Jedoch wurde bereits im Mittelalter zunehmend festgestellt, dass „[...] an den Pilgerfahren
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kaum ein Autor zeitgenössischer Reiseberichte der Meinung, dass weltliche Neugier a piori gut sei.19 Ihr moralischer Status blieb weiter zweifelhaft: Einigen galt sie weiter als Sünde, während andere die Neugier bereits als harmlose oder gar tugendhafte Motivation auffassten.20
3.1. Weltverfallenheit: Ambivalenz und Aufstieg der Neugier im 17. Jahrhundert Als um 1681 die ersten Bögen der Relationes Curiosae erschienen, löste die Verwendung des Attributs „curiös“ oder seiner lateinischen Äquivalente noch keineswegs ausnahmslos positive Assoziationen aus. Anders als noch Hans Blumenberg geht die neuere Forschung nicht mehr davon aus, dass die Transformation der Neugierde seit dem 17. Jahrhundert als ein linearer Prozess des dramatischen Um- und Aufschwungs verlaufen sei.21 Wie oben angedeutet, gilt für das 17. Jahrhundert vielmehr, dass die alten moralischen Vorbehalte gegenüber der curiositas in bestimmten Zusammenhängen eine erstaunliche Langlebigkeit bewiesen – aber auch um neue, positive Semantiken ergänzt wurden, so dass sich zwei kulturelle Prozesse überlagerten und nicht einfach ablösten. Es gab weder eine Revolution in der Einschätzung der Neugier im 17. und 18. Jahrhundert, die Augustinus’ Verdikt schlagartig verabschiedet hätte, noch die eine Geschichte der Neugier, sondern einzelne „local narratives“.22 Wer was und wie über die curiositas dachte und schrieb, hing weiter vor allem von den institutionellen, medialen und intellektuellen Kontexten ab, davon, ob sich ein Autor etwa in den Vorgaben kirchlicher oder weltlicher Diskurse bewegte. Die Pressedebatte des 17. Jahrhunderts beispielsweise stand der Neugier eher reserviert gegenüber (siehe unten). Besonders sinnfällig wird die Tragweite des alten Urteils über eine sündhafte curiositas schon in den Bildmedien des 17. Jahrhunderts: 1617 findet sich in der Emblemata Nova23 von Andreas Friedrich (1650-1617) eine Perso-
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die ,curiositas’ einen oft größeren Anteil hatte als die ,pietas’“. Stagl, Justin: Ars apodemica. Bildungsreise und Reisemethodik von 1560 bis 1600, in: Ertzdorff-Kupffer, Xenja von (Hrsg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (= Chloe, Band 13), Amsterdam 1992, S. 141-191, hier S. 142. Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 124. Campbell, Mary B.: The Witness and the Other World. Exotic European Travel Writing, 4001600, Ithaca 1988, S. 136. Marr, Richard: Introduction, in: Evans / Marr (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 1-21, hier S. 7ff.; sowie vor allem: Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 44f. Marr: Introduction, S. 8. Friedrich, Andreas: Emblemata Nova; das ist / New Bilderbuch: Darinnen durch sonderliche Figuren der jetzigen Welt Lauff und Wesen verdeckter Weise abgemahlet [...], Frankfurt 1617.
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nifikation der Neugier als Element einer allegorischen Darstellung des Lasterbaums samt seinen schönen Früchten (Abb. 6). „An Früchten wird der Baum erkant / die Laster sind sehr nah verwandt [...]“, heißt es auf den moralisierenden Versen unterhalb des Stiches. Nicht zufällig findet sich die curiositas – dargestellt als männlicher Gelehrter – daher in direkter Nachbarschaft zur superbia, dem Stolz und Übermut. Nur ein Jahr später, 1618, erschien eine ergänzte Auflage der vielleicht einflussreichsten Bildenzyklopädie der Frühen Neuzeit: Cesare Ripas (1555-1622) Iconologia24 (erstmals 1593). Die hier weibliche Personifikation der curiosità (Abb. 7) setzt die zentralen Attribute des klassischen Lasterurteils ins Bild:25 Die Flügel der Frauengestalt verweisen auf die Geschwindigkeit einer sich über alle Grenzen hinaus ausbreitenden Neugierde; zerzauste Haare und empor gehobenen Hände symbolisieren den Zustand permanenter geistiger Unruhe. Hinzu kommen die nicht zu übersehenen Details am Kleid: Lüsterne Ohren und Augen machen die Kritik an einer unstillbaren und geschwätzigen Neugiersucht besonders anschaulich.26 Die ambivalente bis ablehnende Haltung gegenüber weltlichen Formen der Neugier zeigte sich noch einhundert Jahre nach Ripas Iconologia selbst in jenen Werken, die die „Curiosität“ im Titel trugen: Die Curieuse Historie derer Gelehrten27 (1718) führt ein eigenes Kapitel mit Beispielen „Von der allzu grossen Curiosität derer Gelehrten“28 an – und kritisiert erneut einen maßund ziellosen Wissensdrang: „So bald wird die Curiosität straffbar, wenn sie sich um nichtswürdige Dinge bekümmert“.29 Das Verhältnis von Neugier und Wissen blieb also auch im 18. Jahrhundert noch prekär. Ein eindrucksvolles Beispiel für das gleichermaßen restriktive wie apologetische Reden über die Neugier zu Happels Zeit findet sich in Johann Adam Webers (1611-1686) Hundert Quellen der Unterredungskunst30 (1676), eine auch für die 24 25
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Ripa, Cesare: Nova Iconologia [...]: Nella quale si descriuono diuerse Imagini di Virtù, Vitij, Affetti, Passioni humane, Arti, Discipline, Humori, Elementi, Corpi Celesti [...], Padova 1618. Noch Zedlers Universal-Lexion bringt eine wahrscheinlich an Ripa angelehnte Beschreibung der curiositas: „Von denen Mahlern wird die Neugierigkeit als ein Frauenzimmer vorgestellet, das ein Kleid an hat, worauf man eine Menge Ohren und Frösche siehet. Sie ist geflügelt, ihre Haare stehen zu Berge, ihre Arme sind aufgehoben, und ihr Kopff umgekehret, gleich als wenn sie alles laurete“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 24, 1740, Sp. 172-174, hier Sp. 172. Siehe auch: Krüger: Curiositas, S. 12f. Bernhard, Johann Adam: Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten, darinnen von der Geburth, Erziehung, Sitten, Fatis, Schrifften [...], Frankfurt 1718. Ebd., S. 280ff. Ebd. Weber, Johann Adam: Hundert Quellen Der von allerhand Materien handelnden UnterredungsKunst: Darinnen So wol nützlich-Curiose / [...] Exempel enthalten [...], Nürnberg 1676f.
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Relationes Curiosae wichtige Quelle (siehe Kapitel 4.4.). Rechtfertigend spricht bereits der Titel allein von nützlich-Curiosen Inhalten. Webers epistemologische Zergliederung der „Curiosität“ sei im Folgenden wiedergegeben, da sie sich wie ein pointiertes Resümee der Kontroverse über die curiositas im späten 17. Jahrhundert liest und sich insofern als Folie für die Semantiken der Neugier in Happels Wochenblatt anbietet. Auffällig ist die Emphase, mit der Weber die von ihm gebilligte Form der „Curiosität“ in den Hundert Quellen verteidigt. Sie zeigt noch einmal den heiklen Status der Neugier im Mediendiskurs der Zeit. In ausdrücklicher Anlehnung an Augustinus geht der Autor in seiner moralisierend-orthodoxen Argumentation von der Doppelstruktur einer ,guten’ und einer ,schlechten’ Neugier aus. Deutlich ist die alte Polarität eines nützlichen wie frommen Wissensdranges und eines nutzlosen und eitlen Vorwitzes. So „[...] ist zu wissen / daß zweyerley Curiositäten gefunden werden / nemlich eine in den Schranken der Ehrbarkeit bestehende / lobwürdige und nützliche / und dann auch eine scheltwürdige / lasterhaffte und höchstschädliche: Jene ist nichts anderes / als eine Lehrbegierigkeit; Diese aber verdienet nicht so sehr eine Lehrals Lasterbegierigkeit genennet zu werden / ist auch mit unnützen Dingen beschäfftiget / die uns nichts angehen / noch zu einem bequemen Endzweck gerichtet sind. Dann wer nur deßwegen etwas zu wissen begehret / damit er Wissenschafft erlange / und dabey sein Absehen nicht auch auf einen höhern Zweck / welcher Gott ist / richtet / der ist ein eitel-curioser Mensch / spricht S. Augustinus de verâ Religione c.19. Welche eitele und thörichte Curiosität eben dieser H. Lehrer gar schön bestraffet / indem er einen Africaner / der ihn vorwitzer Weise fragte / was Gott vorerschaffung der Welt gemachet / geantwortet: Er bauete die Hölle vor alle vorwitzige Gesellen“.31
Und konzeptionell verteidigend fährt Weber fort: „Wann derohalben in diesem Werck von der Curiosität Meldung geschicht / so wolle der günstige Leser nicht gedenken / als ob von jener schädlichen Curiosität gehandelt würde / sondern er versichere sich / daß es die nützliche und unschädliche seye / welche von Tugendliebenden und Gelehrten Personen jederzeit hochgeachtet / auch durch den Gebrauch und Ubung gebilliget und gantz bewährt befunden worden“.32
Aus der Polarität von Schaden und Nutzen ergibt sich die Illegitimität jener Neugier, die als reiner Selbstzweck im Kontext von Unterhaltung steht und damit wiederum zur Sünde wird – ein Punkt, der sich deutlich auch in der Pressedebatte der Zeit spiegelt (siehe unten). Allerdings gesteht Weber auch zu, dass bloßer Nutzen Langeweile erzeuge. Er plädiert für eine Art Mittel31 32
Weber: Hundert Quellen, Vorrede, Bl. 1r. Ebd., Bl. 2v.
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weg in der Synthese von Nützlichkeit und Unterhaltung und aktualisiert damit Horaz’ antike Formel vom ,prodesse et delectare’: „Dann aber die Belustigung allein / gehöret zur Eitelkeit; die Nutzbarkeit allein vertreibet die Lesens-Begierde; wo aber die Belustigung und Nutzbarkeit mit einander vereinbaret werden / da ist auch die auserlesenste Vollkommenheit“.33 Die weiter geläufige Negierung der Neugier markiert im 17. Jahrhundert nur die eine Seite des Diskurses. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatte sich eine im Grunde gegenteilige Transformation vollzogen, in der die Neugier Züge einer Tugend annahm und durch ihren druckmedialen Aufstieg erstaunliche Integrationskraft entfaltete.34 Verkürzt gesprochen, mündete der Wandel darin, dass die Neugier mit beeindruckender Intensität von der kulturellen Peripherie in das Zentrum der Wahrnehmung rückte; sie einte Laien wie Gelehrte im Gefühl einer kollektiven Welt- und Modehaltung und trieb auch den Konsum neuer Medien deutlich voran. Ein historischer ,Initialmoment’ der Umwertung ist nicht mehr auszumachen, gleichwohl ist es auffällig, dass Autoren seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in vielen Kontexten dazu tendierten, der curiositas deutlich positivere Bedeutung zuzuschreiben.35 Wie oben angedeutet, beförderte das ,neugierige’ Vokabular der Reisebeschreibungen diesen Prozess. Er nahm schließlich auch auf Happel Einfluss, da die gefragten Reiseberichte der Epoche zum grundlegenden Quellenkorpus seines Periodikums gehören (siehe Kapitel 4.4.). In vielen Texten wandelte sich das alte Stigma einer heillos weltlichen Neugier zum aktiv bejahten Impuls einer im konkreten Sinn er-fahrenen Weltaneignung. Zunehmend selbstbewusst gaben Reisende der Zeit an, tatsächlich aus reiner Neugier aufgebrochen zu seien.36 So sprach der berühmte Orientreisende JeanBaptiste Tavernier (1600-1689) schon im Titel seines Berichts von seiner Curieusen Reise.37 Zur Aufwertung der Neugier im Reisediskurs kam ihre Kar33 34
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Weber: Hundert Quellen, Vorrede, Bl. 3r. „Why was curiosity such a fashionable and controversial topic in numerous orations, conversations, treatises, brochures, conduct manuals, university dissertations, sermons, letters, periodicals, newspapers, novellas, plays, operas, ballets, and poems?“. Kenny: Uses of Curiosity, S. 1. Ders.: Curiosity in Early Modern Europe, S. 14; so auch Peter Burke: „Aus heutiger Sicht könnte man versucht sein, die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts als eine kurze Epoche der Kuriosität zu beschreiben. Zu jener Zeit wurden die Wörter kurios, curiosis oder curieux (im Sinne von neugierig) immer häufiger verwendet“. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 136. Siehe etwa: Williams, Wes: ,Out of the frying pan...’: Curiosity, danger and the poetics of witness in the Renaissance traveller’s tale, in: Evans / Marr (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 21-43, hier S. 25. Tavernier, Jean-Baptiste: Vierzig-Jährige Reise-Beschreibung: Worinnen dessen / durch Türkey / Persien / Indien [...] sechsmalige Länder-Reise [...] verzeichnet [...] / In dreyen Theylen [...], Nürnberg 1681.
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riere im wissenschaftlichen Kontext:38 Sammler und Wissenschaftler verständigen sich vermehrt als „Curiosi“, trafen sich im Collegium Curiosum,39 verfassten Dissertationen über die Neugier40 und gaben eines der ersten gelehrten Periodika überhaupt unter dem Titel Miscellanea Curiosa heraus. Gerade die forschende Neugier wurde zunehmend glorifiziert – für Thomas Hobbes war sie das zentrale Merkmal, das den Menschen über das Tier erhebt.41 Etwa ab der Mitte des 17. Jahrhunderts entfaltete die Schwärmerei für die Neugier enorme kulturelle Breitenwirkung: Die „Curiosität“ wurde zum Mode- und Allerweltsbegriffs,42 dessen konkret semantischer Gehalt zu verwässern drohte – was vor allem zählte, waren die plakativen Reize des Neugieretiketts. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde der „curieuse Leser“ – in England und Frankreich äquivalent als „curious reader“ und „curieux lecteur“43 – erstmals explizit ,entdeckt’ und in einer Masse an Literatur quer durch das verfügbare Medienspektrum auch adressiert.44 Um 1684 richtet sich eine topographische Schrift beispielsweise schon im Titel an das Neugierige und veränderte Teutschland.45 Und noch im gleichen Jahr spricht Philipp von Zesen in einem später auch von den Relationes Curiosae verwerteten Hamburger Flugblatt sogar vom „neubegierigen Europa“;46 eine optimistische Wertung, für die sich gegen Ende des Jahrhunderts Zeugnisse auch in 38 39
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Dazu: Daston, Lorraine: Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: Krüger (Hrsg.): Curiositas, S. 147-175. Collegium Curiosum, Das ist: Unterschiedliche nachdenckliche und Sinreiche Discours und Gespräch: gehalten Zu Pariß von etlichen vornehmen und hochgelährten Männern. Auß dem Frantzösischen in das Teutsch übersetzt, Frankfurt 1667f. Dazu: Daxelmüller, Christoph: Disputationes curiosae: Zum „volkskundlichen“ Polyhistorismus an den Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, Band 5), Würzburg 1979. Daston: Die kognitiven Leidenschaften, S. 84. Steinhausen, Georg: Galant, Curiös und Politisch. Drei Schlag- und Modeworte des PerückenZeitalters, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 9, 1895, S. 22-37. Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 126. So finden sich allein im VD17 insgesamt mehrere hundert Titel aus der Wortfamilie der curiositas. Besonders prominent vertreten ist das aus dem Französischen entlehnte Adjektiv „curieuse“ (rund 180 Titel). Auch wenn keine exakten Zahlen vorliegen, ist bemerkenswert, dass die Menge der auf Latein verfassten Titel kaum höher war als die der deutschen. Insofern stiftete – oder suggerierte zumindest – der übergreifende Rekurs auf die Neugier eine Art Diskursgemeinschaft von Gelehrten und Laien. Das Neugierige und veränderte Teutschland: Worinnen gehandelt wird von dessen Reichthum und Vermögen an Bergwercken / Manufacturen / Schiffreichen Flüssen / wie auch von dessen Fruchtbarkeit und Uberfluß [...], 1684 [ohne Ort]. Der Druck ist gleichzeitig eines der wenigen Beispiele für die Verwendung des deutschen Wortes ,Neugier’. Abriß Eines Kopffs / von einem Einhorn / Der dem gemeinen Lauff der Natur zugegen / mit zwey Hörner versehen / und Anno 1684. in Grönland gefangen worden, Hamburg 1684.
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deutschsprachigen Periodika finden: 1689 setzt Tentzel seine Monatlichen Unterredungen in direkten Bezug zum Zeitgeschmack. Die Gesprächssituation handelt von „[...] zwey gute[n] Freunde[n] / welche nach der heutigen Mode sehr curieus ware[n] / und gerne von neuen Geschichten und neuen Büchern redeten / und davon ein unvorgreiffliches Urtheil fälleten“.47 Das Selbstbild einer neugierigen Gegenwart nahm schließlich sogar Züge einer Epochensignatur an. 1699 spricht Jakob Friedrich Reimann (1668-1743) rückblickend vom „curieuses Seculum“,48 eine Einschätzung, die 1712 vom Hamburger Schulschriftsteller Johann Hübner (1668-1731) im Curieusen Natur-Kunst-Gewerk und Handlungs-Lexicon auch für das 18. Jahrhundert geteilt wird. So sei sicher, dass „[...] das ietzige Seculum eine solche Curiosität bei sich [trägt], daß ein iedweder alles; oder doch zum wenigsten von allem etwas wissen will“.49 Die Omnipräsenz der Neugier wurde zeitgleich jedoch weiter kritisiert und provozierte bereits überdrüssige und spöttische Reaktionen, so auch in Hamburg. Um 1724 etwa beklagt etwa eine Flugschrift die „[...] allzu curieusen Haufen [...]“50 in der städtischen Öffentlichkeit. Besonders übel stieß gegen Ende des Jahrhunderts bereits Christian Thomasius das inflationäre „Curiositäts“-Etikett auf. Der oberflächlichen Begriffsverwendung als verkaufsfördernde Masche gehe jedes inhaltliche Programm verloren: „Ja wenn nur der Titel von Curiositäten gedencket / oder das Wort curiös sonsten darinnen enthalten ist, so bilden sich die Verleger ein, daß sie es eher loß würden, als wenn dieses Wort mangelt“.51 Happel folgte mit seiner eigenen Titelwahl für die Relationes Curiosae also einer etablierten Logik eines Marktes, die unter der Neugier eine kaum mehr zu überblickende Fülle an medialen Genres und Wissensinhalten vereinte.52 Der publizistische Reiz der curiositas speiste sich am Ende des 17. Jahrhun47 48
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Tentzel: Monatliche Unterredungen, 1689, Ianuarius, S. 3. Reimmann, Jacob Friedrich: Critisirender Geschichts-Calender Von der Logica: [...] Darin das Steigen und Fallen Dieser hoch-vortrefflichen Disciplin [...] Dem Curieusen Seculuo zur gütigen Censur überreichet [...], Frankfurt 1699; dazu auch: Brendecke, Arndt: Die Jahrhundertwenden. Eine Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung, Frankfurt 1999, S. 383. Hübner, Johann (Hrsg.): Curieuses und reales Natur- Kunst- Berg- Gewerck- und HandlungsLexicon, darinne nicht nur die in der Physic, Medicin, Botanic, Chymie, Anatomie, Chirurgie und Apothecker-Kunst gebräuchlichen Termini technici [...] beschrieben werden [...], Leipzig 1712, Vorrede, Bl. 2v. Ausführliche und Gründliche Nachricht, Von dem Leben, Ubelthaten, Inquisition, und Tod zweyer in Hamburg den 6ten Martii 1724 Aufgehenckten vornehmen Diebe [...], Hamburg 1724. Für diesen Hinweis danke ich Daniel Bellingradt, Berlin. Zitiert nach: Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 187. Bis hin etwa zum berühmtesten Werk der Hausväterliteratur, das zeitgleich mit den Relationes Curiosae erschien: Hohberg, Wolf Helmhardt von: Georgica Curiosa. Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben [...], Nürnberg 1682ff.
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derts vor allem aus zwei Punkten: Zum einen bot sie sich als Label an, weil ein fester semantischer Kern tatsächlich kaum zu fassen war und sie sich stattdessen durch ein flexibles Spektrum mitschwingender Konnotationen auszeichnete: Neuigkeit, Gründlichkeit, aber auch ansprechende Kürze und „sensationelle Pikanterie“.53 An diesem Punkt nahm die ,Kultur der Neugier’54 nicht selten Anleihen bei den Mechanismen der Sensationspresse. Zum anderen bildeten „curiöse“ Titel einen Teil des ,Mainstreams’ der Medienproduktion, weil die curiositas ein ambivalenter Reizbegriff blieb und zwischen den konträren Besetzungen von Tugend und Laster oszillierte. Besonders die Ablehnung im theologischen Kontext blieb hier weiter einflussreich. So warnte die fromme Innerlichkeit des Pietismus kontinuierlich vor den Gefahren der Neugier. August Hermann Francke (1663-1727) beklagte die „[...] fleischliche Curiosität, allerley neues zu sehen und zu hören [...]“.55 Und noch 1711 stellt der ebenfalls pietistische Tobias Pfanner (1641-1716) im Christlichen Buß- und Lebens-Weg56 verbittert fest: „Sie hören gerne was neues, sie sind gerne, wo es was zu lachen giebt, bey Comödien und Gauckelspielen, sie hören den Marckschreyern und denen Narren und Possenreissern gerne zu, sie lesen gern curieuse und kurtzweilige Bücher, so doch alles mit der ernstlichen Übung der Gottesfurcht nicht bestehen mag“.57
Gegenüber der breiten Akzeptanz einer ,säkularen’ Neugier im 18. Jahrhundert befanden sich solche Argumente gleichwohl klar in der Defensive. Mit Blick auf den Erfolg und die Rezeption der Relationes Curiosae lässt sich der skizzierte kulturelle Wandel durch einen erneuten Rückgriff auf die visuelle Personifikation der curiositas verdeutlichen: Entschieden sich Wiering und Happel möglicherweise schon aus Kostengründen nicht dazu, die nachträglichen Jahresbände der Relationes zusätzlich zum Titelblatt auch mit einem Frontispiz zu versehen, so verfügen die englischen Curious Relations von 1738 über eine Titelillustration (Abb. 8). Es ist frappierend, wie sie die negativen Attribute der curiosità-Personifikation von Cesare Ripa ins positive Gegenteil verkehrt: Auch hier ist eine weibliche Person im Kleid zu sehen, sündhafte Stigmata finden sich jedoch nicht mehr. Zudem unterscheidet sich die räumliche Situation deutlich: Während Ripa seine curiosità auf 53 54 55 56 57
Langen, August: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Maurer, Friedrich / Rupp, Heinz (Hrsg.): Deutsche Wortgeschichte, Band 2, Berlin 1974, S. 31-244, hier S. 32. Weiterführend: Whitaker, Katie: ,The Culture of Curiosity’, in: Jardine, Nicolas / Spary, Emma C. (Hrsg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 75-90. Zitiert nach: Martens, Wolfgang: Literatur und Frömmigkeit in der Frühen Aufklärung, Tübingen 1989, S. 105. Pfanner, Tobias: Christlicher Buß- und Lebens-Weg: Aus denen alten Kirchen-Lehrern und andern erbaulichen Schrifften gezeiget [...], Leipzig 1711. Zitiert nach: Martens: Literatur und Frömmigkeit, S. 105.
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offenem Feld zeigt, ist die curiositas des frühen 18. Jahrhunderts samt ihrer ,Kinder’ ins Studierzimmer gewandert. Hier ist sie nicht länger von maßloser, äußerer Unruhe gekennzeichnet, sondern offensichtlich durch disziplinierte und musische Lektüre. Die Spitze der symbolischen Umwertung markiert die Dichterkrone auf dem Haupt der Figur, die diese als poeta laureatus zeigt. Noch im späten 17. Jahrhundert wäre diese selbstbewusste Personifikation unmöglich gewesen. Obwohl die Neugier zu einem wesentlichen Faktor der (Druck-)Kultur geworden war, riss die Debatte über das genaue Was und Wie ihrer Zulässigkeit nicht ab. Im Diskurs über die Legitimität der Neugier war immer auch die prekäre Frage berührt, inwieweit der grundsätzliche Anspruch, prinzipiell immer mehr zu wissen, im Kontext zunehmender Alphabetisierung auch die sozialen Grundlagen des Wissens neu konfigurierte – und die Zeiten beendete, in denen (gedrucktes) Wissen das Privileg weniger war. Die Gefahren eines sozial entgrenzten Wissenskonsums wurden gerade auch mit den neuen Medien der Zeit in Verbindung gebracht, wie die Pressedebatte des späten 17. Jahrhunderts zeigt. Der folgende Abschnitt beleuchtet einige ihrer Hauptargumente, um anschließend den Verwendungsweisen des Neugierbegriffs in den Relationes Curiosae nachzugehen.
3.2. Neugier und neue Medien: Die Pressedebatte des 17. Jahrhunderts Die deutsche Zeitungslandschaft zeigte sich bereits weit entwickelt, als die ,Zeitschriften’ in den 1670er Jahren erst am Anfang ihres typologischen Ausdifferenzierungsprozesses standen: Es gab – mit steigender Tendenz – weit mehr als sechzig Zeitungen im Reich.58 Schon diese flächendeckende Verbreitung des immer noch jungen Mediums ließ Zeitgenossen seine Qualität als Massenmedium erkennen.59 Sie rief auch erste Theoretiker der Presse auf den Plan, die immer dann, wenn sie über den Status der Zeitung reflektierten, implizit auch alle weiteren periodischen Publikationsformen mitdachten. Die entstehende Debatte von Medienapologeten und Medienkritikern drehte sich im Kern um den „[...] Nutzen und Schaden, Gebrauch und Missbrauch [...]“60 der Zeitung. Für den Kontext des „curieusen Seculums“ ist wichtig, dass in der dogmatisch geführten Kontroverse von Beginn an 58 59 60
Stöber: Mediengeschichte, Band 1, S. 55. Lindemann: Deutsche Presse, S. 132. Wilke, Jürgen: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin 1984, S. 57.
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betont wurde, dass das neue Medium auch das favorisierte Medium der Neugier war. Mögliche Gefahren des Konsums periodischer Blätter wurden stets aus dem eingefahrenen Motiv einer schädlichen Neugier abgeleitet. Für beide Seiten – ob konservativ-ablehnend oder progressiv-befürwortend – wurde die Neugier zu einem zugkräftigen Propagandainstrument.61 Anders formuliert: Die Argumentationslinien in der Debatte über den Wert oder Unwert der Zeitung entwickelten sich entlang des strittigen Verhältnisses von Medien und Emotionen.62 Im Mittelpunkt stand der Streit darüber, ob die Neugier als Antrieb des Medienkonsums überhaupt zulässig sei; und wenn ja, für wen.63 Hier seien nur die Positionen der Wortführer in der Debatte kursorisch berührt: Der erste Theoretiker und zugleich erste Befürworter der Neugier im Zeitungskontext war der prominente Dichter und Gymnasialdirekter Christian Weise (1642-1708): Die legitime Rolle der curiositas bei Weise deutet schon der Titel seines apologetischen Traktats an, der 1703 auch ins Deutsche übertragen wurde:64 Schediasma Curiosum De Lectione Novellarum.65 Weise, der bereits in den 1690er Jahren einige Curiöse Gedancken66 publiziert hatte, billigt den Neugier- und Wissensdrang als menschliche Grundbefindlichkeit zunächst prinzipiell. So sei es eines der „sonderlichen Affecte“ des Menschen, dass „[...] man sich aus hefftige Curiosität um etwas neues und sonderliches bekümmerte“.67 Diesen Impuls will Weise nicht unterdrückt, sondern gefördert sehen, jedoch nicht als Selbstzweck: Als Pädagoge akzentuiert er den Wert des neuen Mediums vor allem als Bildungs- und Erzie61 62
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Benedict: Curiosity, S. 4. Eine neuere Position lautet: „Die emotionshistorische Dimension dieser [Massenmedien, F.S.] ist bisher unterschiedlich stark beachtet worden, am geringsten vermutlich für die Printmedien. Dabei begann die Reflektion über das Verhältnis von Zeitung und Emotion schon im späten 17. Jahrhundert. So wurde etwa die Zeitungslektüre selbst mit Emotionen wie Neugier, Lust und Mitleid erklärt“. Bösch, Frank / Borutta, Manuel: Medien und Emotionen in der Moderne. Historische Perspektiven, in: Dies.: (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt 2006, S. 13-42, hier S. 23. Auch wenn es an diesem Punkt reizvoll erscheint, Peter Burkes anschauliche Dichotomie von ,roher Information’ und ,gekochtem Wissen’ (Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 20f.) auf den Diskurs über die Zeitung zu übertragen, erweist sich dies mit Blick auf die Quellen als wenig tragfähig. Eine Abgrenzung beider Begriffe bzw. Kategorien lässt sich weder in der Neugierdebatte im Kontext der Zeitung noch in anderen Quellen erkennen. Weise, Christian: Curieuse Gedancken von den Nouvellen oder Zeitungen. Denen, ausser der Einleitung, wie man Nouvellen mit Nutzen lesen solle, annoch beygefügt sind [...], Frankfurt 1703. Ders.: Schediasma Curiosum De Lectione Novellarum [...], Jena 1676. Darunter die poetologische Abhandlung Weise, Christian: Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen: Welcher gestalt Ein Studierender in dem galantesten Theile der Beredsamkeit was anständiges und practicables finden sol / damit er Gute Verse vor sich erkennen / [...], Leipzig 1692. Zitiert nach Wilke: Nachrichtenauswahl, S. 115.
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hungsinstrument und rückt die Debatte damit bereits ins Vorfeld früher volksaufklärerischer Konzeptionen.68 Weises Programmschrift blieb nicht unbeantwortet. Noch im gleichen Jahr wetterte der Jurist und Pietist Ahasver Fritsch (1629-1701) gegen den Missbrauch der Zeitungen. Dass er seine Streitschrift Discursus De Novellarum69 (1676) ausschließlich auf Latein publizierte, verweist schon auf ein Hauptargument seiner polemischen Position: Notwendigkeit und Zulässigkeit neugieriger Zeitungslektüre streitet auch Fritsch nicht grundsätzlich ab, er will sie allerdings einer restriktiven Kontrolle unterworfen sehen. Denn allein Fürsten, Regierende und Beamte, die Fritsch als „personae publicae“70 subsumierte, sollten sich der Zeitungen bedienen dürfen; für alle anderen, die „personae privatae“, seien Neugier und unkontrollierte Zeitungssucht eher schädlich bis gefährlich.71 Noch im gleichen Jahr erschien das deutschsprachige Pendant zu Fritschs Pamphlet, das diesem sogar gewidmet war. Nicht weiter überraschend war es theologischer Provenienz. Die Verurteilung der Neugier als ,Vorwitz’72 erhebt das Traktat des Rothenburger Superintendenten Johann Ludwig Hartmann (1640-1684) schon im Titel zum Programm: Unzeitige Neue-Zeitungs-Sucht / und Vorwitziger Kriegs-Discoursen Flucht.73 Hartmann polemisiert angesichts einer ,grassierenden’ Vorliebe für die Presse im überkommen Tonfall, dass „[...] die Neue-Zeitungs-Sucht nichts anders sey als ein unnütze Curiosität und schändlicher Fürwitz zu vernehmen [...]. Dann für allen Dingen zu erinnern / es sey ein guter Unterscheid zu machen zwischen denen Personen / die sich der Avisen eigentlich anzunehmen haben / oder nur aus Fürwitz bedienen“.74 68 69 70
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Siehe auch: Straßner, Erich: Kommunikative Aufgaben und Leistungen der Zeitungen, in: Leonhard / Ludwig / Schwarze (Hrsg.): Medienwissenschaft, S. 837-851, hier S. 847. Fritsch, Ahasver: Discursus De Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge [...], Jena 1676. Nach: Lindemann: Deutsche Presse, S. 132; weiterführend auch: Barton, Walter (Hrsg.): Ahasver Fritsch und seine Streitschrift gegen die Zeitungs-Sucht seiner Zeit. Die lateinische Originalausgabe (Jena 1676) mit Übersetzung, Kommentaren und Erläuterungen (= Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte 8), Jena 1999, S. 17ff. Nach: Kurth, Karl: Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung, Brünn 1944, S. 39. Das lange tradierte Verdikt findet sich unter einem eigenen Lemma noch in Zedlers Universal-Lexicon: „Vorwitz, oder Vorwitzigkeit, ist ein Laster, in dem man sich um etwas, das einem nicht angehet, und dazu man keinen Beruff hat, ja das wohl gar verboten ist, oder, wenn man auch Beruff dazu hat / doch nicht zu rechter Zeit und auf gehörige Weise sich darum bekümmert. Daß dieses Laster niemahls zu billigen, oder guter Vortheil davon zu erwarten sey, lehren die GeschichtBücher so wohl, als die tägliche Erfahrung. Vornehmlich aber ist in der Theologie der Vorwitz überaus gefährlich, gifftig, schädlich und tödlich“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 50, 1746, Sp. 1340. Hartmann, Johann Ludwig: Unzeitige Neue-Zeitungs-Sucht / und Vorwitziger Kriegs-Discoursen Flucht [...], Rothenburg 1679. Zitiert nach: Lindemann: Deutsche Presse, S. 137.
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Wie Fritsch warnt auch Hartmann vor einer letztlich die soziale Ordnung unterminierenden Kraft schädlicher Neugier und will die Lektüre von Zeitungen nur auf jenen Personenkreis eingeschränkt wissen, für den das Medium auch beruflich unentbehrlich sei.75 Milder gestimmte Beiträge zur Debatte kamen knappe zehn Jahre später sicher nicht zufällig aus der Pressemetropole Hamburg und dem benachbarten Altona. Wie bei Christian Weise setzte sich hier zunehmend die Einschätzung durch, dass die Befriedigung der Neugier durch die Lektüre der neuen Pressemedien einen legitimen Weg kultureller Orientierung darstellte. 1688 spendete der Altonaer Schuldirektor Daniel Hartnack (1642-1708) der Zeitung als Medium der ,Weltaneignung’ Beifall, sei diese generell doch eine „[...] Eröffnung des Buchs der gantzen Welt / in welches ein jeder nunmehr sehen / und sonder wenig Kosten darin lesen kan“.76 Die euphorische Beurteilung der Leistungen des neuen Mediums ist jedoch auch bei Hartnack an den Vorbehalt gebunden, dass sich die Neugier der Zeitungsleser nur auf das richten dürfe, was der eigenen „Profession“ ansteht. In allen anderen Lektüremotiven sei lediglich schädliche „Curiosität“ am Werk: „Wenn nun also ein jeder in Zeitungen dasselbe suchet / was seiner Profession ist / so kan ich nicht absehen / wie das Lesern der Zeitungen unter die untätige eitele Curiosität zu bringen“.77 Auch die wichtigste zeitungstheoretische Schrift des 17. Jahrhunderts erschien in Hamburg: Kaspar Stielers Zeitungs Lust und Nutz (1695). Das Werk des Dichters und Sprachwissenschaftlers wurde fünf Jahre nach Happels Tod publiziert und überträgt schon im Titel die zeitgenössische poetische Funktionsbestimmung des prodesse et delectare auf den Zeitungsdiskurs. Obwohl Stieler bereits auf der ersten Seite seines Traktats demonstrativ erklärt, dass „[d]ie Neigung / etwas zu wissen un zuerkenne / [...] natürlich [...]“78 sei, löst auch er sich nicht vom obligatorischen Nützlichkeitspostulat. Von der theoretischen Billigung eines rein unterhaltenden Zusammenhangs von Neugier und neuen Medien bleibt auch Stieler weit entfernt. Als Apologet der Neugier hat er, wie Markus Fauser betont hat, letztlich keine andere Wahl, als „[...] das neue Medium als ein [...] Mittelding einzustufen, um die 75 76
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Zitiert nach: Lindemann: Deutsche Presse, S. 137. Hartnack, Daniel: Erachten von Einrichtung der Alten Teutschen und neuen Europäischen Historien, Zelle / Hamburg 1688, S. 100. Zitiert nach: Böning: Weltaneignung durch ein neues Publikum, in: Burkhardt / Werkstätter (Hrsg.): Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, S. 115. Zitiert nach: Lindemann: Deutsche Presse, S. 138. Ungeachtet dessen folgte Hartnack in anderen Titeln durchaus marktstrategischen Überlegungen. So veröffentlichte er 1690 eine Sammlungen von Theologischen Curiositäten: Darinnen beschrieben und gehandelt wird Von Geistlosen Geistliche / Regenten-Pflicht / Haus- und Kinder-Zucht [...], Wedel 1690. Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, S. 1.
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Neugier darauf und seinen Unterhaltungswert vor der Orthodoxie zu rechtfertigen“.79 Gegen Ende des Jahrhunderts tauchen Reflexionen über den umstrittenen Status der Neugier dann auch in deutschsprachigen Periodika auf. Kritisch äußert sich gegen 1698 ausgerechnet eine Schrift, die selbst zu den ,neugierigen’ Titeln zählte: In Philipp Balthasar Sinold von Schütz’ (16571742) Curieusem Caffee-Hauß zu Venedig80 (1698) moniert einer der fiktiven Gesprächsteilnehmer: „Ich muss [...] bekennen [...] / daß die übermäßige Zeitungs-Begierde / einer dermassen schädliche Krankheit sey / welche durch ihren Missbrauch dem gemeinen Wesen viel Schaden bringet. Wie mancher Handwerks-Mann verlässet seine Wercks-stadt / die ihn und seine gantze Familie ernehren muß / läuffet dem Wein- oder Bier-Hause zu [...]. Es ist nichts gewöhnlichers / als daß die Bauren in der Schencke ein Collegium Curiosum über die ordentlichen PostZeitungen halten / und durch den capabelsten aus ihrem Mittel selbige buchstabiren lassen [...]“.81
3.3. „Curiosität“: Semantische Dimensionen in den Relationes Curiosae Der theoretisch-kritische Neugierdiskurs im Kontext der neuen Medien wurde von den Relationes insofern komplett ignoriert, als das Periodikum geradezu offensiv mit dem Etikett Curiosae für sich wirbt. Auch trifft Happel an keiner Stelle eine Differenz zwischen ,personae publicae’ und ,personae privatae’ und möchte im Gegenteil idealiter ,alle’ angesprochen wissen (siehe Kapitel 5.2.). Im Spektrum der deutschsprachigen Presselandschaft waren die Relationes das überhaupt erste Periodikum mit einem „curiösen“ Titel – auch wenn dies, wie gezeigt, keineswegs originell war, sondern der Ökonomie des Marktes folgte und zudem Anleihen bei den lateinischen Gelehrtenjournalen – Miscellanea Curiosa – nahm. Der vorliegende Abschnitt stützt sich auf den analytischen Rahmen von Neil Kenny, indem er die historischen Verwendungsweisen und Semantiken der Neugier (The Uses of Curiosity) auf der Ebene des konkreten Wortgebrauchs nachzeichnet und Begriffsgeschichte (Word Histories82) über den Fokus auf einen Einzeltext schreibt. Die 79 80
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Fauser, Markus: Unterhaltung, in: Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der Literaturwissenschaft, Band 3, Berlin 2003, S. 728-730, hier S. 729. Schütz, Philipp Balthasar Sinold von: Das Curieuse Caffee-Hauß Zu Venedig: Darinnen die Miß-Bräuche und Eitelkeiten der Welt [...] / vermittelst einiger ergötzlicher Assembléen von allerhand Personen / vorgestellet / [...], Freiburg 1698ff. Zitiert nach: Lindemann: Deutsche Presse, S. 133. Nach dem Titel von Kenny: Curiosity in Early Modern Europe: Word Histories.
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ergänzende Perspektive zu Kenny liegt darin, dass dieser die Untersuchung der Rolle von einzelnen Autoren zwar vorgeschlagen hat, sich in der eigenen Forschung aber auf übergeordnete institutionelle Diskurse beschränkte.83 Die folgenden Ausführungen über Happels Verständnis und die Semantisierung der „Curiosität“ verstehen sich daher als Fallstudie zu den Arbeiten von Kenny. Zunächst ist bezeichnend, dass sich in den Relationes Curiosae – anders etwa als in Webers Hundert Quellen der Unterredungskunst – keine eigene theoretische Reflexion der Neugier findet. Wie viele andere Autoren auch, wendet sich Happel an die Neugier des Publikums und verbindet damit grundsätzlich wie vage eine positive Geisteshaltung. Dadurch, dass Happel im imaginären Dialog zahllose Male den „curieusen Leser“ adressiert, wird dieser als solcher erst ,konstruiert’. Autor und Rezipient teilen die gleiche Bedürfnisstruktur, die gleiche distinguierte Haltung, sind Teil der „curieusen Welt“. Happel steuert so nicht nur die Aufmerksamkeit seines Publikums. Im auffälligen Kontrast zu anderen Positionen der Zeit, für die die Nähe der curiositas zur unmäßigen Gier weiterhin ein prekärer Punkt blieb, kehrt er die Vorzeichen vielmehr um: Befreit von moralischen Bedenken, ist gerade das Unersättliche der „Curiosität“ für Happel ein willkommener Aufhänger; er geht von einer wechselseitigen, symmetrischen Dynamik zwischen Leserschaft und Autor aus, die weniger auf eine endgültige Befriedigung der Neugier denn auf die permanente Verlängerung des Begehrens ausgerichtet ist.84 Programmatisch erklärt Happel gegen 1688: „Gib dich nur zu Frieden curieuser Leser / ist deine Curiosität im Lesen groß / meine sol noch grösser werden im Schreiben / und so lange die Welt stehet / sol und wird es uns nimmer an Materie gebrechen“.85 Einen grundlegenden Konsens der Epoche zweifelt Happel damit nicht an: dass es sich bei der Neugier um einen körperlichen Affekt handelt.86 In den Relationes geht er jedoch so weit, dass er Augustinus’ Verdikt einer fleischlichen Sünde semantisch ins Gegenteil verkehrt und als ideales (Medien-)Konsumverhalten umschreibt. Die „Curiosität“ wird als ein regelrecht physisch-basales Bedürfnis stilisiert, das Happel schüren will, „[...] umb dem Curieuse[n] den Appetit [...] desto grösser zu machen“.87 In den imaginären Dialogen mit den Lesern rückt diese 83
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„Although, the present study, rather than giving a decisive role to individuals, emphazises the role of institutions or discursive tendencies [...] in shaping curiosity, nonetheless it is undeniable that some individuals played an especially crucial role [...] within the culture of curiosities“. Kenny: The Uses of Curiosity, S. 295. Daston / Park: Wunder, S. 361; auch: Dies.: Die kognitiven Leidenschaften, S. 84. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.1, Einleitung, Bl. 3v. Kenny: The Uses of Curiosity, S. 41. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die gesäugte Schlange“, Nr. 69, S. 549.
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triebhafte Struktur der Neugier88 immer wieder in den Vordergrund: „Ich will dem curieusen Leser zur Augen-Lust und Ergötzung seynes Gemüths eine und anders Materien und Außgaben an diesem Orthe anführen“.89 An anderer Stelle legitimiert Happel die inhaltliche Berechtigung eines Exkurses über die Potentaten Außereuropas etwa mit folgendem Argument: „[...] zumahl ich gantz gewiß versichert bin / daß mancher seine Begierde in Anhörung solcher außländischen Geschicht vielmehr wird anwachsen / als ersättigen lassen“.90 Mit der „Ergötzung“ des Gemüts ist klar, dass die Funktion der Neugier auf Seiten des Lesers an erster Stelle in Unterhaltung und Zeitvertreib liegt. Das, was Happel wöchentlich in den Druck gibt, will vorrangig dem „Contentement“91 und „[D]ivertiren“92 dienen, obwohl die Programmatik der Wissenspopularisierung noch umfassender ist (siehe Kapitel V). Letztlich obliegt es allerdings dem Leser, ob sich dessen „Curiosität“ auf das eher passive „Divertieren“ beschränkt oder das anspruchsvollere „Speculiren“ vorzieht, also die eigene geistige Durchdringung der Wissensinhalte. Mit den Relationes will Happel beiden Ansprüchen genügen: „Wie dann deßfalls künfftig einige merckwürdige Exempeln sollen angeführet werden / daran ein curieuses Gemüth ausser allen Zweiffel ein sonderbahres Belustigen haben / und zu fernerem Speculiren Materie genug bekommen wird“.93 In einigen Kontexten gewinnt die „Curiosität“ selbst die Färbung von „tieffem Nachsinnen“;94 damit ruft Happel auch den ursprünglich etymologischen Kern der curiositas im Sinne von ,Gründlichkeit’ und ,Sorgfalt’ beliebig wieder ab. Implizit wird den Lesern damit das Versprechen unterbreitet, zumindest gefühlt einer Elitenkultur anzugehören, die nicht mehr durch das Privileg der Geburt beschränkt war, sondern durch das Kriterium gründlicher und gelehrter Neugier.95 Wer „Curious“ war, galt zugleich auch als „Learned“96 – die semantische Nähe beider Begriffe findet sich in hoher Dichte vor allem in den von Happel exzerpierten gelehrten Periodika wie 88
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So auch: „Die Curieusität trieb ihn an dieselbe zu besehen und seine Lands-Leuthe zu sprechen [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Relation „Die wunderbare Begebenheit“, Nr. 69, S. 546. Ebd., Band 2.2, Relation „Der betrogene äusserliche Sinn“, Nr. 5. 35. Ebd., Band 3.2, Relation „Der unglückseelige König von Mexico“, Nr. 96, S. 763. Ebd., Band 2.2, Relation „Der grosse Globus“, Nr. 24, S. 196. „Ich schreite nunmehro zu andern Dingen / und sol den curieusen Leser [...] andernweitig divertiren“. Ebd., Band 3.2, Relation „Die Kostbahrkeiten der Schiffe“, Nr. 85, S. 676. Ebd., Band 1.2, Relation „Die unschätzbare Nuß Tavarcare, und deren Abriß“, Nr. 24, S. 185. Ebd., Band 4.1, Einleitung, Bl. 1r. Daston / Park: Wunder, S. 257. Etwa: Waller, Richard: Some Observations Made on the Spawn of Frogs [...], in: Philosophical Transactions (1683-1775), Vol. 16, (1686-1692), S. 523-524.
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den Philosophical Transactions. Die Konnotation einer ,sorgfältigen’ Neugier schwingt in den Relationes noch an diversen Stellen mit. Geradezu didaktisierend wendet sich Happel etwa in der Relation „Das Vernunfft-mässige Urtheil über diese Tantz-Cur“97 an seine Leser und macht die Verknüpfung von Neugier und Verwunderung zur Voraussetzung eines umfassenden Verstehens: „Es ist einem curieusen Gemüthe nicht genug / von solchen Dingen etwas zu hören; ein wissens-begieriger verwundert sich also bald darüber / und gibt seyn Verlangen dadurch zu erkennen / einen gründlichen Bericht davon zu erhalten“.98 Ganz ähnlich heißt es im Artikel „Die Ursache solcher brennenden Brunnen“:99 „Ein curieuses Gemüth hat hierbey Gelegenheit / sich zu üben / und dieser Sache weiter nachzuforschen“.100 Für die Inkonsistenzen in Happels Schreiben einerseits und die semantische Flexibilität der „Curiosität“ andererseits ist jedoch bezeichnend, dass sich die Verknüpfung von Neugier und Gründlichkeit mit Blick auf den Modus der Wissensrepräsentation (siehe Kapitel 4.3.1.) punktuell willkürlich ins Gegenteil verkehrt. Denn an vielen Stellen der Relationes argumentiert Happel gegen jede „Umbständlichkeit“101 und setzt so auf eine Verbindung von „Curiosität“ und kleinteiliger ,Kürze’ des Wissens. Die gefühlte Einreihung in gelehrte Formen der Neugier schürt Happel auch dadurch, dass er eine positiv besetzte curiositas zum Charaktermerkmal berühmter Sammler und Wissenschaftler seiner Zeit stilisiert; neben ihren Werken stehen sie selbst immer wieder im Mittelpunkt der Relationes. Nachzueifern wäre zum Beispiel dem neapolitanischen Apotheker und Kunstkammer-Besitzer Ferrante Imperato102 (1550-1631). Denn „[u]nter PrivatPersohnen aber zu Neapolis hat es keiner an Curieusität und glücklichen Fleiß / allerhand schöne Natural-Raritäten in eine Behauptung zu bringen / dem Ferrandes Imperatus zuvor oder nach gethan“.103 Dass die Neugier hier in die Nähe des „Fleißes“ gerückt wird, verdeutlicht noch einmal ihren semantischen Wandel: In der binären Opposition (Neil Kenny) aus „Fleiß“ und „Müßiggang“ nimmt die „Curieusität“ tendenziell die Bedeutung des überlegenen Begriffs an. Wie Kenny gezeigt hat, lässt sich vor dem 17. Jahrhundert in einer Reihe von lexikalischen Standardoppositionen noch das 97 98 99 100 101
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Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 5, S. 33. Ebd. Ebd., Band 1.2, Nr. 51, S. 405. Ebd. Etwa: „Ich würde diese Wunder-Stadt umbständlich alhier beschreiben / wann ich nicht wüste / daß solches von andern zur Gnüge geschehen / darum wil ich nur generaliter etwas davon reden“. Ebd., Band 3.2, Relation „Die Stadt Venedig selber“, Nr. 91, S. 721. Siehe auch Kapitel 6.1. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 17, S. 136.
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Gegenteil feststellen: In Wortpaaren wie ,einfach’ / ,komplex’, ,gelehrt’ / ,ungelehrt’, ,nützlich’ / ,nutzlos’ etc. hatte die Neugier nahezu ausschließlich die Bedeutung des unterlegenen Begriffs angenommen.104 Nicht zuletzt lag in der Betonung der Neugier auch die Konnotation der Teilhabe an sozial distinguierter, urbaner Kultur: Während im England der Zeit „curiosity“ zur charakterlichen Grundausstattung eines jeden gentleman aufstieg,105 berichtet Happel von den „curieusen“ Wintervergnügen der englischen Upperclas in Hamburg: „Curieuse, Reiche und fürnehme Leute / absonderlich die / in Hamburg wohnende Englische Herren bedienen sich vielfältig der Russischen Schlitten [...]“.106 Schließlich zeigen auch die Relationes, dass die Erfolgsgeschichte der Neugier im 17. Jahrhundert nicht frei war von Brüchen: Angesichts der euphorischen Einschätzung der „Curiosität“ durch Happel mag es zunächst überraschen, dass er an wenigen Stellen auch deren klassisch-negative Besetzung wieder aufnimmt. Das unproblematische Miteinander verschiedener bis konträrer Denkmuster ist jedoch nur typisch für Happels Textproduktion. An hervorgehobener Stelle zitiert er etwa schon in der Vorrede des ersten Jahresbandes von 1683 den klassisch patristischen Einwand gegen jene verbotenen Formen der Neugier, die nicht auf Gott gerichtet sind. Zugleich deutet sich hier das Erbaulichkeitsprogramm des Sammlers an (siehe Kapitel 6.3.3.): „Was Gott verborgen haben will/ da sollen wir nicht nachgrübeln/ und was er vor unsere Augen gestellet/ daß sollen wir nicht übersehen/ damit wir nicht in jedem verbothener Weise neugierig/ und in diesem verdamblich und undanckbar erfunden wurden“.107 In den Artikeln selbst kommt Happel etwa um 1689 auf die „Tyrannische[n] Curiosität“108 zu sprechen. Hier hat der Diskurs über die Neugier eine regulative Funktion – es werden die Grenzen aufgezeigt, die Happel andernorts wieder willkürlich unterläuft. Ohne die Angabe einer Quelle berichtet er von einem italienischen Chirurg und den Auswüchsen seines Wissensdrangs: „Zu Padua, einer wohlbekandten Venetianischen Stadt in Lombardia / kam einmahls einem wohlberühmten Chirurgum [...] eine grosse Begierde an / einen lebendigen Menschen auffzuschneiden / und die eigentliche Bewegung des menschlichen Herzens zu erkundigen“.109 Zugleich lassen sich hier Charakteristika der Quellenverarbeitung erkennen: Angesichts ihrer Popularität nicht weiter 104 105 106 107 108 109
Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 116. Whitaker: The Culture of Curiosity, S. 75. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die ergätzliche Winter-Lust“, Nr. 72, S. 569. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r. Ebd., Band 5.2, Nr. 21, S. 223. Ebd.
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überraschend, kopiert Happel den sensationellen Vorfall aus Matthäus Merians (1593-1650) monumentaler Jahrhundertchronik Theatrum Europaeum110 aus dem Jahre 1672. Text und Prätext gleichen sich weitgehend, inhaltliche Akzentverschiebungen sind nicht festzustellen.111 In tabuisierten Formen des Wissens verbindet Happels Wochenblatt mit der Neugier das alte Spektrum ablehnender Assoziationen; neben der radikalen „Curiosität“ des Chirurgen betrifft das etwa die Einschätzung schädlicher Zauberpraktiken und schwarzer Magie: So habe ein „GottesVerleugner“ „[...] aus scheltbarer Curiosität / die Magiam oder schwartze Kunst“112 studiert. Dass in den Relationes solcherart immer wieder die Reste des negativen curiositas-Diskurses auftauchen und in Happels generellem Beifall für die Neugier irritieren, war letztlich typisch für die ambivalente Debatte der Zeit. Mit den Worten Neil Kennys: „Even where a clear and consistent ,concept’ of ,curiosity’ seems to have been outlined in an early modern sentence or a longer text, one can always find inconsistencies, polysemy, and a porosity which undermines the firmness of the borders around the ,concept’“.113
3.4. Neugier und neues Wissen? Die Relationes Curiosae als Komplement zur Tagespresse „Indessen wirstu nicht von mir fordern / daß ich lauter neue Sachen einführe [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1690
Die logische Konsequenz des regen Mediendiskurses über die Neugier war, dass sich auch der Status dessen, worauf sich die Neugier richtete, ,das’ Neue oder ,die’ Neuigkeit, wesentlich änderte: Während noch im 16. Jahrhundert „[...] das Neue [...], wenn es als solches daherkam, kaum Akzeptanz
110 111
112 113
Merian, Matthäus: Theatrum Europaeum, Oder Außführliche / und Wahrhaftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten [...], Frankfurt 1633ff. Die Marginalie im Theatrum lautet „Chirurgus zu Padua wil bey einem lebendigem Menschen das Hertz sehen“. Der Beginn des dazugehörigen Abschnitts: „X. Unterdessen ward im Majo auch zu Padua in Italien eine sonderliche und die mitleidige menschliche / zugeschweigen Christliche Barmhertzigkeit überschreitende That / ja rechter / grausamer Vorwitz offenbar / bey einem sonst wolerfahrnen / und in seiner Kunst über die massen geübten Chirurgo, oder Wundarzt [...]“. Ebd., Band 9, Frankfurt 1672, S. 531. Cardinal, Roger / Elsner, John (Hrsg.): The Cultures of Collecting, Cambridge 1994. Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 17.
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finden“114 konnte, hatten sich die Vorzeichen im späten 17. Jahrhundert wenn nicht ins Gegenteil verkehrt, so aber doch signifikant gewandelt: Zwar geißelten einerseits, wie gesehen, konservative Theoretiker der neuen periodischen Medien die Sucht nach Neuigkeiten um ihrer selbst Willen; andererseits gehörte jedoch die Überzeugung, in einer grundlegend ,neuen’ Zeit zu leben, zur optimistischen Selbsteinschätzung des „curieusen Seculums“ (siehe Kapitel 7.3.). Hier geht es zunächst darum, im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über ,das Neue’ die Charakteristik der Relationes von der Zeitung abzugrenzen: Wie die periodischen Zeitungen des 17. Jahrhunderts zeichnete sich Happels Periodikum durch das Kernmerkmal der Periodizität aus; wie erwähnt, bedeutet das für die Relationes aber nicht, dass sie auch dem Primat der Aktualität folgen. Laut Astrid Blome „[...] ist es die verlässliche und bereits im 17. Jahrhundert bis zur täglichen Erscheinungsweise gesteigerte Periodizität der Zeitung, die nicht nur das damit langsamere Buch überbietet, sondern auch bereits existierende, auf Aktualität und Periodizität zielende, handschriftliche wie gedruckte Medien in den Schatten eines auf die Publikation von Neuigkeiten spezialisierten Formats stellt“.115
Während Periodizität und Aktualität, verstanden als die immer größer werdende Zeitnähe des in regelmäßigen Abständen Berichteten,116 in der Zeitung untrennbar verbunden waren und die revolutionäre Medienqualität in zeitlich-räumlicher Hinsicht erst konstituierten, resultiert bei Happel alle Rede über die Neugier nicht automatisch auch in der Darbietung von prinzipiell Neuem. Das Wissen der Relationes ist nicht zwangsläufig neu in der Form, dass es erst jüngsten Datums ist oder sich auf gerade erst Geschehenes bezieht – dies kann es auch nicht, weil sich Happel nicht auf Zeitungsquellen stützt, sondern weitgehend auf den Buchbestand der genannten Hamburger Bibliotheken. Die Schnell- und Kurzlebigkeit der periodischen Publizistik fangen die Relationes dadurch auf, dass die zeitübliche Nähe zum traditionel114
115
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Burkhardt, Johannes: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617, Stuttgart 2002, S. 16. Eine Ausnahme in der negativen Einschätzung ,des’ Neuen war die Einschätzung der Innovation durch den Buchdruck selbst, also die Beurteilung des Mediums und nicht die seiner Inhalte: „Wenn von der ,wunderbaren und früher nicht bekannten Kunst des Bücherdrückens’ die Rede war, wurde das Neue zum Guten“. Ebd., S. 17. Blome, Astrid: Die Neuheit der Neuheit: Der Zeitungsdiskurs im späten 17. Jahrhundert, in: Kümmel, Albert (Hrsg.): Einführung in die Geschichte der Medien, Paderborn 2004, S. 35-65, hier S. 36. Siehe dazu etwa den Eintrag in der Deutschen Synonymik von 1852: „Neubegierde ist die Begierde, das Neue zu wissen, insonderheit die Begebenheiten, die eben erst geschehen sind“. Eberhard, Johann August: Deutsche Synonymik, Leipzig 1852, S. 160.
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len Buchformat durch die ‚Jahresbände’ von vornherein als Teil des doppelten Publikationskonzeptes gedacht war; dadurch ging auch die höhere Langlebigkeit des Buches – als autoritäres, gesichertes Wissen – auf die Relationes über. Über die Gründe des weitgehenden Verzichts auf Neuigkeiten im zeitlichen Sinn und den damit potentiell einhergehenden Attraktivitätsverlust für die Käufer erklärt sich Happel an keiner Stelle. Ebenso wenig wird ausdrücklich gemacht, dass sich die Relationes als ausschließliche Wissens- und nicht als Nachrichtensammlung verstehen. Ein Grundton des Periodikums weist zunächst auch in die andere Richtung: Happel bricht mit seiner Zeit das ältere statische Weltbild dadurch auf, als für ihn feststeht, dass die fortschreitenden Wissenschaften und Künste (siehe Kapitel 4.1.) permanent neues Wissen produzieren. Die Beschleunigung der Wissensverbreitung entspricht also der Beschleunigung des Wissensprozesses selbst; ,Nil novi sub sole’ – dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, der Wahlspruch anderer zeitgenössischer Autoren,117 verkehrt sich im ironischen Kommentar des ,Journalisten’: „Die Welt [...] bringt allezeit etwas Neues [...]; Wer hernach in der festen Einbildung verharret / dass unter der Sonnen nichts Neues sey / der soll zur Straffe keinen neuen Wein / noch frische Eyer essen“.118 Dass Happel die Relationes trotzdem nicht zum Teil der tagesaktuellen Presse machen will, wird bereits im folgenden Satz deutlich: So sieht er in einer subtilen Unterscheidung die Leistung seines Blattes darin, immerhin bis dato unbekannte Themen bekannt gemacht zu haben: „Bißhero habe ich / meines Erachtens / viel / wo nicht neue / doch wenigstens unbekante Materien eingeführet“.119 Der durch die Zeitungen abgedeckten Tagesaktualität setzt Happel mit den Relationes also eine Art „Epochenaktualität“ (Wolfgang E.J. Weber) zeitgenössischen Wissens entgegen. Nicht das konkrete Alter eines Themas zählt, sondern die Frage, ob es als „Curiosität“ – als etwas Ausgefallenes und Wissenswertes – bereits einem breiteren Publikum geläufig ist. Auch alte Dinge können damit neu ins Gespräch gebracht werden. Auf den Jahrestitelblättern des Periodikums zeigt sich der periphere Status des Neuen ebenfalls: Happel wirbt mit den Etiketten Denk- und Merkwürdigkeiten, Wundern und Seltsamkeiten, auf keinem der nachgelieferten Titelseiten ist jedoch von qualitativ ,neuen’ Dingen die Rede. Dass mit den Relationes vielmehr auch antikes Wissen aktualisiert wird, zeigt ein Blick in Happels Quellenkorpus (siehe Kapitel 4.4.). Zwar versammeln die Relationes auch zahllose Auszüge 117 118 119
Güntner, Joachim / Janzin, Marion: Das Buch vom Buch. 5000 Jahre Buchgeschichte, Hannover 1995, S. 237. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.1, Vorrede, Bl. 2v. Ebd.
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aus den „[...] neuesten und glaubwürdigsten Authoribus [...]“,120 eine ausschließliche Wertschätzung des Neuen ist aber nicht gegeben. Allerdings ist auch daran zu erinnern, dass selbst das als relativ ,neu’ eingestuft werden konnte, was bereits viele Jahre zurück lag. Hier spielt die Erfahrung eines noch langsamen zeitlichen Wandels ihre Rolle. Als in den Relationes etwa um 1686 von „neulicher Zeit“121 die Rede ist, ist das Jahr 1668 gemeint. Wenn Happel dennoch gelegentlich Artikel mit zeitnahen Bezügen bringt, ändert sich automatisch auch die Quellengrundlage: Anstelle von bibliographischen Angaben findet sich dann der Rekurs auf das persönliche Hörensagen und teilweise auch auf rezente Zeitungen, die Happel aber an keiner Stelle explizit nennt. In einem Themenkreis über den Heringsfang bemerkt er um 1684 beispielsweise: „Es muß aber dem curieusen Leser insonderheit vorgestellet werden / dasjenige / was ich mir neulich selber deßfalls umbständlich berichten lassen [...]“.122 Im gleichen Jahr heißt es im Zusammenhang eines Berichts über „Das erschröckliche Meer-Wunder“:123 „Wie noch neulich aus Venedig gemeldet worden / so haben die Fischer daselbst vor weniger Zeit einen sonderbahren Wunder-Fisch gefangen [...]“.124 Wenige Jahre später, um 1686, berichtet Happel über einen ähnlichen ,Abtritt’ der Natur von ihrem normalen Lauf (siehe Kapitel 7.2.) – in Frankreich soll eine Kuh zwei Jungen geboren haben. Auch hier bleibt die Quelle ungenannt; über das Alter der Meldung hält er jedoch deutlicher als zuvor fest: „Was hat man im nechstverwichenen Jahr 1685 aus Lion geschrieben?“.125 Einen höheren Grad der Aktualität erreichen die Relationes an keiner Stelle. Letztlich bleibt dieser Befund erstaunlich, da Happel, wie gezeigt, (siehe Kapitel 2.4.) in anderen Werken intensiv aus der Verfügbarkeit von Zeitungsnachrichten schöpft.
3.5. Neugierige Kultur / Sammeln als Wissen: Von „Curiositäten“ Wie Happel treffend andeutete, bezog sich die medial befriedigte Neugier nicht nur auf gegenwartsnahe Dinge. Während die über das Postsystem gewonnenen Zeitungsnachrichten allmählich das moderne Aktualitätsparadig120 121 122 123 124 125
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Königliche Chur in Franckreich und Engellandt“, Nr. 3, S. 17. Ebd., Band 3.2, Relation „Die erschreckliche Erd- und Sand-Fluth“, Nr. 85, S. 679. Ebd., Band 2.2, Relation „Die grosse Anzahl Menschen / so sich von diesem Fang ernähren“, Nr. 8, S. 61. Ebd., Relation „Das erschröckliche Meer-Wunder“, Nr. 3, S. 19f. Ebd., Band 3.2, Nr. 3, S. 20. Ebd., Relation „Das mit einem Hund gezeugete Kind“, Nr. 50, S. 399.
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ma etablierten, verschmolzen in den Relationes die noch langfristig gesicherten Buchwelten der Frühen Neuzeit mit dem flüchtigen Takt der periodischen Presse. Nimmt man neben dieser Differenz noch einmal den Gegensatz von Happels Rhetorik der Neugier und ihrer weitgehenden Ablehnung in der Pressedebatte hinzu, lässt sich noch ein weiterer struktureller Unterschied zum Zeitungsmedium benennen: Durch ihre Teilhabe an der ,Kultur der Neugier’ stehen die Relationes Curiosae einer weiteren Signatur des 17. Jahrhunderts nahe – dem begeistert betriebenen Sammeln von Wissen in den Cultures of Collecting.126 Zwar wurden auch die Zeitungsnachrichten in Jahresbänden gesammelt und boten in dieser beständigen Form den Quellenfundus für weitere publizistische Projekte und Periodika. Den Impetus des Sammelns als Muster der Aneignung und Bewahrung von Wissen reflektieren die Relationes jedoch weit deutlicher als die Zeitungen. Dabei trifft die Ansammlung eines breiten Wissensspektrums (siehe Kapitel 2.4.) für Happels gesamtes Œuvre zu. Der vorliegende Abschnitt möchte in knappen Bemerkungen die Zugehörigkeit der Relationes zu einer vom Sammeln geprägten Weltsicht unterstreichen. Erstens ist dadurch noch einmal die eingangs formulierte Typologie der barocken Wissenssammlung in ihrer Verbindung zur Neugier zu akzentuieren. Da die Relationes nicht nur der Pressegeschichte, sondern auch der Sammlungsgeschichte angehören, ist ihre Spezifik als neues Medium nur im Kontext der jeweils dominanten kulturellen Praktiken angemessen zu verorten. Zweitens ist mit dem Phänomen der Sammlung der heuristische Rahmen vorgegeben, in dem sich auch die Schwerpunkte der anschließenden Kapitel bewegen: Das Problem der Quantität und (Neu-)Ordnung des Wissens in der Frühen Neuzeit, auf das der Enzyklopädismus ebenso reagiert wie der Polyhistorismus (Kapitel 4.1.) und die Kunst- und Wunderkammer als populäre Sammlungsform (Kapitel V). Historische Formen des Sammelns, der Katalogisierung und ewigen Listenbildung127 erfreuen sich in verschiedenen Richtungen der jüngeren Forschung besonderer Beliebtheit – gleichermaßen in Wissenssoziologie, Wissensgeschichte, Kulturgeschichte und Philosophie.128 Für den hier interessie126 127 128
Cardinal / Elsner (Hrsg.): The Cultures of Collecting. Zu diesem Phänomen jüngst: Eco, Umberto: Die unendliche Liste, München 2009. Exemplarisch: Büttner, Frank / Friedrich, Markus / Zedelmaier, Helmut (Hrsg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit (= Pluralisierung & Autorität, Band 2), Münster 2003; te Heesen, Anke / Spary, E.C. (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001; Sommer, Manfred: Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt 2002; Stagl, Justin: Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns, in: Assmann, Aleida / Gomille, Monika / Rippl, Gabriele (Hrsg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen 1998, S. 37-54; Pearce, Susan: On Collecting. An Investigation into Collecting in the European Tradition, London 1995.
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renden Zusammenhang genügt zunächst ein Ausschnitt aus der Debatte um Sammlungsfunktionen und -typologien, dessen Akzente vor allem Neil Kenny und Barbara Benedict zu verdanken sind: So führte die Aufwertung der Neugier dazu, dass im 17. Jahrhundert an die Seite der „Curiosität“ erstmals auch die begehrten Objekte des Wissens als „Curiositäten“ traten. Während sich Hans Blumenberg noch nahezu ausschließlich auf die Neugier als „mentale Disposition“129 konzentriert hatte, untersuchte Kenny auch die Objekte der Neugier – das Gespräch über „Curiositäten“, das Ausstellen von „Curiositäten“ und die breite Begeisterung für „Curiositäten“ im 17. Jahrhundert: „[...] at the same time as curiosity was spreading to good knowledge and behaviour, it was also spreading to objects. It was especially from the early seventeenth century, that people startet talking and writing of ,curiosities’ and ,curious’ objects much more than before. [...] ,Curiosity’ often came to encompass not only people’s desire to know or to possess something but also what they desired to know or to possess“.130
Was für die „Curiosität“ als kultivierte Geisteshaltung galt, lässt sich auch auf das Sammeln von „Curiositäten“ übertragen: Wer sammelte und dies ostentativ zur Schau stellte, gehörte tendenziell zur sozialen (und geistigen) Elite, die im 17. Jahrhundert eine Sammelmanie für extravagante Objekte jeglicher Provenienz pflegte. Angehäuft wurden sie in den privilegierten Räumen der Neugier, den Kunstkammern – aber nicht ausschließlich. An dieser Stelle ist bereits einer Grundannahme im Vergleich von Kunstkammer und Happels Wissenssammlung (siehe Kapitel V) vorzugreifen: Wenn Sammlungen eine prominente Position im kulturellen Leben des 17. Jahrhunderts markierten,131 dann taten sie das im weiteren Sinne nicht nur in materieller Form. Das Sammeln war auch die konstitutive Aneignungs- und Produktionsform der vielen Textumwelten und Wissensformen, in deren Kontext die Relationes entstanden (siehe folgendes Kapitel). Wie Neil Kenny betont hat, war das Sammeln von „Curiositäten“ nicht nur ein materieller, sondern auch ein textuell-metaphorischer Prozess,132 der in seiner Reichweite noch nicht annähernd vermessen ist. 129 130
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te Heesen, Anke / Spary E.C.: Sammeln als Wissen, in: Dies. (Hrsg.): Sammeln als Wissen, S. 7-22, hier S. 13. Kenny: The Uses of Curiosity, S. 5; ähnlich: „Another kind of semantic reversibility also characterized ,curiosity’: its strange capacity, after centuries of mainly denoting desiring subjects, to start denoting desired objects too in the seventeenth century, and not just sporadically, but on a grand scale“. Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 15. Minges: Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit, S. 9. Kenny, Neil: The Metaphorical Collecting of Curiosities in Early Modern France and Germany, in: Evans / Marr (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 43-62.
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Die semantische Doppelstruktur der „Curiosität“ – als Neugier und zugleich ihr Objekt – ist schon implizit im Titel der Relationes Curiosae angelegt: Happels Relationen sollen die Neugier ansprechen und simultan jene Dinge versammeln, die die Neugier adäquat befriedigen. Im Titel des Jahresbandes von 1687 benennt Happel die Sammlung von „Curiositäten“ dann ausdrücklich: Worinnen fürgestellet / und auß dem Grund der gesunden Vernunfft examiniret werden / allerhand Antiquitäten / Curiositäten / Critische / Historische / Physicalische / Mathematische / Künstliche und andere Merckwürdige Seltzamkeiten. Was aber genau sind „Curiositäten“? Bezeichnen sie ein spezifisches Profil, einen bestimmten Typ des Wissens? Die benachbarten Termini im obigen Titel versehen die „Curiosität“ mit konkreten Wissensinhalten, etwa aus Mathematik, Naturgeschichte (Physicalische Seltzamkeiten) oder Geschichte. Von konkreten Inhalten abstrahiert, lässt sich das, was im 17. Jahrhundert als „Curiosität“ eingestuft wurde, auch mit anderen zeitgenössischen Synonymen umschreiben, die ähnlich verbreitet waren und zentral auch im Titel der Relationes auftauchen: Die ,größten Denkwürdigkeiten’, ,Seltsamkeiten’, ,Raritäten’ und ,Merkwürdigkeiten’ (der Welt). Als solche sie sind per se positiv besetzt und erzeugen durch ihren – wie auch immer konkret gearteten – einzigartigen und damit tendenziell sensationellen Status beim Leser das Verlangen nach einer besonders erlesenen Sammlung. Alte Vorbehalte gegenüber verbotenen und tabuisierten Formen des Wissens sind dabei weitgehend getilgt. Ein relativ stereotyp benutztes Set an Adjektiven wurde im Umfeld der „Curiositäten“ immer wieder gebraucht. Es adelte die „Curiositäten“ a priori und lieferte damit einen Kauf- und Konsumanreiz: „Curiositäten“ waren ,neu’ (im genannten Sinne von ,unbekannt’), ,ungewöhnlich’ ,schön’, ,herrlich’, ,selten’ und ,rar’, ,erlesen’, ,künstlich’, ,wunderbar’, ,erstaunlich’ – und damit in jedem Fall die adäquaten Gegenstände für eine Form der Neugier, die sich eher emotional denn intellektuell gab und prinzipiell kaum zu sättigen war. Die Bedeutung der „Curiositäten“ in den Relationes verhält sich damit ähnlich flexibel wie die beschriebene „Curiosität“ auf Seiten des Lesers: Einerseits wies sie die Konnotation des Flüchtigen und Oberflächlichen auf, andererseits konnten „Curiositäten“ jedoch ebenso zu ,nachdenklichen’ Studienobjekten für eine als sorgfältig besetzte Neugier werden. Als Happel etwa um 1682 einen Exkurs über die berühmtesten europäischen Bergwerke entwickelt, rechtfertigt er die Ausführlichkeit der Darstellung wie folgt: „Weil nun diese Sache nachdenklich / so ist es billich / daß dem curieusen Leser diese Sache gründlich zu Gemüth geführet wird“.133 Das oben erwähnte Set der Adjektive ,semantisierte’ nicht nur die extravaganten Objekte 133
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die befreyeten Bergstädte / Bergflecken / oder Bergwercke / so in dem löblichen Königreich Böheim hin und wieder gebauet worden / aber doch alle findig gewesen / und ihre Prob gethan“, Nr. 94, S. 752.
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der Kunstkammern, sondern auch die Gegenstände der zeitgenössischen Wissenschaft134 und – so ist so ergänzen – ebenso eine Vielzahl textueller Sammlungen wie die von Happel. Zur Charakterisierung des Sammlungsprozesses übernimmt er die gängige Metapher der Blütenlese aus der Florilegien-Literatur (siehe Kapitel 4.3.): „[...] allermassen wir uns wol zu erinnern wissen / daß wir noch ein überauß grosses Feld und herrliche Matte vor uns haben / die aller-schönste Blumen von den raresten Materien darauß zu samblen“.135 Neben der auch ästhetischen Dimension der „Curiositäten“ zeigt sich die Physiognomie der Sammlung im Beispiel der Relationes allgemein in zwei Charakteristiken, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen: zum einen in der Teilhabe Happels an der polyhistorisch-enzyklopädischen Kultur und zum anderen in der Frage der Disposition des Gesammelten, die das 17. Jahrhundert intensiv bewegte und auf zwei Wegen entschieden wurde – durch gelehrte Ordnung des Wissens oder durch ,halb-gelehrte’ populäre Unordnung des Wissens.
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Daston, Lorraine: Neugierde als Empfindung und Epistemologie in der frühmodernen Wissenschaft, in: Grote, Andreas (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns. 1450-1800, Opladen 1994, S. 35-59, hier S. 44. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Beschluß, Bl. Eeeeer.
IV. (Un-)Ordnungen des Wissens: Die Relationes Curiosae im enzyklopädischen Zeitalter
„Und weil ich in allen Materien diser Arbeit die Unordnung für die allerangenehmste Ordnung halte [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1686
Happels Impuls der fortwährenden Sammlung von „curiösem“ Wissen reagiert auf einen entscheidenden Grundzug des 17. Jahrhunderts:1 das Problem der schieren Quantität des Wissens, das als „Information Overload“2 angesichts dramatisch wachsender Text- und Büchermassen von immer mehr Zeitgenossen wahrgenommen und beklagt wurde. Hier stand das 17. Jahrhundert gerade als das „Age of the New“3 vor der Herausforderung, die Menge des neu Gedruckten überhaupt noch überblicken und die Masse des Alten zugleich verfügbar halten zu können. Wissensorganisierende Literatur und Nachschlagewerke, die andere Bücher komprimierten und ersetzten, erlebten einen frühen Boom4 und regulierten die Wissenskultur der Zeit5 – die Frage also, was auf welche Weise gewusst wurde. Die vielen Enzyklopädien antworteten auf die aufkommenden Orientierungsbedürfnisse hauptsächlich mit vielfältigen Ordnungsanstrengungen, aber nicht nur. Während historische Wissensordnungen bereits seit einigen Jahren verstärkt erforscht werden,6 ist bislang kaum daran erinnert worden, dass das rigide Ordnungsdenken des Barock7 keineswegs allgegenwärtig war. So behauptete sich ne1 2
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Nicht mehr eingesehen werden konnte: Grunert, Frank / Syndikus, Anette (Hrsg): Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit [im Druck]. Rosenberg, Daniel: Early Modern Information Overload, in: Journal of the History of Ideas, 64.1, 2003, S. 1-9; sowie: Blair, Ann: Reading Strategies for Copying with Information Overload ca. 1550-1700, in: Ebd., S. 11-28; jüngst kritisch: Werle, Dirk: Die Bücherflut in der Frühen Neuzeit – realweltliches Problem oder stereotypes Vorstellungsmuster?, in: Czarnecka, Miroslawa (Hrsg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, A 99), Bern 2010, S. 469-486. Nach: Daston, Lorraine / Park, Katharine: Introduction, in: Cambridge History of Science, Volume 3: Early Modern Science, Cambridge 2006, S. 1-21, hier S. 1. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 197f. Meier, Christel: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, München 2002, S. 1-14, hier S. 2. Siehe etwa jüngst das Resümee von Helmut Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, in: Schützeichel (Hrsg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, S. 835-845. Maurer, Michael: Geschichte und gesellschaftliche Strukturen des 17. Jahrhunderts, in: Meier (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 18-100, hier S. 72.
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ben den streng akademischen Systematiken eine Form ,weitläufiger’ Wissensliteratur, die sammelte, ohne dabei einem Ordnungs- oder Kohärenzpostulat zu folgen. Hier setzt das vorliegende Kapitel an. Die historische Gattungszuordnung der Relationes Curiosae wird aus dem Bündel folgender Aspekte entwickelt: Zunächst ist Happels Periodikum innerhalb seines zugrunde liegenden Wissensideals zu verorten, dem Polyhistorismus (Punkt 4.1.). Ein zweiter Abschnitt fragt danach, ob Happel Gebrauch von den Hilfsmitteln machte, die der gelehrte Diskurs zur Bewältigung der anschwellenden Bücherberge bereitstellte (Punkt 4.2.). Das Hauptgewicht des Kapitels liegt in einem dritten Abschnitt (Punkt 4.3. ff.); er fasst die Relationes innerhalb eines weiteren Enzyklopädiebegriffs und des spezifischen Umfeldes der ,Buntschriftstellerei’, die die Unordnung des Wissens zum Programm erhob. In ihr lassen sich zu Teilen auch die Quellen und konzeptionellen Vorläufer von Happels Periodikum identifizieren (Punkt 4.4.). Erörterungen über die praktische Textorganisation und das damit einhergehende Selbstverständnis des Autors bilden den letzten Abschnitt (Punkt 4.5.).
4.1. Polyhistorismus und enzyklopädisches Wissen Was das Strukturproblem des Wissens im 17. Jahrhundert besonders prekär machte, war der gelehrte Anspruch der Zeit, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu ordnen: Anders als in der disziplinär spezialisierten Wissenschaft der Gegenwart bildete zu Happels Zeit das polyhistorische8 oder polymathische Ideal der ,Vielwisserei’ das Zentrum einer als universal verstandenen Buchgelehrsamkeit. Praktisch umgesetzt werden sollte dieser Anspruch in breit gefächerten Kenntnissen auf möglichst vielen Gebieten. Zeitgenössischen ,Wissenschaftsstars’ wie der von Happel als „hochgelehrt“9 und „hochver8
9
Dazu: Jaumann, Herbert: Was ist ein Polyhistor? Gehversuche auf einem verlassenen Terrain, in: Studia Leibnitiana, 22, 1, 1990, S. 76-89; Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Topica universalis: Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, hier besonders S. 212ff.; Ders.: Artikel Polyhistorie / Polymathie, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 7, Basel 1989, Sp. 1083-1085; Westerhoff, Jan C.: A World of Signs. Baroque Pansemioticism, the Polyhistor and the Early Modern Wunderkammer, in: Journal of the History of Ideas, 62.4, 2001, S. 633-650; Wiedemann, Conrad: Polyhistors Glück und Ende. Von D.G. Morhof zum jungen Lessing, in: Bark, Joachim / Burger, Heinz Otto (Hrsg.): Festschrift für Gottfried Weber, Frankfurt 1969, S. 215-335; Zedelmaier, Helmut: Wundermänner des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu „Polyhistor“ und „Polyhistorie“, in: Maier (Hrsg.): Die Enzyklopädie vom Hochmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, S. 421-450. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der erste Theil der Cabala“, Nr. 38, S. 234.
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ständig“10 bewunderte Jesuit Athanasius Kircher (siehe auch Kapitel 7.2.1.) eilte in ganz Europa der Ruf voraus, tatsächlich noch alles zu wissen.11 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts definierte der Hamburger Philologe Johannes Woverus (1574-1612) den vorherrschenden Wissensbegriff in De Polymathia (1603) wie folgt: „Unter der vollendeten Polymathie verstehe ich die Kenntnis der verschiedenen Sachen, gesammelt aus jeder Art von Studium, sich sehr weit ausbreitend. Sie schweift nämlich in freiem und ungezügelten Lauf durch alle Gefilde der Disziplinen, soweit diese der menschliche Geist mit unermüdlichem Fleiß erreichen kann“.12
Diese Definition ist mit Blick auf Happel erhellend, da sie das Ideal der Wissensfülle hervorhebt, nicht aber einen Systematisierungsanspruch – stattdessen ist vom „ungezügelten Lauf“ der Kenntnisse die Rede, der strukturell auch für die Relationes Curiosae zutrifft (siehe unten). So umfasste das polyhistorisch-enzyklopädische Leitbild der Zeit neben dem gelehrten auch den populären Diskurs. Denn auch Happel legitimiert die immense Stoffmenge seiner Wissenssammlungen zumindest indirekt mit einem universalen Wissensanspruch. Er reflektiert vor allem das Problem, in der überwältigenden Masse des verfügbaren Wissens überhaupt noch eine kontrollierende Ganzheitsperspektive durchsetzen zu können. Im programmatischen Vorwort (siehe auch Kapitel 5.2.) des dritten Jahresbandes heißt es dazu: „Es frage sich aber billich / ob es besser sey / auff eine Sache allein sich zu legen / und diesselbe völlig zu erlernen / oder viele zugleich fürnehmen / umb von allen etwas zu wissen“.13 An der Antwort lässt die Stofffülle der Relationes keinen Zweifel, die von Happel auch über den Bezug auf das zentrale polyhistorische Motiv der organischen Einheit allen Wissens verteidigt wird – so könne etwa kein Astronom ohne Kenntnisse in der Geometrie auskommen.14 Für den Wissensbegriff bedeutet dies die Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt: „Alle Künste hangen aneinander und wer eine recht wol verstehen will / muß die andere zu Hülff nehmen“.15 Zur Veranschauli10 11 12 13 14 15
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die [...] Kunst-Pflanze“, Nr. 4, S. 37. Findlen, Paula (Hrsg.): Athanasius Kircher. The Last Man Who Knew Everything, New York 2004. Zitiert nach: Kühlmann, Wilhelm: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, S. 290. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.1, Vorrede, Bl. 1r. Ebd. Ebd. Diesen Gedanken entlehnte Happel möglicherweise von seinem zeitweiligen Lehrer, dem Kieler Medizinprofessor Johann Daniel Major (1634-1693). Dieser bemerkte 1670 in seinem wissenschaftsutopischen Entwurf See-Fahrt nach der Neuen Welt: „Weil alle Weltliche Wissenschaften dergestalt beschaffen / daß keine ohne Zuthuung der andern /
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chung dieser Prämisse bemüht Happel die alte Wissensmetapher vom Arbor scientiae (Baum des Wissens); auf diesen möchte er allerhand ,Früchte pflanzen’,16 anders als jene, die behaupten, dass „[...] es sey nicht wohl gethan / wann sich ein Mensch auff verschiedene Wissenschafften leget [...]“.17 Die Zuversicht in die Möglichkeit eines vielseitigen Zugangs zum Wissen zeigt sich in den Relationes jedoch nicht ungetrübt. Mochte die Zeit auch noch dem Ideal nacheifern, ,alles’ wissen zu wollen, so ließ es die reale Ausdehnung des Wissens bereits kaum mehr denkbar erscheinen, wenigstens noch ,von allem etwas’ wissen zu können: „Wann man nur eine Sache studiren will / so bedarff man nur einerley Bücher / oder wol nur ein Buch; alle Wissenschaften miteinander genommen / sind so weitläufftig / daß des Menschen Leben viel zu kurtz / viele derselben auf den Grund zu fassen / und mit nutzen zu gebrauchen“.18
Der Kommentar macht Happels Werk zum Teil einer ,enzyklopädischen Schwellenzeit’: Es deutet sich bereits an, dass die Zukunft des Wissens nicht mehr dem Generalistentum gehören würde, sondern dem Spezialistentum, wie es sich in der Wissenschaft seit dem 18. Jahrhundert allmählich durchsetzte. Hier verfiel die Figur des Polyhistors samt seines ,toten’ Buchwissens einerseits dem Spott aufgeklärter Gelehrtensatire (siehe auch Kapitel 8.3.), andererseits versuchte das größte enzyklopädische Projekt 18. Jahrhunderts, Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, noch einmal, das Wissen in seiner entwicklungsgeschichtlichen Totalität verfügbar zu machen – und stützte sich dabei als Quelle nicht selten auf die Relationes Curiosae (siehe Kapitel 8.3.). Ungeachtet des ganzheitlichen Anspruchs warnen auch die Autoren des Universal-Lexicons vor ,oberflächlichem Vielwissen’. Happels in gewisser Weise schon resignative Einsicht bezüglich der Weitläufigkeit des Wissens hat sich um 1741 bereits zum Topos einer stigmatisierten Polyhistorie verfestigt: „Die Polyhistorey ist eine Sache, darauf man sich nicht zu legen. Denn in allen Theilen der Gelehrsamkeit zeigt sich die Wahrheit in solcher Menge [...] daß das
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17 18
gründlich und wol verstanden werden kann“. Major, Johann Daniel: See-Fahrt nach der Neuen Welt / ohne Schiff und Segel, Kiel 1670, S. 139. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.1, Vorrede, Bl. 2r. Zum Baum-Modell im Kontext frühneuzeitlicher Enzyklopädien siehe jetzt auch: Berns, Jörg Jochen: Bildenzyklopädistik 1550-1650, in: Schierbaum, Martin (Hrsg.): Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens (= Pluralisierung & Autorität, Band 18), Münster 2009, S. 41-79. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.1, Vorrede, Bl. 2r. Ebd.
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menschliche Leben viel zu kurtz, als daß jemand in vielen Theilen der Gelehrsamkeit zugleich nur mäßige Gelehrsamkeit erlangen sollte“.19
Als Happel 1690 starb, schrieb ihm ein bio-bibliographisches Kompendium den Titel „Philosophus & Polyhistor“20 zu, was noch keinesfalls als Kritik gemeint war. Ein Jahr darauf bringt die posthum veröffentlichte – und daher wahrscheinlich nicht mehr von Happel verfasste – Vorrede zur fünften und letzten Jahreskumulation der Relationes Curiosae noch einmal ein Grundzug des Wissensideals auf den Punkt: Mochte es für den Einzelnen auch zunehmend utopisch erscheinen, polyhistorisch-umfassende Erkenntnisse zu erlangen, so sei die Abhängigkeit gegenüber den wachsenden Textmassen doch keineswegs als Hilflosigkeit zu werten; im Gegenteil: „Wir haben über die Wahl / die uns die Bücherreichen Wissenschafften fürlegen / nicht zu klagen / und ist eine grosse Glückseeligkeit / daß wir ohne Zauber-Kunst mit viel 100 und 1000 verstorbenen / nach Belieben / reden / sie zu Rathfragen / und von ihnen lernen können“.21 Der Dialog mit der textuellen Tradition warf allerdings auch die Frage auf, welche Methoden und Techniken notwendig sein würden, um die zunehmende Wissensfülle noch adäquat verarbeiten zu können. Der folgende Abschnitt berührt dazu einige Aspekte, um vor diesem Hintergrund nach der ,Praxis’ des Schreibens in den Relationes zu fragen.
4.2. Bücherlust und Bücherfrust: Wissensverarbeitung und Ordnungstechniken Das Bild des Gelehrten im 17. Jahrhundert zeigt diesen umgeben von Bergen an Büchern.22 Nicht alle Stimmen reagierten auf die Schwemme des Gedruckten jedoch so optimistisch wie Happel; eher das Gegenteil war der Fall, sie wurde als Bedrohung empfunden – erste bibliographische Enzyklopädien entstanden schon im 16. Jahrhundert, die als praktisches Instrument Orien19 20 21
22
Zedler: Universal-Lexicon, Band 28, 1741, Sp. 673. Witte, Henning: Diarium Biographicum [...], Tomus Secundus, Danzig 1691, S. 379. Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Vorrede, Bl. 3r; ähnlich schon Georg Philipp Harsdörffer 1664 in seinem Grossen Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte: „Wir stehen gleichsam auff einem hohen Berg / sehen [...] was zuvor geschehen: sind auch schuldig unsren Nachkommen mehr / oder ja so viel in Geist- und Weltlichen Schrifftgütern zu hinterlassen / als wir [...] ererbet haben; und solcher Gestalt soll auch deß nutzlichen Bücherschreibens kein Ende seyn“. Ebd., Teil 1, Hamburg 1664, Vorrede, Bl. 2r. Warnke, Martin: Das Bild des Gelehrten im 17. Jahrhundert, in: Neumeister, Sebastian / Wiedemann, Conrad (Hrsg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Band I, Wiesbaden 1987, S. 1-31.
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tierung in der ausufernden Büchervielfalt stiften wollten. Das berühmteste Beispiel ist die Bibliotheca Universalis23 (1545) des Schweizer Naturforschers Conrad Gessner (1516-1565), dessen zoologisches Standardwerk Historia Animalum (1551-1558) auch Happel noch wiederholt als Fundus dient.24 In der Bibliotheca klagt Gessner über die „[...] verwirrende und schädliche Fülle an Büchern“25 und versucht konsequent, zur Reduktion des Gedruckten beizutragen – ,unnütze’ Schriften nahm er in seine Bibliographie erst gar nicht auf.26 Als die ersten Bögen der Relationes erschienen, war die Bücherklage Gessners schon zum Stereotyp geronnen. So entrüstete sich um 1680 auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), Bibliothekar in Wolfenbüttel, über die „furchterregende Anzahl“27 von Druckwerken. Nicht ohne Grund: In einer charakteristisch universalen Anstrengung wollte Leibniz den gesamten Wissensbestand der Zeit sammeln und in einem methodisch abgesicherten und geordneten System erschließen.28 Für derartige Pläne entwickelte der gelehrte Diskurs neben den Bibliographien wie jener von Gessner auch technische Hilfsmittel wie das Leserad (Abb. 9). Es sollte die Navigation im Wissenskosmos durch synchrone Parallel- und Querlektüren erleichtern. Solche ,Lektüremöbel’ sind ein sinnfälliges Bild für die zunehmend kreativeren Versuche der Zeit, den ,Information Overload’ zu kanalisieren und die Methoden der Wissensverarbeitung effektiver zu gestalten. Zudem verweist das Leserad auf die zentrale Technik des Exzerpierens. Ohne sie wäre das enorme polyhistorische Schreibpensum undenkbar gewesen, ging es doch vor allem darum, Bücher aus Büchern zu produzieren. Die Gefahr war jedoch hoch, sich in der Verwaltung von Textauszügen sprichwörtlich zu ,verzetteln’: Als der Hamburger Gelehrte Joachim Jungius starb, hinterließ er einen Zettelkasten mit rund 150000 losen Exzerpten.29 23 24 25 26
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28 29
Hierzu umfassend: Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Etwa: Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die rechte Gestalt solcher ErdFische“, Nr. 67, S. 367. Nach Blair: Reading Strategies, S. 14. Zedelmaier, Helmut: Wissenssicherung in der Frühen Neuzeit, in: Schmid, Alois (Hrsg.): Justus Lipsius und der europäische Späthumanismus in Oberdeutschland (= Beihefte der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 33), München 2008, S. 179-199, hier S. 186. Ernst, Ulrich: Standardisiertes Wissen über Schrift und Lektüre, Buch und Druck am Beispiel des enzyklopädischen Schrifttums von Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Meier (Hrsg.): Enzyklopädie im Wandel, S. 451-494, hier S. 463. Es gab nur wenige Gegenstimmen wie die des Philosophen Pierre Bayle (1647-1706), der monierte, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als die Feder mehrere Male am Tag ruhen zu lassen. Siehe: Yeo, Richard: Encyclopedic Knowledge, in: Frasca-Spada, Marina / Jardine, Nick (Hrsg.): Books and Sciences in History, Cambridge 2000, S. 207-224, hier S. 212. Schneider, Martin: Das Weltbild des 17. Jahrhunderts, Darmstadt 2004, S. 72. Meinel, Christof: Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens. Aporien der Empirie bei Joachim Junguis, in: Eybl (Hrsg.): Enzyklopädien der frühen Neuzeit, S. 162-187, hier S. 177.
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Zur Beseitigung des ,unkontrollierten’ Ausschreibens der Texttradition entstanden in Hamburg und anderen Orten Instruktion zum gelehrten Lesen, Lehren vom Buchhalten30 und Exzerpieranleitungen.31 Sie wollten den Leseund Auswertungsprozess anleiten und zugleich vor den Gefahren ,regelloser’ Lektüre warnen. Auch die Neugier spielte erneut ihre Rolle: Die ersten Anleitungen entstanden in jesuitischen Kreisen und pochten wiederholt auf eine „Disziplinierung weltlicher Neugierde“.32 Neben der ,richtigen’ Literaturauswahl wurde gefordert, die Lesefrüchte in Exzerptbüchern unter bestimmten Rubriken und Titeln festzuhalten, sie also Ordnungsstrukturen zu unterwerfen;33 explizit gewarnt wurde vor einer losen ,Zettelwirtschaft’ wie sie Jungius betrieben hatte.34 Den Exzerptbüchern kam vor allem die mnemotechnische Funktion zu, das gesammelte Wissen abrufbar zu halten – um „[...] der Gedächtnis Hinfälligkeit“35 entgegenzuwirken, wie es Justus Christopherus Udenius (1631-1686) 1681 in der Excerpendi Ratio Nova notierte, der populärsten deutschen Exzerpieranleitung. Auch hier wird vor allem die Systematisierung des Materials angemahnt: „[das] aller vornehmste und nothwendigste […] ist, wenn […] Studiosi ihre Excerpta und notas in gewisse Classes bringen. Denn solche Ordnunge muß wol in acht genommen werden, um alles richtig und geschwinde wieder zu finden“.36 Andernorts wurden jedoch auch ungeordnete Exzerptformen favorisiert, etwa in der Historia literaria, der Geschichte der Gelehrsamkeit. Als akademische Disziplin formierte sie sich im 17. Jahrhundert und reagierte ebenfalls auf die Wissensexplosion der Zeit: Ihr Anspruch war, die Geschichte der Gelehrsamkeit von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zu beschreiben und zugleich zur Neuordnung und Neubewertung des Wissens beizutragen.37 Einer der einflussreichsten Texte der Gattung lieferte der Kieler Pro30 31
32 33 34 35
36 37
Placcius, Vincent: De Arte Excerpendi Vom Gelahrten Buchhalten Liber singularis: Quo Genera & praecepta excerpendi [...], Hamburg 1689. Zedelmaier, Helmut: Lesetechniken. Die Praktiken der Lektüre in der Neuzeit, in: Ders. / Mulsow, Martin (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit, Band 64), Tübingen 2001, S. 11-30; Ders.: Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit, in: Neuhaus, Helmut (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit als Epoche (= Historische Zeitschrift, Beiheft 49), München 2009, S. 77-89. Ebd., S. 81. Ders.: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, S. 840f. Umfassend: Meinel: Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens. Udenius, Justus Christophorus: Excerpendi ratio nova. Das ist eine neue und sonderbahre Anweisung wie die studierende Jugend in jeden Wissenschaften [...] ihre Locos communes füglich einrichten, leichtlich verfertigen und nützlich gebrauchen [...], Nordhausen 1681. Ebd. Dazu jetzt grundlegend: Grunert / Vollhardt (Hrsg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert.
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fessor Daniel Georg Morhof38 (1639-1691) mit seinem Polyhistor.39 Morhof schlug das Anlegen von „Adversaria“ vor, Exzerpthefte, in die weniger geordnet denn assoziativ all das eingetragen werden sollte, was einem im Gang der Lektüre ,zufiel’. So sei es, wie er pointiert formuliert, „[...] sehr nützlich, Exzerpte nicht nur unter Loci [Loci communes, Gemeinplätze, F.S.] zu ordnen, sondern auch Adversaria anzulegen, in denen wir das sammeln, was uns bei der Lektüre eines Autors oder beim täglichen Nachdenken eingefallen ist, auch was wir gesehen haben oder uns von andern erzählt worden ist“.40
Es ist wahrscheinlich, dass Happel mit den Grundsätzen dieser gelehrten Exzerpier- und Lesekunst vertraut war, obwohl keines der obigen Handbücher im bibliographischen Apparat der Relationes auftaucht. Auch äußert sich Happel an keiner Stelle dazu, wie er sein gesammeltes Wissen speichert und verwaltet. Andere, zeitgleich schreibende Polyhistoren wurden hier deutlicher. So legitimiert Johannes Praetorius die Publikation des zweiten Teils seiner Neuen Welt-Beschreibung (1677) damit, dass der erste Band seine „[...] Loci Communes und BelesenheitsRegister [...]“41 noch nicht erschöpft habe. Von Georg Philipp Harsdörffer ist sogar die Benutzung eines alphabetisch geordneten Zettelkastens überliefert.42 Dass solche ,Aufschreibesysteme’ und in Exzerptheften abgelegte loci communes auch bei Happel ihre methodische Rolle spielten, ist naheliegend, schon weil es den Standards der Zeit entsprach – belegen lässt es sich jedoch nicht. Während Gelehrtennachlässe relativ deutlichen Aufschluss über die Techniken der Wissensverarbeitung geben,43 liegt die Praxis der volkssprachigen Polyhistoren weitgehend im Dunkeln. „Adversaria“-ähnliche Hefte dürfte Happel genutzt haben, auch wenn sich in den Relationes Curiosae nichts von deren etwaiger Systematisierung spiegelt. Der folgende Punkt zeigt, dass Happels Periodikum auch ohne Ordnungsbezüge zum Feld der frühneuzeitlichen Enzyklopädien gehört. Ein enges, an der heutigen Sichtweise geschultes Verständnis des Begriffs ,Enzyklopädie’ wird der historischen Formenvielfalt der Gattung dabei nicht gerecht. 38
39 40 41 42 43
Anders als im Fall von Johann Daniel Major, der zur gleichen Zeit an die Universität von Kiel berufen wurde wie Morhof, findet sich in den Relationes kein Hinweis darauf, dass Happel in Kiel auch bei Morhof gehört hat. Morhof, Daniel Georg: Polyhistor Sive De Notitia Auctorum [...], Lübeck 1688. Zitiert nach: Zedelmaier: Gelehrtes Wissensmanagement in der Frühen Neuzeit, S. 85. Zitiert nach: Köhler-Zülch, Ines: Artikel Praetorius, Johannes, in: Brednich (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens, Band 10, Sp. 1230-1239, hier S. 1234. Meinel: Enzyklopädie der Welt, S. 170. Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, S. 840.
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4.3. Die Relationes Curiosae im weiteren enzyklopädischen Umfeld Wie angedeutet, reagierte auf die zunehmend lauter werdenden Bücherklagen seit dem 16. Jahrhundert die Masse an wissensorganisatorischer Literatur.44 Die vielen Spielarten des enzyklopädischen Sektors werden im Folgenden pragmatisch auf die wesentliche Differenz von Ordnung und Ordnungsnegation beschränkt; sie ist entscheidend für die Verortung von Happels Periodikum innerhalb des enzyklopädischen Diskurses. Die Ordnung des frühneuzeitlichen Wissens war traditionell im Kontext des gelehrten Diskurses verwurzelt. In Enzyklopädieentwürfen wie der Encyclopaedia (1630) von Johann Heinrich Alsted (1588-1638) dominierte der Anspruch streng systematischer Wissensdispositionen. Ihren Sinn rühmt Alsted schon mit Blick auf kosmologische Gewissheiten, war doch im Denken der Zeit die Vorstellung einer planvoll geordneten Schöpfung Vorbild aller übrigen Ordnungen – so auch der des Wissens: „Nichts ist schöner, nichts ist fruchtbarer als die Ordnung. Die Ordnung verschafft auf dem riesigen Theater dieser Welt allen Dingen Wert und Rang“.45 Unter den vielen enzyklopädischen Dispositionsmustern46 seien hier nur zwei genannt, die an der Wende zum 18. Jahrhundert zunehmend miteinander konkurrierten. Johann Hübner erläutert sie 1712 im Vorwort zu seinem Curieusen Natur- Kunst- Gewerk- und Handlungs-Lexicon: „Eine jedwede Disciplin kann auf zweyerley Weise vorgetragen werden. Die eine Manier heist Methodus systematica, und die andere wird Methodus alphabetica genennet. [...] Nach der Systematischen Methode hänget die Materie an einander, und die Stücke werden in solcher Ordnung vorgetragen, daß immer eines aus dem anderen fleust. [...] Nach der Alphabetischen Methode hingegen hänget nichts aneinander, sondern die gantze Wissenschafft wird in kleine Stücke zerrissen, und ohne Connexion in einer solchen Reihe vorgetragen, wie es die Ordnung der vier und zwanzig Buchstaben erfordert“.47
Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass sich die vielfältigen Wissensrepräsentationen des 17. Jahrhunderts auch auf erhebliche Ordnungs44
45 46
47
Friedrich, Udo: Von der rhetorischen zur topologischen Ordnung. Der Wandel der Wissensordnungen im Übergang zur Frühen Neuzeit, in: Medienheft Dosier 22. Von den Artes Liberales bis Google, 5.10.2004, S. 9-14, hier S. 10. Zitiert nach: Münch: Das Jahrhundert des Zwiespalts, S. 67. Zedelmaier nennt als ordnungsleitende Prinzipien des Wissens u.a. den Lullismus, die Gedächtniskunst, den Hermetismus, Platonismus. Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, S. 839; weiterführend auch: Michel, Paul: Darbietungsweisen des Materials in Enzyklopädien, in: Tomkowiak, Ingrid (Hrsg.): Populäre Enzyklopädien: Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 35-83. Hübner (Hrsg.): Curieuses Natur- Kunst- Gewerck- und Handlungs-Lexicon, Vorrede, Bl. )( 2.
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schwächen einließen; als die ,andere Seite’ barocker Enzyklopädik wurden sie in der Forschung bislang jedoch kaum beachtet. Über die Akzentuierung dieser weniger systematischen Züge frühneuzeitlicher Wissensliteratur ist hier eine ,Entgrenzung’ des ohnehin problematischen Enzyklopädiebegriffs vorzuschlagen, der bisher fast ausschließlich mit den systematisch oder alphabetisch organisierten Großprojekten der Zeit in Verbindung gebracht wurde. Ein eher „[...] offene[r], konturlose[r] Begriff von Enzyklopädien, der auch Vorformen, Randphänomene, Seitenprodukte et cetera einschließt [...]“48 ist vor einigen Jahren von der Züricher Enzyklopädie-Gruppe um Paul Michel vorgeschlagen worden. Da er der historischen Gattungsvielfalt näher kommt und zudem auch jene Texte einbezieht, die auf eine selbstbewusst vorgetragene Unordnung des Wissen setzten, wird er im Folgenden mit Blick auf die Relationes entwickelt. Eine erweiterte Definition der Enzyklopädie hat zunächst an der Geschichte des Begriffs selbst anzusetzen. Darauf verweisen Helmut Zedelmaier und Ulrich Johannes Schneider: „Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit ist ein weites Feld, versteht man darunter nicht bloß Werke, die mit ,encyclopedia’ überschrieben sind“.49 Bis zum frühen 16. Jahrhundert fehlte der Terminus als Selbstbezeichnung der Gattung vielmehr noch ganz.50 Das genannte Werk Alsteds war 1630 das überhaupt erste, das den Enzyklopädiebegriff expressis verbis im Titel führte. In deutschsprachigen Publikationen ist der Titel sogar erst gegen 1726 / 1727 mit Gottfried Roggs (16691742) Encyclopaedia, oder Schau-Bühne curieuser Vorstellungen von vielerley Art außgebildeter Kupffer-Figuren51 belegt. Kontrovers diskutiert ist zudem bis heute die instabile Semantik des Enzyklopädiebegriffs – ob sich die griechische Wurzel des „gelehrten[n] Kunstwort[s] der Neuzeit“52 auf den ‚Kreis alles Wissbaren’53 bezieht, also auf die Ganzheit des Wissens, oder nur auf ‚nicht48
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50 51
52 53
Herren, Madeleine / Michel, Paul: Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen, in: Herren, Madeleine / Michel, Paul / Rüsch, Martin (Hrsg.): Allgemeinwissen und Gesellschaft: Akten des Internationalen Kongresses über Wissenstransfer und Enzyklopädische Ordnungssysteme, Aachen 2007, S. 9-75, hier S. 9. Schneider, Ulrich Johannes / Zedelmaier, Helmut: Wissensapparate. Die Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit, in: Dülmen, Richard van / Rauschenbach, Sina (Hrsg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln 2004, S. 349-363, hier S. 350. Dierse, Ulrich: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen Gattungsbegriffs, Bonn 1977, S. 4ff. Rogg, Gottfried: Encyclopaedia, oder Schau-Bühne curieuser Vorstellungen von vielerley Art außgebildeter Kupffer-Figuren / Sehr dienlich Zu allerhand Erfindungen [...] 3 Teile, Augsburg 1726 / 1727. Henningsen, Jürgen: ‚Enzyklopädie’. Zur Sprach- und Bedeutungsgeschichte eines pädagogischen Begriffs, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 10, 1966, S. 271-362, hier S. 274. Schneider / Zedelmaier: Enzyklopädistik in der Frühen Neuzeit, S. 349.
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fachmännische Allgemeinbildung’.54 Möglich waren sogar Lesarten, die den Begriff allen mit ‚privater und individueller Bildung’ verbanden.55 Da es daher an einer „verbindlichen Nomenklatur“56 mangelt, ist ‚Enzyklopädie’ als Gattungsbezeichnung nur zweckmäßig, wenn sie inhaltlich und formal möglichst offen gedacht wird. Mit dieser Offenheit konvergiert die frühneuzeitliche Titelvielfalt: Roggs erwähnte Encyclopaedia, oder Schau-Bühne ist hier bemerkenswert, da sie mit der Metapher des Bühnenraums einen der meist verbreiteten Titel von Enzyklopädien im 17. und 18. Jahrhundert aufgreift. Daneben stand eine ganze Bandbreite an Titelvarianten zur Verfügung, die beispielsweise die Vorrede zu Zedlers Universal-Lexicon rekapituliert: „Sie heissen Theatra; Thesauri; Polyanthae; Musae; Armamentaria; Fora; Archiva; [...] Pandectae; Specula; Polymanthiae; [...] und so weiter [...]. Welche also von Schauplätzen; Schaubühnen; Schatzkammern; Rüst- und Bücherkammern; Zeughäusern; Gärten; Märkten; Messen; Archiven; Palästen; Speisekammern; Alles in allem; Spiegeln; Vielaugen; Säälen u.s.w. genommen / und folglich mehr Aufsehen erwecken / als das schlechte Wörtgen Lexicon oder Wörterbuch“.57
Dass sich auch Happel über den plakativen Einsatz von räumlich-visuellen Titelmetaphern in der enzyklopädischen Kultur der Zeit verortete, zeigt seine als Schatzkammer58 beworbene Völkerkunde von 1688. Quantitativ dominierend war jedoch die „Engführung“59 von Wissenstheater und Enzyklopädie in der Titelmode des Theatrums60 und seiner deutschen Äquivalente Schauplatz oder Schaubühne, etwa in Erasmus Franciscis erfolgreicher Erzähl54
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Gierl, Martin: Artikel Enzyklopädie, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 3, Stuttgart 2006, Sp. 433-356; siehe auch: West, William N.: Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe, Cambridge 2002, S. 16. Henningsen: Enzyklopädie, S. 279-81. Seifert, Arno: Der enzyklopädische Gedanke von der Renaissance bis zu Leibniz, in: Heinekamp, Albert (Hrsg.): Leibniz et la Renaissance, Wiesbaden 1983, S. 113-124, hier S. 119. Zedler: Universal-Lexicon, Band 1, 1732, Vorrede, S. 1f. Happel: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten [...] Wohlversehene SchatzKammer. Meier, Christel: Enzyklopädie und Welttheater. Zur Intertheatralität von Universalwissen und weltpräsentierender Performanz, in: Schierbaum (Hrsg.): Enzyklopädistik 1550-1650, S. 3-41, hier S. 3. Grundlegend dazu: Friedrich, Markus: Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel, in: Stammen, Theo / Weber, Wolfgang E.J. (Hrsg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (= Colloquia Augustana, Band 18) Berlin 2004, S. 205-232; sowie ders.: Das Korpus der frühneuzeitlichen Wissenstheater und sein Wissensbegriff, in: Grunert / Syndikus (Hrsg.): Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit [im Druck]; Schock / Bauer / Koller und metaphorik.de (Hrsg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher. Eine umfassende Erschließung des Themas liefert das von der DFG geförderte Forschungsprojekt Welt und Wissen auf der Bühne. Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. www.theatra.de.
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sammlung Lustige Schau-Bühne allerhand Curiositäten.61 Sie ist zugleich eines der Hauptwerke der ,Buntschriftstellerei’ und eine wichtige Quelle der Relationes (siehe Punkt 4.3.1). Beide Texte sind der weiteren Enzyklopädie-Definition zuzuordnen. Der folgende Punkt entwickelt sie auf Grundlage der Unvorgreiflichen Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen aus dem Züricher Enzyklopädie-Projekt sowie der von William N. West62 und Ulrich Johannes Schneider63 angeführten Merkmale enzyklopädischer Werke. Das die Relationes einschließende enzyklopädische Feld der Frühen Neuzeit lässt sich demnach durch folgende Punkte charakterisieren: 1. Werke ‚enzyklopädischen Gedankens’64 spiegeln den tendenziellen ‚Totalitätsanspruch’ zeitgenössischen Wissens.65 Er zeigt sich auf intensive oder extensive Weise – intensiv im Sinne einer ‚Spezialenzyklopädie’, die einzelne Themen erschöpfend vermisst. Als die ersten Bögen der Relationes erschienen, stand beispielsweise die Hausväterliteratur66 auf dem Gipfel ihres Erfolges. 1682 wurde mit der Georgica Curiosa67 eines der wichtigsten Werke der Gattung gedruckt. Enzyklopädisch schon im Umfang, vermaß die Ratgeberliteratur das ‚ganze Haus’ und selbst exotische Themen wie die Seidenraupenzucht, die von Leibniz bis Happel die Zeitgenossen faszinierte.68 Einen extensiven Anspruch vertraten dagegen jene Wissenssummen, die nicht nur den Mikrokosmos des Hauses, sondern prinzipiell ‚alles’ repräsentieren wollten, wie etwa Theodor Zwingers Universalenzyklopädie Theatrum Vitae Humanae (1565). Nimmt man die lateinische und volkssprachige Enzyklopädik zusammen, sind inhaltliche Festlegungen kaum möglich. Die Themenpalette reichte „[...] von aktuellen Nachrichten bis zu altehrwürdigen Weisheiten, umfasst werden beinahe alle Lebensbereiche und Wissenschaften“.69 Die Relationes lassen sich zwischen extensivem und intensivem Enzyklopädie-Typus verorten: extensiv sind sie insofern, als Happel tendenziell alle 61 62 63 64 65 66
67 68 69
Francisci, Erasmus: Die lustige Schau-Bühne allerhand Curiositäten: darauf Viel / sonderbare Erfindungen / merckwürdige Geschichte [...] fürgestellet werden, Nürnberg 1663f. West: Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe, S. 14ff. Schneider: Seine Welt Wissen, S. 23. Seifert: Der enzyklopädische Gedanke, S. 122f. Michel: Darbietungsweisen, S. 71. Zur Hausväterliteratur: Burkhardt, Johannes: Das Haus, der Staat und die Ökonomie. Das Verhältnis von Ökonomie und Politik in der neuzeitlichen Institutionengeschichte, in: Göhler, Gerhard (Hrsg.): Die Rationalität politischer Institutionen: Interdisziplinäre Perspektiven, Baden-Baden 1990, 169-187; Münch, Paul: Artikel Hausväterliteratur, in: Fricke, Harald (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 2, Berlin 2000, S. 14-17. Hohberg, Wolf Helmhardt von: Georgica Curiosa. Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben [...], Nürnberg 1682ff. Zu Happels Thematisierung des Seidenwurms siehe unten S. 137f. Friedrich: Korpus der frühneuzeitlichen Wissenstheater, S. 9f.
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Wissenschaften der Zeit streift; Züge einer ‚intensiven’ Enzyklopädie trägt das Periodikum durch seine selektive Perspektive lediglich der Größten Denkwürdigkeiten der Welt. Enzyklopädien ‚avant la lettre’ – da sie in ‚Jahresbänden’ ebenso in die Buchform übergingen wie die Relationes – bilden in dieser Hinsicht auch die ersten Gelehrtenjournale: Die Miscellanea Curiosa oder die Philosophical Transactions publizierten über alle erdenklichen Wissensgebiete. 2. Happel trug den Wissensfundus seines Periodikums fast ausschließlich aus dem Fundus der Hamburger Bibliotheken zusammen. Die Prinzipien seiner aus hunderten Quellen komponierten Relationes sind damit die der Wissenskompilatorik.70 Kompilation ist nach Martin Gierl „[...] das Arrangement von Textzitaten, Plagiaten, aber auch Inhaltsauszügen und das kommentierte Zusammenstellen von Literaturverweisen [...]“.71 Die primäre Funktion der Enzyklopädie war und ist also weniger die Produktion neuer Kenntnisse als die Sammlung, Verdichtung und Verbreitung bestehenden Wissens. Aus arbeitspragmatischen Gründen wird Happel zu diesem Zweck nicht selten auf eine äußerst erfolgreiche kompilatorische Gattung der Zeit zurückgegriffen haben: Die Florilegien,72 ,Blütenlesen’ oder commonplace books.73 Seit Beginn des 16. Jahrhunderts erschienen diese Anthologien aus den Werken einzelner oder mehrerer antiker Autoren; sie boten meist griechische oder lateinische Sprichwörter, Redewendungen, loci communes und Sentenzen in gesammelter Form und waren ein effektives Instrument zur Textherstellung: Aus einem alphabetisch, systematisch oder topisch rubrizierten74 Fundus an ‚Literaturpartikeln’ konnte der Kompilator mühelos und vor allem schnell Texte aus Texten erzeugen; er konnte eigene Passagen autoritär ausschmücken,75 ohne die bereits ‚vorexzerpierten’ Klassiker selbst noch lesen zu müssen. Mit Hilfe dieses „kulturellen Gepäcks“76 war eine enzyklopädische Belesenheit relativ einfach zu simulieren und die Mühe eigener Lektüre zu schmälern. Kompilation war aber nicht nur der Motor der 70 71 72
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74 75 76
Hierzu vor allem: Büttner / Friedrich / Zedelmaier (Hrsg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Gierl, Martin: Kompilation und Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert, in: Mulsow / Zedelmaier (Hrsg.): Praktiken der Gelehrsamkeit, S. 63. Hess, Gilbert: Florilegien und Enzyklopädien im 17. Jahrhundert. ‚Doctrina’, ‚Eruditio’ und ‚Sapientia’ in verschiedenen Thesaurierungsformen, in: Stammen / Weber (Hrsg.): Wissensordnung, Wissenssicherung, Wissensspeicherung, S. 39-57, hier S. 39. Im Englischen ist in Anlehnung an die ‚loci communes’ in der Forschung von ‚commonplace books’ die Rede, insofern hebt die Bezeichnung eher auf die Verwendungsmöglichkeiten der Gattung ab; dazu etwa: Moss, Ann: Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought, Oxford 1996. Blair: The Theater of Nature, S. 66. Hess: Florilegien und Enzyklopädien, S. 39. Blair: The Theater of Nature, S. 67.
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Vielschreiberei, sondern auch ein werbendes Argument im Kontext der Wissenspopularisierung (siehe Kapitel V). Wiederholt hebt Happel die Erleichterung hervor, die das textuelle Sammeln im Sinne einer praktischen, weil Zeit und Geld sparenden Reduktion des Wissens leisten würde. So bleibe dem Leser nicht nur die eigene Arbeit des Zusammentragens zahlloser Wissensbestände erspart, sondern schließlich auch der Kauf mehrerer teurer Bücher. Im Jahr 1683 heißt es in den Relationes Curiosae dazu: „Alle und jede curieuse Authories zu kauffen und durch zu lesen / ist nicht vor jederman / davor aber dienen diese Relationes, sie melden in einem Volumine, was andere Bücher in vielen thun / daß sie demnach eine curieuse Beschreibung der gantzen Welt kurtzbündig vor Augen stellen“.77
3. Der Definition von Michel und Herren zufolge wollen Enzyklopädien „[...] keine ungeordneten Haufen von Wissensbrocken sein“.78 Wie angedeutet, markiert die Einpassung des Wissens in ein strenges taxonomisches Korsett allerdings nur das eine Extrem des enzyklopädischen Spektrums der Frühen Neuzeit. Den elaborierten Systemen standen auf der anderen Seite kaum weniger massive Kompilationen gegenüber, die ihr angehäuftes Material überhaupt nicht ordneten. Das konnte einerseits daran liegen, dass das Interesse an einer Disziplinierung des Stoffes programmatisch unerwünscht war und stattdessen gefälliges Chaos propagiert wurde. So brachte etwa der italienische Polyhistor Tomaso Garzoni79 (1549-1589) 1599 eine äußerst erfolgreiche, in mehrere Sprachen übersetzte80 Enzyklopädie aller Berufe heraus: La piazza universale di tutte le professioni del mondo (1599). Als Organisationsprinzip seines Textes vertrat Garzoni nichts jenseits ‚unterhaltsamer Abwechslung’.81 Er wählte damit exakt jenen Darbietungsmodus, der auch von der ,Buntschriftstellerei’ und den Relationes Curiosae vertreten wird. Andererseits konnte selbst beim theoretischen Systematisierungsanspruch der tatsächliche Text ein gänzlich anderes Gepräge annehmen und sich unbeabsichtigt in Unordnung auflösen. Ann Blair hat angemerkt, dass viele enzyklopädische Theatrum-Titel der Frühen Neuzeit zwar mit systematischdurchdachten Ansprüchen auftraten, von deren praktischer Umsetzung angesichts konfuser Kompilation jedoch weit entfernt blieben: „[...] the ‚thea77 78 79
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81
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Beschluß, Bl. Eeeeev. Michel / Herren: Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen, S. 5. Zu Garzoni: Battafarano, Italo Michele (Hrsg.): Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit (= Ricerche di cultura europea / Forschungen zur europäischen Kultur, Band 3), Frankfurt 1991. So 1626 auch ins Deutsche: Piazza Universale, Das ist: Allgemeiner Schawplatz / oder Marckt / und Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händeln und Handtwercken / so in der gantzen Welt geübet werden [...], Frankfurt 1626. Schneider: Seine Welt Wissen, S. 37.
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ter’, with or without explicit systematic ambitions, is in the end often nothing more than a collection of material drawn from a broad array of sources“.82
4.3.1. Gefällige Unordnung: Die Strukturtradition der ,Buntschriftstellerei’ Die Kompilation von Wissen auf polyhistorisch-enzyklopädischer Grundlage gilt auch für „[...] jenen literarisch noch recht dunklen, selbst elementarbibliographisch ungenügend erschlossenen Sektor [...]“83 barocker Wissensliteratur, der sich jenseits der Systematik akademischer Enzyklopädien an ein breiteres Publikum richtete84 – die ‚Buntschriftstellerei’ oder ‚Kuriositätenliteratur’. Die Grenzen zwischen beiden Feldern sind fließend, so dass sie im Folgenden als maßgebliche Textumwelten der Relationes Curiosae synonym behandelt werden. Zudem handelt es sich in beiden Fällen nicht um zeitgenössische Termini, sondern um gattungstypologische Hilfskonstruktionen.85 Bislang hat nur Wilhelm Kühlmann die Buntschriftstellerei in grundlegenden Aufsätzen erschlossen. Rudolf Schenda hat zuvor eine ähnliche Quellengruppe unter dem Etikett der ,Kuriositätenliteratur’ subsumiert.86 Grundsätzliche Forschungsdesiderate bestehen zu beiden Gattungen. Während der Begriff ,Buntschriftstellerei’ primär auf den Modus der Darbietung abhebt, verweist die ,Kuriositätenliteratur’ eher auf die Inhaltsseite als charakteristischen Ausdruck der ,Kultur der Kuriositäten’ (siehe Kapitel 2.5.); formal wie inhaltlich sind bereits antike Wurzeln entscheidend: Die Buntschriftstellerei lässt sich als „rezeptive Derivatliteratur“87 bis zu Aelian (ca. 175-ca. 235) und dessen poikile istoria (Bunte Geschichten) zurückverfolgen. Absicht des Werks 82 83
84
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86 87
Blair: Theater of Nature, S. 177. Kühlmann, Wilhelm: Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher Buntschriftstellerei [unveröffentlichtes Vortragsmanuskript]. Ich danke Prof. Kühlmann herzlich für die Bereitstellung des Textes. Ders.: Lektüre für den Bürger. Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers, in: Brückner, Wolfgang / Breuer, Dieter / Blickle, Peter (Hrsg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Wiesbaden 1985, S. 917934. So dient der Begriff ,Buntschriftstellerei’ nach Hadwig Helms als terminologisches Dach, unter dem „[...] mehr oder weniger alle Werke zu vereinen [sind], die sich in anderen Gattungen nicht unterbringen ließen“. Helms, Hadwig: Vorwort, in: Claudius Aelianus: Bunte Geschichten, Leipzig 1990, S. 4. Schenda, Rudolf: Artikel Kuriositätenliteratur, in: Brednich (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens, Band 8, 1996, Sp. 647-660. Kühlmann: Polyhistorie jenseits der Systeme, S. 3.
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war es, „[...] Wissenswertes aus allen Gebieten in bunter [also kurzer und abwechslungsreicher] Form darzubieten“.88 Besonders die Barockliteratur nahm diese Programmatik in vielen Titeln mit enzyklopädischer Tendenz wieder auf.89 ,Bunte’ Kompilationen des 17. Jahrhunderts trugen – häufig in Kombination mit einer Variante von „Curiosität“ im Titel – überwiegend die oben genannten, enzyklopädischen Etiketten der Zeit: Theatrum,90 Schauplatz oder Schau-Bühne, Schatzkammer91 oder Denkwürdigkeiten wie im Fall der Relationes. Fast alle Werke spielten mit einer bereits in der Florilegienliteratur gepflegten Konnotation der Auswahl und Präsentation des ,Erlesenen’. Inhaltlich ähneln nicht wenige Werke intensiven Enzyklopädien, da wiederholt eine Ausrichtung etwa auf die Sammlung historischer Stoffe zu beobachten war. Daneben wird in vielen Kompilationen die angestrebte Bunt- und Vielheit des Wissens paradigmatisch umgesetzt und ist kaum auf einen Nenner zu bringen: „Das heisst, die [mit dem Begriff ,Buntschriftstellerei’, F.S.] erfassten Werke enthalten viele kleinere Texte verschiedener Texttypen: Berichte von Merkwürdigkeiten (Curiositäten) wie z.B. Kometenerscheinungen; Sitten und Gebräuchen aus fernen (auch historisch entfernten) Ländern, Beschreibungen des Verhaltens exotischer Tiere; Schwänke, Fabeln, Exempla, Bonmots, Apophthegmata, Witze; Rätsel; Kataloge oder mindestens Beschreibungen von merk-würdigen Sehenswürdigkeiten; athletische Höchstleistungen und überhaupt Rekorde; kurze Biographien berühmter Personen; Unglücksfälle und Verbrechen [...] usw. usf. – Satirische Texte erscheinen eher selten“.92
Mehr als die überbordenden Inhalte scheint die strukturelle Eigenart der Gattung zumindest ansatzweise einen homogenen Charakter zu verleihen. Laut der Definition von Wilhelm Kühlmann geht es der Buntschriftstellerei um die „[...] Präsentationsformen eklektischen Wissens, die konzeptionell und arbeitstechnisch an die Kompilationspraxis und Florilegienliteratur anzuschließen sind, die aber schon im 17. Jahrhundert auf journalistisch-serielle Form der Wissensvermittlung mit unterhaltsamem Anspruch zuliefen. Grundsätzlich war hier ein 88 89 90
91
92
Helms: Vorwort, S. 13. Siehe auch: Jaumann: Critica, S. 110. Ernst, Jacob Daniel: Historiae Miscellae Amphitheatrum Curiosum, oder Der neu- auffgerichtete Schau-Platz / vieler curiösen / sonder- und wunderbaren Laster- Trauer- Lehr- und LustBegebenheiten: Welche sich hin und wieder / zu unterschiedlichen Zeiten / in der Welt zugetragen [...], Leipzig 1696-1699. Ders.: Die Neu-auffgerichtete Schatz-Cammer / Vieler hundert anmuthiger und sonderbarer Erfindungen / Gedancken und Erzehlungen: Welche also eingerichtet / Daß die darinne in grosser Menge fürkommenden lieblichen Historien [...], Nürnberg 1676. http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/karidol/index.php?n=Main.Buntschriftstellerei.
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unabschließbarer, jedenfalls akkumulativer, manchmal schon ins historisch Offene weisender Wissensbegriff und dementsprechende Formen der Wissensvermittlung“.93
Jenseits aller „Systemzwänge“94 trug sich die Offenheit und Flexibilität buntschriftstellerischer Form durch die Ungebundenheit des Wissens. Wenn überhaupt, sind Ordnungsmuster nur mit Mühe zu erkennen;95 stattdessen dominiert die weitgehend regel- und planlose Anhäufung der Stoffe in mehr oder minder ähnlich formatierten Reihenwerken,96 die bereits eine Affinität zur periodischen Organisation des Wissens aufwiesen, wie sie dann mit den Relationes umgesetzt wurde. Mehr oder weniger selbstbewusste Apologien der Unordnung wurden unter den Buntschriftstellern des 17. Jahrhundert zur Regel.97 Eines der frühesten und maßgeblichen Zeugnisse findet sich in der auch von Happel noch ausgewerteten98 Historienkompilation Acerra Philologica99 (1633) von Peter Lauremberg (1585-1639). Der Professor für Mathematik am Hamburger Johanneum-Gymnasium hatte sie ursprünglich als Schulbuch entworfen. In der Vorrede des Werks reflektiert Lauremberg die Gliederung des Stoffes: „Ferner so hab ich auch in diesen Thematibus keine sonderliche gewisse Ordnung gehalten / sondern wie ich die Geschichte den Autoren zu vnterschiedlichen Zeiten gelesen / oder wie sie mir in Sinn kommen / also hab ich sie nach
93 94 95 96 97
98 99
Kühlmann: Polyhistorie jenseits der Systeme, S. 2. Ebd., S. 20. Ähnlich auch: Alsheimer, Rainer: Artikel Kompilationsliteratur, in: Brednich (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens, Band 8, 1996, Sp. 111-114. Kühlmann: Lektüre für den Bürger, S. 920f. Auch andere publizistische Genres des 17. Jahrhunderts spielten mit dem Topos der Unordnung im Sinne einer nicht-linearen Lektüre, so etwa das Kalenderwesen im prominenten Beispiel von Grimmelshausen. Er habe, so Grimmelshausen, in seinem Ewigwährendem Calender „[...] mit Fleiß ein und andere Sachen durcheinander gesetzt / damit [...] dein Fürwitz genöthigt werde / das Lesen zu wiederholen“. Zitiert nach: Zeller, Rosmarie: Die „unordentliche Ordnung“ als poetologisches Prinzip in Grimmelshausens Ewigwährendem Calender, in: Simpliciana, 16, 1994, 117-136, hier S. 131. Etwa in der Relation „Der gifftige Mensch“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 32, S. 253. Lauremberg, Peter: Acerra Philologica Das ist / Zwey hundert außerlesenen / nützliche / lustige / und denckwürdige Historien und Discursen, zusammen gebracht aus den berühmten Griechischen und Lateinischen Scribenten [...]; Alle Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Insonderheit der studierenden Jugent zur mercklichen Ubung [...] beforderlich [...], Rostock 1633; die einzige neuere Untersuchung zum Thema: Czapla, Ralf Georg: Mythologische Erzählstoffe im Kontext polyhistorischer Gelehrsamkeit. Zu Peter Laurembergs „Acerra philologica“, in: Simpliciana, 21, 1999, S. 141-159; in Kürze umfassend: Rosenberger, Veit (Hrsg.): Die Acerra Philologica und das antike Rom in der Frühen Neuzeit [im Druck].
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einander gesetzet / verhoffend / solche Veränderung werde nicht vnlieblich vnd vnangenehm seyn“.100
Der Verteidigung einer unterhaltsamen und zusammenhangslosen Wissensreihung schloss sich die Konversationsliteratur des Barock relativ früh an – schließlich konvergierte die Unordnung des Wissens bestens mit der Dynamik eines sprunghaften und assoziativen Gesprächsverlaufs. In seinen Frauenzimmer Gesprechsspielen101 von 1649 legitimiert Georg Philipp Harsdörffer seine ordnungslose Konzeption damit, dass „[...] der Verstand dadurch alle[n] Zwangs fürgeschriebener Lehren entbunden / sich seiner eingeschaffnen Freyheit befindet nachzusinnen“.102 1669 spielt auch Erasmus Francisci in seiner für die Relationes wichtigen und ebenfalls in Dialogform gehaltenen Lustigen Schau-Bühne allerhand Curiositäten (siehe Punkt 4.4.) auf die Ästhetik der Unordnung an. So wolle er seine Materien derart arrangieren, dass man „[...] nicht stets an einer Materie hafftet / sondern von einer auff die andre kommt“.103 Etwa zur gleichen Zeit leitet Francisci in seiner monumentalen Kompilation Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten104 (1668, siehe Punkt 4.4.) das Durcheinander der Stoffe sogar explizit aus dem wechselhaft-spontanen Gesprächsverlauf ab. Auch hier wird das kompilierte Wissen von fiktiven Diskutanten in Dialogen ausgebreitet.105 Durch ironische Anspielungen macht Francisci in seiner konzeptionellen Reflexion zudem deutlich, dass er es – ähnlich wie Harsdörffer – genießt, sich von jeder Ordnung ,befreit’ zu wissen: „Gleichwie demnach alle dergleichen mündliche Unterredungen / in einer lieblich-verwirreten Ordnung / und wohlgeordneter Verwirrung / fliessen müssen: also werden sich hie unsere discurrirende Personen bald in diese bald jene Materie einlassen [...]“.106 Nur selten transportierten die Kompilationen der Buntschriftstellerei dagegen spielerische Elemente intendierter Ordnung, da sie sich strukturell vor allem der Ästhetik der Abwechselung verschrieben und so das antike Horaz-Diktum 100 101
102 103 104 105
106
Zitiert nach der Ausgabe 1638: Lauremberg: Acerra Philologica [...], Rostock 1638, Vorrede, Bl. 3r. Harsdörffer, Georg Philipp: Frauenzimmer Gesprechspiele: so bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften / mit nutzlicher Ergetzlichkeit / beliebet und geübet werden mögen [...] Aus Italiänischen / Frantzösischen und Spanischen Scribenten angewiesen [...], Nürnberg 1644. Ebd., Zuschrift des VIII. Teils, Nürnberg 1649, Bl. 2r; dazu umfassend: Zeller, Rosmarie: Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers Gesprächspielen, Berlin 1974. Francisci: Die Lustige Schau-Bühne allerhand Curiositäten, Nürnberg 1669, Vorrede, Bl. 2r. Ders.: Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten: Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen [...], Nürnberg 1668. „Alle Sachen nun [...] werden / vermittelst einer Conversation gewisser Personen [...] angebracht: damit dasjenige / was aus vielen Scribenten zusammen gesuchet / etwas annehmlicher falle zu lesen“. Ebd., Vorrede, Bl. ):( iiiiiiir. Ebd.
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der varietas delectat (siehe auch Kapitel 5.2.) aktualisierten; Francisci spricht von „Zeit-Kürtzung“.107 In der Maxime gefälliger Unordnung sind die grundsätzlichen Funktionen barocker Buntschriftstellerei und auch die der Relationes Curiosae vorgeben: Wissenskonsum im kurzweilig-unterhaltenden Rahmen. Der angemessene Lektüremodus war ein stückweises und selektives Lesens, am ehesten in Gesellschaft zum erörternden Gespräch über Wissen. Der Diskurs über Formen unsystematischer Wissenssammlung lässt sich auch mit der Debatte über die neuen Medien verknüpfen: So hob auch der Zeitungsdiskurs des späten 17. Jahrhunderts wiederholt auf die Unordnung des Nachrichtenmaterials als Charakteristikum des neuen Mediums ab.108 Caspar Stieler etwa verglich die Zeitungslektüre mit einem unsteten und planlosen Schweifen durch die Themen der Zeit: „[...] die Zeitung aber in allerhand Königreiche fleuget / bald übers Meer streichet / bald in die neue Welt horchet und stückweise heraus holet / was von einem Tage zum andern alda vorgehet“.109 Wie der folgende Punkt zeigt, übertrug Happel mit den Relationes die programmatische Unordnung der Buntschriftstellerei zum ersten Mal in einen periodischen Rahmen und ließ sich von dieser konzeptionell maßgeblich beeinflussen. 4.3.2. „Angenehme Confusion“ und assoziative Textorganisation in den Relationes Curiosae „Wir suchen in unsern Relationibus die angenehmste Ordnung in einer stets veränderlichen Unordnung [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1685
Die Ästhetik chaotischen Wissens wird von Happel in beachtlicher Klarheit und Dichte reflektiert. Immer wieder legt er Rechenschaft über die Disposition des Wissens ab, weit bestimmter als in seinen übrigen Werken. In der Traditionsabhängigkeit des neuen Mediums von etablierten Wissenstypen und -formen ist noch einmal die zentrale Frage Herbert Jaumanns aufzuwerfen: „Indiziert die Umstellung auf Periodizität [...] [tatsächlich] einen entscheidenden Strukturwandel [...]“110 in der frühneuzeitlichen Wissenspro107 108 109 110
Francisci: Die lustige Schaubühne, 1669, Vorrede, Bl. 1v. Pompe: Die Neuheit der Neuheit, S. 51. Stieler: Zeitungs Lust und Nutz, S. 14f. Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, S. 109.
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duktion? Für die Relationes trifft dies, so ist bereits hier zu vermuten, gerade nicht zu; vielmehr ist vom Gegenteil auszugehen: Die genannten typologischen Merkmale der Buntschriftstellerei – offene Systemlosigkeit, Abwechslung und Fragmentierung des Wissens – waren Strukturprämissen, die geradezu prädestiniert waren, in den Rahmen der Periodizität übernommen und dort in kaum veränderter Logik fortgesetzt zu werden. Die als diskontinuierliche, kleinteilige „Curiositäten“ präsentierten Wissensbausteine aus den buntschriftstellerischen Kompilationen konnten für periodische Formate mühelos adaptiert werden, da diese aufgrund ihres Erscheinungsrhythmus’ und des begrenzten Umfangs weniger zur Entfaltung größerer Zusammenhänge als zur Fragmentierung des Wissens neigten. Happel folgte den nichtperiodisch publizierten Vorbildern und setzte auf meist kurze Artikel und Themenblöcke. Die Reflexion angenehmer Unordnung taucht in den Paratexten111 – den Einleitungen, Vor- und Nachworten – der Relationes auf, die als Teil der gebundenen ‚Jahresbände’ nachträglich geliefert wurden. In der ersten Vorrede von 1683 hebt Happel noch nicht explizit auf den Ordnungsdiskurs ab, markiert jedoch über eine Anspielung an das Prinzip der varietas delectat bereits die Zugehörigkeit seines Projektes zur Buntschriftstellerei. In einer gemeinsam mit seinem Verleger Wiering gemachten Formulierung heißt es: „Wann wir aber genugsahm erkennen / die grosse Verschiedenheit der menschlichen Gemüther / welche nicht alle an einem oder vielmehr einerley Dinge / ihre Vergnügen finden / als werden wir uns bemühen / in unsern Relation von den grösten Deckwürdigkeiten der gantzen Welt / jedesmahl verschiedenen Sorten von Materien einzuführen [...]“.112
Im Kern geht die Rechtfertigung der strukturellen Heterogenität konsequenterweise von der unterstellten Heterogenität des „curiösen“ Geschmacks aus – so verschieden die Vorlieben des möglichst breit gedachten Publikums seien, so divers und zufällig müsse auch das Wissen dargeboten werden. Einer denkbaren Befürchtung auf Seiten des Lesers vor zu komplexen Ausführungen will Happel begegnen, indem er größere Wissenszusammenhänge in kleinteiligere „Curiositäten“ ,zerlegt’. Metaphorisch erläutert er dieses Konzept gegen 1682 im Artikel „Der seltsame Wunder-Brunne“:113 „Dannhero ich / umb den Leser in einerley Materie nicht allzu lange auffzuhalten / wodurch so wohl ihm als mir leichtlich ein Eckel im Lesen entstehen könnte / solche weitläufftige und vielfältige Materien von einer Sachen / also in
111 112 113
Zu deren Analyse siehe Kapitel V. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v. Ebd., Nr. 38, S. 304.
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meinen Relationibus zertheilen und verstecken will / gleich einem mit allerhand Steinen reichlich und vielfältig bestickten Kleide“.114
Wenige Wochen zuvor, im 38. Bogen der Relationes, reflektiert Happel erstmals unter ausdrücklichem Rückgriff auf den (Un-)Ordnungsdiskurs über das ,Wie’ seines Schreibens. Demnach bevorzugt er eine Art zufälliger Assoziationskette, die statt eines Plans lediglich das aufgreift, was dem Kompilator im Gang der schweifenden Lektüre gerade ad hoc ,zufällt’. Kontrollieren will Happel seine spontane Kompilation nur insoweit, als es gilt, im wöchentlich produzierten Durcheinander den Überblick zu wahren und Wiederholungen zu vermeiden. Gleichwohl behält er sich vor, aufgrund der Offenheit der Form zu beliebigen Zeitpunkten Ergänzungen zu bereits behandelten Diskursen anzubringen. Im Artikel „Die unterirdische Schiffahrt“115 heißt es offensiv: „Zumahlen da ich mich gantz und gar nicht an eine Ordnung gebunden habe / sondern meine Feder in Gedancken allemahl in völliger Freyheit wissen will: Und bei so gestalten Sachen kan niemahln etwas an an einem unrechten Orth / zu früh und zu späth angebracht werden. Ja ich behalte mir vor / über kurz oder lang (nechts Gott) von dieser oder jener Materie zu handeln / dabey mir noch ein und anders im lesen zuwächst / ohnerachtet ich schon vorhin davon geschrieben habe / doch soll dieses jedesmahl observiret werden / daß ich niemahlen ein Ding zweymahl abhandeln will / wie der Erfolg bezeugen kann“.116
Dieses Postulat erprobt Happel einige Wochen darauf im Rahmen sensationeller Anekdoten „[...] von einigen ungemeinen Fressern [...]“117 noch einmal am konkreten Material. Hier erscheint es ihm jedoch völlig zulässig, dass sein Schreibverfahren auch mögliche Wiederholungen einschließt. Den Text auf diese Weise zu organisieren bzw. zu desorganisieren sei in keinem Fall „impertinent“. So habe er, Happel, „[a]uf vorangeregtem Blatt 110 meiner Relationen [...] zwar von einigen unnatürlichen Speisen gemeldet / weil mir aber seithero von dieser Materie noch etwas mehrers eingefallen / so habe ich keine Scheu getragen / dem curieusen Leser solches mitzutheilen / weil ich mir stets vorbehalten / dasjenige / so mir unter die Hand kommet / es sey / wo und wann es wolle / allemahl getreulich mitzutheilen / ohnerachtet ich an einem andern Orthe schon davon möchte gehandelt haben / also daß uns nichts impertinent vorkommen soll“.118
114 115 116 117 118
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 38, S. 304. Ebd., Nr. 35, S. 276ff. Ebd., S. 276. Ebd., Relation „Der grosse Fresser“, Nr. 52, S. 409. Ebd.
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An anderer Stelle bezeichnet Happel sein freies Assoziieren sogar als seine „[...] Weise und Methode [...]“119 und erhebt das Prinzip der „Repitition“ zum Programm. Im 57. Bogen von 1683 bemerkt er im Bericht über ein wundersames Ei in der Münchener Kunstkammer: „Dann wann ich gleich diesselbe Theil / wiewohl kürtzlich dieses Orths wiederholen solte / wer wolte es mir übel deuten? Angesehen der curieuse Leser in solcher Repitition / diese oder jene Materie ihm dergestalt imprimiret, daß dieselbe seinem Gedächtniß nimmer entfallen wird“.120
Bemerkenswert ist der letzte Zusatz: Happel wendet potentielle Wiederholungsmomente ins Positive, indem er deren mnemotechnische Qualität und die Funktion der Relationes als Speicher- und Erinnerungsmedium betont. Wenn auch unter verkehrten Vorzeichen, eröffnet sich hier eine Analogie zur wiederholt betonten Aufgabe der zeitgenössischen materiellen Sammlungen121 (siehe Kapitel VI): So beginnt etwa die 1680 als Teil einer Stadtgeschichte veröffentlichte und auch von Happel genutzte Beschreibung der Dresdner Kunstkammer von Anton Weck (1623-1680) wie folgt: „Denn es bestehet dieselbe von Sieben Zimmern / in welchen eine solche Disposition und gute Ordnung gemachet / daß man darinnen Me-moriam artificialem & localem haben kan [...]“.122 Anders gewendet: Während in der Kunstkammer die Ordnung des (Objekt-)Wissens als Stütze der Erinnerung dienen soll, will Happel die gewollte Unordnung seiner Textsammlung durch Wiederholung kompensieren. In der Praxis des Kompilierens bleibt diese Erklärung aber weitgehend folgenlos. Happel schafft es – wohl nicht zuletzt dank der praktischen, nachträglich erstellten Register – die Kontrolle über sein Material zumindest insofern nicht zu verlieren, als er sich im gesamten Erscheinungszeitraum der Relationes an nur wenigen Stellen inhaltlich wiederholt. Die Rechtfertigung bunter Ordnungslosigkeit findet sich in vielen weiteren Abschnitten des Periodikums. Einige Beispiele verdeutlichen, wie der Diskurs über die Vorteile unsystematischer Wissensrepräsentation das Profil 119
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In der Relation „Der brasilianische Wasser-Baum“: „An diesem Orthe kan ich nicht umbhin / noch einige Umbstände wegen des droben pag.32. beschriebenen WasserBaums / anzufügen / welche mir darmahlen noch nicht zu Handen gekommen waren / weil sie aber merckwürdig sind / hoffe ich leicht entschuldigt zu seyn mit dieser etwas späthen Ankufft / in Erwegung / daß mir nach der Weise und Methode, wornach ich meine Relationes stelle / niehmahlen etwas zu spät oder ungelegen kommet“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 87, S. 683. Ebd., Relation „Das zweyfache Ey“, Nr. 51, S. 486. Grundlegend: Bolzoni, Lina: Das Sammeln und die ars memoriae, in: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo, S. 129-168. Weck, Anton: Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitberuffenen Residentz- und Haupt-Vestung Dresden Beschreib: und Vorstellung [...], Nürnberg 1680, S. 34.
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von Happels Sammlung schärft und ein ,Medienbewusstsein’ erkennen lässt, auch wenn die Periodizität dabei keine argumentative Rolle spielt. Im 45. Bogen aus dem Jahr 1682 spielt Happel etwa eine leichtgängige Desorganisation gegen jede ,mühselige’ Ordnung aus. Bemerkenswert ist, dass die Unordnung des Wissens auch vom Gegenstand selbst her legitimiert werden kann – in diesem Fall vom zeitgenössisch prominenten Deutungsmuster einer Natur, die als „Die spielende Natur“123 (siehe Kapitel 7.2.) zahlreiche wundervolle Ausnahmen von ihrem ,geordneten Lauf’ hervorbringt. Im gleichnamigen Artikel heißt es: „Seihet aber nicht sauer / wann ich keine Ordnung halte / dann solches ist mir etwas mühsam / und dem Leser ist damit eben so sehr nicht gedienet / ja die Ordnung könte ihm in diesem Stücke vielleicht einen Eckel erweisen“.124 Um 1684 bringt Happel in den Relationes eine der pointiertesten Apologien der Unordnung, die neben dem eingangs erwähnten Motiv geschmacklicher Pluralität auch eine ironische Spitze gegen das rigide Ordnungsdenken der Zeit enthält. Überdies zeigt sich, wo jenseits der Paratexte konzeptionelle Reflexionen im Fließtext untergebracht werden – häufig dann, wenn Happel von einem Wissensfeld ins nächste springt, hier von der Relation „Die Tugend des Zuckers“125 zu „Der seltsahme Stumme“:126 „Wir suchen in unsern Relationibus die angenehmste Ordnung in einer stets veränderlichen Unordnung / wohl wissend / daß die Gemüther der Leser ebenso wenig überein kommen / als ihre Temperamenten: Zurmahl dieser mehr Belieben trägt an Natürlichen / ein anderer an Mathematischen / ein anderer an Historischen Sahen: Manchem beliebet die Wunder der Natur zu betrachten / ein anderer ergetzet sich an der Vorstellung kunst. Und köstlicher Wercken / Gebäuen / Garten / etc. nachdem eines jeden Captus. Verstand oder Lusten beschaffen“.127
Ungefähr ein Jahr darauf verbindet Happel das Motto der Unordnung noch einmal explizit mit der „curiösen“ Unruhe als angemessene Lektürehaltung. Er erklärt, dass der „seltsame Absprung“ in der Materie im Sinne der Leserfreundlichkeit nötig sei: „Ich habe mir ein vor allemahl außbedungen / des 123 124 125 126 127
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 63, S. 499. Ebd. Ebd., Nr. 69, S. 545. Ebd., S. 546. Ebd. Zur Prämisse der varietas heißt es noch um 1688 im Artikel „Die grosse Noth“: „Wir haben in den vorhergehenden Tomis von etlichen nachdencklichen Schiff-Brüchen geredet / und befunden / daß manches curieuse Gemüht sich insonderheit daran ergetzet / wann es uns demnach allemahl vergönnet gewesen / nach einer ernsthafften langwierigen Beschreibung eines natür-oder künstlichen Wunders unsere durch eine angenehme Historische Erzehlung wieder zu erquicken [...]“. Ebd., Band 4.2, Nr. 26, S. 205.
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curieusen Lesers Patientz keines weges zu reitzen / wann ich mich nicht allein an keine Ordnung binde / sondern offtmahl in der Materie einen seltsamen Absprung nehme“.128 Da hier keiner intensiven, sondern einer sprunghaften wie flüchtigen Lektüre Vorschub geleistet wird – und diese bildete für die Polemik gegen die flatterhafte „Curiosität“ seit jeher ja einen bevorzugten Angriffspunkt –, setzt Happel die Prämisse konsequent um, von seinen Lesern wöchentlich nur „eine Vierthel-Stunde“129 Aufmerksamkeit zu erbitten. Konzeptionell greift er damit einem Kernmerkmal moderner Massen- und Unterhaltungsmedien vor: Schon Happel rechnet nicht mit einem Leser, der den Willen (und die Zeit) zur konzentrierten Ganztextlektüre und zum Erfassen komplexer Zusammenhänge mitbringt. Gerade in der Darlegung längerer historischer Abschnitte hat dies zur Folge, dass Happel sich seines Vorsatzes erinnert [...] einer Materie nicht allzu lange zu inhaeriren [...]“130 und sie stattdessen [...] zu contrahiren, und kürtzlich zu erzehlen“.131 So sei sicher, wie er noch einmal an anderer Stelle unterstreicht, dass dem Leser „[...] angenehme Confusion und Unordnung ohne Zweiffel angenehmer fallen / als eine nette Ordnung / welche leicht zu erfinden / aber übel zu halten seyn möchte“.132 Allerdings ist auch an die äußeren Zwänge des wöchentlichen Produktionsdrucks zu erinnern, die dem Kompilator zur systematischen Aufbereitung der Stoffe ohnehin keine Zeit ließen. Argumente, die einer „Bund-verstecketen Unordnung“133 zuneigten, mussten daher schon notgedrungen willkommen sein. Dass äußere Faktoren Einfluss auf die Organisation des Wissens nahmen, spiegelt sich in einem weiteren Kommentar Happels. Metaphorisch fasst er die „Curiosität“ als das er128
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die ergätzliche Winter-Lust“, Nr. 72, S. 569f. Vergleichbar heißt es in der Relation „Der unglückseelige König von Mexico“: „Ich habe allwege keine Ordnung weder in Gelegenheit der Königreichen / noch in der JahrZahl / observiret / zumahl ich nicht weiß / wozu uns dieselbe Ordnung in diesem Stücke grossen Nutzen schaffen kann / vielmehr wird sie uns der Freyheit benehmen / bald hie / bald dahin in dieses oder jenes Land einen Absprung zu thun“. Ebd., Nr. 45, S. 341. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r. Dieses Motiv dürfte Happel bei Erasmus Francisci entlehnt haben, der im dritten Band seiner Acerra Exoticorum (1674) notiert: „Ich wil aber dieses Historische Rauch-fäßlein meinem hochwehrten Leser dienstlich in seine Huldreiche Hände empfohlen haben; wünschend / daß [...] das Gemüt aller deren / die unterweilen ein Viertheil-Stündlein etwa anbey verliehren möchten / mit holdseligem Geruch erfüllen“. Francisci: Acerra Exoticorum, Band 1, Bl. 3r. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der Beschluß von Scanderbeg“, Nr. 33, S. 264. Ebd. Beachtlicherweise taucht diese Bemerkung wieder im Zusammenhang der (Un-)Ordnung materieller Sammlungen auf, nämlich im Bericht über „Die wunderbahre KunstKammer“. Ebd., Band 3.2, Nr. 15, S. 118. Ebd., Nr. 68, S. 523.
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wähnte, regelrecht basale körperliche Bedürfnis nach Wissen, für das die ungeordnete Präsentation der Inhalte die adäquaten ,Speisen’ liefere: „Es hat mir beliebt / allerhand Materien [...] abzuhandeln / und zwar ohne Ordnung / dann wann ich weiß / was ich bey einer herrlichen Mahlzeit für Tractamenten bekommen werde / so wird sich der Appetit bald stillen / wann ich aber nicht weiß / was man aufftragen wird / so habe ich allemahl ein Verlangen nach dem Künfftigen“.134
Happel beweist an dieser Stelle ein bemerkenswertes Gespür für die potentielle Wirkung der neuen Pressemedien: Die Periodizität spielt hier insofern eine Rolle, da erst die zeitlich fortlaufende, prinzipiell offen gedachte Publikationsform die Möglichkeit gibt, den „curiösen“ Appetit des Lesers ständig aufs Neue anzuregen – weiß dieser doch nicht, welche ,Speisen’ die folgende Woche „aufftragen“ wird. Im Umkehrschluss heißt das: Nicht-periodische, abgeschlossene Formate legen ihre Inhalte durch die synoptischen Inhaltsverzeichnisse und Register von vornherein offen und laufen Gefahr, den Leser solcherart vorschnell zu ,sättigen’; die Relationes hingegen liefern diese Erschließungsinstrumente erst in den später veröffentlichten Jahresbänden nach. Ungeachtet aller theoretisch reflektierten und praktisch eingelösten Postulate der Unordnung zeigen sich in Happels Kompilationspraxis wiederholt diverse Ordnungsmuster. Insofern dokumentiert sich auch auf dieser Ebene die unbekümmerte konzeptionelle Inkonsistenz des Periodikums. Eine Systematisierung der Inhalte zeigt sich in doppelter Hinsicht: erstens in unspezifischen Dispositionstypen, die sich durch die Struktur des Quellentextes, aber möglicherweise auch durch Happels eigene Exzerpiertechnik ergeben haben dürften; zweitens in weitreichenden, wenn auch unbewusst verfolgten Ordnungsmustern. Zunächst zur punktuellen Ordnung im Kompilationsprozess: Es wirkt mehrfach so, als würde Happel die Programmatik des regellosen Wissens willkürlich ad acta legen und unterhalb der chaotischen Oberfläche des Textes im Kleinteiligen planvollen Beschreibungsmustern folgen. So reflektiert er etwa um 1686 bei der Gliederung eines längeren Diskurses über die mythologischen Sibyllen sein methodisches Vorgehen unter Berufung auf gelehrte Konventionen einleitend wie folgt: „Damit aber alles in der Ordnung auff einander folge / sol alhier nach der Lehre der Gelehrten / erstlich die Etymologia abgehandelt werden“.135 In anderen Artikeln kann der Kommentar zur angebrachten Ordnung gleichwohl entfallen. In einem wiederholt aufgegriffenen Themenkreis über die „Wunderge-
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.1, Vorbericht, Bl. 3r. Ebd., Relation „Die weissagende Sibyllen“, Nr. 55, S. 433.
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bäu[d]e“136 der Welt leitet Happel den Bericht über einen erstaunlichen chinesischen Turm wie folgt ein: „Ehe ich den Thurm zu Lincing beschreibe / muß ich noch einige andere vorher anführen zu denen mich die Ordnung leitet“.137 Mit der unkommentierten Ordnung könnte Happel den vergleichenden Blick auf die Quellen meinen: Während er die obige Passage über den Turm aus Kirchers China Illustrata138 (1667) übernimmt – unter Hinweis, dass ihn Kircher zuvor schon dem berühmtem chinesischen Atlas von Martino Martini (siehe Kapitel 7.1.4.) entlehnt habe139 –, stammen die angekündigten anderen Bauwerke teilweise aus Nieuhofs oft exzerpiertem Reisebericht Die Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft.140 Dass Happel Türme aus verschiedenen Quellen auflistet und die Textstellen vergleichend zusammen bringt, könnte auf die sachliche Ordnung des eigenen Zettelkastens verweisen, auch wenn dieser in den Relationes an keiner Stelle genannt wird. Zum wechselhaften Umgang mit der Frage der Wissensdisposition zählt auch, dass Happel sich bisweilen sogar dann auf die Ordnung beruft, wenn er größere Themenkomplexe durch programmatisch eingeschaltete Exkurse wieder auflöst. Als er in einer historischen Passage den „klägliche[n] Fall des Königs von Martaban“141 in Südostasien schildert, bricht er die chronologische Ereigniskette unvermittelt ab, müsse er doch [...] umb der Ordnung willen vorhero ein ander recht Königliches Unglück beschreiben [...]“;142 erneut bleiben die Kriterien der zitierten Ordnung im Dunkeln – es folgt ein Auszug aus einem Reisebericht, der weder geographisch noch chronologisch Bezüge zum vorangehenden Artikel herstellt. Nachvollziehbare Gliederungen des Materials ergeben sich andernorts eher zufällig aus der Struktur der kompilierten Quellenvorlagen: Als Happel die Aufmerksamkeit beispielsweise erneut Südostasien zuwendet und von der „Auffziehungs-Pracht des Königs von Pegu“143 berichtet, folgt der Text der zeremoniellen Ordnung, wie sie der Italiener Gasparo Balbi in seinem Reisebericht festgehalten hatte.144 Daneben transportieren die Relationes wie136 137 138 139 140 141 142 143 144
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Das prächtige Closter St. Laurentii in Castilien“, Nr. 26, S. 195. Ebd., Band 2.2, Relation „Der hohe Turm bey Lincing“, Nr. 41, S. 367. Kircher, Athanasius: China monumentis, qua sacris quà profanis, nec non variis naturae & artis spectaculis, aliarumque rerum memorabilium argumentis illustrata, Amsterdam 1667. „Aber wann ich den allerfürtrefflichsten Mathematicum Kircherum zum Vorgänger habe [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 41, S. 367. Lediglich zitiert als „Neuhoff“. Ebd. Ebd., Nr. 17, S. 201. Ebd., Relation „Der klägliche Todt des Chambainha“, Nr. 18, S. 215. Ebd., Nr. 82, S. 672. In deutscher Übersetzung erschien der Text als Teil der populären Reiseberichtskompilation von: de Bry, Johann Theodor / de Bry, Johann Israel (Hrsg.): Siebender Theil der Orien-
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derholt chronologische Muster als naheliegende Dispositionstypen. Besonders deutlich wird das im medial erprobten Sensationsthema der Naturkatastrophen, denen Happel 1682 mit der Straff und Unglücks Chronick ein eigenes Werk widmete. Noch im gleichen Jahr verwertet er deren Material auch für die Relationes, wo er sich auf einen Katalog fataler Sturmfluten beschränkt. Einleitend hält Happel im Artikel „Der zornige Neptunus / oder die landverderbliche Wasserfluth“145 fest, dass er „[...] dem curieusen Leser / zumal die Materie eben itzo de tempore ist / erstlich die bekandtesten Strohm und darauf die merckwürdigsten See-Fluthen / wie sie auff einander gefolgt / in einer guten Ordnung [darstellt, F.S.]“.146 Noch in einer weiteren Form lässt Happel die bunte Anhäufung des Materials hinter sich. Sie ließe sich als ,assoziativ-rhetorische Binnengliederung’ bezeichnen, da sie Struktur über Sachzusammenhänge konstruiert. Werden in den Relationes diese Wissensnetze geknüpft, gehen sie – wie es Rudolf Schenda für die Kuriositätenliteratur allgemein konstatiert hat – aus dem „[...] Bewusstseinsstrom des Gelesenen [...]“147 und der spontanen Verknüpfung während des Schreibens hervor. Entfernt dürfte Happels Schreiben hier in der Tradition zeitgenössischer Rhetorik zu sehen sein: An die ,inventio’ knüpft sich im zweiten Produktionsstadium (eines Textes) die ,dispositio’ an, die Gliederung des Stoffes. Hier folgt auf die ,narratio’, die Darlegung eines Themas, der längere Teil der ,argumentatio’, die Beweisführung. Sie hat die Aufgabe „[...] all das zusammenzubringen, was in irgendeiner Weise für das Thema [...] von Belang ist und irgend zur Erläuterung oder Veranschaulichung beiträgt“.148 Exemplarisch verdeutlichen lässt sich diese ,argumentative’ Disposition an einem längeren Diskurs über die Seidenraupe. Ihre Zucht war in Europa erstmals in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geglückt und rief weite Begeisterung hervor.149 „Der wunderbahre Seyden-Wurm“150 wird um 1688 zum Gegenstand der Relationes. Vor allem die Organisation des erschöpfend abgehandelten Themas um einen gedanklichen Fluchtpunkt ist bezeichnend, mit dem Happel den Artikel eröffnet. Hier kündigt er an, das Thema durchaus strukturieren zu wollen: „Wir wol-
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talischen Indien: darinnen zwo unterschiedliche Schiffarten begrieffen. Erstlich Eine Dreyjährige Reyse Georgij von Spielbergen Admirals [...] Zum andern ein Neunjärige Reyse eines Venetianischen Jubilirers / Casparus Balby genannt [...], Frankfurt 1605. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 32, S. 254. Ebd. Schenda: Kuriositätenliteratur, Sp. 651. Boy, Hinrichs: Rhetorik und Poetik, in: Meier (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 209-233, hier S. 219f.; dazu maßgeblich: Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Daston / Park: Introduction, in: Dies.: (Hrsg.): Cambridge History of Science, Vol. 3, S. 1-21, hier S. 2. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 2, S. 10.
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len demnach ordentlich verfahren / und diese Materie also eintheilen“.151 In der folgenden Reihung von Unterartikeln vermitteln die Relationes den Gegenstand über drei Wochen und fast zwanzig Seiten152 in geradezu enzyklopädischer Breite. Am Anfang dieser portionierten ,Kulturgeschichte der Seide’ steht eine historische Einschätzung des Phänomens aus eurozentrischer Perspektive: „Vor Zeiten und vielen Seculis wuste man in Europa nichts von diesem nützlichen Wurm zu sagen [...]“.153 Es folgen Detailauslassungen zur „[...] aeusserliche[n] Gestalt des Seyden-Wurms“,154 von der Happel in mehreren Artikeln auf die Fortpflanzung des Tiers überleitet,155 um unter Abhandlung von wirtschaftlichen und geographischen Aspekten („Die Sinesische Seyden-Würme“156 / „Die Persische Seyden-Würme“157) den Themenkreis zu schließen: „Heut zu Tage weiß man in Europa eben so sehr / als in Persien / mit der Seyden umb zu gehen [...]“.158 Noch umfassender und damit seiner erklärten Prämisse der Kürze noch untreuer wird Happel in einem Thema, das möglicherweise wegen seines Hamburger Lokalkolorits besonders ausführlich behandelt wird: Um 1686 entfaltet sich in den Relationes ein ,nautisch-maritimes’ Wissensfeld in nicht weniger als einhundertzweiundfünfzig Einzelartikeln – über fünfzehn Wochenausgaben des Periodikums, in der das Ideal buntschriftstellerischer Abwechselung einem minutiösen Detailinteresse weicht. Die Binnenstrukturierung des Themas hat zudem exemplarischen Charakter für Happels Kompilationstechnik insgesamt: Er vermischt diachrone mit synchronen Perspektiven und sammelt eine Vielzahl an Teilaspekten, die er sowohl in Bezug zueinander als auch zum Oberthema setzt. Der Blick pendelt dabei zwischen dem Ganzen und Einzelnen oder, wie Happel es mehrmals ausdrückt, zwischen „generaliter“159 und „specialiter“.160 Auf diachrone Weise etwa wird die Geschichte des Schiffbaus angedeutet, der älteste Bezugspunkt ist hier kein anderer „Alt-Vaters Noe Kasten-Bau“.161 Eine knappe globale Ent151 152 153 154 155 156 157 158 159 160
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Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 2, S. 10. Ebd., Beschluss in der Relation „Der Americanische Seyden-Baum“, Nr. 4, S. 27. Ebd., Relation „Die Abkunfft des Seiden-Wurms“, Nr. 2, S. 11. Ebd., Nr. 3, S. 13. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., Relation „Die Hanthierung der Seyden“, Nr. 3, S. 22. Etwa: Ebd., Band 3.2, Relation „Die Stadt Venedig selber“, Nr. 91, S. 721. Etwa: „Bey dieser subtilen Materie muß ich abermahl vorher in Generalibus mich ein wenig auffhalten / und hernach den curieusen Leser mit Specialibus divertiren“. Ebd., Relation „Die Erscheinung der Gespenster“, Nr. 63, S. 502. Ebd., Relation „Die Archae Noe“, Nr. 69, S. 552.
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wicklungsgeschichte behandelt die Stadien des Schiffbaus vom brasilianischen Einbaum bis hin zum „Portugallische[n] Haupt-Schiff“162 – „Das allergrösseste Schiff / so jetzto in Europa ist [...]“.163 In diese Makroebene erfolgen Einschübe in kleinteiliger Perspektive. Erschöpfend informiert Happel etwa über die Geschichte des „See-Compas“.164 Im instruktiven Folgeartikel über den „Gebrauch des Compasses“165 tritt die insgesamt lockere narrative Textstruktur zugunsten einer aufzählenden, kompendienhaften Verdichtung zurück, die nautisches Praxiswissen durch die Abbildung eines Kompasses auch anschaulich vermittelt. Die Erzeugung solcher assoziativen Muster gilt nicht nur für die Konstruktion einzelner Themenkreise, sondern für die ordnende Verknüpfung des Wissens in den Relationes insgesamt. Sie setzt eigentlich disparate Materien in Bezug zueinander. Die obige Seiden-Thematik beendet Happel beispielsweise folgendermaßen: Die zeitgenössische Schwärmerei für Seidenstoffe belegt er mit einem kulturkritischen Verdikt, das auf den Verlust der sozial regulativen Kraft von Kleiderordnungen abhebt: „[...] daß demnach nicht einem jeden erlaubet gewesen / Seyden und Sammet zu tragen / aber itzo wird solches wenig unterhalten / ein jeder / der es bezahlen kann / kleidet sich / wie ein Printz / und mancher Idiot gehet wie ein fürnehmer Doctor in Seyden [...]“.166 Im Anschlussartikel „Der vornehme Koch“167 kommt es zu einer Kontextverschiebung: Das Seiden-Thema wird fallen gelassen, die erhobene Kritik an standeswidriger Kleidung nutzt Happel jedoch als verbindendes Element, um den ,denkwürdigen’ Bericht über eine hohe Standesperson einzuflechten, die sich „[...] in geringer Kleidung [...]“168 und damit „[...] in einem Knechtischen Stande [...]“169 hat zeigen müssen. Dieses geschickt verbindende Schema ist für die Wissensstrukturierung am häufigsten feststellbar. „Hierher gehöret auch [...]“170 oder „Hierher schicket sich [...]“171 sind zwei stereotype rhetorische Bausteine, mit denen Happel immer wieder ungleichartige Wissensfelder in gedanklicher Ordnung zu162 163 164 165 166 167 168 169 170
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 71, S. 561. Ebd. Ebd., Nr. 73, S. 581. Ebd., S. 582. Ebd., Band 4.2, Relation „Der Americanische Seyden-Baum“, Nr. 4, S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Etwa in der Relation „Das Rotterdammer Schiff“: „Zu solchen künstlichen Erfindungen gehöret auch dasjenige wunderbahre Schiff / so zu Rotterdam vor wenigen Jahren erfunden worden“. Ebd., Nr. 93, S. 745. Ebd., Band 1.2, Relation „Die seltsame Lufft-Reise“, Nr. 60, S. 399.
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sammenbringt. Eine ähnlich gliedernde Funktion hat auch die Verwendung des „Discurs“-Begriffs, über den sich Happel an verschiedenen Stellen erklärend auf die Struktur der jeweiligen Quellenvorlage bezieht: „Nun kommen wir in unserm Discurs auff die Narwals oder rechte See-Einhörner / wobey zu erinnern / daß die Naturkündiger dreyerley Sorten von Einhörnern gedencken [...]“.172 Nicht nur durch die bislang erwähnten Muster oszillieren die Relationes zwischen den Extremen der Unordnung und Ordnung. Happels konfuses Schreiben wird verschiedentlich auch durch Dispositionen aus Enzyklopädien durchbrochen oder ergänzt. Das Periodikum zeigt sich damit letztlich als Aggregat verschiedener Traditionen, da die Buntschriftstellerei aus der Masse ihrer Quellen mit den Inhalten – wenngleich unwillkürlich – auch deren Strukturen adaptiert. In den Enzyklopädien des 17. Jahrhunderts war die Entscheidung für einen der beiden primären Dispositionstypen (alphabetisch oder systematisch) noch nicht entschieden. Oft handelte es sich vielmehr um „[...] aufeinanderbezogene Repräsentationsweisen von Wissen“.173 Systematisch konzipierte Werke wurden beispielsweise oft durch ein alphabetisches Register als Erschließungsinstrument erweitert.174 Dieses Ordnungsraster wird auch in den Registern der Relationes nachgeliefert, war also – bedingt durch die doppelte Absatzstrategie – nur Teil der nachträglich ,zusammenhängenden’ Form des Periodikums. Alle zwei Jahre findet sich bei Happel ein „Index oder Blat-Weiser / der vornehmsten Materien / so in diesem Buch abgehandelt worden“.175 Neu war dieses praktische Instrument allerdings schon in der nicht-periodischen Buntschriftstellerei nicht. Als nur eines unter vielen Werken verfügte bereits Franciscis Lustige Schaubühne allerhand Curiositäten (1663) über ein Register und erhöhte auf die Weise die Benutzbarkeit seiner unsortierten Kompilation. Georg Philipp Harsdörffer, Quelle für Francisci und später auch Happel, hatte schon gegen Mitte des Jahrhunderts zur pragmatischen Funktion solcher Register bemerkt, dass sie „[...] gleichsam mit dem Finger [...]“ darauf verwiesen, „[...] wo eines oder das ander zu finden [...]“, da doch „[...] keiner die Zeit hat / alle und jede Bücher durchzulesen [...]“.176 Mit Blick auf das Register der Relationes ist bemerkenswert, dass über die einzelnen Lemmata zumindest ex post so etwas wie Systematik suggeriert wird: Sie scheinen eine Art Sachordnung erzeugen zu wollen, indem 172 173 174 175 176
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der Wall-Roß“, Nr. 78, S. 621. Schneider / Zedelmaier: Die Enzyklopädistik in der Frühen Neuzeit, S. 350. Burke: Papier und Marktgeschrei, S. 216. Allerdings erfasst das Register nicht alle Stoffe, sondern nur eine willkürliche Auswahl. Zur „Lemmafalle“ der Register siehe: Herren / Michel: Unvorgreifliche Gedanken, S. 10. Harsdörffer: Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil [...], Nürnberg 1653, S. 57.
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Ober- und Unterbegriffe gebildet werden, die das zusammenbringen, was sich im Text nur verstreut wiederfindet; so etwa im Lemma „Baum“177 mit den Subkategorien „mit weissen Blättern“178 oder „seltsam gebildeter“.179 Die beiden zugehörigen Artikel stehen in den Relationes weit auseinander, werden im Index jedoch dem gleichen Lemma untergeordnet. Eine alphabetische Sachordnung lässt sich in Einzelfällen jedoch auch im Text selbst festmachen. Zwei Beispiele: Im ersten überschneiden sich alphabetische Ansätze mit einer systematisch-kosmographischen Disposition (siehe unten). Als Happel ein Panorama der berühmtesten Bibliotheken entwirft, wendet er sich an den Leser, um sein Vorgehen zu legitimieren. Er entschuldigt sich exakt für jenen strukturellen Zug, den er an anderer Stelle mit der Programmatik der Unordnung so eindringlich verteidigt – das Sprunghafte der Darstellung: „[...] verzeihe es mir / curieuser Leser / daß ich auß einer Provintz so leicht in die andere überspringt / dann ich folge dem Alphabet [...]“.180 Eine größere Rolle als alphabetische Schemata spielen Ordnungsvorstellungen, die Happel aus der erfolgreichen kosmographischen Gattung entlehnt. Hier bleiben auch die Relationes trotz allem den dominanten Ordnungsvorstellungen der Epoche verhaftet. Wie für die meisten Zeitgenossen ist auch für Happel mit biblischer Sicht zunächst unzweifelhaft, „[...] daß Gott alles verordnet mit Maaß / Zahl und Gewicht / bedeutend / daß gleichsam alle Welt-Geschöpffe in einer gewissen Waage hangen [...]“.181 In kosmologischer Perspektive, also im Hinblick auf die Frage des Aufbaus und der Anordnung des Kosmos, steht Happel jedoch auch an der Epochenschwelle von geo- und heliozentrischem Weltbild. Obwohl konkurrierende kosmologische Systeme im 17. Jahrhundert recht undogmatisch nebeneinander bestehen konnten (siehe Kapitel 7.3.1.), hatte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte das kopernikanische oder zumindest das semi-heliozentrische Modell weitgehend durchgesetzt.182 Nicht zufällig zitiert Happel daher im ersten Artikel der Relationes überhaupt – „Die allereigentlichste Betrachtung der Sonnen“183 – aus Galilei Galileos (1564-1642) Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme184 (1632). Der perspektivisch geordnete Auftakt des Pe177 178 179 180 181 182 183 184
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Index, Bl. 1r. Ebd. Ebd. Ebd., Band 2.2, Relation „Die Niederländische Bibliothek“, Nr. 39, S. 267. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Arithmetica [...]“, Nr. 32, S. 245. Donahue, William: Astronomy, in: Daston / Park (Hrsg.): Cambridge History of Science, Vol. 3, S. 564-594, hier S. 589. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1; zitiert als „Gali. In Dial.Cosm.p.35“. Galilei, Galileo: Dialogo. Dove nei congressi di quattro giornate si discorre sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico e copernicano, Florenz 1632.
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riodikums konvergiert insofern mit dem neuen Bild des Kosmos. Es setzt nicht länger die Erde, sondern die Sonne in den Mittelpunkt des Universums: „Am allerersten kehren wir uns aber nach der Sonnen / als dem schönsten unter allen Geschöpffen / dem Ursprunge des Lichts in unsern Augen / welche von dem Allerhöchsten recht mitten in die gantze sichtbahre Welt gesetzet / [...]. Sie führet den gantzen Chor der umbstehenden Planeten nicht anders / als ein ansehnlicher General / sie praesentiret sich wie ein prächtiger König auff ihrem Throne [...]“.185
In dieser planvollen Eröffnung folgt Happel deutlich den Mustern der Kosmographien. Noch im ersten Artikel kündigt er zudem in konzeptioneller Hinsicht an, den Blick im Folgenden vom Firmament auf die Erde schweifen zu lassen186 – womit er klassisch kosmographische Ordnungen in Abwandlung fortschreibt: Die bereits in geozentrischen Kosmographien etablierte Darstellungssequenz verlief von ,Außen nach innen’ und damit analog zur vorgestellten Ordnung des Alls, die in Kreisbahnen um die im Mittelpunkt liegende Erde gedachte wurde:187 Zunächst wurde mit den Fixsternen der äußerste Kreis beschrieben, es folgten die einzelnen Planeten und schließlich die Erde. Mit dem kopernikanischen Ordnungsentwurf des Alls war diese Hierarchie obsolet geworden; Happel reagiert darauf, indem er die klassische Sequenz auf der Grundlage aktueller astronomischer Diskussionen umkehrt und zunächst mit der Sonne beginnt, also von ,Innen nach Außen’ vorgeht: „In der Ordnung folget nun Jupiter [...]“188 und am Ende stehen – im Geo- und Heliozentrismus gleichermaßen angenommen – die Fixsterne („Von den Fix-Sternen“189), bevor Happel die vergleichsweise geordnete Einleitung unvermittelt mit dem Artikel „Wunderliche Begegnung einer Frauen mit einem Affen“190 abbricht. Ein denkbarer Grund dafür war möglicherweise die frühe Einsicht in die später ja auch erwähnte, nur mühsam aufrechtzuerhaltende Ordnung angesichts eines hohen Produktionsdrucks. 185 186
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Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1. „[...] da wir am billichsten und vor allen andern Dingen uns nach dem Himmel wenden [...] und unsern Augen dann und wann wieder auff die Unter-Welt schlagen [...]“. Ebd., S. 7. Christel Maier charakterisiert das „[...] Prinzip des Abstiegs von oben nach unten, vom Höherrangigen zum Kleineren [...] als eine wesentliche und dauernde Kategorie enzyklopädischer Ordnungsvorstellungen“. Meier: Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Die Enzyklopädie im Wandel, S. 11-24, hier S. 17. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 10. Ebd. Ebd., Nr. 2, S. 15.
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Gänzlich ad acta gelegt ist das Schema der Kosmographie nach dem astronomischen Auftakt jedoch nicht. Innerhalb größerer topographischgeographischer Exkurse greift Happel abermals auf das Muster des Genres zurück, teilweise indirekt, teilweise ausdrücklich. Implizit ist der Bezug etwa beim Diskurs über „Die heutige[n] Regenten der Welt / nach ihrem Nahmen / Alter und Ehestand“191 gegeben, Teil der ersten Wochenausgabe des dritten Jahrgangs. Geographisch gesehen folgt Happel in seiner Beschreibungsrichtung von Westen nach Osten, erst dann kommen Afrika und die Neue Welt in den Blick. Nicht sie markiert klassischerweise den westlichsten Punkt der Wahrnehmung, sondern die äußerte Westspitze Europas; insofern bilden „Die jetzt-regierende Könige von Portugal / Spanien und Frankreich“192 den Ausgangspunkt in einer Rangfolge der Kontinente. Schon früher, um 1685, macht Happel diesen kosmographischen Standard ausdrücklich: Der genannte Themenkomplex der ,denkwürdigsten’ Bibliotheken orientiert sich ausdrücklich an der Methode der „Erdbeschreiber“: „Damit wir aber nicht in Konfusion gerathen / wollen wir eine gewisse Ordnung der Länder ergreiffen / und gleich wie die meisten Erdbeschreiber / also wollen wir im Westen beginnen [...]“.193 Resümierend lässt sich festhalten, dass die den Text unbewusst strukturierenden Muster zweierlei aufzeigen: zum einen, dass Happel trotz aller erklärter Unordnung immer wieder versucht, die zu verwaltenden Wissensund Büchermassen im Kompilationsprozess ,irgendwie’ unter Kontrolle zu halten und den Strom des Gelesenen zu regulieren. Wiederholt werden Ordnungsmuster sichtbar, seien sie tendenziell systematisch oder alphabetisch. Sie verleihen dem Material zumindest einen losen Zusammenhang. Durch die assoziativ-rhetorische Schreibtechnik, über die Happel die Bausteine seines ,Textpatchwork’ gedanklich miteinander verknüpft, lassen sich die Relationes entfernt im Kontext der frühneuzeitlichen Mnemotechnik verorten: Wie diese, zeigt sich auch das Periodikum partiell als imaginierter Gedächtnisraum, in dem an verschiedenen Orten (,loci’) unverbundene Wissensfragmente platziert und in Bezug zueinander gesetzt werden. Zudem ist das zeitweilige Unterlaufen der ungeordneten Struktur auch dadurch erklärbar, dass sich Happel an die Gliederung der jeweiligen Vorlagentexte hält: War ein Werk erst einmal aufgeschlagen, wird aus diesem häufig kontinuierlich abgeschrieben. Mit dem sequentiellen Kopieren sickert nicht selten auch die Ordnung der Vorlage in die Relationes ein.
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 52, S. 409. Ebd., S. 410. Ebd., Band 2.2, Relation „Die wohlbestellete Bibliothek“, Nr. 40, S. 317.
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4.4. Knotenpunkte im Wissenskosmos: Vorläufer und Quellen Happels „Wir wollen diesen Wunder-Berg beschreiben nach dem Bericht Athanasii Kircheri [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Die maßgeblichen Textvorlagen der wöchentlich wachsenden Enzyklopädie sind Gegenstand des vorliegenden Punktes. Ziel ist es, mit einem Querschnitt durch die Quellengrundlage der Relationes Curiosae die wissenskulturellen Ursprünge des Periodikums zu akzentuieren. Dazu bietet sich zum einen die quantitative Auswertung des Anmerkungsapparats an, zum anderen sind jene Werke und Autoren zu nennen, die von Happel bibliographisch kaum genannt werden, die auf die Relationes dennoch entscheidenden Einfluss ausübten und als konzeptionell-inhaltliche Vorläufer des Periodikums einzustufen sind.194 Da Happel, anders als viele andere Kompilatoren, an keiner Stelle eine Bibliographie der von ihm ausgeschöpften Werke bringt, gestaltet sich ein Überblick über die bestimmenden Texte mühselig. Zunächst ist bei der Frage, welches Werk in den Relationes am häufigsten referenziert wird, Vorsicht bezüglich der Schlüsse aus dem quantitativen Befund geboten: So bedeutet ein bibliographischer Nachweis nicht zwangsläufig, dass Happel das zitierte Werk wirklich auch kannte. Möglicherweise schmückte er sich nur mit der Kenntnis von Büchern, die er nicht selbst gelesen und deren Angaben er nur aus anderen Werken kopiert hatte – das für die Kompilationsliteratur insgesamt fundamentale Problem des Sekundärzitats. Was ‚Original’ und was ‚Kopie’ war, lässt sich in den Textwelten des Barock oft nicht mehr entscheiden (siehe auch Punkt 4.5.). Für Happel war es in jedem Fall ein Leichtes, den eigenen Text durch additive Verweise auf andere Texte zu autorisieren, dabei jedoch ganze Anmerkungsapparate samt Textstellen zu kopieren und sie als die eigenen Lesefrüchte auszugeben. Dennoch: Überschlägt man die Häufigkeit der angeführten und/oder ausgewerteten Werke und Autoren, lässt sich aus Happels gewaltigem bibliographischem Apparat zumindest annäherungsweise ein Bild jenes Grundstocks an Literatur destillieren, der die Textproduktion der Relationes zentral ‚steuert’.195 Dabei überrascht nicht, 194 195
Die im Folgenden beschriebene Quellengrundlage des Periodikums gilt weitgehend auch für Happels übrige Werke. Ausgenommen wird der fünfte, posthum veröffentlichte Band. Zwar ist Happels Autorenschaft zumindest zu Teilen gesichert, die Quellen des monothematisch-historisch konzipierten Bandes unterscheiden sich jedoch deutlich von den ersten vier Teilen.
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dass das Profil dieses Korpus in etwa dem entsprochen haben dürfte, was in gelehrten, aber eben auch in ersten öffentlichen Bibliotheken – wie in Hamburg – zum unverzichtbaren Handapparat des polyhistorischen Zeitalters gehörte. Charakteristisch ist das leichte Übergewicht lateinischsprachiger Werke, gefolgt von deutschen Titeln. Happels vereinzelte Nutzung von Texten anderer Sprachen, darunter Niederländisch, wird mit Ausnahme des Englischen an dieser Stelle nicht thematisiert. Gleichwohl zeigt sich darin, dass Happel teilweise relativ polyglott arbeitete. Mit den wichtigsten Quellen steht auch die außergewöhnliche Strahlkraft ihrer Autoren immer wieder im Mittelpunkt des Kompilationsprozesses: So wird Happel zum Popularisator des lateinischen Werks von Athanasius Kircher, des „allzu curieus[en]“196 Jesuiten und überragenden ‚Wissenschaftsstars’ des Barock. Tatsächlich führte im 17. Jahrhundert kein Weg an den universalen Kompilationen Kirchers vorbei; damit folgte auch der populäre Wissensdiskurs dem Kanon der Zeit: „Über welches Thema man auch immer promovierte, diskutierte oder publizierte, der Rückgriff auf Kircher war verpflichtend“.197 Dass Kirchers Tod bei Publikationsbeginn der Relationes nur ein Jahr zurücklag, bleibt auch nicht unerwähnt: „Vernehmet weiter von den künstlichen Erfindungen des hochverständigen und im November letzt verwichenen 1680sten Jahrs abgelebten Athanasii Kircheri“.198 In Happels nur fragmentarischer Auswertung von dessen Werken geht ein Grundzug Kirchers allerdings verloren – der berühmte Jesuit wandte sich in seinen Enzyklopädien nicht nur der Kompilation von Wissen zu, sondern wesentlich auch dessen Ordnung.199 Eine quantitative Aufschlüsselung der Quellengruppen der Relationes liefert in starker Schematisierung folgendes Bild: An erster Stelle (1) rangieren die Universalenzyklopädien von Kircher und dessen Schüler Caspar Schott (1608-1666). Deren Werke sind mit den übrigen Quellengruppen insofern bereits verknüpft, als diese mehr oder weniger intensiv ebenfalls auf Kircher zurückgreifen. Hinzu kommt die klassische und zeitgenössische Naturgeschichte sowie die Masse der Naturwunder im neuen Medium der Gelehr196 197
198 199
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der grosse Castanien-Baum“, Nr. 24, S. 189. Daxelmüller, Christoph: Athanasius Kircher und die populäre Kultur, in: Beinlich, Horst (Hrsg.): Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602-1680. Universalgelehrter. Sammler. Visionär, Dettelbach 2002, S. 191-202, hier S. 193. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Von grossen Künstlern / und vielen in der Natur verborgenen Wundern“, Nr. 7, S. 52. Breidbach, Olaf: Zur Repräsentation des Wissens bei Athanasius Kircher, in: Schramm, Helmar / Schwarte, Ludger / Lazardzig, Jan (Hrsg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert (= Theatrum Scientiarum, Band 1), Berlin 2003, S. 282-303, hier S. 288.
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tenjournale (2), der große Sektor der Reisebeschreibungen und geographisch-topographischen Werke (3) sowie jener der volkssprachlichen Buntschriftstellerei (4), der die vorigen Felder noch einmal verdichtet. Auch wenn in den Hamburger Bibliotheken kein Navigationsinstrument in Form eines Leserades (siehe Kapitel 4.2.) existiert hat, ist zumindest der Gedanke reizvoll, sich Happel als Benutzer eines solchen rotierenden Lesepultes vorzustellen, auf dem rund zwei Dutzend Bücher aus den obigen Feldern als feste Referenzwerke ‚verankert’ waren und als Ausgangs- und Orientierungspunkte in der Welt der Bücher dienten. 1. Die Enzyklopädien Kirchers und Caspar Schotts: Es ist unwahrscheinlich, dass erst der Tod von Kirche und die Flut der ihm gewidmeten Nekrologe Happels Aufmerksamkeit für den jesuitischen Polyhistor geweckt haben. Schließlich war Kircher schon zu Lebzeiten eine Art wissenschaftliches Gravitationszentrum und der erste Gelehrte mit europaweiter Reputation200 – und damit selbst eine „Curiosität“ ersten Ranges. Zu Kirchers Status zunächst in der Gelehrtenrepublik trug nicht unwesentlich sein engster Mitarbeiter und Schüler Caspar Schott bei, aus dessen Physica Curiosa (1662) und Magia universalis naturae et artis (1657ff.) Happel fast genauso häufig schöpft wie aus Kirchers Schriften (siehe unten). Von dessen ausschließlich auf Latein publizierten und dennoch enorm profitablen Werken erschien erstmals 1662 ein deutscher Extract und Auszug; schon auf dem Titelblatt ist von des „Welt-berühmten Teutschen Jesuitens“201 Schriften die Rede. Auch wenn andere deutsche Autoren zuvor von Kircher abschrieben – Erasmus Francisci z.B. –, ist Happel dessen erster Popularisator in einem deutschsprachigen Periodikum. Bibliographisch berufen sich die Relationes insgesamt rund zweihundert Mal202 auf Kirchers Werke. Die Dunkelziffer, das heißt jene Stellen, an denen Happel Kircher kopiert und diesen als Quelle unterschlägt, dürfte aber noch weit höher liegen. Die massive intertextuelle Präsenz von Kircher illustriert dessen Einfluss auch für den Wissenshaushalt der frühen Periodika. Angetrieben von einem geradezu manischen Sammeleifer, war Kircher die exemplarische Verkörperung des schillernd-barocken Universalgelehrten: Mit seinem 1651 eingerichteten Museum Kircherianum in Rom schuf 200 201
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Findlen, Paula: Introduction: „The Last Man Who Knew Everything...or Did He? Athanasius Kircher, S.J. (1602-80) and His World, in: Dies. (Hrsg.): Athanasius Kircher, S. 1-51, hier S. 10. Hirsch, Andreas: [...] Philosophischer Extract und Auszug / aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda Musurgia Universali in Sechs Bücher verfasset: Darinnen die gantze Philosophische Lehr und Kunst-Wissenschaft von den Sonis, wie auch der so wol theoretisch- als practischen Music / mit höchster Varietät geoffenbaret [...] und vor Augen gestellet wird, Schwäbisch Hall 1662. Die Quantifizierung will allein Tendenzen verdeutlichen und erhebt keinen Anspruch auf Exaktheit.
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er die berühmteste Kunstkammer der Zeit,203 in der er unzählige Objekte aus den Bereichen von Kunst, Natur und Technik repräsentativ vereinte und wirkungsvoll inszenierte.204 Auch in seinen über vierzig, meist dickleibigen Folianten sammelte und sicherte Kircher das Wissen seiner Zeit, angereichert um die Ergebnisse eigener Experimente und Studien. Zwei Dinge prädestinierten ihn für die Interessen der Relationes: zunächst die kaum zu überblickende, enzyklopädische Bandbreite seiner Betätigungsfelder. Kircher war Naturforscher, Physiker, Mathematiker, experimenteller Erfinder, Mechaniker, Geologe, Ägyptologe, Sinologe, Historiker, Mediziner, Mikroskopist und Optiker, Astronom und Philosoph, Komponist und technischer Illusionist – Wissensfelder und Themen, die sich in Ausschnitten ebenso in den Relationes finden. Es ist gerade auch Kirchers Eigenschaft als Grenzgänger zwischen neuem empirischen und überkommenem traditionellen Denken, die ihn für das 17. Jahrhundert repräsentativ und nicht nur für die Gelehrtenkultur interessant machte: Der Glauben an Riesen und Drachen, an Wunder und Magie, an über- und außernatürliche Kräfte war fester Bestandteil von Kirchers theozentrischem Weltbild, über das die Verbindung zu populären Wissensdiskursen mühelos herzustellen war. Kirchers berühmtestes Werk, die ‚geologische Enzyklopädie’205 Mundus Subterraneus206 (1665), ist zugleich die von den Relationes am häufigsten ausgewertete Quelle.207 So schärft das Werk Happels Aufmerksamkeit für die spielerischen Launen der Natur in Form zahlloser wundersamer Versteinerungen – etwa einer in Stein gebildeten Maria mit Kind,208 die Happel in Bild und Text aus dem Mundus übernimmt 203
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Kirchers Sammlung avancierte zum unerlässlichen touristischen Höhepunkt eines jeden Rom-Besuchs. Eindrücke wie die des Komponisten und Schriftstellers Wolfgang Caspar Printz, der die Ewige Stadt 1661 besuchte, wiederholen sich: „Alle diese Raritäten [die Sehenswürdigkeiten Roms, F.S.], aber wollte ich für nichts achten, wenn ich nicht den unvergleichlichen Philosophum und Mathematicum Katharinum Asicherum und desselben wunderwürdiges Museum gesehen hätte“. Zitiert nach: Burkart, Lucas: Athanasius Kircher und das Theater des Wissens, in: Schock / Koller / Bauer und metaphorik.de (Hrsg.): Dimensionen der Theatrum-Metapher, S. 253-273, hier S. 256. Siehe dazu etwa: Findlen, Paula: Scientific Spectacle in Baroque Rome: Athanasius Kircher and the Roman College Museum, in: Feingold, Mordechai (Hrsg.): Jesuit Science and the Republic of Letters, London 2003, S. 225-284; sowie: Mayer-Deutsch, Angela: Das Museum Kircherianum. Kontemplative Momente, historische Rekonstruktion, Bildrhetorik, Zürich 2010. Hierzu: Nummedal, Tara E.: Kircher’s Subterranean World and the Dignity of the Geocosm, in: Stoltenberg, Daniel (Hrsg.): The Great Art of Knowing. The Baroque Encyclopedia of Athanasius Kircher, Stanford 2001, S. 37-47. Kircher, Athanasius: Mundus Subterraneus: In XII Libros digestus; Qvo Divinum Subterrestris Mundi Opificium, mira Ergasteriorum Naturæ in eo distributio [...], Amsterdam 1665. Weit mehr als 100 Nennungen im gesamten Erscheinungszeitraum der Relationes. Kircher: Mundus Subterraneus, Tom. 2, 1665, S. 58.
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(siehe Kapitel 7.2.1.). Kirchers Text verzeichnete auch wissenschaftliche Pionierleistungen, so die weltweit erste, für die Relationes Curiosae ebenso kopierte Darstellung der Strömungsverhältnisse auf den Ozeanen.209 Die von Happel nach dem Mundus Subterraneus am zweit häufigsten ausgeschöpften Werke Kirchers sind seine umfassende Abhandlung über den Magnetismus, Magnes, sive De Arte Magnetica210 (1641), sowie die bereits erwähnte, für die europäische Chinakenntnis des 17. und 18. Jahrhunderts kaum zu überschätzende Kompilation China Illustrata211 (1667); über die Gewichtung der Quelle ist zugleich auf das Gewicht außereuropäischer Welten im Periodikum verwiesen (siehe Kapitel 7.1.). Da von der China Illustrata ebenfalls keine deutsche Fassung erschien, ist Happel auch in diesem Fall als einer der ersten deutschen Popularisatoren von Kirchers Chinabild zu werten. Kircher zog das Werk seinerseits bereits zu großen Teilen aus den Vorlagen jesuitischer Missionare zusammen, auf die Happel ebenfalls mehrmals lobend Bezug nimmt, etwa auf den bedeutenden Novus Atlas Sinensis212 (1655) von Martino Martini (1614-1661). Über die Auswertung der Arte Magnetica trug Happel zudem dazu bei, dass sich Kirchers Ruf als genialer Erfinder ‚künstlicher Maschinen’ auch bei einem breiteren Publikum festigte. „[W]ie ein Lauffeuer [...]“213 verbreitete sich beispielsweise die Nachricht, dass es Kircher auf wunderbare Weise gelungen sei, eine Uhr aus einer Sonnenblume zu konstruieren, die die Zeit selbst nachts und in geschlossenen Räumen anzeigen sollte (siehe Kapitel 7.2.1.). Unter anderem in Artikeln über die „alten Ägyptier“214 und die Pyramiden als Teil eines Exkurses über die Weltwunder bezieht sich Happel außerdem auf Kirchers ägyptologisches Hauptwerk, den mehrbändigen Oedipus Aegyptiacus215 (1652-1654). Für etliche Themen aus dem akustischen und musikalischen Feld rekurrieren die Rela209 210 211
212
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Kircher: Mundus Subterraneus, Tom. 1, S. 180f. Ders.: Magnes Sive De Arte Magnetica Opus Tripartitum: Quo Praeterquam Quod Universa Magnetis Natura, Eiusque In Omnibus Artibus & Scientiis usus nova Methodo explicetur [...], Köln 1643. Das Werk wurde 1668 ins Holländische übersetzt, 1669 erschien eine gekürzte englische und ein Jahr darauf eine vollständige französische Fassung. Leibold, Michael: Kircher und China. Die China Illustrata als Dokument barocken Wissens, in: Beinlich (Hrsg.): Magie des Wissens, S. 113-125, hier S. 113. „Pater Martinus Martinius in seinem herrlichen Buche: Atlas Chinicus [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die unbegreiffliche grosse Höhle in China“, Nr. 30, S. 239; siehe dazu auch Kapitel 7.1.4. Burkart: Athanasius Kircher und das Theater des Wissens, S. 256. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Das überauß grosse Pracht-Schiff“, Nr. 72, S. 586. Kircher, Athanasius: Oedipvs Aegyptiacvs: Hoc Est Vniuersalis Hieroglyphicæ Veterum Doctrinæ temporum iniuria abolitæ Instavratio; Opus ex omni Orientalium doctrina & sapientia conditum, nec non viginti diuersarum linguarum authoritate stabilitum [...], Rom 1652ff.
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tiones schließlich auf die Musurgia Universalis216 (1650), Kirchers musiktheoretisches Hauptwerk. Daneben hat Happel an seinem Arbeitsplatz in den Hamburger Bibliotheken noch weitere Wissenssummen des großen Polyhistoren verfügbar gehabt und genutzt, allerdings in deutlich geringerer Dichte: so das Itinerarium Extaticum217 (1657), Kirchers kosmologisches Hauptwerk über die konkurrierenden Weltsysteme seiner Zeit, sowie die Arca Noë218 (1675), die vor dem Turris Babel entstandene erste Schrift Kirchers mit ausschließlich biblischem Inhalt. Kirchers Werke sind im Verbund mit denen seines produktivsten Schülers Caspar Schott zu sehen. Er sah sich zu guten Teilen als (Latein publizierender) Vermittler seines Lehrers und veröffentlichte einen der programmatischen Wegbereiter der Relationes und einflussreichsten ‚curiosa’-Titel des 17. Jahrhunderts:219 die zweibändige Physica Curiosa220 (1662). Schotts Nachschlagewerk war ein Kompendium all dessen, was in Form grotesker Naturlaunen die Vorstellungswelt schon lange bevölkerte, dank einer neuen Sensibilität für das Wunderbare im 17. Jahrhundert jedoch noch einmal an Signifikanz gewann (siehe Kapitel 7.2.). Die Physica Curiosa vereinte das breite Spektrum physischer Deformationen von Monstren, tierischen und menschlichen Missgeburten, Tierverwandlungen und Fabelwesen. Der Erfolg des Werks und seine Attraktivität als Fundus für weitere Kompilationen lässt sich vor allem auf seine opulente Bebilderung zurückführen, die ihre unterhaltende Funktion nicht verschleiert.221 Die Illustrationen hatte Schott aus zahllosen älteren und jüngeren Mirabilien- und Prodigien-Sammlungen kopiert, auf die auch Happel teilweise noch zurückgreift, so die Monstrum historia222 (1642) des Bologneser Arztes und Kunstkammer-Besitzers Ulisse Aldrovandi (1522-1605). Mehr als zwanzig Mal bezieht sich Happel in den Relationes explizit auf die Physica Curiosa. Unter den Werken des „[...] curieuse[n] Münch / Caspar Schottus [...]“,223 die Happel in den Quellenbestand der 216
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Kircher, Athanasius: Mvsvrgia Vniversalis Sive Ars Magna Consoni Et Dissoni [...], Rom 1650; siehe dazu: Wald, Melanie: Welterkenntnis aus Musik. Athanasius Kirchers „Musurgia Universalis“ und die Universalwissenschaft im 17. Jahrhundert, Kassel 2006. Kircher, Athanasius: Itinerarivm Exstaticvm: Qvo Mvndi Opificivm, Id Est Coelestis expansi [...], Rom 1656. Ders.: Arca Noë: in tres libros digesta [...], Amsterdam 1675. Das Werk wurde bis wenigstens 1697 weiter aufgelegt. Schott, Gasper: Physica Curiosa, Sive Mirabilia Naturae Et Artis Libris XII. [...], Würzburg / Nürnberg 1662. Jaumann, Herbert: Handbuch der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, Berlin 2004, S. 593. Aldrovandi, Ulisse: Monstrorvm Historia. Cvm Paralipomensis Historiæ Omnivm Animalivm Bartholomaeus Ambrosinvs [...], Bologna 1642. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die Wunder der Fünff-Sinnen“, Nr. 9, S. 68.
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Relationes einfließen ließ, war zudem die nicht weniger erfolgreiche Magia univeralis naturae et artis224 (1657-1658), in der Schott spektakuläre Kunstwunder vor allem aus den – in modernen Klassifikationen gesprochen – Gebieten Optik, Akustik, Mathematik, Physik und Chemie versammelt. In diesem Fall waren die Relationes allerdings nicht eine der ersten deutschsprachigen Vermittlungsstationen, da sich Happel teils nicht auf die vier Bände starke Originalausgabe stützte, sondern auf zwei deutsche Teilübersetzungen. Sie erschienen 1671 als Magia optica, das ist, Geheime, doch Natur-mässige Gesicht- und Augen-Lehr225 und Drey-Hundert Nütz- und Lustige Sätze Allerhand Merckwürdiger Stücke.226 2. Klassische und rezente Naturgeschichte / Gelehrtenjournale: Die zweite Gruppe von Happels zentralen Referenztexten ist medienübergreifend und teilt ebenfalls die primär lateinische Provenienz. Ihr Zusammenhang lässt sich jedoch am deutlichsten über die inhaltlichen Analogien aufzeigen: So stehen auch hier die physische Welt und die Naturwunder im weitesten Sinne im Mittelpunkt des Schreibens, allerdings unter weitgehendem Verzicht auf die Höhepunkte menschlichen Kunstschaffens, die einen erheblichen Teil der Sammlungen von Kircher und Schott füllen. Entscheidend ist Happels selektives Ausschreiben seiner Quellen. Im Fall einer der einflussreichsten Enzyklopädien überhaupt, Plinius’ Historia Naturalis (um 79 n. Chr.), führt es dazu, dass die Relationes von deren auch Kosmologie, Geographie und ‚Anthropologie’ umfassenden Wissensfundus keine gesamte Werkschau geben, sondern lediglich willkürliche, „curiöse“ Highlights hervorheben. Dennoch steht Plinius in der Rangfolge der Referenzierung nur knapp hinter Kircher,227 wobei aufgrund der komplexen Rezeptionsgeschichte und enormen Verbreitung der Historia Naturalis kaum mehr überprüfbar ist, ob Happel Plinius im Einzelnen selbst gelesen oder nur mehr aus zweiter Hand kopiert hat. Davon abgesehen wird mit der Präsenz des antiken Kompilators in den Relationes noch einmal die zeittypische Konfiguration des neuen Mediums deutlich:228 Wer immer sich mit der Beschreibung 224 225 226
227 228
Schott, Casper: Magia Universalis Naturae Et Artis, Sive Recondita naturalium & artificialium rerum scientia, Würzburg 1657-1658. M. F. H. M: Magia Optica, Das ist / Geheime doch Natur-mässige Gesicht- und Augen-Lehr [...] Herrn Gaspar Schotten / der Societät Jesu [...], Bamberg 1671. Schott, Casper: Ioco-Seriorum Naturae Et Artis, Sive Magiae Naturalis, Centuriae Tres: Das ist: Drey-Hundert Nütz- und Lustige Sätze Allerhand Merck-würdiger Stücke: [...] / Genommen Auß der Kunst und Natur / [...], Bamberg 1677; in den Relationes etwa zitiert als: „1. Magia naturalis, 2. Schottus: Schimpf und Ernst aus der Kunst und Natur, pag. 233“. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Der truncken-gemachte Fische“, Nr. 8, S. 62. Rund 140 Nennungen in den Relationes insgesamt. Bemerkenswerterweise wurden die Relationes im 19. Jahrhundert mitunter selbst als naturgeschichtliche Quelle rezipiert und kategorisiert, so etwa im 1846 erschienenen Katalog
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der äußeren natürlichen Welt befasste, hatte sich – auch im 17. Jahrhundert noch – an Plinius zu orientieren. Kaum überraschend, zeigt sich mit Happels häufigem Rekurs auf die Historia animalium (4. Jhdt.) von Aristoteles229 darüber hinaus auch die lange Wirkungsgeschichte eines weiteren zentralen Textes antiker Naturgeschichte. Das Problem der Klassiker der Naturgeschichte war im 17. Jahrhundert weniger ihre Korrekturbedürftigkeit als der Umstand, dass sie von den Wundern der Neuen Welt noch nichts wussten und im Zuge der geographisch erweiterten Weltsicht ergänzungsbedürftig geworden waren. Dieses Nebeneinander von Tradition und vergleichsweise rezenter Literatur äußert sich in den Relationes in der gehäuften Auswertung jener Werke, die für das europäische Bild außereuropäischer Welten im 17. Jahrhundert von hoher Bedeutung waren – etwa die reich illustrierte Historia Naturae230 (1635) des Jesuiten Juan Eusebio Nieremberg (1595-1658), für Happel „[...] einer von den vornehmsten Physicis dieses Seculi“.231 In vielen Abschnitten über Südamerika greift Happel zudem auf die Historia Naturalis Brasiliae232 (1648) zurück, ein Meilenstein in der Erforschung Brasiliens, der in Co-Autorenschaft des Leidener Arztes Willem Pies (1611-1678) und des sächsischen Naturforschers Georg Marggraf (1610-1644) entstanden war. Schließlich nutzt Happel auch das relativ neue Medium der gelehrten Periodika im Hinblick auf alle erdenklichen Naturwunder als wesentliche Quelle. Stellvertretend für die Belange des populären Wunderkonsums kam es Happel besonders gelegen, dass die ersten wissenschaftlichen Journale in der Begeisterung für all jene Phänomene, die sich jenseits des gewöhnlichen Gangs der Natur bewegten, keine Ausnahme machten und der Wahrnehmungshorizont gelehrter und laikaler Kultur in diesem Punkt deckungsgleich verlief (siehe Kapitel 7.2.).233 Anders gewendet: Über die starke Fokussierung auf die Kategorie des Naturwunders konnte sich das Wochenblatt an die institutionell gefestigten Periodika gelehrter Provenienz anlehnen. In Happels intensiver Auswertung rangiert die deutsche, jedoch ausschließlich auf Latein publizierte Miscellanea Curiosa mit Abstand an erster Stelle. Das
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233
einer Londoner Buchhandlung: Rodd, Thomas: Catalogue of Books, Part II, London 1846, S. 8. Rund 60 Nennungen im gesamten Erscheinungszeitraum des Periodikums. Nieremberg, Juan Eusebio: Historia Natvrae, Maxime Peregrinae, Libris XVI. [...], Antwerpen 1635; insgesamt über 50 Referenzen in den Relationes. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der Hahn oder Drachen-Basilisk“, Nr. 32, S. 250. Marggraf, Georg / Piso, Willem: Historia Natvralis Brasiliae, [...] In qua Non tantum Plantae et Animalia [...], Amsterdam 1648. Auf das Werk finden sich in den Relationes etwa 20 bibliographische Verweise. Daston / Park: Wunder, S. 273.
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Journal der Schweinfurter Academia Naturae Curiosorum war gesättigt mit natürlichen Seltsamkeiten und „Curiositäten“, die erheblich dazu beigetragen haben dürften, es nach Kircher und Plinius zur bibliographisch dritt häufigsten Quelle der Relationes zu machen.234 Einige Artikeltitel verdeutlichen das Spektrum jener seltsamen Tatsachen der Natur, bei denen Happel auf das Gelehrtenjournal zurückgreift und die Faktizität der Berichte nicht bezweifelt: „Der flammende Brunne“,235 „Der wahrhafftige Actaeon oder gehörnete Mann“236 oder „Der schnee-weisse Eichbaum“.237 Die quantitativ geringere Verwertung der Philosophical Transactions erstreckt sich mitunter auf ähnlich verblüffende Themen der Naturgeschichte, etwa auf „Noch einige seltsame Fische“.238 3. Reiseberichte und geographisch-topographische Kompilationen: Die Auslese von naturgeschichtlichen Anomalien ist in den Relationes nur der Kategorienbildung halber vom diesem dritten großen Quellenfeld abzugrenzen; realiter sind thematische Überlappungen eher die Regel als die Ausnahme. Auch die Aufmerksamkeitsschwerpunkte der Reiseberichte, Reiseberichtskompilationen und der geographisch-topographischen Werke, aus denen Happel immer wieder schöpft, sind grundsätzlich dem zeittypischen Muster einer dauernden Suche nach „Curiositäten“ verschrieben. Mit Blick auf die Schilderung der durchquerten geographischen Räume heißt das für die Gattung zugespitzt: Der Blick des frühneuzeitlichen Reisenden hielt vor allem jene exotischen Facetten der Natur fest, die der eigenen Erfahrung (und der des Lesers) als erstaunlich zuwiderliefen – und das nicht zuletzt wegen der medialen Profitabilität sensationeller Inhalte. Entsprechend zeigt sich auch das Schema der zweiten großen inhaltlichen Komponente der Gattung, der ‚ethnographischen’ Darstellung fremder Lebensformen: Vor allem das Wunderbare, weil nach europäischen Standards faszinierend ‚Andere’ außereuropäischer Gesellschaften, bildete den Mittelpunkt der Wahrnehmung (siehe Kapitel 7.2.). Von diesen Quellenschwerpunkten lässt Happel sein Schreiben immer wieder ausgehen – primär in Form der prominentesten Reisebeschreibungen des 17. Jahrhunderts und sekundär in Form wichtiger Reiseberichtssammlungen, die Happels eigener Kompilation vorausgingen. Anders als bei den bislang genannten Quellen lagen hier jedoch 234
235 236 237 238
Happel rekurriert mehr als einhundert Mal auf die Miscellanea Curiosa. Allerdings nimmt die Dichte der bibliographischen Bezüge mit der Zeit ab. Wird das Gelehrtenjournal im ersten Band der Relationes noch rund sechzig Mal zitiert, finden sich im zweiten nur noch etwa zwanzig, im dritten und vierten Band jeweils nur noch rund zehn Verweise. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 11, S. 83. Ebd., Nr. 15, S. 109ff. Ebd., Nr. 22, S. 190f. Ebd., Band 3.2, Nr. 8, S. 64.
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meistens bereits deutsche Übersetzungen vor. Die Motivation wird absatzstrategisch begründet gewesen sein: Happel entschied sich, kommentierte Auszüge aus jenen Reiseberichten in die Relationes zu bringen, die europaweit zu ihrer Zeit die erfolgreichsten waren, was für das Periodikum einen erheblichen Werbeeffekt haben musste; dies sind vor allem die Texte des Römers Pietro Della Valle (Reiß-Beschreibung,239 1674), des Gottorfer Gelehrten und Persienreisenden Adam Olearius (1599-1671) (Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse,240 1656), des französischen Forschungsreisenden JeanBaptiste Tavernier (1600-1689) (etwa zeitgleich mit den ersten Bögen der Relationes erschien 1681 die deutsche Version von dessen Reise-Beschreibung241) sowie des erwähnten niederländischen Kaufmanns Joan Nieuhof (Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, 1666). Wenn auch hinsichtlich der Auswertungsdichte kaum quantifizierbar, sind diesen Schlüsseltexten einige Kompilationen von Reiseberichten aus der Feder des Amsterdamer Geographen und Übersetzers Olfert Dapper (1636-1689) vorgeordnet. Wie Happel war der Vielschreiber nie über die Grenzen des eigenen Landes hinausgekommen,242 ein Defizit, dass er durch die höchst erfolgreiche Verarbeitung von Reiseberichten, topographischer und kosmographischer Literatur kompensierte. Viele von Dappers nach vergleichbarem Schema komponierten Werke wurden ins Englische und Französische übersetzt, ungefähr zwanzig auch ins Deutsche. Zwei der frühen Übersetzungen über die Kontinente Afrika und Amerika sind für die Relationes Curiosae besonders einflussreich und bringen es unter der genutzten Reiseliteratur an die erste Stelle:243 die Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa244 (1670) und die Unbekante Neue Welt / oder Beschreibung des Welt239
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Della Valle, Pietro: Eines vornehmen Römischen Patritii Reiß-Beschreibung in unterschiedliche Theile der Welt: [...] Samt Einer außführlichen Erzehlung aller Denck- und Merckwürdigster Sachen / so darinnen zu finden und anzutreffen [...], Genf 1674; ca. 30 Nennungen in den Relationes und weitere unmarkierte Übernahmen. Olearius, Adam: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse: So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft an den Russischen Zaar und König in Persien geschehen [...], Schleswig 1656; mehr als 50 bibliographische Verweise in den Relationes. Tavernier, Jean-Baptiste: Vierzig-Jährige Reise-Beschreibung: Worinnen dessen / durch Türkey / Persien / Indien [...] sechsmalige Länder-Reise / [...] verzeichnet / [...] In Dreyen Theilen, Nürnberg 1681f.; rund 50 bibliographische Referenzen im Periodikum. In Zedlers Universal-Lexicon heißt es: „Er hat sich durch die Beschreibung von Malabar, Coromandel, Asien, [...] Mesopotamien, Babylonien, Aßyrien, Arabien [...], von Africa [...], von America [...] bekannt gemacht, wiewohl er diese Länder nicht selbst durchreiset, sondern das meiste aus denen Diariis anderer Leute genommen“. Zedler: UniversalLexicon, Band 7, 1743, Sp. 171. Dapper wird in den Relationes insgesamt mehr als 70 Mal bibliographisch genannt. Ders.: Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa, Und denen darzu gehörigen Königreichen und Landschaften [...], Amsterdam 1670.
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teils Amerika245 (1673). Daneben wertet Happel auch andere Werke von Dapper aus, jedoch in weit geringerer Häufigkeit.246 4. „Curiöse“ Wegbereiter innerhalb der Buntschriftstellerei: Auch diese letzte Quellengruppe lässt sich nur heuristisch von den vorigen klar abgrenzen. Schon vor Happel speiste sich die Buntschriftstellerei aus den Autoritäten Kircher, Schott und Plinius, aber auch aus den Reiseberichten und ihrer sekundären Vermittlung (Dapper). Alle der oben genannten Reisebeschreibungen aus ,erster Hand’ und die Kompilationen Dappers gehören beispielsweise schon zur Quellengrundlage der riesigen Sammlungen von Erasmus Francisci (siehe unten). Über einige in ihrer Rezeptionsgeschichte bis dato kaum beachteten Werke lässt sich neben den bereits diskutierten strukturellen Einflüssen der Buntschriftstellerei auch die inhaltliche Abhängigkeit der Relationes von dieser Gattung akzentuieren. Die starke Präsenz voriger Kompilationen in Happels Periodikum zeigt sich vor allem in unmarkierten intertextuellen Bezügen. Happel übernimmt immer wieder Motive aus einer ganzen Reihe an Vorläufern und trägt durch deren Reproduktion dazu bei, dass der Wissenskosmos barocker Buntschriftstellerei durch erhebliche Wiederholungsmomente gekennzeichnet ist. So zeigt schon ein Blick in die Register der Werke frappierende inhaltliche Analogien. Der unter den Buntschriftstellern und deutschen Polyhistoren früheste Vertreter mit Einfluss auf die Relationes ist Peter Lauremberg mit seiner genannten Acerra Philologica. Happel beließ es nicht dabei, dem Werk in der Ästhetik ungeordneter Wissensdarbietung zu folgen.247 Die Wirkung von Laurembergs bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts neu aufgelegten248 Sammlung von Denkwürdigkeiten schlägt sich erwartungsgemäß auch inhaltlich nieder: So finden sich im thematischen Gefüge der Acerra deutliche Parallelen zum „curiösen“ Wissen der Relationes – etwa in der Behandlung der sieben Weltwunder, des mythologischen Basilisken, in der Aufmerksamkeit für jüngere technische Errungenschaften wie die „Neuerfundene Brillen / in die 245 246
247
248
Dapper, Olfert: Die Unbekante Neue Welt / oder Beschreibung des Welt-teils Amerika, und des Sud-Landes: [...], Amsterdam 1673. Etwa: Ders.: Gedenkwürdige Verrichtung Der Niederländischen Ost-Indischen Gesellschaft in dem Käiserreich Taising oder Sina [...], Amsterdam 1675. Zitiert in: Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der Asiatische Stein-Brunnen“, Nr. 84, S. 670. Der Modell- und Vorbildcharakter der Acerra endet jedoch im Verhältnis zur Neugier – Laurembergs Werk erschien in den 1630er Jahren und damit eine gute Generation vor dem Höhepunkt der ,Kuriositätenliteratur’. So schwingt in der Acerra noch das alte Verdikt des ,Fürwitzes’ mit: „Was dich nicht angeht / da lass deinen Fürwitz / denn solcher Dünckel hat viel betrogen“. Lauremberg: Acerra Philologica, Nr. 69, S. 378. Ders.: Neue und vermehrte Acerra philologica, das ist: 700 auserlesene nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen / aus den berühmtesten Griechischen und lat. Scribenten zusammengetragen, Stettin 1754.
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Nähe zu sehen“249 (siehe Kapitel 7.3.1.f.) und die Happel in zahllosen Artikeln beschäftigenden ,Wunderbrunnen’.250 Detaillierte Textvergleiche zwischen den Relationes und der Acerra würden viele unmarkierte Zitate aufdecken; explizit nachzuweisen sind sie etwa in Happels Thematisierung der Alraun-Wurzel, die im 17. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund ihres Einzugs in die Kunstkammern einen deutlichen Popularitätsschub erfuhr (siehe Kapitel 7.2.3.). Etliche Spuren finden sich in den Relationes auch vom Ulmer Polyhistor, Chronist und Reiseschriftsteller Martin Zeiller (1589-1661). Dessen umfangreiches Œuvre gehörte in den Bibliotheken des späten 17. Jahrhunderts zum Grundbestand topographischer Literatur.251 Vor allem durch sein in Zusammenarbeit mit dem Verleger Matthäus Merian (1593-1650) entstandenes, mehrere Dutzend Bände umfassendes Mammutprojekt Topographia Germaniae (1642ff.) brachte es der „schreib-gierige Zeilerio“252 zeitgenössisch zu großem Ruhm. Ergänzend verfasste er teilweise auch unter „curiosem“ Etikett topographische Überblickswerke zu einzelnen europäischen Ländern253 sowie viele weitere historische, genealogische und geographische Kompendien.254 Hinzu kamen höchst profitable buntschriftstellerische Kompilationen, die Happel für die Relationes besonders rege auswertet: So ab 1640 die über zwanzig Jahre aufgelegte Briefsammlung Hundert Episteln / oder Sendschreiben / Von unterschiedlichen / Politischen / Historischen / und andern Materien und Sachen;255 vom Züricher Projekt Allgemeinwissen und Gesellschaft wird sie ebenso der frühneuzeitlichen Enzyklopädik zugeschrieben.256 Ab 1655 erschien zudem eine als Konversationsliteratur konzipierte und alphabetisch organisierte Sammlung Zeillers, deren programmatischer Titel sich wie eine Vorwegnahme der Relationes liest: Handbuch Von allerley nutzlichen Erinnerungen, 249 250 251 252 253 254
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Lauremberg: Neue und vermehrte Acerra philologica, S. 399f. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die denckwürdige Wunder-Brunnen“, Nr. 6, S. 41f. In den Relationes wird Zeiller insgesamt mehr als fünfzig Mal zitiert, die Menge der nicht deklarierten Abschriften dürfte jedoch weit höher liegen. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die seltsame Lufft-Reise“, Nr. 68, S. 538. Zeiller, Martin: Topographia Italiae, Das ist: Warhaffte und Curiöse Beschreibung Von gantz Italien [...], Frankfurt 1688. In Zedlers Universal-Lexicon: „Er, Zeiller, hatte in der Geographie allerdings etwas besonders gethan, und hat er eine sehr grosse Menge von Reise-Beschreibungen, Topographien, und andern theils Historischen, Theils Geographischen Wercken zu Stande gebracht, und zwar mit einem so allgemeinem Beyfall, daß viele vornehme und gelehrte Leute nicht nur aus Teutschland, sondern auch aus Dänemarck, Schweden, Polen, Böhmen, Ungarn, Italien und Franckreich, ihn zu sehen und zu sprechen verlangten“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 61, 1749, Sp. 708-709, hier Sp. 709. Zeiller, Martin: Ein Hundert Episteln / oder Sendschreiben / Von underschidlichen Politischen / Historischen / und andern Materien / und Sachen [...], Ulm 1640ff. www.enzyklopaedie.ch.
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anmüetigen und lustigen, erbaulichen, Denckwürdigen, und meistentheils Neüen Exempeln oder Beyspielen; auch vielen verwunderlichen der Natur- und Kunst-Sachen.257 Prominente Unterstützung erhielt dieses Werk Zeillers in Form einleitender Verse von Georg Philipp Harsdörffer. Seinen Ruhm verdankte Harsdörffer nicht nur seinen poetischen Texten, sondern auch seinen Prosasammlungen und der von Happel in zahllosen Fällen herangezogenen Kompilation vermischten und spielerischen Wissens, den Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathemat: und Philosophische Erquickstunden258 (1651f.). In seiner Funktion als konzeptionelles Leitbild von Happels Periodikum sind die Erquickstunden besonders wichtig; zunächst jedoch zu den erfolgreichen SchauplatzAnthologien Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte259 (1648) und Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte260 (1649): Strukturell in einer Entwicklungslinie mit den Werken von Lauremberg und Zeiller,261 versammelt Harsdörffer in beiden Anthologien hunderte von aphoristischsensationellen Geschichten mit moralischem Exempelcharakter,262 die weithin frei zwischen Fiktionalität und Wahrheitsanspruch schwanken. Der Status einer offen gedachten, zerstreuten Sammlung begünstigte die Wiederholung einzelner Textbausteine der Schauplätze in folgenden Kompilationen. Offensichtlich ist dieser Transfer bereits auf der strukturellen Ebene des Titels: Harsdörffer überschreibt seine Anekdoten nach dem immer gleichen Schema – „Die bößliche Verblendung“263 etwa. Happel adaptiert dieses Muster für seine Artikelüberschriften derart konsequent, dass die gleichartig formatierten ,Schlagzeilen’ neben der Ordnungslosigkeit des Wissens das prägnanteste formale Merkmal der Relationes darstellen. Der Modellcharakter von Harsdörffer geht dabei so weit, dass Happel einzelne Titel samt Inhalt 257
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Zeiller, Martin: Handbuch Von allerley nutzlichen Erinnerungen, anmüetigen und lustigen, erbaulichen, Denckwürdigen, und meistentheils Neüen Exempeln oder Beyspielen; auch vielen verwunderlichen der Natur- und Kunst-Sachen [...], Ulm 1655ff. Harsdörffer, Georg Philipp: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathemat: und Philosophische Erquickstunden [...], Nürnberg 1651f. Ders.: Der Grosse SchauPlatz Lust- und Lehrreicher Geschichte: [...] Mit vielen merckwürdigen Erzehlungen / klugen Sprüchen [...], Nürnberg / Hamburg 1648ff. Ders.: Der Grosse SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte: Mit vielen merkwürdigen Erzehlungen / neu üblichen Gedichten / Lehrreichen Sprüchen [...], Hamburg 1649f. So ähnelt sich das Formanliegen der Wissensdarbietung frappierend: Wie Lauremberg ,fragmentiert’ Harsdörffer die dargebotenen Geschichten in mehrere hundert, schnell zu konsumierende Teile. Mit den topographischen Werken Zeillers teilen die Erquickstunden vor allem ihren Charakter als „Reihenwerke“; dazu: Kühlmann: Lektüre für den Bürger. Dazu: Gemert, Guillaume van: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers „Schauplätzen“, in: Battafarano, Italo Michele (Hrsg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, Bern 1992, S. 313-331. Harsdörffer: Der Grosse SchauPlatz Lust- und Lehrreicher Geschichte, zweiter Band, Hamburg 1664, S. 310.
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aus dessen Schauplatz kopiert, etwa in der Relation „Das wieder verjüngte Alter“.264 Zwar werden die beiden Schauplätze bibliographisch in den Relationes nur selten genannt, möglicherweise auch, um häufiges Kopieren zu verschleiern. Anders als im Fall des Kompilierens aus Franciscis Schaubühne (siehe unten) verändert sich das Wissen beim ,Einschreiben’ in das periodische Medium kaum, sieht man von minimalen Veränderungen im Wortlaut einmal ab. Durch die Reproduktion und weitere Zirkulation dieser Erzählfragmente steuern die Relationes Curiosae ihren Teil zum medienübergreifenden Phänomen der barocken ,Wandergeschichten’ bei. Happels Periodikum wird auch dadurch zum partiellen ,HarsdörfferExtrakt’, dass es noch intensiver aus dessen Mathemat: und Philosophische Erquickstunden schöpft, die teils wiederum auf Werken von Athanasius Kircher basieren.265 Die universalthematisch konzipierte Kompilation zahlloser „Aufgaben“,266 so der Titel der einzelnen Bausteine, legt den Wissenshaushalt des Nürnberger Polyhistors offen – allerdings auch den des ursprünglichen Autors Daniel Schwenter (1535-1636), Philosophieprofessor in Altdorf, von dem Harsdörffer die Erquickstunden übernahm und fortsetzte:267 Neben den im Titel angekündigten mathematischen Aufgaben bieten die Erquickstunden unter anderem Exkurse zu Astronomie und Astrologie, Optik, Chemie, Architektur, Pyrotechnik und Akustik. Die Vielfalt der Themen verteidigt Harsdörffer mit dem auch Happel bekannten Argument der universalen Einheit allen Wissens.268 Daneben wird Harsdörffers ausdrückliche Einschreibung des heterogenen Wissens in Unterhaltungszusammenhänge Happels eigene Ambitionen in diese Richtung (siehe Kapitel 5.2.) erheblich beeinflusst haben. Da Happel selbst Mathematik studiert hatte, wundert es nicht, dass er die von Harsdörffer als lehrhaftes Freizeitvergnügen verkaufte Disziplin aus dessen Werken besonders rege kopiert. Aber auch in anderen 264 265 266 267
268
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 45, S. 356; bei Harsdörffer: „Das verjüngte Alter“. Harsdörffer: SchauPlatz, S. 239f. Im Titel: Auß Athanasius Kirchero, [...] und vielen andern Mathematicis und Physicis zusammen getragen. Etwa: „Die XXXIX Aufgabe., Wie die Sehkunst oder Optica zu bilden“. Harsdörffer: Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden Zweyter Theil [...], Nürnberg 1651, S. 230f. Der erste Teil der Erquickstunden, 1636 posthum publiziert, stammte seinerseits nicht vollständig aus Schwenters Feder, sondern war eine modifizierte Übersetzung der erstmals 1624 veröffentlichten Récreations mathématiques des Franzosen Jean Leurechon (15911670). Metaphorisch heißt es: „Zu bedeuten / daß alle Künste und Wissenschafften mit fortgesetzter Arbeit einander die Hände bieten / wie in den Reyendänzen zugeschehen pfleget / und eine liebliche vollkommen runde Zusammenstimmung schließen. [...] und ist in den Vorreden [der Erquickstunden, F.S.] jeweils angedeutet / wie ein Theil mit dem andern verbunden / und selben gleichsam die Hand biete“. Harsdörffer: Erquickstunden, Teil 2, Vorrede, Bl. 1r.
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Themen ,bedient’ sich Happel bei den Erquickstunden, teils auch mit expliziter Zitation, so im Bericht über einen „Künstliche[n] Wasser-Sprützer“.269 Allerdings handelt es sich hier um eine ,sekundäre Kompilation’, da Happel die Textstelle und auch den bibliographischem Nachweis nicht aus Harsdörffer selbst übernahm, sondern von Erasmus Francisci, der sich in seiner Lustigen Schaubühne von allerhand Curiositäten (1674) zuerst auf Harsdörffer stützte270 – ein Beispiel für die langen und verwickelten textuellen Verwertungsketten unter den Buntschriftstellern. Auch die Wissenssummen von Erasmus Francisci und Johannes Praetorius, die nach Harsdörffers Tod 1658 zu den populärsten deutschen Polyhistoren aufrückten, zählen zum Quellenfundus von Happel.271 Gerade „[...] der viel belesene E. Francisci [...]“,272 der viele Passagen der bisher genannten Werke für seine gewaltigen Kompendien ebenso ausschrieb wie Happel und seinen erfolgreichen Büchern273 meist eine Liste der kompilierten Literatur voranstellte, kann in seiner Bedeutung für die Relationes kaum überschätzt werden. Wie Harsdörffer wird Francisci von Happel bibliographisch zwar nur etwa zwei Dutzend Mal erwähnt, insgesamt zeigt sich das Periodikum jedoch durchsetzt von unmarkierten Abschriften aus Franciscis Texten; das gilt nicht nur für die Relationes: So verfasst Happel ganze Abschnitte des Vorwortes zu seiner Völkerkunde Thesaurus Exoticorum (1688) auf Grundlage der zwanzig Jahre älteren, rund dreißig Seiten umfassenden Vorrede von Franciscis Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten. Auf knapp zweitausend Folioseiten zieht Francisci in dem wuchtigen Band eine enzyklopädische Summe des Wissens über die Neue Welt und Asien, wobei rezente und antike Literatur in der für die Polyhistoren charakteristischen Weise unterschiedslos zusammengebracht werden. Die kosmographische Perspektive des Werks umfasst naturgeschichtliche, geographische und ethnographische Elemente; gerade als profunder ,Lehnstuhlethnograph’ hat 269 270 271
272 273
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 57, S. 452; hier der bibliographische Verweis auf Harsdörffer: „Harsdörffer: Erquick-Stunden, Tom.I.p13“. Ebd. Im gleichen Artikel zitiert als: „Francisci: Lustige Schaubühne, Anderer Teil“. Ebd. Happel exzerpiert mehrmals Praetorius’ Anthropodemus Plutonicus Das ist / Eine Neue Weltbeschreibung von allerley Wunderbahren Menschen (Magdeburg 1666f.). Im Zusammenhang eines Exkurses über die vermeintliche ,Wunder-Wurzel’ des Alrauns (siehe Kapitel 7.2.3.) hebt er den Leipziger Polyhistor und Kompilator lobend hervor: „Hievon [den Alraunen, F.S.] habe ich im angezogenen Tom.I. gleichergestalt etwas angeführet; es fället mir aber hiebey noch etwas notables ein / was ich davon bey dem fürtrefflichen Poeten Johanne Praetorio [...] gelesen“. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 41, S. 326. Ebd., Relation „Die vernunfftmässige Entscheidung dieses Streits“, Nr. 31, S. 214. Noch in Zedlers Universal-Lexicon heißt es dazu: „Hier [in Nürnberg, F.S.] verfertigte er unterschiedliche Bücher, und weil solche so wohl abgiengen, entschloß er sich daselbst zu bleiben“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 9, 1725, Sp. 1622.
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Francisci hier Vorbildcharakter für die imaginären Begegnungen mit Außereuropa in den Relationes (siehe Kapitel 7.1.), auch deswegen, weil er diesen in der Auswertung der Kompilationen Olfert Dappers voranging. Franciscis Bibliographie gab folgenden ,Kompilationen von Kompilationen’ eine maßgebliche Quellengrundlage vor und festigte damit die Kontinuitäten des Wissens. Auch weist der Stats-Garten etliche von den für die barocke Kompilatorik verpflichtenden Wundern aus Kunst und Natur auf, die Francisci wiederum zu großen Teilen aus älteren Mirabiliensammlungen reproduzierte. Mit Blick auf die Relationes ergibt sich hier der Befund, dass Happel die seit jeher beliebten Meerwunder und -monstren nicht nur von Caspar Schott, sondern auch von Francisci übernimmt.274 Offensichtlich aufgrund des kommerziellen Erfolges schob Francisci zwei Jahre nach dem Stats-Garten eine zweite, nicht minder massige Kompilation gleichen Musters nach, den Neu-polirten Geschicht- Kunst- und SittenSpiegel ausländischer Völcker275 (1670). Auch dieses anscheinend über lange Zeit populäre Werk – es wurde selbst noch von Goethe genutzt276 – zwischen Kosmo- und Ethnographie diente Happel verschiedentlich als Bezugspunkt des Schreibens.277 In abgeschwächter Form gilt diese textuelle Abhängigkeit auch für den folgenden eineinhalbtausend Seiten umfassenden Foliowälzer Franciscis, Das eröffnete Lust-Haus Der Ober- und Nieder-Welt278 (1676), eine imposante Summe des astronomischen Wissens der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Maßgeblicher als Quelle der Relationes war jedoch das erfolgreichste Reihenwerk von Francisci – die bereits erwähnte Lustige Schau-Bühne von allerhand Curiositäten (ab 1663). Während die enzyklopädischen Folianten Franciscis nicht zuletzt wegen ihres erschöpfenden Umfangs einzelne Inhalte in systematisch-geschlossener Form abhandelten, war die anthologisch-offene Darbietung vermischten Wissens in der Schau-Bühne für Happel strukturell, aber auch inhaltlich wegweisend: immer wieder kopiert er einzelne Themen aus Franciscis Reihenwerk, etwa um 1689 im Arti274 275
276
277 278
Etwa in der Relation „Das ungeheure Meer-Wunder“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 2, S. 9. Francisci, Erasmus: Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker: fürnemlich Der Sineser / Japaner / Indostaner / Javaner / Malabaren / Peguaner / Siammer / [...], Nürnberg 1670. Pniower, Otto: Goethes Faust: Zeugnisse und Excurse zu seiner Entstehungsgeschichte, 1899, S. 60. Zu Francisci immer noch grundlegend ist der Aufsatz von Dünnhaupt: Das Œuvre des Erasmus Francisci. Etwa im Artikel „Der Böhmische Zauberer-Künstler“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 59, S. 465. Francisci, Erasmus: Das eröffnete Lust-Haus Der Ober- und Nieder-Welt: Bey Mehrmaliger Unterredung / Vor dißmal so wol / Von der Natur / Welt / Himmel / und dem Gestirn / insgemein / [...], Nürnberg 1676.
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kel „Das künstliche Echo“,279 der sich den im Barock beliebten akustischen Spielereien zuwendet.280 Wenn die Inhalte in der Übertragung auch weitgehend unverändert bleiben, besteht doch eine wichtige Differenz zwischen Franciscis Texten und ihrer Adaption durch Happel: Die Schau-Bühne und auch die meisten anderen Werke des Nürnbergers sind Teil der barocken Konversationsliteratur und in der Form des Dialogs zwischen fiktiven Figuren konzipiert.281 Wie erwähnt, übernimmt Happels ,subjektfreier’ Berichtsstil diesen Gesprächsmodus nicht. Wie die Wirkungsgeschichte von Franciscis Sammlungen ist auch die des letzten hier zu erwähnenden Werks der Buntschriftstellerei bislang ungeschrieben, das nur etwa zwei Jahre vor den ersten Bögen der Relationes erschien: Johann Heinrich Seyfrieds (1640-1715) Medulla Mirabilium Naturae282 (1679). Die im handlichen Oktav-Format und auf Deutsch verfasste Sammlung eines breiten Spektrums an Naturwundern aus allen Zeiten und Räumen diente noch im 18. Jahrhundert berühmten Naturforschern wie Johann Jacob Scheuchzer283 (1672-1733) oder Joseph Banks284 (1743-1820) als Fundus. Von Happel wird die Kompilation von Seyfried bibliographisch exakt nur ein Mal genannt.285 Dass sie dem Periodikum jedoch als Modell gedient hat, legen schon die einzelnen Bestandteile des Titels von Seyfrieds Werk nahe; zu guten Teilen könnte er – unter Abzug der Happel so wichtigen ,Kunstdinge’ – auch eine Inhaltsangabe der Relationes sein: In typisch hyperbolischer Werberhetorik will Seyfried allein die Auserlesenen, die aller verwunderlichsten Wunder der Natur darbieten. Sie machen aus Seyfrieds Werk eine Kosmographie in ,wunderbarer Perspektive’, deren thematisches Raster sich ausnahmslos auch in Happels Periodikum wiederfindet. Im Titel heißt es: 279 280
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Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 10, S. 79. Dazu allgemein: van Ingen, Ferdinand: Echo im 17. Jahrhundert. Ein literarisch-musikalisches Phänomen der Frühen Neuzeit, Amsterdam 2002; sowie jetzt: Berns, Jörg Jochen: Die Jagd auf die Nymphe Echo. Zur Technisierung der Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 53), Bremen 2011, S. 139-183. Timmermann, Ina: „löbliche Conversation“ als Einübung ins Räsonnement. Die Bedeutung des Gesprächs als Ziel und Funktion barocker Erzählsammlungen am Beispiel der Lustigen Schau-Bühne von allerhand Curiositäten des Erasmus Francisci (1627-1694), in: Simpliciana, 21, 1999, S. 15-40. Seyfried, Johann Heinrich: Medulla Mirabilium Naturae. Das ist: Auserlesene / unter den Wundern der Natur / aller verwunderlichste Wunder [...], Nürnberg / Sulzbach 1679. Seyfrieds Werk wird in dessen Itinera per Helvetiae Alpinas Regiones [...] Tomus Tertius (1723) zitiert – zusammen mit Kircher und Francisci, was erneut die textuellen Zusammenhänge auch in der Rezeption kompilatorischer Wissensformen andeutet. Ebd. S. 373. Die Medulla ist in Banks Bibliothekskatalog (Catalogus Bibliothecae Historico-Naturalis Jospehi Banks [...] Auctore Jona Dryander, A.M. Regiae Societas Bibliothecario, Tomus I, London 1798) unter „Thaumatographi“ (Wunderkunde) klassifiziert. Ebd., S. 266. In der Relation „Der schädliche Wasser-Affe“ um 1685. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 62, S. 493.
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Von Erschaffung der Natur / Himmlischen Firmaments / Sternen / Planeten / und Cometen; als auch dieser sichtbarn Welt / und des Meers: Deßgleichen / in Brunnen / Flüssen / Seen / und dem Meer; Auf / An / und in Gebürgen / Erden / und Insulen: Wie auch / etzlichen Thieren / Bäumen / Früchten und Gewächsen. In Europa, Asia, Africa, und America [...].
Der Einfluss von Seyfrieds Wunderanthologie auf die Relationes lässt sich strukturell wie inhaltlich rekonstruieren. So stellt auch Seyfried seinem Text eine Bibliographie der genutzten Werke voran,286 die den bislang erwähnten Grundbestand an Texten noch einmal summarisch spiegelt – auch in der Medulla finden sich die konstitutiven Enzyklopädien Kirchers und Schotts, Werke der klassischen und neueren Naturgeschichte, die wichtigsten Reiseberichte wie die von Olearius, die verbreiteten Reiseberichtskompilationen Dappers und ebenso die Werke von Francisci. Es ist daher wahrscheinlich, dass Happel auch die Bibliographie von Seyfried als Einstieg nutzte, um sich pragmatisch eines Arbeitsschrittes – des eigenständigen Suchens – zu entledigen und stattdessen einfach in den genannten Referenzwerken selbst nachzuschlagen. Als weniger charakteristisches und als Impuls für Happel denkbares Element der Bibliographie von Seyfried kommt hinzu, dass dieser für seine Sammlung neben Büchern auch aus den neuen periodischen Medien schöpft. Er beschränkt sich allerdings auf das Journal des Scavans. Neben den von Seyfried in der Vorrede betonten typologischen Merkmalen der Buntschriftstellerei – so würden Weitschweifigkeit vermieden und die Materien „[...] gleichsam concentiret / in beliebter Kürtze zusammen getragen“287 – dürfte vor allem Seyfrieds frommer Tonfall Happels eigene Perspektivierung des Schreibens beeinflusst haben: Die Sammlung aller Wunder und „Curiositäten“ der Natur dient bei Seyfried keinem trivialen Selbstzweck. Ihr Vergnügen ist vielmehr nur durch die Rückbindung an ein gleichzeitiges Gotteslob legitimiert (siehe Kapitel 5.2.).288 Daneben wird Seyfrieds Kompilation auch in vielen inhaltlichen Einzelbeispielen von Happel ausgewertet: Unter Verschweigen von Seyfrieds Vorlage kopiert Happel von ihr etwa einige Teile seiner Aufbereitung des Mikroskopie-Themas (siehe Kapitel 7.3.2.); auch mag er durch die Medulla zu Stoffen angeregt worden sein, die Dank der Popularität der Relationes dann noch weitere Kreise zogen – so thematisierte Seyfried vor Happel das berühmte ,Oldenburger Wunder286 287 288
Seyfried: Medulla, S. 3. Ebd., Vorrede, Bl. 6r. So solle man laut Seyfried „[...] auch anschauen und betrachten diese Welt / mit allen den herrlichen Wercken und Geschöpffen des Schöpffers derselben: Nicht weniger / bemüht zu seyn / in denselben / denjenigen zu suchen / in deme sie leben / weben und sind“. Ebd., Vorrede, Bl. 2r.
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horn’289 (siehe Kapitel 7.2.2.). Zwar bleibt Seyfried im Detailgrad des Berichts hinter Happel zurück, dieser schmückte sich jedoch mit fremden Federn – indem er sich zu guten Teilen mit einer als solcher nicht kenntlich gemachten Übersetzung einer lateinischen Quelle begnügte, die Seyfried vorgegeben hatte. Die bis hierher skizzierte Quellenabhängigkeit der Relationes und Happels Tendenz zur Reproduktion älterer Prätexte berührt eine Problematik, die für die Kompilationsliteratur insgesamt zentral ist: Wie steht es um die Bezugsgröße des ,Autors’ in einer Textkultur, die sich wesentlich mit dem Kopieren, Zitieren und Arrangieren bekannter Stoffe befasste?
4.5. Selektion, Reproduktion, Vermittlung: Happels kompilatorisches Selbstbild „[...] damit ich nicht das Ansehen bekomme / alß wolle ich denen / so [...] ex professo viel grosse Tractaten geschrieben / ins Ampt fallen / mir ists genug / nur die fürnehmste Dinge von diesen Materie anzuführen“. Happel: Relationes Curiosae, 1686
Im Kreislauf von Reproduktion und Produktion des Wissens hatte das auktoriale Selbstbild barocker Kompilatoren noch nichts mit den Begriffen der Originalität und Individualität gemeinsam, die erst seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung gewannen. Das hatte schon strukturelle Gründe: Texte, die als das Ergebnis sammelnder Lektüre entstanden, waren im Grunde per se eher das Produkt einer kollektiven denn individuellen Wissenskultur, weil sie sich über den Dialog mit der Tradition definierten und innerhalb eines potentiell unendlichen Kontinuums vorangehender Texte gelesen wurden. Jenseits dieses intertextuellen Status’290 enzyklopädischer Werke ist das Konzept der Autorenschaft in der Frühen Neuzeit entscheidend: Anders als heute galt
289 290
Seyfried: Medulla, S. 342. Eine jüngere Definition von „Intertextualität“ lautet: „Texte entstehen nicht voraussetzungslos, sondern in einer unbegrenzten Zahl anderer Texte“. Hallet, Wolfgang: Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in: Gymnich, Marion / Neumann, Birgit / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, S. 53-71, hier S. 55; für die Frühe Neuzeit: Kühlmann, Wilhelm: Kombinatorisches Schreiben – ‚Intertextualität’ als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren, in: Ders. / Neuber, Wolfgang (Hrsg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1994, S. 111-139.
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der Autor weniger als „geistiger Urheber“291 eines Werkes oder als „juristischer Inhaber von Urheberrechten“292 – die Vorstellung geistigen Eigentums293 war noch ebenso wenig verankert wie das individuell-autonome Moment in der Rolle des Schreibenden. Vielmehr gab das polyhistorische Ideal auch die Parameter des Autorenbildes vor, das vor allem die Rolle des belesenen Gelehrten transportierte:294 Der Autor eines Textes zeichnete sich nicht durch Inspiration und Erfindung eines Stoffes aus, sondern durch die Dichte der Anspielungen auf vorangehende Texte.295 Dennoch begannen die deutschsprachig publizierenden Polyhistoren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, mit den reproduktiven Mechanismen des Schreibens auch das Konzept der Autorenschaft theoretisch zur Disposition zu stellen. Erasmus Francisci ging in dieser Hinsicht voran. 1668 eröffnet er seinen Ost- und West- Indischen wie auch Sinesischen Lust- und Stats-Garten mit einem Argument, das Francesca Ferraris als „intertextuelle Rechtfertigungsstrategie“296 bezeichnet: „Warum / möchte mich einer fragen / schreibst du denn von Sachen / daran allbereit so viel hundert Federn stumpff geschrieben? Aber / meine Antwort wird folgende Gegen-Frage seyn? Hat der hundertste auch wol alle die Bücher? Oder Lust und Mittel / sie zu kauffen? Oder Zeit / nur durchzublättern? Seynd sie alle / in Teutscher Sprache / vorhanden / und nicht sowol alter / als noch gar neue / die dem Teutschen Leser unbekandt“.297
Bemerkenswert ist, dass sich ,kompilative Autorenschaft’ bei Francisci nicht mehr aus sich selbst heraus rechtfertigt. Ihre Legitimation leitet sich zum einen aus dem Bewusstsein des Polyhistors ab, in der beklagten Bücherflut der Zeit für nötige Reduktion und Orientierung zu sorgen. Implizit spricht Francisci hier das Moment der Auswahl des ,Wissenswerten’ aus den Massen des Gedruckten an, das Happel später ausdrücklich vorbringt (siehe unten). Zum anderen macht sich Franciscis Argument den kommerziellen Hintergrund der Wissenspopularisierung (siehe Kapitel V) zunutze – die Rolle des Autors ist demnach die, Extrakte aus teuren und/oder in deutscher Sprache nicht ohne weiteres zugänglichen Büchern verfügbar zu ma291 292 293 294 295 296 297
Kleinschmidt, Erich: Artikel Autor, in: Müller, Jan Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band 1, Berlin 1997, S. 176-180, hier S. 176. Ebd. Dazu: Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981. Sauder, Gerhard: Artikel Autor, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 1, Sp. 900902, hier Sp. 900. Niefanger: Barock, S. 70. Ferraris: Exotismus und Intertextualität, S. 466. Francisci: Lust- und Stats-Garten, Vorrede, Bl. 4r.
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chen. In einer Metapher erklärt Francisci, inwiefern der Leser von dieser Funktionsbestimmung des Autors profitiere: „Kan er [der Leser, F.S.] / weder zu Wasser noch zu Lande / fort; weil es sein Amt und Beruff / oder andere Ungelegenheiten nicht zu geben: so reiset er gleichsahm zu Papier / in den Schrifften andrer Personen / tappfer herum / und schauet also der Welt zu / durch fremde Augen“.298
Ein ähnliches auktoriales Selbstbild gilt auch für Happel. Wie erwähnt, will auch er mit den Relationes „[...] eine curieuse Beschreibung der gantzen Welt kurtzbündig vor Augen stellen“. Expressis verbis lässt Happel keinen Zweifel daran, dass er dies auf Grundlage der Sammlung bereits publizierter Texte leisten will. Wenn das Format des periodischen Mediums auch neu ist, die Inhalte sind es – anders als im Fall der Zeitungen – nicht (siehe auch Kapitel 3.4.). So werde man wöchentlich „[...] nichts neues setzen noch finden [...] das vorhin schon von andern nicht wäre gesagt / noch geschrieben worden“.299 Im Kontext traditioneller Gelehrsamkeit sieht Happel die Aufgabe des Autors wie Francisci nicht in einer autonomen Urheberschaft. Vielmehr stellt er die Frage, ob das Überarbeiten oder ,Veredeln’ alter Stoffe hin zu „gemüntztem Golde“ nicht grundsätzlich besser sei als das Erfinden neuer: „Sage mir / ist dir ein grosser Schatz von gemüntztem Golde nicht eben so lieb / als eine neu-gefundene Gold-Ader? Du wirst solches mit ja bestättigen und zugleich meiner Meynung beypflichten / daß ein Schatz von schönen Materien allemal angenehm sey / ob er gleich von uhralten Zeiten Kunst und Wissenschafften schicket [...]“.300
Das Selbstverständnis und Verdienst des Kompilators sieht Happel also darin, den ,primären’ Produzenten des Wissens nicht „ins Amt fallen“ zu wollen, sondern nur das „fürnehmste“ aus ihren Texten den Lesern in praktischen Vorauswahl verfügbar zu machen: „[...] damit ich nicht das Ansehen bekomme / alß wolle ich denen / so [...] ex professo viel grosse Tractaten geschrieben / ins Ampt fallen / mir ists genug / nur die fürnehmste Dinge von diesen Materie anzuführen“.301 Am deutlichsten reflektiert Happel seine Position zur Autorenschaft in der Vorrede zum ersten Jahresband der Relationes von 1683. Um etwaige Kritik an seinem Projekt vorbeugend zu entkräften, wirft Happel selbst die Frage auf, inwiefern er, der die Früchte sammelnder Lektüre wöchentlich in den Druck gibt, überhaupt als Autor des Textes gelten kann. Die Antwort verrät 298 299 300 301
Francisci: Lust- und Stats-Garten, Vorrede, Bl. 2v. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Vorrede, Bl. 1r. Ebd. Ebd., Band 3.2, Relation „Die Bodmerey“, Nr. 81, S. 646.
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ein weites und aus heutiger Sicht paradoxes Verständnis von Autorenschaft: Wer ältere Texte sammelt und aufs neue ,zusammensetzt’, ist als Autor hinreichend ausgewiesen. Für Happel stellt sich daher auch prinzipiell nicht das Problem, dass die Praxis des Abschreibens die eigene Autorenschaft untergraben könnte. Dennoch ist der spätere Prestigeverlust kompilatorischer Literatur bereits angedeutet: „Auch möchten ohne Zweiffel ihrer viel gefunden werden / welche sagen: Diese Relationes sind ein zusammen geschmiertes Werck / es ist alles entlehnet oder außgeschrieben / daß mich wunder / warumb der Verfasser seinen Nahmen davor setzen / und sich vor den Authoren derselben außgeben darff: Freylich / geneigter Leser / ists also / die Materien unserer Relationen sind nicht eine Erfindung des Verfassers / sonsten würden sie wahrlich nicht viel gelten: Er hat sie aber auß Leuthen von grossen Wissenschaften und fürtrefflichem Verstand und ihren Büchern zusammen getragen / und eben darumb darff man gleichwohl nicht sagen / der Verfasser sey kein Author derselben [...] worauß zu erweisen / daß einer sich einen Authorem eines Buches nennen mag / ob er gleich lauter entlehnte Sachen / und nichts von seiner Erfindung hinein geschrieben“.302
Dass vor diesem Hintergrund eine ,Kultur des Plagiats’ bei Happel häufig zum Normalfall des Schreibens wird, wurde entlang einiger Beispiele im vorigen Abschnitt bereits angedeutet. Bemerkenswert ist hier die Differenz zu Francisci: Zwar war im 17. Jahrhundert noch keine standardisierte Form bibliographischer Angaben bekannt; anders als Happel zeigt Francisci jedoch bereits 1676 in seiner astronomischen Kompilation Das eröffnete LustHaus Der Ober- und Nieder-Welt ein kritisches Bewusstsein gegenüber dem Hang, sich mit ,fremden Federn’ zu schmücken. Francicsi holt hier zu einer umfassenden Legitimation kompilatorischen Schreibens aus, das er programmatisch vom Plagiat abgrenzt. So würden exzerpierte Passagen aus den „Brunnen“ (Quellen) ausnahmslos über den bibliographischen Verweis in der Marginalie der Seite kenntlich gemacht. Zur Unterstützung rekurriert er zudem auf eine der ersten universitären Dissertationen über das ‚Laster’ des Plagiats, Jacob Thomasius’ (1622-1684) Plagio Literario303 (1673), die drei Jahre zuvor erschienen war: „Was ich sonst auch / aus andern Scribenten / angeführet / wird allezeit der Rand deß Buchs entdecken. Denn es ist meine Gewonheit gar nicht / andrer Ehren-Männer Ersinnungen für die meinige / durch Verschweigen ihrer Namen / darzugeben: Wie denn auch / aus keiner einigen meiner Schrifften / mit Fug und Grunde / wird zu erweisen seyn / dass ich irgendswo den Namen eines 302 303
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 2v. Thomasius, Jacob: Dissertatio Philosophica De Plagio Literario, Jena 1673.
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Scribenten / aus dem ich etwas meinem Wercke eingefügt / hätte unter den Scheffel gesteckt. Ich habe bisweilen Manches Authoris eigene Worte gesetzt; doch nicht unter einem Schein der meinigen: sondern den rechten Brunnen derselben allstets angezeigt. [...] So benennet auch das Kleinod heutiger Gelehrten / Herr Thomasius / in seiner Dissertation de Plagio literario, unterschiedliche Schrifft-Verfasser / denen solches verdacht worden / daß sie mit fremden Federn geprangt / indem sie andre Verstandes-Geburten ihnen zugeeignet [...]. Man lese aber das VII. Theorema besagten Hn. Authoris [...] da wird sichs eräugen / dass eines andren Authoris Worte / oder Erfindungen / anziehen / keinem zu verdencken / noch zu tadeln sey / wann ein solcher dabey genannt wird. Ja! Es gereichet mehrmalen demselbigen Author vielmehr zu Ehren; indem solcher Gestalt seine Geschicklichkeit den Lesern offt zur Erinnerung gebracht / und sein Ruhm weiter fortgepflantzet wird“.304
Eine ähnlich gelagerte Erklärung hat Happel womöglich schon deswegen unterlassen, weil er seine vielfach unmarkierten Übernahmen aus fremden Texten verschleiern wollte. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass Happel aus bewussten Profilierungsgründen zum ‚Plagiator’ wurde. Vielmehr dürfte der wöchentliche Fertigungsdruck ein teils nachlässiges Kompilieren befördert haben. Zudem hatte sich Happel ja mit der generellen Bemerkung, nichts zu publizieren, was nicht „[...] vorhin schon von andern [...] wäre gesagt / noch geschrieben worden“ effektiv gegen Plagiatsvorwürfe verwahrt. Der periodische Rahmen der Wissensproduktion leitet zum folgenden Kapitel über: Dem polyhistorischen Gelehrten- und Produktionsideal ging es – zumindest auf der Ebene der volkssprachigen Texte – neben der Sichtung und Verwaltung enzyklopädischer Wissenswelten vor allem darum, diese für ein weites Publikum aufzubereiten. Die Popularisierung von Wissen auf breiter Grundlage wurde mit den Relationes erstmals zum Gegenstand der im wöchentlichen Rhythmus erscheinenden Publizistik.
304
Francisci: Das eröffnete Lust-Haus, Vorrede, Bl. ):( ):( iiir.
V. Wissenspopularisierung: Publizistische Konzeption und Programmatik der Relationes Curiosae
„[...] damit dergleichen löbliche Sachen nicht verdunckelt und in einer privat Studier-Stuben verborgen bleiben / sondern denen Lehr- und Lebens-Begierigen Gemüthern / ja der gantzen ehrbaren Welt zu Beförderung der löblichen Wissenschafften mitgetheilet werden“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Eine der wesentlichen Leistungen der Relationes lag darin, dass sie zur Wissensumschichtung in einen anderen Kommunikations- und Rezeptionskontext beitrugen: das Buch als vergleichsweise ,stationäres’ Medium der Bibliothek wurde exzerpiert und für den mobilen Rezipienten einer sich zunehmend entfaltenden Presselandschaft aufbereitet.1 Die damit einhergehende, nachdrückliche Betonung einer weiteren Öffentlichkeit des Wissens ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels; es geht davon aus, dass die Tradition der Buntschriftstellerei mit den Relationes erstmals auch den publizistischen Sektor erfasste und so zur funktionalen Ausdifferenzierung des Mediensystems beitrug. Anders gewendet lautet die These: Die Relationes verkörpern zwar nicht den ersten Fall frühneuzeitlicher Wissenspopularisierung, wohl aber den ersten Fall von Wissenspopularisierung auf periodischer Grundlage2 – und das lange, bevor die Zeitschrift in dieser Hinsicht zum Schlüsselmedium des folgenden Jahrhunderts aufstieg (siehe unten). Happel und Wiering waren sich dieser Innovation bewusst, was zu umfassenden Reflexionen über Anspruch, Legitimation und Zielsetzung des Mediums führte. Sie wurden in den ex post gelieferten Vor- und Nachworten entworfen, die sich jeweils in den ‚Jahresbänden’ der Relationes finden. Das heißt: Nur wer das Periodikum im gebundenen Buchformat erwarb, wurde auch über das konzeptionelle Gerüst des Projektes aufgeklärt; es wird im Folgenden analysiert. In einem vorgeordneten Schritt ist der Stand der Forschung zum Komplex der ,Popularisierung’ sowie das heuristische Potential des Begriffs selbst zu umreißen. 1
2
Dazu: Wilke, Jürgen: Vom stationären zum mobilen Rezipienten: Entfesselung der Kommunikation von Raum und Zeit – Symptom fortschreitender Medialisierung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 6, 2005, S. 1-55. Ähnlich, gleichwohl unter ausschließlicher Betonung der Wissenschaftspopularisierung (dazu siehe auch unten): Böning: Erste populärwissenschaftliche Zeitschriften im 17. Jahrhundert.
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Publizistische Konzeption der Relationes Curiosae
5.1. Alte und neue Paradigmen der Popularisierungsforschung Bemisst man ,Popularisierung’ – allgemein verstanden als Konzept der Wissensverbreitung – am effektiv erreichten Grad ihrer medialen Breitenwirkung, ist das Phänomen zweifellos erst Sache des 18. Jahrhunderts: Popularisierung ist nicht nur Intention, sondern auch Resultat der Aufklärung, weil erst diese den unzähligen periodischen Druckerzeugnissen als Organen allgemeiner Verstandeserziehung zu ihrem Erfolg bei einer weiteren Leserschaft verhalf. Keiner näheren Begründung scheint daher der medienhistorische Befund von Rudolf Stöber zu bedürfen: „Aufklärung war das geistesgeschichtliche Kennzeichen des späten 17. bis 18. Jahrhunderts, Zeitschriften ihr zentrales Medium, Aufklärung und Volksaufklärung, d.h. Popularisierung des Wissens, folglich das Kernanliegen der Zeitschriften“.3 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Zeitschrift – die sich jetzt auch als solche etikettierte – den Anspruch einer erweiterten Vermittlung von ehemals exklusiven Wissensformen quantitativ wie qualitativ eindrucksvoll eingelöst. Dies war rund einhundert Jahre nach den Relationes auch weithin bewusst. So bilanziert das Allgemeine Sachregister über die wichtigsten deutschen Zeit- und Wochenschriften im Jahre 1790: „Die Zeitschriften sind die Vorratskammern des menschlichen Verstandes geworden [...] jeder, der über irgendeine Materie sich zu belehren wünscht, darf getrost zu diesem Magazin der Wissenschaften seine Zuflucht nehmen [...]. Durch die Zeitschriften wurden die Kenntnisse, welche sonst nur das Eigenthum der Gelehrten waren [...] allgemein in Umlauf gebracht [...] wurden nun allen Volksklassen mitgetheilt [...]“.4
Für das 18. Jahrhundert mangelt es demnach auch nicht an Studien zur Wissenspopularisierung und der Rolle der Zeitschriften als Multiplikatoren innerhalb dieses Prozesses.5 Für die vorigen Jahrhunderte ist der Forschungsstand dagegen weit dürftiger, was angesichts einer de facto erst im 19. Jahrhundert eingetretenen Phase der Massenmedien und der Alphabetisierung großer Bevölkerungsteile zunächst auch plausibel erscheint. So resümiert Carsten Kretschmann in einem profunden Überblick, dass „vormoderne Zusammenhänge“6 in einer bis dato auf das 19. und 20. Jahrhundert kon3 4
5
6
Stöber: Mediengeschichte, S. 70. Beutler, Johann Heinrich Christoph / Guts-Muts, Johann Christoph Friedrich: Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deutschen Zeit- und Wochenschriften, Leipzig 1790, Band 1, Vorrede, S. IIf. Exemplarisch aus der jüngeren Literatur: Tschopp, Silvia Serena: Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert, in: Dülmen / Rauschenbach (Hrsg.): Macht des Wissens, S. 469489. Kretschmann, Carsten: Einleitung: Wissenspopularisierung – ein altes, neues Forschungsfeld, in:
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zentrierten Popularisierungsforschung bislang kaum berücksichtigt worden seien. Begründet sei dieses Missverhältnis jedoch auch durch die mechanische Gleichsetzung von Popularisierung mit Wissenschaftspopularisierung, die dann verkürzt als Vorgeschichte des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes verstanden wird.7 Der vorliegende Abschnitt möchte Kretschmann in zweifacher Weise folgen: zum einen in der Ausweitung des zeitlichen Rahmens, indem ein Fallbeispiel aus dem 17. Jahrhundert den Blick auf die Frühgeschichte der periodischen Wissenspopularisierung hin ausdehnt; zum anderen soll dabei nicht ausschließlich von der Popularisierung der Wissenschaft, sondern auch von der des ‚allgemeinen’ Wissens die Rede sein. Zwar ist die Vermittlung der ,neuen Wissenschaften’ des 17. Jahrhunderts für die Relationes ein gewichtiges Thema (siehe Kapitel 7.3.). Wie aber schon der Querschnitt durch die Quellengrundlage gezeigt hat, geht es Happel nicht nur um naturwissenschaftlich-technische Themen nach heutiger Definition, sondern ebenso deutlich etwa um die Kommunikation ,ethnographischen’ Wissens (siehe Kapitel 7.1.) – angedeutet ist damit, dass sich historische Popularisierungsprozesse nicht nur über den Blick auf ,rational’-empirisches Wissen erschließen lassen, wie dies die ältere Forschung noch behauptet hat.8 Vielmehr ist einmal mehr vom weiten Wissensbegriff der Frühen Neuzeit auszugehen, in dem sich moderne Wissens- und Wissenschaftsklassifikationen nur bedingt spiegeln. In dieser erweiterten Perspektive bezieht sich Popularisierung nicht nur auf die Strategien der Aufbereitung eines schwer verständlichen, weil komplexen und nicht volkssprachlichen Expertenwissens, sondern auch auf die ,Entprivilegierung’ des Wissens in dem oben angesprochenen Sinn: kostenintensives Wissen, im 17. Jahrhundert oft nur in repräsentativen wie teuren Folianten verfügbar, wird zu einem niedrigeren Preis verfügbar und daher für größere Rezipientenkreise potentiell zugänglich. Daneben ist der Popularisierungsbegriff selbst zu diskutieren: Kretschmann betont in Anschluss an Andreas W. Daum,9 dass es aufgrund der semantisch verwickelten Geschichte des Begriffs keine verbindliche Definition geben wird.10 Für die Frühe Neuzeit als Ganzes ist zudem problematisch,
7 8 9 10
Ders. (Hrsg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Band 4), Berlin 2003, S. 7-23, hier S. 13. Auch ein jüngerer Sammelband zum Thema blendet die Frühe Neuzeit aus: Boden, Petra / Müller, Dorit (Hrsg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850 (= LiteraturForschung, Band 9), Berlin 2009. Kretschmann: Einleitung, S. 13. Ebd. Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1914, München 1998, hier S. 33-41. Kretschmann: Einleitung, S. 12.
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dass erst das 18. Jahrhundert die Termini ,populär’ und ,Popularität’ kannte. Gleichwohl lässt sich in den Relationes Curiosae ein Popularisierungskonzept ,avant la lettre’ ausmachen (Punkt 5.2.). Für eine pragmatische Begriffsdefinition sind die Kriterien der publikumsnahen, anschaulichen und vor allem allgemeinverständlichen Wissensvermittlung zudem unstrittig. Entscheidend ist daneben die Verschiebung vom alten hin zu einem neuen Popularisierungsverständnis, das heuristischen Wert auch für die Analyse der Relationes hat: „So betrachtet eine ältere Forschung die Popularisierung stets als eine Form von hierarchischem Wissenstransfer, bei dem bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse von einem engen, homogenen Expertenkreis – einseitig – an ein nicht näher zu spezifizierendes Laienpublikum weitergegeben werden“.11
Nach diesem älteren Modell ist Wissenspopularisierung ein gleichsam ‚von oben’ oktroyierter Prozess, der komplexes Wissen in verflachter Form an einen passiven Adressatenkreis vermittelt. Jüngere Forschungspositionen kritisieren, dass das Wissensgefälle zwischen Experten und Laien als unüberbrückbar angenommen wurde – dadurch, dass der Informationsfluss in nur eine Richtung stattgefunden und damit strukturell nur einseitige Kommunikation ermöglicht habe. Die Erwartungen der Rezipienten spielten innerhalb dieses Modells allenfalls eine untergeordnete Rolle. Kretschmann zufolge ist 1985 erstmals von Richard Whitley und Terry Shinn12 eine „[...] dezidiert interaktionistische Sicht [...]“13 vertreten worden. Sie analysiert Popularisierung als wechselseitigen Austausch zwischen Wissensproduzenten, Kommunikatoren und Öffentlichkeit. Der von Kretschmann entwickelte, weit gefasste Popularisierungsbegriff ist durch fünf Parameter strukturiert;14 sie können epochenübergreifende Gültigkeit reklamieren und lassen sich auch auf das 17. Jahrhundert übertragen: 1. Jeder Popularisierungsprozess hat ein deutliches Wissensgefälle zwischen Produzent und Rezipient zur Voraussetzung, 2. Die Gruppe der Produzenten ist kleiner als die der Rezipienten. 3. Die Rezipienten sind zur Gesamtgesellschaft und ihren medialen wie kommunikativen Ressourcen in Beziehung zu setzen. 4. Popularisierung ist stets ein intentionaler Prozess. 5. Popularisierung ist auf Wissensmultiplikation durch jene Medien angewiesen, die breitenwirksame Effekte erzielen. Diese Parameter werden in der Analyse der Programmatik von Happels Periodikum ebenso wiederholt auf11 12 13 14
Kretschmann: Einleitung, S. 9. Whitley, Richard / Shinn, Terry (Hrsg.): Expository Science: Forms and Function of Popularisation, Dordrecht 1985. Kretschmann: Einleitung, S. 9. Ebd., S. 14.
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geworfen wie die von Kretschmann formulierten Leitfragen: „Welche Aufgaben hat die Popularisierung eines bestimmten Wissens jeweils zu erfüllen, welche Ziele verfolgt sie? Wie wird Wissenspopularisierung legitimiert, und an welche gesellschaftlichen Voraussetzungen ist sie gebunden?“.15
5.2. Konzept und Dimensionen der Wissenspopularisierung in den Relationes Curiosae Intentionale Wissensverbreitung entfaltet sich in den Relationes Curiosae im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung eines Medienwandels. Happel lässt in den nachgelieferten Vorreden und Nachworten (nicht zuletzt aus werbestrategischen Gründen) keinen Zweifel daran, dass er das Projekt eines wöchentlichen Wissensmagazins für innovativ hält; mehr noch: Die Relationes könnten sogar auf internationaler Ebene Vorbild für ähnliche Formate werden. In der Vorrede zum ersten Jahresband von 1683 preisen Wiering und Happel diese Vorreiterrolle selbstsicher an: „Ja es wird hiebey nicht bewenden; sondern andere Nationes werden Belieben tragen / dergleichen Sachen in ihrer Mutter-Sprache zu sehen und zu lesen“.16 Die Betonung der volkssprachlichen Form ist nur ein Aspekt der vielschichtigen wie verwickelten Argumentationszusammenhänge in den Paratexten. Ihre Analyse wird im Folgenden nicht chronologisch geleistet, da sich die Hauptakzente kaum verschieben. Stattdessen sollen zentrale Topoi und Argumentationslinien in drei Komplexen isoliert werden: a) die Motive der Wissenspopularisierung (und damit auch die der Gründung des Periodikums), b) die Funktionen der Wissenspopularisierung und c) die Legitimation des Mediums und ergänzende Aspekte. a) Motive der Wissenspopularisierung: Der Anspruch, mit einem neuen Medium Wissen an ein breites Publikum zu vermitteln, setzt trivialerweise zunächst die Legitimität eines breiteren Wissensbedürfnisses voraus. Wer sollte am Wissen teilhaben dürfen? Wie gezeigt, schafft Happel die Grundlage dieser Legimitität implizit schon durch seine emphatische Billigung der Neugier. Analog dazu wird bereits zu Beginn der ersten Vorrede an einen elementaren Wissensdurst appelliert. Happel autorisiert ihn unter Rückgriff auf Sentenzen antiker Autoritäten sogar als prinzipiell zeitlos: „Eine gar löbliche Rede führet der vornehme Römische Rechtsgelehrte Pomponius [Mela, F.S.], wann er sich [...] also vernehmen lässet: [...] Wann ich schon den einen Fuß im Grabe hätte / so wolte ich gleichwohl noch immer etwas mehr wis15 16
Kretschmann: Einleitung, S. 15. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 2v.
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sen“.17 Auf Anhieb werden die Relationes damit als eine Art Bedarfsmedium stilisiert, ein Motiv, das im Verlauf der Paratexte noch an Nachdruck gewinnt und topisch wiederholt wird. In der Vorrede zum vierten Jahresband etwa, als das Periodikum schon lange etabliert war, greift Happel diesen Leitgedanken noch einmal auf, um so auch seinen persönlichen Verdienst (und kommerziellen Erfolg) als Wissenskommunikator hervorzuheben: „Wann demnach ein jeder an seinem Orth begierig ist etwas zu wissen / und zu lernen / so haben sich auch allemahl feine Leuthe gefunden / die solchen Lehrbegierigen zum besten und andere Schrifften im Druck heraus gegeben / wie ich dann zum dem Ende diese meine Relationes publicirt, und bißhero eine ziemliche Gunst und Beliebung des höfflichen Lesers dabey verspüret habe [...]“.18
Wesentlich ist, dass Happel und Wiering von Anfang an vorgeben, die Wissensbedürfnisse mit ihrem neuen Medium nicht erst zu schüren, sondern auf sie reagiert zu haben. So habe ,die Öffentlichkeit’ selbst auf die Herausgabe der Relationes gedrängt. Zudem schien der Zeitpunkt für ein Medium günstig, das sich nicht mit der politischen Nachrichtenlage befasst: „Viele Lesens- und Wissens-Begierige Gemüther haben mir zum öfftern angelegen / bey anscheinende lieblichen Friedens-Sonne / da man Gott sey Danck von denen [...] schädlichen Kriegs-Materien nichts mehr in den Novellen findet / nebst meinem ordinairen Courier [Relations-Courier, F.S.], wochentlich eine sogenandte Curieuse Relation außzugeben / umb dadurch manchen ehrlichen Teutschen / deme in Ermangelung der Lateinischen und anderer frembden Sprache / die Begierde dergleichen curieuse Materie zu lesen / gewaltige anwächset / einiger massen zu vergnügen [...]“.19
Wiering lässt nicht unerwähnt, dass die Realisierung eines solchen Projektes für ihn als Verleger logistisch-kommerzielle Risiken barg. Allerdings dürfte auch das erklärte Zögern rhetorischer Teil einer Vermarktungsstrategie sein, um die Attraktivität der Relationes noch weiter zu schüren: „Da ich dann zwar eine geraume Zeit nicht ohne Ursache bey mir angestanden / in Erwegung der grossen Unkosten / so zu einem solchen Wercke erfordert werden / wie nicht weniger anderer Schwürigkeiten / so sich bey solchen Fällen in ziemlicher Menge zu eräugen pflegen: Gleichwohl hat das unablässige Anhalten und Auffmuntern obgedachter curieusen Liebhaber / mir diese Sache so anmuthig vorgemahlet / daß ich mir endlich vorgenommen / dieselbe in Gottes Nahmen anzufangen / und einen jeden / dem diese Lesens-Würdige Materien anstehet / wochentlich mit einer so genandten curieusen Relation zu bedienen /
17 18 19
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Bl. 1r. Ebd., Band 4.1, Vorrede, Bl. 2v. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v.
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dann Er allemahl etwas von den raresten Materien / so bey den allerbesten Scribenten und bewehrtesten Leuthen zu finden sind / antreffen wird“.20
Das Motiv der Vorauswahl von Stoffen nur der „allerbesten Scribenten“ war, wie gehört, ein geläufiges Argument unter den Buntschriftstellern. Wiering erklärt, mit seinem Angebot auf die Nachfrage zu reagieren, womit das Konzept einer nicht-hierarchischen, also nicht ,von oben’ oktroyierten Popularisierung mit aller Vorsicht bereits für das späte 17. Jahrhundert konstatierbar ist. Auch die Vorrede des zweiten Bandes gibt implizit vor, dass die Inhalte der Relationes in ständigem Dialog mit den Lesern entstünden und auf deren Wissensinteressen flexibel reagierten. So sei Happel von „[...] von einem bekandten fürnehmen Orth in specie ersucht [worden] / die Materie von den Egyptischen zu gewissen Zeiten auffstehenden Todten-Beinen zu tractiren [...]“.21 Im wechselseitigen Austausch wollen Happel und Wiering sogar mit den ,primären’ Wissensproduzenten aus der scientific community in Kontakt stehen und solcherart auch ein Popularisierungsmedium der ,neuen Wissenschaften’ etablieren. Bedenkt man, dass Happel die Inhalte seines Periodikums mit wenigen Ausnahmen jedoch nur aus dem Bestand der Hamburger Bibliotheken und nicht aus brieflicher Korrespondenz bezog, blieb von der vollmundigen Ankündigung im Arbeitsprozess wenig übrig: „Wir werden mit den berühmtesten Physicis und Mathematicis correspondiren, davon wir theils durch grosse Promessen zu diesem Wercke angefrischet sind [...]“.22 Ein sich anschließender Appell an „die übrigen“, neuere „Inventiones“ nach Hamburg zu schicken, empfiehlt die Relationes noch deutlicher als Popularisierungsorgan der Gelehrtenrepublik. So gedacht, konnte das Periodikum als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit das vorausgesetzte Wissensgefälle überwinden, indem ehemals exklusive Kenntnisse jetzt „der gantzen ehrbahren Welt“ verfügbar gemacht werden. Auch würden davon nicht zuletzt die ,freigebigen’ Wissenschaftler selbst profitieren – durch Prestigegewinn. Eindringlich heiß es: „Die übrigen aber / wo sie auch sind / ersuchen wir mittelst dieses / sampt und sonders / dafern etwa einer in ein und anderm etwas sonderliches und merckwürdiges elaboriret, oder außgefunden / uns damit an die Hand zu geben / solche Inventiones großgünstig mitzutheilen / damit dergleichen löbliche Sachen nicht verdunckelt in einer privat Studier-Stuben verborgen bleiben / sondern denen Lehr- und Lebens-Begierigen Gemüthern / ja der gantzen ehrbahren Welt zu Beförderung der löblichen Wissenschafften mitgetheilet werden / davon sollen wir uns bemühen / einem jeden / der uns seine löbliche Freygebig20 21 22
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v. Ebd., Band 2.1, Vorrede, Bl. 2v. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r.
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keit dieses falls sehen lassen / dergestalt und nach Belieben an die Hand zu gehen / daß dieselbe vielmehr angefrischet / als abgeschrecket werden soll / seinen Fleiß weiter zu exerciren, zu seinem eigenen Ruhm und zu des Nechsten Unterricht und Lehre“.23
Auch die zu überwindende Sprachbarriere findet Erwähnung. So sei ehemals elitäres Wissen in ,Allgemeinwissen’ zu verwandeln, indem das bekannt zu machen sei, „[...] so bißhero mehrentheils in Griechischer / Hebräischer / Frantzösischer / Oder Lateinischer Erde vergraben gelegen“.24 Um 1688 leitet Happel in der Vorrede des vierten Jahresbandes die geplante Popularisierung der Wissenschaft noch aus zwei weiteren Impulsen ab: erstens aus dem Bedürfnis auf eine Vermittlungsinstanz, die die Komplexität des Wissens in allgemein verständliche Form bringt und die zweitens in der Vielfalt des ständig wachsenden Wissens eine orientierende Funktion übernimmt. Denn „[n]icht wenige sind etlich derjeningen / denen die Schwerheit und Vielheit der Sachen die Lust zu der Wissenschafft vertreibet [...]“.25 Nicht zuletzt sind die Popularisierungsabsichten jedoch auch in der erwähnten kommerziellen Argumentation verankert. So würden vielen Wissbegierigen, wie Happel weiter kommentiert, weniger „[...] die Lust / sondern [...] die Unkosten und Gelegenheit [...]“26 fehlen, an kostspielige Bücher aus eigenen Mitteln zu gelangen. Die Motive zur Herausgabe des Periodikums werden jedoch nicht nur von der Leserseite her gedacht. In den Paratexten der Relationes erscheint ein zeitgleicher Prozess ebenso gewichtig, der den genannten expansiven Status des Wissens selbst betrifft. Schon in der Vorrede von 1683 verbinden Happel und Wiering die Zeitdiagnose über eine rapide Wissenszunahme speziell über die natürliche Welt mit dem Kausalschluss, dass der Zeitpunkt gekommen sei, auch die Partizipationschancen am Wissen zu erhöhen. In den angeführten Referenztexten, die zum Gegenstand der Popularisierung werden sollen, spiegeln sich unter anderem die genannten Hauptquellen der Relationes (siehe Kapitel 4.4.). So „[...] ist der menschliche Fleiß heut zu Tage in so weit durchgedrungen / daß keine oder doch gar wenige natürliche Dinge vorkommen / darüber man nicht eine gründliche / oder zum wenigsten warscheinliche Ursache geben könne. Die Naturkündiger sind hierinnen am meisten occupiret / und [...] so fället nunmehro wenig für / darvon man nicht auß des Kircheri Schriften / auß dem Collegio Regio Angliae, aus dem Journal des Scavans, aus denen Miscellaneis Academiae 23 24 25 26
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r. Ebd., Bl. 1v. Ebd., Band 4.1, Vorrede, Bl. 2r. Ebd., Bl. 1v.
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naturae Curiosorum, aus Scotto, Dygbaeo, Boyle, Helmontio, Cartesio, Nierembergio, Aldrovando, Bacone, Montano, Dappero, Redo, Sturmio, Tavernier, Della Valle, Thevenotto, Neuhoff, Strauß / Schultzen / Gage, Brown, Troilo, und dergleichen Reise-Beschreibungen / einen grund- und umbständlichen Bericht ertheilen könte“.27
Ähnlich wird in der Vorrede des letzten Bandes von 1691 die begeisterte Einsicht in ein prinzipiell offenes Wissenswachstum mit der Appell in Verbindung gebracht, über die zeitgenössischen Bücherfluten (siehe Kapitel 4.2.) nicht zu klagen; im Gegenteil: „Alle Künste und Wissenschafften sind gestiegen / und haben sich gleichsam auff den Stuffen unterschiedlicher Denck-Zeiten zu höherer Vollkommenheit geschwungen / ihr Endschafft aber noch nicht erreichet und kan deßwegen auch das nütz- und nöthige Bücherschreibens kein Ende seyn“.28
b) Funktionen der Wissenspopularisierung: Die Paratexte weisen den Relationes ein klares Spektrum an Funktionalitäten zu, das das Profil der Wissenssammlung im Einzelnen weiter schärft. Die Funktionen überlagern sich mit den skizzierten Motiven der Popularisierung und lassen sich nur in heuristischer Perspektive von diesen trennen. Insgesamt lassen sich drei, in der Argumentation ebenfalls überlappende Aufgaben der Wissenspopularisierung erkennen: 1. Die unterhaltende Funktion des Wissens, 2. die allgemein belehrende und nützliche Funktion des Wissens, 3. die theozentrischerbauliche Funktion des Wissens: 1. In der Reflexion über ein allgemeines Wissensbedürfnis wird zugleich der Anspruch betont, dass dieses auf unterhaltsame Weise zu stillen sei. Die Unterhaltungsmaxime ist für das Selbstverständnis der Relationes bestimmend – und das nicht nur für ihre Verortung im weiteren Mediensystem, sondern bereits im Rahmen des Verlagsprogramms von Wiering. Wie gezeigt (Kapitel 2.4.), waren Unterhaltungsstoffe, die als solche auch ausdrücklich verkauft wurden, bei Wiering vor den Relationes ein marginales Thema. Dass Happels Wochenblatt die Rolle des Zeitvertreibs so wortreich propagiert, zeigt, dass der Wissenskonsum als ,freizeitliches’ Vergnügen im Diskurs der neuen Medien noch nicht selbstverständlich war, sondern weiterhin mit erheblichen Vorbehalten zu rechnen hatte. Gerade der kritische curiositasDiskurs der Zeitungstheoretiker (siehe Kapitel 3.2.) hob stereotyp auf jene Form der Neugier ab, die vor allem die Unterhaltung suche und den Leser in 27 28
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1r. Ebd., Band 5.2, Vorrede, Bl. 3r. Dieser Gedanke stammt allerdings nicht von Happel selbst – vielmehr handelt es sich um eine nicht deklarierte Entlehnung aus dem dritten Band der Philosophischen und mathematischen Erquickstunden von Harsdörffer (1653). Ebd., S. 3.
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die Gefahr bringe, sich an nichtigen Dingen zu verlieren. Wie die Relationes dagegen eine positiv besetzte Neugier verteidigen, so ist auch ihr Vorsatz bezeichnend, den „curiösen“ Leser „[...] einiger massen zu vergnügen“. Gedacht wird dieser Anspruch in Analogie zum heterogenen Geschmack des Publikums. Schon in der ersten Vorrede von 1683 heißt es in einem separaten Absatz dazu programmatisch: „Wann wir aber gnugsahm erkennen / die grosse Verschiedenheit der menschlichen Gemüther / welche nicht alle an einem oder vielmehr einerley Dinge / ihre Vergnügung finden / als werden wir uns bemühen / in unsern Relationen von den größten Denckwürdigkeiten der gantzen Welt / jedesmahl verschiedene Sorten von Materien einzuführen / nehmlich bald Physicalische / oder natürliche / bald Historische / bald Mathematische oder Künstliche / bald einige Wunder-Gebäue verschiedener Nationen / bald andere annehmliche Dinge / daß es nicht anders seyn kan / der Leser wird an einem oder andern / worzu nehmlich sein Gemüth geneigt / ziemliches Vergnügen schöpffen“.29
„[...] So viel Köpfe / so viel Sinnen“:30 Die abweichenden Leserinteressen bestimmen in struktureller Konsequenz nicht nur die Unordnung des Wissens (siehe Kapitel 4.3.2.), sondern auch die Popularisierung einer enzyklopädischen Stofffülle, damit möglichst jeder „[...] ziemliches Vergnügen schöpffen“ kann – auch hier also die Aktualisierung der Horaz-Formel varietas delectat. „Ein jeder lese daraus / was ihm anständig [...]“,31 so umschreibt Happel wiederholt den beabsichtigten selektiven Zugriff auf die Inhalte. Noch in der Vorrede des ersten Jahresbandes erklärt er zuversichtlich, dass ein vielseitiges „Contentement“ bei einem breiten Publikum zu erreichen sei, das sich in Bildungshorizont und Alter stark unterscheide: „Kein Zweiffel ist bey uns / es werde jederman ein gutes Contentement in Durchlesung dieser Relationen schöpffen / und weder Alt noch Jung / Gelehrt noch Ungelehrt / gereuen / eine Vierthel-Stunde Zeit darauff spendiret zu haben“.32 Einher mit der Kürze geht das Bewusstsein für einen funktionsorientierten, nüchternen Sprachstil, wie er unter Herausgebern von Periodika seit dem späten 17. Jahrhundert verstärkt postuliert wurde.33 Klarheit und Prägnanz waren zentrale Begriffe der schwulstkritischen Bewegung in der poetologischen Diskussion um 1700.34 So geben auch Happel und Wiering zu bedenken, was das Fundament jeder Wissensvermittlung ist: 29 30 31 32 33 34
Happel: Relationes Curiosae, Band 1, Vorrede, Bl. 1v. Ebd., Band 3.2, Einleitung, S. 1. Ebd., Vorbericht, Bl. 3r. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r. Mackensen, Lutz: Zur Sprachgeschichte des 17. Jahrhunderts. Aus der Arbeit der Deutschen Presseforschung, in: Wirkendes Wort, 14, 1964, S. 150-170, hier S. 161. Siehe dazu: Alt, Peter-André: Aufklärung, Stuttgart 2001, S. 66.
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„Wir befleissigen uns einer solchen Kürtze / die da nichts auslässet / was zu nöthigem Bericht dienen mag / noch auch einer solchen Weitläufftigkeit / so mit unnöthigem Umbschweiffen eine Beschreibung dem Leser unangenehm machen könnte [...]. Endlich soll der Liebhaber wissen / daß wir allen Fleiß anwenden werden / so viel uns möglich / kein eintziges Wörtlein vergeblich einzurücken / umb dem Leser durch einen eytelen Wörter-Pracht nicht einen Eckel zu verursachen / ehe er zu dem Werck selber kommet [...]“.35
Die werbende Qualität dieses ,journalistischen Anspruchs’ wird in der Einleitung des zweiten Jahresbandes von 1685 noch dadurch potenziert, dass Happel auf die Schwierigkeiten des Verarbeitungs- und Vermittlungsprozesses verweist: Eine angemessene Aufbereitung der Quellen, das heißt gerade auch ihre sprachliche Aufbereitung, falle nicht einfach. So sei sicher, „[...] daß die versprochen Materien sehr curieus und grossen theils schwer sind / gebührlich abzuhandeln / und auß so viel frembden Autoren herbey zu schaffen“.36 2. Kein Vergnügen ohne Nutzen: Die Ambitionen der Wissenspopularisierung sollen sich auch bei Happel nicht im profanen Selbstzweck der Unterhaltung erschöpfen. Als weitere Säule wird daher die Maxime des Nutzens installiert, innerhalb derer die Wissensverbreitung der Funktion allgemeiner Belehrung untergeordnet wird. Hier zeigt sich einmal mehr die Abhängigkeit des Periodikums von alten Topoi. Um 1688 blickt Happel in diesem Sinne zurück: „Ich gestehe es willig / daß eine grosse Anzahl solcher Leser allein die Annehmlichkeit zum Zweck setzen / aber wir wissen daneben / daß auch nicht wenige sind / die bey gesuchter Annehmlichkeit zugleich den Nutzen gefunden haben“.37 Noch deutlicher heißt es dann in einer theoretischen Legitimation des eigenen Schreibens: „Wer diese beyden Stücke / den Nutzen sage ich / und die Annehmlichkeit in den Schrifften zum Ziel erwehlet / ist mehr zu preisen als zu tadeln [...]“.38 Damit stehen die Relationes im Begründungszusammenhang der klassizistischen Poetiken um 1700, indem Happel sich neben der varietas delectat auch an die zweite Formel des Horaz hält: In seiner Ars Poetica (14 v. Chr.) hatte dieser festgehalten, die Werke des Dichters müssten „[...] entweder nützen [prodesse] oder erfreuen [delectare] wollen [...] oder [beides] zugleich [...]“.39 Während die normative Rolle der Antike damit von neuen publizistischen Konzeptionen aktualisiert wird, zeigt sich in der näheren Erklärung des projektierten 35 36 37 38 39
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v. Ebd., Band 2.1, Einleitung, Nr. 1, S. 1. Ebd., Band 4.2, Vorsprach, Bl. 1v. Ebd. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch / Deutsch, übers. u. mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer, 2. Aufl., Stuttgart 1984, S. 25.
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Nutzens jedoch auch, dass die Relationes zeitlich ebenso vorausweisen, indem sie bereits einen Anspruch aufgeklärter Wissensvermittlung teilen: Nützlich ist vor allem das, was der Ausbildung des Verstandes dient. Eine Schwellenposition hin zur rein utilitären Aufklärungspublizistik zeigt sich gleichwohl darin, dass die Funktionen von Unterhaltung und Nutzen noch als gleichberechtigt erscheinen. So sei, wie Happel erklärt, eine harmonische Verbindung von geistiger Zerstreuung und Beanspruchung unentbehrlich, um die Konzentrationsfähigkeit (und die Gunst) des Lesers nicht überzustrapazieren: „Solches sage ich darumb / damit ein jeder erkenne / daß es nutzlich / oder wenigstens ergetzlich sey / wann bey hohen Angelegenheiten / oder bey tiefsinnigen Studiis, man unterweilen lustige seltsame oder verwunderliche Materien vor die Hand nimmet / dadurch die von allzu grossen Fleiß oder gar zu tieffem Nachsinnen eingeschlummerte Sinnen gleichsahm wieder erwecket und munter gemacht werden“.40
Dennoch: Wenn Happel und Wiering betonen, dass die Relationes „[...] insonderheit der Teutschen Nation zu einem unvergleichlichen Nutzen gereichen“, ist damit der erhoffte Beitrag zur Förderung der „Vernunfft“ gemeint; damit läge der konkrete Nutzen der Wissensverbreitung gerade auch darin, überliefertes Wissen einer Kritik auszusetzen. Schon auf dem nachgelieferten Deckblatt des ersten Jahresbandes heißt es dazu programmatisch, die behandelten Materien würden allesamt nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret – ein Anspruch allerdings, der in der Praxis des Schreibens schon deswegen kaum eingelöst wird, weil jene „Vernunfft“ nicht die Rationalität des 18. Jahrhunderts meint (siehe Kapitel 8.1.). Zur Verdeutlichung, worauf die „Vernunfft“ abziele, beruft sich Happel mit Vergil ein weiteres Mal auf die Autorität der Antike (gleichwohl ohne die Quelle zu nennen). Hervorgehoben durch Einrückung und größere Schrifttype hält er in der Vorrede des ersten Bandes von 1683 fest: „Felix qui potuit rerum cognoscere causas. Glückselig ist der Mensch von jederman zu nennen / Der auch den Ursprung kan der Dinge recht erkennen“.41 Den Nutzen, den „Ursprung der Dinge“ erkennen zu können, sieht Happel an späterer Stelle noch einmal ausdrücklich durch die Übung des eigenen Verstandes auf den Weg gebracht – Popularisierung heißt implizit also auch, das Material verfügbar zu machen, um „[...] den Verstand daran zu schärffen / die Wissenschafft zu mehren / das beste [...] zu versamlen in dem Behälte seines Gedächtnüsses / gleich wie die Immen ihren Honig aus so vielen Blümlein [...]“.42 Im Zu40 41 42
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Einleitung, Bl. 1r. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 1r. Ebd., Band 3.2, Vorrede, Bl. 2r. Das den Sammlungsprozess verbildlichende – und bis
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sammenhang nützlicher ,Schärfung des Verstandes’ sieht Happel die Aufgabe der Wissensverbreitung und den Anspruch der Relationes gerade auch darin, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Bezüglich historischer Passagen heißt das etwa: „Wir werden uns mit keinen Fabeln behelffen / oder dafern ja Poetische Geschichte möchten mit einlauffen / wollen wir doch derselben rechten Verstand dem curieusen leser bedeuten / damit derselbe sehen könne / was eigentlich dadurch gemeinet / und wie disselbe verstanden werden“.43 Diese Prämisse muss gleichwohl voraussetzen, dass der Verstand des Lesers nicht überfordert, oder genauer: übervoll wird. Auch dazu äußert sich Happel. Die Offenheit im Wissensfortschritt sieht er als analog zum Verstandespotential: „[...] des Menschen Verstand ist kein Becher / wan derselbe vol ist / kann nichts mehr hinein giessen. Nein / er wird so voll nicht / daß er nicht noch mehr begreiffen sollte“.44 Die intendierte Nutzanwendung der Relationes als belehrendes Medium wird noch dadurch untermauert, dass Happel eine moralisierende Komponente in die Argumentation integriert. So ruft er dem Leser in Erinnerung: „Einem wohlgeahrten Menschen ist alle Belerung eine Erquickung des Gemüths / und er hält solche Stunden für gar wohl angewendet / die er seiner BeruffsArbeit behäglichst einschaltet“.45 Um den Belehrungsanspruch im Ganzen jedoch nicht gegen die Unterhaltungsdimension auszuspielen, plädiert Happel letztlich für einen Mittelweg zwischen den Extremen. Mit ihm argumentiert er sogar implizit gegen das polyhistorische Wissensideal (siehe Kapitel 4.1.): „Man findet gleichwohl auch etliche / aber in gar geriner Anzahl / welche rechte Bücher-Fresser zu nennen sind / als die meinen / sie wissen nichts rechtsschaffenes / wann sie nicht alles wissen / darumb bringen sie manche Nächte schlaffloß zu / und marcerirn ihren Leib / daß auch der Verstand selber dabey Schiffbruch leiden muß; [...] und sündigen in Exzessu. Die übrigen Leute wollen wohl wissen und lernen / aber nicht alles / sondern allein das / was ihnen anstehet. Was kan ihnen aber besser anstehen / als was nützlich und lieblich zu vernehmen ist?“.46
Die Funktion der Wissensverbreitung wird im Kontext des Prinzips vom prodesse et delectare noch durch zwei weitere Momente konkretisiert: über das erste lehnen sich die Relationes erneut an eine ältere Tradition an – gemeint ist das weite Feld der bereits antiken und noch im 17. Jahrhundert
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auf Seneca zurückgehende – Bienengleichnis entlehnt Happel dem zeitgenössischen Vokabular der Florilegien oder ,Blütenlesen’; siehe Kapitel 4.3, S. 123. Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Nr. 1, S. 1. Ebd., Band 3.1, Vorbericht, Bl. 2r. Ebd., Band 4.1, Vorbericht, Bl. 1r. Ebd.
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äußerst belieben Exempelsammlungen.47 Die Gattung der unterhaltsammoralisierenden Kurzerzählungen nimmt Happel als Modell, wenn er etwa den Nutzen von „Geschichten“ darin sieht, ein Reservoir beispielhafter Erfahrungen zur Verfügung zu stellen. Implizit wird mit dieser handlungsleitenden Funktion des Wissens auch der antike Topos ‚historia magistra vitae’ tradiert: „Wann [...] sothane Scribenten und Schrifften / welche zugleich Nutzen und die Annehmlichkeit fürtragen / Allemahl billich in hohem Werthe gehalten werden / so sind wahrlich die Historische Beschreibungen / so wohl von Geschichten / als natürlichen Seltsamkeiten ruhmwürdig / als worin beyde diese Dingen / zusambt denen menschlichen Künsten und Erfindungen / bey rechtschaffenen Lesern auff eine sonderbahre Weise zusammen kommen. Der Nutze kommet mit so viel mehrerm Nachdruck an den Tag / weil die Exempeln allewege besser lehren / als bloße Ermahnungen und Warnungen“.48
Das zweite Moment betrifft weniger den Rezipienten, sondern die Leistung des Popularisators (und Übersetzers) und damit die Hoffnung, durch Vermittlungsprozesse wiederum selbst aktiv zum Zuwachs von Vernunft und Wissen beitragen zu können: „Und ein Mann macht den andern klüger / nachdem er von so vielen / ja allen / die vor ihm gelebt und geschrieben / gelehret worden / dass er auß eigenem Verstande / den ihm Gott verliehen / entweder erfinden / oder aus frembden Sprachen etwas übersetzen kan“.49 Um 1689 instruiert Happel seine Leser noch einmal, aus den entworfenen Funktionen der Wissensvermittlung die jeweils adäquate auszuwählen: „Gebrauche dich demnach / O curieuser Leser / unserer Arbeit / bistu alt / zu deiner Repitition, bistu von mittelmässige Jahren / zu deiner Belustigung / bistu aber jung / zu deiner Lehre / oder wenigstens zu deiner Nachricht / du wirst allemahl etwas finden / worüber sich deine Ohren werden auffrecken / und das Hertz verwundern / deine Passiones werden auch dabey arbeiten / [...]“.50
3. Die theozentrisch-erbauliche Funktion des Wissens: Nicht weniger entscheidend als die bislang genannten Punkte ist schließlich, dass sich Happel nicht vom religiösen Weltbild der Zeit emanzipiert. Vermehrung und Verbreitung von Wissen fallen daher primär unter die Ägide der Erbauung, also der prinzipiellen Stärkung des Glaubens.51 Dieser Befund ist für die Re47 48 49 50 51
Allgemein dazu: Egenhoff: Berufsschriftstellertum, S. 49ff.; grundlegend: Haug, Walter (Hrsg.): Exempel und Exempelsammlungen, Tübingen 1991. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Vorrede, Bl. 1v. Ebd., Band 2.1, Vorrede, Bl. 2r. Ebd., Band 4.2, Vorsprach, Bl. 3r. Hier weiche ich grundlegend ab von Uta Egenhoff: „Auf eine ,Anwendung’ des zusammengetragenen Wissens verweist Happel nirgends, weder im Vorwort noch in den die Ar-
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lationes von zentraler Bedeutung und wird im Folgenden (siehe Punkt 6.3.3.) noch vertieft. In den Paratexten – aber auch im Text selbst – ordnet Happel sein publizistisches Konzept der höheren Funktion des Schöpferlobs unter. Schon in der Vorrede von 1683 liest sich das intendierte Erbauungsprogramm wie folgt: „[...] massen dadurch unsere gemüther auffgemuntert werden / und unser Verstand mehr und mehr Lichts bekommen / die Geschöpffe und Wunder des Allerhöchsten genauer zu untersuchen / [...] anzusehen und zu betrachten [...]“.52 Dem kausalen Denken nach ist damit klar, „[...] daß also alles zu seiner Endursache / welcher es von Gott gegeben / sich neiget [...]“.53 Aktiv sollen Unterhaltung und Wissenskonsum so zur frommen Selbstvergewisserung beitragen, ein Aspekt, den Happel imperativisch auffasst: „Wir sollten Gottes Wunder nicht verschweigen / und jeder ist verbunden / dasjenige so ihm Gott mitgetheilet / seinem Nechsten auch so mittzutheilen [...]“.54 Eine religiöse und natürliche Betrachtung der Welt gehen bei Happel also eine prinzipielle Verbindung ein, ein Charakteristikum, das die Relationes in den Kontext der frühen physikotheologischen Strömung der Zeit rückt. In einem das Vorwort des ersten Bandes beschließenden Gedicht bewirbt Happel die Relationes dann auch konsequent als eine Art Ersatzmedium für jene, die nicht reisen, aber doch die Wunder der Welt ‚von der Stube aus’ sehen möchten. Denn was „[...] [e]r [Gott, F.S.] für Wunder-Creaturen / uns für Augen hat gestellt / Zeigt / mein Leser / dieses Buch! Wil man durch die wilden Seen Trocknes Fusses recht mit Lust und durch ferne Länder gehen Kan man sich hierein begeben / hier trifft man dergleichen an / Wunder die man nicht begreiffen noch viel minder zehle kan! [...] Weites Reisen darff er nicht / er kan in der Stube bleiben / Und mit Nutz erfüllter Lust seine lange Zeit vertreiben: Er kan manches Land besehen / wie’s in selben annoch steht / [...] Endlich aber bleibt der Zweck / daß wir unsern Schöpffer preisen [...]“.55
Die Funktion, das Periodikum zum ,Ort’ eines sekundärem Gottesdienst zu machen, leitet sich auch aus dem Überdauern älterer Traditionen des Naturverständnisses und ganzheitlicher Denkstrukturen ab. So bringt Happel über ein Aufgreifen der alten Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie die Verbreitung von Wissen mit kosmischen Zusammenhängen in Verbindung: Das Weltall, der Makrokosmos, findet im menschlichen Körper, dem Mikro-
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tikel verbindenden Einschüben“. Egenhoff: Berufsschriftstellertum, S. 41. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1r. Ebd., Band 4.1, Vorrede, Bl. 2v. Ebd., Band 1.2, Vorrede, Bl. 2r. Ebd., Bl. 3r.
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kosmos, sein verkleinertes Spiegelbild.56 Damit verbunden ist die Zugangsweise zur Natur als zweite Offenbarung Gottes, wie Happel sie in der alten Metapher vom ‚Buch der Natur’57 und vom ‚Buch der Welt’ aufnimmt. Eine Kernaufgabe der Wissenspopularisierung sieht Happel implizit also darin, das ‚Buch der Welt’ zugänglich zu machen und dementsprechende Denkschemata zu reproduzieren: „Die Welt kennet kein grösser Buch / als sich selber. Der fürnehmste und edelste Theil davon ist der Mensch / als ein rechter Microcosmos, oder kleine Welt. Statt eines zierlichen Kupffer- oder Titul-Blats hatte Gott an dessen Stirne gedruckt sein herrliches und unvergleichliches Ebenbild / wodurch er gleichsam erkläret worden zu einem kurtzen Begriff [...] der übrigen Theilen der grossen Welt / oder des Macrocosmi. Dem Mensche ist auch zugleich eingepflanzet worden / sothanes Buch fleissig zu durchblättern / und also darauß zu lernen die unbegreiffliche Grösse / Macht / Majestät / Herrlichkeit / Reichthum / Weißheit und Güte des Schöpffers / so viel davon durch die enge Thür des Auges immer in die Sinnen und Gedancken hindurch dringen mag“.58
Insgesamt zeigt sich das in den Paratexten entworfene Popularisierungskonzept als eine vielschichtige Gemengelage aus traditionellen und emanzipatorisch-‚modernen’ Motiven. Sie bekundet einmal mehr das Zwischenstadium von Happels Denken und Schreiben. Denn einerseits wird die unterhaltsame (Wissens-)Lektüre als Selbstzweck bereits verteidigt, andererseits will diese weiterhin nicht ohne Gott als geistigen Fluchtpunkt argumentieren.
5.3. Schnittstellen: Happels persönliche Kontakte zur Gelehrtenwelt Wie gezeigt, gaben Wiering und Happel vor, von gleichwohl nicht namentlich genannten Gelehrten „[...] durch grosse Promessen zu diesem Wercke angefrischet [...]“ worden zu sein. Idee und Konzeption der Relationes seien also durch die Initiative ,von oben’ als auch durch ein Bedürfnis nichtakademischer „curiöser“ Kreise zustande gekommen. Es wurde bereits angedeutet, dass aus dem süffisant angekündigten Plan, mit „[...] Physicis und Mathematicis correspondiren [...]“ zu wollen, realiter im Ganzen nichts wurde, da Happel sich zwar als umfassender Vermittler der europäischen Gelehrtenwelt präsentiert, seinen Wissensfundus aber nahezu ausschließlich gedruckten Textwelten entnimmt. Stand er dennoch vereinzelt in Kontakt 56 57 58
Weiterführend etwa: Sollbach, Gerhard: Die mittelalterliche Lehre vom Makrokosmos und Mikrokosmos, Hamburg 1996. Mit zusätzlicher Literatur: Groh, Ruth: Artikel Buch der Natur, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 2, Stuttgart 2005, Sp. 478-485. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Vorrede, Bl. 2r.
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mit der scientific community? Wegen eines fehlenden Nachlasses und der lückenhaften Biographie sind hier nur spärliche Befunde möglich; auch deswegen, weil sich weder in den Relationes noch im übrigen Werk Happels Hinweise auf nennenswerte Briefkorrespondenzen finden, deren ,gelehrte’ Einsendungen hätten abgedruckt werden können. Tatsächlich dürfte schon das Zeitbudget die Mühe eines funktionierenden Netzwerkes unwahrscheinlich gemacht haben – faktisch war Happel viel zu sehr mit dem einseitigen Abschreiben und Exzerpieren beschäftigt, um noch Zeit für Briefdialoge zu finden. Dennoch sind über ihre Erwähnung in den Relationes zumindest vier biographische Verbindungen zu sichern, die mit Happels wichtigen Stationen in Kiel und Schleswig im Zusammenhang stehen. Im Fall des zeitgenössisch berühmten Polyhistors, Sammlers und Kieler Medizinprofessors Johann Daniel Major59 (1634-1693) belegen sie zudem den erörterten Befund der wechselseitigen Dynamiken im Popularisierungsprozess. Dass Happel in den 1660er und 1670er Jahren persönlichen Umgang mit Gelehrten hatte, die zunächst an der Kieler Universität und dann am Gottorfer Hof tätig waren – und ebenso vice versa –, ist durch die historisch enge Verbindung der Orte kein Zufall. 1665 hatte der Gottorfer Herzog Christian Albrecht (1641-1695) die Kieler Universität gegründet. Dort hatte Happel ab 1673 nur ein Jahr lang studiert und, obwohl er die Universität ohne Abschluss verlassen musste, ein offensichtlich von Wohlwollen bestimmtes Verhältnis zu drei ihrer prominenten Professoren entwickelt: Zum einen zu Samuel Reyher60 (16351714). Um 1682 spricht Happel in den Relationes im Rahmen eines längeren Themenkomplexes über den babylonischen Turmbau vom „[...] hochgelahrte[n] und vortreffliche[n] Samuel Reyher / J.U.D. vornehmer Professor Juris / und Matheseos zu Kiel / mein sonders geehrter guter Gönner [...]“.61 Diese Passage spielt möglicherweise auf Reyhers persönliche Verbindungen nach Gottorf an (1672 hatte er die Tochter eines Gottorfischen Beamten geheiratet62), die Happel in den 1670er Jahren in die Nähe von Schleswig und wiederholt auch an den Gottorfer Hof gebracht haben könnten. Obwohl Reyher in Kiel die Professur für Rechte innehatte, ging er auch vielfältigen astronomischen Neigungen nach, die Happels eigenes Interesse für die 59
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Bevor Major 1665 als Professor für Medizin an die neu gegründete Universität Kiel berufen wurde, hatte er sich 1664 als praktischer Arzt in Hamburg niedergelassen. Wie der Kontakt mit David Schellhammer (siehe S. 204) zeigt, blieb die Verbindung nach Hamburg auch danach noch aktiv. Heß, Wilhelm: Artikel Johann Daniel Major, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 20, Leipzig 1884, S. 112. Zu Reyher siehe schon Zedler: Universal-Lexicon, Band 31, 1741, Sp. 1014f. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Materie dieses Turns“, Nr. 27, S. 211. Schriften der Universität Kiel aus dem Jahre 1858, Band V, Kiel 1858, S. 6.
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,Himmels-Wissenschaft“ wahrscheinlich erheblich befördert haben (siehe Kapitel 7.3.1.). Mehr erfährt man über das Verhältnis zu Johann Daniel Major. Der Kieler Mediziner war frühes Mitglied der ältesten deutschen Akademie, der 1652 gegründeten Academia Naturae Curiosorum.63 Für deren Periodikum Miscellanea Curiosa verfasste Major Beiträge, die zum Teil von Happel für die Relationes übersetzt wurden, so etwa im Artikel „Der ohne Herz lebende Hund“.64 Es ist denkbar, dass Happel erst über den persönlichen Kontakt zu Major auf das neue Medium des Gelehrtenjournals aufmerksam wurde. Verschiedentlich hebt Happel in den Relationes auf sein freundschaftliches Verhältnis zu Major ab. Dabei geht es vorrangig darum, sich mit der Autorität gewichtiger Namen zu schmücken. Für Happel ist der Kieler Polyhistor nicht allein der „[...] weitberühmte Medicus, und hocherfahrne Chymicus [...]“,65 sondern auch – wie schon Reyher – „[...] mein sonderbahrer Freund und Gönner [...]“.66 Ob diese Zuwendung mäzenatischer Natur war, muss offen bleiben. Major scheint aber mit Happel zumindest sporadisch noch lange nach dessen Kieler Zeit in Kontakt geblieben zu sein; offensichtlich scheint er den Erfolg der Relationes und somit auch Happels ,schiefen’ Werdegang nach dessen akademischem Scheitern respektiert zu haben. Denn um 1687 kam Major, soweit zu sehen, als einziger Gelehrter dem Aufruf von Wiering und Happel nach, Berichte über jede erdenklichen „Curiositäten“ nach Hamburg zu senden, um diese über die Relationes einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Insofern scheint Major auch bereit gewesen zu sein, die Mittlerfunktion Happels zwischen der Gelehrten- und Laienwelt zu befördern. Wie der Artikel „Die kleine Schrifft“67 zeigt, berichtete Major Happel von einem besonders bizarren Objekt, das für ein breiteres Publikum geradezu prädestiniert war. In assoziativer Überleitung von einer Artikel-Reihe über die erstaunlichen Fähigkeiten blinder ,Künstler’ kommt Happel auf Major zu sprechen: „Von den blinden kommen wir auff sothane Künstler / die mittelst ihrer gar zu scharff sehenden Augen ungemeine Kunststücke zu Wege gebracht haben / unter welchen exelliret die zu Constantinopel / weyland hochgeachtete Drachenhaut / auff welcher der gantze Homerus mit güldenen Buchstaben geschrieben 63
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Dazu umfassend: Parthier, Benno / Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): 350 Jahre Leopoldina: Anspruch und Wirklichkeit. Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 16522002, Halle 2002. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 2, S. 9. Majors Beitrag in den Miscellanea Curiosa hier zitiert als: „D.Joh.Dan.Major, 5. Ephemer.Curios.Ann.8.Observ.10.pag15“. Ebd. Ebd., Relation „Der Prozess dieses Kunst-Stückleins“, Nr. 4, S. 32. Ebd., Band 3.2, Relation „Die Lebhafftigkeit der Egyptier [...]“, Nr. 1, S. 7. Ebd., Band 4.2, Relation „Die kleine Schrifft“, Nr. 14, S. 105ff.
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stund. Ich entlehne die Beschreib- und Abhandlung dieses Stücks von meinem sehr wehrten Gönner und hochgeachteten Freunde / Tit. Hn.Joh. Daniel.Major.Medic.D. und P.Professore zu Kiel / der mir aus angebohrner Leutseeligkeit vor kurzer Zeit dieselbe hochgeneigt übersandt hat“.68
Auch auf seiner nächsten biographischen Station nahe des Gottorfer Hofes knüpfte Happel zu einem weiteren Mediziner Kontakt. Während er in Gotttorf selbst nicht mehr den von ihm zahllose Male zitierten (und verehrten) Adam Olearius treffen konnte – der Hofmathematiker, Kunstkämmerer und Reiseschriftsteller war 1671 gestorben –, erwähnt er in den Relationes mehrfach seine Freundschaft mit Joel Langelott (1617-1680), Leibarzt von Herzog Christian Albrecht. Langellott suchte wie Major früh die Öffentlichkeit der Gelehrtenjournale: Ein Brief, den er 1672 an die Academia Naturae Curiosorum in Schweinfurt sandte, wurde ein Jahr später in den Miscellanea Curiosa abgedruckt.69 Auf Langelott und seine Beiträge für die Miscellanea kommt Happel mehrmals im Verlaufe des Jahres 1682 zu sprechen. So berichtet Happel mit Langelot, „[...] welchem ich wegen der Gunst / so er mir in verschiedenen Occasionibus erwiesen / ein längeres Leben gewünschet hätte [...]“,70 etwa über die Beobachtung verschiedener Formen ‚unnatürlichen Schweißes’ – insofern zeigt sich, dass die Fülle an seltsamen empirischen Tatsachen, von denen die zeitgenössischen Gelehrtenjournale geradezu überquollen, den Relationes ein thematisches Vorbild bot; so etwa auch im Artikel über „Die merckwürdigsten Exempel derer / so unter dem Wasser lange Zeit geblieben / und lebendig wieder herfür kommen“,71 in dem Happel sich unter anderen Quellen auch auf einen Beitrag Langelotts für die Miscellanea Curiosa stützt. Auch der vierte und letzte gesicherte Kontakt bezieht sich auf die Angelpunkte Kiel und Gottorf und ist zugleich eines der seltenen Beispiele, in denen sich Happel nicht auf Gedrucktes als Quelle beruft, sondern auf die eigene Erfahrung, oder anders: auf das Hörensagen. Zu den ersten Professo68 69
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Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die kleine Schrifft“, Nr. 14, S. 105. Siehe dazu: Thorndike, Lynn: A History of Magic and Experimental Science, 8 Bände, New York 1923-58, hier Band 8, The Seventeenth Century, Reprint, Montana 2003, S. 370. Der Brief Langelotts wurde schon ein Jahr zuvor auch separat und in deutscher Übersetzung publiziert: Joel Langelotts / D. und des Regierenden Durchläuchtigen Hertzogen in Hollstein LeibMedici Sendschreiben an die Hochberühmte Naturae Curiosos: Von etlichen in der Chymie außgelassenen Stucken [...], Nürnberg 1672. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der seltsame Schweiß“, Nr. 36, S. 286; ähnlich auch in einem späteren Artikel: „[...] der numehr seelige Dr. Joel Langellot, vormahlen Fürstlicher Hollstein-Gottorfischer Leib-medicus (dessen Staub in dem Grabe ich verehre / wegen der sonderbahren Gunst und Freundschafft / so wir einige Jahre her gepflogen [...])“. Ebd., Relation „Den ohne Lufft lebenden Menschen“, Nr. 50, S. 397. Ebd. Langelott zitiert als: „Langelott Obs. 20, Misc.cur.German.Ann.6&7“.
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ren der Universität Kiel gehörte der „[...] berühmte und gelehrte StaatsMinister [...]“72 Magnus Wedderkop (1637-1721), der dritte akademische Lehrer Happels. Wedderkop war 1669 als Professor der Rechte berufen worden, bevor er ab 1676 an den Hof nach Gottorf wechselte, um dort politische Ämter zu bekleiden.73 Um 1688 kommt Happel in der Relation „Die Untersuchung dieser alten Gerichts-Probe“74 auf seine Bekanntschaft mit dem Kieler Professor zu sprechen. Gegenstand des Artikels ist das mittelalterliche Gottesurteil der Wasserprobe, an dessen Ende sich Happel auf eine Erzählung Wedderkops beruft: „[...] und ich kan wohl sagen / daß Herr Magnus Wedderkop, itzo Hoch-Fürstl. Holstein-Gottorffischer geheimbder Raht damahl / als er annoch Professor Juris zu Kiel war / mir zwey nachdenckliche Exempel erzehlet / denen er ohnweit Lübeck nicht lange vorher selber beygewohnet / da nemlich eine Zauberin nicht geschwummen / sondern ins Wasser gesuncken [...]“.75
Auch wenn sich über diese wenigen Fragmente hinaus keine weiteren Belege dafür finden, dass Happel mit der scientific community seiner Zeit biographisch ‚vernetzt’ war, deuten sie doch an, dass sein unkonventioneller Lebensweg und überraschender Erfolg in Hamburg von seinen ehemaligen Lehrern wohlwollend betrachtet wurde. Zudem mag Happel über seinen Besuch in der berühmten Kunstkammer in Gottorf, vor allem aber durch seinen Kontakt zu Major auf die populäre Sammlungsform der Kunstkammer aufmerksam geworden sein: Als Happel 1673 in Kiel studierte, beendete der begeisterte Naturforscher und Sammler Major gerade die Arbeit an seinen Unvorgreifflichen Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern insgemein (Kiel 1674), jener Schrift, mit der er zu einem der Wegbereiter der Museologie wurde;76 von Happel wird sie in den Relationes später ausgewertet.77 Wie viele andere Gelehrte der Zeit auch, verfügte Major über eine eigene Sammlung seltener Naturobjekte und medizinischer „Curiositäten“. Innovativ war Major zudem insofern, als er schon 1674 das Ende der Privatheit und die Öffnung – also auch Popularisierung – dieser Sammlungsorte „[...] zu jedermanns sowol Augen-als innerlicher philosophischer Herzenslust“78 einforderte. Er löste 72 73 74 75 76 77 78
Zedler: Universal-Lexicon, Band 53, 1747, Sp. 1783. Anonym: Artikel Wedderkopp, Magnus von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 41, Leipzig 1896, S. 387-390. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 18, S. 143f. Ebd., S. 144. Habrich, Christa: Zur Typologie medizinischer Sammlungen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo, S. 371-397. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die Neapolitanische Raritäten-Kammer“, Nr. 17, S. 135. Zitiert nach: Vieregg, Hildegard: Museumswissenschaften, Paderborn 2006, S. 72.
Publizistische Konzeption der Relationes Curiosae
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dieses Postulat in den 1680er Jahren auch selbst zuerst ein: Mit seinem Museum Cimbricum, einer naturgeschichtlichen Sammlung, schuf Major 1688 in Kiel das überhaupt erste, für eine weitere Öffentlichkeit zugängliche ,Museum’,79 um der „[...] Curiosität capabler Gemüther / [...] gar willig und gern / dasjenige / was am meisten besehens-würdig / vor Augen zustellen“.80 In dieser publikumswirksamen Öffnung der Kunstkammer liegt die Überleitung zum folgenden Kapitel: Es geht davon aus, dass Happel die Relationes Curiosae an das Modell des dominanten Sammlungstypus der Zeit anlehnte und einen vergleichbaren, nur imaginierten Ort der Neugier schuf – ein Bindeglied zwischen materieller und textueller Wissenskultur.
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Kirschner, Stefan: Ein Naturalienkabinett für die Öffentlichkeit: Johann Daniel Majors ‚Museum Cimbricum’ (1689), in: Wolfschmidt, Gudrun (Hrsg.): Popularisierung der Naturwissenschaften. Katalog der Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (vom 8. April bis 20. Mai 2000), Hamburg 2000, S. 32-39. Kurtzer Vorbericht / betreffende D. Johann-Daniel Majors / Der Medicin Professoris in Kiel / wie auch Hoch-Fürstl. Schleßwig-Holsteinischen Leib-Medici, Museum Cimbricum, oder insgemein sogenennte Kunst-Kammer / mit darzu-gehörigem Cimbrischen Conferenz-Saal, Ploen 1688, S. 3.
VI. Reale und virtuelle Sammlungsräume: Wissen zwischen Materialität und Textualität
„Jetzo fahre ich fort / unser curieuses Cabinet mit noch mehren Kostbarkeiten zu erfüllen und außzuzieren“. Happel: Relationes Curiosae, 1686
Als Happel mit den Relationes sein Konzept der Wissenspopularisierung aus der Taufe hob, zeigte sich der zeitgenössische enzyklopädische Sammeleifer nicht nur in textueller Hinsicht. Die Sammlung, Ordnung und Veranschaulichung von Wissen bildeten vielmehr auch zentrale Prozesse der materiellen Kultur in Form der Kunstkammern,1 in denen alle Merkwürdigkeiten („Curiositäten“ und „Raritäten“) aus den Bereichen der Natur und Kunst in einem wirkungsvoll inszenierten Raumgefüge vereint wurden. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Kunstkammern europaweit „[...] auf dem Gipfel ihrer Popularität angelangt“.2 Johann Daniel Major zählte schon in den 1670er Jahren allein im deutschen Raum weit mehr als hundert solcher meist privater Sammlungen.3 Parallel zu verwandten Entwicklungen in den Reiseberichten vollzog sich in den Kunstkammern eine klare Hinwendung zur äußeren, physischen Welt. Eine konkrete ,Weltaneignung’ konnte damit imaginär durch die Lektüre erfolgen und auch konkret visuell – und teils auch haptisch – in den „curiösen“ Objektwelten der Kunstkammern, die zu großen Teilen das versammelten, was der unmittelbaren Lebenswelt des Besitzers fremd war. Das vorliegende Kapitel betont die prinzipielle Nähe von Objekten und Texten in der ,Kultur der Neugier’ und wendet sich damit einem relativ vernachlässigten Phänomen in der Sammlungs- und Wissensgeschichte des 17. Jahrhunderts zu. Nach einer der jüngsten Publikationen zum Thema ist „[...] davon auszugehen, dass die konkreten Relationen zwischen Sammlungspra1
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Im Anschluss an Julius Schlosser (Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance, Leipzig 1908) hat sich in der Forschung der Terminus ‚Kunst’- bzw. ‚Wunderkammer’ durchgesetzt. Zeitgenössisch verbreitet waren jedoch vor allem die weitgehend synonymen Begriffe ‚Kunstkammer’, ‚Raritätenkammer’ oder ‚Raritätenkabinett’, so auch bei Happel. Im Folgenden wird nur von ,Kunstkammern’ gesprochen. Collet, Dominik: Die Welt in der Stube: Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Band 232), Göttingen 2007, S. 31. Ebd.
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xis und Literatur in der Frühen Neuzeit vielfältig waren. Bislang wurden sie wenig beachtet“.4 Dieses Desiderat wird im Folgenden am Beispiel der Relationes aufgenommen und die These entwickelt, dass Happel im ,Leitmedium’ der zeitgenössischen Kunstkammer ein adäquates Modell zur Wissenspopularisierung fand. Genauer: Periodikum und Kunstkammer waren implizit als analoge Repräsentationsformen des Wissens gedacht, es kam zur imaginären ,Wiederholung’5 der Sammlung im Text – in der ,Text-Kunstkammer’. Wenngleich es Happel nur andeutet, war die Kunstkammer als Leitbild des Wissens ausschlaggebend. Damit geht die Annahme auch hier von medialen Kontinuitäten aus: Das Periodikum versuchte sich über die Orientierung an einem etablierten Medium zu profilieren und sich in dieses förmlich ,einzuschreiben’, um so zugleich verständlich und populär zu werden. Die bereits betonte charakteristische Nähe von alten und neuen Medien (siehe Kapitel 2.4.) gilt daher auch für die ,mediale Affinität’ von Periodikum und Kunstkammer. Der gedankliche Sprung in vergleichbare Sammlungstypen, ob textlich oder materiell, war schnell vollzogen: Die spiegelbildlichen Verhältnisse mit Blick auf die Inhalte bzw. die Objekte des Wissens sind bereits bei einer flüchtigen Durchsicht der Relationes offensichtlich: Happel beschreibt all das, was im Einzelnen zum obligatorischen Bestand der materiellen Kunstkammern gehörte und die Neugier der Zeitgenossen bannte – so vielfältige, fremde und scheinbar unvereinbare Dinge wie Kokosnüsse, ,ethnographische’ Objekte, Krokodile, seltsame Versteinerungen, menschenoder tierähnliche Pflanzen, Missgeburten und sonstige Naturlaunen, vermeintliche Einhornhörner, Preziosen und verblüffende Kunstgegenstände, ein Kirschkern etwa, der tausend eingeritzte Gesichter zeigte und den hohen Stand menschlicher Handwerkskunst demonstrierte, aber auch revolutionär neue Instrumente wie das Teleskop oder Mikroskop und so fort. Über den oben erwähnten Band von Robert Felfe und Angelika Lozar hinaus wurden die Analogiebeziehungen von materiellem und textuellem Wissen bisher an verschiedenen Stellen kursorisch erwähnt;6 ausführlicher verfolgt hat sie jedoch nur Neil Kenny mit seiner These vom metaphorical collecting of curiosities. Für das 17. Jahrhundert geht Kenny von folgendem Be4 5
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Felfe, Robert: Einleitung, in: Ders. / Angelika Lozar (Hrsg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006, S. 8-28, hier S. 17. Siemer, Steffen: Die Erziehung des Auges. Überlegungen zur Darstellung und Erfahrung von Natur in naturhistorischen Sammlungen in der Frühen Neuzeit, in: www.kunsttexte.de, Nr.1, 2001, S. 1-10, hier S. 8; http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/download/bwt/siemer.pdf. Rudolf Schenda spricht von einer Verwandtschaft zwischen der ,Kuriositätenliteratur’ und den Kunst- und Wunderkammern auf dem „materiellen Sektor“. Schenda: Kuriositätenliteratur, S. 647; ähnlich Becker, Christoph: Vom Raritätenkabinett zur Sammlung als Institution. Sammeln und Ordnen im Zeitalter der Aufklärung, Hänsel-Hohenhausen 1996, S. 38; sowie: Ferraris: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen des 17. Jahrhundert.
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fund aus: „[...] when several material or discursive [also nur textuell vorhandene, F.S.] objects were described as ,curious’ oder ,curiosities’, it was stated or implied that they were fragments belonging to a literal or metaphorical collection“.7 Auch die Relationes Curiosae sind als metaphorische Sammlung aufzufassen, deren einzelne, diskontinuierlich und fragmentarisch organisierte Artikel als „discursive objects“ strukturell viel mit den Objekten der Kunstkammern gemeinsam haben. Happels Kompilieren war in diesem Kontext nichts anderes als die Teilhabe an der manischen Sammelleidenschaft der Zeit und glich einem endlosen Zusammentragen von Textausschnitten als „Curiositäten“. Kenny hat in früheren Arbeiten die Relationes zwar beiläufig erwähnt,8 das Desiderat für die semantischen Bezüge von Sammlungswesen und Literatur gilt jedoch gerade weiter für populäre Zusammenhänge. Die Geschichte des Sammelns in der Frühen Neuzeit wurde und wird weiter vor allem als elitäres Phänomen untersucht, an einer Perspektive ,von unten’ mangelt es. Der Vergleich von Kunstkammer und Happels Text-Kunstkammer wird in mehreren Schritten entwickelt: Nach einer Bestimmung des Sammlungstypus umreißt ein erster Schritt die anwachsende Popularität und kulturelle ,Reichweite’ der Kunstkammer im 17. Jahrhundert (Punkt 6.1.). Dieser Prozess bildet die weitere Voraussetzung für Happels virtuellen Sammlungsraum: Gelöst von ihrem elitären Ursprungskontext und ihrer rein materiellen Verfasstheit, ging die Kunstkammer über in einen weiteren Mediendiskurs von Bild und Text. Damit potenzierte und multiplizierte sich auch die (ehemals exklusive) Öffentlichkeit ihres Wissens. Für die Verwandtschaft von Text- und Dingwelten ist außerdem relevant, dass sich die Nähe vom Wissensspeicher der Bibliothek zu dem der Kunstkammer zeitgenössisch schon konkret räumlich realisierte – durch eine Integration von Buch- und Sammlungsraum, die auch an Happels Hamburger Arbeitsort gegeben war (Punkt 6.2.). Der letzte Schritt (Punkt 6.3.) geht in einigen Schlaglichtern der Frage nach, ob sich Texte vor und nach den Relationes als metaphorische Sammlungen ausgaben und entwickelt auf drei Ebenen den Medienvergleich von Kunst- und Text-Kunstkammer.
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Kenny, Neil: The metaphorical collecting of curiosities in early modern France and Germany, in: Evans / Marr (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 43-63. Ders.: Curiosity in Early Modern Europe, S. 131f.
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6.1. „Die Wunderbare Kunst-Kammer“: Ausgreifen von Wissensform und Wissensraum Die Erforschung der frühneuzeitlichen Kunstkammer boomt seit geraumer Zeit, und das nicht mehr nur in der Kunst- und Sammlungsgeschichte, sondern jüngst auch in der Wissens-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte.9 Die historischen Aspekte des Themas sind ausgezeichnet erschlossen und werden hier nur in Umrissen abgehandelt. Was zunächst alle Sammlungen – die, ähnlich der enzyklopädischen Literatur der Zeit auch als Museen, Thesauri oder Schatzkammern betitelt waren10 – zusammenhielt, war ihr Prinzip konsequenter sinnlicher und hier vor allem visueller Überwältigung. Im Mittelpunkt stand, ähnlich zur Buntschriftstellerei und den Relationes, eine Ästhetik der Abwechslung, erzeugt durch die geschlossene Präsentation möglichst singulärer Exponate im gleichen Raum. Zwei zentrale Impulse für den sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts durchsetzenden Sammlungstypus waren die Entdeckung des Seewegs nach Indien und die Entdeckung der Neuen Welt: Mit den Schiffen schwappten Massen an bis dahin unbekannten Pflanzen, Tieren und sonstigen Objekten in die europäischen Häfen, für die die antike und zeitgenössische Naturgeschichte keine Erklärungen bereit hielt und die vor allem eines teilten – den Charakter des Wunderbaren,11 also des zunächst Unerklärlichen, des Seltenen („Raritäten“) und des Künstlichen; ,künstlich’ im Sinne einer kunstvoll gestaltenden Natur, wie sie sich etwa in raffinierten Muschelformen ferner Weltgegenden zeigte. Derart als ,Kunstwerke’ und Wunder der Natur geadelt, wanderten exotische Tiere und Pflanzen als Präparate in die Kunstkammern ein, 9
10 11
Die Literatur zum Thema ist mittlerweile uferlos. Genannt seien exemplarisch: Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2000; Bujok, Elke: Neue Welten in europäischen Sammlungen. Africana und Americana in Kunstkammern bis 1670, Berlin 2004; Collet: Die Welt in der Stube; Daston / Park: Wunder; Felfe / Lozar (Hrsg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur; Ders.: Die Kunstkammer und ihre Aktualität. Museale Inszenierung von Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit, in: Toellner (Hrsg.): Die Gründung der Leopoldina, S. 215-243; Findlen, Paula: The Museum: Its Classical Etymology and Renaissance Genealogy, in: The Journal of the History of Collections, 1, 1989, S. 59-78; Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo; Impey, Oliver / MacGregor, Arthur (Hrsg.): The Origins of Museums: The Cabinet of Curiosities in Sixteenth and Seventeenth Century Europe, Oxford 1985; Lugli, Adalgisa: Naturalia et Mirabilia. Il collezionismo enciclopedico nelle Wunderkammern d’Europa, Milano 1983; Minges: Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit; Schleicher, Elisabeth: Die Kunst- und Wunderkammern der Habsburger, Wien 1979; Yaha, Isabel: Wonders of America. The curiosity cabinet as a site of representation and knowledge, in: Journal of the History of Collections, 20, No. 2, 2008, S. 173-188. Daston / Park: Wunder, S. 312. Siehe hierzu vor allem: Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1998.
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wo sie die (geographische) Erweiterung des Weltbildes im Kleinen sinnfällig machten. Vorbehalte gegenüber der Neugier, wie sie in anderen Kontexten noch zu beobachten waren (siehe Kapitel 3.1.), spielten in diesen zu guten Teilen ,weltlichen’ Räumen des Wissens kaum mehr eine Rolle. Erstaunliches aus Flora und Fauna wurde der Kategorie der ,naturalia’ zugeschrieben; allerdings galt das nicht nur für exotische Naturobjekte, sondern auch für die heimischen Naturseltsamkeiten Europas. Damit ist bereits das charakteristische Profil dieses Sammlungstypus angedeutet: den ,Museen’ des 17. Jahrhunderts ging es, wie oben erwähnt, weniger um eine Erfassung der natürlichen Welt in ihren gewöhnlichen und regulären Erscheinungen, sondern vor allem um das Ausgefallene und ,irgendwie’ Wunderbare. Grob lassen sich zwei Typen und mit diesen auch die sozialgeschichtlichen Kontexte der Sammlungen und die Motive der Sammler unterscheiden. Gesammelt wurde nur in jenen Schichten, die monetär dazu in der Lage waren. Ärzte und Mediziner, so etwa der genannte Ferrante Imperato, vertraten den ersten Typus der reinen Naturaliensammlung. 1599 publizierte Imperato seine Naturgeschichte Dell’Historia Naturale.12 Das Werk begründete Imperatos Ruf als hervorragender Naturaliensammler, der bis ins späte 17. Jahrhundert ungebrochen war – auch Happel exzerpiert den Text für die Relationes ausgiebig. Noch einmal sei hier die Einleitung aus dem Artikel „Die Kunst-Kammer Ferrandis Imperati“13 zitiert: „Unter Privat-Persohnen aber zu Neapolis hat es keiner an Curieusität und glücklichem Fleiß / allerhand schöne Natural-Raritäten in eine Behauptung zu bringen / dem Ferrandes Imperatus zuvor oder nach gethan [...]“.14 Naturalienkammern wie die Imperatos waren meist kleineren Zuschnitts und hatten weniger eine repräsentative als konkret wissenschaftliche Bestimmung: Sie dienten dem Studium der natürlichen Welt, was zugleich einen sukzessiven Prämissenwandel in der Naturphilosophie bedeutete – der Schwerpunkt verschob sich vom traditionellen Buchwissen zum empirischen Objektwissen.15 Wie erwähnt, wurden jedoch nicht nur ,naturalia’ gesammelt, sondern auch Kunstdinge. Sie formten die Kategorie der ,artificialia’ und verweisen auf die zweite Hauptsammlungslinie der Kunstkammern. Sie war zunächst vor allem fürstlicher Provenienz und präsentierte Kunst- und Naturdinge 12
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Imperato, Ferrante: Dell’historia naturale di Ferrante Imperato napolitano Libri XXVIII. [...], Neapel 1599; von Happel referenziert etwa in der Relation „Das rare Präsent“: „Francisc.Imperat. in Discurs.nat 2. Pag.16“. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 85, S. 678. Ebd., Nr. 17, S. 136. Ebd. Findlen, Paula: Anatomy Theaters, Botanical Gardens, and Natural History Collections, in: Daston / Park (Hrsg.): The Cambridge Historiy of Science, Vol. 3, S. 272-290, hier S. 286.
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vereint, wobei je nach geschmacklicher Präferenz entweder ,naturalia’ oder ,artificialia’ überwogen. Auf der Grundlage der Unvorgreifflichen Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern Majors – gleichwohl unter Unterschlagung der Quelle – wird dieser Typus von Happel im Artikel „Die Wunderbare KunstKammer“16 angesprochen: „Grosse Potentaten / auch offtmahlen geringe Leuthe / wann sie wohl bey Mitteln / und Lusten dazu haben / legen grosse Summen Geldes auff schöne Raritäten / herrliche Kostbahrkeiten / curieuse Antiquitäten und dergleichen [...]“.17 Hier ist angedeutet, dass den fürstlichen Kunstkammern andere Motiven zugrunde lagen als den reinen Naturaliensammlungen, teilweise schon deswegen, weil ,bürgerlichen’ Sammlern häufig schlicht das Kapital für teure Kunstpreziosen fehlte.18 Die fürstlichen Sammlungen boten hingegen einen Schauplatz demonstrativer Prunkentfaltung: Je seltener und wertvoller die präsentierten artifiziellen und natürlichen Wunder, desto leichter ließen sich Rückschlüsse auf den (ökonomischen) Machtanspruch ihres Besitzers ziehen. Über den typischen, reichen Bestand fürstlicher Sammlungen gibt die Definition in Zedlers Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert ein anschauliches Bild: „Kunst-Kammer / Lat. Museum, Frantz. Cabinet, ist ein zusammengebrachter und wohlgeordneter Vorrath von allerhand Seltenheiten der Kunst [...] und anderer dergleichen Arbeit / wobei gemeiniglich auch die Seltenheiten der Natur gefüget werden / dergleichen in Fürstlichen Hof Lagern / bey grossen Städten / hohen Schulen / auch wohl privat-Häusern hin und wieder angetroffen / und von Durchreisenden mit Lust besuchet werden“.19
In der Feststellung vom „wohlgeordnete[m] Vorrath“ klingt an, dass die Kunstkammern den enzyklopädischen Tendenzen der Epoche insofern entsprachen, als auch sie idealiter um eine systematische Ordnung bemüht waren;20 das tatsächlich umgesetzte Arrangement der Dinge konnte von diesen Ansprüchen jedoch gravierend abweichen und der ,bunten’ Wissensdisposition in den Relationes wiederum ähneln (siehe Punkt 6.3.3.). Die Bemerkung, dass viele Kunstkammern noch im 18. Jahrhundert „[...] von Durchreisenden mit Lust besuchet werden“, spielt zudem darauf an, 16
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 15, S. 117. Bei Major lautet die originale Passage: „[...] daß auch mittel- und niedrigere Stände [...] sonderlich itziger Zeit / sich nicht mässigen können / einen Versuch zu thun / allerhand [...] Kunst-Antiquitäten-Schatz- und fürnehmlich Naturalien-Kammern [...], gleich wie zu eigener Belustigung / also zu anderer Ergötz- und nützlicher Beschauung aufzurichten“. Major: Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern, Bl. B1v. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 15, S. 117. Daston / Park: Wunder, S. 315. Zedler: Universal-Lexicon, Band 15, Leipzig 1737, Sp. 2143-2144, hier Sp. 2143f. Collet: Die Welt in der Stube, S. 32.
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dass die Begeisterung für die Sammlungen noch einmal zugenommen hatte. Spätestens jetzt waren die Kunstkammern zu „[...] Knoten in einem dichten Netzwerk aus Kommerz, Korrespondenz und Tourismus“21 geworden – so entwarf die ars apodemica, die reisetheoretische Literatur der Zeit, elaborierte Anleitungen zum ,rechten’ Besuch der europäischen Kunstkammern.22 Diese waren allerdings schon im 17. Jahrhundert von ihrem elitären Ursprungskontext in die ,soziale Peripherie’ vorgedrungen – gestützt auf Major hatte Happel erwähnt, dass sich auch „[...] offtmahlen geringe Leute [...]“ in einer Strategie der ,Selbstnobilitierung’ dem Sammeln zuwandten und in die allgemeine „Curiositäten“-Begeisterung einstimmten. Auf das bald blühende Geschäft mit wundersamen Dingen jeglichen Ursprungs wurde zur Jahrhundertmitte bereits auf der Straße reagiert: Als sich der englische Schriftsteller John Evelyn (1620-1706) im Jahr 1644 in Paris aufhielt, stieß er auf einen Laden, der „[...] all curiosities, natural or artificial, Indian or European, for luxury use or, as cabinets, shells, ivory, porselan, [...] and thousand exotic extravagances [...]“23 zum Verkauf anbot. Schon zuvor hatte sich in Augsburg der Patrizier und Sammler Philipp Hainhofer (1578-1647) auf die steigende Nachfrage nach typischen Kunstkammer-Exponaten spezialisiert. So entwarf und vertrieb er beispielsweise kostbare Kunstschränke,24 in denen Kunst- und Naturformen spielerisch konkurrierten und kaum mehr zu trennen waren. In nuce boten diesen Möbel ein „Konzentrat“25 der frühneuzeitlichen Kunstkammer. Die Kunstschränke belegen nicht nur die Ausdifferenzierung des Sammlungstypus, sondern auch, dass sich die Kunstkammer sukzessiv von ihrer originär räumlichen Form löste und sich in anderen Medien ,multiplizierte’. Erst dieser Prozess schuf die Voraussetzungen für die Entfaltung einer erweiterten kulturellen Präsenz des Kunstkammer-Modells. So entwickelte sich im 17. Jahrhundert das Genre des Kabinettbildes, das die Kunst- oder Kabinettschränke auf die Leinwand brachte und den entstehungsbedingten Zusammenhang von Sammelbild und Sammelraum verdeutlicht.26 Von den Niederlanden, genauer: vom prosperierenden Antwerpen ging zudem nicht 21 22 23
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Daston / Park: Wunder, S. 312. Stagl: Eine Geschichte der Neugier, S. 104. Zitiert nach Findlen, Paula: Inventing Nature. Commerce, Art and Science in the Early Modern Cabinet of Curiosities, in: Dies. / Smith, Pamela (Hrsg.): Merchants and Marvels: Commerce, Science, and Art in Early Modern Europe, New York 2002, S. 297-324, hier S. 299. Hierzu etwa: Boström, Hans-Olof: Philip Hainhofer and Gustavus Adolfus’s Kunstschrank, in: Preziosi, Donald / Farago, Claire (Hrsg.): Grasping the World. The Idea of the Museum, Ashgate 2004, S. 537-559. Daston / Park: Wunder, S. 304. Ganz, Ulrike: Neugier und Sammelbild. Rezeptionsästhetische Studien zu gemalten Sammlungen in der niederländischen Malerei ca. 1550-1650, Weimar 2006.
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nur die Herstellung von Kunstschränken aus,27 sondern auch der genuine Bildtypus der gemalten Kunstkammer. Vor allem die Gemälde Jan van Kessels (1626-1679) stehen für die Ikonographie dieses Sammelbildes. Im Kontext von Bild und Abbild und der Überlagerung verschiedener Medien kam hinzu, dass ein Großteil der fürstlichen Kunstkammern auch über Sammlungen von Gemälden verfügte; auf diesen waren nicht nur gemalte Kunstkammern zu sehen. Vielmehr gehörten auch Bilder „curiöser“ medizinischer Vorfälle zum Inventar, in der Kunstkammer von Erzherzog Ferdinand II. auf Schloss Ambras etwa das Portrait (Abb. 10) von Gregor Baci, ein ,ungarischer Edelmann’ aus dem 16. Jahrhundert, der eine ihm ins Auge gestoßene Turnierlanze überlebt haben soll. Ob das Kunstkammer-Gemälde als Vorlage für die Reproduktion im weiteren Mediendiskurs der Zeit diente, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten – jedenfalls war das sensationelle Motiv noch im 17. Jahrhundert geläufig und findet sich als einfacher Nachschnitt (Abb. 11) um 1682 auch im Artikel „Die glück- und löbliche Cur“28 der Relationes.29 Daneben kam es auch textuell zu einem ,Ausgreifen’ der Kunstkammer; zunächst dadurch, dass schon seit den 1580er Jahren Kataloge, Inventare und Kunstkammerbeschreibungen in zunehmender Dichte in Druck gegeben wurden.30 Happel wertet für die Relationes etwa die bereits erwähnte Beschreibung der Dresdner Kunstkammer von Anton Weck aus. Die minutiöse Schilderung der einzelnen Sammlungsräume kopiert er weitgehend wortwörtlich von der Vorlage, dennoch verschweigt er auch hier die Quelle.31 Der Rückgriff auf eine zweite Kunstkammerbeschreibung dürfte biographische Gründe gehabt haben: 1666 veröffentlichte Adam Olearius seine Beschreibung der Gottorffischen Kunst-Kammer.32 Auch sie verwertet Happel für die Relationes;33 er kannte die Schleswiger Kunstkammer jedoch wahrschein27
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Schütz, Karl: Europa und die vier Erdteile bei Jan van Kessel, in: Bußmann, Klaus (Hrsg.): ,Europa’ im 17. Jahrhundert: Ein politischer Mythos und seine Bilder, Stuttgart 2004, S. 298-302, hier S. 292. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 36, S. 281. Allerdings aktualisiert Happel mit seiner Quelle – den Miscellanea Curiosa – den narrativen Rahmen: Bei ihm handelt es sich um den „[...] tapffern und gelahrten Ungarischen Capitain / Marcum Baskay [...]“ der ‚Türkenkriege’. Ebd. Inventare sind zu finden bei: Balsinger, Barbara Jeanne: The Kunst- und Wunderkammern. A catalogue raisonné of collecting in Germany, France and England 1565-1750, Pittsburgh 1970. In Wecks Beschreibung heißt es etwa: „Im Ersten Haupt-Zimmer der Kunst-Cammer nun findet man allerhand Goldschmidts: Uhr: Büchsenmachers: Schlößers: Tischlers / Bildhauers: und Drechslers Werckzeuge / [...] und viel andere Instrumente [...]“. Weck: Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitberuffenen Residentz- und Haupt-Vestung, S. 34. Olearius, Adam: Gottorffische Kunst-Cammer [...], Schleswig 1666. So in der Relation „Die Neapolitanische Raritäten-Kammer“. Happel: Relationes Curiosae,
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lich auch aus eigener Anschauung (siehe Punkt 6.2.). Die Publikation von Kunstkammerinventaren hatte vor allem zwei Funktionen: Zum einen brachten sie für den Sammler eine nicht unwesentliche Erhöhung des ,symbolischen Kapitals’ in dem Sinne, dass die Beschreibungen und Kataloge mit dem Umfang der Sammlung implizit auch die Bedeutung ihres Besitzers illustrierten. Zum anderen verschaffte eine erhöhte Publizität der Kunstkammer auch jenen zumindest einen imaginären Zugang, die weder die Mittel noch Zeit hatten, die exklusiven Sammlungen selbst zu besuchen.34 Ein Betrachten der Gottorfer Sammlungsobjekte war im gedruckten ,Ersatz’ zudem auch möglich, weil Olearius’ Text über eine reichhaltige Illustration verfügt. So findet sich etwa der Kupferstich eines für nahezu alle größeren Kunstkammern verpflichtenden „Crocodilus“.35 Hier leisteten die gedruckten Pendants also eine Spiegelung oder ,Übersetzung’ der Sammlung in ein anderes Medium. Ein einleitender Passus aus der Beschreibung von Olearius ist für die Überlappung von Materialität und Textualität der Kunstkammer besonders aufschlussreich. Olearius reflektiert hier ausdrücklich über die Ersatzleistung des Textes und indirekt über die Popularisierung der Kunstkammer in Text und Bild. Auch spricht er das Prinzip der varietas delectat an (siehe Kapitel 4.3.1.), das die Kunstkammer mit der Buntschriftstellerei und den Relationes als zentrale Medienfunktion teilte: „Gleich wie es nun denen / so solche Kunst-Kammern besuchen / sonderliche Lust giebet / in dem sie gleichsam in einem wohl angerichteten Lust- und Baumgarten von einer Blume / Gewächsen und Früchten zu den andern gehen / und ihre Augen weiden können; also ist auch denen / so das Glück nicht haben dahin zu gelangen / keine geringe Ergetzung / wenn sie die frembden Sachen mit Figuren abgezeichnet sehen und beschrieben lesen können. Sonderlich ist es eine angenehme Sache für die / so ihr durch wichtige Geschäffte bemühetes Gemüthe mit etwas Frembdes zu lesen ergetzen wollen / oder diejenige / so ihre langwierige müssige Zeit zu vertreiben nicht wissen. Dann da ist die Vielheit und Abwechselunge der frembde und ungemeine Sachen / daß man immer von einem auff das ander kommen kann. Und weil es dann heisset: Varietas delectat, in der Veränderung ist Belustigung / kan es ohne Ergetzung nicht abgehen“.36
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Band 3.2, Nr. 17, S. 136. Gleichwohl hat Michaela Völkel jüngst gezeigt, dass der Grad der Öffentlichkeit fürstlicher Kunstsammlungen (und damit auch von Bibliothek und Kunstkammer) in der Frühen Neuzeit weit höher war als lange angenommen. So fand auch nicht-adeliges Publikum mit bereits rein ,touristischen’ Intentionen häufig Einlass in die eigentlich exklusiven Sammlungsräume. Völkel, Michaela: Schloßbesichtigungen in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zu der Frage nach der Öffentlichkeit höfischer Repräsentation, München 2007. Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer, S. 6. Ebd., Vorrede, Bl. 5r.
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Neben Kunstkammerbeschreibungen trug auch die explosiv anwachsende und von Happel intensiv rezipierte Gattung der Reiseberichte dazu bei, dass die Welt der materiellen Sammlungen weitere Kreise zog. Viele Reisetagebücher der Frühen Neuzeit zeugen von einem regelrechten ,KunstkammerTourismus’,37 während die apodemische Literatur die Lektüre von Sammlungsbeschreibungen als adäquate Vorbereitung für den eigentlichen Besuch nahe legte. Happel stützt sich in seinem Artikel über die „Florentinische Raritäten-Kammer“38 etwa auf die 1673 ins Deutsche übersetzte Reisebeschreibung des Engländers Richard Lassel39 (1603-1668). In den Reiseberichten übersetzte sich die Praxis des Sammelns in eine analoge Form der Textarbeit: Wie der Sammler der Zeit „Curiositäten“ anhäufte, sammelte der Reisende Eindrücke (nicht nur) aus den Kabinetten und hielt sie als ,narrative Fragmente’ in textlicher Form fest. Auch ohne Bildeinsatz wiederholte sich die Sammlung so in der ,erzählten Kunstkammer’. Nicht zuletzt wurde die Popularität der Kunstkammer auch dadurch gefördert, dass auf dem europäischen Druckmarkt des 17. Jahrhunderts insgesamt die Tendenz zu beobachten war, „curiöses“ Wissen explizit oder implizit als metaphorische Sammlung darzubieten.40 Unterstützt wurde diese Entwicklung schon durch die ausgeprägte Titelmode (siehe Kapitel 4.3.) der Theatrum-Literatur. Zwischen 1500 und 1800 schmückten sich hunderte Theatrum-, Schauplatz- und Schaubühnen-Werke mit räumlichen Titelmetaphern und trugen wesentlich zur stark visuellen Konnotation frühneuzeitlicher Wissenskultur bei. Die Nähe von materieller und textueller Wissensorganisation zeigt sich hier zudem darin, dass einige Kunstkammern als „Theatrum Naturae et Artis“41 die gleichen Titel trugen wie enzyklopädische Bücher. Selbst wenn auf eine explizit räumliche Titelmetapher verzichtet wurde, lag, wie eingangs mit Kenny gezeigt, die Assoziation des metaphorischen Sam37 38 39
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Daston / Park: Wunder, S. 313. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 16, S. 123. Lassel, Richard: Außführliche Reyse-Beschreibung Durch Italien: Worin gar artig und ordentlich beschrieben wird die Natur der Einwohner / die Städte / Kirchen / Palläste / Klöster [...], Frankfurt 1673; in den Relationes lediglich ungenau zitiert als: „Richard Lassel: Italienische Reisebeschreibung“. Ebd. Siehe hierzu vor allem Kenny: The metaphorical collecting of curiosities. Leibniz nutzte diese Formel 1713 bei seinem Vorschlag für die Ausstattungen der Sammlungen der Wiener Akademie der Wissenschaften. Entlehnt hatte er den Titel beim Erfinder Johann Joachim Becher (1635-1682), der bereits im Jahre 1669 seine Kunstkammer als „Theatrum Naturae et Artis“ bezeichnet hatte; siehe: Bredekamp, Horst: Leibniz’ ideale Akademie, in: Voßkamp, Wilhelm (Hrsg.): Ideale Akademie. Vergangene Zukunft oder konkrete Utopie?, Berlin 2002, S. 159-165, hier S. 162. Auch Happel berichtet von dem „[...] Weltbekante[n] / nunmehro aber schon vor 5 Jahren verstorbene[n] D. Joh. Joachim Becher [...]“ und seinen berühmten ,Inventiones’. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die nützliche Erfindung“, Nr. 74, S. 591.
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melns erlesener ,diskursiver Objekte’ nahe – nach den Relationes zeigt sich das auch im Titel eines weiteren Periodikums, den Monathlichen Unterredungen, die Tentzel Allen Liebhabern der Curiositäten Zur Ergetzlichkeit und Nachsinnen heraus gab. Dass sich Texte als imaginäre Kunstkammern durch eine explizit metaphorische Verwendung des Kunstkammer-Titels auszeichneten, war hingegen weniger häufig,42 jedoch schon ein relativ frühes Phänomen der 1620er Jahre, etwa in einer Geheimen Kunstkammer43 (1628) und einer Mechanischen Kunst-Kammer44 (1629). Inhaltlich konvergieren beide Titel nur teils mit den materiellen Sammlungen, da vor allem mechanische Instrumente und keine Naturalien im Text repräsentiert wurden. Soweit zu sehen, wurde das volle Inhaltsspektrum der Kunstkammer erst zu Anfang des 18. Jahrhunderts in einem in Hamburg publizierten Text aufgegriffen, der sich ausdrücklich als imaginäres Sammlungspendant begriff: Leonhard Christoph Sturms (16691719) Geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer45 war als didaktische Instruktion vor allem für jüngere Leser konzipiert und schrieb die ältere Kunstkammer-Literatur fort, da sich Sturm vor allem auf die Werke von Olearius und Major stützte;46 aber auch die Relationes werden zum einschlägigen Quellenbestand gezählt.47 Während bei Sturm die potenzierte Öffentlichkeit der Kunstkammer im Titel zwar angelegt ist, im Text selbst aber nicht weiter reflektiert wird, macht das ebenfalls 1704 veröffentlichte Museum Museorum48 42
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Das VD17 führt mehrere Hundert ,Kammer’- oder ,Cammer’-Titel. Dagegen finden sich nur rund vierzig ,Kunstkammer’-Titel, von denen zudem viele eine nicht-metaphorische Bedeutung transportieren, da sie sich auf zeitgenössisch real existierende Sammlungen beziehen. Faulhaber, Johann: Geheime Kunstkammer: Darinen hundert allerhand Kriegs Stratagemata, auch andere Unerhörte Secreta, und Machinae mirabiles zusehen [...], Ulm 1628. Del Monte, Guidubaldo: Mechanischer Kunst-Kammer Erster Theil [...]: Darin der wahre unfehlbare Grund aller Kunstlicher und Sinreicher Machination begrieffen [...], Frankfurt 1629. Sturm, Leonhard Christoph: Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, worinnen der galanten Jugend [...] gewiesen wird, wie sie Galerien, Kunst- und Raritäten-Kammern besehen [...] sollen: Wobey eine Anleitung, wie ein [...] Raritäten-Hauss anzuordnen [...] sey, [...], Hamburg 1704 / 1707. Das Werk erschien als dritter und letzter Teil des Geöffneten Ritter-Platzes [...], Hamburg 1702ff. Sturms Text ist durchzogen von unmarkierten Zitaten und Versatzstücken aus den Werken von Olearius und Major. So spricht Olearius etwa davon, dass „[...] Alexander Magnus dem Aristoteles 800. Talenta [...] gegeben / umb nur die Naturen der Thiere zu erforschen [...]“. Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer, Vorrede, Bl. 4r. Bei Sturm heißt es: „Der grosse Alexander [...] / hat dem Aristoteles acht hundert Talent zum Recompens gegeben [...]“. Sturm: Geöffneter-Ritter-Platz, Vorbericht, Bl. 2v. Happel zitiert als „Bücher / Aus denen der Auctor seine Notiz bekommen: Happelii Curiositäten, Hamb. 4To 1686“. Sturm: Die geöffnete Raritäten- und Naturalienkammer, S. 167. Valentini, Bernhard Michael: Museum Museorum, oder vollständige Schaubühne aller Materialien und Specereyen nebst deren natürlichen Beschreibung [...], Frankfurt 1704.
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des Naturforschers und Medizinprofessors Michael Valentini (1657-1714) die Popularisierung der ,papiernen Kunstkammern’ programmatisch. So sei er, Valentini, „[...] einstmalen auff die Gedancken gerathen / daß man die gemeinen Besten keinen geringen Dienst und Vorschub thun würde / wann sich jemand unter den Eruditiis die Mühe nehmen wollte / und eine vollständige / auch in der Natur wohl gegründete Material-Kammer in öffentlichem Druck heraus geben liesse“.49
Ein Jahr nach Sturms Geöffneter Raritäten- und Naturalien-Kammer erschien ebenfalls in Hamburg ein Neu-eröffnetes Raritäten-Cabinet / Ost-West-Indianischer und ausländischer Sachen.50 Abgesehen von der offensichtlichen Titelreferenz an Sturm beruft sich auch dieses Werk auf die Relationes als Quelle51 und folgt ihnen vor allem in der Vielzahl imaginärer Begegnungen mit Außereuropa (siehe Kapitel 7.1.). Diese Skizze zur medialen Multiplikation der Kunstkammer zeigt, dass sich der prominente Sammlungsraum von seiner rein materiellen Provenienz durch Popularisierung in Text und Bild löste und dass die Relationes für diesen Prozess von späteren imaginären Sammlungsräumen als Referenz erfasst wurden. Als Impuls für Happels eigene Text-Kunstkammer wird überdies das lokale Gefüge von Bibliothek und Sammlung ausschlaggebend gewesen sein.
6.2. Die Integration von Kunst- und „Buchkammer“ Die fließenden Grenzen zwischen Objekt- und Textwelten des Sammelns lassen sich auch auf einer konkret räumlichen Ebene beobachten. So stehen Jörg-Ulrich Fechner zufolge die meisten Bibliotheken des 17. Jahrhunderts „[...] in begründetem Verdacht, zugleich auch Kunstkammern gewesen zu sein“.52 Da dies auch für Happels Arbeitsort in der Bibliothek des Hamburger Johanneums zutraf und die Relationes damit der spezifischen Atmosphäre einer Kunstkammer entstammen, sei der Einheit von Bibliothek und Sammlung an dieser Stelle kurz nachgegangen. 49 50 51 52
Zitiert nach Becker: Vom Raritätenkabinett zur Sammlung als Institution, S. 40. Kimayer, Thomas: Neu-eröffnetes Raritäten-Cabinet ost-westindianischer und ausländischer Sachen: darinnen allerhand rare Denck- u. seltsahme Merckwürdigkeiten, [...], Hamburg 1705f. Siehe dazu: Böning: Hamburg als Vorreiter in der deutschen Pressegeschichte, S. 134. Fechner, Jörg-Ulrich: Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. und 18. Jahrhundert, dargestellt an Hand zeitgenössischer Berichte, in: Raabe, Paul (Hrsg.): Öffentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert: Raritätenkammern, Forschungsinstrumente oder Bildungsstätten?, Bremen 1977, S. 11-31, hier S. 25.
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Schon im Studier- und Arbeitszimmer des 16. Jahrhunderts, dem studiolo, umgab sich der Gelehrte nicht mehr nur mit Büchern, sondern auch mit Objekten und wissenschaftlichen Instrumenten.53 Zeitgleich forderte die entstehende sammlungstheoretische Literatur eine Einheit von Kunstkammer und Bibliothek – Samuel Quiccheberg (1529-1567), der mit seinen Inscriptiones vel Tituli theatri amplissimi (1565) einen der ersten KunstkammerTraktate veröffentlichte,54 ging davon aus, dass nur durch die wechselseitige Kontextualisierung von Texten und Objekten eine angemessene epistemologische Funktion der Sammlung möglich sei.55 Die inhaltliche Kongruenz sollte, so Quiccheberg weiter, auch durch die Ausrichtung der Ordnung der Bibliothek an jener der Kunstkammer gestützt werden.56 Vergleichbare Postulate finden sich auch in den ersten bibliothekswissenschaftlichen Abhandlungen: 1627 publizierte der französische Arzt Gabriel Naudé (1600-1653) seine Advis pour dresser une bibliothèque.57 Hier heißt es über das geforderte Miteinander von Büchern, Instrumenten und typischen KunstkammerObjekten: „Die Bücher werden nicht mehr, wie nach alter Sitte, auf Lesepulte gestellt, sondern in Regale, welche alle Mauern vor der Sicht verbergen. Und statt jener Vergoldungen & Verzierungen können deren Stelle mathematische Instrumente, Globen, Weltkarten, Himmelskugeln, Gemälde, Tiere, Steine & andere Merkwürdigkeiten aus den Reichen der Kunst & der Natur einnehmen [...]“.58
Faktisch umgesetzt wurde diese konzeptionelle Prämisse in vielen Bibliotheken; so zeigte sich auch auf Schloss Gottorf, dessen Bibliothek Happel 53
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Dazu: Liebenwein, Wolfgang: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977. Für das objekt-orientierte Interieur des Studienraums im 16. Jahrhundert ist wohl die Darstellung des Kosmographen in Jan van der Straets bedeutender Kupferstichserie Nova Reperta (1584) das berühmteste Beispiel: Der Weltbeschreiber stützt sich nicht auf Bücher, sondern arbeitet mit einem Zirkel und ist umgeben von symbolträchtigen Instrumenten empirischer Forschung – dem Globus und dem Astrolabium. Dazu: Roth, Harriet: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland: Das Traktat „Inscriptiones vel tituli theatri amplissmi“ von Samuel Quiccheberg, Berlin 2000. Die Wirkungsgeschichte von Quicchebergs Traktat ist bis allerdings heute umstritten; siehe hierzu: Brakensiek, Stephan: Samuel Quicchelberg: Gründungsvater oder Einzeltäter? Zur Intention der „Inscriptiones vel Tituli Theatri amplissimi“ (1565) und ihrer Rezeption im Sammlungswesen Europas zwischen 1550 und 1820, in: Schock / Koller / Bauer und metaphorik.de (Hrsg.): Dimensionen der TheatrumMetapher in der Frühen Neuzeit, S. 231-252. Roth, Harriet: Die Bibliothek als Spiegel der Kunstkammer, in: Assmann, Aleida (Hrsg.): Sammler, Bibliophile, Exzentriker, Tübingen 1998, S. 193-211, hier S. 193f. Ebd., S. 197. Für diesen Hinweis danke ich Ulrike Feist, Berlin. Naudé, Gabriel: Anleitung zur Einrichtung einer Bibliothek, Übersetzung von Heinz Steudtner, Berlin 1978, S. 90f.
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mehrmals besucht hatte,59 die Synthese von Sammlungs- und Textraum: Vom mittleren der drei Bibliotheksräume führte eine Treppe in die angrenzende Kunstkammer.60 Der Topos von der Einheit beider Orte findet sich schließlich auch in den Relationes: In einem imaginären Rundgang durch die größten Bibliotheken der Welt streift Happel auch die „Kayserl. Bibliothek“61 in Wien, der die „[...] Oberstelle unter den teutschen Bibliotheken [...]“62 gebühre. Der Abschnitt über diese „Buchkammer“63 erwähnt die Verbundenheit mit der Kunstkammer zwar nicht, ein Stich setzt sie jedoch imposant in Szene (Abb. 12). Happel ließ ihn aus der erfolgreichen, allerdings noch nicht auf Deutsch vorliegenden Reisebeschreibung des Engländers Edward Brown (1644-1708) nachstechen64 – hinter der Arkade ist deutlich die Kunstkammer zu erkennen, die mit dem überwältigenden Textraum im Vordergrund korrespondiert: Exponate aus der Tier- und Pflanzenwelt sind an den Wänden des Gewölbes drapiert, darunter befinden sich die entsprechenden Naturalien-Schränke. Die Menge anwesender Personen setzt außerdem den Anspruch von Bibliothek und Kunstkammer idealtypisch ins Bild, zugleich Orte der Repräsentation und Orte des Gesprächs über Wissen zu sein. Die Vermengung beider Wissensräume war auch in Hamburg zu beobachten, sowohl imaginär als auch konkret. So zeigt sich auf dem Frontispiz der 1727 vom Hamburger Kaufmann Caspar Friedrich Neickel publizierten 59
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In der Relation „Die Holsteinische Bibliothek“ bemerkt Happel über Gottorf: „Hier praesentiret sich am allerherrlichsten die Hochfürstl. Bibliothek zu Gottorf / welche ihres Gleichen wohl wenig hat / und es gereuet mich / daß ich dieselbe / alß ich die Ehre hatte / sie zu besehen / nicht genauer observiret habe / allermassen ich selbigesmahl noch nicht in den Gedancken stunde / von den berühmtesten Bibliotheken etwas zu publiciren“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 41, S. 332. Drees, Jan: Die ‚Gottorfische Kunst-Kammer’. Anmerkungen zu ihrer Geschichte nach historischen Textzeugnissen, in: Ders. / Spielmann, Heinz (Hrsg.): Gottorf im Glanz des Barock: Kunst und Kultur am Schleswiger Hof 1544-1713. Kataloge der Ausstellung zum 50-jährigen Bestehen des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums auf Schloss Gottorf und zum 400. Geburtstag Herzog Friedrichs III., Schleswig 1997, Band 2, S. 11-49, hier S. 18. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die Teutschen Bibliotheken“, Nr. 41, S. 326. Ebd. Ebd. Zitiert als: „Eduard Brown: Itinerar.libr.3.part.I.cap.10.pag.m.23&seqq“. Das noch bis ins 18. Jahrhundert wieder aufgelegte Werk erschien 1685 erstmals in deutscher Übersetzung: Brown, Edward: Durch Niederland / Teutschland [...] Nunmehr [...] in die Hoch-Teutsche übersetzet [...], Nürnberg 1685. Der Stich zur kaiserlichen Bibliothek ist ebenso anonym, war also möglicherweise bereits dort eine Kopie. Auf Browns Sonderbare Reisen greift Happel immer wieder nicht nur als Textfundus, sondern auch als Bildquelle zurück: Etliche weitere Kupferstiche aus den Relationes entstammen Browns Vorlage, ohne dass Happel dies in jedem Fall explizit markiert.
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Museographia,65 dem maßgeblichen zeitgenössischen Handbuch des Sammelns, der idealisierte Gelehrte inmitten der Einheit von Kunstkammer und Bibliothek. Im Text selbst heißt es in einer Definition von Neickel dann ausdrücklich: „Ein Museum [=Kunstkammer] aber nenne ich ein solche Gemach, Stube, Kammer oder ort, wo zugleich allerley natürliche und künstliche Raritäten nebst guten und nützlichen Büchern beysammen zu finden“.66 Neickels Werk zeigt sich als Kompendium wichtiger Literatur zur Geschichte der Kunstkammer, zu der auch die Relationes Curiosae67 gezählt werden, und zugleich als Führer durch die bedeutendsten Sammlungen der Zeit. Im Rahmen dieser Kunstkammer-Topographie findet Hamburg besondere Erwähnung. In der Stadt, so Neickel, die „[...] von vielen Ausländern eine kleine Welt genannt wird [...]“,68 seien „Curiositäten-Cabinetter“69 allgegenwärtig. Happel hatte über das ,sammlungsaffine’ Klima Hamburgs schon in den 1680er Jahren Vergleichbares notiert. So sei man „[...] allhier in Hamburg auch nicht so gar entblösset von dergleichen und andern Raritäten oder Schatz- und Kunst-Kammern“.70 Diverse Bemerkungen in den Relationes zeigen, dass Happel bereits über sein Hamburger Umfeld in Kontakt mit typischen Kunstkammergegenständen kam – so nahm er selbst eine der im 17. Jahrhundert schwunghaft gehandelten, menschenähnlich geformten Alraunpflanzen in Augenschein (siehe Kapitel 7.3.2.) oder ließ sich 1682 von Heinrich Sivers (1626-1691), Mathematikprofessor am Johanneum und Besitzer einer Kunstkammer,71 „allerhand Raritäten“72 vorführen; dazu zählten 65 66
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Neickel, Caspar Friedrich: Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum, oder Raritäten-Kammern [...], Leipzig 1727. Ebd., Vorrede, Bl. 3v. Über die Deckungsgleichheit von Bibliothek und Kunstkammer heißt es hier auch: „Da aber Bibliotheken nicht allein schöne Bücher, sondern auch offt und vielfältig mancherley rare Dinge aufzuweisen haben; so wird mir der g. Leser desto eher zu gute halten, daß ich die Bibliothequen mit gröstem Fug und Recht unter Raritäten-Behältnisse, noch besser aber unter Musea zähle“. Ebd. „Unter den „CATALOGUS Derjenigen Bücher, welche von Raritäten-Kabinettern oder Museis überhaupt mit Nutzen zu lesen sind“ ist aufgeführt: „Everh. Guern. Happelius gibt im II. Theile seiner Relat. curios. von verschiedenen Raritäten-Kammern Nachricht“. Ebd., S. 228. Ebd., S. 54. Ebd. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die Meylandische Kunst-Kammer“, Nr. 17, S. 133. Johann Daniel Major bringt im Anhang seines Unvorgreifflichen Bedenckens von Kunst- und Naturalien-Kammern eine Liste der ihm bekannten europäischen Sammlungen. Für Hamburg werden auch die Sammlungen von Sivers und des Bibliothekars David Schellhammer (siehe unten) erwähnt. Major: Unvorgreiffliches Bedencken, Bl. D4v. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die mit Fischen und sonsten seltsamen Dingen gebildete Steine“, Nr. 66, S. 525.
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versteinerte (fossile) Fische, die Happel wiederum als ,textualisierte’ Objekte in seine eigene Sammlung einbrachte und sogar mit einer Illustration versah. Unter den Steinen habe er sich „[...] auff seine [Sivers, F.S.] freundliche Vergünstigung / 5 Steine außgelesen / und auffs Kupffer stechen lassen / welche hiemit dem curieusen Leser mitgetheilt werden“.73 Aber auch in der direkten Nachbarschaft machten gängige Kunstkammer-Objekte offenbar die Runde. Um 1688 notiert Happel in den Relationes, dass er von seinem „[...] nechst[n] und lieben Nachbar zur rechten Seithen [...]“,74 dem Kaufmann „William Koen“, zur Besichtigung eines doppelten Narwalhorns eingeladen worden sei, das 1684 im Zuge einer Expedition nach Übersee in den Hamburger Hafen gelangt war. In einer prestigevollen Geste machte Koen die Rarität dem neugierigen Hamburg zugänglich. Begeistert kommentiert Happel: „Ich bekenne / daß mir die Zeit zu kurtz fiel / dieses Königl. gedoppelte Einhorn gnugsahm zu betrachten / und je länger ich es ansahe / je mehr ward ich darüber entzücket [...] und die Freundlichkeit des jetzigen Besitzers desselbigen ist so groß / daß sie einen jeden / der da kommet / dasselbe aus Curiosität zu besehen / gar willig einlässet / und ihn mit Darlegung dieserr grossen Rarität höchstens vergnüget“.75
Die Überschneidung von „curiösen“ Dingen und Texten setzte sich sogar bis zu Happels Arbeitsplatz fort. Erneut ist dafür Neickels Museographia aufschlussreich. Auch wenn dessen Beschreibung der Hamburger Johanneumsbibliothek mehr als drei Jahrzehnte nach Happels Tod verfasst wurde, stützt sie doch seine eigenen Bemerkungen über die realisierte Integration von Kunstkammer und ,Buchkammer’: „In der Mitte dieser Bibliothec ist der Raum durch ein viereckigtes Geländer, so aber auch als ein Bücher-Schranck eingerichtet [...]: An der einen Seite dieses Geländers hat man die Bücher-Repositoria, an der andern Seite aber [...] Curiositäten-Schräncke: In der Mitten dieses Umfangs aber stehet ein langer Tisch [...]; in der Mitte auf dem Tische stehen ein grosser metallener Brenn-Spiegel, und oben an beyden Seiten des Geländers zwey vortreffliche Globi; an den QuerBalcken hangen unterschiedliche Raritäten [...]“.76
Die „Curieusitäten-Schränke“, so Neickel weiter, seien gefüllt „[...] mit lauter curiösen, mathematischen und physicalischen Instrumenten [...]“.77 Aber auch typische ,naturalia’ der Kunstkammern finden sich, etwa „[...] der 73 74 75 76 77
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 66, S. 525. Ebd., Band 4.2, Relation „Das Hamburger Wunder-Horn“, Nr. 79, S. 630. Ebd. Neickel: Museographia, S. 52. Ebd.
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Kopff eines Wall-Rosses; item eines Vogels, Tatu, Paradis-Vogel [...] antique Gefässe, in Summa viel exotische Sachen [...]“.78 Das Bild eines von Büchern flankierten Sammlungsraumes bringt Happel in den Relationes um 1686 bereits selbst auf: „Sonsten siehet man darin [in der Bibliothek, F.S.] [...] auch allerhand Exotica und schöne Originalia auß allen Orthen der Welt / wobey der itzige Bibliotecarius, Herr N.N. Schelhammer / mein besonderer Freund allen Fleiß anwendet / allerhand Raritäten an die Hand zu schaffen“.79
Auf seine freundschaftliche Beziehung zu David Schellhammer (1629-1693), Bibliothekar und Sammler,80 spielt Happel mehrmals an. Vermutlich bildete Schellhammer auch das Bindeglied zwischen Happel und Johann Daniel Major; dieser hatte Schellhammer um 1679 ein Gedicht über Kunstkammern zugeeignet.81 Nicht zuletzt durch Schellhammers Hilfe hat es Happel in seiner Hamburger Zeit offenbar selbst zu einer kleinen Naturaliensammlung gebracht. So will er etwa vom „Leder“ des Hippopotamus „[...] ein Stück von Herrn David Schelhammer [...] bekommen“82 haben. Es ist daher wahrscheinlich, dass die örtliche Nähe von Bibliothek und Sammlungsraum und Happels eigene Teilhabe an der Hamburger „Curiositäten“-Begeisterung den Kompilator dazu brachten, das Kunstkammer-Modell auf den eigenen Text zu übertragen.
6.3. Die (Text-)Kunstkammer: Medienübergang und -vergleich Happel suggeriert auf verschiedenen Ebenen, dass es sich bei seinem Periodikum um eine ,andere Erscheinungsform’ der Kunstkammer handelt. So charakterisiert er die Relationes mehrmals expressis verbis als imaginären Sammlungsraum. Er bewirbt sein Magazin als „unsere Raritäten-Kammer“,83 dann will er „[...] unser curieuses Cabinet mit noch mehr Kostbarkeiten 78 79 80 81
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Neickel: Museographia, S. 52. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die Holsteinischen Bibliotheken“, Nr. 39, S. 332. Petersen: Geschichte der Hamburgischen Stadtbibliothek, S. 40ff. Major, Johann Daniel: Großer Reichtum zusammengebracht aus den meisten Schätzen der Welt, oder Poetischer Interims-Diskurs von Kunst- und Naturalien-Kammern, einem dergleichen Dinge wohlerfahrenen guten Freunde zugeeignet, Kiel 1679; nach: Steckner, Cornelius: Das Museum Cimbricum von 1688. Zur Museumswissenschaft des Kieler Universitätsprofessors Johann Daniel Major (16341693), in: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo, S. 603-629, hier S. 622. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die Kunst-Kammer Ferrandis Imperati“, Nr. 17, S. 136. Ebd., Relation „Der verliebte Demant“, Nr. 20, S. 160.
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[...]“84 erfüllen und an anderer Stelle wird den Relationes gar das Gepräge einer „[...] Schatz-Kunst- und Raritäten-Kamer“85 zugeschrieben. Das Kompilieren der Materien entspricht damit dem von Neil Kenny beschriebenen Prozess des metaphorischen Sammelns immaterieller „Curiositäten“. Doch nicht nur in der periodisch-wöchentlichen Form, sondern auch in den Paratexten der ‚Jahresbänden’ vermittelt Happel den Eindruck, dass mit den Relationes ein adäquates textliches Pendant zur Kunstkammer vorliegt. Dieses Selbstverständnis artikuliert die Vorrede von 1687. So werden „[i]n diesem dritten Tomo [...] praesentiret [...] allerhand curieuse, allerhand Anatomische / allerhand Physikalische / allerhand Künstliche / viel Critische / viel Nachdenckliche / Historische und erbauliche Materien, wie solches an vielen Kunst-Kammern / [...] durch die Banck zu finden ist“.86
An anderer Stelle will er „[...] die Erfindungen der Menschen und Seltsamkeiten der Natur [also die Hauptsammlungskategorien der ,artificialia’ und ,naturalia’, F.S.] ohn Unterschied [...]“87 setzen. Seine Kompilation bedient sich also einer vergleichbaren Inszenierungsstrategie wie die materiellen Sammlungsräume. Auch gibt Happel die Popularisierung und Verschriftlichung der Kunstkammer als wechselseitigen Prozess aus (siehe Kapitel 5.2.). Denn tatsächlich hätten Sammlungsbesitzer selbst Interesse bekundet, ihre prestigeträchtigen „Seltsamkeiten“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. So ist Happel zwei Jahre nach dem Auftakt der Relationes davon überzeugt, selbst erfolgreich zur weiteren Zirkulation aller „Curiositäten“ beigetragen zu haben – ein Prozess, der fortzusetzen sei. Es hätten „[...] auch verschiedene curieuse Liebhaber / Gelehrte und Ungelehrte schrifftlich eingefunden / die sich gar freundlich offerirt, ein und anders /so in etwa in ihren Cabinetten und sonsten verwahrlich auffgehoben / und dazu eine Beschreibung erfordert wird / umb der Welt sothane Seltsamkeiten fürzulegen / uns zu übersenden / denen sagen wir fleissigen Danck / und invitieren mittelst dieses einen jeden / nach Standes Gebühr / gehorsambst und freudlichst / dafern er etwas habe / so sich in einem absonderlichen Tractat außzuführen nicht schicken möchte / uns mitzutheilen“.88
Neben dieser expliziten ,Übersetzung’ der Kunstkammer in den Text sind die Analogien zwischen beiden Wissensformen auch implizit gegeben, wie 84 85 86 87 88
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die fernere Erklärung des Kupffers mit den Edel-Gesteinen“, Nr. 19, S. 146. Ebd., Band 3.2, Relation „Der Bergwerck-Schatz“, Nr. 21, S. 162. Ebd., Vorrede, Bl. 3r. Ebd., Band 1.2, Relation „Von grossen Künstlern / und vielen in der Natur verborgenen Wundern“, Nr. 7, S. 49. Ebd., Band 2.2, Beschluss, Bl. Eeeeer.
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ein Medienvergleich in drei Schritten zeigen soll. Hier ist erstens die ähnliche Semantik der Objekte in der (Text-)Kunstkammer hervorzuheben (Punkt 6.3.1.); zweitens ist noch einmal die Frage nach der inhaltlichen Kongruenz und nach dem enzyklopädischen Zuschnitt beider Medien zu stellen (Punkt 6.3.2.; drittens ist auch der Unterschied beider Sammlungsformen im Punkt der Ordnung zu akzentuieren, eine Differenz allerdings, die in einer ähnlichen kommunikativen ,Ausrichtung’ zum Teil wieder aufgehoben wird (Punkt 6.3.3.). 6.3.1. Bruchstücke und Projektion fremder Welten Kunstkammer und Periodikum ähneln sich in der Konsequenz des Sammelns, da Sammeln immer auch Kontextbrechung bedeutet. Die gesammelten oder beschriebenen Objekte galten deswegen als „rar“, „denkwürdig“, „seltsam“ und „curiös“, weil sie entweder konkret oder textuell aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen und in einen neuen gestellt und damit im Raum oder Text als Bruchstücke ,relokalisiert’ wurden. „Signifikante Objekte“89 waren Kunstkammerexponate gerade dadurch, dass sie in keinem erklärenden Zusammenhang mehr zu stehen schienen: „They were always out of context“.90 Im Ergebnis änderte sich die Semantik der Objekte, da sie dem unmittelbaren Verstehen entzogen waren und besonders dann, wenn das Gesammelte aus außereuropäischen Regionen stammte, faszinierende, kulturelle Fremdheit verkörperten.91 ,Ethnographische’ Objekte aus fremden Welten, Artefakte und Gebrauchsgegenstände, wurden aus ihrem räumlich-zeitlichen Bezug entfernt und in der Kunstkammer unverbunden zwischen anderen individuellen Objekten platziert. Analog zu diesen ,ethnographica’ in den Kunstkammern zeigt sich die imaginäre Begegnung mit außereuropäischen Welten in den Relationes (siehe Kapitel 7.1.): Die Berichte über ,exotische’ Lebensformen stehen unverbunden nebeneinander, größere narrative Kontexte werden von Happel bewusst unterbunden. Nach Jochen Brüning steht die „[...] Materialität jeder Sammlung damit im Span89 90 91
Stagl: Eine Geschichte der Neugier, S. 142. Kenny: Curiosity in Early Modern Europe, S. 169. „Das außereuropäische Objekt ist nicht nur wegen seiner entfernten geographischen Herkunft fremd, sondern auch weil es sich in seiner De-Kontextualisiertheit, seiner Entwurzelung aus seiner heimischen Umgebung einer unmittelbaren Verstehbarkeit entzieht“. Nutz, Thomas: „...& autres curiosités“. Exotische Artefakte als Objekte des Elitenkonsums im 18. Jahrhundert, in: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hrsg.): Exotica: Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert (= Kulturgeschichtliche Perspektiven, Band 1), Münster 2003, S. 1-25, hier S. 15.
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nungsverhältnis von Kontextbrechung – dem Sammlungsakt – und Kontextstiftung in der Vollendung des Sammlungszyklus“.92 Bei der erneuten Kontextstiftung konnte es im Fall der materiellen Sammlung allerdings helfen, das Wissen der an die Kunstkammer grenzenden Bibliothek hinzuzuziehen. Was Krzysztof Pomian zu der in Sammlungsobjekten gespeicherten Relation vom Sichtbaren und Unsichtbaren im Begriff der „Semiophoren“93 formuliert hat, lässt sich auch auf die Text-Kunstkammer übertragen: Semiophoren sind für Pomian gesammelte, aus ihrem originären Kontext gelöst Objekte, die nicht nur für sich selbst stehen, sondern über einen Zeichencharakter verfügen, „[...] durch den die sichtbare Welt mit der unsichtbaren verbunden ist“94 – fremdartige Naturalien und Artefakte machten in der Kunstkammer eine nicht-anwesende Welt imaginär präsent, in der Gottorfer Sammlung zählten dazu etwa „[...] etlicher Orientalischen und Nordischen Völcker Kleidung / welchen von denen Orten hergebracht [...]“.95 Die Relationes bilden auf ähnliche Weise ein „Fenster zur Welt“,96 indem die textuelle Zusammenstellung typischer Kunstkammer-Objekte an die Imaginationskraft des Lesers appelliert, sich die beschriebenen Welten zu vergegenwärtigen. Die Kleidung ist auch bei Happel auf der Basis der ausgewerteten Reiseberichte eines der distinktiven kulturellen Merkmale fremder Welten: Unter zahllosen anderen vergleichbaren Artikeln wird etwa „Die Kleidung / Sitten und Lebens-Arth des Dairo“97 oder „Das künstliche Palmen-Kleid“98 zum Thema. 6.3.2. Ein Kompendium aller merkwürdigen Dinge Der in den Kunstkammern gepflegte „Kult des Objekts“99 wird von Happels Text adaptiert. Wie bereits angedeutet, folgen die Relationes den Leitkategorien der ,artificialia’ und ,naturalia’. Demnach war nicht das für die Sammlung von Belang, was in Kunst und Natur – aber auch in allen anderen Wissensbereichen – den Normalfall oder die Regel markiert, sondern das, 92 93 94 95 96 97 98 99
Brüning, Jochen: Die Sammlung als Text, in: Zeitschrift für Germanistik. Themenheft „Bild Schrift - Zahl“, 2003, S. 560-572, hier S. 563. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1993, S. 50. Ebd. Siehe dazu auch: Ders.: Sammeln. Eine historische Typologie, in: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo, S. 108-126. Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer, S. 3. Nach: Vieregg: Museumswissenschaften, S. 1. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.4, Nr. 48, S. 383f. Ebd., Nr. 97, S. 769. Mauriès, Patrick: Das Kuriositätenkabinett, Köln 2003, S. 91.
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was möglichst ausgefallen und ,denkwürdige Ausnahme’100 war. In diesem Aspekt unterscheiden sich die Sammlungen des Barock deutlich vom universellen Anspruch heutiger Museen. Der vorliegende Punkt geht daher der Frage nach, wie der ausgesprochen selektive Blick von Kunstkammer und Periodikum mit dem behaupteten enzyklopädischen Anspruch der Relationes zu vereinbaren ist (siehe Kapitel 4.1.). Entscheidend ist wohl die Differenz von Anspruch und Realität der Sammlungen.101 In der Forschung wird die Kunstkammer jedenfalls weiter fast unisono mit der tatsächlichen Einlösung enzyklopädisch-universaler Sammlungsansprüche in Verbindung gebracht: Schon zeitgenössische Sammlungstraktate wie Quicchebergs Inscriptiones – und in ihrer Folge auch die Forschung102 – legten wiederholt nahe, das sich das ,Ganze’ von Welt und Wissen, der Makrokosmos, analog im Mikrokosmos der Sammlung vollständig spiegeln würde. Wenn es in den Kunstkammern um eine ,Rekonstruktion’ der natürlichen Welt ging, dann jedoch nur mit Blick auf den Ausschnitt des Irregulären und Anormalen103 – jene Phänomene, in denen die Natur spielerische ,Abtritte’ von ihrem regulären Lauf wagt (siehe Kapitel 7.2.). So erzeugten die Kunstkammern in der Fülle der ,naturalia’ zwar einen enzyklopädischen Anschein, viele ihrer Exponate stammten jedoch von jenseits der europäischen Grenzen. Adam Olearius weist in seiner Charakterisierung der Gottorfer Sammlung auch darauf hin, dass diese weniger Kunst- denn Naturalienkammer sei und überdies nur das versammelt, was an Flora und Fauna aus europäischer Perspektive fremd ist: „Diese Kammer ist mehr eine Natur- und Raritäten- als Kunst Kammer zu nennen / weil natürliche / und in unserm Lande ungewöhnliche Tiere / Gewächse und andere Sachen / so fast aus allen Orten der Welt zusammenbracht worden / mehr als künstliche Arbeit darein befindlich“.104
Weit programmatischer formulierte Johann Daniel Major wenige Jahre später: „Worunter keineswegs verstanden haben will dieß / daß etwa in einer wolbestellten Naturalien-Kammer alle / oder die meisten Sorten natürlicher Cörper 100
101 102 103
104
Holländer, Hans: „Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes Curiosae“: Über Kunstund Wunderkammern, in: Orchard, Karin (Hrsg.): Die Erfindung der Natur, Hannover 1994, S. 34-45, hier S. 39. Daston / Park: Wunder, S. 320. Etwa: Lugli: Naturalia et Mirabilia. Il Collezionismo Enciclopedico nelle Wunderkammen d’Europa. Ähnlich: Olmi, Guiseppe: From the Marvellous to the Commonplace: Notes on Natural History Museums, in: Mazzolini, Renato Guiseppe (Hrsg.): Non-verbal Communication in Science prior to 1900, Florenz 1993, S. 235-278, hier. S. 242. Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer, S. 3.
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nothwendig da seyn solten / die in der Welt zu finden; denn dieses kan nicht seyn / und soll auch nicht seyn / oder ist auch nicht nöthig: sonst meritirten Sie nicht den Titul der Raritäten“.105
Im direkten Vergleich ähneln die Relationes eher dem Typus der Kunstkammer, da sie die „künstliche Arbeit“ des Menschen quantitativ kaum weniger akzentuieren als die natürlichen Objekte fremder Weltgegenden. Ohne expliziten Bezug auf das Modell der Kunstkammer betont Happel die inhaltlich-strukturelle Analogie seines Periodikums zum Sammlungsraum noch einmal im Vorwort zum dritten Jahresband: „Hoch- und gunst-geneigter Leser, man zehlet fürnemlich drey Stücke / welche des Menschen Gemüth an sich ziehen / und eine fernere Betrachtung erwecken / nemlich die wunderschöne Geschöpfe Gottes / die köst- und künstliche Arbeit der Menschen / und den die Geschichte der Creaturen [...]“.106
Natur und Kunst: Die „wunderschöne[n] Geschöpfe Gottes“ und die „Geschichte der Creaturen“ umfassen die Gruppe der ,naturalia’, die „köst- und künstliche Arbeit der Menschen“ verweist implizit auf die Kategorie der ,artificialia’. Dieses Kompendium aller merkwürdigen Dinge aus den zentralen Kategorien der Kunstkammer gewinnt besondere Anschaulichkeit, wenn man es an der bekanntesten107 und zugleich rätselhaftesten Abbildung der Relationes illustriert; dem 15. Bogen von 1686 wurde der Stich (Abb. 13) einer idealen Kunstkammer beigegeben. Bereits die monumentale Größe und Weitläufigkeit des Raumes zeigt, dass hier eher eine ideal überhöhte denn real existierende Sammlung ins Bild gesetzt ist. Rätselhaft ist der Stich erstens deswegen, weil Happel, anders als beim Großteil der übrigen Abbildungen der Relationes, keine direkte Bild-Text-Beziehung herstellt. Zwar ist offensichtlich, dass der Stich den Artikel „Die wunderbare-Kunstkammer“108 illustriert, Happel rekurriert jedoch an keiner Stelle erklärend auf die Abbildung. Zweitens ist der Stich anonym, während die meisten anderen Illustrationen der 105 106 107
108
Major: Unvorgreiffliches Bedencken, Bl. C3r. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Vorrede, Bl. 1r. Als Illustrationsmaterial zur Geschichte der Kunstkammer wurde der Stich in der Sekundärliteratur bereits häufig reproduziert, während Happels Text unberücksichtigt blieb; beispielsweise in: Hoppe, Brigitte: Kunstkammern der Spätrenaissance zwischen Kuriosität und Wissenschaft, in: Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo, S. 243-263, hier S. 256; Bredekamp, Horst: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhem Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 26. Die bis dato profundeste Deutung des Stiches findet sich bei Valter, Claudia: Wissenschaft in Kunst- und Wunderkammern, in: Holländer, Hans (Hrsg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 183-196; zum Stich hier S. 183-185. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 15, S. 117f.
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Relationes entweder mit den Namen der für Wiering arbeitenden Hamburger Kupferstecher109 versehen sind; oder Happel erwähnt im Text selbst, dass es sich um Reproduktionen aus anderen Büchern handelt. Auch wenn nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden kann, dass es sich bei der Darstellung um eine Kopie handelt,110 sollen hier zwei Annahmen plausibel gemacht werden: erstens, dass sie als Visualisierung einer idealen Kunstkammer exklusiv für die Relationes angefertigt wurde und dass sie zweitens die imaginäre Sammlung Happels selbst ins Bild setzt, also eine Metapher des Textes ist. Der Stich verweist demnach auf die Funktion der Relationes als einem der Kunstkammer vergleichbaren Gedächtnisort, in dem Happel alle Themen aus den Bereichen der ,naturalia’ und ,artificialia’ imaginär ablegt. Nimmt man das (enzyklopädische) Bildprogramm des Stichs als Ganzes in den Blick, erscheint zunächst die Vereinigung von Kunst und Natur ,unter einem Dach’ als analog zu den Relationes. Wie erwähnt, präsentieren auch sie „[...] die Erfindungen der Menschen und Seltsamkeiten der Natur ohn Unterschied [...]“ – und wollten ein großes Publikum gewinnen. Die übertrieben dargestellte Besucherfülle des Raumes idealisiert den Grad der Öffentlichkeit der Kunstkammern, gleichwohl lassen sich die Funktionen dieser ,Zugänglichkeit’ mit den skizzierten Popularisierungsfunktionen der Relationes vergleichen: In beiden Fällen handelt es sich um ,Räume’ oder Medien der Geselligkeit, des Gesprächs, der Unterweisung und der Unterhaltung über und durch Wissen. Zudem wirkt die Objektvielfalt wie ein visualisierter Querschnitt durch die Inhalte von Happels Periodikum: Im linken Abschnitt des dreiteiligen Innenraums sind auf Sammlungsschränken Naturalien aus den Reichen des Mineralischen, Vegetabilen und Animalischen zu erkennen;111 ihre ,denkwürdigsten’ Objekte macht Happel auf Grundlage der exzerpierten Naturgeschichten immer wieder zum Bezugspunkt des Schreibens (siehe Kapitel 7.2.). Das Mittelschiff des Raumes gibt den Blick auf technisch-wissenschaftliche Gerätschaften frei, die in den Kunstkammern als ,scientifica’ häufig eine eigene Kategorie bildeten, meist aber den 109
110
111
Der Großteil der Kupferstiche in den Relationes stammt vom Hamburger Kupferstecher Joachim Wichmann sowie vom Amsterdamer Zeichner und Stecher Pieter van den Berge (1665-1737). Neben der Arbeit für Happel und Wiering hat der renommierte van den Berge u.a. Gemälde Hamburger Bürgermeister angefertigt; zu ihm und Wichmann: Thieme, Ulrich / Vollmer, Hans (Hrsg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, 37 Bände, Leipzig 1907-1950, hier Band 3, 1909 S. 393 und Band 35, 1942, S. 508. Das ist jedoch unwahrscheinlich, da die kunstkammertheoretische Literatur der Frühen Neuzeit insgesamt gut erschlossen ist. Da der Stich über eine hohe Qualität verfügt, dürfte er kaum einer ,zweitklassigen’ Publikation entstammen, die bislang übersehen wurde. Siehe auch: Bredekamp: Die Fenster der Monade, S. 26; sowie: Hoppe: Kunst- und Wunderkammern, S. 255-258.
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,artificialia’ untergeordnet wurden: Im Hintergrund sind zwei Figuren an einem Globus zu erkennen, dem Symbol der Horizonterweiterung im Entdeckungszeitalter. Wiederholt findet sich der Globus oberhalb der Arkade des Mittelschiffs, wo er mit dem wirkungsvoll drapierten Schiffsmodell den weltumfassenden Sammlungsanspruch der (Text-)Kunstkammer in Szene setzt; Pomian zufolge würde sich hier der sichtbare Sammlungsraum mit unsichtbaren Räumen jenseits der Sammlung verbinden – nicht zufällig öffnet sich die Kunstkammer am Ende des Mittelschiffs daher zur ,äußeren Welt’. Zudem verweist die Armillarsphäre oberhalb des Globus auf die kosmologische Dimension der Sammlung, den Referenzpunkt im Makrokosmos. Die rasante, instrumentgestützte Ausdehnung empirischen Wissens wird von Happel durch die Vermittlung der ,neuen Wissenschaften’ des 17. Jahrhunderts aufgenommen (siehe Kapitel 7.3.). Weiterhin sind an den Seiten der das Mittelschiff begrenzenden Säulen sowie an der Wand im Hintergrund exotische Schilde, Waffen und weitere ,ethnographische’ Artefakte zu erkennen. Zusammen mit den im Vordergrund flanierenden, fremdartig gekleideten menschlichen „Curiositäten“ weisen die Artefakte die Kunstkammer als (imaginären) Begegnungsraum mit Außereuropa aus, ein Merkmal, das die Relationes ebenso intensiv teilen (siehe Kapitel 7.1.). Das Objektensemble im rechten Drittel des Raums ist schließlich besonders hervorzuheben, da der von Happel nicht hergestellte Bezug des Bildes zum Text des Periodikums über eine implizite Bild-Text-Relation dennoch klar nachzuweisen ist. Sie macht die Annahme plausibel, dass Happel den Stich selbst in Auftrag gab und aus verschiedenen Bildvorlagen ,montieren’ ließ. So sind oberhalb zweier monströser Vierbeiner, die Happels Kunstkammer bereits als ,Übergangsraum’ von Realität und Fiktion ausweisen, und einer Büste drei ,Meermänner’ zu erkennen, die in den Relationes an anderer Stelle in Text und Bild (Abb. 14) wieder auftauchen.112 Als Text- und Bildquellen lassen sich die Neue Welt-Beschreibung113 (1666) von Johannes Praetorius, Caspar Schotts Mirabilienkompilation Physica Curiosa sowie Johann Michael Dilherrs (1604-1669) Christliche Betrachtungen des gläntzenden Himmels114 (1657) und schließlich Erasmus Franciscis Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten115 identifizieren (Happel selbst unterschlägt alle Quellen). 112 113 114
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Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Das indianische Meer-Weib“, Nr. 2, S. 14f. Praetorius, Johannes: Anthropodemus Plutonicus. Das ist / Eine Neue Welt-beschreibung Von allerley Wunderbahren Menschen [...], Magdeburg 1666f. Dilherr, Johann Michael: Christliche Betrachtungen deß Gläntzenden Himels / flüchtigen Zeit- und nichtigen Weltlauffs: darinnen Die schöne und wunderbare Geschöpffe deß Allmächtigen Himmelischen Werckmeisters Dem andächtigen Leser [...] fürgestellet werden [...], Nürnberg 1657, S. 252. Francisci: Lust- und Stats-Garten, S. 1416.
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Von Praetorius kopiert Happel mit nur minimalen Variationen die Geschichte des rechten Meerwunders,116 das 1531 in der Nordsee – bei Happel in der Ostsee – gefangen worden sein und einem Bischof geähnelt haben soll, während als Bildvorlage Schotts Physica Curiosa (Abb. 15) als sicher anzunehmen ist; die Quelle für den linksseitigen ,Meermann’ bot Dilherrs Christliche Betrachtungen (Abb. 16). Das Bildprogramm des KunstkammerStichs setzt sich in Details also aus Topoi zusammen, die in gedruckten Mirabiliensammlungen bereits lange zirkulierten. Die deutlichen Anleihen bei den Motiven von Schott und Dilherr legen nahe, dass Happel den Kupferstecher mit deren Reproduktion beauftragte und die idealisierte Kunstkammer als Korrelat zu jenen Inhalten auffasste, die er im Text noch einmal spiegelte. Auch das am rechten Deckengewölbe hängende Krokodil, das aufgrund seiner Omnipräsenz in den größeren zeitgenössischen Sammlungen zu einem „[...] Leitmotiv der Kunst- und WunderkammerIkonographie“117 aufrückte, wird in Happels Text gespiegelt und bekommt mit der Relation „Das brasilische Crocodil“118 einen eigenen Artikel. Im Ganzen ist festzuhalten, dass es sich bei dem Kunstkammer-Stich in den Relationes Curiosae nicht nur um eine idealtypische Überhöhung des ,merkwürdigen’ (und damit nur bedingt enzyklopädischen) Objektprogramms materieller Sammlungen des Barock handelt; zu großen Teilen liefert er vielmehr auch eine Visualisierung von bestimmenden Inhalten der Text-Kunstkammer Happels – und setzt sie in nuce ins Bild. 6.3.3. Ordnung der (Text-)Kunstkammer und religiöser Überbau Anhand der Kunstkammer-Abbildung lassen sich abschließend noch zwei weitere Aspekte im Medienvergleich von materieller und textueller Sammlung beleuchten: erneut das Problem der Ordnung des Wissens und die Frage der kommunikativen Ausrichtung der (Text-)Kunstkammer. Zunächst zur ,richtigen’ Disposition der Dinge. Hier weicht der KunstkammerDiskurs vom gefälligen Durcheinander innerhalb der Buntschriftstellerei (siehe Kapitel 4.3.1.) offenbar prinzipiell ab. So scheint die geordnete Menge der Kunstkammerexponate – die ,naturalia’ befinden sich säuberlich getrennt von den ,scientifica’ – auf der Illustration in den Relationes einen konstitutiven Zug der Sammlungen zu untermauern: Kunstkammern wollten, wie in der Forschung mit Bezug auf frühneuzeitliche Sammlungstheorien 116 117 118
Praetorius: Anthropodemus Plutonicus, Teil 1, S 81. Valter: Wissenschaft in Kunst- und Wunderkammern, S. 188. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 8, S. 63f.
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immer wieder betont wird,119 ihre Exponate nicht nur anhäufen, sondern „[...] über die Disposition nach festen Ordnungsmustern verfügbar [...] machen“.120 Damit zeigten sich die Praktiken der materiellen Kultur grundlegend eingebunden in die intensiven Versuche des Zeitalters, Welt und Wissen in kohärente Ordnungen zu bringen (siehe Kapitel 4.3.). Als Happel in einer Reihe von Artikeln um 1686 die Exponate berühmter Kunstkammern referiert, legitimiert er in diesem Kontext nicht zufällig erneut seine Prämisse bunter Unordnung. So „[...] wollen wir uns verfügen zu den fürnehmsten Raritäten-Kammern [...] umb unsere Augen darinnen zu ergetzen / die wir aber bloßen Gedancken dahin schicken / damit unsere Verwunderung etwas zu thun habe. Ich halte / es wird gleich viel gelten / wir darin eine Ordnung halten / oder nicht; in dieser Betrachtung kann uns eine angenehme Confusion und Unordnung ohne Zweiffel angenehmer fallen / als eine nette Ordnung / welche leicht zu erfinden / aber übel zu halten seyn möchte“.121
Dieser genüssliche ,Regelverstoß’ lässt sich auch als ironische Spitze gegen die oft illusorische Ordnungsarbeit realer Sammlungen lesen. Wieso versuchen, woran die materiellen Vorbilder allzu häufig scheiterten? Dass theoretisch-systematische Postulate in der Architektur realer Sammlungen teilweise gar nicht eingelöst wurden, wird von der Forschung kaum betont, obwohl sich resignative Aussagen zu Ordnungsdefiziten in der zeitgenössischen Literatur relativ schnell finden lassen. So beklagt etwa Leonhard Sturm in seiner Geöffneten Raritäten- und Naturalienkammer im „IV. Capitul: Von der Ordnung / Lage und andern allgemeinen Requisitis einer Raritätenkammer“, dass „[b]ißher [...] aller Orten gar grosse Schwerigkeit versphühret worden [...]“,122 zwei zentrale Prinzipien der Kunstkammer praktisch miteinander zu vereinbaren: „[...] daß alles mit Pracht und Ansehen in die Augen falle. [...] Aber muß dabey nicht negligiret werden / beständig eine solche Ordnung zu halten / als die Natur der Dinge nach den Principiis der Wahren und unpedantischen Notiz der Antiquität / Historie und Philosophie erfordert“.123
Ähnliches hatte auch Happels Lehrer Major im Jahr 1674 eingeräumt. Er bemängelt, dass viele Sammler, „[...] alles nicht eben auffs genaueste sortieren [...]“.124 Und noch deutlicher hielt Friedrich Neickel nach persönlicher 119 120 121 122 123 124
Zuletzt noch deutlich bei: Collet: Die Welt in der Stube, S. 31f. Becker: Vom Raritätenkabinett zur Sammlung als Institution, S. 22. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, „Die wunderbahre Kunst-Kammer“, Nr. 15. S. 119. Sturm: Geöffnete Raritäten- und Naturalienkammer, S. 20. Ebd. „Es schleichet aber gemeiniglich bey Ihnen [den Sammlern, F.S] nebenst der innerlichen
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Besichtigung einiger Kabinette in seiner Museographia fest, dass er „[...] nicht bey einem einzigen die geringste Ordnung, sondern alles in richtiger Confusion gefunden [...]“.125 Damit steht zu vermuten, dass die „angenehme Confusion“ des Wissens in den Relationes von dem tatsächlichen Durcheinander in manchen Kunstkammern letztlich nicht so weit entfernt war, wie es die theoretischen Ordnungsansprüche nahe legen. Nach den strukturell-inhaltlichen Analogien der (Text-)Kunstkammern sind in einem letzten Schritt die Übereinstimmungen in der übergeordneten kommunikativen Funktion zu betonen; so ist eine weitere Engführung von materiellem und virtuellem Sammlungsraum möglich. Wie angedeutet, erfüllte die Vielzahl der Kunstkammer-Typen in verschiedenen sozialen wie intellektuellen Kontexten auch eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen: Die Exponate aus Kunst und Natur konnten der Unterhaltung und Befriedigung der Neugier ebenso dienen wie dem empirisch-vergleichenden und durch exotische Objekte erweiterten Studium der Naturgeschichte. In fürstlichrepräsentativen Kunstkammern diente das Sammeln dagegen in erster Linie dem demonstrativen Konsum – hier repräsentierte gerade die Anhäufung von Naturalien aus fernen Ländern eine ,symbolische Weltbemeisterung’126 und damit das exemplarische Bild einer vom Fürsten beherrschten Welt. Allerdings symbolisierte die Kunstkammer nicht allein den Machtanspruch der Fürsten. Charakteristisch für die Umsetzung der Vorstellung einer Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos ist vielmehr auch, dass die Kunstkammer die Schöpfungsmacht des ,eigentlichen’ Potentaten – Gott also – in dessen Wunder sinnfällig vor Augen führen sollte. Die Sammlung wurde hier zum Ort der Gotteserfahrung und Mittler eines physikotheologischen Weltbildes, das mit der theozentrisch-erbaulichen Funktion des Wissens in den Relationes Curiosae korrespondiert. Allerdings hatten es solche erbaulichen Zielsetzungen gegen die Rolle der Repräsentation jedoch nicht einfach, wie eine nachdrückliche Ermahnung Johann Daniel Majors verdeutlicht: „Von Seiten des Besitzers wird erfordert / daß er mit derogleichen raren Dingen fürnehmlich Gottes Ehre / als dann den Nutz des Nechsten / und guter Künste
125 126
Gemüths-Freude hierob / eine kleine Unmässigung einer / wiewol unsträfflichen / Ehrsucht gar zeitig ein / so / daß nach erhaltenem scheinbaren Anfang / [...] alles nicht eben aufs allergenaueste sortiren [...]. So erwächset dann mehr und mehr / mit zunehmender Anzahl der Dinge / auch der Verdruß und Abscheu vor der Müh / dergleichen Umbsetzungen zu wiederholen“. Major: Unvorgreiffliches Bedencken, Bl. C3r. Neickel: Museographia, S. 424. DaCosta Kaufmann, Thomas: The Mastery of Nature: Aspects of Art, Science, and Humanism in the Renaissance, Princeton 1993, S. 182.
Abb. 1: Paul Christian Zincke: Portrait von Eberhard Werner Happel.
Abb. 2: Titelblatt, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 3: Die Hamburger Börse um 1700.
Abb. 4: „Türkische Botten-läuffer“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 5: Textseite aus den Relationes Curiosae, 1689.
Abb. 6: „Lasterbaum“, Emblemata Nova, 1617.
Abb. 7: „Cvriosità“, Iconologia Nova, 1618.
Abb. 8: Frontispiz, Curious Relations, 1738.
Abb. 9: Leserad, Le Diverse Et Artificiose Machine, 1588.
Abb. 10: Gemälde von Gregor Baci (16. Jahrhundert), Schloss Ambras.
Abb. 11: Marcum Baskay, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 12: „Die Keyserliche Bibliothec“, Relationes Curiosae, 1685.
Abb. 13: „Die Kunst-Kammer“, Relationes Curiosae, 1687.
Abb. 14: Meermänner, Relationes Curiosae, 1685.
Abb. 15: Meermänner/Mischwesen, Physica Curiosa, 1662.
Abb. 16: Meermann, Christliche Betrachtungen, 1657.
Abb. 17: ‚Großfuß‘, Relationes Curiosae, 1685.
Abb. 18: Hottentotten, Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa, 1671.
Abb. 19: „Die Grausam-garstigie Hottentoten“, Relationes Curiosae, 1687.
Abb. 20: „Die Türkische und Persianische Lebens-straffen“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 21: „Der Sinesische Kunst-Felse“, Relationes Curiosae, 1689.
Abb. 22: „Die Chineische Gauckler“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 23: „Der Grün-bewachsen Todten-Kopff“, Relationes Curiosae, 1689.
Abb. 24: „Verbindnüß Der Kunst und Natur“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 25: ‚Das Oldenburger Wunderhorn‘,Schloss Rosenborg, Kopenhagen.
Abb. 25: ‚Das Oldenburger Wunderhorn‘, Schloss Rosenborg, Kopenhagen.
Abb. 26: ‚Das Oldenburger Wunderhorn‘, Oldenburgisch Chronicon, 1599.
Abb. 27: „Das Oldenburgische Horn“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 28: „Der Sonnen-Gestalt“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 29: „Des Mondes Gestalt“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 30: „Abbildung einer durch ein Microscopium observirten Lauß“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 31: „Abbildung eines kleinen Microscopii“, Relationes Curiosae, 1683.
Abb. 32: „The travelling Laplanders“, Curious Relations, 1738.
Abb. 33: „Der lauffende Lappe“, Relationes Curiosae, 1689.
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Beföderung / und endlich hernach Seinen eigenen Ruhm / Splendor und Ehre suche; nicht aber aus diesen dreyen vom letzten den Anfang mache“.127
Wie sehr auch die Architektur von Happels Sammlung frommen Zielsetzungen untergeordnet war, lässt sich bereits aus dem Stich der idealen Kunstkammer ableiten: Nicht von ungefähr lehnt sich der Querschnitt des dreischiffigen Raumes deutlich an eine basilikale Architektur an,128 die auf eine religiöse ,Überformung’ allen Wissens verweist. Bei Happel kommt hinzu, dass sich die Attraktivität des Kunstkammer-Modells so weit trägt, dass es als „Welt Kunst-Kammer“ emblematisch129 auf die Welt und ihre Wahrnehmung als Ganzes ausgedehnt wird: „Gott hat auff seiner runden Welt-Kugel eine solche Kunst-Kammer ordinirt / mit welcher keine eintzige zu vergleichen ist. [...] Gleich wie aber die Fürstlichen Kunst-Kammern durchgehends in verschiedene Gewölbe / Zimmer oder Gemäche eingetheilet sind / also siehet mann auch diese grosse Welt KunstKammer gar herr- und zierlich eingerichtet“.130
Happel kommt in der Aufbereitung naturgeschichtlicher Passagen in den Relationes wiederholt auf die Metapher der Welt als Kunstkammer zurück, so etwa auch in der Behandlung der ,Meerwunder’. Noch einmal wird deutlich, dass das Periodikum als komplementäre Text-Kunstkammer konzipiert ist, die vor allem die „vornehmsten“ Wunder aus der „Raritäten-Kammer“ Gottes sammeln und inszenieren will: „Es erscheinet die Allmacht des grossen Gottes genugsahm aus der Mannichfaltigkeit der Thieren / Gewürmen / Vögeln und Ungezieffer der Erden / und wer dieselbe allesampt betrachtet / muß bekennen /daß es ja ein grosser und gewaltiger Schöpffer gewesen seyn muß / der die Lufft und Erde mit so viel tausenterley Geschöpffen aufgezieret hat. Wann wir aber das Meer betrachten / so müssen wir uns über die Verschiedenheit der Fische noch mehr wundern/als die weit grösser ist / als die Verschiedenheit der Erd- und Lufft-Thieren. Ich will jetzo allein die Meer-Wunder und See-Menschen / und zwar nur die vornehmsten und seltsahmsten anführen/damit man des Meers Eygenschafften und Raritäten-Kammer auch in diesem Stück erkennen möge“.131 127 128 129 130
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Major: Unvorgreiffliches Bedencken, Bl. C4r. Für diesen Hinweis danke ich Andreas Gormans, Aachen. Zu diesem Komplex: Westerhoff: A World of Signs. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 15. S. 118. Ähnlich auch in Happels Kosmographie: „Das walt der allwaltende Schöpffer Himmels und Erden / der grosse Stiffter dieser unbegreifflichen Welt-Kunst-Kammer / welcher den Menschen darum die Augen in die Höhe gerichtet / daß sie Sein Himmels-Gezelt anschauen / und wegen dieser unbegreifflichen Schönheit den grossen Schöpffer unendlich preisen / und seine Wunder betrachten sollen“. Happel: Mundus Mirabilis Tripartitus, Band 1, Ulm 1687, S. 1. Ders.: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Das ungeheure Meer-Wunder“, Nr. 2, S. 14.
VII. Schlüsseldiskurse der Text-Kunstkammer: Beispielanalysen des Wissenshorizontes
Das Modell der Kunstkammer wird im vorliegenden Kapitel mit der Analyse der textuellen Wissensbestände weiter auf die Relationes Curiosae übertragen. Die nur exemplarisch mögliche Isolierung einzelner Inhalte ist dabei nicht nur arbeitspragmatisch, also negativ zu rechtfertigen. Vielmehr lassen sich die in die enzyklopädische Stofffülle zu schlagenden Schneisen über die inhaltliche Konvergenz von Kunst- und Text-Kunstkammer auch positiv legitimieren. So spiegeln sich die Schwerpunkte der materiellen Sammlungen in Happels imaginärer Sammlung und lassen sich über diese systematisch erfassen: die ,ethnographica’ in ihrem Korrelat der ,ethnographischen’ Beschreibung fremder Welten (Punkt 7.1.), die ,artificialia’ und ,naturalia’ in der von Happel aufgenommenen Begeisterung der Zeit für Kunst- und Naturwunder (Punkt 7.2.), sowie die ,scientifica’, die wissenschaftlich-technischen Instrumente, die überwiegend Teil größerer Kunstkammern waren und in den Relationes im Rahmen der ‚neuen’ Wissenschaften und ihrer revolutionären optischen Medien popularisiert werden (Punkt 7.3.). Die Themenfindung der Relationes Curiosae wird also durch die Kunstkammer und ihre Schlüsseldiskurse angeleitet und reguliert. Über die Analyse dieser paradigmatischen Diskurse sollen die Funktionsweisen von Happels Wissenskommunikation beschrieben werden. Folgende Gesichtspunkte und Fragen sind dabei leitend: Nach welchen Prinzipien wählt Happel die behandelten Schwerpunkte aus, in welchen Kontexten stehen diese, auf welche Quellen greift der Kompilator zurück und wie sieht das Verhältnis von ,Vortext’ und Text aus? Handelt es sich überwiegend um eine reine Reproduktion schon lange zirkulierender Wissensinhalte – und wenn nicht, welche Rolle spielt das iudicium, die Bewertung des Materials durch den Kompilator? Diese Frage soll vor allem über die Kommentarleistung des ,Journalisten’ geklärt werden; das heißt: es geht im Folgenden auch darum, was Happel an Inhalten vermittelt, primär aber darum, wie er es sagt, wie er das Wissen im jeweiligen Verwendungskontext aufbereitet, erklärt und in welchen kulturellen Bedeutungshorizont er die einzelnen Diskurse einschreibt. Wie zu zeigen ist, lässt sich aus den Relationes kaum eine konsistente ,Strategie’ des Schreibens destillieren, jedoch lassen sich wiederkehrende Argumentationsmuster und kompilatorische Charakteristika benennen. Die drei Fallstudien vermögen dabei nur einen Ausschnitt aus der vielschichtigen thematischen Fülle abzubilden – nicht thematisiert wird bei-
Schlüsseldiskurse der Text-Kunstkammer
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spielsweise das weite Feld historischen Wissens.1 Hier bleibt noch viel Material für zukünftige Studien.
7.1. Außenansichten der „Welt-Kunstkammer“: Von Seltsamkeiten fremder Nationen „[...] damit der curieuse [...] durch die fürnehmste Nationes der gantzen Welt geführet / und unterrichtet werde / was für ein gewaltiger Unterschied zwischen den Europeern und andern Nationen durch die Welt sey“. Happel: Relationes Curiosae, 1688
Die Repräsentation fremder Welten, genauer ihrer ethnisch-kulturellen Lebensformen, eignet sich besonders, um in der Analyse der Schlüsseldiskurse der Relationes den Anfang zu machen, da hier ein Bindeglied zwischen den Kunstkammern und einem Hauptthema frühneuzeitlicher Wissensliteratur vorliegt: Nicht nur die materiellen Sammlungen der Epoche dokumentieren ein explosives Interesse an ,ethnographischen’ Artefakten und damit einhergehenden imaginären Begegnungen mit Außereuropa; eine analoge Tendenz lässt sich vielmehr auch in den populärsten frühneuzeitlichen Lesestoffen beobachten – in der sprunghaft wachsenden Masse an Reiseberichten besonders aus Indien und der ,Neuen Welt’,2 in Kosmographien und anderer ,welthaltiger’ Literatur, aus denen Happel zahllose Artikel seines Periodikums kompiliert. In einer ganzen Bandbreite an Medien pendelte im 17. Jahrhundert die leidenschaftliche Hinwendung zu exotischen Welten zwischen modischem Eskapismus, wissenschaftlichem Interesse und oberflächlichem „Publikumsrummel“.3 In jedem Fall zeigten sich Kunstkammer, Reiseliteratur und die Relationes durch die Trias ,Geographische Expansion – Neugier – Sammeln’ grundsätzlich verbunden.4 Nicht ohne Stolz berichtet 1 2
3 4
Zu diesem Diskurs siehe Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 193ff. Aus der Fülle der Literatur hier nur exemplarisch: Neuber, Wolfgang: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991; sowie: Wolff, Gerhard: Fremde Welten – bekannte Bilder: Die Reiseberichte des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Röcke (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der Literatur, Band 1, 2004, S. 507-528. Bitterli, Urs: Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1991, S. 181. Über die Konvergenz der Wissensformen bei Happel auch: „Eberhard Werner Happel gehört zu den wichtigsten Romanschreibern, bei denen man eine Verbindung zwischen Roman und Reisebeschreibung feststellen kann“. Mitrovich, Mirco: Deutsche Reisende und Reiseberichte im 17. Jahrhundert: Ein kulturhistorischer Beitrag, Michigan 1963, S. 206f.
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Schlüsseldiskurse der Text-Kunstkammer
Happel von den „[...] curieusen Pilger[n] und Itineranten dieser Zeit [...]“.5 Jean de Thévenot (1633-1667), dessen Asienbericht den Relationes häufig als Quelle dient, bemerkte, dass die Lust zur Erfahrung anderer Welten „[...] niemaln größer gewesen / als zu unsern jetzigen Zeiten“.6 Wie Happel sein Periodikum als Ersatzmedium für all jene stilisiert, die zu den Kunstkammern der Zeit keinen Zutritt fanden, so stellten auch die Reiseberichte ein kompensatorisches Medium der Welterschließung7 für alle dar, deren „[...] Standt / Condition und Gelegenheit [es nicht] zulässet / so ferne unbekandte örter zu besuchen [...]“8 – so die Formulierung von Adam Olearius in seiner berühmten Orientalischen Reise. Nicht zufällig konvergierte der historische Höhepunkt der Kunstkammer-Begeisterung daher mit einer bis dahin unbekannten Blüte an Literatur über Außereuropa. Die Fülle neuer Kenntnisse und Texte über außereuropäische Welten steuerte nicht unwesentlich zu den Bücherklagen der Zeit bei (siehe Kapitel 4.2.). Schon gegen 1650 verwies der niederländische Prediger Abraham Rogerius (gestorben 1649) in seiner Offnen Thür zu dem verborgenen Heydenthum auf einen gewissen Erschöpfungsgrad des Wissens: „Es ist bekant / daß die Natur / Gestalt / und Beschaffenheit der OstIndianischen Länder / biß in China, und Japan zu / durch unterschiedliche Völcker aus Europa dermassen untersucht / als ob sie selbst darinnen geboren und erzogen worden: Also daß kein Vogel in der Lufft / kein Fisch in der See / keine Thiere auf Erden / keine Kräuter auf den Bergen / keine Frucht auf dem Feld / kein Gewächst der Bäume / und was dergleichen mehr / zu finden / dessen Art und Krafft sie nicht vollkömmlich erforscht / und gantze Bücher davon geschrieben haben solten“.9
Schon seit dem 16. Jahrhundert traten erste Kompilatoren mit dem Versuch auf den Plan, das unüberschaubar werdende Wissen zu sammeln und zu organisieren,10 so etwa die enorm erfolgreichen Reiseberichtssammlungen des 5 6 7
8 9
10
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Menschlich-gestalte Bestien“, Nr. 14, S. 108. Thévenot, Jean de: Reisen In Europa, Asia und Africa [...], Frankfurt 1693, S. 1. Engelsing, Rolf: Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, in: Ders.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 4), Göttingen 1973, S. 140. Olearius: Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Reise, S. 1. Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Roger, Abraham: Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum: Oder / Warhaftige Vorweisung deß Lebens und Sittens / samt der Religion und Gottesdienst der Bramines auf der Cust Chormandel, und denen herumligenden Ländern [...], Nürnberg 1663, Vorrede, Bl. 1r. Hierzu immer noch grundlegend: Böhme, Max: Die grossen Reisesammlungen des 16. Jahrhunderts und ihre Bedeutung, Strassbourg 1904; siehe auch: Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 241ff.
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Frankfurter Familienunternehmens um Theodor de Bry11 (1528-1598). Im 17. Jahrhundert machte sich unter den volkssprachlich publizierenden Polyhistoren zunächst Erasmus Francisci daran, den Kenntnisstand über Außereuropa in seinem „enzyklopädischen Großunternehmen“12 West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten zu komprimieren; obwohl er hier nur Bruchstücke und ausgewählte Ausschnitte präsentierte, füllte er nicht weniger als zweitausend Folioseiten. Den Vorzug der kompilatorischen Methode legitimiert Francisci mit einer ironischen Metapher mit Blick auf die schiere Masse der Texte über ,beide’ Indien, also West- und Ost-Indien: „Von solchen Sachen seynd gewißlich in dem heutigen Welt-Alter so viel Relationen / Reisebeschreibungen / Schifffahrts-Erzehlungen / ja gantze grosse Bücher herausgegeben / daß mancher ehe persönlich nach Indien reisen / als all dieselbe durchlesen solte / und mehr vor eine Last / als Lust / mehr vor eine Straffe / als Ergetzung deß Gemüths halten / alle Folianten / so hievon handeln / nur mit den Augen durchzuwandern“.13
Vergleichbares wie Francisci leistete Olfert Dapper etwa zeitgleich mit seiner gründlich recherchierten, ebenfalls vor allem auf der Grundlage von Reiseberichten verfassten Umbständlichen und Eigentlichen Beschreibung von Africa und der Unbekanten Neuen Welt / oder Beschreibung des Welt-teils Amerika, die Happel ebenso nutzte wie die Kompilationen von Francisci. Mit Blick auf die geistige Auseinandersetzung Europas mit außereuropäischen Kulturen zehrt Happel insofern zum einen von den maßgeblichen Primärquellen der Epoche und zum anderen von einer langen, kaum mehr zu überblickenden ,sekundären’ Verwertungskette des Wissens. Damit wirft sich die Frage auf, was eine Analyse der Konstruktion und Vermittlung fremder Welten in den Relationes leisten kann und wie methodisch zu verfahren ist. Der Zugang wird zunächst dadurch erschwert, dass Happels fragmentarische und planlose Darstellung die bereits chaotische Struktur vor allem der Reiseberichte der Frühen Neuzeit noch einmal verstärkt; Michael Harbsmeier hat diesen Grundzug der Gattung als Wilde Völkerkunde bezeichnet und pointiert mit der Kunstkammer verglichen. Seine Befunde für die deutschen Reiseberichte lassen sich dabei auf die europäische Gattung insgesamt ausdehnen: „Die von deutschsprachigen Reisenden im 17. und 18. Jahrhundert beschriebenen Außenwelten können auch darin einer gigantischen Kunst- und Wunder11 12 13
Siehe: Burghartz, Susanna: Die inszenierten Welten der Verleger de Bry, in: Dies. (Hrsg.): Staging New Worlds. Die west- und ostindischen Reisen der Verleger de Brys, Basel 2004, S. 7-12. Dharampal-Frick, Gita: Indien im Spiegel deutscher Quellen der frühen Neuzeit (1500-1750): Studien zu einer interkulturellen Konstellation, Tübingen 1994, S. 76. Francisci: Lust- und Stats-Garten, Vorrede, Bl. ):(iiiir.
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kammer verglichen werden, dass es kaum möglich ist, ein System zu entwickeln, nach dem die charakteristische Vielfalt der auf unendlich verschiedenen, krummen und sich überschneidenden Wegen zusammenkommenden Exponate oder Beschreibungen nach klaren Kriterien sortiert und klassifiziert oder gar auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnte“.14
Wie die Kunstkammer folgt der Reisebericht individuellen Geschmacksvorlieben, ist in der Darstellung bruchstückhaft und sperrt sich in seiner „[...] selektive[n] Wahrnehmung jeweils einzelner kurioser Gegenstände und Verhältnisse [...] gegen alle Formen der Klassifikation, der Typologie und des Vergleichs“.15 Dieser ‚undisziplinierte’ Blick auf fremde Welten und ihre Bewohner potenziert sich in der Verarbeitung der Reiseberichte durch die Relationes ein weiteres Mal. Schon bedingt durch die programmatische Unordnung werden die ohnehin schon fragmentarischen Eindrücke der Quellen im Prozess der Adaption für das periodische Format in die noch kleineren Bruchstücke der Artikel zerlegt. Eine Spiegelung fremder Länder als geschlossene kulturelle Größe wird damit a priori unterlaufen. Bereits die Struktur von Happels Periodikum lässt also den Versuch wenig sinnvoll erscheinen, die in zerstreuen Mosaiksteinen vermittelten Bilder außereuropäischer Kulturen nachträglich zu Gesamteindrücken systematisieren zu wollen. Methodisch würde so zudem versucht, die Relationes innerhalb der Vor- und Frühgeschichte der Ethnographie zu verorten, also vor allem die Frage zu stellen, inwiefern Happel auf der Grundlage seiner Quellen ein ,authentisches’ oder ‚richtiges’ Bild der beschriebenen Länder erzeugt. Im vorliegenden Punkt soll es jedoch weniger um die beschriebene als um die beschreibende Kultur gehen und damit ein „umgekehrter Gebrauch“16 der Relationes verfolgt werden, wie ihn Michael Harbsmeier für die Analyse von Reisebeschreibungen vorgeschlagen hat; da Happels Periodikum von den Reiseberichten als Quellen abhängt, bietet sich diese ,Leserichtung’ auch für die Relationes an. Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass Harbsmeier „[d]ie 14 15
16
Harbsmeier, Michael: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der frühen Neuzeit, Frankfurt 1994, S. 190. Ebd., S. 191. Im dritten Teil der Reisebeschreibung von Thévenot zeigt sich diese selektive Wahrnehmung von „Curiositäten“ in Form für den europäischen Beobachter ‚absonderlichen’ Sitten schon im Titel eines Kapitels: „Das XXI. Capitel. Von andern Curiositäten zu Agra [der Hauptstadt des indischen Mogulreichs, F.S.]. Es sind viel Leute zu Agra, die mit sonderlichem Eyfer Thiere auferziehen / um an denenselben / wann sie solche miteinander streiten lassen / ihre Lust zu haben“. Thévenot: Deß Hn. Thevenot Reysen in Ost-Indien [...], Frankfurt 1693, S. 78. Harbsmeier, Michael: Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quelle. Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher Reisebeschreibungen, in: Maczak, Antoni / Teuteberg, Jürgen (Hrsg:): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, Wolfenbüttel 1982, S. 1-31, hier S. 13.
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Redeweise, ein Reisebericht sage mehr über seinen Verfasser aus, als darüber, wovon er zu berichten vorgibt [...]“,17 wörtlich nimmt. Genauer: „Gerade weil Reiseberichte in der Frühen Neuzeit in erster Linie als mehr oder weniger verlässliche Fremddarstellungen, also als Informationsquellen über die darin beschriebenen auswärtigen Ereignisse und Verhältnisse aufgefasst wurden, bieten sie sich uns als desto verlässlichere unfreiwillige Selbstdarstellungen der Verfasser und ihrer zeitgenössischen Leser an“.18
Gita Dharampal-Frick hat diesen Zugriff dahingehend pointiert, dass es für den Kulturhistoriker eine „[...] ganz besonders lohnende und reizvolle Erkenntnisaufgabe [ist], die vergangenen Beobachter einer fremden Kultur bei ihrem Beobachten zu beobachten, also die Urteils- und Vorurteilsstrukturen, die perzeptiven Mechanismen und die ‚literarischen’ Präsentationsformen kultureller Fremdwahrnehmung in actu zu studieren [...]“.19
Liest man die Reiseberichte – und mit ihnen die Relationes – derart ,gegen den Strich’, geht es in erster Linie um das implizite Selbstbild (Europas), das in den medialen Fremdbildern des Periodikums geformt wird. Zu klären ist also, welche Wahrnehmungsraster,20 Prinzipien und kollektiven Einstellungen gegenüber ,dem Anderen’ die Konstruktion fremder Welten anleiten und welche kommunikativen Funktionen diesen zukommt. So verstanden, zielt die Analyse auf eine longue durée von Mustern der Differenz- und Fremdwahrnehmung, von eigener Identität und fremder Alterität und wie diese von einem Medium ins andere übernommen werden. Gerade für den eurozentrischen Blick des 17. Jahrhunderts bedeutet ,Fremdheit’, so ist zu zeigen, nicht nur einen kulturell-lebensweltlichen Abstand zum Beschreibenden (und Kompilator); sie verweist vielmehr auf das prinzipiell Ausgegrenzte, das „[...] mit den Mitteln der Inversion als das verkehrte Gegenbild unser eigenen Welt dargestellt wird“.21 Allerdings vermittelt Happel nicht nur negative, sondern auch positive Formen der Alterität, die eine relative ,Weltoffenheit’ des Periodikums verdeutlichen und das Bild fremder Welten nicht nur mit Furcht und Abwehr, sondern auch mit exotischem Verlangen besetzen. Sind Ansätze eines ,Kulturrelativismus’ zu finden, die eine euro17 18 19 20
21
Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 29. Ebd. Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen, S. 9f. Osterhammel, Jürgen: Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: König, Hans-Joachim / Reinhard, Wolfgang / Wendt, Reinhard (Hrsg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zum Problem der Wirklichkeitswahrnehmung (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 7), Berlin 1989, S. 9-43, hier S. 42. Ebd., S. 34.
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päische Identität in Ansätzen bereits herausfordern? Mit Blick auf die Quellenverarbeitung ist danach zu fragen, an welchen Stellen Happel eine Überarbeitung der Vorlagen leistet und wo lediglich eine Reproduktion von Klischees und Reiseberichtskonventionen zu beobachten ist. 7.1.1. Die „Curiosität“ des Anderen: Determinanten der Fremdwahrnehmung In Kunstkammer und Text-Kunstkammer floss im Hinblick auf Außereuropa allein das ein, was die „curiöse“ Erwartungshaltung sättigte und daher in Artefakten, Sitten und Gebräuchen besonders ungewohnt erschien. Nur so waren die Verwunderung und Neugier von Betrachtern und Lesern gesichert. Dass von den Merkmalen außheimischer22 Völker in selektiver Weise nur besonders sensationelle Facetten relevant erschienen, hatte vor Happel schon Francisci erklärt. So sei es, wie Francisci im Stats-Garten bemerkt, „[...] hie unser Vorsatz nicht gewesen / eine vollkommene Land-Reise-oder Geschicht-Beschreibung von Sina / Ost- und West-Indien; sondern vielmehr die schau- und leswürdigste Sachen fürzulegen“.23 Ähnlich erklärt sich Happel um 1684 in den Relationes – auch er will ausschließlich die „Seltsahmkeiten“ fremder Länder in seiner imaginären Kunstkammer „vor Augen stellen“: „Bißhero haben wir von allerhand Seltsahmkeiten discurriret; Aber was ist solches alles / wann wir die Seltsahmkeiten der Menschen nicht auch gebührlich anführen? Derselben sind überaus viele / welche alle zu erzehlen mir / ja fast einem jeden / unmöglich fallen dörffte. Ich will aber die vornehmsten vor die Hand nehmen / und dem curieusen Leser darin viel Curiositäten vor Augen stellen“.24
Grundsätzlich war in diesen „Curiositäten“ das Unterhaltungspotential imaginärer Weltreisen angelegt – ihnen ging es weniger um eine intellektuelle denn emotionale Reaktion auf ,die’ Fremde. Schon in einer der ersten Bögen der Relationes gibt Happel zu verstehen, dass er „[...] den curieusen Liebhaber einiger Massen vergnügen [will] / indem ich ihn in etliche Länder führe
22
23 24
So im Titel einer weiteren Kompilation von Francisci: Acerra Exoticorum: Oder Historisches Rauchfaß: Darinnen Mancherley fremde Fälle und Geschichte / nebens andern Erzehlungen / als etlicher Kunst- und Natur-Wunder / alter Pracht-gebäue / wie auch einiger Meldungs-würdiger Sitten / Gewonheiten / so wol als andrer anmercklicher Sachen außheimischer Völcker [...] zusammen gesucht [...] dargereicht und furgesetzt [...], Frankfurt 1672. Zitiert nach: Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen, S. 80. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die seltsame Nation“, Nr. 11, S. 81.
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[...]“.25 Die Zerstreuungsabsichten speisten sich vor allem aus der angedeuteten Alteritätserfahrung, die Happel auch bewusst akzentuiert. Um 1688 drückt er seine Zielsetzung im Schreiben über Außereuropa im Artikel „Der außländische Artzt“26 wie folgt aus: „[...] damit der curieuse [...] durch die fürnehmste Nationes der gantzen Welt geführet / und unterrichtet werde / was für ein gewaltiger Unterschied zwischen den Europeern und anderen Nationen durch die Welt sey“.27 In der Betonung einer kulturellen Differenz vom europäischen ,Hier’ und nicht-europäischem ,Dort’, das zugleich eine Vielzahl an „Gegenwelten“28 erzeugt, vermittelt sich indirekt auch das Bild eines kulturellen Gefälles, in dem die „Curiosität“ des Anderen überwiegend auch seine (zivilisatorische) Unterlegenheit markiert. Hier transportieren die Relationes einen Grundzug in der Aneignung außereuropäischer Welten durch die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts: Denn die Masse an neuen Kulturkontakten zwischen Europa und der übrigen Welt führte nicht zwangsläufig dazu, dass Europa sich nicht länger als das Maß aller Dinge betrachtete.29 Stattdessen werden die Bausteine des ,ethnographischen’ Diskurses in den Relationes (Religion, Nahrung, Wohnung, Kleidung, Rechtsprechung, Justiz, Zeremoniell, Hochzeits- und Trauerrituale, Kunst und Wissenschaft etc.) über weite Strecken in ein binäres Grundschema von ,uns’ und ,ihnen’ gepresst, das die Erfahrung neuer Welten im Rahmen alter Denkmuster und Deutungskonzepte ermöglichte. Zu diesen gehörten vor allem die asymmetrischen Gegenbegriffe30 ,Christen und Heiden’. 7.1.2. Abwehr durch religiöse Gegenfiguren: Christen und ,heidnische Barbaren’ Was den Großteil von Happels Quellen über Außereuropa verbindet, ist die Wahrnehmung der Religiosität ,des Anderen’ „[...] als einer der stärksten Indikatoren für kulturelle Fremdheit“.31 Wie irritierend unterschiedlich die 25 26 27 28 29 30 31
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die [...] Ordens-Leute“, Nr. 18, S. 141. Ebd., Band 4.2, Nr. 35, S. 280. Ebd. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 34. Ryan, Michael T.: Assimilating New Worlds in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Comparative Studies in Society and History, Vol. 23, No. 4, 1981, S. 519-538, hier S. 519. Koselleck, Reinhart: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 211-259. Nolde, Dorothea: Andächtiges Staunen – Ungläubige Verwunderung. Religiöse Differenzerfahrung in Reisezeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Francia, 33, 2006, S. 13-35, hier S. 13.
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Bewohner Chinas, Afrikas oder Amerikas auch immer wirkten – in der europäisch-christlichen Vorstellungswelt verschmolzen sie in der Formel des ,Heidentums’. Christen und ,Heiden’, „[...] binäre Begriffe von universalem Anspruch [...]“,32 zeigen, wie sehr die (sprachliche) Erfassung anderer Kulturen auch noch im 17. Jahrhundert durch bereits antike Muster vorstrukturiert blieb. Wie seine Quellen auch, setzt Happel den Terminus ,Heiden’ teils in wertneutraler, vor allem aber in pejorativer Weise ein, um die Grenzen zwischen dem ,rechtgläubigen’ Europa und der ,irrgläubigen’ Peripherie zu zementieren. Die Gegenbegriffe von Christen und Heiden dominieren die Wahrnehmung fremder Welten in Happels Wochenblatt sogar insgesamt, wobei die antike Gegensetzung von Hellenen und Barbaren im Topos des grundsätzlich ,barbarischen Heiden’ aktualisiert wird; so etwa in der Relation „Die Barbarische Pracht“,33 in der allerdings auch die von Happel andernorts vermittelte Faszination mitschwingt, die sich die zeitgenössische Reiseliteratur besonders vom mythischen Reichtum Asiens machte: „Wo findet man einen grössern Staat / Pracht / Pomp / Herrlichkeit / und gezwungenes Ansehen / als bey den Barbaren? (also nenne ich alle diejenige / so keine Europäische Christen sind) [...]“.34 Das heißt im Umkehrschluss: Wer nicht christlich ist, ist in der Perspektive des Kompilators barbarisch und heidnisch. Dieses Urteil erstreckt sich implizit auch auf die beiden anderen Buchreligionen, Happel differenziert hier nicht. Vielmehr macht er schon angesichts der andauernden zeitgenössischen Bedrohung Europas durch die Türken auf pauschale Weise deutlich, dass Mohammed nicht mehr sei als ein „falscher Prophet“.35 Judentum und Islam rücken an diesem Punkt zusammen, da sie vermeintlich Sympathien füreinander teilen: „In keinem Ort der Welt hat dieses Volk [die Juden, F.S.] grössere Freyheit / als unter den Mahometanern / und insonderheit Türckey [...]“.36 Beschränkt man das ,Heidentum’ jedoch auf die ursprüngliche, engere Semantik des Wortes und damit auf alle nicht-monotheistischen Glaubensanschauungen, lassen sich in Anlehnung an Reinhart Koselleck für die Relationes vier konstitutive Merkmale entwickeln, über die Happel das christliche Europa immer wieder in einen absoluten Gegensatz zum Beschriebenen rückt: 1. Räumlich-geographische Distanz: Schon die vorchristlichen Gegenfiguren von Hellenen und Barbaren waren maßgeblich durch eine konkret räumliche Distanz definiert. Jene Kulturen, die außerhalb der Hellas lagen, 32 33 34 35 36
Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 213. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 80, S. 645f. Ebd., S. 645. Ebd., Band 1.2, Relation „Die ergossene Ströhme des 17 Seculi / biß auf unsere Zeit“, Nr. 33, S. 261. Ebd., Band 3.2, Relation „Die zerstreuete Juden“, Nr. 3, S. 20.
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wurden pauschal als ,Barbaren’ deklassiert.37 Implizit sahen sich auch die barocken Kunstkammern als Institution des – jetzt christlichen – Zentrums, während das, was an religiösen Kultobjekten den Weg in die Sammlungen fand, überwiegend aus der ,heidnischen’ Peripherie stammte – „[...] lauter Abgötter“38 etwa, Idole, die in der Gottorfer Kunstkammer eine eigene Sektion ausmachten. Sieht man von den „Heydnischen Irrsalen“39 der nördlichen Finnen und Lappländer ab,40 zeigt sich auch in den Relationes das europäische Zentrum vom Heidentum als Phänomen der geographischen Randbereiche klar getrennt. Wenn es nach Happel auch „[...] zu beklagen [ist] / daß so manch herrliches Land von lauter blinden Heyden [...] bewohnet wird [...]“,41 gruppiert sich die Vielzahl der imaginär durchstreiften „Heidnischen Landschafften“42 in großer Entfernung um Europa herum – in Asien, Afrika und Amerika. Das bedeutet auch, dass das tatsächliche Bedrohungspotential der Heiden für Europa, anders als das der Muslime im Beispiel der Türken, mit der räumlichen Entfernung schrumpft und das Heidentum in Happels Periodikum eher als Objekt des Spottes auftaucht – immer wieder ist vom „Narrenspiel“,43 „Gauckel-Possen“44 oder ähnlichem die Rede. Die ‚Hereinnahme’ der Fremde in das europäische Bewusstsein erfolgt hier nicht zuletzt durch ihre Verharmlosung. 2. Physische Deformation: Die klassische Stigmatisierung des ,Barbaren’ leitete sich auch aus dem Attribut inferiorer körperlicher Erscheinung ab.45 Auch in den Relationes ist die Vorstellung körperlicher Deformationen und „monstrosische[r] Nationen“46 in erster Linie ein Phänomen der Peripherie, das allerdings bis an die Grenzen Europas vorrücken kann – die „Lappen“ etwa seien „[...] eben so ungestalt als ihre Nachbahren“.47 Physische Missbildungen werden dabei häufig aus einem heilsgeschichtlichen Erklärungszusammenhang abgeleitet, der Deformationen als göttliche Strafintervention gegen die ,Ungläubigen’ erscheinen lässt. In dieser Form hat ,die’ Fremde 37 38 39 40
41 42 43 44 45 46 47
Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 219. Olearius: Gottorffische Kunst-Cammer, S. 5. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Der Finnische Zauberer“, Nr. 61, S. 484f. Über die Wahrnehmung dieser innereuropäischen Peripherien siehe etwa: Witthoff, Ekkehard: Grenzen der Kultur. Differenzwahrnehmung in Randbereichen (Irland, Lappland, Rußland) und europäische Identität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1997. Ebd., Relation „Der Moscovitische Todten-Paß“, Nr. 47, S. 375f. Ebd., Relation „Die Religion der Hispaniola“, Nr. 91, S. 724. Ebd., Band 2.2, Relation „Der abscheuliche Ertz-Priester“, Nr. 27, S. 211. Ebd., Relation „Die Bedeutung dieser Ceremonien“, S. 212. Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 221. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Das abscheuliche Monstrum“, Nr. 11, S. 86. Ebd., Band 4.2, Relation „Die Lapponische Lebens-Arth“, Nr. 75, S. 597.
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konkret lediglich „[...] als Gegenstand der Dankbarkeit dafür zu dienen, dass man selbst anders ist“.48 So sei es, wie Happel im Artikel „Der dickbeinigte Thomas-Mörder“49 sinniert, „[...] mit mehr als tausend Europäern zu erweisen / daß diejenigen [...] blinden Heyden in Ost-Indien / auff der Cüst Choromandel / nahe bey der Stadt Meliapor [dem heutigen Madras, wo der Apostel Thomas mußmaßlich 58 n. Chr. landete und später den Märtyrer-Tod erlitt, F.S.] / oder St. Thomas / welche von denen hergestammet / die an dem Mord des heiligen Apostels Thoma / so in dieser Gegend gelehret / und die Marter-Krohn empfangen / schuldig gewesen / allesampt ein Bein haben / das so dicke ist / als ein Elefanten-Schenckel / das andere Bein hergegen hat seine gute Proportion“.50
Zur visuellen Beglaubigung ist dem Artikel ein Holzschnitt beigefügt (Abb. 17); als Quelle gibt Happel Arnold Montanus’ (1625-1683) Denckwürdige Gesandtschafften der Ost-Indischen Gesellschaft51 an, die dieser 1669 auf der Basis gebündelter Reiseberichte der Niederländischen Ostindien-Kompanie veröffentlicht hatte. Der Holzschnitt dürfte damit weit älteren Datums sein und sich bis zum enorm erfolgreichen Reisebericht des Niederländers Jan Huygen van Linschoten (1563-1611) zurückverfolgen lassen. Dieser widmet in seinem bereits 1596 erschienen Werk dem ,Dickbeiner’ zwei Seiten im Folioformat,52 illustriert von einem Kupferstich, der sich als Vorlage des simpleren Holzschnittes in den Relationes identifizieren lässt.53 Das Thema deformierter „Heyden in Ost-Indien“ führt Happel noch im gleichen Artikel zum Judentum. Den gängigen Antijudaismus der Zeit schwächen die Relationes hier keineswegs: „Wie viel leben unter uns / die behaupten wollen / daß die heutige gantze Judenschafft eine mißgestalte Nation / und ein jeder Stamm mit einem sonderbahren Kennzeichen zur Straffe von Gott beladen sey?“54 Rhetorisch gibt Happel zwar vor, den Wahrheitsgehalt der Aussage nicht 48 49 50 51
52
53 54
Neuber, Wolfgang: Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt, in: König / Reinhart / Wendt (Hrsg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen, S. 43-64, hier S. 64. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 84. Ebd. Montanus, Arnold: Denckwürdige Gesandtschafften der Ost-Indischen Gesellschaft in den Vereinigten Niederländern [...], Amsterdam 1669f.; zitiert als „Arnold Montan. Wondern van’t Osten.cap.17.p226“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 84. In der englischen Übersetzung von 1598 heißt es, dass die Mörder von St. Thomas „[...] plagued with a certain disease, [...] one foote from the knee downewardes as thicke as an Elephantes legge, the other legge and and all their members without any deformitie [...]“. Linschoten, Jan Huygen van: His Discours of Voyages into y Easte & West Indies [...], Facsimile of the London 1598 edition, Amsterdam 1974, S. 26. Der Kupferstich befindet sich in der Ausgabe von Linschotens Bericht aus dem Jahr 1644: Itinerarium, ofte schip-vaert naer oost ofte Portugaels Indien [...], Amsterdam 1644, S. 65. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 85.
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selbst beurteilen zu wollen, er unterstreicht ihn damit jedoch nur umso deutlicher. Dass ,die’ Juden „[...] einem schändlichen Mangel in der Natur / oder an Gliedmassen [...]“55 unterworfen seien wolle er „[...] weder behaupte[n] noch verwerffe[n] / sondern auff seinem Werth beruhen lasse[n]. Gott bekehre sie / damit sie nicht in alle ewigkeit mangelhafft bleiben müssen“.56 3. Charakterliche Unterlegenheit: Im Etikett der ,barbarischen Heiden’greift Happel auch auf die überwiegend unkritisch transportierten Völkerstereotype und Nationalcharaktere zurück, die selbst innerhalb Europas bereits über eine lange Tradition verfügten.57 In der Logik des europäischen Überlegenheitsanspruchs wird der Vorwurf körperlicher Unterlegenheit auf Seiten der Heiden um den der geistigen Primitivität ergänzt: Wiederholt brandmarkt Happel die „[...] grausahme und barbaris. Gewohnheit [...]“58 der Heiden. So sei es unstrittig, dass „[...] die Indianische / und gemeinigliche alle Barbarische Nationen keine Heroische Löwen-Arth an sich [haben, F.S.] / sondern die Natur der schändlichen Bären / Wölffen und Raben“.59 Die von Happel thematisierten fremden Welten liefern vor dieser Deutungsfolie ständige Aufnahmen einer ,verkehrten Welt’; im Spiegel der Relationes zeigt sich diese sogar im Detail invertierter Geschlechterrollen. So stünden, wie Happel gestützt auf den weit verbreiteten Reisebericht von Pietro Della Valle berichtet, viele „[...] Reiche und Länder in Ost-Indien [...] noch auff den heutigen Tag unter dem Regiment der Weiber [...] allermassen die Heyden in der Meynung stehen / daß man wegen des Geblüths oder Abstammens von den Vorfahren her / bey den Weibern viel gewisser / als bey den Männern seyn könne“.60 4. Zeitliche Distanz: Nur implizit liegt dem vermittelten Gegensatzpaar von Heiden und Christen das von Koselleck angeführte „temporale Deutungsmuster“61 zugrunde. Zur erwähnten geographischen Distanz kommt die zeitliche insofern, als Happel in seinem Wochenblatt auch von den [...] alten Teutschen [berichtet]/ da sie noch im blinden Heydenthum [...]“62 lebten. Die zeitgenössischen Heiden Außereuropas verbleiben damit in einem 55 56 57 58 59 60 61 62
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 85. Ebd. Dazu: Agazzi, Elena / Beller, Manfred (Hrsg.): Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der ikkerische Weiber-Brandt“, Nr. 87, S. 692. Ebd., Band 3.2, Relation „Der Königliche hochbeschimpfte Cörper“, Nr. 23, S. 182. Ebd., Band 2.2, Relation „Die Königin von Garsopa, Olala, Borneo“, Nr. 56, S. 447. Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 240. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die Verehrung der Sonnen bey anderen Leuten“, Nr. 91, S. 727.
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,vorgeschichtlichen’ (primitiven) Stadium, da sie nicht als Teil der Heilsgeschichte erscheinen – mit Ausnahmen allerdings (siehe unten). Ein eher sekundäres Problem ist für Happel in diesem Zusammenhang, dass auch einige seiner Hauptquellen aus der Feder von „Heidnische[n] Scribenten“63 stammen – so etwa die gewichtige Naturgeschichte von Plinius. Das durch die obigen vier Kriterien konstituierte Abgrenzungsschema wird in den Relationes Curiosae allerdings dann durchbrochen, wenn in religiöser Perspektive nicht nach Differenz, sondern nach Entsprechungen gesucht wird. ,Der’ Fremde wird hier besonders deutlich das Bild des Eigenen aufgezwungen, weil unvertraute Glaubensanschauungen durch die Brille vertrauter Elemente ,domestiziert’ werden. Das spezifisch Eigene und Autonome der anderen Kultur wird ausgeblendet. Es stünde etwa fest, dass „[...] [z]u allen Zeiten [...] in der gantzen Welt / auch selbsten mitten unter den blinden Heyden / sehr viel auff den Gottesdienst gehalten / alldieweil man befunden / daß ohne denselben kein richtig Regiment / noch standhaffte Policey, zuwege gebracht werden könte [...]“.64 Selbst in Amerika, für Happel im Thesaurus Exoticorum die „[...] lang vergessene so genante Neue Welt [...]“,65 seien demnach „Spur-Zeichen der Christlichen Religion [...]“66 auszumachen. So werden die Heiden in einigen Passagen doch noch zum Teil der Heilsgeschichte. Den Heiden Amerikas seien sogar, wie Happel auf der Grundlage der einflussreichen Historia Natural y Moral de las Indias67 (1590) des Jesuiten José de Acosta (1540-1600) berichtet, Einzelheiten der Offenbarung geläufig: „Sie haben auch eine Tradition von der Sündtfluth Noae, darinn geschrieben / daß das ganze Menschliche Geschlecht sey ersoffen / außgenommen 6 Persohnen / so sich in einer Höhle salvirt“.68 Die wiederholte Suche nach einer vergleichbaren Überlieferung von Christen und Heiden trifft neben Amerika auch für ,Ost-Indien’ zu. So stünden die ,Indianer’ dort „[...] in der festen Einbildung / Adam und Eva seyn allhier / als recht mitten in der Welt gestorben [...]“.69 Die Betonung von vergleichbaren kulturellen Identitäten über eine den Heiden zugeschriebene rudimentäre „[...] 63 64 65 66 67 68 69
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der erdichtete Riese“, Nr. 15, S. 114. Ebd., Band 1.2, Relation „Der herrliche Tempel Dianae zu Epheso: Ein Wunder-Werck der Welt“, Nr. 56, S. 479. Happel: Thesaurus Exoticorum, Vorrede, Bl. 2r. Ders.: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die Spur-Zeichen der Christlichen Religion in America“, Nr. 90, S. 718f. Dazu etwa: Gareis, Iris: José de Acosta. Historia Natural y Moral de las Indias, in: Feest, Christian F. / Kohl, Karl-Heinz (Hrsg.): Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001, S. 1-5. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die Spur-Zeichen der Christlichen Religion in America“, Nr. 90, S. 718. Ebd., Band 1.2, Relation „Die Indianische Wallfahrten“, Nr. 42, S. 331.
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Vertrautheit mit der im Alten und Neuen Testament niedergelegten Offenbarung“70 hat Gita Dharampal-Frick als ein topisches Moment in den deutschsprachigen Quellen der Frühen Neuzeit über ,Ostindien’ bezeichnet. Es überrascht daher nicht, dass sich in den Quellen von Happels Artikel einer der für das deutsche Indienbild der Epoche maßgeblichen Reiseberichte findet: die von Adam Olearius 1658 edierte Morgenländische Reyse-Beschreibung71 Johann Albrecht von Mandelslos (1616-1644). Während der Begriff ,Heidentum’ die Bedeutung von Alterität noch relativ abstrakt speichert, führte in den frühneuzeitlichen Reiseberichten und auch in den Relationes erst die Thematisierung von konkreten religiösen Praktiken zur (medialen) Erfahrung kultureller Fremdheit.72 Zahllose Artikel der Relationes kreisen um Formen der „Abgötterey“73 unter den „Unchristen“,74 die von Happel im harmlosesten Fall als naiv, im schlimmsten Fall als ernsthaftes Teufelswerk beurteilt werden. Der Teufel rückte in vielen europäischen Reisebeschreibungen der Zeit in eine zentrale Rolle75. Hier rührte die Lust an den beschriebenen Gegenwelten nicht unwesentlich auch aus der Lust am Antagonisten, der in ,sicherer’ geographischer Entfernung seine Macht demonstrierte. In einem Diskurs über die als Aberglauben abgewertete antike Praxis der Orakel-Befragung gibt Happel mit seiner Quelle – der Reyß-Beschreibung76 Della Valles – zu verstehen, dass Orakel-Rituale außerhalb Europas weiter alltäglich seien. Dies führt ihn zu einem grundsätzlichen Kommentar über den weltumspannenden Einfluss des Teufels: „Wir sollten aber nicht dafür halten / daß der Teuffel nunmehr sampt seinen Oraculis auß der Welt verbannet sey: weit gefehlet. Die einfältigen Americaner / Afrikaner und Lappen / ja allerdings die hochverständigen Indianer / Chinesen und Japonesen lassen sich nicht abhalten diesem schändlichen Geist ja göttliche Ehre zu erweisen“.77
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Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen, S. 310. Mandelslo, Johann Albrecht von: Morgenländische Reyse-Beschreibung: Worinnen zugleich die Gelegenheit und heutiger Zustand etlicher fürnehmen Indianischen Länder / Provincien / Städte und Insulen / sampt derer Einwohner Leben / Sitten / Glauben und Handthierung [...] / Heraus gegeben Durch Adam Olearium [...], Schleswig / Hamburg 1658. In den Relationes wird der Text überwiegend ungenau zitiert als „Mandelslo Itinerar“; etwa: Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 42, S. 331. Nolde: Andächtiges Staunen, S. 16. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der prächtige Affen-Tempel“, Nr. 22, S. 174. Ebd., Band 3.2, Relation „Der tyrannische Christen-Feind“, Nr. 22, S. 171. Ryan: Assimilating New Worlds, S. 530. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die heutige Oracula“, Nr. 10, S. 80. Ebd.
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Das andernorts vermittelte Bild kultureller Gleichrangigkeit Europas zum „hochverständigen“ Orient (siehe Punkt 7.1.4.) steht im Widerspruch zum Verdikt auf religiöser Ebene. So gilt der König von Calicut als „[...] der allergrösseste Teuffels-Diener“.78 Hier stützt sich Happel auf eine Passage des äußerst einflussreichen, schon im 15. Jahrhundert verfassten Itinerario79 des italienischen Asien-Reisenden Ludovico di Varthema (1461-1517). Auch Jahre später, gegen 1688, greift Happel im Artikel „Der Calecutische Götzen-Dienst“80 erneut auf den Abschnitt bei di Varthema zurück, er unterschlägt ihn jedoch als Quelle. Entscheidend ist, dass Happel den angeblichen ,Teufelsdienst’ an der westlichen Malabarküste mit di Varthema als offensichtliche Degeneration einer ursprünglichen, globalen Einheit des Glaubens wertet – denn immerhin würden auch die Kosmogonien der Heiden in ,OstIndien’ von der Existenz des einen Gottes ausgehen: „Was für abscheuliche Greuel-Dienste der schwartze Geist / als Gottes Affe / hin und wieder unter den leichtglaubigen Menschen-Kindern angerichtet / davon lesen wir nicht sonder grosses Entsetzen. Insonderheit sind desfalls die Einwohner des Reichs Calicut auff der Malavarischen Küst in Ost-Indien höchlich zu bejammern / welche sich nicht scheuen / dem leibhafften Teuffel göttliche Ehre zu erweisen. Dann diese Leute stehen in der Meinung / Gott haben die Welt zwar geschaffen / weil aber dieselbe so voller Verwirrung und Unruhe / habe er dem Teuffel die Herrschafft und Regierung drüber auffgetragen [...]“.81
Die Tendenz, alle nicht-christlichen Glaubensformen pauschal dem antithetischen Wirken von „Gottes Affe[n]“ zuzuschreiben, verweist jedoch auch auf die Probleme der europäischen Beobachter, den mit vertrauten Kategorien kaum fassbaren hinduistischen Polytheismus überhaupt verstehen und vermitteln zu können. Dessen Schöpfungsmythen kommen in der Verarbeitung durch Happel nur in ironischer Verzerrung zur Sprache: „Die Indianische Heyden auff der Küste Choromandel [...] erstreckten die Zahl ihrer Götter auff 33 Millionen / und stehen ihrer viele in dem Wahn / die ErdKugel ruhe auff einer Schlange von 1000 Häupter / und diese auff einem Ele78 79
80 81
Happel: Relationes Curioase, Band 1.2, Relation „Der scheußliche Rabensaft“, Nr. 79, S. 631. Der Text wurde erstmals 1515 in Augsburg auf Deutsch gedruckt und noch bis ins 17. Jahrhundert in mehr als dreißig Auflagen in mehreren europäischen Sprachen verbreitet, so etwa 1610 in Leipzig: Varthema, Ludovico di: Hodeporicon Indiae Orientalis, Das ist: Warhafftige Beschreibung Der ansehnlich Lobwürdigen Reyß / [...] Inn die Orientalische und Morgenläder [...], Leipzig 1610; zu di Varthema siehe auch: Lach, Donald. F.: Asia in the Making of Europe, 2 Bände, Chicago / London 1965-1977, hier Band 2, S. 332. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 84, S. 669. Ebd.
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fanten / der Elefant aber auff einer Schildkröten / die im Wasser schwimme [...]. Aber wir wollen in alle Ernst sprechen / und diese Heydnische [...] Possen fahren lassen“.82
Die Einsicht in die Pluralität der Welt als Einsicht in die Vielfalt der Glaubensanschauungen wird von Happel im Ganzen also nicht positiv gewertet. Vor dem Hintergrund des christlichen Absolutheitsanspruchs verstärkt sie im Gegenteil vielmehr den Eindruck einer grundlegenden Zweiteilung der Welt: in den ordo der Christenheit, dem die „Verwirrung und Unruhe“ der vom Teufel regierten ,Nationen’ gegenüber steht. Anders gewendet: Das Ausmaß der spirituellen Rationalität, das man bei sich selbst zu erkennen vermeint, wird erst durch die Irrationalität ,der’ Anderen besonders sichtbar. Die Gottesbilder außereuropäischer Welten diskreditiert das Hamburger Wochenblatt als Trugbilder, in denen durchweg die beschränkte, aber immerhin weiter gegebene Macht des Teufels vor Augen geführt wird. Dieses Urteil wird als relativ zeitlos ausgegeben und trifft in den Relationes etwa auch für jene Kulturen zu, die durch die europäischen Eroberungszüge in der ,Neuen Welt’ bereits im 17. Jahrhundert größtenteils vernichtet wurden: die Inkas, Majas und Azteken. So werden die Kultbauten der „Peruanische[n] Abgötterey“83 als frühere Kultstätten des Teufels ausgegeben: „Was für grosse Wercke sie ihren Abgöttern zu Ehren auffgetempelt haben / ersiehet man noch heutigen Tages an ihren zerfallenen Tempeln [...]. Man hat gewisse Nachricht / daß der Teuffel in sichtbahrlicher Gestalt in diesem Tempel antwort gegeben / wann man ihm gefragt“.84 Für Happel wird dieses pauschale Bild im Artikel „Die Religion der Americaner insgemein“85 auch zum prägenden Moment der europäischen Entdeckungsgeschichte der ,Neuen Welt’: „Wie die Spanier in Americam kamen / waren diese Leute allesambt Heyden / [...]. In Canada beteten sie den leibhafftigen Teufel an [...]. Sie haben mancherley lächerliche Meynung von Gott [...] diß Volck / welches / wie es im Leben [...] ist / also ists am Verstande ein wenig besser / als das Vieh. Sie haben im Brauch / des Teuffels Lob zu finden [...]“.86
Die besondere Medienaffinität des Themas tritt besonders dann hervor, wenn das für die Amerika-Rezeption schon im 17. Jahrhundert unabdingbare Klischee der allgegenwärtigen Menschenopfer, oder schlimmer noch: der 82 83 84 85 86
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Das ungereimbte Riesen-Geschöpff“, Nr. 13, S. 97. Ebd., Band 3.2, Relation „Die Peruanische Abgötterey“, Nr. 95, S. 755. Ebd. Ebd., Band 4.2, Nr. 90, S. 716. Ebd.
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Kindesopfer erwähnt wird. So heißt es über „Der Virginianen Religion“:87 „Ehe die Engelländer in Virginia das Christenthum pflantzeten / beteten diese Leute gleicher Gestalt den Teuffel und viel Götzen an / wie sie dann annoch an vielen Orthen thun. [...] bißweilen opfern sie dem Teuffel auch Kinder [...]“.88 Ein ähnlicher Verstoß gegen den christlichen Wertehorizont gilt beispielsweise auch für China: In den dortigen Provinzen würde man, so Happel an anderer Stelle, vor der Tötung selbst des eigenen Nachwuchses nicht zurückschrecken. Auch hier kompiliert Happel seine Quellenvorlage unkritisch – die für das China-Bild des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutende Sinicae Historiae (1658) des Südtiroler Jesuitenpaters Martino Martini89 (16141661): „Aber dasjenige / welches wir nunmehro zu sagen haben / lässt sich mit nichts beschönen / sondern es behält vor allen Christlichen Augen eine greuliche und abscheuliche Gestalt. In etlichen Provintzen weffen sie die zarte Kinderlein / insonderheit was weiblich Geschlechtes ist / auß Beysorge / sie möchten dieselbe nicht gebührlich ernähren / lebendig ins Wasser / wie man mit jungen Hunden und Katzen umbzuspringen pfleget. Diese verteuffelte Manier ist gantz tieff eingewurtzelt [...]“.90
Happel lässt das Verhalten nicht unkommentiert; in einer ironischen Wendung bringt er es vielmehr mit den Jenseitsvorstellungen der ,heidnischen Chinesen’ in Zusammenhang. Denn „[d]ieser Greuel [ist] gleichwohl nicht so greulich / wann man ihre Meynung betrachtet / die sie haben / wegen der Verwechselung oder Verhäusung der Seelen [...] und nachdem sie gar feste stecken in den Wahn / da die Seele / nachdem sie durch den Todt ihre vorherige Herberge verlassen / augenblicklich wieder in einen anderen Cörper wandert / nehmen sie dadurch Gelegenheit / diese ihre Unbarmhertzigkeit anzustreichen mit der Farben einiger Gottseligkeit / nehmlich den Kindern werde durch sothanes erträncken viel gutes geschafft / als die da viel ehe auß ihrem elenden Stande erlöset [...] werden. Und das ist auch die Ursache / daß dieser Kinder-Mord nicht im verborgenen / sondern ohne eine einzigen Scheu vor jedermans Augen verrichtet wird“.91
Wie bereits der Titel des Folge-Artikels andeutet, treffe Vergleichbares für „Die grausahme[n] Japonesen und Formosaner“92 zu. Es ist bezeichnend, 87 88 89 90 91 92
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 90, S. 716. Ebd. Ungenau zitiert als „Auß der grossen Sinesischen Beschreibung P. Martini Martinii“. Ebd., Band 1.2, Nr. 63, S. 497. Ebd. Ebd., S. 498. Ebd.
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dass Happel mit Blick auf nicht-christliche Jenseitsvorstellungen den gepflegten Euro- und Ethnozentrismus an keiner Stelle der Relationes durchbricht – zumindest die zeitgenössischen Reiseberichte widmen den paganen Vorstellungswelten bereits ganze Kapitel,93 denen Happel mit seinen zusammengewürfelten Ausschnitten schon quantitativ nicht das Wasser reichen konnte. Nur an einigen wenigen, relativierenden Stellen der Relationes wird zwischen den Zeilen deutlich, dass der Blick auf Außereuropa durch die verfügbare Berichtsdichte zwischenzeitlich eine neue Qualität gewonnen hatte. Nach dem überwiegend angebrachten Spott wird einmal mehr die widerspruchsvolle Haltung des Kompilators deutlich, wenn er in nüchternem Ton einräumt, dass man „[...] selber diejenigen / die wir unter dem Nahmen der blinden Heyden paßiren lassen / in dem Stücke von einem andern Leben nicht vor so gar unverständig ansehen / und lieset man in verschiedenen Vojagien mit Verwunderung / was sie von dem ewigen Leben judiciren“.94
An anderer Stelle wettert Happel indessen erneut gegen „Die lächerliche Gastierung der Seelen in Japan“,95 die mit – vom europäischen Standpunkt betrachtet – besonders krassen Formen der Götzenanbetung einher gehe: „Nachdem Pythagoras mit seiner Lehre / daß nemlich die Seele des Menschen unsterblich / und nach des Menschen Todt in ein vernünfftiges Thier fahre / alle Heyden in Orient beschmitzet / siehet man daselbst so mancherley ThierGötzen abgöttisch verehret / und haben die Japonesen / die doch aller Welt zu klug sein wollen / vor allen andern Thieren / den Affen erwehlet / (als das Verständigste von den Bestien [...]) zu einer Wohnung vor die Seelen ihrer verstorbenen Königen und Printzen“.96
Der Schlusskommentar des Artikels zeigt den Hang zur pauschalisierenden Argumentation: Die Verehrung von „Thier-Götzen“ wird zum markanten Charakteristikum der „Abgötterey“ in nahezu ganz Asien: „[...] und wie weit sich die lächerliche Abgötterey in Asien außgebreitet habe / ist darauß zu ersehen / daß nicht allein in Japan und China, sondern auch in Malabaria, in der Wüste zwischen Macap und Pegu und in der Insul Ceilon dergleichen Affen als Götter geehret / und in prächtigen Tempeln angebetet werden“.97
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Dazu vor allem: Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen, S. 307ff. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der unmenschliche Bauchschneider“, Nr. 19, S. 148. Ebd., Band 4.2, Nr. 22, S. 174f. Ebd., Relation „Der prächtige Affen-Tempel“, S. 173. Ebd., S. 174.
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Gerade ,Ostindien’ markiert in den ,ethnographischen’ Passagen der Relationes einen der Wahrnehmungsschwerpunkte, was angesichts der von Rogerius und Francisci angesprochenen Berichtsfülle über den Subkontinent nicht weiter verwundert. Von den religiösen „Curiositäten“ des Landes arbeitet Happel das ganze Repertoire der Topoi und Klischees ab, das die IndienBerichte dominierte und die kulturellen Differenzen zu Europa besonders akzentuierte: neben der bereits seit Jahrhunderten das europäische IndienBild beherrschenden Faszination für die Witwenverbrennung, die schon im 17. Jahrhundert zu einer erstrangigen ,Touristenattraktion’98 geworden war, ist es etwa jenes ,denkwürdige’ Verhältnis zu Kühen, die in Europa lediglich einen Status als Nutztiere hatten.99 Im Artikel „Die seltsame KühHochzeit“100 liegt zudem eine der wenigen Textstellen vor, in denen Happel explizit macht, dass er in der Kompilations- und Vermittlungskette des Wissens über Indien nicht an erster Stelle stand; die Frage, inwieweit den einzelnen Stationen der Reproduktion Verlässlichkeit zukommt, interessiert ihn gleichwohl nicht: „Derselbe [Gotofredi Carolini, F.S.101] führet aus Joan de Laeit und Texeira an / daß die Indianer in des grossen Mogols Gebieth vor allen anderen Thieren / die Kühe gar hoch achten / ja als Götter ehren / angesehen ihrer Meynung nach / die Seelen der verstorbenen frommen Menschen in dieselbe fahren / und gleichsam verhausen / dannenhero wäre es eine Todt-Sünde bey diesen Leuten / wann einer von ihnen würde gelüsten lassen / Kühfleisch zu essen“.102
Das unkritische Fortschreiben populärer Elemente des damaligen IndienBildes zeigt einmal mehr, das Happel schon im Sinne seiner Programmatik der Kürze auf eine intensive Auseinandersetzungen mit einzelnen Kulturen keinen Wert legt. Wie gesehen, war gerade durch die Absolutsetzung des christlichen Überlegenheitsanspruchs eine unvoreingenommene wie differenzierte Annäherung aber ohnehin kaum möglich; so steht gerade die reli98 99
100 101
102
Major, Andrea: Pious Flames. European Encounters with Sati, Oxford 2006, S. 16. Aus indologischer Perspektive weiterführend: Malinar, Angelika: Wechselseitige Abhängigkeiten und die Hierarchie der Körper. Zum Verhältnis zwischen Tieren und Menschen in hinduistischen Traditionen nach der episch-puranischen Literatur, in: Münch, Paul (Hrsg.): Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 147-177. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 35, S. 276. Als Quellen nennt „Gotofredi Garolini: Heutiges Heydenthumb partI.c.4.“. Ebd. Bei „Texeira“ handelt es sich um den portugiesischen Kartographen João Teixera (15751660); bei „Joan de Laeit“ um den Direktor der westindischen Kompanie, den flämischen Historiker und Geographen Johannes de Laet (1593-1649). Laet veröffentlichte vor allem Werke über Westindien, 1631 jedoch auch die summarische Darstellung des ostindischen Mogulreichs De imperio Magni Mogolis sive India vera commentarius, auf die sich Happel hier bezieht. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 35, S. 276.
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giöse Sphäre als leitender Faktor der eigenen Identitätsstiftung im Vordergrund der Beschreibung, über die sich Happel mit deutlichen Kommentaren systematisch vom Heidentum abgrenzt und zugleich durch etliche (lustvoll ausgebreitete) Details ,barbarischer’ Riten dem Vergnügungsbedürfnis seines Publikums Rechnung trägt. Diese Form unterhaltsamer eurozentrischer Selbstvergewisserung trägt sich, wie im folgenden Punkt entlang zweier weiterer Standardthemen der Reiseliteratur der Zeit zu zeigen ist, nicht nur mit Blick auf die religiöse Erfassung ,des’ Anderen.
7.1.3. Zeitlose Medienthemen: Von Hottentotten und „solennen Exekution[en]“103 Auch jenseits des religiösen Diskurses tragen die Relationes Curiosae zur weiteren Zirkulation von erprobten Reiseberichtstopoi bei, die sich noch weit bis ins 18. Jahrhundert mit nur minimalen Variationen hielten.104 So war etwa für den frühneuzeitlichen Vorstellungshaushalt über Afrika ein Abstecher an die Südspitze des Kontinents unverzichtbar – hier verarbeitet Happel einmal mehr das, was sich nicht nur in nahezu allen Reisebeschreibungen über Afrika als obligatorisches ,Highlight’ fand, sondern auch in jenen Berichten, deren Verfasser ,Ostindien’ zum Ziel hatten, aber auf der Schiffsroute am Kap der Guten Hoffnung Station bei den ,Hottentotten’ machten. Das afrikanische Volk markierte schon auf der imaginären Afrikakarte des 17. Jahrhunderts eine „Curiosität“ ersten Ranges; auch die Vierzig-Jährige ReiseBeschreibung Taverniers erwähnt es mit drastischen Worten.105 Happels Darstellung der Hottentotten soll im Folgenden herausgestellt werden, weil die sonst nur fragmentarische ,Ethnographie’ der Relationes in diesem Fall einem umfassenderen Katalog weicht. Zudem lässt sich hier Einblick in die Quellenabhängigkeit des Kompilationsprozesses gewinnen. Abweichend von den immer wieder abgerissenen Berichten über andere ,Nationen’ liefert Happel in einer Artikel-Serie um 1686 ein vergleichsweise ganzheitliches Bild der Hottentotten – es rekurriert nicht nur auf die Glaubensformen, sondern auch auf Sitten und Gebräuche im Allgemeinen. Der 103
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Von Happel wörtlich genommen aus: Tavernier, Jean-Baptiste: Der neu-eröffnete türckische Pallast, das ist außführliche Beschreibung des ottomannischen Serrail oder Residentz [...], Jena 1680, hier S. 156; bei Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der im Mörser zerstampffte Doctor“, Nr. 75, S. 596f. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 209. „Auf meiner ganzen Reise habe ich keine greulichere und viehischere Leute gesehen [...] die zu Cap de Bonne-Esperance, die man Casres oder Hotentotes nennet“. Tavernier: Vierzig-Jährige Reise-Beschreibung, S. 207.
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,ethnographische’ Detailgrad ist auch dadurch höher, dass Physiognomie und Kleidung weit genauer geschildert werden als in den Relationes sonst üblich. Das war gleichwohl keinem tieferen kulturellen Interesse geschuldet, sondern erprobten Schaulustmechanismen: Jedes Detail des afrikanischen Volkes wurde in der zeitgenössischen Literatur genussvoll vorgeführt und stützte die Inszenierung der Hottentotten als Grenzfiguren zur „Menschlosigkeit“.106 Während sich die europäischen Standards im Spiegel anderer ,Nationen’ vor allem im Moment des Religiösen invertiert sahen, schien das Bild der Hottentotten in jeder Facette das extreme Gegenteil aller bekannten Normen auszudrücken. Schon der vermeintliche Mangel jeglicher Sprache ließ viele Beobachter der Zeit ernsthafte Zweifel anmelden, ob die Hottentotten überhaupt menschlich seien.107 Auch Happel hebt schon in einem vereinzelten Artikel über den „De[n] kluchzende[n] Hottentot“108 um 1685 hervor: „[...] von denselben [Hottentotten, F.S.] dieses sonderbahre zu melden / daß sie fast / wider alle Nationen Gewohnheit / nicht reden / wie andere Leuthe / sondern ihre Wörter mit einer kluchzenden Stimme [...] herauß stossen“.109 Wie für seine nur unsystematisch gepflegten bibliographischen Angaben typisch, lässt Happel seine Quelle unerwähnt. Wahrscheinlich stützt er sich auf die wenige Jahre zuvor erschienene OostIndianische Voyage110 von Johann Hoffmann (1650-1682), der ebenfalls von einer „[...] unverständlichen und kluckende Sprache [...]“111 berichtet. Im 12. Bogen von 1686 nimmt Happel das Hottentotten-Thema in einem größeren Exkurs wieder auf und ,portioniert’ diesen in insgesamt dreizehn Artikel über fünfzehn Seiten. Der Einleitungskommentar in der Relation „Die wilde Hottentotten“112 schürt als eine Art Aufmacher das Klischee der Unmenschlichkeit und die Neugier auf das folgende Material. Drastisch wirkt der aktualisierte Vergleich mit den antiken Barbaren: „Wann die Griechen eine Nation wusten / die unmanirlich von Lebens-Arth war / und eine garstige Sprache hatte / nanten sie dieselbe Barbaren. Ich weiß aber nicht / ob ein Volck unter der Sonnen / dem dieser Nahme füglicher könte beygeleget werden / als den Völckern / welche an der äussersten Spitzen gegen Süden in Afrika [...] wohnen“.113 106 107 108 109 110 111 112 113
Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 209. Ebd. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 11, S. 87. Ebd. Hoffmann, Johann: Oost-Indianische Voyage; Oder Eigentliches Verzeichnüs / worin [...] merckwürdige Vorfälle [...] einer Indischen See-Reise [...] deutlich angewiesen werden [...], Kassel 1680. Ebd., S. 23. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 12, S. 91. Ebd.
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Mit Blick auf die Struktur und Quellen ist entscheidend, dass allein dieser Eröffnungskommentar gesichert aus Happels Feder stammt. Er gibt im folgenden Beschreibungskatalog mit seriellen Artikeln wie „Der Hottentotten Kleidung“,114 „Ihr Waffen / Speiß und Trank“,115 „Ihre Häuser und Sprache“,116 „Ihre Straffen“117 etc. keine Referenzliteratur und Quellen an, der Text ist jedoch fast wortwörtlich Olfert Dappers Umbständlicher und Eigentlicher Beschreibung von Africa entnommen; Dapper wendet sich den Hottentotten im Rahmen der Beschreibung „Nieder-Ethiopiens“118 zu und macht – obgleich er selbst kompilierte – ebenfalls keine Quellenangaben. Die Wurzeln des langen Überlieferungsstrangs sind daher nicht mehr sicher auszumachen. Wichtig ist Happels strukturelle Anpassung von Dappers Vorlage für die Rahmenbedingungen des periodischen Mediums: Dappers Text, der durch Marginalien einen leichten Einstieg ermöglicht, wird für die Relationes in einzelne Sinnabschnitte fragmentiert und durch einzelne Artikelüberschriften visuell aufgelockert. Happels ,journalistische’ Leistung beschränkt sich darauf, dass er Dappers inhaltlich unverändert übernommenen Wissensfundus nutzt, um das kopierte Material mit eigenen Kommentaren zu durchsetzen. Sie verstehen sich weniger als Quellenkritik denn als Strategie, die Abscheu erregende Wirkung des Themas noch einmal zu potenzieren. „Diese Nation ist sehr bestialisch [...]“,119 heißt es etwa pauschal; zudem bringt Happel in der Relation „Ihre Waffen / Speiß und Tranck“120 ein selbst verfasstes Zwischenresümee, das auch typographisch durch einen Absatz abgehoben ist. „Wer hat demnach jemahlen in der Welt eine ungeschaffenere Nation von Menschen gesehen / als diese Hottentotten / welche mehr den unvernünfftigen Thieren / alß den Menschen gleichen / so wohl ihres Verstandes / als Lebens-Arth“.121 Die Übertreibungstopoi überraschen kaum, da sich die Reisenden der Frühen Neuzeit mit Entsetzen über die Hässlichkeit der Hottentotten unentwegt gegenseitig überboten122 und Happel insofern auf einen Erwartungshorizont auf Seiten der Leser reagieren musste. Zwei auch in den Relationes reproduzierte Stereotypen prägten die ,Stilfigur’ der Hottentotten und die Popularität des Themas in der Sensationspresse besonders: Was schockierte, war zunächst der angebliche Gestank 114 115 116 117 118 119 120 121 122
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 12, S. 93f. Ebd., S. 96. Ebd., S. 100f. Ebd., S. 99f. Dapper: Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa, S. 617f. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die wilde Hottentoten“, Nr. 12, S. 92. Ebd., S. 96. Ebd. Bitterli: Die Wilden und die Zivilisierten, S. 26.
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als Erkennungsmerkmal. So hätten Etliche, wie Happel mit Dapper berichtet, „[...] auch / zu mehrer Zierde / ihre eigene Haut zerkerbet und zerhacket / darein sie einiges Fett oder Talck schmieren / darumb sie dan sehr stincken / und einen solchen starcken und bangen Geruch von sich geben / daß man ihrer Ankufft schier auff 100 Tritte gewahr wird“.123 Noch gewichtiger für die Skala des zivilisatorischen Tabubruchs war allerdings die vermeintliche Sitte, sich mit tierischem Gedärm nicht nur zu ,schmücken’, sondern dieses auch noch roh zu verschlingen:124 „Auch wissen sie ihre Speisen / wie auch andere wilden / nicht zu kochen / oder zu bereiten; sondern fallen auf die todten Thiere zu / eben als die Hunde / und fressen sie mit dem gantzen Eingeweide / und den Därmen roh auff [...]; indem sie den Unflath nur ausschütten oder mit den Zähnen ausdrücken“.125
Das Hottentotten-,Konzentrat’ der Relationes zeigt, dass das Thema deswegen so lange im Mediendiskurs der Frühen Neuzeit präsent war, weil es sich leicht emotionalisieren ließ und als Gegenstand von Sensationshunger und Vergnügen, aber auch der Erbauung im Grunde fast zeitlos schien – die Vorstellung der Hottentotten stellte sämtliche Grundsätze christlicher Ethik auf den Kopf und eignete sich daher besonders zur Untermauerung einer euro- wie ethnozentrischen Weltsicht. Der zähe Unwille, den vielen ,Außenwelten’ unvoreingenommen zu begegnen und stattdessen nur möglichst bizarre Eindrücke der „Welt Kunst-Kammer“ zu sammeln, zeigt sich auch in der Kontinuität der Bildtopoi: Olfert Dapper erhöhte den Wirkungsgrad seiner Hottentotten-Szenerie durch einen beigefügten Stich (Abb. 18), der Hottentotten beim wilden Verzerr von Innereien zeigt. Dass schon Dapper das Bild nach einer Vorlage reproduzieren ließ, ist wahrscheinlich, lässt sich aber nicht mehr nachweisen. Deutlich ist hingegen, dass Happel in seiner eigenen Illustration (Abb. 19) den Stich aus Dappers Beschreibung von Africa mit nur minimalen Abweichungen kopieren ließ. Eines der wenigen Zeichen, dass „[...] noch einige Zucht unter diesen wilden Völckern gehalten wird [...]“,126 räumt Happel im Artikel über „Ihre Straffen“127 ein; dass überhaupt eine Form geregelter Rechtspraxis existiere, wird als Überrest eines ursprünglich geordneten Gemeinwesens gewertet. In den Relationes definiert sich die Abgrenzung gegenüber Außereuropa neben der religiösen Dimension besonders deutlich in der ausführlich geschilderten 123 124 125 126 127
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Dieser Barbaren Zierrath“, Nr. 12, S. 94. Auch die Berichte von Iversen und Hoffmann streichen dieses Merkmal besonders hervor. Harbsmeier: Wilde Völkerkunde, S. 215. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Ihre Waffen / Speiß [...]“, Nr. 12, S. 96. Ebd., Relation „Ihre Straffen“, Nr. 13, S. 99. Ebd.
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,barbarischen’, (Un-)Rechts- und Strafpraxis anderer Länder. Hier waren jene Aspekte ausschlaggebend, die im Alltag Europas selbst hohes Gewicht hatten: Die öffentliche Inszenierung eines Schauspiel des Todes128 gehörte als „Wiederholungshandlung“129 zur unmittelbaren Erfahrung frühneuzeitlicher Europäer. Hinrichtungsrituale und Exekutionen waren aber auch populärer Gegenstand schon der nicht-periodischen Sensationspresse und standen, oft reich illustriert, im Mittelpunkt zahlloser Flugblätter.130 Hier fungierte der Tod nicht zuletzt als Unterhaltungsfaktor. Zur medialen Präsenz des Themas im 17. Jahrhundert kam hinzu, dass ,Kriminal’- und Verbrechensmotive auch in den barocken Erzählsammlungen zirkulierten, etwa in Harsdörffers Grossem Schauplatz Jämerlicher Mordgeschichte. Obwohl die Darstellungen von Hinrichtungen in der europäischen Flugblattpublizistik um die Ausbreitung brutaler Details nicht verlegen waren, zieht Happel von Beginn an einen ganzen Katalog ausländischer Strafen heran, um ein weiteres Mal Argumente für ein Zivilisationsgefälle zwischen Europa und ‚Nicht-Europa’ zu liefern. Als Erstes gilt seine Aufmerksamkeit allerdings der ritualisierten Selbsttötung im feudalen Japan – erneut ein nahezu verbindlicher Bestandteil der Literatur, dieses Mal mit Blick auf das europäische Japanbild. Schon um 1681 kommt Happel im Artikel „Der unmenschliche Bauchschneider“131 auf außereuropäische Formen der Strafvollstreckung zu sprechen. Die Schlagzeile weckt Abwehr und Sensationslust gleichermaßen und schließt eine unbefangene Aufbereitung des Themas bereits a priori aus: „Unter allen Leibes- und Lebens-Straffen / die von einem tyrannischen Gemüth mögen erdacht werden / ist keine schwerer / als wann ein armer Sünder gezwungen wird / ihme selber auff eine erschreckliche Manier das Licht auszulöschen / welche unerhörte Gewonheit in Japan dergestalt eingewurtzelt / daß sich kein Mensch mehr weigert / das anbefohlne Todes-Urtheil an ihm selber zu vollenziehen“.132
Abermals geht es um die Vermittlung eines diametralen Gegensatzes von ,zivilisiertem’ Hier und ,tyrannischem’ Dort. Der Versuch, das Ritual aus seinen kulturellen Voraussetzungen heraus zu verstehen, interessiert Happel 128 129 130
131 132
Siehe: Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit, München 1985. Braungart, Wolfgang: Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 72. Dazu: Peil, Dietmar: Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt, in: Harms, Wolfgang / Messerli, Alfred (Hrsg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700), Basel 2002, S. 465487. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 19, S. 146. Ebd.
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nicht. Registriert wird allein das Detail des verbreiteten Suizids in der feudalen Oberschicht Japans.133 Statt tatsächlicher geistiger Auseinandersetzung dominiert die Suche nach medienwirksamen Effekten, die Happel in den Details der Selbsttötung findet. Additiv gereihte „merkliche Exempel“134 entlehnen die Relationes aus einem der wichtigsten Japan-Werke des 17. Jahrhunderts, der Wahrhaftigen Beschreibungen zweyer mächtigen Königreiche / Jappan und Siam135 (1645) von François Caron136 (1600-1673), Direktor der niederländischen Post in Japan. Sie erschien 1663 auf Deutsch, erlebte fünfundzwanzig Auflagen und wurde in weiteren Übersetzungen und Neudrucken veröffentlicht.137 Mit Carons Bericht lag dem Kompilator zwar eine Quelle aus erster Hand vor, es ist jedoch erneut charakteristisch, dass sich Happel auf die Skizze plakativer Elemente beschränkt. Auch wird das Alter von Carons Bericht zwar angedeutet,138 es gibt aber keinen Anlass, an dessen Glaubwürdigkeit zu zweifeln oder die rituelle Selbsttötung in Japan zu historisieren. Happel lässt den Strafdiskurs zunächst ruhen, bis er sich um 1682 der „Peinigung und grausahme[n] Straffe“139 erneut entsinnt und daraus einen Exkurs in ,globaler Perspektive’ entwickelt. Bezüglich seiner Argumentationsweise ist bezeichnend, dass er noch am Ende des vorangehenden Artikels zum folgenden Diskurs verknüpfend überleitet und den zitieren Vorsatz noch einmal bestärkt, insbesondere nach den markanten Unterschieden zwischen den ,Nationen’ suchen zu wollen: „Anitzo schreite ich zu einer gantz andern Materie / welche uns den Unterscheid vieler Nationen in peinlichen Executionibus vorstellet / wobey sich manche grausahme Begebenheiten eräugnen werden“.140 Im Artikel selbst entfaltet Happels Argumentation insofern didaktische Qualitäten, als er die „peinlichen Executionibus“ als Teil 133
134 135
136 137 138 139 140
„Wann ein vornehmer Mann (dann bey gemeinen Leiten ists nicht gebräuchlich) etwas gegen dem Kayser verbochen / oder wann dieser nur einen Argwohn auff ihn geschöpffet / so lässet er jenem eine Stunde benennen / in welcher er ihm selber den Bauch auffschneiden muß [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 19, S. 147. Ebd. Caron, François / Schouten, Joost: Wahrhaftige Beschreibungen zweyer mächtigen Königreiche / Jappan und Siam: Benebenst noch vielen andern / zu beeden Königreichen gehörigen / Sachen [...], Nürnberg 1663. Lediglich namentlich zitiert als „Franciscus Caron“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 19, S. 147. Zu Caron und zur Publikationsgeschichte: François, Caron: Beschreibung des mächtigen Königreichs Japan 1645, eingeleitet und erläutert von Detlef Haberland, Stuttgart 2000. „Es ist nicht zu vergessen / daß vor etwa 40 Jahren [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 19, S. 147. Ebd., Nr. 71, S. 563f. Ebd., Relation „Der bällende Bauer“, S. 563.
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eines Diskurses über das gute politische Regiment betrachtet; als Autorität für seine Position bemüht er den bedeutenden athenischen Staatsmann und Gesetzgeber Solon (um 640 v. Chr.-560 v. Chr.): „Als der weltbekandte weise Solon einsmahls gefraget ward / was in einer Regierung wohl das allernützlichste wäre? Da antwortete er: Wann man die frommen Leuthe mit Guttahten und Belohnungen locket / und hergegen die Gottlosen mit einer ernsthafften Straffe im Zaum hält“.141 Happel wertete die zitierte Sentenz als Orientierungsleistung gegenüber dem Publikum und reflektiert gleichzeitig noch einmal seine eigene Aufbereitung des Themas: „Ist wohl [von Solon, F.S.] recht geredet / wann anders in beyden Theilen eine gewisse Maaß observiret, und die Mittelstrasse gebührlich in acht genommen wird. Ich will den ersten Theil dieses Satzes fahren lassen [die „Guttahten“ also, F.S.] / und mich an den andern halten“.142 Im anschließenden Abschnitt greifen Moralisierung und konzeptionelle Rechtfertigung aufschlussreich ineinander: Aufgrund der Menge an ,Denkwürdigkeiten’, die der Folter- und Strafdiskurs bereithalte, bittet Happel seine Leser bereits vorausschauend um Entschuldigung, dass die projektierte Prämisse der Kürze ausnahmsweise nicht einzuhalten sei: „Schreitet man dann zur Straffe / so wird zum öfftern auch die Mittelmaaß gantz aus den Augen gesetzet; Insonderheit sind nicht allein die Barbaren / ja wohl gar einige Christen so gesinnet / daß sie keine angenehmere Music hören / als das Winseln eines gematerten Delinquenten; Solche eingefleischete Teuffel / haben zu ihrem eigenen Contentement in diesen Zeiten so mannichfaltige erschröckliche Peinigungen und Straff-Arthen ersonnen / daß man ohne Erzittern nicht wohl davon hören oder lesen kan. Weil aber diese Materie merkwürdig / und viel seltsame Denckwürdigkeiten dabey mit unterlauffen / so habe ich mir vorgenommen / zu diesem mahl dem curieusen Leser die allergrausahmste Bestraffungen / Peinigungen und Martern zu beschreiben / welchen ich will gebethen haben / daß er mir nicht woll ungünstig werden / wann mich die Hand der grausahmen Barbaren ein wenig tieff in diese Materie hinunter leitet / und ich diesen Faden ein wenig lang muß schießen lassen“.143
Zwar räumt Happel ein, dass es maßlose Strafen auch unter Christen gebe. Tatsächlich geht es jedoch fast ausschließlich um die „[...] Hand der grausahmen Barbaren [...]“, die ausgesprochen sadistischen Einfallsreichtum beweisen würden. Hier bleibt der Kompilator seiner selektiven Prämisse treu, indem er nur eine Auslese der „allergrausahmste[n] Bestraffungen“ bringt. Der implizite Vorwurf eines gegenüber europäischen Normen pervertierten Rechtsverständnisses wird durch pauschale Urteile über einzelne Länder 141 142 143
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 71, S. 563. Ebd. Ebd., S. 563f.
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deutlich bekräftigt. In der Relation „Die japanische strenge Justiz“144 heißt es etwa: „Die Japonesen sind gewohnet nach dem allerstrengsten Recht zu straffen / dann sie betrachten nicht / daß das höchste Recht gemeiniglich das höchste Unrecht ist. Keine Missthat ist so klein / die nicht den Tod verdienet. [...] Hier weiß man von keinem Gefängnüß / dann der Beklagte wird zur Stunde getödtet oder gebannet; Wegen geringer Thaten wird der Missethäter nur allein gestrafft / wann es aber eine grobe That ist / so müssen auch Vater / Söhne / Brüder und Kindes-Kinder sterben“.145
Gestützt auf ältere Quellen des genuesischen Jesuiten Giovanni Pietro Maffei (1533-1603) fügt Happel in einem weiteren Artikel „Noch etliche harte Japonische Halstraffen“146 an, unter ihnen „Die Japonische Kreutzigung“.147 Sie bringt Happel erstmals und einmalig dazu, nicht die Unterschiede, sondern die Parallelen von Okzident und Orient zu betonen – schließlich sei „[...] wann man Thucidi, Herodoto, Plutarcho, und Tacito glauben darff / [...] das kreutzigen auch bey den Griechen / Egyptiern / Teutschen / Galliern und Cartagnensern gebräuchlich gewesen“.148 Die folgende Relation „Der Unterscheyd des Kreutzes“149 zeigt, dass die eigentliche Relevanz des Themas für Happel in seinem verkaufsfördernden Horrorappeal lag. So seien „[z]ugespitze Pfäle“ – in welchem Land genau, wird nicht deutlich – „[...] den armen Sündern zum Hintern eingeschlagen / daß die Spitze längst dem Rückgrad hin / durch den Mund wieder herauß kam“.150 Japan wird in den Relationes als Ort ausgesuchter Brutalität auch deswegen verunglimpft, weil Happel an späterer Stelle, um 1685, die japanische Christenverfolgung der 1630er und 1640er Jahre in einer eigenen Artikel-Reihe zum Thema macht; gleichzeitig nutzt er sie im Sinne der intendierten erbaulichen Dimension seines Periodikums, da von christlichen Märtyrern die Rede ist. So heißt es in der Relation „Die japanische Verfolgung“,151 dass die Portugiesen seit ihrer ersten Ankunft in Japan zu Beginn des 16. Jahrhunderts versucht hätten, „[...] ohnangesehen dabey sich eräugender Leibs- und Lebengefahr / die armen Seelen vieler tausent unverständigen blinden Heyden auß der Höllen Gewalt / und auß des Teuffels Rachen zu reißen. Dieser ihr Gottesfürchti144 145 146 147 148 149 150 151
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 73, S. 583f. Ebd. Ebd., S. 584. Ebd., S. 581f. Ebd., Relation „Die Kreutzigung“, S. 580. Ebd., S. 580f. Ebd., Relation „Der Unterscheyd des Kreutzes“, Nr. 73, S. 581. Ebd., Band 3.2, Nr. 21, S. 164f.
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ger Eyfer stehet an ihm selber genug zu loben“.152 Zwar habe die Europäer, wie Happel unter Berufung auf „Geisberti Beschreibung“153 fortfährt, die Verfolgung nicht gänzlich schuldlos getroffen – einige hätten unter dem „geistlichen Deckmantel“154 versucht, ganz Japan der „[...] Kron Portugall zu unterwerffen [...]“.155 Als unverhältnismäßig barbarisch wird aber die japanische Reaktion verurteilt, die Happel in folgenden Artikeln mit Titeln wie „Der Christen-Brand“,156 „Die erschreckliche Marter“,157 „Die unerhörte Peinigung“158 oder „Der tyrannische Christen-Feind“159 in expliziten Folterund Tötungsszenen weidlich ausbreitet. Kaum milder als in Japan erscheinen die willkürlichen „Tormenten“160 im Spektrum weiterer Länder. Kritik an seinen Quellen bringt Happel hier bemerkenswerterweise dann vor, wenn Reiseberichte wie der von Joan Nieuhof mit Blick auf die Justizpraxis in China maßvollere Töne anschlagen. Mit Scheinargumenten bezweifelt Happel im Artikel „Die chinesische Zerschneidung und Geissellung“161 die Zuverlässigkeit von Nieuhof: „Neuhoff spricht zwar / daß die Sinesen in Bestraffung ihrer Gefangenen gar zu barmherzig sind; Aber andere glaubwürdige Scribenten erzehlen gar das Gegentheil [...]“.162 Allerdings benennt Happel diese vermeintlich zuverlässigeren „Scribenten“ nicht. Wie zu erwarten, schmückt er stattdessen die „Grausamkeit der Sinesen“163 aus, etwa am Schicksal „hart-geschlagene[r] Jesuit[en]“,164 womit sich zugleich die Provenienz seiner Quellen andeutet: Die Berichte der jesuitischen Mission waren die Hauptquellen des europäischen Chinabildes im 17. und 18. Jahrhundert165 und trugen an anderer Stelle auch zu dessen nachhaltig positivem Wandel bei (siehe Punkt 7.1.4.). Mit dem 152 153
154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 21, S. 164. Ebd., Relation „Das mißhandelte Frauen-Zimmer“, Nr. 22, S. 171f. In diesem Fall wird er erneut auf eine niederländische Quelle zurückgegriffen haben: Gysbertsz, Reyer: Historie der Martelaeren, die in Japan om de Roomsche Catolycke Religie, Schrickelycke, ende onverdragelycke Pynen geleeden hebben, ofte ghedoodt syn [...], Amsterdam 1646. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 21, S. 164f. Ebd., S. 165. Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., Nr. 22, S. 169f. Ebd., S. 170f. Ebd., Band 1.2, Relation „Der vernünfftige Richter“, Nr. 72, S. 570. Ebd., S. 576. Ebd. Ebd., Relation „Die ernstliche Straffe des gerühmten Lasters“, Nr. 73, S. 579. Ebd., Relation „Der hart-geschlagene Jesuit“, Nr. 72, S. 575f. Allgemein: Li, Wenchao: Die christliche China-Mission im 17. Jahrhundert. Verständnis, Unverständnis, Mißverständnis (Studia Leibnitiana: Supplementa, Vol. 32), Stuttgart 2000.
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französischen Jesuit Nicolas Trigault166 (1577-1628), einem „[...] der Pioniere der modernen Chinamission [...]“,167 weiß Happel zu berichten: „An ihnen selber sind [...] die Sinesischen Gesetze eben nicht allzu streng / aber inzwischen werden von den Richtern fast so viel / wo nicht mehr / Menschen wieder die Gesetze umbs Leben gebracht / als derselben rechtmässig hingerichtet werden. Diese Tyranney nennet Trigautius eine böse tieff eingewurtzelte Gewohnheit“.168
Die willkürliche Lesart der Quellen bemüht sich hier nicht um ein ausgewogenes Urteil, das auch die Erfolge der jesuitischen Missionare in China genannt hätte. Während Happel mit Trigault an China vor allem eine pervertierte ,Exekutive’ kritisiert, erscheint mit Blick auf Persien weniger die Justiz, als vielmehr das gesamte Land „[...] sehr geneigt böses zu thun [...]“: „Bey den Persianern werden die Missethäter gar streng angesehen / dann in Betrachtung / daß es ein hart Volck / und sehr geneigt böses zu thun / eine geringe Straffe auch wenig von ihnen geachtet wird / so muß man auffs schärffeste mit ihnen verfahren“.169 Besonders die persischen Herrscher ziehen im Artikel „Der grausahme Schach“170 die Aufmerksamkeit auf sich. So hätten „Schach Abas und Schach Sefi [...] gar seltsahme und greuliche Weisen gehabt / die Ubelthäter abzustraffen. Etliche liessen sie zwischen 2 Bretter zusammen binden / und mit einer Säge durchschneiden“.171 Gerade mit Schah Sefi von Isfahan (reg. 1629-1642) bedient Happel die Popularität einer Figur, die schon im Titel der Beschreibung [...] einer Holsteinischen Gesandtschaft von Gottorff an [...] Schach Sefi König in Persien [...]172 von Adam Olearius auf166
167 168 169 170 171 172
Es handelt sich allerdings weniger um Trigault als um seinen Vorgänger, den Italiener Matteo Ricci (1552-1610). Auf Italienisch verfasste Ricci 1609/1610 in Peking einen umfänglichen Bericht über die China-Mission. Nach seinem Tod übertrug Trigault den Bericht ins Lateinische und publizierte ihn in Augsburg 1615 unter dem Titel De Christiana Expeditione apud Sinas Suscepta ab Societate Jesu. Ex P. Matthaei Riccij eiusdem Societatis Commentarijs Libri V. ad S. D. N. Happel zitiert den Text als „Trigaut.de Exped.Christ.l.5.c.9“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der grausame Richter“, Nr. 71, S. 567f. Collani, Claudia von: Artikel Trigault, in: Bautz, Friedrich-Wilhelm (Hrsg.): BioBibliographisches Kirchenlexikon, Band XII, Herzberg 1997, Sp. 481-484, hier Sp. 481. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Chinesische Straffe / und unrechtfertige Richter“, Nr. 72, S. 575. Ebd., Relation „Die Persianische Straffe“, Nr. 74, S. 585. Ebd., S. 585f. Ebd., S. 585. Ursprünglich erschien das Werk 1647. Erst in einer Ausgabe von 1663 wird Sefi im Titel genannt: Olearius, Adam: Außführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien: So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft von Gottorff auß an Michael Fedorowitz den grossen Zaar in Muscow / und Schach Sefi König in Persien geschehen; worinnen die gelegenheit derer Orter und Länder [...], Schleswig 1663.
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taucht und dazu beitrug, ein brutal ausgeschmücktes Bild vom ‚orientalischen Despotismus’ zu festigen,173 das sich auch auf andere Genres ausdehnte. So gehörte Sefi schon wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung des Berichts von Olearius zum Personal von Andreas Gryphius’ Trauerspiel Catharina oder die bewehrete Beständigkeit174 (1657). Ähnlich pauschal und auf einer Ebene mit Persien erscheint in den Relationes auch die türkische Strafpraxis. Denn „[ü]berauß strenge verfähret die Justiz mit den armen Sündern in Türckey“.175 Auch hier schreitet Happel die „erschröcklichen Spektakul“176 möglichst extravaganter Hinrichtungsarten ab, eingefasst in knappe Anekdoten. Größtenteils übernimmt er diese aus dem Neu-eröffneten Türckische Pallast, einem weiteren Werk des bereits genannten Asien-Reisenden Jean Baptiste Tavernier, das 1680 in deutscher Übersetzung erschien. Anders als in der Kopie von Olearius legt Happel seine Quelle durch einen bibliographischen Verweis offen. Zudem findet sich hier eine der seltenen Stellen, in denen der Kompilator explizit thematisiert, wie er das Quellenmaterial für das Periodikum ,umformatiert’. Im Artikel „Der falsche Müntzer / Hurer und falsche Zeuge“177 heißt es, dass „[...] diese Geschichte genommen [ist] aus J.B. Taverniers Beschreibung des Serrails oder Türckischen Hofes [...]. Wozu das vorhergehende Kupffer kan besehen werden. Ich werde aber dieselbe theilen in verschiedene Sätze / davon der erste heissen soll“.178 Methodisch heißt das: Happel portioniert die längere Vorlage Taverniers in Einzelartikel samt reißerisch klingender Überschriften („Der im Mörser zerstampffte Doctor“).179 Zusätzlich versieht er den aus der Vorlage kopierten Stich (Abb. 20) zu den Exekutionsarten mit einer Nummerierung und stellt so einen eigenen Bild-Text-Bezug her.180 Das eigentliche Nonplusultra im globalen Katalog der ,Justizhorror’ stellen jedoch erst ,Ost’- und ,Westindien’ dar. Assoziativ leitet Happel von der Türkei über: „Ohnangesehen die Türcken und Perser schmertzliche Straffen und Marter genug zu ersinnen wissen / so halte ich doch davor / daß die Gewohnheit in dem Indianischen Königreich Martabana jenseits des Ganges 173 174 175 176 177 178 179 180
Osterhammel, Jürgen: Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht, S. 224-261, hier S. 233. Gryphius, Andreas: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit: Trauer-Spiel, Breslau 1657. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Türckische Straffe“, Nr. 74, S. 590. Ebd., Relation „Die unleidliche Straffe“, S. 590. Ebd., Nr. 75, S. 593f. Ebd., Relation „Der falsche Müntzer / Hurer und falsche Zeuge“, Nr. 75, S. 594. Ebd., S. 596f. „Der curieuse Leser kan diese Execution in vorhergehendem Kupfer / sampt dem Mörser No. 3 sehen“. Ebd., S. 597.
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/ noch viel abscheulicher ist“.181 Als Quelle stützt sich Happel auf die Viaggio dell’Indie Orientali (1590) des venezianischen Handelsreisenden Gasparo Balbi (1550-1623), die ab 1605 mit anderen Indien-Beschreibungen als Teil der Reiseberichtssammlungen de Brys auch in Übersetzung greifbar war.182 Was für ,Ostindien’ in Artikeln wie „Der Menschen-fressende Büttel“183 gilt, trifft für ,Westindien’ und „Die grausahme Straffe der Cannibalen“184 im Besonderen zu: Der Topos ausufernder Gewaltphantasien vermengt sich mit dem des Kannibalismus – so sei „[...] diesem freßhafften Volcke [den Kannibalen, F.S.] nichts angenehmers / als ihre Gefangene / oder vielmehr das Fleisch davon [...]“.185 Bezüglich der Quellen des Amerikabildes ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, dass Happel auch Episoden des Hörensagens aus Hamburg einbringt. Im Artikel „Die Floridanische und Virginische Lebens-Straffen“186 hält er fest: „Es haben mir zween gute Freunde dieses Orths neulich erzehlet / daß in ihrer Gegenwart die Wilden in Neu-Niederlande mit einem gefangenen jungen Frantzosen bey der Holländischen Vestung Orange zu Wasser ankommen / umb denen Holländern zu zeigen / wie grausahmlich sie diejenig tractiren wolten / so sich unterstunden / das Gewehr wider sie zu ergreifen“.187
Mit Blick auf Afrika wird schließlich deutlich, dass Happel die Affekte der Leser auch durch Gewaltgrotesken erregen will: Ekel verbindet sich mit Komik. Als die Relationes etwa die „Barbarische und Egyptische Straffe“188 streifen, notiert Happel ironisch zur betont barbarischen Methode des Pfählens der Delinquenten, dass man „[...] etliche gepfälte Leuthe gesehen [habe] / so biß an den dritten Tag gelebet haben / und die inzwischen wacker Toback rauchten / so manche Pfeiffe man ihnen auch überreichte“.189 Im Ganzen betrachtet konstruiert der Ausschnitt außereuropäischer Gerichtsbarkeit, wie er sich in „[...] dergleichen grausahmen Materie [...]“190 in den Relationes darbietet, ein diffuses und pauschales Bild: Happel vermittelt Szenen einer archaisch-blutrünstigen Welt, in der sich unkontrollierte Mord181 182
183 184 185 186 187 188 189 190
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Martabanische Halsstraffen“, S. 599. Siebender Theil der Orientalischen Indien: darinnen zwo unterschiedliche Schiffarten begrieffen [...] Zum andern ein Neunjärige Reyse eines Venetianischen Jubilirers / Casparus Balby genannt [...], Frankfurt 1605f. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 75, S. 599. Ebd., Nr. 76, S. 605f. Ebd. Ebd., S. 601f. Ebd., S. 601. Ebd., S. 607f. Ebd., S. 608. Ebd., Relation „Der unvernünfftige Henkers-Knecht“, Nr. 77, S. 610.
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lust und ,rechtlich’ sanktionierte Hinrichtung kaum unterscheiden – und zudem zeitlos wirken, da die wahllose Kompilation rezenter und älterer Quellen nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheidet. Entlang von Chaos und exzessiver Gewalt in der geographischen Peripherie formt sich einmal mehr eine zivilisatorische Demarkationslinie, die weit eindimensionaler war als in den meisten zeitgenössischen Reiseberichten. Da die Relationes nicht das Ergebnis intensiver Reflexion, sondern extensiver Kompilation waren, konnte und wollte Happel nicht mit dem Differenzierungsgrad seiner Quellen konkurrieren. Im ,ethnographischen’ Teilausschnitt setzt er daher klar auf die genüssliche Aktualisierung älterer Klischees, auf Sensation statt Information. Jedoch reizen die Gegenwelten Happel gelegentlich auch zu unerwartet relativierenden Kommentaren. So gibt er zu bedenken: „Stehe still allhier / curieuse Leser / und betrachte die gewaltige Grausamkeit der Heyden / halte aber auch dagegen die unmenschliche Crudelität etlicher Christlichen Gewaltigen / und erwege / welche den höchsten Grad erreichet haben“.191 7.1.4. Exotismus und Verlangen: Von ,künstlichen’ Chinesen Der obige Kommentar deutet an, dass sich die Darstellung fremder Länder in den Relationes nicht auf ihre Funktion als Stütze einer grenzenlos ethnozentrischen Weltsicht beschränkt. Negativ besetzte Alterität ist in Happels Periodikum ein maßgeblicher, aber nicht der einzige Modus der Fremderfahrung. Vielmehr vermischt er sich mit dem Kontrast einer positiven Alterität, die eurozentrische Kulturperspektiven zumindest partiell zurücknimmt und im weiteren Kontext des barocken ,Exotismus’ zu sehen ist. Verstanden als „[...] eine Kategorie ästhetischer Wahrnehmung und Darstellung fremder, v.a. Außereuropäischer Gesellschaften, Kulturen und Naturphänomene [...]“192 lag der ,Exotismus’ jeder Kunstkammer, aber auch den Reiseberichten und Romanen der Zeit zugrunde. Orient- oder Asienmotive wurden zum „beliebten Kolportagelement“,193 während sich an fürstlichen Höfen lebende ,Exoten’ und „Curiositäten“ wie etwa Lappländer befanden, die auch Happel in Gottorf noch selbst gesehen haben will.194 191 192
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Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die erschreckliche Marter“, Nr. 21, S. 168. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Artikel Exotismus, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 3, Sp. 682-687, hier Sp. 683; ähnlich: Bitterli, Urs: Die exotische Insel, in: König (Hrsg.): Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen, S. 65-83, hier S. 73. Dharampal-Frick: Indien im Spiegel deutscher Quellen, S. 132. „Als Anno 1674 Sein. Hoch-Fürstl.Durchl. von Holstein / Gottorff eine Reise zu Wasser nach Stockholm verrichtete / da ward sie gleicher Gestalt vom Könige mit 6 Rennthieren
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In den Relationes schlägt der Ton der Abwehr daher unversehens in Verlangen um angesichts kultureller Höchstleistungen der Heiden – einmal mehr zeigt sich in der zwiespältigen Reaktion die eigentümliche Ambivalenz des Kompilators, der mit den vielfältigen Quellen des Schreibens auch die heterogenen Beobachterstandpunkte ineinander fließen lässt. Wie sich die Deutung der Fremde von den Gegenwelten hin zu „Gegenwunschwelten“195 verschiebt, soll im Folgenden entlang einiger Bausteine im China-Bild der Relationes gezeigt werden. Sie deuten bereits auf die Entwicklung im 18. Jahrhundert voraus, als Chinoiserien zur europäischen Mode wurden.196 Da sie die Voraussetzung für die Rezeption auch in den Relationes bildet, seien einige kursorische Bemerkungen zur europäischen Chinawahrnehmung im späten 16. und 17. Jahrhundert vorangestellt;197 trotz einer immensen Spannweite der Urteile zeigt sich deren historischer Verlauf in der Frühen Neuzeit in starker Vereinfachung wie folgt: Seit dem 16. Jahrhundert verbreiteten sich zunehmend positive Einschätzungen, bis an der Wende zum 18. Jahrhundert Elogen über China schließlich allerorten grassierten.198 Das Land galt in der europäischen Phantasie als Inbegriff umfassender Blüte, eine Einschätzung, die wesentlich auf jene Texte zurückzuführen war, die auch noch von Happel ausgewertet wurden: Nach der erfolgreichen Etablierung der Ordensmission in Peking durch den genannten Matteo Ricci waren es primär die Jesuiten, die einen Großteil des Informationsstroms aus China kanalisierten und damit die Koordinaten der Wahrnehmung vorgaben. Da das Land als lohnenswertes Missionsziel erscheinen sollte, war das Interesse der Jesuiten gering, China grundsätzlich zu verdammen. Schon durch Marco
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/ und einem paar Lappischen Ehe-Leuthen / sambt einem Jungen beschencket / welche ich zu Gottorff allesambt offtmahlen gesehen“. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Das nützliche Rennthier“, Nr. 75, S. 596; dazu auch: Hultsch, Paul: Der Orient in der deutschen Barockliteratur, Breslau 1936: „Unter dem Hofgesinde befanden sich einige Perser und Tatarinnen. Auch ein Araber wird unter den Lakaien erwähnt“. Ebd., S. 11. Leutner, Mechthild / Yü-Dembski, Dagmar: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Exotik und Wirklichkeit. China in Reiseberichten vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1990, S. 7-15, hier S. 7. Dazu: Bischoff, Cordula: Artikel Chinoiserie, in: Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band 2, 2005, Sp. 713-117. Zum Thema grundlegend: Demel, Walter: Abundantia, Sapientia, Decadencia. Zum Wandel des Chinabildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Bitterli, Urs / Schmitt, Eberhard (Hrsg.): Die Kenntnis beider ,Indien’ im frühneuzeitlichen Europa, München 1991, S. 129-155; Ders.: Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992; Ders.: Europäisches Überlegenheitsgefühl und die Entdeckung Chinas. Ein Beitrag zur Rückwirkung der europäischen Expansion auf Europa, in: Beck, Thomas (Hrsg.): Kolumbus’ Erben. Europäische Expansion und überseeische Ethnien im ersten Kolonialzeitalter (1415-1815), Darmstadt 1992, S. 99-143. Demel: Abundantia, Sapientia, Decadencia, S. 148.
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Polo (1254-1324) etablierte Topoi des Chinabildes festigten sich in der Folgezeit: Das Land erschien voll an Reichtümern und ,Denkwürdigkeiten’, die von den Texten der Zeit wiederholt auf die Formel der abundantia (Überfluss) gebracht wurden.199 Die gigantischen Menschenmassen überwältigten, hinzu kam der Europa nicht nachstehende Wohlstand,200 die Bodenschätze, der hohe Stand von Wissenschaft und Kunst, das blühende Gewerbe und vor allem die Vorzüge des Regierungssystems, in dem Beobachter der europäischen Frühaufklärung das antike Ideal des Philosophen auf dem Thron verwirklicht sahen.201 Schon 1580 stellte etwa Michel de Montaigne (15331592) die Gewissheit eurozentrischer Positionen und ihres (Welt-)Wissens in Frage: „In China, einem Reiche, dessen Einrichtungen und Künste, ohne daß es Umgang mit uns hätte und ohne daß es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen und dessen Geschichte mich belehrt, wieviel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben [...]“.202
Diese bewundernde Einschätzung Chinas gehörte noch einhundert Jahre später zum Standard der geistigen Auseinandersetzung mit Asien. Um 1697 veröffentlichte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) – zeitgleich im regen Briefwechsel mit Jesuiten in China203 – seine Novissima Sinica Historiam Nostriam Nostri Temporis Illustrata.204 Während Montaigne noch ein asymmetrisches Verhältnis durch die kulturell-technische Überlegenheit Chinas zu bedenken gab, feiert Leibniz eine spiegelbildliche Ähnlichkeit von europäischer und asiatischer Welt: „Durch eine einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dazu gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und in Tschina (so nämlich spricht man es aus), das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die Höchste Vorsehung dabei das Ziel – während die zivili199
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Demel: Abundantia, Sapientia, Decadencia, S. 133: „Der Schlüsselbegriff für die Summe all dieser überwältigenden Eindrücke hieß ‚abundantia’ – und dieser Begriff taucht dementsprechend in allen Variationen in den Reiseberichten ständig auf“. Osterhammel: Reisen an die Grenzen der Alten Welt, S. 225. Demel: Abundantia, Sapientia, Decadencia, S. 140f. Zitiert nach: Montaigne, Michel de: Essais, hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt 1976, S. 220. Aus der jüngeren Literatur siehe etwa: Widmaier, Rita: Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689-1714), Hamburg 2006. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Novissima Sinica Historiam Nostri Temporis Illustratura [...], Hannover 1697.
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siertesten (und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten) Völker sich die Arme entgegenstrecken –, alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßeren Leben zu führen“.205
Das derart euphorisch besetzte Chinabild brachte es im späten 17. Jahrhundert auch jenseits der geistigen Elite zur einer relativen Breitenwirkung. Wie Leibniz spielt Happel um 1688 auf die Entfernung Chinas von Europa an und erklärt, dass zwischen geographischer und kultureller Distanz keineswegs ein proportionales Verhältnis bestehen muss; bemerkenswerterweise nimmt Happel hier den Begriff des Barbaren zurück, den er durch die Brille der binären religiösen Wahrnehmung sämtlichen Nicht-Christen noch pauschal übergestülpt hatte: „Die Sinesen sind sehr weit / ja so gar von uns entlegen / daß man meinen solte / sie würden die aller unwissenste Barbaren seyn / aber als die Europeer hinein kamen / funden sie so qualificirte Subjecta und Männer durchdringendem Verstande unter ihnen / daß sie dergleichen sich in diesem Erdwinckel nimmermehr versehen hetten“.206
Lobende Anmerkungen zu China leiten sich in den Relationes weniger aus den ,ethnographischen’ Artikeln über Sitten und Gebräuche ab. Detailaufnahmen von Mentalität und Lebenswandel sucht man ebenso vergebens wie eingehende Schilderungen wissenschaftlicher Leistungen; Happel begnügt sich hier mit flüchtigen Bemerkungen, etwa, dass die Chinesen „[i]n der Wissenschafft des Himmels-Lauffs [...] ihres Gleichen wenig“207 hätten. Auch politische Kategorien mit Blick auf die Herrschaftsformen spielen allen spielen allenfalls eine periphere Rolle. So wird die auch erwähnte chinesische Gerichtsbarkeit nicht im Kontext der politischen Verfassung des Landes verhandelt. Happels fragmentarisches Chinabild konzentriert sich vielmehr auf kulturelle Höchstleistungen, oder anders: auf das, was in die Vorgeschichte touristischer ,Sehenswürdigkeiten’ fällt und – auch hier – zum Standardrepertoire der Berichtstradition über China gehörte. In den Relationes findet sich damit kein dynamisches Bild, sondern eines, das sich mit wenigen, erstaunlichen Schlaglichtern der materiellen Kultur begnügt. Nicht ,die’ Chinesen selbst werden in den Relationes zu einer „Curiosität“, sondern einzelne, als Wunder stilisierte Einzelobjekte vor allem aus dem Bereich der Architektur. So berichtet Happel seinen Lesern schon gegen 1682 über die „Die sinesische[n] Wunder-Brücken“.208 Doch bleiben auch hier die Ambi205 206 207 208
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vorwort zu Novissima Sinica, in: Hsia, Adrian (Hrsg.): Deutsche Denker über China, Frankfurt 1985, S. 9-27, hier S. 9. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der außländische Artzt“, Nr. 35, S. 280. Ebd. Ebd., Band 1.2, Nr. 5, S. 38f.
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valenz und Spannung in der Wahrnehmung Außereuropas erhalten, da Happel die Bauwerke zum Anlass nimmt, um „[...] von dem großen Verstand dieser verblendeten Götzen-Diener etwas zu reden [...]“.209 So entsteht in den Relationes entlang der willkürlichen Hervorhebung von Merkwürdigkeiten aus Kunst und Architektur ein Bild vom ,künstlich’kunstfertigen China, das Teil der beschriebenen ,Open-Air-Wunderkammer’ ist. Die Hauptquelle Happels in diesen Passagen ist Joan Nieuhofs erwähnte Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft. Nieuhof nahm an einer der ersten europäischen Gesandtschaften überhaupt Teil, die 1655 bis nach Peking vordringen konnte.210 Sein Bericht über diese Reise, angereichert um ältere Texte, wurde zu einer der wirkungsgeschichtlich wichtigsten Primärquellen über China im 17. und 18. Jahrhundert.211 Nieuhof brachte zudem jene Passagen, die in der Rezeption der Relationes Curiosae fehlen – so gibt es ein eigenes Kapitel „Von etlichen seltsamen Sitten und Gebräuchen / so bey den Sinesern üblich seyn“.212 Die Popularität von Nieuhofs Werk erklärt sich zudem nicht allein aus dem Text. Die Gesandtschafft führt China – oder das, was die Europäer darin sehen wollten – durch viele Kupferstiche vor Augen; besonders häufig sind Pagoden zu sehen. In der Beschreibung dieser Reliquienbauten setzt Nieuhof auf das Kunstkammer-Vokabular, das seine Objekte charakteristischerweise zwischen den Sphären der Kunst- und Naturwunder oszillieren ließ (siehe Kapitel 7.2.1.). So sieht man bei Nieuhof immer wieder „[...] eine Pagode oder Götzen-Tempel; ist ein sehr artiges und wunderkünstliches Gebäw / welches so schön und zierlich / Landes Gebrauch nach / auffgeführet / dass es ein Meisterstück beydes der Kunst und Natur zu seyn scheinet“.213 Dass heidnische Glaubenspraktiken bei europäischen Kommentatoren Abscheu erzeugten, änderte also nichts daran, dass ihre Kultbauten zugleich Bewunderung hervorriefen. Bild und Text kopiert Happel von Nieuhof beispielsweise im Bericht über einen weiteren pagodenartigen Turm: „Der Porcellaine Thurm“214 im 41. Bogen des Jahres 1685. Auch hier wird – wie im Diskurs über die Hottentotten – mit der Kompilationsmethode auch der Transfer des Buchwissens in das Periodikum deutlich: Die Marginalie „Ein Porcellanen-Thurm“215 in Nieuhofs Text bildet die Vorlage für Happels eigene Überschrift des Artikels. Bevor Europa im 18. 209 210 211 212 213 214 215
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 5, S. 38f. Demel: Als Fremde in China, S. 32. Ders.: Abundantia, Sapientia, Decadencia, S. 144. Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 269f. Ebd., S. 72. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 43, S. 347f. Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 123.
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Jahrhundert die eigene Porzellanherstellung gelang, wurde die Keramik als Luxusartikel bereits im großen Stil aus China importiert; ein ganzer Turm als Porzellan verkörperte daher für den europäischen Beobachter ein sinnfälliges Bild der ,künstlichen’ Wunder Chinas. Nieuhof bemüht demnach auch Superlative, spricht vom „[...] Kunststück über alle Kunststücke / diß Wundergebäw über alle Wundergebäw [...]“.216 Happel zitiert ihn unverändert im Kernstück seines Artikels: „Mitten auf diesem Platz sah man einen hohen Porcellainen-Thurm / ein Kunststücke / woran die Sineser gnugsahm erwiesen die sonderbahre Scharffsinnigkeit und Kunst derer / so in ihrem Lande gebohren“.217 Bei anderen chinesischen Türmen macht Happel darauf aufmerksam, dass sein Periodikum lediglich ein Glied in der Kette von Kompilationen darstellt. Im Artikel „Der hohe Turm bei Lincing“218 gibt er neben Nieuhof noch zwei weitere Meilensteine des europäischen Chinabildes der Frühen Neuzeit als Quelle an; auch diese stammen aus jesuitischer Feder: zum einen Martin Martinos (1614-1661) rund zehn Jahre vor Nieuhofs Bericht veröffentlichter Novus Atlas Sinesis (1655). Mit Blick auf die Vollständigkeit und den Grad geographischer Exaktheit blieb das Werk lange das Maß der Dinge. Durch landeskundliches und historisches Material war Martinos Werk, das der Amsterdamer Verleger und Kartograph Joan Blaeu (1596-1673) in sein monumentales Theatrum orbis terrarum, sive, Atlas Major219 (seit 1636) aufnahm, eher umfassende Kosmographie denn bloße Kartographie. Zum anderen bezieht sich Happel darauf, dass ihm in der Auswertung von Martinos Bericht Athanasius Kircher in seiner China Illustrata220 (1667) vorangegangen sei. Kirchers Wissenssumme war neben Nieuhofs Text wohl die einflussreichste und populärste Quelle des europäischen Chinabildes der Zeit.221 Happel stellt sich explizit in eine Reihe mit dem jesuitischen Kompilator: „Aber wann ich den allerfürtrefflichsten Mathematicum Kircherum zum Vorgänger habe [in Exzerpierung von Martinus, F.S.] / so schätze ich billich diesen Thurm 900 Ellen hoch [...]“.222 Auch hier werden die gängigen Übertreibungstopoi bemüht. So zeige sich das mei216 217 218 219
220 221 222
Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 124. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der Porcellaine Thurm“, Nr. 43, S. 347. Ebd., Nr. 44, S. 349f. Noch im Jahr seiner Erstpublikation erschien Martinos Atlas auch in deutscher Übertragung als Teil von Blaeus Atlas Major, Das ist / Welt-beschreibung / Sechster Theil [...] in welches [...] Atlas Sinensis / A Martino Martinio S.I. Descriptus [...], Amsterdam 1655. Kircher, Athanasius: China Monumentis Qua Sacris quà Profanis, Nec non variis Naturae & Artis Spectaculis, Aliarumque rerum memorabilium Argumentis Illustrata, Amsterdam 1667f. Dazu: Chang, Sheng-Ching: Natur und Landschaft. Der Einfluss von Athanasius Kirchers „China Illustrata“ auf die europäische Kunst, Berlin 2003. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der hohe Thurm bey Lincing“, Nr. 44, S. 349.
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sterhafte Vermögen chinesischer Kunst gerade darin, den Formen der Natur so weit nachzueifern, dass sich das, was Kunst und das, was Natur war, nicht mehr voneinander unterscheiden lasse. Exemplarisch demonstriert das „Der gekünstelte Felß“223 (Abb. 21). Mit Nieuhof akzentuiert Happel anhand des spielerischen Wettstreits von Kunst und Natur die Dominanz der Chinesen im ,Wettstreit’ der Nationen: „Gleich wie in fast allen andern Dingen / also thun es die Sinesen in der Bau-Kunst vielen andern Nationen weit zuvor. Ich will aus denen / die dasselbe Land etlicher massen durchwandert / anitzo nur eine Kunst-Stücke der Sinesen beschreiben / darinn sie der Natur Trutz gebotten [...]“.224 Erneut beobachten lässt sich hier das oben beschriebene Adaptionsmuster: Aus der Marginalie „Kunst Klippen“225 in Nieuhofs Text formt Happel im anschließenden Artikel den Titel „Der Sinesische Kunst-Felß“.226 Trotz dieser reproduktiven Momente leistet der Kompilator in der Quellenverarbeitung auch einen selbstständigen Teil: Während Nieuhof das ,Kunstwunder’ des Felsens an verschiedenen Orten seines Berichtes aufgreift, verdichtet Happel die Passagen in einem einzigen Artikel. Zudem generalisiert er Nieuhofs Kommentare und belässt es damit nicht bei einer bloßen Kopie der Vorlage. So übernimmt Happel zunächst Nieuhofs Bemerkung über die ,künstlichen’ Felsen, der abermals auf einen europäischasiatischen Kulturvergleich hinausläuft. Die Felsen seien „[...] dermassen artig und künstlich zugerichtet / dass die fürtrefflichsten Kunststücke der allersinnreichsten Europischen Meister / mit diesen Sinisischen Kunstwercken / meines erachtens / durchaus nicht zu vergleichen“.227 Im Folgenden bleibt Happel noch beim Wortlaut von Nieuhof, verallgemeinert dessen allein auf den Kaiserhof von Peking gerichtete Superlative jedoch mit Blick auf China insgesamt: „Wann man alle andere der Sinesen unbeschreibliche Kunst-Gebäu allhier anführen wolte / so würde es bald am Raum gebrechen / sintemahl keine Nation in der Welt die in solchen Stücken mit diesen künstlichen Leuthen mögen verglichen werden [...]“.228
223 224 225 226 227 228
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 62, S. 489f. Ebd., S. 489. Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 92. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 62, S. 490ff. Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 197. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der Sinesische Kunst-Felß“, Nr. 62, S. 492; die Vorlage Nieuhofs über den Kaiserhof in Peking: „Wenn ich alle anderen unvergleiche Kunststücke an Lustgärten / Thiergärten / Bächen / Pfühlen / und Teichen / sampt allen und jeden Raritäten / welche diesem Hofe eine unaußsprechliche Zierde und Herrligkeit seyn / nach der Länge erzehlen wolte / würde ich fast ein unendlich Werk beginnen / das vielmehr ein gantzes Buch / als etliche wenig Blätter erfordern dürffte“. Nieuhof: Gesantschaft der Ost-Indischen Geselschaft, S. 197.
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Jenseits der Bewunderung architektonischer ,artificialia’ gilt das Kräftemessen von Europa und China in den Relationes auch für die Errungenschaften auf wissenschaftlich-kulturellem Sektor. Im Rahmen des erwähnten (siehe Kapitel 6.2.) virtuellen Rundgangs durch die weltweit spektakulärsten Bibliotheken kommt Happel auch auf „Die Außländischen Bibliotheken“229 zu sprechen. Hier will er europäische ,Wissensarroganz’ relativieren, auch wenn er Bildung und Wissen nur in vertrauten Kategorien zu fassen weiß: „Man muß nicht meynen / daß ausser den Europeern alle Leuthe Barbarn sind / man findet unter den Juden / Mahometanern und Heyden gar manchen klugen und gelährten Mann / und herzliche Bibliothek. In China gelten die freyen Künste insonderheit sehr / alß welche Leuthe so wohl Baccalaureos, alß Licentiatos und Doctores nach eines jeden Meriten, creiren. Sie haben von langen Jahren her gar viel auff schöne Bücher gehalten / und fürtreffliche Bibliotheken auffgerichtet [...]“.230
Im Kontext der Bibliothek und der Rolle des Buchs sticht besonders hervor, dass Happels partielle Zurücknahme einer eurozentrischen Perspektive in der Auffassung mündet, dass es schließlich auch mit der ‚Teutschen Kunst’ nicht weit her sei. So will er die Erfindung des Buchdrucks den Chinesen anrechnen. Belehrend heißt es: „Es sey aber wie es wolle / so ist aus der Drucker-Kunst der Chinesen sattsam zu ersehen / daß bey andern Nationen viele Wissenschafften eher / alß bey uns Europeern gewesen sind [...]“.231 Seine Quelle nennt Happel hier nicht, doch wird er erneut auf Nieuhof zurückgegriffen haben. Dieser bringt in seinem Reisebericht einen größeren Abschnitt über die „Drückerkunst / wie lange dieselbe in Sina schon bekannt gewesen“.232 Nicht zuletzt hat der Wettstreit zwischen Europa und Asien eine ausdrücklich spielerische Komponente: Textliche und bildliche Darstellungen 229
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Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die Außländischen Biblotheken“, Nr. 42, S. 332. Als Quellen werden unter anderem „Trigaultius libr.4.c.20“ und „Mendoz.Hist.Sin.part.3.c.16“ genannt. Ebd. Ebd. Ebd., Band 3.2, Relation „Der See-Compas“, Nr. 73, S. 582. Ausführlich heißt es hier: „[E]s haben die Sineser / mit früezeitiger Erfindung der Druckerkunst / den Fortgang ihrer Wissenschaften. Denn obgleich dißfals die Europeer den Sinesern nicht gern nachgeben wollen / streiten doch fast alle [...] vor die Sineser. Der Gebrauch der Drückerkunst (sagt Nic. Trigautius in seinem I. Buch am 4. Cap.) ist viel eher von den Sinesern / als von den Europeern erfunden“. Nieuhof: Gesantschaft der OstIndischen Geselschaft, S. 260. Nicht nur bei Trigault findet sich die Einschätzung, dass die Druckerkunst in China bereits mehr als tausend Jahre gängig sei („una cosa anticchisma“), sondern auch bei anderen Jesuiten, etwa bei Daniello Bartoli (1608-1685). Brancaccio, Lavinia: China accommodata. Chinakonstruktionen in jesuitischen Schriften der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 161.
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von Belustigungen und Festen bilden im 17. Jahrhundert einen weiteren Topos der Chinaberichte. Hier wird die Fremde erneut in vertraute Kategorien der ,beobachtenden’ Kultur übersetzt – in den Relationes sind das Sensationsund Jahrmarktsspektakel. Um 1682 entwickelt Happel einen eigenen Themenkreis über die ,künstlichen’ Gaukler der Welt und nutzt den Stoff zur Moralisierung, indem die chinesische Kultur – und mit ihr der Orient als Ganzes – den Exzessen innerhalb Europas einen kritischen Spiegel vorhält. Im Artikel „Der Sinesische Gauckler“233 heißt es eingangs: „Viel löblicher handeln die Morgenländische Volcker [als die Europäer, F.S.] bey ihren Gastereyen / als wir Christen an manchen Orthen thun / dann da weiß man nichts von dem Bestialischen Sauffen; Vielmehr trachtet man in Orient nach einer viel bessern Gelegenheit / seinen Gästen eine Freude und Kurtzweil zu machen“.234
Daneben sind es gerade die akrobatischen Fertigkeiten, die den Topos einer ,künstlichen Nation’ noch einmal akzentuieren: „Insonderheit aber haben die Chinesen den größten Ruhm in diesen Ubungen / und weil ihre Gauckel-Kunst von verständigen Europeern zum höchsten bewundert wird / so trage ich kein Bedencken / dem curieusen Leser in beygehendem Kupffer ihre beste Actiones vorstellen zu lassen. Welche zu erklähren ich den Herrn Eduard Melton reden lassen will / welcher diese Lust zu Batavia selber angesehen [...]“.235
Was Happel nicht wusste: Bei Eduard Melton handelt es sich um eine rein fiktive Figur und ein Pseudonym des Amsterdamer Übersetzers und Verlegers Gotfried von Broekhuizen. Dieser hatte – wie Happel – sein Heimatland nie verlassen, kannte jedoch genügend Reiseberichte, um aus diesen einen ,eigenen’ zu kompilieren.236 1681 publizierte er ihn als Edward Meltons Engelsch Edelmans Zeldzaame en gedenkwaardige Zee- en Land-Reizen.237 Happel wertet seine Quelle hier also relativ zeitnah aus und kopiert aus der Vorlage erneut die zugehörige Illustration (Abb. 22). Auch die ,wunderbaren’ Bilddetails und den begleitenden Text übernimmt Happel aus den Zeldzaame en gedenkwaardige Zee- en Land-Reizen auf unkritische Weise: Broekhuizens Stich zeigt beim genaueren Hinsehen vom Himmel fallende Gliedmaßen. Während sich das Bild der ,künstlichen’ Chinesen in den Relationes so entlang bereits etablierter visueller und textueller Topoi entwickelt, lässt sich die 233 234 235 236 237
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 56, S. 445f. Ebd., S. 445. Ebd., S. 445f. Alden, John (Hrsg.): European Americana: A Chronological Guide to Works Printed in Europe Relating to the Americas [...], 5 Bände, New York 1980-1997, hier Band 4, 1997, S. 82. Melton, Edward: Zeldzaame en gedenkwaardige Zee- en Land-Reizen [...], Amsterdam 1681f.
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Vermittlung einer positiven Wahrnehmungen ,des’ Anderen verallgemeinern. Trotz ihrer Diffamierung als Heiden zeigen bei Happel nicht nur die Leistungen der Chinesen, dass eine Kulturdominanz des Okzidents fraglich geworden ist. An ihre Stelle tritt tendenziell die gleichwertige Pluralität der Kulturen. „Ein ander Land / eine andere Gewohnheit [...]“238 – auf diese tolerante Formel bringt es Happel an anderer Stelle der Relationes. 7.1.5. Fazit: Leistungen und Grenzen wöchentlicher ,Lehnstuhlethnographie’ Die Analyse der Konstruktion und Vermittlung außereuropäischer Welten in den Relationes lässt sich auf zwei Ebenen resümieren; zunächst mit Blick auf den Transfer des Wissens von einem Medium ins andere, vom Buch ins Periodikum: Happel beweist Souveränität darin, ein breites Panorama jener Werke wöchentlich in Ausschnitten zusammenzubringen, die, wie etwa Nieuhofs Gesandschafft, über eine gesamte Epoche entscheidend waren für die Bilder, die sich Europa von Außereuropa machte. Mit dem fragmentarischen Zug der Quellenrezeption verändert sich allerdings auch das Profil des Wissens: Während die oft dickleibigen und teuren Reiseberichte fremde Kulturen innerhalb eines linear-geschlossenen Erzählzusammenhangs tendenziell als ,Ganzes’ beschreiben, isoliert Happels strukturschwaches Montageprinzip aus den Vorlagen nur einzelne Bausteine; einmal mehr zeigen sich die Relationes hier als ein disparates Gewebe von „Curiositäten“ – wie in der Auswertung von Dappers Africa angedeutet, entwickelt sich dieses oft entlang der Marginalien der Quellen. Beim Transfer des Wissens in das Periodikum werden die Quellen selbst weniger inhaltlichen als teils grundsätzlichen formalen Veränderungen unterworfen. So löscht Happel gerade in der Verarbeitung von Reiseberichten auch die subjektive Position des individuellen Beobachters und erzeugt solcherart den Eindruck einer objektiven und verlässlichen ,Reportage’ aus fremden Welten. Damit empfehlen sich zumindest die ‚Jahresbände’ des Periodikums auch als ,ethnographische’ Kompendien, deren Wissen über eine relativ hohe Halbwertzeit verfügt, weil es implizit als zeitlos gültig präsentiert wird. Auf der inhaltlichen Ebene setzt Happel seine Prämisse konsequent um, den Leser durch die Reihung der ,Seltsamkeiten fremder Nationen’ zu unterhalten. Die imaginäre Konstruktion ,des’ Anderen leitet sich aus der ständigen Suche nach den kurzweiligen Effekten kultureller Differenz ab, selbst wenn, wie im Fall des Gegensatzpaares von Christen und Heiden gezeigt, 238
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Das denkwürdige Wasser-Banquet“, Nr. 85, S. 678.
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punktuell auch nach Parallelen gesucht wird. Außereuropa wird in der Perspektive der Relationes auf Superlative und Sensationen reduziert, die in das Wahrnehmungsraster der Kunstkammer fallen. So sehr die Aufmerksamkeitsschwerpunkte Happels eigenen Vorlieben beim Querlesen der Quellen entsprochen haben mochten, so wurden sie doch nicht zufällig Teil des Periodikums. Vielmehr reproduzieren die Relationes verbindliche Standardtopoi eines Bildes von Außereuropa, das im 17. Jahrhundert vor allem durch formelhafte Klischees geprägt war und als solches Konstanz in verschiedenen Medien bewies: Die ,barbarischen’ Heiden waren für das Programm kultureller Selbstvergewisserung ebenso obligatorisch wie die ,unzivilisierte’ Strafpraxis fremder Länder. Happel erzeugt durch die Sammlung und Verarbeitung von Reiseberichtsausschnitten zwar eine vielstimmige Collage von Texten, deren Autoren unterschiedlicher intellektueller und sozialer Herkunft waren. In den Relationes findet sich jedoch nur in Ansätzen eine Weiterentwicklung der überlieferten Wissensgrundlage; hier ist auch die vorgebrachte Quellenkritik eher rhetorischer Natur. Wenn Happel etwa im Kontext ,strenger chinesischer Leibesstrafen’ die milden Angaben im Reisebericht von Nieuhof als zweifelhaft abtut, wird dieser an zahllosen anderen Stellen kommentar- und kritiklos zitiert. Trotz dieser Abstriche und der allgemeinen Abhängigkeit von den Deutungsmustern der Quellen kommt es, wie skizziert, zu eigenständigen Kommentaren Happels. Deren Funktion liegt einerseits darin, ein a priori angenommenes eurozentrisches Überlegenheitsgefühl weiter zu stabilisieren und eine wirkliche Auseinandersetzung mit der pauschal negativ besetzten Fremde erst gar nicht zu suchen. In diesem Sinne stehen die Relationes sicherlich nicht dafür, dass das 17. Jahrhundert aus der fortdauernden Beschreibung außereuropäischer Völker notwendigerweise auch neue Schlüsse für das eigene Selbstbild zog. Stattdessen geht es implizit wie explizit darum, sich von Außereuropa durch die Schärfung eines eurozentrischen ,Wir’-Gefühls abzugrenzen. „Bei uns Europeern [...]“239 – so adressiert Happel das Selbstbewusstsein der Leser zahllose Male und liefert insgesamt Bausteine zu einer ,europäischen Identität’.240 Eine charakteristische Spannung wird jedoch dadurch erzeugt, dass die Relationes den simplen Dualismus vom positiven Hier und negativem Dort vereinzelt überwinden und das eurozentrische Weltbild destabilisieren:241 In 239 240
241
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Das Glaß-Gewinst“, Nr. 76, S. 604. Laut Wolfgang Schmale ein Desiderat: „Gerade das Wissen über [...] Europavorstellungen in der Frühen Neuzeit ist begrenzt geblieben, weil der bewusste Quellenkanon nur in Einzelfällen ausgewertet wurde“. Schmale, Wolfgang: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert, Bochum 2004, S. 7-21, hier S. 14. Noch deutlicher zeigt sich diese generelle Tendenz in Happels Roman Der Insularische Mandorell: „Insbesondere begegnen keine offensichtlichen Wertungen eurozentrischer
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der irritierenden Fülle gedruckter Informationen über fremde Welten wurde nicht zuletzt Erstaunen und Bewunderung angesichts zivilisatorischer Leistungen ,des’ Anderen erregt, wie sie exemplarisch für das Chinabild des Jahrhunderts diskutiert wurden. In dieser kulturvergleichenden Perspektive überraschen die milden Töne Happels und die prinzipielle Bereitschaft zur Weltoffenheit. Diese doppelte Struktur „curiös“-barocker ‚Lehnstuhlethnographie’ hatte Happels Zeitgenosse Francisci schon 1668 implizit auf den Punkt gebracht. In der Vorrede zu seinem Lust- und Stats-Garten bemerkt er: „Wo mag ein neugieriger oder curiöser Blick bessere Satisfaction für sich antreffen / ohn in solchen fernen Ländern / da nicht allein die Schönheiten / sondern auch die Abscheulichkeiten selbst / mit ihrer Befremdung / ihn nach sich ziehen?“242
7.2. Die abweichende, spielende und künstliche Natur „Am allermeisten aber haben wir uns zu verwundern über diese seltsame Bildungen / so uns von der sinnreichen und niemahls müssigen Natur an vielen Dingen vorgestellet werden“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Ebenso deutlich wie in der Faszination für fremde Kulturen zeigt sich die Parallelität von Kunstkammer und Periodikum in zwei weiteren großen Themenfeldern: Zum einen in der dominanten Ausrichtung auf alle Seltsamkeiten und Wunder der natürlichen Welt, eine Facette, in der sich die Interessen des Eliten- und Laiendiskurses im 17. Jahrhunderts bemerkenswert überlagerten (siehe unten); damit zusammenhängend handelt es sich, wie zu zeigen ist, bei den Relationes zum anderen auch insofern um eine imaginäre Kunstkammer, als Happel die für die Kunstkammer-Ästhetik entscheidende Vereinigung von Kunst und Natur popularisiert. Die Repräsentation beider Diskurse in den Relationes ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Ein Großteil der zahllosen Naturwunder der Relationes – ob dies „Die seltsame Krebs-Wurtzel“243 oder „Eine menschlich-gestalte Rübe“244 betraf
242 243
Art, stehen doch die fremden Kulturen einschließlich ,mahometantischer’ und paganer Glaubensrichtungen in Happels Text völlig gleichrangig neben Europa“. Stockhorst: Nachwort, S. 666. Francisci: Lust- und Stats-Garten, Vorrede, Bl. ):(r. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 43, S. 337f.
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– beruhte auf einem Naturbegriff, der im 17. Jahrhundert in einer historisch einmaligen Konstellation eine kurzzeitige Diskursgemeinschaft von elitären und populären Kulturen erzeugte.245 Die Zäsur lag darin, dass die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts erstmals den wissenschaftlichen Erkenntniswert des Wunderbaren anerkannte und damit das Studium von irregulären Naturerscheinungen in den Mittelpunkt des Interesses rückte.246 Programmatisch zeigt sich das bei einzelnen Vorreitern der Epoche, etwa bei Francis Bacon. Er forderte eine Erweiterung der Naturgeschichte um jene Phänomene, die gerade nicht dem gewohnten Lauf der Dinge entsprachen,247 sondern abnormale Abschweifungen bedeuteten – Monstren beispielsweise. Institutionell gesehen schlugen sich derartige Postulate in zwei Tendenzen nieder: erstens hatten sich nahezu sämtliche Kunst- und Naturalienkammern der Anhäufung aller möglichst bizarren und seltenen Naturlaunen („Raritäten“) verschrieben; zweitens sammelten die wissenschaftlichen Akademien und ihre periodischen Journale zu großen Teilen Berichte über exakt jene merkwürdigen Phänomene der Natur, die als ,naturalia’ häufig auch in die Kunstkammern einwanderten. Hier zeigt sich neben der erneuten Affinität von Objekt- und Textwelten auch die mediale Abhängigkeit der Relationes, da Happel viele Beschreibungen von Naturwundern aus den gelehrten Periodika wie den Miscellanea Curiosa entnimmt (siehe unten). Mit seinen Quellen adaptiert Happel vor allem zwei Topoi aus dem wissenschaftlichen Diskurs über das Wunder und den Naturbegriff: den Gedanken der ,abweichenden’ Natur und – damit überwiegend synonym verstanden – jenen der ,spielenden’ und ,künstlichen’ Natur. Diese Denkschemata geben dem breiten Spektrum der Naturseltsamkeiten in den Relationes Curiosae ihren Deutungshorizont vor. Um 1685 etwa leitet Happel einen Artikel über die Paradoxie eines „furchtsame[n] Löw“248 mit einem grundsätz244 245
246
247 248
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 15, S. 116f. Ausführlich dazu: Daston / Park: Wunder, S. 254ff.: „[...] so war auch über einen großen Teil des siebzehnten Jahrhunderts hinweg der gelehrte Diskurs vom Laiendiskurs über Wunder nicht scharf getrennt“. Ebd., S. 256. Hier kann nicht weiter vertieft werden, dass es im 17. Jahrhundert nicht ,den’ einen Naturbegriff gab, sondern ein ganzes Spektrum an Naturbedeutungen. Siehe dazu: Leinkauf, Thomas: Der Naturbegriff im 17. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 23, H. 4, 2002, S. 399-418; sowie: Mahlmann-Bauer, Barbara: Artes et scientiae – Künste und Wissenschaften – im Verhältnis zur Natur, in: Dies. (Hrsg.): Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Band 38), Wiesbaden 2004, S. 11-65, insbesondere S. 25ff. Daston / Park: Wunder, S. 260ff. Er entnimmt den Bericht aus Olfert Dappers Reiseberichtskompilationen; zitiert als: „Dapper: Africa Descript. Maritaniae pag.m.232. Dapper: America l.2.c.16“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 96, S. 765.
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lichen Kommentar ein. Er zeigt, dass die Relationes wie die Kunstkammern nur an einer Naturgeschichte in ,selektiver Absicht’ interessiert sind, also nur das sammeln, was unbedingt singulär ist: „Gleich wie aber in andern Geschöpffen / also schreitet die Natur auch an diesem Thier bißweilen auß ihren Schranken / [...] welche ohne Zweiffel keines von den geringsten Raritäten [...]“.249 Dass die besondere Aufmerksamkeit jenen Phänomenen gilt, in denen die Natur „auß ihren Schranken“ tritt, macht Happel in einem anderen Artikel noch expliziter. So nimmt er einen aus den Miscellanea Curiosa kopierten Bericht über einen „seltsame[n] Zahn“250 zum Anlass, über die Semantik des ,Seltsamen’ zu sinnieren und zugleich die Bedeutung seiner Quelle zu unterstreichen: „Man kan einen Zahn seltsam nenen / an welchem sich etwas eräugnet / das wieder den ordinairen Lauff der Natur streitet / also sind hieher zu zehlen diejenge / welche den Kindern in den ersten Tagen oder Wochen alsobald nach der Geburth heraus brechen / auch wohl gar mit auf die Welt gebracht werden [...] und sind deren etliche in den berühmbten Emphemeridibus Nat.cur. [Miscellanea Curiosa, F.S.] angezeiget worden“.251
Wenige Artikel später wird „Die abweichende Natur“252 schon in der ,Schlagzeile’ zum Programm. Der Auftaktkommentar nimmt die Reflexionen aus der obigen Relation wieder auf und erweitert diese: „In vielen Dingen tritt die Natur von ihrem ordentlichen Lauff und Wandel / welches wir alsobald als ein sonderbahres Monstrum betrachten / und dazu auch vielfältig befuget sind. Wann demnach sothane Abtritte der Natur manchmahl merkwürdig sind / wil ich selbige durch curieuse Exempel beweisen / daneben aber den curieusen Leser gebethen haben / nicht zu frühzeitig zu urtheilen / und was ihm seltsam oder unglaublich fürkommet / alsobald / als falsch oder erdichtet / zu verwerffen / dann es wird alhier nichts geschrieben / welches mit glaubwürdigen Authoribus sich nichts authentisieren liesse“.253
Hier sind zwei Aspekte aufschlussreich: Zum einen bezieht sich Happel in vager Form auf die Frage, welche Bedeutung anormalen Naturphänomenen zuzuschreiben sei, indem er auf die Denotation des Wortes „Monstrum“ (monstrare=zeigen, mahnen) anspielt; kritisiert wird also die Tendenz, „alsobald“ die Ursachen von schwer erklärlichen Erscheinungen der natürlichen Welt in übernatürlichen Ursachen zu suchen. Zum anderen zeigt der Kommentar, dass ein drängendes Problem der naturphilosophischen Debat249 250 251 252 253
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 96, S. 765. Ebd., Band 4.2, Nr. 6, S. 44. Ebd. Ebd., Nr. 7, S. 53. Ebd.
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te des späten 17. Jahrhunderts auch im populären Rahmen wahrgenommen wurde: die Frage der Beglaubigung von Wundern.254 Welche Maßstäbe oder Kriterien die „glaubwürdigen Authoribus“ zu erfüllen haben, thematisiert Happel gleichwohl nicht; insofern dient dieser Einschub eher der rhetorischen Absicht, durch autoritative Absicherung den emotionalen Wirkungsgrad der im Folgenden referierten Naturwunder noch zu erhöhen, bei denen die Grenzen zwischen Fiktion und Fakt erneut fließend sind – darunter einige monströse Geburten von Kühen, die nicht nur Schweine und Lämmer, sondern selbst Menschen zur Welt gebracht haben sollen.255 Die listenartige Aufzählung zeigt ein generelles Merkmal der Relationes: Die Glaubwürdigkeit wunderbarer Naturphänomene wird kaum angezweifelt. Sie sind vielmehr selbstverständlicher Teil von Happels Vorstellungshaushalt, müssen allerdings nicht zwangsläufig ein (Mahn-)Zeichen Gottes sein. Diese klassische Interpretation bleibt in den Relationes weiter denkbar, nimmt im Vergleich zu den vorigen Jahrhunderten jedoch tendenziell ab.256 Von einer allmählichen Transformation des Wunderbaren kann hier deswegen gesprochen werden, da besondere Naturphänomene in der Vermittlung der Relationes häufig nur mehr schlichte wie unterhaltsame Tatsachen bilden. So bemerkt Happel etwa über eine Begegnung mit der ,abweichenden Natur’ in Hamburg selbst: „Ich kenne selber eine Frau hiesigen Orths / welche sich eine gute Zeit schwanger befunden / auch endlich kranck worden / und ein todes Fercklein in diesem Früh-Jahr / aber todt / zur Welt gebracht [...]“.257 Mit dem Rekurs auf die (vermeintlich) eigene Erfahrung schürt der Kompilator den Glauben an einen erweiterten Möglichkeitsraum der Natur. Wie für seine assoziativen Verknüpfungen typisch, bleibt Happel auch im Folgenden beim Beispiel abnorm schwangerer Frauen und beruft sich noch einmal ausdrücklich auf den Topos der ,abweichenden Natur’. In der Relation „Die gelüstende schwangere Frau“258 heißt es: „Ebenmässig weichet die Natur von ihrem Lauff / wann sie bey diesem oder ienem einen Eckel für gewissen Dingen / absonderlich aber hingegen / bey schwangern Weibern einen grossen Appetit zu unnatürlichen Speisen erwecket [...]“.259 Der Gedanke, dass die Natur geradezu regelmäßig, also „ebenmässig“, Unregelmäßigkeiten produziert, ist für den wissenschaftlichen Diskurs über die ,spielende Natur’ 254
255 256 257 258 259
„Mit einer Intensität, die derjenigen der großen religiösen Debatten der Zeit nahekam, fragten Naturforscher sich selbst und einander, was und wem sie glauben sollten, und warum“. Daston / Park: Wunder, S. 258. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 8, S. 55. Ausführlich: Schock: Zur Kommunikation von Wunderzeichen. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die abweichende Natur“, Nr. 7, S. 53. Ebd., S. 54. Ebd.
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im 17. Jahrhundert besonders zentral.260 Während Wunder der Theorie nach nur zufällig auftauchten, seien Spiele und Abweichungen der Natur regelmäßige Phänomene261 – eine elaborierte Unterscheidung, die im populären Kontext kaum von Belang war und daher auch von Happel nicht getroffen wird. Dennoch ist der Topos der ,spielenden Natur’262 in die Relationes noch präsenter als die Annahme einer ,abweichenden Natur’, die „[...] dem gemeinen Lauff und Ordnung entgegen zu seyn scheinet [...]“.263 Gerade in der gelehrten Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts – und in den Texten, auf die Happel sich stützte – bildete die Wahrnehmung des ,lusus naturae’ einen wichtigen epistemischen Baustein im Naturverständnis: Während das 18. Jahrhundert nach der Systema Naturae (1735) Carl von Linnés all die seltsamen Naturlaunen der Kunstkammern allmählich marginalisierte und die Natur stattdessen in geordneten Bahnen wahrnahm, interessierte sich die Naturphilosophie des 17. Jahrhundert zum großen Teil noch für das Gegenteil: Im Mittelpunkt der Vorstellung einer ,spielenden Natur’ stand die Annahme einer aktiven, dynamisch-belebten und aus sich selbst heraus schaffenden Natur. Den Besitzern von Kunstkammern und auch Happel ging es – verkürzt gesagt – noch nicht um universale Naturgesetzmäßigkeiten, sondern um das Bild einer Natur, die auf spielerische Weise immer neue, überraschende Ausdrucksformen hervorbringt und nicht weit entfernt war vom normativ-ästhetischen Motto der varietas delectat. Wie deren Wurzeln lässt sich auch das Denkmuster der ,spielenden Natur’ bis zur Antike und dort einmal mehr zu Plinius’ Naturalis historia zurückverfolgen;264 die Passagen aus Plinius’ Werk wurden von führenden Sammlern und Enzyklopädisten des 16. und 17. Jahrhunderts wieder aufgenommen, darunter Konrad Gessner, Ulisse Aldrovandi und in jesuitischer Rezeption durch Athanasius Kircher und Caspar Schott265 – Autoritäten, die auch zum Kernbestand von Happels bibliographischen Apparat gehören. Der Topos der ,spielenden Natur’ etablierte eine Kategorie, die das eigentlich Nicht-Kategorisierbare subsumierte, das gleichermaßen in materiellen wie textuellen Sammlungen zirkulierte und die gelehrte mit der populären Kultur verband: Dazu gehörten Einhörner, Magnetsteine, Versteinerun260 261 262 263 264 265
Maßgeblich: Findlen, Paula: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge. The Playfulness of Scientific Discourse in Early Modern Europe, in: Renaissance Quarterly, 1990, S. 292-331, hier S. 296. Ebd. Siehe dazu jetzt: Adamowsky, Natascha / Böhme, Hartmut / Felfe, Robert (Hrsg.): „Ludi Naturae“. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, München 2010. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Der wunderliche Fund“, Nr. 30, S. 233f. Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge, S. 297. Ebd., S. 298f.
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gen oder auch Fossilien, die noch nicht als solche erkannt wurden, anthropomorph geformte Gewächse wie der schon in der Antike geläufige Alraun (siehe Punkt 7.2.3) und ganz allgemein die Masse merkwürdiger Naturgebilde, denen sich Happel in zahllosen Passagen seines Periodikums widmet. Was die Liste der obigen Phänomene zumindest in der akademischen Debatte vom Wundertypus der Monstren und Missgeburten unterschied, war, wie oben erwähnt, die Annahme, dass ,Spiele der Natur’ regelmäßig auftreten. Da Happel aber ohnehin kein konsistentes naturphilosophisches Gerüst entwickelt, verschwimmen viele Beispiele der ,spielenden Natur’ unspezifisch mit dem Begriff des Wunderbaren. Generell finden sich in den Relationes schon früh wesentliche Positionen des Diskurses über den ,lusus naturae’. Im Artikel über „Eine menschlichgestalte Rübe“,266 entnommen aus aus den Miscellanea Curiosa,267 bemerkt Happel in der Art einer naturphilosophischen Grundsatzerklärung: „[...] Athanasius Kircher [...] saget / daß die Natur immerdar geschäfftig sey / auch in denen tieff unter der Erden verborgenen Cörpern / bald einen Menschen / bald etwas anders abzubilden / und wann sie ja einem Dinge den Verstand nicht selber mittheile / so verleihe sie ihm doch das Leben / wo aber auch dieses nicht / so theile sie ihm zum wenigsten die blosse Gestalt dieser oder jener lebenden Creatur mit / umb ihre grosse Macht und Herrlichkeit zu erweisen“.268
Das kreative Potential der Natur, spielerisch selbst den Menschen in anthropomorphen Gewächsen imitierend abzubilden und sich in beliebige Richtungen transformieren zu können, denkt Happel nicht autonom von Gott. Vielmehr ist die „grosse Macht und Herrlichkeit“ der Natur mit Gott identisch und verweist auf den physikotheologischen Grundzug des Periodikums (siehe Kapitel 6.3.3.). Im späteren Artikel „Die wunder-bildende Natur“269 des gleichen Jahres macht Happel die Gleichsetzung von Natur und Schöpfer dann ausdrücklich; gleichzeitig betont er noch einmal, dass die Ordnung von Natur und Schöpfung an sich schon wunderbar sei – noch wertvoller sei jedoch jene Verwunderung, die durch spielerische Unordnung erzielt werde. Das Spiel der Natur wird dabei nicht als zwecklos vermittelt, es soll den Betrachter / Leser vielmehr erneut auf Gott verweisen. Besonders bemerkenswert ist der spezifische Zuschnitt des „Vernunfft“-Begriffs – Wunder und Vernunft schließen einander nicht aus, die „Vernunfft“ leite vielmehr zur Verwunderung und Demut an: 266 267 268 269
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 15, S. 116f. Zitiert als „Miscell. Curios. Germanic Ann.Prim.Observat. 84“. Ebd., S. 117. Ebd., S. 116. Ebd., Relation „Die wunder-bildende Natur“, Nr. 42, S. 332.
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„Ein vernüfftiger Mensch hat billige Hohe Ursache / die Allmacht seines Schöpffers über alles zu erheben / wann er ansiehet / wie weiß und unbegreifflich derselbe / oder die Natur / alles in der Welt angeordnet; Am allermeisten aber haben wir uns zu verwundern über diese seltsame Bildungen / so uns von der sinnreichen und niemahls müssigen Natur an vielen Dingen vorgestellet werden“.270
Im 63. Bogen des zweiten Bandes reflektiert Happel den Gedanken der ,spielenden Natur’ am ausführlichsten. Hier rekurriert er indirekt auch darauf, dass gerade die Sammlung seltener Naturlaunen ein besonders dankbares Medienthema darstellt, weil gleichermaßen Lust, Vergnügen und Verwunderung erzielt würden. So will Happel „[...] ihre [der Natur, F.S.] spielende Lustbahrkeit auch ein wenig vor Augen stellen; Dann wir sehen mit grossem Lusten / mit hertzlicher Verwunderung / und nicht ohne völliges Vergnügen / wie die Natur in vielen Dingen von ihrem geheimen Lauff abweichet / und bey einer sonderbahren Freudigkeit / der Welt gleichsahm täglich etwas annehmliches / seltsames / und höchstverwunderliches schenket / davon mancher sein Lebtag nicht gehöret hat“.271
Der anschließende Artikel mit dem programmatischen Titel „Die spielende Natur“272 bleibt im zuvor eröffneten assoziativen Rahmen. Gestützt von bibliographischen Verweisen auf die Miscellanea Curiosa und die Philosophical Transactions,273 bringt Happel den gerade behandelten Inhalt in konzeptionellem Zusammenhang mit der Suche des „curieusen“ Lesers nach „Curiositäten“: „Ich glaube / die Natur sey [...] eine Zeit lustiger / als die an andere / (vergönnet mir / daß ich also rede) dann einmahl erweiset sie sich ja gütiger als das andere mahl / einmal giebt sie uns etwas seltsamers / als das andere mahl / davon ich etliche Denckwürdigkeiten herbey zu bringen / mich gantz und gar nicht enthalten kann / angesehen ich mir festigleich einbilde / der curieuse Leser werde / ja müsse einiges Vergnügen hieran schöpffen / weil diese Materie und Erzehlungen in lauter Curiositäten bestehet“.274 270 271
272 273 274
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 42, S. 332. Ebd., Relation „Die grosse Hasel-Staude“, Nr. 63, S. 499. Im eingestreuten Gedanken über den „geheimen Lauff“ der Natur zeigt sich einmal mehr, dass Happel von naturphilosophischen Diskursen nur Versatzstücke aufnimmt und diese nicht systematisiert: Demnach ist das Bild der Natur in den Relationes neben den spielerischen auch von ‚geheimen’ Zügen geprägt, eine Annahme, die Happel mit vielen seiner Zeitgenossen teilt. Gehäuft führt er die ,Spiele der Natur’ auf ,okkulte’, das heißt ,verdeckte’ Wirkungen zurück und spricht immer wieder von den „[...] Geheimnis[sen] der sinnreichen Natur [...]“. Ebd., Relation „Die treulose Land-Verrätherin“, Nr. 86, S. 685. Ebd., Nr. 63, S. 499ff. „Curios.miscell.Germ.Anni4&5, [...] Actis Regiae Societas Angliae, [...]“. Ebd., S. 501f. Ebd., S. 499.
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In einer späteren Relation macht Happel noch deutlicher, dass er die ,spielende Natur’ vor allem aus Unterhaltungsprämissen thematisiert: „Dann dem die Betrachtung der wunderbahr-spielnden Natur nicht annehmlich vorkommet / der muß gar seltsam geartet seyn [...]“.275 Zur Masse der vermittelten ,Naturspiele’ – unter denen sich auch die von Happel behandelten Riesen und Zwerge subsumieren lassen276 – zählte auch jene Klasse an Wundern, in denen die Natur die Grenzen des mineralischen, pflanzlichen und tierischen Reiches spielerisch überschritt; so im Fall der in den Gelehrtenjournalen intensiv zirkulierenden Berichte über verschiedene Gewächse in menschlichen Mägen oder – als „Augen-Spiel“277 noch spektakulärer – „De[n] grün-bewachsene[n] Todten-Kopff“278 (Abb. 23). Auch hier ergänzt Happel die Beschreibung typischer Kunstkammer-Objekten um das beglaubigende Moment persönlicher Erfahrung: „Zu Pisa in der Groß-Hertzogl. Kunst-Kammer siehet man einander MenschenHaupt / aus welchem eine Corall-Pflantze herfür geschossen / und ich erinnere mich noch eines gemeinen Kiesel-Steins / den mir vor 5 oder 6 Jahren ein guter Freund hier in Hamburg gezeiget / der ihn an dem Elb-Strand gefunden / an diesem sahe man ebenmässig eine steinerne Corall-Pflantze [...]“.279
An späterer Stelle unterstreicht Happel noch einmal, dass der Gewinn, den der Leser aus der Betrachtung der ,spielenden Natur’ zieht, immer auch in der affektiven Dimension liege. So würden in den Relationes „[...] denckwürdige und curieuse Mahlereyen und körperlich gewachsene Bildungen [vorgestellt] / daß einer darüber erstarren muss“.280 Die zugleich unterhaltsamen und auch erbaulichen Bildungen seien, so im Schlusskommentar des Artikels, Manifestationen der „[...] kunstreichen Hand dieses allmächtigen Mahlers“.281 Für den Naturbegriff ist dieser letzte Akzent wichtig, da er die Brücke schlägt zum zweiten Sammlungsschwerpunkt der Kunstwunder – die als 275 276
277 278 279 280 281
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der äusserlich wohlgestalte Stein“, Nr. 66, S. 527. Wie seine gelehrten Zeitgenossen zweifelt auch Happel die Existenz von Riesen nicht grundsätzlich an. Vielmehr wurden schon die in Kunstkammern üblichen, ,echten’ Riesenknochen oder -zähne sowie die Existenz von Zwergen als Beweise gewertet, dass Riesen nicht dem Reich der Phantasie zuzuschreiben seien. Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge, S. 309; umfassend zur frühneuzeitlichen Debatte über Riesen: Schnapper, Antoine: Persistance des géants, in: Annales ESC 41, 1986, S. 177-200. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 47, S. 373f. Ebd. Ebd. Ebd., Band 1.2, Relation „Die seltsam bildende Natur“, Nr. 64, S. 505. Ebd.
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,abweichend’, ,spielend’ und ,bildend’ dargestellte Natur nimmt als höchste Eigenschaft die Kunstfertigkeit an. Verstanden als die ,Künstlerin Gottes’,282 bringt die Natur die Masse virtuoser und extravaganter Formen hervor, die eher artifiziell denn natürlich wirken. Damit setzt sie nicht nur die Grenzen zwischen den Reichen der Pflanzen, Tiere und Mineralien außer Kraft, sondern auch den elementaren Gegensatz von Kunst und Natur. Insofern sich auch die Kunstkammern der Zeit insgesamt entlang der „[...] Spannungslinien zwischen Kunst- und Naturdingen“283 entwickeln, adaptiert Happel hier den epistemologischen Kern der materiellen Sammlungen. Damit lassen sich auch in den Relationes Spuren jener Umwälzung des 17. Jahrhunderts nachvollziehen, die Lorraine Daston und Katherine Park als Zusammenbruch der aristotelischen Naturphilosophie beschrieben haben;284 diese hatte Natur und Kunst im fundamentalen Gegensatz gesehen, weil die Natur der Kunst als überlegen galt. Periodika wie die Relationes trugen dazu bei, dass die Aufhebung der jahrtausendealten Entgegensetzung von Kunst und Natur nicht nur im elitären Diskurs der Naturphilosophie wahrgenommen wurde, sondern auch im Wissenshorizont populärer Medien. 7.2.1. Künstliche Wunder der Natur / Natürliche Wunder der Kunst Zeugnisse und Sinnbilder für die wechselseitige Annäherung von Natur und Kunst finden sich in vielen Kontexten der Epoche. In der Naturphilosophie propagierte neben Francis Bacon gegen Ende des 17. Jahrhunderts auch Leibniz die Einheit von Natur und Kunst – Natur sei, so Leibniz, nichts anderes als eine höhere Form der Kunst.285 Mit der ästhetischen Spannung zwischen beiden Sphären spielten bereits ein Jahrhundert früher im Bereich der manieristischen Malerei die gefeierten Hybrid-Bilder des Guiseppe Arcimboldo (1527-1593): Aus gemaltem Obst, Früchten, Tieren und auch anorganischen Materialien komponierte der Maler Motive, die sich in der Phantasie des Betrachters zu anthropomorphen Formen fügten. Exakt von diesem Appell an die suggestive Kraft der Einbildung zerrt auch die Masse der ,Natur-Kunst-Wunder’ in den Relationes, in denen sich die Grenzen zwi282
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„Höfische Schausammlungen und Naturalienkabinette waren [...] ebenso wie die bürgerlich-gelehrte Kunst- und Naturaliensammlungen dem Ideal der Natur als ars dei und Spiegel seiner Werke verpflichtet [...]“. Mahlmann-Bauer: Artes et scientiae, S. 29. Cleve, Ingeborg: Museum, in: Hammerstein, Notker / Herrmann, Ulrich (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 2, 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 533-546, hier S. 536. Daston / Park: Wunder, S. 310ff. Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge, S. 325.
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schen Kunst und Natur aufzuheben scheinen. Das Bild einer wechselseitigen Imitation beider Sphären ist grundsätzlich getragen von Happels euphorischer Einschätzung menschlichen Kunstschaffens. Allerdings gibt es auch Differenzen zu ,vollwertigen’ materiellen Kunstkammern im Hinblick auf die Objektwelten: Berichte über die üblichen Prunkstücke unter den Preziosen der Kunstkammern, in denen sich Meisterwerke ,künstlicher’ Naturformen und menschlichen Handwerks spielerisch ergänzten, finden sich in den Relationes nicht – in Goldsockel eingefasste Muscheln oder mit Korallen verzierte Kunstschränke etwa. Im Spektrum der ,künstlichen’ Natur finden sich bei Happel stattdessen vor allem jene merkwürdigen Objekte, bei denen es zum guten Teil unklar blieb, ob sie reine Naturgebilde oder bereits das Resultat artifizieller Bearbeitung waren. Oft lag der Reiz der gesammelten gerade darin, dass – wie in den Bildern Arcimboldos – erst die Imagination des Betrachters darüber entschied, ob das Ergebnis als (menschliche) Kunst oder Natur einzustufen war. In dieser Mehrdeutigkeit bot der Kunst-NaturDiskurs einen prädestinierten Gesprächsstoff für die gesellige Kultur des Barock. In den Relationes häufen sich die Berichte über verblüffend natürliche Phänomene, die die althergebrachte Trennung von Kunst und Natur außer Kraft setzten, indem die Natur künstliche, von Menschenhand geschaffene Formen kopierte oder gar sich selbst ,nachäffte’.286 Vor allem die ersten Jahrgänge der Miscellanea Curiosa bilden für Happel hier eine Hauptquelle. Schon früh, um 1681, berichtet der Artikel „Das Breßlauer Wurtzel-Bild“287 über ein denkwürdiges Kreuz aus Augsburg, das an die Herausgeber des Breslauer Periodikums geschickt worden war: „Vor wenig Jahren hat Doctor Seger / Mediciner zu Thorn / ein schön natürlich gewachsenes hölzernes Creuz nach Breßlau gesandt / welches Anno 1656 ein Tischler in Augsburg gefunden“.288 Viele ähnliche Berichte der Miscellanea formt Happel im Folgenden zu eigenen Artikeln. So folgt das verwandte „niederländische NußCrucifix“289 und in Reihung „Die natürlich gewachsene Fisch-Reuse“,290 „Der natürlich beschriebene Baum“,291 „Der natürlich-gebildete Baum“292 286
287 288 289 290 291 292
So berichtet Happel etwa von jener „Natur [...], die in ihrem fruchtbahren Schooß Hörner / Beine / und also auch Höltzer / welche der wachsenden Natur nachäffen / herfür bringet“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Betrachtung solches ErdHoltzes“, Nr. 74, S. 591. Ebd., Band 1.2, Nr. 42, S. 334. Ebd. Ebd., Nr. 43, S. 337. Ebd., S. 338. Ebd., S. 339. Ebd., S. 339f.
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etc. Im Artikel über „Die verwunderungs-würdige Henne“293 gibt Happel zu bedenken: „In ihrem Eyer-Stock fand man unzählich viel grosse und kleine Eyer / welche so schön waren / als wann sie durch einen Künstler mit sonderbahrem Fleiß aus Silber verfertiget worden“.294 Ohne jemals grundsätzliche Zweifel an der Echtheit der Phänomene zu hegen, sensibilisiert Happel seine Leser doch mehrfach für den Punkt, dass die Beglaubigung der ,künstlichen’ Natur wesentlich vom Standpunkt des Betrachters und von dessen Willen abhängt, das ,wirklich’ Gesehene und die damit verknüpfte Vorstellung nicht streng zu scheiden.295 So heißt es 1681 im Artikel über einen anthropomorphen Schwamm: „Offtmahlen sehen wir etwas vor ein geringes Ding / da man doch an demselben / wann man es genau betrachtet / etwas besonderes finden würde [...]“.296 Noch deutlicher reflektiert Happel diesen Vorbehalt als er auf den Ursprung von durch die Natur ,künstlich’ geformten Steinen zu sprechen kommt, die sich in Sammlungen des 17. Jahrhunderts besonders großer Beliebtheit erfreuten (siehe unten). So stünde fest, „[...] daß wir nicht so sehr daran erkennen / was diese Figuren wahrhafftig sind / als was unsere Phantasey ihr davon eingebildet“.297 Auch wenn in diesem Fall die Rolle der Natur als ,göttliche Künstlerin’ nicht per se in Abrede gestellt wird, ist für Happel auch eine ganz profane Erklärung denkbar. Schließlich sei möglich, „[...] daß ein oder anderer Liebhaber der Mahlerey vor die lange Weile solche Bilder entweder in den Steinbrüchen gemahlet / oder anderswo dahin gebracht / und etwa vergessen hat [...]“.298 Was für die ,künstliche’ Natur im Kleinen gilt, trifft komplementär auch im Großen zu. Um 1684 findet sich in den Relationes der Artikel „Der von Natur wohlgebildete Felß“,299 der im Grunde das Gegenstück zum erwähnten ,künstlichen Felsen’ in China darstellt (siehe Kapitel 7.1.4.). Happels Eingangsreflexion im Bericht über den nur scheinbar von der Kunst bear293 294 295
296
297 298 299
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 21, S. 167. Ebd. Im weiteren Zusammenhang entspricht diese Ästhetik der barocken Faszination für visuelle Phänomene wie etwa die täuschende – ,scheinende’ – Wirkung optischer Spielereien (Siehe auch Kapitel 7.3.). Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der seltsahmegebildete Schwam“, Nr. 28, S. 218. Der Anmerkungsapparat des Artikels versammelt zentrale Quellen zur ,künstlichen Natur’: so die Miscellanea Curiosa, Imperatos Historia Naturale und Kirchers Mundus Subterraneus: „D. Georg Segers Observ. 55. Ann.2. Curios.Miscell.German, [...] Ferrantes Imperatus in Histor. Natural., [...] Curios. Miscell. Germ.Ann. 4.&5, Kircher: Mundus subterraneus Tom.2.l.II.Sect.4.c.7“. Ebd., S. 218f. Ebd., Relation „Der Uhrsprung solcher gebildeten Steine“, Nr. 67, S. 534. Ebd. Ebd., Band 2.2, Nr. 6, S. 41.
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beiteten Felsen unterstreicht noch einmal die leitende Perspektive der wechselseitigen Konkurrenz von Kunst und Natur: „Gleich wie die künstliche Hand dieses oder jenen Mahlers auf einer Tafel dem curieusen Liebhaber ein Gemählde gar künstlich und in verschiedener Gestalt darstellen kann / also hat sich auch die Natur bemühet / hin und wieder an Felsen / Bergen / Feldern / etc. dem curieusen Auge dergleichen verwunderlichen Gestalten vorzustellen / davon ich nur etliche wenige berühren will“.300
Die spielerische Mimesis von Kunst und Natur bleibt im Rahmen des Paradigmas der „Welt-Kunstkammer“ als Erfassungsmuster für die außereuropäische Welt insgesamt gültig. Hier konnten Naturphänomene schon aufgrund ihrer exotischen Erscheinung a priori ,künstlich’ wirken. Mit Blick auf die ,Neue Welt’ bemerkt Happel beispielsweise: „Man zehlet in gantz America siebenerley Arten von solchen Vögelein / welche von den allerschönsten / insonderheit von Gold- und roth-gefärbten Federn dermassen lieblich außstaffiret / daß der allerkünstliche Mahler / mit all seiner Kunst / dagegen verstummen und zurücke trete muß“.301 Quantitativ am deutlichsten wird Happels Begeisterung für das Denkmuster der ,künstlichen Natur’ im Diskurs über die im 17. Jahrhundert beliebten Versteinerungen und Bildsteine, in denen man menschliche und andere Formen zu erkennen meinte. Immer wieder führt Happel seine Leser zur „[...] Besichtigung solcher SteinWunder [...]“.302 Die meisten Kunstkammer-Besitzer – aber selbst Apotheker303 – liebten diese eigentümlichen Naturkunstwerke; so verfügte neben Kirchers Museum in Rom auch die Londoner Royal Society über eine große Sammlung an Bildsteinen,304 die weithin auch zum Gegenstand des Kunstkammer-Kommerzes wurden: in Augsburg handelte Philipp Hainhoffer mit bearbeiteten Bildsteinen305 und Happel ließ sich persönlich von einem 300
301 302 303 304 305
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 6, S. 41. Auch die Begeisterung für scheinbar anthropomorphe Felsformationen verband die Druckmedien mit der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. So zeigt ein undatiertes, Arcimboldo zugeschriebenes Gemälde einen grün bewachsenen Felsen in Gestalt eines liegenden Kopfes. Happel berichtet im obigen Artikel über einen ähnlichen Fall: „Und wann wir dem sonst glaubwürdigen Scribenten Olao Magno [Olaus Magnus, F.S.] glauben dürffen / so lieget mitten in der Nord-See eine Klippe / dadurch ein Münch mit seiner Kappen gantz eigentlich abgebildet wird [...]“. Ebd. Ebd., Relation „Die veränderte Raupe“, Nr. 1, S. 3f. Ebd., Band 1.2, Relation „Noch einige schöne und nachdencklich gebildete Steine“, Nr. 67, S. 531f. Dilg, Peter: Apotheker als Sammler, in: Grote (Hrsg.): Macrocosmo in Microcosmo, S. 453-475, hier S. 464. Daston / Park: Wunder, S. 352. Busch, Werner: The Englishness of the Museum Britannicum, in: Helas, Philine (Hrsg.): Bild / Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 39-57, hier S. 51.
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Hamburger Sammler ähnliche Objekte vorführen.306 Auch in gedruckten Sammlungen und Museen zirkulierten ,künstliche’ Steine in hoher Dichte, etwa in Ulisse Aldrovandis 1648 veröffentlichtem Museum Metallicum.307 Dass die Bildsteine aufgrund ihrer hohen Popularität schon vor den Relationes den Horizont volkssprachiger Texte erreichten, zeigt ein Blick auf Happels Quellengrundlage: So bezieht er sich auf entsprechende Abschnitte der beliebten Reiseberichte von Pietro Della Valle und Adam Olearius sowie unter den deutschen Polyhistoren auf Praetorius’ Anthropodemus Plutonicus und die SendSchreiben von Martin Zeiller.308 Bezüglich der Ausdeutung der scheinbar allerorten in Stein und Fels bemerkten Bildnisse hatte Ambroise Paré (15101590) in seiner auch von Happel noch genutzten Prodigiensammlung schon 1573 festgehalten, dass es nur eine Erklärung gäbe – die Natur ergötze sich an ihren eigenen Kreationen;309 eine Auslegung, der Happel zumindest punktuell auf der Grundlage von Kircher widerspricht (siehe unten). Auch in den Relationes wird zunächst grundlegend vermittelt, dass sich die „[...] vortreffliche Mahler-Kunst [der Natur, F.S.] in unbegreifflicher Bildung der Steine und Felsen“310 zeige; Happel resümiert die Popularität des Themas und legitimiert die eigene Auswahl mit dem obligatorischen Argument der Suche nach dem ,Denkwürdigsten’. Und dieses werde – der konkreten Anschauung in den Kunstkammern ähnlich – imaginär vor Augen geführt: „Ich glaube / man könnte ein Buch von etlichen grossen Tomis voll Machen / wann man alle und jede seltsam gebildete Steine und andere natürlich bemahlte Gewächse gebührlich einführen wolte. [...] Mein Vorhaben aber zielet nur dahin / daß ich dem Leser auß so vielen Raritäten die allerdenckwürdigsten gleichsahm vormahle“.311
Kaum überraschend, stützt sich Happel dabei vor allem auf Kirchers zweiten Teil des Mundus Subterraneus, der unter der Überschrift „De Lapidibus“312 dem Thema weiten Raum gibt. In den Augen des Jesuiten demonstrierte die ,künstliche’ – allerdings auch ordnende313 – Natur ihre Fähigkeiten sogar in 306 307 308 309 310 311 312 313
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die mit Fischen und sonsten seltsamen Dingen gebildete Steine“, Nr. 66, S. 525. Aldrovandi, Ulisse: Mvsaevm Metallicvm In Libros IIII Distribvtvm, Bologna 1648; besonders S. 435-979. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 66, S. 525. Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge, S. 313. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die wunder-bildende Natur“, Nr. 42, S. 332. Ebd., Relation „Die in Stein gebildete Heldin und andere Dinge mehr“, Nr. 64, S. 509. Kircher: Mundus Subterraneus, Teil 2, S. 3ff. Der Ordnungsgedanke war ein jesuitischer Zug in der Auffassung der ,spielenden’ Natur. Findlen: Jokes of Nature and Jokes of Knowledge, S. 300.
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der Imitation menschlicher Kulturtechniken. So berichtet Happel mit Rekurs auf Kircher über „Das von Natur in Stein gebildete A.B.C. und allerhand geometrische Figuren“.314 Hier ordnet er seinen Lesern gegenüber das Phänomen noch einmal ein, indem er das Bild einer spontan-kreativen Natur betont, die sich pausenlos in alle Richtungen ,künstlerisch’ entfaltet: „Worauff zu sehen / daß auch nicht das geringste zu finden / darein die Natur sich ihre Bild- oder Maler-Kunst exercire“.315 Allerdings führt die katholische Färbung des Mundus Subterraneus auch dazu, dass die Relationes in Text und Bild eine spezifische Gruppe von ,künstlichen’ Steinen rezipieren, deren religiöse Deutung zwangsläufig war. Anders als in der obigen Deutung von Paré vorgeschlagen, verweisen die Steine hier nicht nur auf sich selbst. Vielmehr machen sie heilsgeschichtliche Bestandteile im ,Buch der Natur’ mühelos lesbar, deutlich in Artikeltiteln wie „Johannes der Täuffer / die Auffschrift des Creutzes Christi / des Schutzengels in Stein“316 oder „Die gebildete Jungfrau Maria“.317 Auch als Protestant keineswegs skeptisch gegenüber der Zeichenqualität der Bildsteine, nimmt Happel ein angeblich in Stein abgebildetes Kruzifix zum Anlass, mit Nachdruck auf die erbauliche Funktion der ,künstlichen Natur’ als ars dei zu verweisen. Zudem findet sich hier trotz der Grenzauflösung von Kunst und Natur ein Echo von Aristoteles’ Diktum, dass die Natur ,nichts umsonst’ tue: „Wann uns die Natur solche Gestalt des aller-gütigsten Heylandes so mannichfaltig an und in leblosen Creaturen vorstellet / so haben wir ja Ursache gnug / uns seines schmertzlichen Leydens zur Besserung unsers Lebens / Trost der Seeligkeit / stets zu erinnern: sintemahl wir dabey gedencken / daß dergleichen Wunderbildungen nicht allemahl ungefehr / sondern zu einem gewissen Zweck von der Natur an diesem oder jenem Orth als gezeichnet wurden“.318
Rein natürliche Ursachen, die der Erklärung von Paré ähneln, sind in den Relationes jedoch prinzipiell ebenso denkbar wie bei Kircher; der Zufall einer bloßen Naturlaune steht gleichberechtigt neben der Möglichkeit gezielter göttlicher Intervention. Insgesamt findet sich von der Vielzahl zeitgenössischer Erklärungen für diese Steine – so wurden selbst „[...] himmlische, subterranen Dämpfen aufgedrückte Einflüsse [...]“319 bemüht – bei Happel jedoch nur ein geringes Echo. Der Erklärungsanspruch zeigt sich ästhetischer 314 315 316 317 318 319
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 64, S. 510f. Ebd., S. 510. Ebd., Relation „Das von Natur in Stein gebildete A.B.C. und allerhand geometrische Figuren“, Nr. 64, S. 509f. Ebd., S. 508. Ebd., Relation „Die gethürnte Stadt und das Crucifix in Stein“, S. 507. Ebd., Band 2.2, Relation „Die Ursach solcher versteinerten Sachen in den Bergen“, Nr. 74, S. 586.
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Unterhaltung im Ganzen nachgeordnet. In den Relationes geht es um das Spiel der Imagination, darum, den Gedanken der ,künstlichen’ Natur im Horizont der Leser nachhaltig zu verankern. Happel untermauert dies mehrmals auch mit autobiographischen Einschüben: „Ich erinnere mich hiebey / daß / als ich Anno 1675 zu Gottorff eine kleine Schantze zur Luft anlegte / unter dem Graben einen Stein gefunden / der einem grossen MantelKnopff vollkommen gleichete / als wann es ein leibhafftiger Knopff gewesen wäre [...]“.320 Bei einem weiteren viel debattierten Phänomen, das Happel im Kontext der ,gebildeten’ Steine anspricht, verläuft die Argumentation ebenfalls in traditionellen Bahnen: Wie seien, so wird auch in den Relationes gefragt,321 weitab vom Meer auftauchende, versteinerte Krebse zu verstehen? Obwohl ab der Mitte des 17. Jahrhunderts Naturphilosophen in vielen Teilen Europas erstmals vermuteten, dass Fossilien Überreste aus früheren erdgeschichtlichen Zeiten seien,322 richtete sich der vor allem Aristoteles und der Bibel folgende ,Mainstream’ noch größtenteils gegen eine Verzeitlichung der Naturgeschichte. Auch Happel geht unausgesprochen von der zeitlichen Konstanz der Schöpfung aus und produziert Erklärungsmuster im Rahmen der ,künstlichen’ Natur: So sieht er im Artikel „Der versteinerte Sinesische Krebs“323 in eine „verborgene Steinerungs-Krafft“324 in der Natur am Werk und ergänzt in der folgenden Relation den Gedanken, dass die Natur „[...] etliche Exempel gleichsam schwangerer Steine [...]“325 hervorbringe. Mit der Annahme, dass die Natur unorganisches Material beleben und ,künstliche’ Formen wie die eines Fisches spontan auch in Stein bilden könne, vermittelt Happel ein bewährtes Deutungsmuster für die Einordnung von Fossilien. Analog zu den materiellen Kunstkammern sensibilisieren die Relationes nicht nur für ein von virtuoser Kunstfertigkeit bestimmtes Bild der Natur. Auch die euphorisch-positive Beurteilung von Kunst und Wissenschaft fällt unter dieses Denkschema, das auch die Fähigkeiten des Menschen auf einem 320 321 322
323 324
325
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Allerhand versteinerte Dinge“, Nr. 73, S. 578. Ebd., Nr. 74, S. 586. Findlen, Paula: Natural History, in: Daston / Park (Hrsg.): Cambridge History of Science, S. 435-468, hier S. 465; weiterführend: Rappaport, Rhoda: When Geologists Where Historians, 1665-1750, Ithaca 1997. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 73, S. 581. Ebd. Andernorts heißt es im Artikel „Die Versteinerungs-Krafft“ zu dieser Position explizit: „Es stecket diese Krafft / allerhand Cörper in Stein zu verwandeln / in der Erden / und zwar in den vielfältigen Gestalten oder Arthen der Mineralien, die man [...] künstlich ausgearbeitet antrifft / nachdem nemlich die Natur und Eygenschafft der unterirdischen Säffte veränderlich / und von mancherley Würckung sind“. Ebd., Nr. 72, S. 573. Ebd., Relation „Der in Stein gebildete Fisch“, Nr. 73, S. 582.
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neuen Höhepunkt sieht: Die menschliche Kunstfertigkeit ist prinzipiell zu ähnlichen Wundern fähig wie die Natur und konkurriert mit deren Virtuosität – ein Zeitgefühl, das dem verbreiteten Wissenschaftsoptimismus gerade mit Blick auf die neuen optischen Medien (siehe Kapitel 7.3.) seine spezifische Färbung verleiht. Die Häufigkeit, in der Happel den Topos von der ,Künstlichkeit’ des Menschen anspricht, macht diese neben der ‚künstlichen’ Natur zu einem weiteren Angelpunkt des Schreibens. Noch einmal ist hier Happels Wissensprogrammatik erwähnenswert: „Hoch- und gunst-geneigter Leser, man zehlet fürnemlich drey Stücke / welche des Menschen Gemüth an sich ziehen / und eine fernere Betrachtung erwecken / nemlich die wunderschöne Geschöpfe Gottes / die köst- und künstliche Arbeit der Menschen / und den die Geschichten der Creaturen“.326
Die textuelle folgt der materiellen Sammlung hier dadurch, dass auch in den Relationes die ehemalige Leitdifferenz von Kunst und Natur zur Leitsynthese wird. Happel macht die Einheit beider Kategorien auch ausdrücklich. Ein „Von grossen Künstlern / und vielen in der Natur verborgenen Wundern“327 betitelter Artikel illustriert nicht nur den unstillbaren Hunger des Kompilators auf alles Wunderbare („Aber noch mehr!“328), sondern auch, dass die Kluft zwischen Kunst und Natur keine mehr ist: „[...] ich setze die Erfindungen der Menschen und Seltsamkeiten der Natur ohn Unterschied / wie sie mir einfallen [...]“.329 Vor der typischen Inkonsistenz der Sammlung ist aber auch dieser Diskurs nicht ausgenommen. So finden sich wiederholt Spuren des klassisch-hierarchischen Verhältnisses von Natur und Kunst. Als Happel seinen Lesern eines in seinem Besitz befindliches „[...] künstliche[s] Feld-Gemählde im Kupffer [...]“330 ,kommuniziert’, damit dieses in Öl vergrößert reproduziert werden könne,331 hält er fest, dass die Natur gegenüber den „künstlichen Augen-Schertze[n]“332 der „[...] Optici, oder Gesichts326 327 328 329 330 331
332
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Vorrede, Bl. 1r. Ebd., Band 1.2, Relation „Von grossen Künstlern / und vielen in der Natur verborgenen Wundern“, Nr. 7, S. 49ff. Ebd., S. 49. Ebd., Relation „Fortsetzung der vorigen Materien von grossen Künstlern und Wundern der Natur“, Nr. 8, S. 58. Ebd., Band 2.2, Relation „Das künstliche Gemählde“, Nr. 5, S. 40. „Ich habe dieses künstliche Feld-Gemählde im Kupffer / und verdienet es gar wohl auff eine grosse Taffel mit Oehl-Farben getragen zu werden. Wer hierzu Lust / und erfahrnen Mahler hat / der das Kupfferstück in seiner befindlichen Kleinigkeit Kunst-richtig vergrössern kan / dem stelle ich dieses Stücklein zu communicieren dar / in der Versicherung / daß es zu treuen Händen kommen / und nach abgesehenem Muster wird restituiert werden“. Ebd. Ebd.
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Künstler [...]“333 doch eine „fürtreffliche Lehrmeisterin“334 bleibe; sie als solche anzuerkennen, bedeutet auch, so Happel an anderer Stelle, ihre Rolle als ars dei mitzudenken und somit weiter von ihrer Vorbildfunktion auszugehen: „Unterdessen ist es auch nicht übel getan / daß man sich so sehr / als möglich ist / bemühe / die Natur also zu ergründen / daß man täglich mehr und mehr hinter ihre Heimlichkeit und Wunder kommen möge / denn dadurch erkennen wir nicht allein die Grösse der Allmacht Gottes / sondern wir finden gar viel heilsames zur Besserung des menschlichen Geschlechtes“.335
Andernorts weicht die Unterordnung der Kunst unter die Natur angesichts der ,künstlichen’ Menschen wieder einem ebenbürtigen Verhältnis, obwohl auch hier noch ein älteres Denken überdauert. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich das an der erwähnten Sonnenblumenuhr („Horoscopium Botanicum“)336 aus Kirchers Arte Magnetica. Die Uhr war zuvor schon durch eine Kompilation von Francisci einem breiteren Publikum bekannt.337 An Happels nochmaliger Reproduktion des Aufsehen erregenden ‚Instruments’ (Abb. 24) ist zunächst bemerkenswert, dass ein zentrales Element von Kirchers Vorlage für die Popularisierung entweder zu kompliziert oder zu obskur war und daher nicht beachtet wurde: Kircher demonstrierte durch die ,künstliche’ Sonnenblumenuhr ein Kernmoment seiner naturphilosophischen Lehre – die Annahme, dass Gott den größten Magnet des Universums darstelle.338 Die Funktionsweise der Uhr wurde mit dem ,höheren Prinzip’ erklärt, demzufolge sich der Kopf der auf einem Korken im Wasser schwimmenden Uhr nach der Sonne richte, weil diese eine spirituelle Kraft ausübe, die Kircher als ,magnetisch’, also als göttlich betrachtete.339 Happels Eröffnung des Themas bemüht hingegen keinen metaphysischen Erklärungsansatz. Stattdessen verweist er auf die Alltagserfahrung, dass die Blüten der Sonnenblume dem Stand der Sonne folgen, und hebt, vom reproduzierten Kupferstich340 ausgehend, eher auf das auf der Banderole zu erkennende 333 334 335 336 337 338
339 340
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Das künstliche Gemählde“, Nr. 5, S. 40. Ebd. Ebd., Relation „Der gekünstelte Scorpion“, Nr. 1, S. 5. Kircher: Magnes Sive De Arte Magnetica, S. 736. Francisci: Lust- und Stats-Garten, S. 796f. Mayer-Deutsch, Angela: Das ideale Museum Kircherianum und die Exercitia spiritualia des Hl. Ignatius von Loyola, in: Schramm, Helmar / Schwarte, Ludger / Lazardzig, Jan (Hrsg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert (= Theatrum Scientiarum, Band 2), Berlin 2006, S. 256-277, hier S. 260. Ebd. Als Vorlage diente offensichtlich Francisci, da sich Kirchers lateinischer Schriftzug „Artis et Naturae Coniugium“ bei ihm bereits in deutscher Übersetzung findet.
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Motto „Artis et Naturae Coniugium“ – „Verbindnüß Der Kunst und Natur“ ab: „Die Sonnen-Blume richtet sich so / wie wir täglich vor Augen sehen / stets nach der Sonnen / und wendet den gantzen Tag ihr gelbes Anlitz nach derselben / [...] welches Kirchero Anlaß gegeben hat / mittels derselben Bluhmen einen richtigen Stundenweiser zu verfertigen / an welchem die Kunst nur ein weniges / die Natur aber das meiste gethan. Wann es dem curieusen Leser nicht zuwieder ist / so will ich ihm aus Kicheri Artis Magneticae [...] beschreiben“.341
Im folgenden Artikel „Die Kunst- und natürliche Bluhmen-Uhr“342 rezipiert Happel nur die praktische Reproduktion von Kirchers kurioser Erfindung. Anders gewendet: Die Popularisierung von Wissen ist – zumindest in diesem Fall – reduktiv und sicher auch bewusst oberflächlich, da Happel ein weiteres Mal seiner Prämisse folgt, eher das ,Ereignishafte’ des Wissens zu suchen und nicht erschöpfende Ausführlichkeit. Bedingt durch technischäußere Zwänge thematisiert Happel am Ende des Artikels zudem noch einmal den Kunst-Natur-Diskurs, indem er die lateinische Sentenz, die auf dem Stich der Arte an der Vorderseite des Wasserbassins abgebildet ist und im schlechteren Holzschnitt der Relationes nicht übernommen wurde, in den Text zum Artikel verlagert und dort übersetzt: „Außwendig hatte Kircherus umb den Wasser-Zuber folgende Verse gesetzet: Annos circuitu Sol tempora signat & horas: Omnia solisequa haec, Simia solis agit. Ist so viel: Der Sonnen Umblauff weist die Zeit und Tages Stunden Und hat an dieser Blum ein’Aeffin hier gefunden“.343 Den Ehrgeiz einer perfekten Naturnachahmung reflektiert noch eine weitere spektakuläre Erfindung Kirchers. Um 1687 kommt Happel auf eine zweite ,Kunstpflanze’ aus der Sammlung des Jesuiten zu sprechen, die eine ähnliche Furore machte wie die Sonnenblumenuhr. Unter den auf Deutsch publizierenden Polyhistoren hatte sich Harsdörffer schon 1653 mit der Frage beschäftigt, wie aus der Asche einer Pflanze diese selbst in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt werden könne.344 Happel berichtet im Artikel „Die beträchtliche Kunst-Pflanze“345 unter Rekurs auf den Mundus Subterraneus davon, dass es Kircher in einem Experiment gelungen sei, eine
341 342 343 344
345
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der magnetische Baum“, Nr. 85, S. 675. Ebd., S. 676. Ebd. Die XXVI. Frage: Was man auß der Asche eines Krautes desselben Gestalt wieder zuwegen bringen könne?“. Harsdörffer: Delitiæ Philosophicæ Et Mathematicæ Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil, S. 520-522, hier S. 520. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die beträchtliche Kunst-Pflanze“, Nr. 4, S. 31.
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solche „Chymische Pflantze“ künstlich zustande zu bringen. Auch ein prominenter Gast habe diese bestaunt:346 „Es hat weyland der hochverständige P. Athanasius Kircher eine solche Chymische Pflantze durch langwieriges Nachgrübeln zu Wege gebracht / wie nun die Königin Christina Ao. 1657 zu ihm kombt / sein überaus rares Museum zu besehen / hat sie sich insonderheit auch über diese Pflantze verwundert [...]“.347
Überliefert findet sich diese Anekdote in kompilatorischen Texten noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts – ergänzt um die Bemerkung, dass die ,künstliche Pflanze’ allerdings durch ein Missgeschick von Kircher längst wieder zerstört sei.348 Wie schon Harsdörffer gibt Kircher auch im Mundus eine detaillierte Beschreibung349 zum Ablauf des Experiments – Happel übersetzt sie und ergänzt im Artikel „Der Proces dieses Kunst-Stückleins“350 praktische Anweisungen, wie die Pflanze selbst herzustellen sei. So sollte zumindest der Eindruck erweckt werden, dass die ausgesprochene ,Künstlichkeit’ der Gelehrtenwelt in den heimischen Wänden nachvollzogen werden könne. Kirchers „Chymische Pflantze“ erinnert Happel zudem daran, dass sich sein Freund und Lehrer Johann Daniel Major in einem ähnlichen Experiment nicht nur mit einer Pflanze zufrieden gegeben habe. Gestützt auf Majors Bericht in die Miscellanea Curiosa bemerkt Happel, dass „[...] auch durch diese Kunst der weitberühmte Medicus, und hocherfahrne Chymicus Hr. Johann Daniel Major / Professor zu Kiel Anno 1676 ein LavendelWäldchen zu Wege gebracht [...]“.351 Angesichts solcher Leistungen liefert Happel einmal mehr einen schwärmenden Kommentar über den Stand von Kunst und Wissenschaft: „[W]oraus dann gnugsahm erhellet / daß es der Welt heute an hochgelährten / und in den verwunderlichen Künsten ausgeübten Künstlern keineswegs ermangele / deren Proben von den Einfältigen leichtlich als eine Zauberey könten ausgeleget werden / da sie doch bloß natür- und künstlicher Weise zu Wege gebracht werden“.352
346 347 348
349 350 351 352
Dazu auch: Mayer-Deutsch: Das ideale Museum Kircherianum, S. 262f. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 4, S. 31. „Der P. Kircher vergaß einstmalen diese kostbare Flasche an einem Tage, da sie in seinem Fenster stunde, und von einem kleinen Hagel, der in der Nacht einfiele, zerbrochen wurde“. DuMonchaux, Pierre J.: Medicinische Anekdoten, oder Sammlung besonderer Fälle, welche in die Anatomie, Pharmaceutik, Naturgeschichte usw. einschlagen, Frankfurt 1767, S. 148f. Kircher: Mundus Subterraneus, Teil 2, S. 352ff. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 4, S. 31f. Ebd., S. 32. Ebd.
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Im Folgenden wird in zwei Exkursen aus den Sammlungskategorien ,artificialia’ und ,naturalia’ die Position der Relationes im Wissensprozess über einzelne Kunstkammer-„Curiositäten“ verdeutlicht: erstens am Beispiel eines besonders berühmten Kunstwunders, dem ,Oldenburger Wunderhorn’, und zweitens an dem vielleicht populärsten Ausdruck der ,künstlichen Natur’ – den anthropomorphen Pflanzen. 7.2.2. Mediengeschichte eines Kunstwunders: „Das Wunder-Horn zu Oldenburg“ „Denckwürdig ist das Weltberuffene Oldenburger Horn [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Gemessen an seiner medialen Präsenz noch lange nach den Relationes, ist das ,Oldenburger Wunderhorn’ eines der prominentesten Kunstwunder in Happels imaginärer Sammlung. Bis heute ist das Original der Goldschmiedearbeit in der Kunstkammer auf Schloss Rosenborg in Kopenhagen zu sehen (Abb. 25), wohin es gegen 1690 durch die Erbfolge der königlich-dänischen Linie des Hauses Oldenburg gelangt war.353 Im vorliegenden Abschnitt wird die Geschichte und Deutung dieser einzelnen „Curiosität“ aus zwei Gründen als Fallstudie isoliert: Erstens lässt sich an ihr exemplarisch der Erfolg der Relationes bezüglich der Wissensgeschichte eines konkreten Objektes rekonstruieren. Wie zu zeigen ist, trug Happels Thematisierung des typischen Kunstkammer-Artefaktes dazu bei, dass dieses über einen langen Zeitraum hinweg in verschiedenen Wissensformen und Textgenres – zwischen Enzyklopädie und Sagenstoff – tradiert wurde. Zweitens liegt in Happels Relation über das ,Wunderhorn’ der einzige Fall vor, in dem sich nachweisen lässt, dass die Relationes in der kompilatorischen Verwertungskette selbst Anstoß zur Erzeugung neuen Wissens gegeben haben. Delikat wird dieser Befund dadurch, dass Happel fast wortwörtlich eine wenige Jahre zuvor erschienene Schrift zum Thema kopiert und den Text so als das Ergebnis der eigenen intellektuellem Anstrengung ausgibt (siehe unten) – der historische Erfolg der Relationes zeigt sich hier darin, dass die Kopie erfolgreicher wurde als die Vorlage. Zunächst überrascht nicht, dass das Horn schon vor den Relationes in buntschriftstellerischen Kompilationen des 17. Jahrhunderts auftaucht – 353
Maßgeblich zum Thema ist Heinrich Dagefördes volkskundliche Dissertation: Dageförde, Heinrich: Die Sage vom Oldenburger Wunderhorn, Oldenburg 1971.
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Georg Philipp Harsdörffer war mit einer kurzen Bemerkung in seinem Grossen Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte 1651 voraus gegangen;354 ihm folgte 1665 Johannes Praetorius im Anthropodemus Plutonicus.355 Martin Zeiller erwähnt in seinem Itinerarium Germaniae356 die Originalquelle,357 die für alle folgenden Deutungen des Artefakts maßgeblich blieb – die Oldenburgisch Chronicon358 (1599) des Historikers Hermann Hamelmann (1526-1595). Auf Deutsch folgte 1676 Christoph Vielheuer in seiner Gründlichen Beschreibung Fremder Materialien,359 in der der Autor damit prahlt, selbst aus dem Horn getrunken zu haben.360 Nach einer Erwähnung des Horns im altertumskundlichen Werk Danicorum Monumentorum361 des dänischen Naturforschers und Kunstkammer-Besitzers Ole Worm (1588-1655) von 1643 folgte noch im gleichen Jahr die für Happel entscheidende Abhandlung Dissertationes de Admirandis Mundi362 des lutherischen Theologen Johannes Herbinius (16321679). Auf den letzten Seiten seines Werks diskutiert Herbinius das Oldenburger Horn inklusive einer aus der Chronik von Hamelmann (Abb. 26) kopierten Abbildung.363 Worin begründete sich die faszinierende Aura des Objekts? Für die Annahme eines ‚wunderbaren’ Status des Horns – in Wirklichkeit handelt es sich um Goldschmiedearbeit aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit niederdeutscher oder rheinischer Provenienz364 – waren zwei Aspekte ausschlaggebend: erstens die schon vor Hamelmanns Chronicon mündlich überlieferte Deutung vom sagenhaften Ursprung des Horns; zweitens schien sein Material wunderbar, weil es aus einer nur schwer erklärbaren Gold354
355 356 357 358 359 360 361 362 363 364
Im Bericht über ein ‚magisches Gewehr’ heißt es dort: „Zu solchem Magischen Gewehr wird erfordert 1. Das Electrum Magicum, ist eine Art vermischtes Metalles / wie das Horn zu Oldenburg [...]“. Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz / Lust- und Lehrreicher Geschichte, Hamburg 1651, S. 37. Praetorius: Anthropodemus Plutonicus, S. 102f. Zeiller, Martin: Itinerarii Germaniae Continuatio I. Darin das Reise-Buch, Durch Hoch- und Nieder Teutsche Lande [...], Straßburg / Frankfurt 1674, S. 191. „Es hat solches Trinckgeschirr [...] obgedachter Hermannus Hamelmannus [...] in besagter Oldenburgischen Chronic. [...] vor Augen gestellt [...]“. Ebd., S. 191f. Hamelmann, Hermann: Oldenburgisch Chronicon Das ist Beschreibung Der Löblichen Uhralten Grafen zu Oldenburg und Delmenhorst [...], Oldenburg 1599. Vielheuer, Christoph: Gründliche Beschreibung Fremder Materialien und Specereyen Ursprung / Wachsthum / Herkommen und deroselben Natur und Eigenschafften [...], Leipzig 1676. Ebd., S. 9ff.; nach: Dageförde: Wunderhorn, S. 17. Worm, Ole: Danicorum Monumentorum Libri Sex: E spissis antiquitatum tenebris et in Dania ac Norvegia extantibus ruderibus eruti [...], Kopenhagen 1643, hier S. 395f. Herbinius, Johannes: Dissertationes De admirandis mundi cataractis supra & subterraneis [...], Amsterdam 1678. Ebd., S. 263-267. Dageförde: Wunderhorn, S. 9.
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Silber-Legierung bestand.365 Mithin war also zweifelhaft, ob das Horn überhaupt das Ergebnis (allein) menschlicher Kunstfertigkeit war. Über diese beiden ,denkwürdigen’ Merkmale qualifizierte sich das Artefakt auch für die Relationes, ein Punkt, den Happel im Auftakt seines 1682 publizierten Artikels „Das Wunder-Horn zu Oldenburg und dessen Abriß“366 ausdrücklich reflektiert. Auch zeigt sich einmal mehr, dass als Selektionskriterium der Materien nicht deren Aktualität maßgeblich ist, sondern die ,zeitlose Qualität’, Verwunderung hervorzurufen: „Ich trage kein Bedencken / die Geschichte dieses seltsamen Horns hiemit einzurücken / weil noch kein eintziger Mensch / so dasselbe gesehen / erfunden worden / der sich nicht zum höchsten / theils über dessen Gestalt und Materie / theils über den Zufall / wodurch es einem Grafen eingehändigt worden / verwundert hätte“.367
Jenen „Zufall“ entnimmt Happel, anders als angegeben, nicht Hamelmanns Chronik, sondern, unter Unterschlagung der Quelle, dem Text von Herbinius, der den angeblich wundervollen Ursprung des Horns unkritisch kolportiert. Er lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Horn soll bereits im 10. Jahrhundert in den Besitz des Oldenburger Grafengeschlechts gelangt sein, nachdem Graf Otto von Oldenburg während der Jagd auf eine Fee traf, die aus einem Berg heraustrat und „[...] in den Händen ein gantz silbernes und übergüldetes Horn [trug] / einem Jäger-Horn nicht unähnlich / an welchem allerhand Bilder und Gefächlein von der allerfürtrefflichsten Arbeit zu sehen waren“.368 Auf das Angebot der Fee, aus dem Horn zu trinken, soll der durstige Graf jedoch – „[...] durch dieses unversehene Wunder [...] abgeschröcket [...]“369 – nicht eingegangen sein; auch die folgende Drohung der Fee, dass dem Grafengeschlecht bei Versagung des Trunkes Ungemach drohe, habe den Erschrockenen nicht umstimmen können. Samt des Horns sei er 365
366 367 368
369
„Von der Materie des Oldenburgis. Horns zu reden / ist schwer und ungewiß: Daß es aus Metall gemacht / kan niemand leugnen / was es aber eigentlich vor Metall sey / das hat bißhero noch kein Mensch / wie klug und künstlich er auch immermehr gewesen / offenbahren und erweisen können“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 5, S. 33. Ebd. Ebd. Happel / Hamelmann: Oldenburgisch Chronicon, S. 21. Die längere Beschreibung des Horns bei Hamelmann: „[...] thut sich der Osenberg auff / vnd kompt aus der klufft eine schone Jungfrawe / wol gezieret / mit schönen Kleinern angethan [...] / vnd einem Kräntzlein darauf / vnd hatte ein köstlich silbern Geschirr / so vergült war / in gestalt eines Jägerhorns / wol vnd gar künstlich gemacht / geamulirt vnd schon zugerichtet / daß auch mit mancherley Waffen / der jetzt weinig bekandt seind / vnd mit seltsamen unbekandten Schrifften vnd künstreichen Bildern / auff vnd nach art der alten antiquiteten zusamen / gefoldert / [...] / vnd gar schon und künstlich gearbeitet / in der handt gehabt [...]“. Ebd. Ebd.
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schließlich geflüchtet und habe die „[...] die Beuthe [...] bey seinem Schatz verwahren“370 lassen. In der Folgezeit sei das Horn, wie Happel es wendet, „[...] denen curieusen Frembdlingen gezeuget [...]“371 worden: „Man hat hernach allezeit biß auff diese Stunde das Horn zu Oldenburg genau bewahret / und denen curieusen Frembdlingen gezeuget / etlichen auch / nach Standes Unterscheid / einen guten Trunck Rheinischen Weins daraus zugetruncken“.372 Mit Herbinius zeigt Happel kein Interesse, an der wunderbaren Episode zu zweifeln. Von Herbinius kopiert er auch die Bildvorlage (Abb. 27), die ein weit größeres Interesse am Material und an der Ausdeutung der ikonographischen Details signalisiert als Hamelmann: Herbinius versah Teile der Abbildung mit Buchstaben, die den Text-Bild-Zusammenhang schüren; Happel folgt seiner nicht genannten Vorlage in den Spekulationen über den ursprünglichen, vermeintlich sakralen Gebrauch des Horns. So „[...] könte man [...] zum Theil mit einem berühmten Theologo, von dessen uhralten Gebrauch urtheilen: Sintemahl I. Die prächtige Tempeln D / die Capelle F / und die in einer Celle daselbst befindliche kniende Nonne / [...] wollen gleichsam erweisen / daß dieses Horn ehemahlen zu Heydnischen Gebrauchen gewidmet / und das Horn des Heyls (Cornu Salutis) genandt gewesen“.373
Mit dem „berühmten Theologo“ ist Herbinius gemeint. Obwohl dieser im bibliographischen Apparat der Relationes mehrmals auftaucht,374 wird er im Abschnitt über das ,Wunderhorn’ nicht genannt. Erst im Schlusskommentar des Artikels löst sich Happel von der weitgehend wortgetreuen Übersetzung von Herbinius und ergänzt zur vorangehend angebrachten Erklärung des Horns: „Weme dieses Urtheil nicht gefället / er kan ein bessers an den Tag bringen / ich will mich gerne unterrichten lassen“.375 Tatsächlich blieb diese eher rhetorische Einlassung nicht ohne Reaktion. Rund zwei Jahre nach Happels Artikel veröffentlichte der Probst und Altertumskundler Troels Arnkiel (1639-1712) – wie Happel hatte er in Kiel studiert – die Abhandlung Gülden-Horn / 1639. bey Tundern gefunden376 (1683). Im Mittelpunkt des Werks 370 371 372 373 374 375 376
Tatsächlich ist das Horn erst seit 1592 in den Schatzkammerinventaren der Oldenburger Grafen nachweisbar. Dageförde: Wunderhorn, S. 11f. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 5, S. 34. Ebd. Ebd., S. 35. Beispielsweise in der Relation „Die Cedern und Flüsse des Libanons“; ebd., Band 2.2, Nr. 26, S. 205; hier zitiert als: „Joh. Herbinius.Dissertat. de admirandis Mundi Catarractis“. Ebd., Band 1.2, Nr. 35, S. 35. Arnkiel, Troels: Gülden-Horn / 1639. bey Tundern gefunden [...] Allen Antiquität-liebenden zur Nachricht, Kiel 1683. Schon drei Jahre nach dem Fund erschien die erste deutsche Schrift über das Horn – ebenfalls aus der Feder eines norddeutschen lutherischen Geistlichen:
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steht zwar ein anderes Horn,377 jedoch Arnkiel bezieht in dessen umfassende Kontextualisierung auch vergleichbare Objekte mit ein, so auch „[...] das beruffene Oldenburgische Horn [...]“.378 Hier kopiert Arnkiel aus den Relationes und geht dabei ähnlich vor wie Happel: Auch Arnkiel unterschlägt die ,Zwischenquelle’ und zitiert allein Hamelmann, obwohl er die Passage über den Ursprung des Horns wörtlich aus den Relationes übernimmt;379 von deren Textvorlage weicht Arnkiel dann ab, wenn ihm – als lutherischer Pastor nicht überraschend – daran gelegen ist, die Erzählung als Beispiel ,papistischen’ Wunderglaubens zu diskreditieren: „Diese Hamelmannische Relation von dem Uhrsprung des Oldenburgischen Horns / sol auß dem Lügenhafften Pabsttumb her seyn / und will unter denen Papistischen München Getichten gerechnet werden / wird in gemein eine Fabel genandt“.380 In Arnkiels näherer Thematisierung des Horns werden die Relationes schließlich doch noch genannt. Dass Happel das Horn selbst nicht zu Gesicht bekommen hatte, spielt für Arnkiel keine Rolle – er zählt Happel zu den „Antiquität-erfahrne“; Herbinius dagegen wird nicht angeführt. Arnkiel schreibt Herbinius’/Happels Vermutung über den sakralen Gebrauch des Horns fort und ergänzt die Spekulationen noch dahingehend, dass das Horn als Signalhorn zum „Götzendienst“ verwendet worden sei – ein Deutungsmoment, das noch im 18. Jahrhundert rezipiert wurde (siehe unten): „Die Antiquität-erfahrne / welche diß Horn in Augenschein genommen / und genauer betrachtet haben / wollen dafür halten / daß es anfänglich zum Heidnischen Gebrauch gewidmet / bey dem Opffer / und Götzendienst / damit zu blasen; nachgehens aber da das Heidenthumb abgeschafft / und die Christliche Religion wieder eingefüret / zu einem Trinckhorn gebraucht [...]. Dieses hat der Autor der Hamburgischen Curiösen Relationen wahrgenommen. Num.5. [...]“.381
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Egard, Paul: Theologische und Schrifftmässige Gedancken / Und Außlegung über das wunderbare / köstliche und kunstreiche gülden Horn / [...] welches nicht so gar vor langen funden [...], Lüneburg 1642. Gemeint ist das erste der ‚Goldhörner von Gallehus’ (das zweite wurde 1734 gefunden), die im 18. Jahrhundert in der Kopenhagener Kunstkammer direkt neben dem Oldenburger Horn aufbewahrt wurden; dazu: Harter, Willy: Die Goldhörner von Gallehus, Stuttgart 1998. Zitiert nach der zweiten Auflage des Textes, die 1702 – wohl nicht zufällig – in Hamburg bei Thomas Wiering erschien: Arnkiel, Troels: Cimbrisch Gülden Heyden-Horn / bey Tundern 1639 gefunden [...], Hamburg 1702, S. 21. „§.7. Unter solchen Kirchenhörner / wird auch das beruffne Oldenburgische Horn / von denen Antiquität erfahrnen / gerechnet / welches mit der Zeit in ein Trinckhorn verwandelt worden. Den Uhrsprung desselben beschreibet Hamelmann / im ersten Theil seiner Oldenburgischen Chronick [...] wie folget [...]“. Ebd. Ebd., S. 36. Arnkiel: Cimbrisch Gülden Heyden-Horn, S. 37.
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Für Arnkiel ist insgesamt unzweifelhaft, dass Happel als „[...] wolgedachter Autor recht urtheilet“382 – denn er schätzt ihn als den „[...] Curiöse[n] Hamburgische[n] Polyhistor [...]“.383 Womöglich wurde Happel durch dieses Lob dazu angeregt, sich später auch dem 1639 gefundenen, von Arnkiel hauptsächlich beschriebenen Horn zuzuwenden und in einer Artikelreihe über „Das köstlich-seltsahme Tunderische Horn“384 seinerseits aus Arnkiels Werk abzuschreiben. Dass Happel in dieser ,Wechselrede’ der Texte einen Wissensfortschritt erreicht sieht, kommentiert er wie folgt: „Im vorigen und diese Jahr aber sind 2 gelehrte Mäner aufgestande / der eine zwar ohne Zweiffel aus eigenem Trieb / der andere aber / wie er mir selber bekant / aus Gelegenheit meiner 5ten Relation, mir und einem jedweden curieusen Leser ein mehrer Licht wegen der zwo seltsahmen / jedoch köst- und künstlichen Wunder-Hörner mitzutheilen“.385
Jener „Andere“ war der Historiker Johann Just Winckelmann386 (16201699). Nur ein Jahr nach Arnkiels Gülden-Horn veröffentlichte Winckelmann – wie Happel gebürtiger Hesse – in Bremen seine Schrift Des Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung.387 Für die Rezeption des Horn-Motivs zeigt sich erneut die Vorrede besonders aufschlussreich. Um den Wert der eigenen Arbeit hervorzuheben, geht Winckelmann zunächst von einem Missverhältnis zwischen dem hohen Bekanntheitsgrad des Horns und seiner bislang nur mangelhaften Erforschung aus – von den Relationes als Ausnahme abgesehen: „Daher ich mich bisher nicht genug verwundert / daß / nachdem innerhalb etlicher hundertjähriger Zeit dieses Horn von so vielen Tausenden ist gesehen und daraus getrunken worden / sich kein einziger curieuser Kopf gefunden welcher darüber seine muthmaßliche Gedanken nebst einer Hieroglyphischen Erklärung an Tag gegeben hette / biß daß ich im verwichenen Augustmond in der florirenden Braunschweigischen Messe Herrn E.G. Happels ersten Theil der Hamburger curieusen Relationen gekauffet / und darin lesend am 33. Blatt der fünften Relation mit sonderbarer Lustbegierde das Oldenburgische Wunder-Horn [...] beschrieben [...]“.388
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Arnkiel: Cimbrisch Gülden Heyden-Horn, S. 37. Ebd., S. 39. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 63, S. 503. Ebd. „[...] war ein deutscher Poet, wie auch Hochgräflicher Oldenburgischer Rath, und Historigraphus“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 58, 1748, S. 249. Winkelmann, Johann Just: Des Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung / Herkunft / Materie / Form / Gestalt / Figuren [...], Bremen 1684. Ebd., S. 4.
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Dass Happel außer der Chronik von Hamelmann für seine Ausführungen jedoch keine zweite Quellengrundlage genannt hatte, machte Winckelmann nach eigener Aussage besonders hellhörig. Er habe befunden, dass „[...] aus allen Umbständen der Beschreibungen wegen angezogener darauf stehenden Schrifft / und beschehenen Bruchs [Happel hatte erwähnt, dass ein Teil des Horns zu einem ungenannten Zeitpunkt abgebrochen sei, F.S.] [...] der Author dieses Horn selbst nicht müsse gesehen haben / jedoch darnebst über sothane Curiosität eines Ausländischen mich verwundert [...]“.389 Der folgende Abschnitt bei Winckelmann ist aufschlussreich nicht nur im Hinblick auf die aufgeworfene Frage nach Happels zweiter Quelle. Soweit zu sehen, liefert er vielmehr auch die einzige Spur über einen persönlichen Kontakt eines Zeitgenossen zu Happel. So fand Winckelmann noch gegen 1683 die Gelegenheit, seine Neugier zu stillen, da ihn Geschäfte nach Hamburg brachten. Seine Notizen über die dortige Begegnung mit Happel deuten an, dass dessen Profilierungsstrategie mit den Relationes aufgegangen war; als Vermittler von „Curiositäten“ verfügte Happel offensichtlich über ein gewisses Renommee: „[...] bis sichs hernach begeben / daß ich in gewissen Geschäften nach Hamburg kame / mit wohlgedachte Herrn Happeln mich bekannt gemacht / unweil er von geburt ein Heß aus einer mir gar wohlbekanten Familie entsprossen / habe ich mich von Herzen erfreuet / daß ich einen solchen Landsmann in der Nachbarschaft angetroffen / der sich in einer so Weltberühmten Handel-Statt zu Hamburg niedergelassen / und sich durch dergleichen Curiositäten in und mit dem Ort zugleich suchte berühmt und bekannt zu machen“.390
Auch bezüglich der mysteriösen zweiten Quelle scheint Happel im Gespräch bereitwillig Auskunft gegeben zu haben – allerdings eine falsche. Statt Winckelmann die Dissertationes von Herbinius zu nennen, legte Happel offensichtlich mit einer nicht existenten Quelle eine falsche Spur, auch wenn er Winckelmann gegenüber nicht den Standpunkt vertrat, dass sein Artikel zum Horn tatsächlich die Frucht eigener Erörterungen war. Happel hielt es mit der Wahrheit also anscheinend nicht genau, ob aus Stolz oder aus Angst vor Konkurrenz, muss offen bleiben. Jedenfalls musste Winckelmann Hamburg ohne konkretes Ergebnis verlassen: „Und als ich ihn / unter andern Discursen / auch befragte / wie / woher und wodurch er zu solcher curieusen description dieses Horns kommen wäre? Und er mir zur Antwort gabe / er hätte solches aus eines Ungarischen Predigers Relation / der selbige zu Coppenhagen public gemacht hette: wiewol ich mich nun
389 390
Winkelmann: Des Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung, S. 4. Ebd.
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sehr um deren Uberkommung bemühet / so habe deren jedoch nicht sehig werden können“.391
Dessen ungeachtet bleibt Wickelmann dabei, dass Happels Artikel ihn zu einer eigenen Erörterung über das Horn „[...] als ein Zunder gedienet / und mich angelocket [...]“392 habe. Wie im Fall des Lobs durch Arnkiels Schrift reagierte Happel auch auf die Publikation von Winckelmanns Monographie zeitnah und verleibte sie den Relationes ein. Noch 1684 veröffentlichte er eine Artikelreihe, die er auf Winckelmanns Des Wunder-Horns Ursprung aufbaut. Im eröffnenden Artikel „Das wiederholte Horn zu Oldenburg“393 kommentiert Happel die Rezeption seines Textes: „Es hat der hochgelahrte und durch seine Schrifft viel berühmbte Johan Just Winckelmann / ein fürtrefflicher Antiquarius und wohlbelesener Historicus, verschiedener Hochfürstl. Häuser wohl-meritirter Bedienter in Bremen / jüngsthin bey Durchlesung meiner Relation Tom I. Gelegenheit genommen / einenen besonderen Tractat von dem Oldenburger Weltbekanten Horn zu schreiben / und wann er / als Weyland Hochgräfflicher Oldenburgischer Rath und Historicus diese Rarität unter seinen Händen gehabt / auch in ipso loco die beste Wissenschafft davon hat und geben kann / bejammere ich es schon / daß diese seine Beschreibung zu meiner Information nicht ehe heraus kommen“.394
Den Text von Herbinius erwähnt Happel bezeichnenderweise noch immer nicht. Er spricht allein von ‚seiner’ Beschreibung, die nun gleichwohl durch Winckelmann ergänzt und korrigiert worden sei: „Er nimmet meine gantze Beschreibung des Horns vor / und nachdem er Textum ipsum angeführt / macht er schöne Notas drüber / und ob er gleich denselben an einigen Orthen corrigiert, thut er es doch mit solcher angenehmen Teutsch-redlichen Manier / daß ich ihn deswegen billich hoch halte. Damit aber dem Leser deßfals die rechte Warheit nicht vorenthalten bleibe/will ich seine eigene Wort über diesen und jenen Punct gar kürtzlich und in einem Anzug an “.395
Es folgen drei Artikel, in denen Happel noch einmal mit den Ausführungen Winckelmanns gründlich auf „Die Materie des Oldenburger Horns“,396 „Die
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Winkelmann: Des Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung, S. 4f. Ebd. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 65, S. 518. Ebd. Ebd., S. 519. Ebd.
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Grösse und Gestalt dieses Horns“397 und „Die künstliche Bildnüß dieses Horns“398 eingeht. Hamelmanns Ursprungstext und die folgenden Abhandlungen in den 1680er Jahren – und hier gerade Happel – bilden den Nährboden für die erstaunliche mediale Langlebigkeit des Oldenburger Horns. Die Reproduktion des Motivs in Text und Bild lässt sich vom späten 17. bis weit ins 19. Jahrhundert verfolgen, und das gleichermaßen in nicht-periodischen und periodischen Medien, im deutschsprachigen und internationalen Rahmen. Einige Beispiele: Die erste Übernahme in ein anderes Periodikum findet sich in den Monatlichen Unterredungen Tentzels schon im Jahr 1689; dort wird das Horn als „denckwürdige Curiosität“399 in der März-Ausgabe zum Gegenstand des fiktiven Gesprächs. 1694 kommen die Unterredungen erneut auf das Horn zu sprechen, diesmal auch unter Erwähnung von Happel und Herbinius: „Sie gehen aber alle des Herrn Winckelmanns in Druck gegebene Schrifften an / mit denen er nahmentlich allegiret worden. Das erste mahl in den in den Unterredungen 1689.pag.523.525, vom Oldenburgischen Horn aus seiner Oldenburgischen Chronic, davon Herbinius Lateinisch und Happelius Teutsch geschrieben [...]“.400
Relativ früh wurde der Horn-Artikel Happels auch im Buchmedium rezipiert. Kurz nach Happels Tod, 1693, erschien auf Niederländisch und noch im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung Die Bezauberte Welt Oder Eine gründliche Untersuchung Des Allgemeinen Aberglaubens401 aus der Feder des reformierten Pfarrers Balthasar Bekker (1634-1698). Die Bezauberte Welt war eine der erfolgreichsten Schriften gegen den Hexenglauben402 und gibt den Kern der Legende um das Oldenburger Horn in gedrängter Form wieder.403 Überdies findet sich auch die Illustration der Relationes bei Bekker nachgestochen, belegbar durch die identische Type der ins Bild gesetzten Schrift, die weder Hamelmanns noch Herbinius’ Illustration aufweist.404 Dass Bekker sich auf Happels Vorlage stützte, mag zudem kein Zufall gewesen sein: 397 398 399 400 401 402
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Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 66, S. 521. Ebd. Tentzel: Monatliche Unterredungen, Martius 1689, S. 524. Ebd., Junius 1694, S. 488. Bekker, Balthasar: Die Bezauberte Welt: Oder Eine gründliche Untersuchung Des Allgemeinen Aberglaubens [...], Amsterdam (Hamburg) 1693. Fix, Andrew C.: Artikel Bekker, Balthasar, in: Gersmann, Gudrun / Moeller, Katrin / Schmidt, Jürgen-Michael (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung; http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5576/. Bekker: Bezauberte Welt, Buch IV, S. 147. Ebd.
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Das Werk erschien, anders als im fingierten Druckort Amsterdam angegeben,405 in Hamburg bei Zacharias Hertel, der auch einige von Happels Werken verlegte. Zur Zirkulation des Themas im 18. Jahrhundert dürfte gerade Zedlers Universal-Lexicon erheblich beigetragen haben. Die Enzyklopädie widmet dem Oldenburger Horn um 1735 ein eigenes Lemma.406 Da die Relationes dem ‚Zedler’ in vielen Fällen als Quelle dienten, überrascht es nicht, dass sie auch in diesem Fall als Referenzlektüre genannt werden. Eine Transformation des Wissens im ,aufgeklärten’ Kontext deutet sich hier insofern an, als das Universal-Lexicon die Episode vom vermeintlichen Ursprung des Horns noch einmal reproduziert, aber tendenziell kritischer betrachtet als zuvor: „Viele halten diese Erzählung vor ein Gedichte“407 – eine Einschätzung, die in der englischen Rezeption des Motivs schon zuvor dazu geführt hatte, auf die Geschichte gänzlich zu verzichten (siehe unten). Die Quellengrundlage im ,Zedler’ zeigt sich als eine wahllose Mixtur aus den Schriften der letzten siebzig Jahre, darunter auch Arnkiel.408 Herbinius wird nicht angeführt, ebenso scheint Winckelmanns eigene Monographie über das Horn dem Autor des Artikels unbekannt gewesen zu sein. Mit Blick auf die Relationes ist bemerkenswert, dass sie der anonyme Autor anführt, obwohl er Happels Periodikum nur ‚sekundär’ in Arnkiels Gülden-Horn gelesen hatte. Nachweisen lässt sich dies dadurch, dass die erst von Arnkiel gemachte – aber von diesem schon fälschlicherweise Happels Text unterstellte – Ergänzung über den vermeintlichen Gebrauch als ,heidnisches Signalhorn’ vom UniversalLexicon weiter kolportiert wird.409 Die Popularität des ,Wunderhorns’ noch im 19. Jahrhundert erklärt sich aus seiner Aufnahme in die Sagensammlungen der Romantik.410 In zwei dieser Werke sind Spuren Happels zwar nicht gesichert, jedoch wahrscheinlich. So veröffentlichten Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) ab 1806 ihre beliebte Volksliedsammlung Des Knaben Wunder-
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Weller, Emil: Die falschen und fingierten Druckorte. Repertorium der seit der Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen Schriften. Deutscher und lateinischer Theil, Leipzig 1858, S. 28. Anonym: Artikel Horn, (Oldenburgisch-goldene), in: Zedler: Universal-Lexicon, Band 13, 1735, Sp. 875-876. Ebd., Sp. 876. Ebd. „Happelius in Hamb. Curios. Relationen hält davor, daß anfänglich bey denen Heyden mit demselben zum Opfer und Götzen-Dienste geblasen worden [...]. Ein anderer Theologus meynet, es sey durch Krieg oder ander Unglück aus einem H. Tempel entführet, und gottlosen Schwelgern in die Hände gefallen“. Ebd. Dageförde: Wunderhorn, S. 59.
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horn.411 Das Titelkupfer des zweiten Bandes zeigt eine romantisch ornamentierte Abbildung des Oldenburger Horns, die zu großen Teilen mit der Illustration in den Relationes identisch ist. Neueren Erkenntnissen zufolge lässt sich der Stich zwar auf eine Zeichnung Wilhelm Grimms zurückführen, die dieser nach der Vorlage von Winckelmanns Illustration des Horns angefertigt haben soll.412 Ebenso ist jedoch denkbar, dass Grimm seine Zeichnung als eine Komposition aus den bis dato verfügbaren Abbildungen entwarf413 – und da die Grimms die Relationes für ihre eigenen Werke wiederholt als Motivfundus nutzten,414 dürfte feststehen, dass ihnen Happels Aufbereitung des Themas geläufig war. Über die Relationes fand das Motiv des ,Wunderhorns’ im 18. und 19. Jahrhundert jedoch nicht nur in deutschen Texten Verbreitung; rezipiert wurde es beispielsweise auch in England als Teil eines 1738 erschienenen Plagiats der Relationes, den Curious Relations (siehe Kapitel 8.3.). Innerhalb eines Berichts über die Sehenswürdigkeiten („Traveller’s Sight“415) der Oldenburger Gegend kommt der Text auch auf das Horn zu sprechen. Die im Originalzusammenhang bei Happel isoliert stehende „Curiosität“ wird so in einen neuen Kontext eingeschrieben. Zwar kopieren die Curious Relations – ohne Happel als vermittelnde Quelle zu nennen – die Bild416- und Textvorlage417 aus dem Hamburger Periodikum; interessant sind jedoch einige marginale Textvariationen, die den übersetzten Abschnitt aus den Relationes mit der Klammer eines ‚zeitgemäßen’ Kommentars versehen: „The Account which is given in the Oldenburg Chronicle, written by Hamelmann in the year 1599, though fabulous enough, finds Credit by most People; and as I here send you the Draught of that Piece, I thought the History would not be altogether unacceptable to you“.418 Die Beliebtheit des Themas zeigt sich in der englischen (und auch der amerikanischen) Rezeption vom 17. bis zum 411 412 413 414 415 416 417
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Arnim, Achim von / Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, 3 Bände, Frankfurt / Heidelberg 1806-1808. Deuter, Jörg: Die Illustrationen zum „Oldenburgisch Chronicon“ von 1599, in: Oldenburger Jahrbuch, Band 99, 1999, S. 1-19, hier S. 10. Ähnlich bereits: Ulmer, Bernhard: The „Wunderhorn“ and the Oldenburger Horn, in: Modern Language Quarterly, Volume 10, No. 3, 1949, S. 281-290, hier S. 288. Siehe dazu vor allem: Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 328ff. Curious Relations, Vol. 2, 1738, S. 214. Ebd., S. 208. Als Beispiel für die textlich nur minimal veränderte Abschrift: „This Account our author gives us in the Oldenburg Chronicle; however, the Curious are not altogether satisfied with it, but have made the following Enquiries: 1. By whome that Horn was made 2. what it is made of 3. How fashion’d; and 4. How the Earls of Oldenburg came by it“. Ebd., S. 210. Ebd., S. 208.
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19. Jahrhundert in verschiedenen Medien und Gattungen – in Kompilationen, populären Enzyklopädien, apodemischen Handbüchern, aber auch in anderen Periodika;419 auch wenn die Relationes Curiosae für diesen Diffusionsprozess im Einzelnen nicht mehr als Quelle nachzuweisen sind, hat der vorliegende Punkt doch gezeigt, dass Happels Periodikum für die Medien- und Wissensgeschichte eines langfristig faszinierenden ,Kunstwunders’ von hohem Gewicht war. 7.2.3. „Die seltsam gebildete Mandragora“ und andere anthropomorphe Pflanzen „Eine wunderliche Wurtzel zeiget uns auch die Mandragora oder der Allraun / welche offtmahlen einen vollen Menschen / was die äuesserliche Bildung aller Glieder des Leibes belanget / darstellet“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Während das Oldenburger Horn als Beispiel der ,artificialia’ ein Unikat darstellte, war ein älterer Typus des Naturwunders in nahezu jeder Kunstkammer obligatorisch: jene seltsamen Bildungen der ,spielenden Natur’, in denen die Grenzen zwischen Menschen und Tieren – den Zoophyten420 –, vor al419
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Nur einige Titel: The Beauties of Nature and Art Displayed, in a Tour through the World, London 1763, Vol. 8, S. 198; The Illustrated Archaelogist, 1894, S. 14; Chambers, Ephraim: Chambers Encyclopaedia: A Dictionary of Universal Knowledge for the People, London 1870, S. 221; Murray, John: A Handbook For Travellers in Denmark, With Sleswig And Holstein, London 1875, S. 57. Die schon mittelalterlich bekannten, vermeintlichen ,Tierpflanzen’ wurden in den Kunstkammern besonders begierig angehäuft; ihr populärster Vertreter war das so genannte ,Schafskraut’ oder ,Boramez’ – ein Lamm, das angeblich auf dem Stängel einer Pflanze wuchs. Auch Happel greift das Thema auf, in der Relation „Boramez oder das überaus seltsame tartarische Schafs-Kraut“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 15, S. 113. Allerdings verwahrt sich Happel gegen eine übernatürliche Interpretation: „[...] dahero es einige unter ein lebendiges und empfindendes Kraut rechnen wollen. Aber solches zu glauben / ist nicht nöthig / dann die Natur hat noch andere seltsamere Dinge hervor gebracht / daß man dieses Gewächs nicht alsobald vor ein Miracul auschreyen darf“. Ebd. Artikel und Abbildung sind übernommen aus Kirchers Magnes, sive de Arte Magnetica, Rom 1641. Nur wenige Jahre nach Kircher hatte Thomas Browne (1605-1682) in seinem klassischen Werk über populäre Irrtümer den verbreiteten Glauben an das ,Schafskraut’ angegriffen: „Much wonder is made of the Boramez, that strange plant-animal or vegetable Lamb of Tartary, which Wolves delight to seed on, which hath the shape of a Lamb, affordeth a bloody juyce upon breaking, and liveth while the plants be consumed about it. And yet if all this be no more, then the shape of a Lamb in the flower or seed, upon the
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lem aber zwischen Menschen und Pflanzen verschwammen. Wie in den materiellen Sammlungen auch, häufen sich in den Relationes anthropomorphe Bildungen, alle Abweichungen vom normalen Gang der Natur, die zumindest mit einiger Phantasie menschenähnliche Züge erkennen ließen. Denkbar war dies auf jedem natürlichen, von Menschenhand unberührten Material – ob in Stein, in Holz oder in Pflanzenwurzeln wie im vielleicht prominentesten ‚naturalia’ der Zeit, der Alraune oder Mandragora. Ihre Vermittlung in den Relationes ist Gegenstand des vorliegenden Punktes. Die Wurzel des nur im Mittelmeerraum vorkommenden Nachtschattengewächses weist Ähnlichkeit mit den menschlichen Extremitäten auf und lässt sich schon seit der Antike in einer breiten literarischen Tradition belegen.421 Dass sich in der Frühen Neuzeit auch Größen wie Niccolò Machiavelli (1469-1527) – er verfasste 1518 die Komödie La Mandragola – oder Leibniz zur menschenähnlichen Wurzel ironisch bis kritisch äußerten422 und sich selbst Dissertationen im 17. Jahrhundert mit der Thematik befassten,423 war das Ergebnis einer Bedeutungsverschiebung: Während sich antike und mittelalterliche Autoren mit der Alraune primär aus pharmazeutischen Interessen befassten, trat im volkstümlichen Kontext seit dem 15. Jahrhundert zunehmend der Glauben an eine magisch-übernatürliche Kraft der Wurzel in den Vordergrund.424 Zentral war die Annahme, die Alraune würde unter dem Galgen durch das herabtropfende Urin oder Sperma der Erhängten ‚gezeugt’ und könne nach ihrer von einem Schreien begleiteten Entfernung aus dem Erdreich durch magische Praktiken zum Leben erweckt werden425 – um dem Besitzer u.a. Glück und Reichtum zu bringen. Die Hinführung auf den Alraunen-Diskurs in den Relationes zeigt ein Muster, das sich in vielen Artikeln des Periodikums wiederholt: Happel leitet deduktiv zum Thema hin, indem er den Artikeln über die Alraune einen allgemeinen Kommentar voranstellt; dieser ordnet die folgenden Einzelberichte dem übergeordneten Diskurs der ,spielenden Natur’ zu:
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top of the stalk, as we meet with the forms of Bees, Flies and Dogs in some others; he hath seen nothing that shall much wonder at it“. Browne, Thomas: Pseudodoxia Epidemica, Third Edition, London 1658, S. 153. Zur Literatur siehe etwa: Hambel, Vera: „Die alte Heydnische Fabel von der Alraun“. Verwendung und Bedeutung der Alraune in Geschichte und Gegenwart, Dipl.-Arb., Passau 2002; www.phil.uni-passau.de/linguistik/mitarbeiter/hambel/alraune/. Battafarano, Italo Michele: Alraun, Mandragora, Galgen-Männlin: Mattioli, Praetorius, Grimmelshausen, in: Ders.: Glanz des Barock, S. 186-205, hier S. 186. Dazu: Daxelmüller, Christoph: Bibliographie barocker Dissertation zu Aberglaube und Brauch I., in: Jahrbuch für Volkskunde, 1980, S. 194-238, hier S. 210f. Battafarano: Alraun, S. 188. Rätsch, Christian: Einleitung, in: Alfred Schlosser. Die Sage vom Galgenmännlein im Volksglauben und in der Literatur (Neudruck der Ausgabe von 1912), Berlin 1987, S. VIII.
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„Bißhero habe ich von etlichen unordentlichen und ungefähren Bildungen der Natur in diesem oder jenem Gewächse c. gehandelt; Anitzo aber stelle ich dem Leser dar eine Pflantze / welche insgemein sehr wunderlich gebildet auß der Erden zu wachsen pfleget. Diese Pflantze heisset / Orchis oder Satyrion“.426
Diese Pflanze sei, so fährt Happel fort, nicht nur in der Lage, in der Art einer Metamorphose eine vielfach tierähnliche Gestalt anzunehmen, sondern auch eine dem Menschen verwandte: „Unter allen Sorten dieser Pflantze ist keine / die mir seltsahmer vorkompt / als die Orchis anthropomorpha, oder das menschlich gestalte Satyrion, dan das eine lauter nackte Männer / das andere aber nackte Weiber überauß arthlich vorbildet“.427 In der typisch assoziativen Verknüpfung folgt einige Relationen später die Überleitung zum Hauptgegenstand der Alraune. Im Artikel „Die seltsam gebildete Mandragora“428 demonstriert Happel mit der Nennung so wichtiger Namen wie Ferrante Imperato oder Ulisse Aldrovandi zunächst, dass menschenähnliche Wurzeln auch die führenden Kunstkammer-Besitzer der Zeit faszinierten: „Eine wunderliche Wurtzel zeiget uns auch / die Mandragora oder der Allraun / welche offtmahlen einen vollen Menschen / was die äusserliche Bildung aller Glieder des Leibs belanget / darstellet. Franciscus Imperatus und Fabius Columna haben eine solche Mandragoram gesehen / welche einen Menschen abgebildet [...] doch hat es dieser Mandragora am Kopff gefehlt / welcher auch ohne Zweiffel von der fleissigen Natur wäre angeheftet worden / wann es das harte Erdreich daselbst nicht verhindert hätte. Zu Neapolis hat man eine solche Wurtzel gezeigt / welche einem Mägdlein gegleichet. Zu Bologne in Italien wird nach dem Zeugnüß Adrovand. de Monstr.f.669 auff dem Musaeo [...] gezeiget die Wurtzel [...] mit einem völligen menschlichen Angesichte“.429
An der empirischen Existenz anthropomorpher ‚Wunderwurzeln’ zweifelt Happel also schon aufgrund der Autorität seiner Quellen nicht.430 Wie der 426 427 428 429 430
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Das wunderlich gestalte Satyrion“, Nr. 65, S. 515. Ebd. Ebd. Ebd., Relation „Die seltsam gebildete Mandragora“, S. 516. Weit kritischer sah das etwa Thomas Browne schon in den 1650er Jahren in seiner Pseudodoxia Epidemica. In der deutschen Übersetzung heißt es: „Auch hat man viel falsche Meinungen und seltsame Gedancken von den Alraunen. Die erste / welche sehr alt ist / ist diese / daß deren Wurzel einem Menschen soll gleich seyn: welches / doch / wenn man sie recht betrachtet / sich nicht finden will; es wäre denn / daß man sie mit solchen Augen ansiehet / wie oft die Wolcken betrachtet werden / in denen mancher auch gewiße Gestalten sehen will / nachdem er nemlich vorher eine Einbildung hat“. Browne, Thomas: Pseudodoxia Epidemica, Das ist: Untersuchung derer Irrthümer / so bey dem gemeinen Mann / und sonst hin und wieder im Schwange gehen [...], Frankfurt 1680, S. 523.
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Kommentar im folgenden Absatz zeigt, ist für ihn allerdings zweifelhaft, ob jede Alraune allein das Ergebnis natürlicher Bildung und damit echt ist. Schließlich seien Natur und die (profitgierige) ,künstliche’ Manipulation des Menschen kaum mehr zu unterscheiden: „Es ist im übrigen kein Zweiffel / daß nicht manche Mandragora und andere Wurtzel zu solcher Bildung durch eines Künstlers Hand gelangt / und wissen sich gewisse Persohnen wunderwohl damit zu behelffen / welche solche wohlgebildete Wurtzeln hernach vor natürlich also gewachsene außgeben / und umb ein Stück Geldes verkaufen“.431
Tatsächlich fanden sich Alraunen – ob natürlich oder künstlich – nicht nur mehr in den Kunstkammern, sondern wurden von Marktschreiern und fahrenden Händlern in einem florierenden Geschäft auch jenseits elitärer Kreise angeboten.432 Der Gedanke einer regelrechten ‚Fälschungsindustrie’ durch manipulierte Alraunen war dabei nicht neu. Er lässt sich wenigstens bis ins frühe 16. Jahrhundert zu Machiavelli und Paracelsus (1493-1541) zurückverfolgen und war Ausgangspunkt der fundamentalen Kritik, die weniger am Objekt selbst und an dessen Funktion als Heilpflanze ansetzte. Getadelt wurde vielmehr, was das ‚leichtgläubige’ Volk der Alraune an weiterer Kraft zuschreibe und dadurch dem Betrug trügerischer Geldmacher aufsitze. Bereits Paracelsus wetterte gegen die „[...] betrogne Arbeit und Bescheisserey von den Landtfahrern“.433 Ein gleicher Tonfall findet sich auch in den Herbarien der Zeit, so im wohl bedeutendsten des 16. Jahrhunderts, dem New Kreüterbuch434 (1543) von Leonhart Fuchs (1501-1566). Noch huntert Jahre später spricht auch Johann Rist in der Aller Edelsten Thorheit von der Arbeit listiger „Leütbescheisser“.435 Bevor Happel in einem eigenen Artikel über „Die mißbrauchte Mandragora“436 genau diese kritische Tradition resümiert, greift er zunächst auf einen für das Alraunenwissen grundlegenden Text zurück: den Pflanzen-Kommentar des italienischen Botanikers Pier Andrea Mattioli (1501-1577). Das Werk erschien 1554 zuerst auf Latein, fand aber bald weite Verbreitung in alle europäischen Sprachen und wurde 1611 als Kreutterbuch437 auch ins Deutsche übertragen. Der anhaltende Rekurs auf das 431 432 433 434
435 436 437
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 517. Ruff, Margarethe: Zauberpraktiken als Lebenshilfe, Frankfurt 2003, S. 277. Zitiert nach Battafarano: Alraun, S. 187. Hier heißt es im Anschnitt „Von Alraun“: „Die Landstreicher / oder das ich sie recht nenne / die Landbescheisser / tragen wurtzel hin vnnd wider feyl [...]“. Fuchs, Leonhart: New Kreuterbuch [...], Basel 1543, Cap. CCI. Zitiert nach Battafarano: Alraun, S. 197. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 517. Mattioli, Pier Andrea: Kreutterbuch [...]: Sampt dreyen wolgeordneten nützlichen Registern der Kreutter Lateinische und Teutsche Namen [...], Nürnberg 1611.
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den ‚künstlichen’ Alraunen-Betrug beschreibende Werk Mattiolis438 zeigt die intertextuellen Abhängigkeiten deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts: So folgen Mattioli zunächst Rist und Praetorius; von diesem schrieb dann nicht nur Happel ab, sondern vor ihm auch Grimmelshausen, der 1673 eine eigene Schrift über das Galgen-Männlin439 veröffentlichte, in der er harte Angriffe gegen die damalige ‚Alraun-Folkore’ führte. Ob Happel sie kannte, ist unklar, in jedem Fall ähneln sich beide Texte in Botschaft und Tonlage. Nach Grimmelshausen will auch Happel den verbreiteten Glauben an eine wunderwirkende Kraft der Alraune als Aberglauben entlarven; dennoch kommt es bei beiden Autoren zu keiner rein ,innerweltlichen’ Betrachtung des Gegenstandes. So ist bei Grimmelshausen erst die Leichtgläubigkeit gegenüber einer magischen Kraft der Alraune Voraussetzung dafür, dass der Teufel aktiv werden und Menschen durch seine Trugbilder in die Verdammnis reißen kann.440 Bei Happel ruft eben dieser ,Missbrauch’ in Gestalt irrgläubiger Hoffnung auf übernatürliche Wirkungen die nicht einfach zu treffende Differenzierung zwischen dem Über- und Außernatürlichen auf den Plan. Im Auftaktkommentar zur Relation „Die mißbrauchte Mandragora“ erscheint Happel unstrittig, dass der Teufel die Natur zwar manipulieren könne, dabei jedoch nicht über die Suggestion außernatürlicher Kräfte hinaus gelange – mitgedacht sind die übernatürlichen Ursachen und Kräfte, die per definitionem allein bei Gott liegen: 438
439 440
Die Passage bei Praetorius: „Die Art dieser Zubereitung deutet Matthiolus in cap. 71. l. 4. Diosc. an. In die noch grünenden Wurtzeln des Schilff-Rohrs / des Hunds- Kürbs / und anderer Pflantzen / schnitzeln die Betrieger so wohl Manns- als Frauen-Bilder / und stecken in dieselbige Oerter / da sie das Haar wollen haben / Gersten und HirsenKörner. Darnach machen sie eine Grube / und bedecken selbige / so lange mit wenigen Sande / biß erwehnte Körner Wurtzeln schiessen / welches auffs höchste innerhalb 20. Tagen geschiehet. Hierauff nehmen sie es wieder auff und beschneiden die aus den Körnern angewachsene Wurtzeln mit einem scharffen Messerlein / beraten sie auch also / daß sie die Gestalt der Haupt-Barten und anderer Haare des Leibes abbilden [...]“. Praetorius: Anthropodemus Plutonicus, S. 174f. Happel kopiert exakt diesen Abschnitt von Praetorius, unterschlägt ihn jedoch als ‚Zwischenschritt’ und nennt allein die bibliographische Referenz auf Mattioli: „Wovon Matthiol.in l.4.Dioscor.c.71.p536. redet [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1, Relation „Die seltsam gebildete Mandragora“, Nr. 65, S. 517. Da Happels bibliographische Angabe exakter ist als die von Praetorius, ist seine Kenntnis der Primärquelle zumindest denkbar. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von: [Simplicissimi Galgen-Männlin] Oder Ausführlicher Bericht / woher man die so genannte Allräungen oder Geldmännlin bekomt [...], o.O. 1673. „Gleich wie nun der leidige Satan auff Verhängnus Gottes einem jeden ohne Zweiffel einen Venus-Berg daher gaucklen kan; [...] also gilts jhm auch gleich / ob er die Menschen mit Warheit oder mit Lugen in seine Strick und zu sich in die ewige Verdammnus bringe; ob er sie durch ein natürlichs selbstgewachsenes Galgenmännl oder durch ein mit Kunst zugerichtem und jhm ähnlich gemachtem Ebenbild betriegt“. Ebd. Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/grimmels/galgenmn/galgenmn.xml.
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„Der Satan gebraucht sich gar vielfältig dieser oder jener Dingen / die da in der Natur einen besondern Gebrauch haben / denen er alsdann aussernatürliche Kräffte gar behende anzukleben weiß. Wer weiß nicht / und wer ist so unbelesen / der nicht solte gehört oder gelesen haben / wie viele Possen er mit der Mandragora oder Alraun angerichtet hat“.441
Der Rest des Artikels ist jedoch keine systematische Herleitung dieser Annahme. Vielmehr folgt Happel seiner üblichen Strategie und bietet eine argumentativ nur schwach ausgeprägte Collage aus Versatzstücken maßgeblicher Texte zum Thema. Hier setzt sie sich aus drei überaus erfolgreichen (Erzähl-)Anthologien älterer Polyhistoren zusammen, was trotz sich verschärfender Kritik am Alraunen-Glauben die andauernde Profitabilität des Stoffes demonstriert. So bezieht sich Happel zunächst auf Harsdörffers SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte, der schon in den 1650er Jahren davon ausging, dass der Teufel über den Glauben an die Alraune übernatürliche Kräfte vorspiegeln könne.442 Happel entlehnt der Sammlung nur eine lokalhistorische Episode, deren nüchternen Berichtston er durch Affektbetontheit abwandelt. Denn während Harsdörffer lediglich chronikalisch notiert, dass um 1630 drei Alraunenhändlerinnen in Hamburg öffentlich bestraft worden seien, schmückt Happel die Bestrafung dramatisierend zur Hinrichtung aus und ergänzt in der Geschehensdeutung die Figur des Teufels: „Und ich glaube / es leben noch viele / welche gesehen haben / die Hinrichtung der drey Weiber bey dieser Stadt Hamburg / dann durch ihren Wurtzel Krahm / (sie handelten allein mit Alraunen) haben sie ihnen das zeitliche Feuer und den Hencker zum Bratenwender / wo nicht gar das ewige Feuer und den leibhafften mißbrauchten AllraunenMeister / den leidigen Teuffel zum FeuerSchürer erhandelt. Vid. Harsdorffers Mord-Geschichte pag. 150“.443
Im folgenden Passus bringt Happel die in der Alraunen-Literatur typische Verschränkung von etymologischer und historischer Herleitung. So „[...] habe das Wort Mandragora seinen Nahmen vom Teutschen Wort / Manntragen / weil diese Wurtzel einen Mann trägt. Sonsten wird sie auch gar offt Allraun genandt / von All- und raun / welches bedeutet / alles in die Ohren raunen [...] / was man thun soll / umb bald reich zu werden. Der bekandte Geschicht-Schreiber Aventinus erzehlet in seinem ersten Jahr-Buch aus Strabone / daß vor Zeiten unter den Teutschen gewisse Weiber gewesen / Allraunen genandt / welche man vor Priesterinnen und Wahrsagerinnen gehalten [...]“.444 441 442 443 444
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 517. Harsdörffer: Mordgeschichte, S. 153. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 517. Ebd. Gerade die ‚etymologische’ Herleitung des Begriffs ‚Mandragora’ aus dem englischen ‚Man’ oder dem deutschen ‚Mann’ war nicht unumstritten. In der Pseudodoxia Epi-
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Auch wenn Happel mit den Werken des antiken Geographen Strabo (um 63 v. Chr.-23 n. Chr.) gut vertraut war,445 täuscht er an dieser Stelle seine Quellenkenntnis nur vor und kopiert aus der Acerra Philologica von Lauremberg – anders als bei der Übernahme aus Harsdörffer unterschlägt er dies jedoch. Dem Abschnitt aus Laurembergs einflussreicher Kompilation (siehe Kapitel 4.4.) folgt Happel nahezu wörtlich:446 „Von diesen Allraunen [den Wahrsagerinnen, F.S.] ist ohn Zweiffel entsprossen der Aberglaube / welcher noch heut zu Tage bey vielen gottlosen Menschen geführet wird / die sich bemühen / eine von diesen Wurtzel oder Alraunen in ihrem Hause zu haben meynende / daß ohnen alsdann ein grosses Glück zu Handen kommen / und daß sie nun allemahl wüsten / was ihnen wiederfahren solte“.447
Auch seine zweite Quelle benennt Happel nicht: Johannes Praetorius’ Anthropodemus Plutonicus. Lobend verweist er nur auf die Aller Edelste Thorheit von Rist,448 den Text und den bibliographischen Nachweis kopiert er von Praetorius, der sich seinerseits bereits auf Rist berief. Dieser sah in seiner Kritik noch nicht den Teufel am Werk, sondern spottete über den AlraunenGlauben als Beispiel der „närrischen Einbildungen“449 der ‚Alten’. Symptomatisch für das Muster von Happels Kompilationsverfahren ist erneut der Schlussabsatz: Dieser ,rahmt’ die Übernahmen von Rist und Praetorius durch einen selbstständigen Schlusskommentar, der das Thema mit Blick auf Happels eigene Intentionen aktualisiert – schon wegen der
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demica heißt es abfällig: „Die gemeine Leute (in Engelland) haben sich in diesem Stücke auch verleiten lassen durch den Nahmen Mandraks, (daß man in Deutschland Alraun nennet /) in deren erster Sylbe der Laut vorkommet / dadurch sonst ein Mensch bezeichnet wird. Andre aber haben die Regeln der Sprach-Kunst beßer wissen in acht zu nehmen / und davor gehalten / es komme das Wort Mandragora her von einem gewißen Wort in der Griechischen Sprache / das eine Höle bedeute / weil dieses Kraut gerne an tunckeln und schattigen Orten wächset“. Browne: Pseudodoxia Epidemica, S. 524. Er zitiert ihn wiederholt etwa in seiner Kosmographie: Happel: Mundus Mirabilis, Band 1, S. 334. Lauremberg: Acerra Philologica, S. 531. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 518. „Wohl zu lesen sind allhier des seeligen Herrn Ristu Worte in seinem MertzensGespräche von der aller-edelsten Thorheit der Welt pag. 208“. Ebd. Die Passage bei Praetorius: „Schließlich sind folgende Wörter noch zu admiriren / des Herrn Ristii aus seinem Mertzens-Gespräche / von der alleredelsten Thorheit der gantzen Welt / p. 208 etc. [...]“. Praetorius: Anthropodemus Plutonicus, S. 180. „Kan ich also [...] bey der Wurtzel / oder dem Bilde / das ich in Händen habe / [...] etlicher massen abnehmen / was die Alten für närrische Einbildungen von diesem Dinge gehabt haben; [...] und hat dieser Aberglaube also immerhin / biß auff unsere Zeit gewähret / welchen man auch nicht leichtlich gantz und gar wird“. Happel / Rist: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 518.
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Annahme einer Präsenz des Teufels geht es Happel im Ganzen nicht um eine völlige ,Naturalisierung’ der Alraune, sondern um eine didaktischerbauliche Nutzbarmachung des Themas: Die vermeintliche Wunderwirksamkeit der Wurzel ist ad acta gelegt, nicht aber die permanente Gefahr, die der Aberglauben (an die Alraune) für den Verlust des Seelenheils darstellen kann: „So gehets mit dem schwachen Menschen; wann er meynet / er handelte gar klüglich / so begehet er die grösseste Thorheit / ja eine solche / welche mannichmahl mächtig ist / ihn umb Leben und Seeligkeit zu bringen“.450 Und trotzdem wird der wunderbare Ursprung anthropomorpher ,Spiele der Natur’ in den Relationes nicht vollständig dekonstruiert. Mit der Autorität Kirchers äußert sich Happel im folgenden Wochenbogen über „Die Ursache solcher gebildeten Kräuter“.451 Hier führt er die angebliche Ursache des ,Galgen-Männleins’ auf die ,okkulten’ Kräfte der Natur zurück und stabilisiert den Faktor des Wunderbaren damit erneut: „Oft gerühmter Kircherus scheinet in diesem Stücke dem Ziel der Warheit am nächsten gekommen zu seyn: Die Würckung solches natürlichen Bildwercks schreibet er einer sehr geheimen Ursache zu / nehmlich dieser nachfolgenden: Es ist von denen / die des Viehes hüten / angemercket worden / daß wann die Thiere zur Zucht und Bespringung gelassen werden / im folgenden Jahr insgemein die Erde von den seltsam gestalten Kraut Satyrion häuffig bewachsen werde / und zwar auß keiner andern Ursache / als daß die überflüßige auff die Erde verfallene Spermatische Feuchtigkeit mit dem Safft der Erden durchsäuert / endlich zu dergleichen Kräutern herfür wächst. Welches ebenmäßig geschehen mittelst des Saamens der todten Cörper / so wol von Menschen und Thieren [...]“.452
Schließlich illustriert noch eine persönliche Episode, dass sich Happel auch jenseits des Textes der konkreten Faszination der ‚Wunderwurzel’ nicht entziehen wollte – immerhin war das Sensationspotential der Alraune ungebrochen und konnte durch persönliche Augenzeugenschaft nur erhöht werden. Dass die Alraune gerade in der Handelsmetropole Hamburg eine begehrte „Curiosität“ war, deutete bereits Harsdörffers Notiz über die Bestrafung der drei Händlerinnen an. Um 1688 kommt Happel im Kontext weiterer Launen der Natur auf „Die gebildete Wurtzel“453 zurück, diesmal allerdings aus aktuellem Anlass. Geschickt lanciert er ein angeblich persönlich bezeugtes Ereignis als Gegenstand des Stadtgesprächs:454 450 451 452 453 454
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 65, S. 519. Ebd., Nr. 66, S. 523. Ebd. Ebd., Band 4.2, Nr. 41, S. 326. Einen in Hamburg zu Happels Zeit grassierenden Alraun-Glauben kritisiert Otto Adalbert Beneke noch 1856 in seinen Hamburgischen Geschichten und Denkwürdigkeiten (Hamburg
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„Hievon [von der Alraune, F.S.] habe ich zwar in dem I Tom.Relat.Cur. schon geredet / als ich aber diese Materie angeführet / fället mir bey / was mir vor wenigen Wochen alhier gezeiget worden. Nemlich ein Bürger dieser Stadt gab mir und etlichen andern guten Freunden in seinem Hause zu sehen 3 Alraunen“.455
Happels Augenzeugenbericht – ob authentisch oder nicht – gleicht mit seinen minutiösen Details den gängigen Schilderungen von Alraunen; er zeigt vor allem, wie sehr es den Relationes trotz aller Kritik am Glauben an die übernatürlichen Kräfte der Pflanze nicht zuletzt darum geht, das Objekt für die Vorstellungskraft der Leser lebendig zu halten: „Sie [die Alraunen, F.S.] lagen in einer grossen Kiste in feuchtem Sand. Das Weiblein lag dem Männlein an der rechten Seiten / und ward von dessen rechten Arm umbfangen. Das Dritte war ein Kind / so von den andern abgesondert war. Mann und Weib aber kunten nicht von einander gebrachten werden. Diese lagen auff dem dem Rücken / und hielte der Mann den lincken Schenkel hoch empor. Er war wohl 3 viertel einer Hamburger Ellen lang / das Weib kleiner / und das Kind das Kleineste. Man sahe wohl / daß die Kunst an der Bildung der Gesichter geholfen / sonst war alles ziemlich proportioniert [...]. Wer diese Alraunen zum ersten mahl sahe / der muste sich drüber entsetzen / dann sie lagen da / wie kleine verstorbene Menschen“.456
7.3. Neue Wunder: Die Popularisierung der ,neuen’ Wissenschaften „Der gar gelehrte Engelländer Hookius, der uns [...] mit seinen Vergrösserungs-Gläsern die Augen gewaltig geöffnet [...]“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Während die Relationes alte Wunder noch nicht verabschieden, vermitteln sie zugleich die Wunder der ,neuen’ Zeit. Sie stammten, anders als im Fall der Alraune etwa, zunächst aus dem exklusiv gelehrten Kontext: Neben die neuen periodischen Druckmedien traten mit Teleskop und Mikroskop die neu-
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1856): „Hier in Hamburg glaubten die Leute in den unteren Classen vor 200 Jahren steif und fest an die Allrüneken, auf deren Anfertigung sich hie und da ein unheimliches Weib, ein Schäfer vom Lande, und vorzüglich die alten ausgedienten Scharfrichterknechte verstanden. Genaue Kunde von den Aussehen eines ächten Allrüneken verschafft uns ein Vorfall im Jahre 1679“. Beneke: Hamburgische Geschichten, S. 248. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 41, S. 326. Ebd.
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en optischen Medien des 17. Jahrhunderts. Als symbolische Instrumente der Neuzeit457 verkörpern sie den durch die Naturwissenschaften gewagten Aufbruch ins Neue458 besonders deutlich. Der Diskurs über das Neue war entscheidend für das Bild, das sich das Zeitalter in wissenschaftlicher Hinsicht von sich selbst machte459 und verband sich mit dem Diskurs über die Neugier; ihren Aufstieg verdankte sie gerade auch der Potenzierung der menschlichen Sehkraft durch die neuen Beobachtungsmethoden.460 Wie die geographischen Entdeckungen allmählich ein erweitertes Bild der Welt etablierten, machten die beiden ,künstlichen’ Instrumente Teleskop und Mikroskop zuvor unsichtbare Welten im Großen wie im Kleinen sichtbar – ein epistemologischer Einschnitt, der auch als Epochenwende wahrgenommen wurde. Happel spricht in den Relationes von den „curieuse[n] Tubos“461 der Zeit. Ohne reisen zu müssen, konnte der Naturforscher zum Entdecker neuer Welten werden und jenseits des Textes zur empirischen Anschauung der Dinge selbst zurückkehren. Der berühmteste Mikroskopist der Zeit, Robert Hooke462 (1635-1703), hielt in seinem Hauptwerk Micrographia463 (1665) – um das es im Folgenden noch geht wird – das Leitmotto des neuen Wissensanspruchs fest:464 „The truth is, the Science of Nature has been already too long made only a work of the Brain and the Fancy: It is now high time that it should return to plainneß and foundneß of Observations on material and obvious things“.465 Mit dem Teleskop, Mikroskop und anderen optischen Instrumenten schlug sich der Anspruch Hookes zum Teil auch in den zeitgenössischen Kunstkammern nieder; diese waren damit nicht nur museale Orte, sondern teilweise auch astronomische Forschungsstätten. Da Tele457 458
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Weigl, Engelhard: Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit, Stuttgart 1990. Krafft, Fritz: Aufbruch ins Neue: Die Naturwissenschaften der Frühen Neuzeit, in: Splinter, Susan (Hrsg.): „Physica et historia“: Festschrift für Andreas Kleinert zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2005, S. 56-78. Zahllose Buchtitel der Zeit versahen sich mit dem Zusatz ,neu’, so etwa Francis Bacons Novum Organum (1620); siehe: Rossi, Paolo: The Birth of Modern Science, Oxford 2001, S. 44. Ähnlich: Blumenberg: Der Prozess der theoretischen Neugierde, S. 180. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Eine genaue Betrachtung des Mondes“, Nr. 1, S. 5. Biographisches bei: Krafft, Fritz: Die Mikroskopisten, in: Ders.: Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Portrait, Wiesbaden 2007, S. 99f. Hooke, Robert: Micrographia: Or Some Physiological Descriptions Of Minute Bodies Made By Magnifying Glasses: With Observations and Inquiries thereupon, London 1665. Zur Selbststilisierung der Akteure in der ‚Wissenschaftlichen Revolution’ siehe: Nate, Richard: Isaac Newton und der Mythos des Naturwissenschaftlers in der Frühen Neuzeit, in: Hartmann, Andreas / Neumann, Michael (Hrsg.): Mythen Europas. Vom Barock zur Aufklärung, Regensburg 2007, S. 206-230. Hooke: Micrographia, preface, Bl. br.
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skop und Mikroskop aber auch wunderbare „Medieneffekte“466 produzierten, waren sie überdies hervorragende Objekte der Popularisierung. Gegenstand des vorliegenden Abschnittes ist die Frage, was von den Umbrüchen der ,neuen’ Wissenschaft in den Relationes aufgegriffen und wie es kommentiert wird. Auch hier ist die Beschränkung auf einige exemplarische Wissenssegmente geboten, im Mittelpunkt steht die an das Teleskop gekoppelte Astronomie und Happels umfassende Popularisierung des Mikroskops. Mit der Begeisterung für optische Spiele als Teil einer Vergnügungskultur war Happel erneut nicht alleine – auch andere, vorangehende Polyhistoren thematisierten in ihren Werken teilweise wissenschaftliche Instrumente, vor allem aber diverse Spielarten optisch-katoptrischer Phänomene.467 Anamorphosen und Vexierbilder erfreuten sich im Barock großer Beliebtheit und dokumentieren die zeitgenössische Begeisterung für visuelle Formen der Neugier, an denen die Relationes umfassend teilhaben. Während Mikroskop und Teleskop von der älteren Forschung fast durchweg als Symbole der ,Wissenschaftlichen Revolution’ betont wurden, wird hier der jüngst stärker akzentuierten Problematik des Begriffs468 gefolgt und von den ,neuen’ Wissenschaften im Spiegel des Periodikums gesprochen, nicht aber von deren angeblich revolutionärer Qualität. Wie gezeigt, steht für Happel angesichts des Bildes eines prinzipiell ,künstlichen’ Menschen gleichwohl fest, dass sich die Kunst und Wissenschaft auf einem im Vergleich mit früheren Zeiten überlegenen Niveau befinden. 7.3.1. „Himmels-Wissenschaft“ und „Sternen-Gucker“ Bereits der kosmographische Auftakt der Relationes (siehe Kapitel 4.3.2.) lässt keinen Zweifel daran, dass Happel das heliozentrische Weltbild als weithin akzeptiert vermittelt: „Die allereigentlichste Betrachtung der Sonnen“469 ist 466
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Böhme, Hartmut: Die Metaphysik der Erscheinungen: Teleskop und Mikroskop bei Goethe, Leeuwenhoek und Hooke, in: Schramm / Schwarte / Lazardzig (Hrsg.): Kunstkammer, Laboratorium, Bühne, S. 359-396, hier S. 367. In Harsdörffers Erquickstunden heißt es etwa: „Der Sechste Theil / Von den Spiegeln. [...] Wir haben bishero gehandelt von [...] der Durchstralung (Dioptrica) und folget jetzt und von der Gegenstralung (Catoptrica) oder Spiegel-Kunst“. Ebd., S. 233. Dazu etwa jüngst Daston, Lorraine / Park, Katharine: Introduction: The Age of the New, in: Dies. (Hrsg:) The Cambridge History of Science, Vol. 3, S. 1-21. Zur Vermeidung des Topos ‚Wissenschaftliche Revolution’ heißt es dort: „It is no longer clear that [...] the transformations in questions were as explosive and discontinuous as the analogy with political revolution implies [...]“. Ebd. S. 13. Diese Position machte Stephen Shapin schon zum Ausgangspunkt seiner Studie: Die Wissenschaftliche Revolution, Frankfurt 1998. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1.
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der erste Artikel des Periodikums überhaupt und Galileo Galileis (15641642) Dialogo sopra i due massimi sistemi (Florenz 1632) die erste bibliographische Referenz.470 Dadurch, dass Happel die Sonne an den Anfang seiner astronomischen Betrachtungen stellt, würdigt er ihre Stellung im heliozentrischen Kosmos, eine Einschätzung, die er noch im gleichen Artikel auch ausdrücklich macht. Damit ist allerdings nicht die Schöpfungsgewissheit in Frage gestellt.471 Die Sonne sei, so Happel, „[...] von dem Allerhöchsten recht mitten in die ganze sichtbare Welt gesetzet [...]“.472 Unter Berufung auf Galilei macht Happel klar, dass der Wahrheitsanspruch einer auf Beobachtung basierenden, „natürlichen“ Wissenschaft den Worten der ,Alten’ überlegen sei: „In diesen natürlichen Wissenschafften kan die zierliche Redekunst / oder ein prächtiges Wort machen / ja auch das subtile Disputiren weniger als nichts ausrichten, dann tausend Demosthenes / tausend Aristoteles können von einem eintzigen Menschen mittelmässigen Verstandes / wann er nur in der Warheit [des Augenscheins und der Beobachtung, F.S.] gegründet ist / leichtlich wiederleget und zu schaden gemacht werden [...]“.473
Die von Happel auch in späteren Relationen immer wieder betonte Bedeutung des (kritischen) „Augenscheins“ als das entscheidende Charakteristikum der ,neuen’ Wissenschaften wird von Beginn an durch entsprechend suggestive Abbildungen unterstützt: Aus Kirchers Mundus Subterraneus findet sich ein Nachstich der berühmten Illustration der Sonnenoberfläche474 (Abb. 28). 470 471
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Zitiert als „Galil.in Dial.Cosm.p.35“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1. Dass mit der kopernikanisch-heliozentrischen Kosmologie gleichwohl der biblische Schöpfungsbericht herausgefordert war, lässt Happel an anderer Stelle nicht unerwähnt: „[...] daß man itzo einen Weltweisen fast nicht mehr für einen subtilen Mann erkennet / der das Copernikanische Systema nicht behauptet / ohnerachtetet es außdrücklich mit der Hl. Schrifft streitet [...]“. Ebd., Band 2.2, Relation „Die vermeynte Beschaffenheit und Ursache der See-Fluth“, Nr. 59, S. 465. Ein Kommentar im Mundus Mirabilis deutet zudem an, dass die ‚Kopernikanische Wende’ im (populären) Denken des 17. Jahrhunderts noch nicht vollzogen war: „Copernicus, ein überauß subtiler Kopff / hat vor einer geraumen Zeit schon erwiesen / oder zum wenigsten erweisen wollen / daß nicht die Sonne herum lauffe / sondern die Erde / und daß also die Sonne / an statt der Erde / als ein Universal-Centrum, mitten in der Welt zu setzen sey. Diesem widerspricht Tycho Brahe, Ricciolus, und viel andere gleichfalls sehr fürtreffliche Männer [...]. Copernicus aber hat absonderlich in diesem Seculo viel Nachfolger bekommen [...]“. Ders.: Mundus Mirabilis Tripartitus, Band 1, S. 17. Ders.: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 1. Ebd. „Beykommendes Kupffer ist gezeichnet nach dem Abris Kircheri lib 2.cap.4 seiner unterIrdischen Welt [...]“. Ebd., S. 3. Happel unterlässt hier nicht, seine Leser darauf hinzuweisen, dass sich Kircher bei der Abbildung seinerseits an der grafischen Vorlage des Jesuiti-
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Für den astronomischen Auftakt der Relationes ist Happels vermutlicher Kontakt (siehe Kapitel 5.3.) zum Kieler Mathematiker und Astronom Samuel Reyher als biographische Fußnote nicht unbedeutend: Es ist immerhin wahrscheinlich, dass Happel durch den Einfluss der kopernikanisch orientierten Lehre Reyhers dem heliozentrischen Modell den Vorzug gab, vielleicht auch veranlasst durch eigene Anschauung: Reyher bot seinen Studenten ab 1667 astronomische Führungen im Hof der Universität an, auf denen er auch die hiesige Sammlung der ,scientifica’ vorführte.475 Bereits auf der zweiten Seite des ersten Bogens der Relationes hebt Happel in enthusiastischem Ton die Bedeutung hervor, die den neuen Instrumenten für das Potential zukomme, neue Wunder ,vorzuführen’. So „[...] ist die Künstreiche Erfindung einiger klugen Köpfffe dahin gelanget / daß sie ein Mittel erfunden / mit den leiblichen Augen biß in die Sonne und noch Höher zu steigen: Die neuerfundene Tubi oder Fern-Gläser sind es / welche uns so viele seltsame und verwunderungs würdige Dinge in der Natur vorstellen / davon man dieselbe nicht das geringste würde haben zu wissen bekommen“.476
Der Kategorie des Wunders scheint mit den neuen Beobachtungsmethoden also nicht der Boden entzogen – wohl aber der scholastisch-aristotelischen Naturphilosophie, die auf Seiten der Himmelskörper mit keinen Unvollkommenheiten gerechnet hatte; anders dagegen die ,neue’ Wissenschaft: Mit Anspielung auf die von Galilei zu Anfang des Jahrhunderts beobachteten Sonnenflecken fährt Happel im Artikel über das Zentralgestirn fort: „So ist dann die Sonne nach der erscheinung durch einen guten Tubum nicht anders anzusehen / als ein rauher höckerichter / und gantz unebener Cörper / [...] nicht anders / als unsere Erd- und Wasser-Kugel: [...]“.477 Neben Athanasius Kircher wird hier der Magdeburger Bürgermeister und Erfinder Otto von Guericke478 (1602-1686) als Quelle genannt. Weniger durch seine astronomischen Arbeiten denn durch seine medienwirksamen, als spektakuläre Schauspiele inszenierten Vakuum-Experimente war Guericke bereits im 17. Jahrhundert einem größeren Publikum geläufig. Happel schürt diese Popularität an späterer Stelle.479 Dass die Relationes Guericke besonders idealisie-
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schen Astronoms und optischen Pioniers Christoph Scheiner (1573-1650) orientiert habe: „[...] und ist der hochgelahrte Pater Scheinerus der erste gewesen / der uns die Sonne in beykommender Figur vorstellet“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 3. Schmidt-Schönbeck, Charlotte: 300 Jahre Physik und Astronomie an der Kieler Universität, Kiel 1965, S. 20. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 2. Ebd. Biographisches: Krafft, Fritz: Otto von Guericke, in: Ders.: Die bedeutendsten Astronomen, S. 114-118. Siehe dazu: Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 230ff.
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ren,480 ist typisch für Happels Strategie, den Fortschritt der Wissenschaft eher der Rolle einzelner ,Heroen’ denn kollektiven Anstrengungen zuzuschreiben. Wenn sich der ,journalistische’ Anspruch Happels nicht darin erschöpft, die fabelhaften Entdeckungen zeitgenössischer Astronomen zu referieren, sondern auch die Diskussion von Ursachen einzubinden, heißt es etwa über Guericke: „Der hochgelahrte Otto Guericke schreibet das gewaltige Aufwallen der flüßigen Sonnentheilen einer sonderbahren Krafft der Sonnen zu / vermittelst welcher sie die Lufft der umbschwebenden Planeten an sich ziehet / dann daß unser Feuer auch die Lufft an sich ziehe / ist ausser Zweiffel / und daß es von der Lufft unterhalten werde / erweist angeregter Herr Guericke zu Gnüge“.481
Dennoch geht es nicht nur um die Position einzelner Berühmtheiten. Happels Popularisierungsstrategie gibt sich von Beginn an als Synopse des anwachsenden Beobachtungsmaterials verschiedener Quellen. Ohne die gemeinten Werke zu nennen, zieht Happel mit ihnen argumentative Schlüsse: „Aus der gegenwärtigen Erscheinung der Sonnen / schliessen etliche hochverständige Astronomie / daß so wohl die harte oder veste / als auch die flüssige Theile der Sonnen-Kugel / viel inwendige grosse Canäl [...] wie unsere Erde und Mond-Kuegel“.482 In der Vermittlung astronomischen Wissens geht Happel jedoch auch über konvergierende Standpunkte hinaus. Denn er verweist indirekt auch darauf, dass die ‚neue’ Wissenschaft den ehemals homogenen Blick in den Himmel gegen Vielfalt, Diskussion und die Ungewissheit gegenüber der Größe des Raumes eingetauscht hat. Wie in anderen Diskursen auch, führt Happel das Ausschöpfen und (Re-)Kombinieren heterogener Quellen auch zu deren Widersprüchlichkeiten – im Abschnitt „Von der Höhe / und Lauff der Sonnen“483 allerdings schon deswegen, weil auch ältere Wissensbestände noch diskutiert werden, so etwa das Werk des syrischen Astronomen AlBattani484 (858-929), latinisiert ‚Albategnius’ genannt. Dessen Astronomisches 480
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„[...] vor andern glaubwürdig / worinn es andern weit zuvor gethan hat unser Teutscher Archimedes / der edle Herr Otto von Guerike [...]. An diesem vornehmen Mathematico hat Teutschland eben dasjenige / was andere Länder am Euclide / Archimede / Cartesio jemahlen gehabt [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Ein schöner Discurs und etliche Experimenta von der Lufft / aus Herrn Ottonis von Guerike Tractat, de Vacuo Spatio“, Nr. 17, S. 129. Ebd., Nr. 1, S. 3. Ebd., S. 3f. Ebd., S. 4. Krafft, Fritz: Abu Abd Allah Muhammad Ibn Schabir Ibn Sinan Al Battani, in: Ders.: Die bedeutendsten Astronomen, S. 48-49.
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Handbuch nebst Tafeln (Opus astronomicum) übte über erste Übersetzungen im 12. Jahrhundert bis zum letzten Druck 1645 in Nürnberg auf die abendländische Astronomie starken Einfluss aus.485 Jedoch waren Al-Battanis Berechnungen etwa über die Ausmaße der Sonne im Zeitalter empirischer Messungen fragwürdig geworden, gerade vor der Folie jüngerer Berechnungen des „außbündige[n] Mathematicus“ Guericke: „Gleich wie die Astronomi in der Höhe der andern Planeten / also differiren sie auch ziemlich in der Höhe der Sonnen. Albategnius setzet die Höhe am geringsten / nehmlich 1068 halbe Diametros der Erden. Wendelius aber machet sie am grösten / nehmlich 14507 Semidiametros der Erden. Der außbündige Mathematicus / Herr Otto von Guerike, gibt dieser Distantz 2644 Semidiametros der Erden [...]“.486
Happel bricht die vergleichende Zahlenliste darauf ab und begründet dies implizit mit seiner Unterhaltungsstrategie, die dem Leser „umbständliche“ Details ersparen will: „Es würde etwas weittläuffig fallen / die ganze Rechnung hier einzuführen / wodurch die Grösse der Sonnen gefunden wird / ja wenigen würde auch damit gedienet seyn / derowegen will ich nur melden / daß dieselbe 1521 tausend / fünff hundert ein und zwantzig mahl grösser als die Erde befunden worden“.487
Trotzdem wird er dieser Maxime in den folgenden Artikel nur bedingt gerecht, wobei Happels eigener Bildungshintergrund nicht zu vernachlässigen ist: Sind die Relationes als das Produkt eines ehemaligen Studenten der Mathematik generell von einer ‚numerischen Faszination’ getragen – gegen 1688 vermittelt Happel in einer Serie von Artikeln über die „Edle Zahl- und Rechen-Kunst“488 Mathematik als Gesellschaftsspiel –, so gilt dies auch für die Behandlung der Astronomie. Grundsätzlich bringt Happel hier das Gefühl der Messbarkeit des Raumes ins Bewusstsein; immer wieder durchsetzt er seine Erörterungen über die einzelnen Planeten nicht nur mit pedantisch genauen Zahlenreihen und Datenmaterialien, sondern auch mit exakten, dem Laien kaum mehr zugänglichen Rechenoperationen, etwa über die genaue Entfernung des Mondes vom Zentrum der Erde.489 485 486 487 488
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Krafft, Fritz: Abu Abd Allah Muhammad Ibn Schabir Ibn Sinan Al Battani, S. 48. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 4. Ebd. Über den Rang der Mathematik heißt es, dass „[...] keine unter allen Wissenschafften so gewiß und sicher / [...] als die so von den Zahlen handelt [...] und hier endet sicher aller Zweiffel /der in allen andern Künsten und Wissenschafften sich zu vermehren pfleget / und einem Irrgarten gleichet / aus welchem man sich schwerlich finden kan“. Ebd., Band 4.2, Nr. 32, S. 252. Ebd., Band 1.2, Relation „Von der Höhe / Grösse und Lauff des Monds“, Nr. 2, S. 9.
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Entscheidender für die kommunikative Intention der Relationes ist jedoch etwas anderes: Weder die mathematische Erfassung des Kosmos einerseits noch die andauernden Diskussionen um ein helio- oder geozentrisches System andererseits werfen de facto ein Problem der Deutung auf, sondern werden in den religiösen Rahmen der Text-Kunstkammer eingebettet. Neue Lektüren im ,Buch der Natur’, ermöglicht durch den avancierten Instrumentenbau, genügen nicht selbst; vielmehr erweisen sie die Existenz Gottes und seiner Wunder in einer detaillierteren Perspektive als zuvor. Typographisch durch Fettdruck und Absatz deutlich verstärkt heißt es bei Happel im frommen Ton: „Herr / du allmächtiger Gott! Deine Wunder sind unbegreifflich!“.490 Vergleichbar soll auch die „Genaue Betrachtung des Mondes“491 nicht im Sinne einer rein ,weltlichen’ Wissenschaft verstanden werden. Die empirisch genauere Erkundung der Gestirne mag so einerseits zwar das Resultat der von Happel gepriesenen ,Erfindungskraft’ des Menschen sein, die die „[...] allerraresten Instrumente und Gesichts-gucker [...]“492 hervorbringt. Andererseits muss es jedoch – so der Witz von Happels Argumentation – Gottes Plan gewesen sein, den Mond aufgrund seiner geringen Distanz zur Erde als ideales Studienobjekt überhaupt erst in die Reichweite der Teleskope zu rücken. Insofern müsse sich auch die forschende „Vernunfft“ quasi von selbst auf die Erkenntnis Gottes hin ausrichten: „Sonder Zweifell aber hat der allmächtige Schöpffer aller Dinge [...] den Mond unter allen Sternen und Planeten am niedrigsten gesetzet, damit [...] sein mannigfältiger Schein / seine vielfältige Bewegung und gar schneller Lauff / vermittelst der ziemlichen Grösse / darin er uns / in seiner wenigsten Entsessenheit erscheinet / vor allen andern uns mehr entlegenen Sternen / desto leichter und gewisser möge erforschet und betrachtet werden. Auch folgends / durch seine Hülffe die übrige weit-entfernete Himels-Cörper / welche / dem Ansehen nach / viel kleiner scheinen / gleicher gestalt / [...] so viel besser erkant / besichtiget / und von der guten Vernunfft betraachtet würden“.493
Der Astronomie haftet in den Relationes damit eine doppelte Konnotation des Wunderbaren an: Die wunderbar anmutenden Fortschritte der „Himmels-Wissenschaft“494 korrespondieren mit den Wundern der Schöpfung, die Happel gerade auch über die konkreten Wissenschaftsbilder495 ins kollek490 491 492 493 494 495
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Von der Höhe / und Lauff der Sonnen“, Nr. 1, S. 4. Ebd., S. 5ff. Ebd., S. 5. Ebd., S. 5f. Ebd., Relation „Von den Fix-Sternen“, Nr. 2, S. 13. Hierzu eingehend: Heßler, Martina (Hrsg.): Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006.
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tive Gedächtnis einbringt: Die Abbildung „Des Mondes Gestalt“ (Abb. 29) ließ er ohne Angabe der Quelle aus der Selenographia496 (1647) von Johannes Hevelius (1611-1687) nachstechen, dem ersten Atlas zur Mondkartographie überhaupt. Das bahnbrechende Werk dokumentiert die rasante Detailverbesserung der Mondbeobachtung seit Galileis ersten Zeichnungen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Dass Hevelius neben Guericke als eine der Leitfiguren der Astronomie galt, – auch wenn seine Teleskope in den 1680er Jahren bereits veraltet waren497 – lässt Happel nicht unberührt. Er stellt Hevelius als den „[...] unvergleichliche[n] Astronomis zu Danzig [...]“498 vor. Wegen des erstaunlichen Detailgrads der von Hevelius selbst angefertigten Stiche blieb sein Mondatlas über nicht weniger als einhundert Jahre das Referenzwerk.499 Insofern konnte der Nachstch der Mondillustration seine faszinierende Wirkung auch auf eine nicht-akademische Leserschaft nicht verfehlen: Wie war die zerklüftete Oberfläche des Trabanten zu erklären? Dass Happel ausführlich auf diese und andere Fragen bezüglich der Topographie und Beschaffenheit des Mondes eingeht, zeigt, dass sich die Relationes trotz der religiösen Überformung auch auf einen sachlichen Ton einlassen. Hier referiert Happel über mehrere Seiten und teils vergleichend den Stand des astronomischen Wissens vor allem auf Basis von Kircher, Hevelius und Guericke. Entgegen der oben zitierten Einschätzung der „natürlichen Wissenschaften“ wird dabei auch betont, dass zeitgenössische astronomische Erkenntnisse nicht a priori alte Einsichten ersetzen müssen, sondern mitunter auch bestätigen können (um damit freilich auch deren Irrtümer zu reproduzieren, etwa die bereits antike Annahme, dass sich auf der Oberfläche des Mondes ganze Meere befänden): „[...] so haben nicht allein die alten Philosophie darfür gehalten / sondern es ist auch vermittelst der grossen Sterngläser / zu unsern Zeiten befunden worden / daß der Mond gleichsam eine andere Erd-Kugel sey / und unserer Nieder-Welt fast in allen Stücken gleich komme / was weiß und helle erscheinet / ist die Erde des Mondes / was aber dichte / dick und dunckel ist / welches wir die Flecken / oder den Mann in den Mond nennen / das ist Wasser“.500 496
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Hevelius, Johannes: Selenographia: Sive, Lunæ Descriptio; Atque Accurata, Tam Macularum Eius, Quam Motum Diversorum, Aliarumque Omnium Vicissitudinum, Phasiumque, Telescopii Ope Deprehensarum, Delineatio [...], Danzig 1647. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Klaus-Dieter Herbst, Jena; weiterführend siehe etwa: King, Henry C.: The History of the Telescope, London 1955; Riekher, Rolf: Fernrohre und ihre Meister, Berlin 1990. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Eine genaue Betrachtung des Mondes“, Nr. 1, S. 6. Krafft, Fritz: Johannes Hevelius, in: Ders.: Die bedeutendsten Astronomen, S. 120-121, hier S. 121. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 5f.
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Doch würde die Beweiskraft der Fernrohre alte Hypothesen auch laufend korrigieren, etwa über die „Höhen und Bergen“501 auf der Oberfläche des Mondes: „Man urtheilet auch aus den grossen Perspectiven / daß die Berge des Mondes ungleich höher sind / als die Berge auff der Erd- und Wasser-Kugel / welches einem unglaublich vorkommet / der da betrachtet / daß die Erde 42 mahl grösser als der Mond / [...]: Gleichwohl haben berühmte Mathematici / als Galilaeus de Galilaeis / [...] und insonderheit [...] Herr Hevelius / vermittelst seiner allerraresten Instrumenten und Gesichtsgucker / aus guten und unverwerfflichen Geometrischen Gründen würcklich erfunden und beweisen / daß etliche Berge im Monde auff 3 / oder 2 Welsche Meilen hoch [...]“.502
Zur Veranschaulichung der Größenrelationen zieht Happel ein Beispiel aus der lokalen Erfahrungswirklichkeit heran: Er vergleicht die referierte Höhe der Gebirgsmassive auf dem Mond mit dem spanischen Berg Pico [del Teide] und der St. Nicolai-Kirche in Hamburg, dem damals größten Turm im Stadtbild. Mit der Feststellung, dass der höchste Mondberg den St. NicolaiTurm um mehr als das Fünfundreißigfache überrage, wird astronomisches Wissen zum idealen „curieusen“ Gesprächsstoff: „Ist wahrlich schon eine gewaltige Höhe / ja wann ich sie halte gegen den Thurn zu S. Nicolai / als welcher der allerhöchte in dieser Stadt / und 425 WerckSchuhe hoch ist / wann ich dagegen 5 solcher Werck-Schuhe auff einen Geometrischen schrit rechne (deren 2000 eine halbe Teusche / oder 2 Welsche Meilen ausmachen) so ist der Pico / [...] eben so hoch / als wann man den Thurn zu St. Nicolai 23 9/13 mahl auff einander setzte. Der höchste Mondberg aber befindet sich um einen drittentheil / d.i. 35 1/17? mal so hoch / als gemeldter Thurn. Warlich eine abscheul. Höhe!“503
Zwischen einem Blick auf die Oberflächenbeschaffenheit und „[...] andere merckwürdige Dinge im Mond [...]“504 abstrahiert Happel wieder auf eine generelle Argumentationsebene; sie stilisiert die ,neue’ Wissenschaft als Abenteuer und setzt die spektakulären astronomischen Entdeckungen metaphorisch mit dem Entdeckungszeitalter gleich: „Und haben die heutigen Astronomi eine grosse Lust vermittelst ihrer herrlichen Sterngläser fast täglich nach dem Monde zu fliegen / da sie ihnen dann dessen Gestalt [...] eben so bekandt gemacht / und mit eigenen Nahmen getauffet / als die Schiffleute in den vormahlen unbekandten Ländern zu thun pflegten“.505 501 502 503 504 505
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 5f. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd.
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An der Zuverlässigkeit der in „[...] Hevelii und andrer Leute MondBeschreibung [...]“506 zutage geförderten Erkenntnisse lässt Happel insgesamt keine Zweifel. Im lehrförmigen Tonfall wendet er sich an seine Leser: „Es haben zwar sich einige gefunden / so sagen / der Mond werde von den Strahlen der Sonen biß auff eine gewisse Tieffe durchdrungen und erleuchtet. [...] aber diese Meynungen sind falsch befunden / vielmehr aber erwiesen worden / daß der Mond an ihm selber gantz finster / und ohne die Sonne gantz dunckel / dann das Licht / so er von der Erden bekommt / rühret gleichfalls mittelbahrer Weise von der Sonnen her“.507
Für die Inkonsistenz von Happels Kompilation ist es jedoch wieder bezeichnend, dass jüngere empirische Erkenntnisse wie selbstverständlich mit fiktionalen Passagen vermengt werden, da beide gleichermaßen an die Vorstellungskraft des Lesers appellieren. Illustrieren lässt sich das an den Äußerungen über die den Blicken entzogene, abgewandte Seite des Mondes. Statt sich mit der Bemerkung zu bescheiden, dass mangels Beobachtung kein gesichertes Wissen zu erlangen sei, schaltet Happel einen Auszug aus Athanasius Kirchers astronomischem Hauptwerk Itinerarium Exstaticum ein. Hier tritt die Figur Theodidacticus unter der Leitung des Führers Cosmiel eine imaginäre Reise durch den Kosmos auf der Basis des Systems von Tycho Brahe (1546-1601) an.508 In den Relationes heißt es: „Von der verborgenen Seiten des Mondes / welche uns niehmalen zu Gesichte komet / (dann der Mond laufft nicht wie die Sonne umb seine eigene Axin) werden wir von Kirchero unter der Person des von Cosmieln herum geführten Teodididacti folgender gestalt vernehmen“.509 Über die nur vorstellbare Struktur der erdabgewandten Mondseite gibt Happel fantastischen Spekulationen Raum, etwa der alten Annahme über einen bevölkerten Erdtrabanten: „[...] zumal / da noch heut zu Tage selber Hevelius und Galileus nicht hierwider streiten / sondern bekennen / daß es glaublich / daß der Mond bewohnet seye“.510 Weit wichtiger als diese Frage im Grenzbereich von Phantasie und Wissenschaft ist für Happel jedoch ein erneuter Kommentar zur Kontroverse zwischen Helio- und Geozentrismus – auch für ihn ist unbestritten, dass die Erde ihren Mittelpunkt im Kosmos verloren hat und dass der (geozentrische) Anthropozentrismus511 ad acta gelegt ist. Und dennoch versucht Hap506 507 508 509 510 511
Andere Quellen als Hevelius, Kircher und Guericke nennt Happel nicht. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 7. Dazu: Siebert, Harald: Kircher und die Astronomie, in: Beinlich / Daxelmüller (Hrsg.): Magie des Wissens, S. 183-191. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 1, S. 7. Ebd. Bezeichnend für den gefühlten Verlust der kosmologischen Zentralstellung von Mensch und Erde ist auch der spätere Artikel „Die Vergleichung der Erdkugel mit dem Himmel
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pel, das dramatisch veränderte Bild des Kosmos mit der biblischen Offenbarung noch einmal in Einklang zu bringen: „Und warlich / wann man betrachtet die herrliche Grösse und schöne Gestalt der himmelischen Cörper / gegen welche die kothige Erdkugel doch nur geringe zu schätzen / so solte einer wohl auff die Gedancken kommen / sie wären nicht allein deßwegen erschaffen / daß sie der Erde erleuchten solten [...]. Die klugen Philosophi glauben auch nicht / daß man die göttl. güte und wohltätigkeit so genau einschrencken / und nur auff die Hand voll Menschen / so das Erdreich bewohnen / einziehen müsse: Ja es stritte wider die Vorsehung und Allmacht Gottes / so man sagte / in einem so unmeßlichen Raum stecke allein der Erdboden / samt seinen Einwohnern verborgen / wie ein kleines Vogelnest in einem gewaltig grossen Walde [...]. Es ist wohl ehemahlen etwas unglaublich erschinen / so dannoch nunmehr kund und offenbar worden“.512
Angesichts einer auch in späteren Abschnitten der Relationes wiederholt betonten „Allmacht Gottes“ gesteht Happel der Astronomie nicht zu, „[...] des HERREN Wercke gnugsam zu ergründen!“.513 In der Abhandlung der restlichen Planeten und Gestirne (Mars, Jupiter, Saturn, Fixsterne) erneuert Happel das Lob der Astronomie; er erinnert aber auch an die technischen Grenzen der Teleskope und die daraus resultierenden empirischen Unsicherheiten der „Himmels-Wissenschafft“.514 „[B]ey den Astronomis noch nicht ausgemachet [...]“515 sei etwa, ob der Mars „[...] auch einen oder andern ihn stets begleitenden Gefährten neben sich habe [...]“.516 Mit den ausgewerteten Quellen geht Happel an keiner Stelle ins Gericht. Statt Widersprüche in den Erkenntnissen zu problematisieren, bedeutet die Popularisierung eine Pluralisierung des Wissens insofern, als Happel divergierende Angaben überwiegend wertungslos und listenartig präsentiert – so im Hinblick auf die
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und Sternen“ – hier erscheint die Erde nur mehr als „Punkt“ im Universum: „Sehet dann an den gar kleinen Punct / umb welchen sich so mannich tusend mahl tausend Menschen zu tode schlagen. O wie lächerlich sind der Menschen Gräntze!, sagt Seneca [...] Betrachtet doch / o liebe Christen / was auff diesem Punct täglich vor gräuliche Sünden bekangen werden [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 48, S. 377. Ebd., Nr. 1, S. 8. „Ach wer kan des HERRN Wercke gnugsahm ergründen! ER hat alles wohl gemacht / was ER gemacht hat: Seine Allmacht und Vorsehung ist unbegreifflich / unerforschlich und unedlich“. Ebd. Über die Fixsterne heißt es: „Mit einem Wort / ihre Höhe ist zu groß / sonsten würde man durch die Ferngläser ohne Zweiffel noch viel / ja wohl gar verschiedene Wandelsterne und Planeten unter ihnen entdecken / davon wir wohl / so lange die Welt stehet / nichts gewisses zu vernehmen haben / dann wer hätte von den Alten wohl gedacht / dass Jupiter und andere auch ihre (so zu sagen) Unter- und Affter-Planeten hätten?“. Ebd., Relation „Von den Fix-Sternen“, Nr. 2, S. 12. Ebd., Relation „Mars“, Nr. 2, S. 10. Ebd.
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vermutete Entfernung der Fixsterne von der Erde, wo unter anderem die Angaben von Galilei, Kopernikus und Kepler verglichen werden,517 oder auch bezüglich der Größe der Fixsterne, wo sich Happel erneut auf die Autorität von Hevelius stützt.518 Die aus der Selenographia entlehnte FixsternTabelle erhöht schon durch ihr Datenmaterial den Anschein, dass die Zahlenwelten der ,neuen’ Wissenschaft auch für eine breitere Öffentlichkeit eine wie auch immer geartete Signifikanz besitzen. Bezeichnend für Happels Kompilationsstil ist einerseits, dass er auch auf antikopernikanische Quellen zurückgreift. Darin zeigt sich andererseits jedoch auch das häufig noch undogmatische Miteinander von geo- und heliozentrischen Vorstellungen im Barock. So stützen sich die Relationes etwa auf den Jesuiten Anton Maria Schyrleus de Rheita (1597-1660), der trotz geozentrischer Haltung als einer der ersten mit einem Teleskop nach dem Konstruktionsplan Keplers experimentierte.519 Auf Rheita, dessen Schüler, den seinerzeit berühmten Augsburger Teleskop-Konstrukteur Johann Wiesel520 (1583-1662), Kepler und andere kommt Happel um 1684 im Artikel „Das edle Gesicht-Glaß oder Perspektiv“521 zu sprechen. Anders als in den vorigen Relationen geht es dem Kompilator hier nicht mehr um die Details zeit517 518
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Die Entfernungsangaben im Einzelnen: „Copernici 47439800; [...] Galilei 49832416; [...] Kepleri 142746428“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 2, S. 13. „Ich weiß wohl / was vor einen grossen Nahmen ihm Herr Hevelius / der grosse Mathematicus zu Dantzig / durch seine Himmels-Wissenschafften gemacht / dannenhero trage ich kein Bedencken / sein Urtheil von der Grösse der FixSterne hierbey zu fügen“. Ebd. King: The History of the Telescope, S. 45f. Rheita war kurzzeitig der Lehrer von Wiesel, mit dem er gemeinsam in Augsburg eine der ersten europäischen Produktionsstätten für Teleskope aufbaute; dazu: Keil, Inge: Augustanus Opticus: Johann Wiesel (1583-1662) und 200 Jahre optisches Handwerk in Augsburg, Berlin 2000. Wiesel wird bereits in den 1650er Jahren von Harsdörffer in dessen Erquickstunden erwähnt: „Die IX. Aufgabe. Von den Planeten. Durch die Sterngläser / oder Sternrohr / (Telescopa) welche der Weitberühmte Johann Wiesel zu Augsburg in grosser Vollkommenheit machet / finden sich die Planeten in wunderlichen Gestalten“. Harsdörffer: Erquickstunden, Teil 2, S. 289. In der Rezeptionslinie folgte ihm Martin Zeiller: „Und von des Herren Johann Wiesels / weitberümten Optici in Augsburg / [...] so sich nunmehr in hohem Alter / namlich in dem 75. Jahr befindet / auch folgendes erfunden. I. wie ein gar langes Perspectiv / durch einen besonderen Weg / zu verkürtzen / das es nachhocht unverändert seines objectiv-Glases / in aller guete / und vergrößerung / verbleiben müge [...]“. Zeiller, Martin: Centuria II. Variarum Quaestionum, Oder Das Ander Hundert Fragen / von allerley Materien / und Sachen [...], Ulm 1659, S. 457f. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 5, S. 36f. Auf diesen Artikel von Happel verweisen noch die Grimms in ihrem Deutschen Wörterbuch unter dem Lemma „STERNGLAS, n., fernglas, teleskop, wie fernglas, fernkieker, fernrohr im 17. jh. auftauchend: wann di sternkündigung; [...] die edle erfindung der künstlichen tuborum, stern- und gesichtgläser E. G. HAPPEL relationes (1685) 2, 36b“. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Band 18, Sp. 2494; http://germazope.uni-trier.de:8080/Projekte/DWB.
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genössischer Astronomie. Stattdessen schürt Happel noch einmal allgemein das Bewusstsein für die epochale Bedeutung des Teleskops: „Ich will anitzo nicht weittläufftig außführen / wer der Erfinder derselben gewesen / allermassen dieser Streit biß auff diese Stunde nicht außgemacht / dennoch dürffen wir den Ruhm derer nicht verschweigen / welche es in der Kunst der Fern-Gläser sehr weit gebracht / worunter am meisten bekandt sind Johann Baptista Porta, Metus, Cabaeus, Lippersein, Marius, Galiaeus, Keplerus, Scheinerus, Reyta, Septala, Mattmüller, Toricellus-Magnan, Divinus, Wiselius, Cassinus, Gottignies und viel andere / welche alle darumb geeiffert / wer das beste und gröste Fern-Glaß verfärtigen könne. Daher findet man jetzo Tubos von 24 / 34 / ja 60 Fuß“.522
Im Vertrauen auf die menschliche ,Künstlichkeit’ spekuliert Happel, ob selbst 1000 Fuß lange „Stern-Rohr[e]“523 möglich seien und greift ohne Nennung der Quelle auf die erste Ausgabe der Philosophical Transactions zurück.524 Gegen 1665 wurde das Journal zum Forum eines heftigen Gelehrtenstreits zwischen dem französischen Astronom Adrien Auzout (16221691), Gründungsmitglied der Académie des Sciences, und Robert Hooke, der sich auch mit der Teleskopie befasste. Happel bündelt die Debatte über die Effektivität längerer Fernrohre mit einer Parteinahme für Hooke – nicht weiter verwunderlich, stellt man die hohe Meinung Happels über Hooke (siehe unten) in Rechnung: „[...] die Länge können denen Perspektiven [so Auzout, F.S.] keinen Werth noch Krafft verursachen / sonder dieselbe vielmehr verringern [...]. Ihm begegnet aber Herr Hookius, und bescheinigt sein Vorgehen auffs beste / nehmlich: es werde gar wohl möglich seyn / die Stern-Röhre bis auf 1000 / ja auf 10000 Schuh / zu erstrecken“.525
Der anschließende Artikel bleibt im Kontext und widmet sich „Hevelii Fern-Glaß“,526 für den Happel – diesmal unter exakter bibliographischer Angabe – die sechste Ausgabe der Philosophical Transactions zur Hand nimmt. Gegenstand ist ein im Gelehrtenjournal abgedruckter Brief von Hevelius an die Royal Society,527 in dem dieser berichtet, eine neue Methode zur Produk522 523 524 525 526 527
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Der betrogene äusserliche Sinn“, Nr. 5, S. 36. Ebd., Relation „Das edle Gesichts-Glaß oder Perspectiv“. Monsieur Auzout’s Judgment Touching the Apertures of Object-Glasses [...] in Respect of the Several Lengths of Telescopes, in: Philosophical Transactions, Volume 1, 1665, S. 55-56. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 5, S. 36. Ebd., Relation „Hevelii Fern-Glaß“, S. 37f. „Herr Hevelius hat / wie in den Acten des Novemb. 1665 der Königl. Engl. Societät gedacht wird [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Hevelii Fern-Glaß“, Nr. 5, S. 37f.
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tion ausgefeilter „Optick glasses“528 gefunden zu haben. Diese wolle er in einem demnächst zu veröffentlichenden Werk mit dem Titel Celestial Machine näher ausführen. Bemerkenswert für Happels Vorgehen ist, dass er nicht nur eine Übersetzung des englischen Originalartikels liefert. Die eigene Transferleistung besteht vielmehr darin, in einer Art Literaturbericht dort anzuknüpfen, wo Hevelius geendet hatte. Beruhend auf dessen Publikationsankündigung fasst Happel zusammen: „Solches statliche Werck / nemlich die Machina, ist nunmehr auch vor etliche Jahren der Welt schon vor Augen gestellet [...]. In welchem dieser Autor schier am Ende des Wercks seine Zusage erfüllet / und so wohl von Verfertigung als Schleiffung der Hyperbolischen Linsen milden Unterricht ertheilet“.529
Wie sind die Leistungen und Charakteristiken von Happels Vermittlung der der Astronomie zu resümieren? Sicherlich bot der Auftakt des Periodikums im Vergleich zu seinen Quellen nur einen flüchtigen Einblick in astronomisch-kosmologische Zusammenhänge. Zwar ergänzt Happel die Relationes im Verlauf der Jahre noch um etliche astronomiebezogene Artikel, doch konnte er in dem, was er dem „Liebhaber der Stern-Schau“530 bietet, mit keiner ausgewachsenen Kosmographie konkurrieren; ein Befund jedoch, der angesichts teurer und intellektuell nur schwer zugänglicher Kosmographien auch als Popularisierungsleistung einzustufen ist. Happel nahm die Herausforderung an, die auch in den 1680er Jahren noch maßgeblichen Werke von Kircher, Guericke, Hevelius und anderen für eine Kurzbeschreibung des Kosmos in Ausschnitten zu verwerten. Gerade mit dem Rekurs auf Hevelius stand er im volkssprachlichen Bereich aber nicht an erster Stelle. Für die Geschichte der ,populären Astronomie’ ist hier fraglos das von der Forschung bislang nicht beachtete eröffnete Lust-Haus Der Ober- und Nieder-Welt Franciscis bedeutsam, zumal dieser in der Vorrede des mächtigen Folio-Bandes explizite Popularisierungsabsichten formuliert.531 Das wenige Jahre vor den Relationes publizierte und Hevelius gewidmete Werk532 ist in der für Francisci typischen Dialogstruktur verfasst. Wer sich anhand eines enzyklopädischen Handbuchs über die Astronomie informieren wollte, konnte dies im 1600 528 529 530 531
532
Philosophical Transactions, Nr. VI, 1665, S. 98f. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 5, S. 37. Ebd., Relation „Noch andere köstliche Fern-Gläser“, S. 38. „Und diß ist eigentlich das rechte Ziel / worauf dieses von mir ausgefertigte Lust-Haus den Christlichen Leser anzulocken wünschet. Massen ihm dasselbe nicht eben solche subtile Sachen / die allein ein Stern-Weiser; sondern mehrenteils solche / die auch wol einer / der in der Stern-Kunst ungegründet / fassen kan / zu schauen gibt“. Francisci: Das eröffnete Lust-Haus, Vorrede, Bl. ):( ):(iir. Der „[...] in dieser edlen Wissenschafft zu unserer Zeit eine rechte Sonne sey“. Ebd., Widmung, Bl. ):( iiv.
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Seiten umfassenden Lust-Haus in erschöpfender Intensität tun – während sich die Abhandlung über die Sonne etwa in den Relationes auf wenige Seiten beschränkt, widmet ihr Francisci rund 250 großformatige Seiten.533 Die Verwertungsketten der Polyhistoren zeigen sich einmal mehr darin, dass sich Francisci auch auf den ersten Teil der Erquickstunden von Georg Philipp Harsdörffer stützt,534 die ebenso von den „Fern- und Stern-Gläsern“535 handeln – wenngleich nicht in annähernd vergleichbarer Ausführlichkeit wie in der Kompilation von Francisci. Vergleicht man den astronomischen Teil der Erquickstunden mit den Relationes, zeigt sich bei Happel eine stärkere Sensibilität für den epistemologischen Stellenwert optischer Medien; bei Harsdörffer ist nur vage von „gewisse[n] instrumenta“536 die Rede. Ein analoges Element zwischen Harsdörffer, Francisci und Happel ist hingegen erneut der Bezug auf Athanasius Kircher. Wie Francisci und Happel nach ihm, folgt Harsdörffer Kirchers Vorbild einer vergleichenden Diskussion des kopernikanischen und tychonischen Weltsystems, die auch eine grafische Gegenüberstellung537 einschließt. Ganz anders als Happel kommt Harsdörffer dabei jedoch zum Schluss, dass die jüngere Pluralität kosmologischer Ansichten nicht als Ausdruck eines Erkenntnisfortschritts zu werten sei. Vielmehr seien „[...] die unterschiedlichen widerigen Meinungen der Schwachheit menschlichen Verstandes beyzumessen [...]“.538 Gleichwohl ist denkbar, dass die kompilatorischen Vorarbeiten von Harsdörffer und Francisci Happel dazu motivierten, sein Wochenblatt mit dem Astronomie-Thema beginnen zu lassen. Auch wenn das Ergebnis nicht mehr ist als ein überwiegend unkritisches Durchstreifen der Quellen, dürfte es Happel doch geschafft haben, ein ‚neues’ Bild vom Kosmos bei der Leserschaft zu verankern. Auf diese Weise verbreitete ein populäres Medium den Status der Astronomie als „zeitübli533 534 535 536
537
538
Francisci: Das eröffnete Lust-Haus, S. 652-905. „Im 7. Theil der Erquickst.Probl.IV“. Ebd., S. 662. Harsdörffer: Erquickstunden, Teil 2, S. 203. „[...] so ist es wieder aller Astronomorum Erfahrenheit / welche aus ihren observationibus durch gewisse instrumenta erfahren / dass die himlischen Cörper an ihrem alten Ort anzutreffen“. Ebd., S. 313. Ein auf schematischen Darstellungen basierender Vergleich der verschiedenen kosmologischen Systeme ist Teil von Happels Kosmographie. Hier heißt es im Sinne eines ‚kosmologischen Pluralismus’: „Eine jede Meynung hat ihre wol-gegründete Rationes, welche an ihrem Ort nicht ohne sonderbahres Vergnügen mögen nachgeschlagen / und gelesen werden. Ich will zu unserm Vorhaben ihre Meynung entwerffen / mit Darstellung eines jeden Systematis. Solchem nach folget allhier die Ordnung der Planeten nach deß Copernicis Meynung. Hier gehört die Figur A“. Happel: Mundus Mirabilis Tripartitus, Band 1, S. 17ff. Harsdörffer: Erquickstunden, Teil 2, S. 289.
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che Lieblingsbeschäftigung“539 auch jenseits kleinerer akademischer Kreise. Deutlich vermitteln die Relationes, dass sich mit den technischen Medien fundamental neue Wissensansprüche und –potentiale verbinden. Um den Stellenwert der mathematischen Astronomie seinen Lesern gegenüber plausibel zu machen, bietet Happel zum Auftakt ein beachtliches Niveau – gerade im Vergleich mit den wenigen anderen deutschen Periodika der Zeit, in denen das Thema kaum eine Rolle spielt. Wie gesehen, resultiert aus der Begeisterung für Vermessungsfragen aber keine rein ,wissenschaftliche’ Weltdeutung im modernen Sinn. Die Astronomie wird von Happel vielmehr seiner auf Gott ausgerichteten ,Teleologie des Wissens’ untergeordnet. Insofern produzieren die neuen Beobachtungsinstrumente des 17. Jahrhunderts in ihrer populären Vermittlung nicht nur ein neues Bild der Welt und des Kosmos, sondern immer auch erneuerte Gotteserkenntnis. Happel erachtet das Erklärungspotential der ,neuen’ Wissenschaft angesichts der unergründlichen Wunder Gottes als begrenzt erachtet und setzt auf religiöse Demut – eine Perspektive, die auch unter den physikotheologischen Akteuren der ,neuen’ Wissenschaft nicht selten war.540 Allerdings kann auch in den Relationes nicht mehr jede neue Beobachtung der zeitgenössischen Astronomie in alte Denkschemata eingepasst werden: Mit der Verabschiedung des geozentrischen Kosmos im populären Rahmen ist zwangsläufig klar, dass der Mensch und die Erde ihre privilegierte Stellung eingebüßt haben. 7.3.2. „Die neulich erfundene Microscopia oder Vergrösserungs-Gläser“ Ebenso nachdrücklich wie das Teleskop stilisiert Happel das Mikroskop als „Weltanschauungs-Instrument“541. Hier verlassen die Relationes durch eine originelle Geschäftsidee letztlich sogar die reine Welt des Textes: Happel bot über Wierings Laden an der Hamburger Börse ein eigens hergestelltes, einfaches ,Taschenmikroskop’ zum Verkauf an. Dieser Handel mit noch weitgehend exklusiven Instrumenten der Wissenschaft verdeutlicht mehr als das Teleskop die Dimension der Popularisierung. Im weiteren Kontext rückt Happels umfassende Thematisierung des Mikroskops damit auf eine Stufe mit anderen optischen Vergnügungsmedien der Zeit, die jedoch nicht zugleich wissenschaftliche Geräte waren – etwa der ab 1677 nachweisbare 539
540 541
Hammerstein, Notker: Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeitalters, in: Ders. (Hrsg.) Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band 1, 15.-17. Jahrhundert, München 1996, S. 57-99, hier S. 88. So etwa Robert Boyle (1627-1691), Mitgründer der Royal Society; siehe: Krafft, Fritz: Robert Boyle, in: Ders.: Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Portrait, S. 95-98, hier S. 95. Böhme: Die Metaphysik der Erscheinungen, S. 374.
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,Guckkasten’, der ebenso winzige (wenn auch synthetische) Welten erzeugte wie das Mikroskop und sich wie dieses noch um 1800 großer Beliebtheit erfreute.542 Die Sichtbarmachung eines zweiten, unendlich kleinen Kosmos markiert in den Relationes damit eine noch stärkere Schnittstelle zwischen Gelehrten- und Laiendiskurs als die Astronomie. Happel führt das Mikroskopie-Thema erstmals um 1683 in einer längeren Serie von Artikeln ein. Das Profil der Quellengrundlage verhält sich analog zu dem des Astronomie-Diskurses: Die Referenzwerke sind nicht mehr die jüngsten, doch handelt es sich wiederum um Schlüsseltexte mit längerer ,Halbwertszeit’, deren Autoren zum Teil die gleichen waren wie im Diskurs der „Himmels-Wissenschafft“. Das liegt nicht nur an Happels Tendenz zum zeitsparenden Kompilieren, sondern auch daran, dass sich, wie bereits angedeutet, führende Protagonisten der Teleskopie seit Galilei ebenso für das Mikroskop interessierten. Auch hier ist Athanasius Kircher nicht wegzudenken. Dieser hatte bereits in den 1620er Jahren ein Teleskop erworben; wenig später kam ein noch relativ primitives Mikroskop hinzu. In seiner der Optik gewidmeten Ars Magna Lucis et umbrae in mundo (1646) bringt Kircher eines der ersten Zeugnisse für die enthusiastische Einschätzung des Mikroskops im Hinblick auf dessen wissenschaftliche Bedeutung. Über den sich in banalen Alltagsobjekten überraschend eröffnenden Mikrokosmos heißt es: „Gewiss hat man von vielen Dingen bis heute geglaubt, sie entbehren völlig des Lebens und der Seele, während das Mikroskop zeigt, dass sie dennoch lebendig sind. Wer hätte glauben können, dass der Essig und die Milch von einer zahllosen Menge Würmer wimmeln, wenn nicht die Kunst des Mikroskopierens dies gerade zur größten Verwunderung aller gelehrt hätte“.543
An die Hochschätzung dieser „Kunst des Mikroskopierens“ koppelt sich in den Relationes erneut der Zusammenhang von Wunder, Schöpfungslob und Neugier und eine Aktualisierung des Natur-Kunst-Diskurses544 (siehe Kapitel 7.2.1.); dieser wird von Happel konkretisiert, indem er zunächst einer im Astronomie-Kontext schon etablierten Argumentation folgt. So macht er im 542 543 544
Ko!enina, Alexander: Das bewaffnete Auge. Zur poetischen Metaphorik von Mikroskop und Guckkasten, in: metaphorik.de, 11/2006, S. 53-80, hier S. 58f. Zitiert nach Böhme: Metaphysik der Erscheinungen, S. 372f. Hier widersprechen die Ausführungen folgendem Befund aus der Studie von Egenhoff: „[D]iese Passagen [u.a. die der Kompilation wissenschaftlicher Werke über die Mikroskopie, F.S.] sind bemerkenswert nicht unbedingt aufgrund ihrer Thematik an sich, sondern wegen des relativ hohen, eher einem wissenschaftlichen Fachbuch angemessenen Anspruchs, den diese an ihre Leserschaft stellen“. Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 227. Es geht vielmehr gerade um den zentralen Stellenwert, den die Mikroskopie-Thematik und ihr symbolisches Instrument in der Wissenschafts- und Unterhaltungskultur des 17. Jahrhunderts inne hatten.
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eröffnenden Artikel „Das bewaffnete Auge / oder viele unsern Vorfahren jederzeit unbekandt gebliebene / nunmehr aber / vermittelst der Vergrösserungs-Gläser / gefundene merkwürdige Dinge“545 bereits im Titel die ,epistemologische Wende’ durch das neue Medium klar. Wie schon das Teleskop emanzipiert sich das Mikroskop andererseits jedoch nicht von der religiösen Weltsicht, da der Auftakt des Textes die natürliche Schwäche des menschlichen Sehsinns und seine künstliche Verstärkung durch Sehhilfen in einen biblischen Deutungshorizont einschreibt. Wie Uta Egenhoff nachweisen konnte,546 kopiert Happel diese Perspektive allerdings zu guten Teilen unter Verschweigen der Quelle aus Johann Heinrich Seyfrieds (1640-1715) Mirabilien-Kompilation Medulla Mirabilium Naturae (1674); soweit zu sehen, widmet sie als erstes deutschsprachiges Werk dem Mikroskop erhöhte Aufmerksamkeit. Mit Seyfried – der seinerseits das Motiv der durch den Sündenfall geschwächten Sinne möglicherweise bereits bei Harsdörffer entlehnte547 – führt Happel die Defizite menschlichen Sehvermögens auf den Sündenfall zurück und lässt keinen Zweifel daran, welchem Erkennen das Augenlicht dient. Der Sündenfall habe „[...] nicht allein an dem innerlichen Erkäntniß verfinstert / sondern auch an seinem Gesichte und allen andern äuserlichen Sinnen solchen Mangel und Abgang empfindet / daß er [...] des allmächtigen Schöpfers unaußsprechlichgeschaffene Weißheit weder am gantzen erkennen / noch an dessen verschiedenen Theilen warhafftig kann beaugen [...]“.548
Dieser Punkt bildet die Vorlage für den anschließenden Alt-Neu-Diskurs. Hier grenzt Happel einen an die neuen Instrumente gekoppelten ‚optischen’ Erkenntnisoptimismus der Gegenwart vom nicht-gesicherten Wissen voriger Zeiten ab. Denn durch die Schwäche des „Gesichts“ sei, so heißt es weiter, „[...] auch die fernere Ausbreitung und Erkundigung natürlicher Wissenschaften hierunter gewisslich sehr gehemet worden sind / daß viele sonst hochgelehrte 545
546 547
548
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 9, S. 65ff. Alexander Ko!enina verortet die früheste Verwendung der optischen Metapher vom „Bewaffneten Auge“ allerdings erst im 18. Jahrhundert (Ko!enina: Das bewaffnete Auge, S. 58). Insofern dürfte Happels ArtikelTitel den ersten Nachweis der Metapher überhaupt darstellen. Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 228. In dessen Erquickstunden „Fünffter Theil / darinnen XXXI. Auffgaben und Fragen / die Opticam oder Sehkunst betreffend“ heißt es: „Wann wir mit Fleiß betrachten / wer der Menschen vor dem Fall gewest / un was er hernach worden: Was er gehabt / und wieder verlohren / sollten wir billich seufzen / und mit jenem gelehrten Mann klagen / dass uns allerlei Gebrechen / Irrthumen / Fehler und Mangel angeboren / auch wir deswegen nichts leichter thun können / als mannigfaltig irren und fehlen [...]“. Harsdörffer: Erquickstunden, S. 249. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 9, S. 65.
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Leute ihre Philosophiam öffters nur auff ein blosses Errathen gründen müssen / da jetzund viel verborgene Dinge nicht allein erforschet / sondern auch mit den Augen gesehen / und durch die Sinnen können begriffen werden“.549
Erst die ,Bewaffnung der Sinne’ habe den bedeutenden Schritt ermöglicht, sich aus eigener Kraft aus dem Zustand der Unvollkommenheit zu befreien. Bemerkenswerterweise erwähnt Happel nicht, ob dieser Emanzipationsakt dank neuer Medien der selbst verschuldeten Schwäche der Sinnesorgane unzulässig zuwiderlaufe. Stattdessen heißt es begeistert im gehörten Tonfall Kirchers550 über die Entdeckung eines winzigen Kosmos: „Wie nun in der Nachwelt man sich bemühet / diesen Fehler und Mangel zu verbessern / und die Würckung der Sinnen / insonderheit des Gesichts [...] mehrers zu schärffen / und zu höherer Vollkommenheit zu bringen; Also hat man endlich die Augen-Gläser erfunden / derer dann fürnehmlich zweyerley / die eigene Gattung nennet man Telescopia, Fern-Gläser / oder Perspectiven [...] Die andere Gattung wird insgeheim genandt Microscopium [...] und dergleichen noch viele herrliche herrliche Erfindungen mehr [...]. Als wird uns gleichsamb dadurch eine neue Welt entdecket. Die Erde zeuget uns solche seltsame Sachen / davon wir vormahlen nimmer gehöret“.551
Und noch einmal verschärfend heißt es zur qualitativen Diskrepanz von ‚neuen’ und ‚alten’ Verfahren der Wissensgewinnung: „Hätten unsere Vorfahren solche Hülffe gehabt / O wie weit würde ihre Fleiß in der Nachforschung durchgedrungen seyn? Aber diesselben musten sich leyder mit argumentiren / speculiren / philosophirn und raisonniren behelfen: waren demnach so viel übeler daran [...] nemlich sie musten glauben / was sie nicht sahen / wir aber können wohl versichert seyn / dessen / was mir mit unsern Augen sehen“.552
Für die Verbreitung dieser empirischen Weltsicht markiert jedoch auch Seyfrieds Mirabilium Naturae nicht die erste Station. Mit Blick auf die intertextuellen Bezüge und die Durchsetzung der Metapher vom ‚bewaffneten Auge’ ist vielmehr entscheidend, dass sowohl Seyfried und mehr noch Happel Hauptpassagen aus der Micrographia von Robert Hooke aufgreifen. Zwar hat549 550
551 552
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 9, S. 65. Es ist naheliegend, dass sich Happel hier nicht nur auf Seyfried als Quelle, sondern auch auf Passagen aus Kirchers Ars Magna und Mundus Subterraneus stützte. Anders als Seyfried wird Kircher bibliographisch genannt, zudem erwähnt nach Kircher auch Happel den mikroskopierten Essig: „In dem Eßig / der doch aller Fäulung widerstehen solle / kan durch ein Microscopium (Vergrösserungs Glaß) wargenommen werden / daß eine Arth Würmer / wie Schlangen gestaltet / darinnen im Zirkul herumb fahren“. Ebd., S. 61. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67.
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ten schon andere vor Hooke über das Mikroskop publiziert, erst mit der Micrographia wurde das neue Instrument jedoch auch für ein allgemeines Publikum zu einer leicht fasslichen Attraktion.553 So notierte etwa Samuel Pepys (1633-1703) 1665 in seinem Tagebuch, die gerade erst erschienene Micrographia sei „[...] the most ingenious booke that ever I read in my life“.554 Insbesondere die über sechzig, von Hooke selbst kunstvoll ausgearbeiteten Kupferstiche mikroskopierter Objekte rechtfertigen den Status als eines der „[...] greatest books of illustrated natural history [...]“555 und erzeugen ein dramatisches Bild der ,neuen’ Wissenschaft und ihrer Objekte.556 Die eingangs zitierte Vorrede der Micrographia liest sich wie eine Programmschrift der „experimental Philosophy“.557 In enthusiastischem Ton umreißt Hooke die Leistungen von Teleskop und Mikroskop: „By the means of the Telescopes, there is nothing so far distant but may be represented to our view; and by the help of Microscopes, there is nothing so small, as to escape our inquiry; hence there is a New World discovered to the understanding“.558 Allerdings driften auch bei Hooke christliche und wissenschaftliche Weltsicht noch nicht auseinander, weil die fortschreitende Naturerkenntnis durch immer feinere Instrumente dem Lob der Schöpfung untergeordnet ist.559 Viel deutlicher als Seyfried versteht sich Happel als ein Popularisator von Hooke. Da dieser von Seyfried nur indirekt erwähnt wird, dürfte Happel das Verdienst zuzuschreiben sein, dass er rund sechzehn Jahre nach dem Erscheinen der Micrographia Teile des Werkes erstmals ins Deutsche überträgt und sich auf dieses weit tiefer einlässt als vorige Quellen.560 Die Aufbereitung für das periodische Format wurde schon durch die Struktur der Micro553 554 555 556
557 558 559
560
Daston / Park: Introduction. The Age of the New, in: Dies. (Hrsg.): The Cambridge History of Science, S. 465. Zitiert nach: Jardine, Lisa: Ingenious Pursuits. Building the Scientific Revolution, London 1999, S. 42. Freedberg, David: The Eye of the Lynx. Galileo, His Friends and the Beginnings of Modern Natural History, Chicago 2002, S. 397. Chris Evans und Richard Marr erheben in Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment die Illustrationen von Hooke einmal mehr zum Sinnbild des Wunderbaren in der Frühen Neuzeit: „Turning to that locus classicus of early modern wonder – the engraved representations of magnified natural objects in Hooke’s Micrographia – we find that the marveling engendered by the new visible worlds discovered to the understanding“. Evans / Marr: Introduction, in: Dies. (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 5. Hooke: Micrographia, preface, Bl. 2r. Ebd., Bl. 2v. „So that ’tis not unlikely, but that the meliorating of the Telescopes will afford as great a variety of New Discoveries in the Heavens, as better Microscopes would amont small terrestrial Bodies, and both would give us infinite caus, more and more to admire the omnipotence of the Creator“. Ebd., S. 242. Siehe auch: Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 229.
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graphia begünstigt: Hooke fragmentiert seinen Text in sechzig „Observations“, jeweils distinktive „Curiositäten“, die meist nicht länger als wenige Seiten sind. Sein zentrales Anliegen der Popularisierung von Hooke deutet Happel im Artikel „Der Schimmel und dessen Abriß / wie ihn Herr Hokius vermittelst des Microscopii beschrieben“561 an. Indem Happel die Micrographia gegenüber namentlich nicht genannten anderen Werken hervorhebt, tritt der ,Journalist’ indirekt auch in die Rolle des Rezensenten: „Es haben zwar viel wackere Leute von dieser Materie [dem Mikroskop, F.S.] verschiedene Sachen geschrieben / aber es hats noch kein einziger von allen zuvor getan dem sehr emsigen Herrn Hokio / welcher ein überaus wackeres Buch von dem Microscopio herausgegeben [...]“.562 Denn allein Hookes Studien dürften, so Happel weiter, als „tiefsinnige Nachforschungen“563 gelten. Von den „Observations“ der Micrographia wählt Happel willkürlich elf aus, wobei mit Blick auf die insgesamt sieben kopierten Illustrationen zunächst bemerkenswert ist, dass das Nachstechen der hochwertigen Vorlagen nicht ohne Qualitätsverlust ablief: Während Hooke sensationell detailfreudige Kupferstiche lieferte, mussten sich die Leser von Happels Periodikum mit einfacheren Holzschnitten zufrieden geben, die die Wirkung der Originale gleichwohl bewahrten; zudem waren sie weit schneller reproduzierbar als die Vorlagen. Dass für die Relationes eine Neuformatierung des Bildmaterials vorgenommen werden musste, lässt Happel auch nicht unerwähnt. In der ergänzenden Bildüberschrift der „Abbildung einer durch ein Microscopium observirten Lauß“ (Abb. 30) kommentiert er: „Der günstige Leser wird hierbey herinnert / daß angeührter Hr. Hok diese auffm Rücken liegende Lauß auff anderthalb Werckschuh groß befunden und so groß abgebildet / weil aber die Figur zu unserem Zweck zu weitläufftig fallen wollte / haben wir es bey dieser Grösse belassen / woran gleichfalls alles gar genau kan betrachtet werden“.564
Entsprechend begründet Happel eine vorläufige Unterbrechung des Mikroskopie-Diskurses wenige Artikel später mit den schlichten Verzögerungen im Produktionsprozess – so könnten „[...] die hierzu benöthigte Figuren nicht so bald [...] verfertiget werden“.565 Mit Blick auf die beschriebenen und abgebildeten Objekte sind zwei Punkte entscheidend: Erstens folgt Happel 561 562 563 564 565
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Der Schimmel und dessen Abriß / wie ihn Hr. Hokius vermittelst des Microscopii beschrieben“, Nr. 13, S. 99. Ebd. Ebd. Ebd., Nr. 9, Stich zwischen S. 66 und 67. Ebd., Relation „Abbildung eines von Hn. Hokio durchs Vergrösserungs-Glaß beschaueten abgeschnittenen Stück Katzen Haares“, Nr. 10, S. 75.
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Hooke darin, den Mikrokosmos des Alltäglichen zum Wunder zu erheben. Hookes Illustrationen versetzten die Zeitgenossen auch deswegen ins Staunen, weil sie die anatomische Komplexität von Lebewesen vor Augen führten, die zuvor als primitiv gebaut galten, etwa die Laus oder der Floh. So habe doch niemand damit gerechnet, bemerkt Happel, „[...] daß die Fliegen und alles fliegende Ungezieffer würckliche Augen haben“;566 nach der Micrographia galten auch diese als ,künstlich’. Bezüglich der Beurteilung einer mikroskopierten Laus folgt Happel der Vorlage von Hooke nahezu wortgetreu, er akzentuiert jedoch den Widerspruch von „Schönheit“ des Tieres und seiner Nutzlosigkeit noch deutlicher als seine Quelle: „Die Stärke und Schönheit dieses Thierleins / unangesehen es den Menschen viel Unangelegenheit machet / ist werth / dasselbe zu beschreiben“.567 Bemerkenswerterweise exzerpiert Happel zudem auch jene zentrale „Observation“ einer Nadelspitze, über die Hooke den in anderen Diskursen aufgelösten Gegensatz von Kunst und Natur wieder aktiviert – indem er eine Kluft von göttlicher und menschlicher Schaffenskraft annimmt: Nicht mehr das von Menschenhand Geschaffene wirkt vollkommen, sondern jene zuvor für primitiv erachteten Wesen. Happels Transferleistung geht hier erneut über eine bloße Übersetzung hinaus; stattdessen komprimiert er die längere Vorlage auf ihre zentralen Befunde. So sei das Mikroskop fähig, selbst die größten Selbstverständlichkeiten ‚unbewaffneter’ Wahrnehmung als Irrtümer zu entlarven, etwa die Meinung, dass die Spitze einer Nadel „[...] gemeiniglich für den allersubtilesten Punct gerechnet [...]“568 werden kann. Hookes umfassende Folgerung über das ungleiche Verhältnis von menschlicher und göttlicher Kreativität angesichts einer unter dem Mikroskop von tiefen Zerklüftungen durchzogenen Nadelspitze führt Happel zu einer kürzeren induktiven Einsicht: „So gar nicht genau ist es mit allem dem / was die Kunst herfür bringet / beschaffen / auch in den allernettesten und subtilsten Dingen / daß wenn solche durch ein genauer Instrument / als damit sie gemacht worden / untersuchet
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Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Gestalt der Fliegen-Füsse und Augen“, Nr. 14, S. 106. Auch in den Curious Relations von 1739 ist noch – erwartungsgemäß – in einem eigenen Abschnitt „Of Spectacles, Microscopes, Optick-Glasses“ und ihren wundervollen Effekte die Rede: „What a wonderful Animal a Flea or Lous is, may better be seen thro’ these Glasses, than they can be shewn any other way“. Curious Relations, Vol. 1, 1739, S. 94. Ebd., Relation „Erscheinung des Flohs im Microscopio / nebst dessen Abbildung / genommen aus Hokio“, Nr. 10, S. 73. Die Originalpassage in der „Observ. LIII. Of a Flea“ lautet: „The strength and beauty of this small creature, had it no other relations at all to man, would deserve a description“. Hooke: Micrographia, S. 210. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Abbildung und Beschreibung einer durchs Vergrößerungs-Glaß gesehenen Nadel-Spitze“, Nr. 13, S. 99.
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werden / je mehr werden wir an ihre Gestalt ihre unvollkommene Schönheit ersehen“.569
Hier, aber auch an anderen Stellen, in denen Happel aus „[...] ruhmgedachte[m] Herr Hoock [...]“570 wortgetreu übersetzt,571 zeigt sich vor allem das sprachlich-stilistische Vermögen des Kompilators. Happels Teilübersetzungen der Micrographia geben einen relativ authentischen Eindruck von der exzellenten Wissenschaftsprosa Hookes, die den Erfolg des Buches im Original erheblich unterstützte und mit den Illustrationen auch die eigentliche Stärke der Micrographia darstellt: die sprachlich exakte Erfassung des Beobachteten.572 Allerdings lässt sich Hooke jenseits der minutiösen Deskription kaum auf „[...] Fragen nach funktionalen Prozessen oder Ursachen [...]“573 ein. Und so hält sich auch bei Happel der tatsächlich an den Leser gestellte Anspruch in Grenzen.574 Ein anderes Bild ergibt sich für den aus Delft stammenden Antonie van Leeuwenhoek575 (1632-1723), dem zweiten herausragenden Vorreiter der experimentellen Mikroskopie. Denn eher als Hooke – und gleichwohl von diesem inspiriert – trug der akademische Laie Leeuwenhoek ab den 1670er Jahren mit selbst gebauten Mikroskopen entscheidend zu den großen wissenschaftlichen Kontroversen der Zeit bei, so zum bereits lange währenden Streit über die Generativität, der dann auch in den Relationes zumindest ge569
570 571 572 573 574
575
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 13, S. 99. Rund achtzig Jahre nach den Relationes war die spektakulär unebene Nadelspitze im Vergleich zum perfekt geformten ‚natürlichen’ Bienenstachel in der Mikroskopie-Literatur bereits zum Topos geronnen; etwa in Martin Frobenius Ledermüllers Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergetzung: Bestehend, in Ein Hundert nach der Natur gezeichneten und mit Farben erleuchteten Kupfertafeln, Sammt deren Erklärung (Nürnberg 1763): „Es mag eine Nadel noch so glatt [...] seyn, so wird sie doch durch das Vergrösserungsglaß betrachtet, voller Rissen, Gruben und Krümmen erscheinen, und eine sehr grosse Ungleichheit vorstellen [...]. Hält man nun den Stachel einer Biene dagegen, so wird sich der Unterschied zwischen den Werken der Natur und der Kunst noch deutlicher zu Tage legen, und man wird gestehen müssen, daß die Kunst allemal von der Natur weit übertroffen werde“. Ebd., S. 78. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Gestalt der Fliegen-Füssen und Augen“, Nr. 14, S. 106. Die Übereinstimmung im Wortlaut geht so weit, dass Happel in der Übersetzung sogar auf einen Austausch der Personalpronomina verzichtet. „Hooke erfasst die Sache genau, das Sehbild, und lässt diesem die Worte folgen“. Böhme: Metaphysik der Erscheinungen, S. 391. Ebd., S. 389. Hier weiche ich von Egenhoff ab, die einen „[...] relativ hohen, eher einem wissenschaftlichen Fachbuch angemessenen Anspruch“ konstatiert. Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 227. Biographisches: Krafft, Fritz: Mikroskopisten, in: Ders.: Die wichtigsten Naturwissenschaftler im Portrait, S. 102-103.
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streift wird: Leeuwenhoek meinte durch die mikroskopische Untersuchung von menschlichen wie tierischen Samen die bereits auf Aristoteles zurückgehende „[...] Urzeugungs-Lehre (De generatione animalium), wonach Lebewesen aus verwesender Materie oder Schlamm entstünden, empirisch widerlegt zu haben“.576 In den Samen wollte Leeuwenhoek von ihm so genannte „Spermatozoen“ entdeckt haben – mikroskopische ‚Wesen’ von denen er behauptete, sie seien bereits vollständige Keime, für die das weibliche Ei nur noch das Aufnahmegefäß darstelle.577 Als sogenannte Präformationslehre konnte sich diese Theorie trotz vehementer Gegenargumente von den ‚Ovulisten’, die die generative Funktion des weiblichen Eies verfochten, bis Mitte des 18. Jahrhunderts behaupten.578 So führt noch die Mikroskopische Gemüthsund Augen-Ergetzung aus dem Jahre 1763 Leeuwenhoek als Quelle an579 und stützt sich dabei auf die ab 1695 erschienenen Arcana naturae detecta (Delft 1695) – das Werk war eine anonym ins Lateinische übersetzte Kompilation der original auf Niederländisch verfassten zweihundert Briefe, die Leeuwenhoek ab den 1670er Jahren an die Royal Society schickte. Diese hatte die Briefe dann in englischer Übersetzung (die Robert Hooke anfertigte) in den Philosophical Transactions abdrucken lassen. Über diesen Vermittlungsschritt wurde Leeuwenhoek schon bald zu einem der regsten Beiträger des Periodikums der Royal Society, die ihn 1680 durch die Aufnahme in ihren Kreis wissenschaftlich adelte.580 Happel hingegen hat für die Relationes vermutlich noch auf die ab 1685 vom Autor selbst besorgte niederländische Ausgabe seiner ‚Sendschreiben’581 zurückgegriffen. Damit machte Happel den Mikroskopisten als einer der ersten auch in einem populär-deutschsprachigen Medium bekannt. 1688 führt Happel in einer Artikelreihe „Die denckwürdige[n] Observationes“582 des „[...] hocherfahrnen Hn. Antoni von Leeuvenhoecks [...]“583 576 577 578 579 580
581
582
Böhme: Metaphysik der Erscheinungen, S. 373. Weiterführend: Ruestow, Edward G.: Leeuwenhoek’s Perception of the Spermatozoa, in: Journal of the History of Biology 16 (1983), S. 185-224. Krafft: Mikroskopisten, S. 103. Zitiert etwa als „Leevenh. Arc. Nat. Tom IV. p.12. Philos. Transact. Num. 106“. Ledermüller: Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergetzung, S. 94. Dass es Leeuwenhoek auf seinem Gebiet zu veritablem Ruhm brachte, zeigt bereits ein längerer Nachruf, den Martin Folkes (1690-1754), späterer Präsident der Royal Society, 1732 zusammen mit einem Bericht über Leeuwenhoeks Mikroskope in den Philosophical Transcations veröffentlichte: Some Account of Mr. Leeuwenhoek’s Curious Microscopes, Lately Presented to the Royal Society, in: Philosophical Transactions, Volume 32, 1722 / 1723, S. 446-453. Leeuwenhoek, Antoni van: Ontledingen en ontdekkingen van de onsigtbare verborgentheden; vervat in verscheyde brieven, geschreven aan de wijd-vermaarde Koninklijke wetenschap-soekende societeit tot London in Engeland, Leiden 1685ff. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 27, S. 212.
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an. Schon der Einstieg spielt mit der Wiedergabe von einem der Briefe Leeuwenhoeks an die Royal Society prompt auf die sensationellen Szenen mikroskopierten Lebens an, mit denen Leeuwenhoek von sich Reden machte: „Vorbeschriebener Hr. A. von Leeuvvenhoek schreibet de dato Delfft den 21. Febr. An. 1679 an die Königl. Englische Societät zu Londen / daß er die so genante Milch / (Lactes) oder das inwendige des Leibes auß einem Cabeljau durch sein curieuses Microscopium besichtiget [...] und befunden / daß in jedem Körnlein einer Sand-grösse von solcher Milch [...] mehr als 10000 lebendiger kleine Thierlein gefunden [...]“.584
Happel folgt der Begeisterung für die Masse entdeckter Mikroorganismen und lässt sich mit Leeuwenhoek auf Zahlenspiele und spekulative Mengenrelationen ein, wobei ihm diese noch Anlass geben, in einem demütigen Nachtrag erneut die Macht des Schöpfers zu preisen: „Befindet sichs / daß der Thierlein in einer Milch von einem Cabeljau hundert und sechs und dreyssig tausend / sechshundert und fünffzehen Millionen mehr sind / als der lebendigen Menschen auf dem gantzen Erdboden / oder daß 10 mahl mehr Thierlein auff Erden / als Menschen. O du unendliche Allmacht Gottes!“585
„Noch andere Observationes“586 schildern mikroskopierte Hoden und Samenflüssigkeiten. Es ist die unbändige Neugier und Verwunderung des Forschers und dessen sorgfältiges Vorgehen in den einzelnen Beobachtungsschritten, die Happel zur Übersetzung von Leeuwenhoek animiert haben dürften. Wie in vielen anderen Relationen auch, verzichtet Happel im Übersetzungsprozess sogar auf eine Umwandlung der Personalpronomen: „Darauff habe ich Begierde überkommen / daß Männliche Semen von Vögeln zu observiren [...] und [fand] darinn eine solche unglaubliche Menge / daß ich darüber erstarret stunde / und ich wolte wohl behaupten / daß in einem Theil davon / eines Sands groß / mehr als fünffzig Tausend solcher lebendiger Thierlein enthalten / deren Gestald fast gleichete den Strohm-Aalen / sie machten eine ungemeine grosse Bewegung / und drungen an etlichen Orthen so fest aneinander / daß sie einen duncklen Cörper verursachten [...]. Mit einem Wort / diese Thierlein erweckten eine solche Verwunderung bey mir / als sonsten etwas jemahlen gethan hatte“.587 583 584 585 586 587
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 27, Relation „Die unglaubliche Zahl kleiner Thierlein auff Erden“, S. 211. Ebd., Relation „Die denkwürdige Observationes“, S. 212. Ebd., S. 214. Ebd., S. 215f. Ebd., S. 215.
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Mit den Details übernimmt Happel auch Leeuwenhoeks Schlussfolgerung eines in den „Spermatozoen“ der Hoden vorgebildeten Lebens. Hier wird das Mikroskop zur Beglaubigungsinstanz der „vernunfftmäßigen“, das heißt empirischen Einsicht: „Hieraus ist Vernunfftmäßig zu schließen / daß die Testiculi zu keinem anderen Ende sind gemacht / als umb sothane Thierlein darinn zu formiren / und selbige so lange darinn zu behalten / biß es Zeit und Gelegenheit gibt / sie außzusenden“.588 Happel erwähnt nicht, dass Leeuwenhoek auch als Instrumentenbauer Wissenschaftsgeschichte schrieb. Er hat zahllose Mikroskope selbst entwickelt und soll hunderte der Instrumente besessen haben.589 Während er von diesen jedoch keines aus der Hand gab,590 schlugen andere, geschäftstüchtige Mikroskopisten und Optiker bereits Kapital aus dem Instrument, von dem noch unklar war, ob es sich als Wissenschafts- oder als ,naturgeschichtliches Unterhaltungsmedium’ durchsetzen würde.591 Durch Verkauf und Handel wurde das Mikroskop zum Gegenstand gehobenen Zeitvertreibs nicht nur in Salons,592 sondern auch auf Reisen: Schon 1677 erkannten die Philosophical Transactions hier einen neuen Trend: „And ingenious Travellers are now furnished with extraordinary commodities; such as Thermometers, Baroscopes, Hygroscopes, Microscopes, Telescopes [...]“.593 Im Zusammenhang von Happels Vermarktungsidee eines eigenen Mikroskops sind die zeitgleichen Ambitionen des Nürnberger Optikers Franz Joseph Griendel (1631-1687) bemerkenswert. Griendel handelte seit den 1670er Jahren erfolgreich mit optischen Instrumenten,594 war selbst Mikroskopist und widmete seine Micrographia Nova595 (1687) – dem Titel nach eine offensichtliche Referenz an Hookes Micrographia – der ganzen „curieusen Welt“.596 Zwei Jahre zuvor hatte er einen Katalog seiner zum Verkauf
588 589 590 591
592
593 594 595 596
Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 27, S. 215. Ruestow, Edward G.: The Microscope in the Dutch Republic. The Shaping of Discovery, Cambridge 2004, S. 151. Keil: Augustanus Opticus, S. 168. „After the initial enthusiasm for the microscope subsided, it was unclear in its fist century of existence whether it would become anything more than a pleasing toy that introduced natural history to a general audience“. Findlen: Natural History, S. 466. Auch Samuel Pepys hatte wie andere Londoner ‚Gentlemen’ relativ früh ein Mikroskop erworben, die von einer Londoner Manufaktur verkauft wurden. Jardine: Ingenious Pursuits, S. 43. Philosophical Transactions, Volume 133, 1677, S. 816. Keil: Augustanus Opticus, S. 203. Griendel, Franz Joseph: Micrographia Nova: Oder Neu-Curieuse Beschreibung Verschiedener kleiner Cörper [...], Nürnberg 1687. Ebd., Zuschrifft, Bl. 2v.
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offerierten „Optischen Raritäten“597 publiziert, in dessen Münchener Exemplar sich anonyme handschriftliche Marginalien über andere Publikationen zu optischen Themen finden, darunter auch die Relationes.598 Offensichtlich in der Überzeugung, die Neugier der Leser durch die Thematisierung des Mikroskops genügend geschürt zu haben, bietet Happel bereits um 1681 seinen Lesern ein solches Instrument aus ‚eigener Herstellung’ an. Angeregt wurde er wahrscheinlich durch das reichhaltige, nicht nur auf Druckerzeugnisse beschränkte Warenangebot in „Wierings Kram“ (siehe Kapitel 2.3.). Durch den Erwerb eines eigenen Mikroskops konnte sich der Leser in die Lage versetzen, die neuen Beobachtungsweisen in die eigene Erfahrung zu übersetzen. Begleitet von einer Illustration (Abb. 31) des technisch simplen und günstig produzierten599 ,Taschenmikroskops’, bewirbt es Happel im Artikel „Abbildung eines kleinen Microscopii oder Vergrößerungsglases“600 als eine Art Medium des Wunderbaren für den Hausgebrauch. Wie schon in der Programmatik der Relationes bemerkt er zudem, dass er mit der Idee auf eine spezifische Nachfrage der Leser und „Liebhaber“ reagiert habe: „Nachdem ich wohl weiß / daß unter denen / die von dieser Materie [der Mikroskopie, F.S.] nichts gelesen / viele gefunden werden / denen diese Gläser seltsam / verwunderlich / ja unmöglich und unglaublich vorkommen / so habe denenselben die Warheit zu zeigen / gegenwärtige Figur von einem Microscopio beydrucken lassen / von welcher Sorte ein jeder Liebhaber bey mir ein Stück vor 1. Mark L. bekommen kan / weil sich schon eine gute Anzahl curieuser Persohnen angegeben / welcher mit grosser Begierde darnach gefraget / denen zu dienen / habe ich diese Microscopia verfertigen lassen / worin sie einen kleinen Cörper / als ein Sandkorn / Erd-Stäublein / oder kleines Thierlein mit sonderbahrer Belustigung gar viel mahl grösser sehen / als es ihm selber ist“.601 597
598
599 600 601
Specificatio, Was Johann Frantz Griendl von Ach auf Wanckhausen / Matthematicus und Opticus in Nürnberg / Von Optischen Raritäten pfleget zu machen [...], Nürnberg 1685. Die Verkaufsrhetorik hebt erneut auf die Erzeugung des Wunderbaren durch das Mikroskop ab: „Microscopia, das sind Vergröß-Gläser / die ein Corpus über tausendmal tausend verwunderlich vergrössern. Sie praesentiren eine Lauß / einen Floh / [...]: So viel man Sachen darhinder siehet / so viel siehet man Wunder. [...] Und die sind dreyerley Sorten / per 6. biß 12. Reichsthaler“. Ebd., S. 2. Die Marginalien verweisen sowohl auf die Passagen zu den Teleskopen sowie zu den Mikroskopen; so heißt es etwa: „Eberhardi Guerneri Hapellii Relationes curiosa Part 1 p.69.71 von Hokio observierter Stachel einer Biene Ibid.p.71. Eines observierten flohs p.73 [...]“. Ebd., S. 1. Für diesen Hinweis und die Transkriptionen danke ich herzlich Inge Keil, Augsburg. Happel gibt einen Preis von einer Mark Lübisch an. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 13, S. 97. Ebd. Ebd.
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Die „sonderbare Belustigung“ macht klar, dass Happel sein Mikroskop eher als Requisit modischer Kurzweil sieht denn als taugliches Instrument ,seriöser’ Studien. Vor allem geht es, wie angedeutet, um das Versprechen, in den eigenen vier Wänden Wunder inszenieren zu können: „Man muß die Nadelspitze mit einem Finger ein wenig netzen und alsdann ein wenig Staub vom Bord oder sonsten etwas Kleines darauf oder daran setzen / so wird man Wunder sehen“.602 Es folgt eine detaillierte Anleitung zum Mikroskopieren, bevor Happel den Artikel mit nochmaligen Gedanken über die Funktion des Instruments schließt. Dessen Vorzug liege kaum in seiner stark beschränkten Leistungsfähigkeit, sondern darin, der Mikroskopie auch den Weg in nicht-spezialisierte Kreise zu ebnen: „Letztlich steht zu wissen / daß man wohl andre Gläser bekommen könte / die da einen Cörper wohl etliche hundert mahl mehr vergrössern / als beygesetztes Glaß / aber diesselbe sind gar subtil / und kosten vil / und die wenigsten wissen damit umbzugehen. Unser Vorhaben zielt auch am allermeisten dahin / damit die Liebhaber nur einiger Massen Nachricht hiervon haben möge. Wer Beliebung träget / seiner Curiosität weiter nachzufolgen / der kann sich bey dem Verleger anmelden / so wird ihm deßfalls guter Bericht ertheilet und er contenirt werden“.603
Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob die Vermarktung des Mikroskops tatsächlich Erfolg hatte. Ein zweites Mal erneuert Happel das Angebot in den Relationes jedenfalls nicht und auch im Anzeigenteil von Wierings Relations-Courier findet sich weder zeitgleich noch später ein Hinweis. Dennoch dürfte feststehen, dass Happel und Wiering mit ihrem Versuch, aus der Mikroskopie weiteres Kapital zu schlagen, eine sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzende Form der ,Wissenschaftsunterhaltung’604 vorwegnahmen. Bündeln lassen sich die Befunde zur Popularisierung des Mikroskops wie folgt: Mit Blick auf das ausgewertete Quellenkorpus ist auffällig, dass Happel sich auf weit weniger Texte stützt als im Astronomie-Diskurs, dessen weit ältere Tradition dem Leser schon durch die Dichte des bibliographischen Verweisnetzes verdeutlicht wurde. In der Vermittlung der Mikroskopie bleibt eine vergleichende Diskussion der Quellen zudem aus. Wissenschaftliche Kontroversen der Zeit, die sich im Zuge des neu entdeckten Mikrokosmos ergaben, werden nur peripher gestreift, so die Präformationslehre von Leeuwenhoek. Jedoch werden Kernaussagen aus der Micrographia – etwa die punktuelle Neubewertung des Kunst-Natur-Zusammenhangs – auch bei Happel rezipiert. Er beschränkt sich nicht nur auf eine überwiegend akkura602 603 604
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 13, S. 97. Ebd. Dazu: Böhme: Metaphysik der Erscheinungen, S. 391.
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te Übersetzung der Quellen, sondern durchdringt diese teils mit eigener Akzentuierung. Doch ist die Kompilation dabei erneut fragmentarisch und willkürlich: Happel legt keinen Anspruch auf ein vollständiges Wissenspanorama. Das zeigt sich etwa darin, dass der dritte Pionier der zeitgenössischen Mikroskopie, der Italiener Marcello Malpighi (1628-1694) – wie Leeuwenhoek und Hooke veröffentlichte er in den Philosophical Transactions – an keiner Stelle erwähnt wird. Happels Vermittlung von Ausschnitten aus den Werken von Hooke und Leeuwenhoek versteht es, sowohl das symbolische Mikroskop als auch die ,Wissenschaftsheroen’ dahinter hervortreten zu lassen. Im Kommunikationszusammenhang des Periodikums insgesamt nimmt das Mikroskop eine hervorragende Stellung ein, da es den von Happel gefeierten Stand der Wissenschaft und ihrer ,künstlichen Erfindungen’ noch deutlicher verkörpert als das Teleskop. Der Tenor, in einer neuen Zeit zu leben, wird gerade auch im Diskurs über das Mikroskop durch das Bildmedium gestützt – Happel reproduziert, wenngleich in geringerer Qualität, die sensationellen Bildwelten der ,neuen’ Wissenschaft. Die Kupferstichvorlagen aus Hookes Micrographia erreichten so in Form billigerer Holzschnitte ein breiteres Publikum. Allerdings oszilliert die Vermittlung naturgeschichtlicher Objekte einmal mehr zwischen den Polen von Glauben und Wissen – wie im Fall der Astronomie und des Blick in den Makrokosmos offenbart auch der Mikrokosmos kein ,säkulares’ Bild der Natur. Vielmehr dient das Mikroskop dazu, die Wunder Gottes in neuer Unmittelbarkeit zu inszenieren. Für die Neugier heißt das: sie ist dann begrüßenswert, wenn sie frommen Einsichten untergeordnet bleibt. Hinsichtlich der Vermittlungsgrenzen der Thematik ist schließlich erwähnenswert, dass Happels Enthusiasmus für die „Wahrheitsinstrumente“605 der ,neuen’ Wissenschaft deren epistemologisch unsicheren Status folgerichtig verschweigt – schließlich konnte auch „Das bewaffnete Auge“ ähnlich trügerisch sein wie natürliche Sehsinn. Happel geht unausgesprochen davon aus, dass das, was die Mikroskopisten durch ihre Okulare sahen, die ,objektive Wirklichkeit’ repräsentiert. Anders im gelehrten Zentrum zeitgenössischer Mikroskopie, der Royal Society: Hier wurden über das ganze 17. Jahrhundert hinweg Stimmen laut, die starke Zweifel an der empirischen Verlässlichkeit optischer Instrumente anmeldeten,606 vor allem aufgrund der noch relativ fehleranfälligen Linsen und Schleiftechniken. Dass Happel dieses Problem nicht thematisiert, erstaunt zumindest insofern, als auch „Der 605 606
Böhme: Metaphysik der Erscheinungen, S. 378. Ko!enina: Das bewaffnete Auge, S. 12. Für den weiteren Kontext siehe auch: Jütte, Robert: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000, S. 63ff.
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betrogene äusserliche Sinn“607 in den Relationes diskutiert wird. Das Auge sei, so schließt Happel hier seinen Kommentar, „[...] am leicht- und offtesten betrogen. [...]. Die Sonne scheinet uns klein / und ist doch so viel tausend Meilen groß. Ein kleines Ding sehen wir hergegen gantz groß durch einen Brill / oder Microscopium“.608 7.3.3. Wissen aus (medialer) Erfahrung? Semantik und Pragmatik eines Begriffs Mit der Frage der Verlässlichkeit instrumentgestützter Beobachtungen ist noch einmal der Aspekt der Erfahrung aufgeworfen: Wie in der Popularisierung des Teleskops und Mikroskops deutlich geworden ist, akzentuiert Happel vor allem die mit den technischen Medien einhergehenden neuen Erfahrungsweisen. In dieser Perspektive adaptieren die Relationes auch die nahezu omnipräsente Rhetorik der Erfahrung aus dem Wissenschaftsdiskurs des 17. Jahrhunderts. So sehr sich der wissenschaftliche Erkenntnisbegriff und der damit verbundene Alt-Neu-Diskurs über das Prinzip der Erfahrung definierten,609 so sehr wird die Erfahrung auch in den Relationes immer wieder zum Referenzpunkt der Argumentation; der Begriff ist in Happels Periodikum in auffälliger Dichte präsent und brachte es insofern nicht nur in der europäischen scientific community der Zeit zu außergewöhnlicher Prominenz. Der vorliegende Punkt untersucht als Exkurs zu Happels Vermittlung der ,neuen’ Wissenschaften die semantischen Ebenen des Erfahrungsbegriffs in den Relationes. Eine der wichtigsten Fragen in diesem Zusammenhang ist, ob und wie Happel mit der Tatsache umgeht, dass sein Periodikum keine direkte und unmittelbare, sondern nur eine mediale vermittelte, also ,sekundäre’ Form der Erfahrung ermöglichte, gespeist aus den Textwelten der Zeit. Liegt in der pragmatischen Nutzung der Kategorie der Erfahrung daher zwangsläufig eine kritische Distanz zum Buchwissen? Mit Blick auf die frühneuzeitliche Geschichte des Begriffs610 meint ,Erfahrung’ auch in den Relationes zunächst aktiv über die Sinne erworbene Kenntnisse.611 Dass dieser primäre Modus der Erfahrung der am höchsten einzuschätzende ist, 607 608 609 610 611
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 5, S. 34ff. Ebd., S. 35. Dear, Peter: The Meaning of Experience, in: Daston / Park (Hrsg.): The Cambridge History of Science, Vol. 3, S. 106-130, hier S. 130. Dazu umfassend: Münch, Paul (Hrsg.): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (= Historische Zeitschrift, Beiheft 31), München 2001. „Erfahrung [...] ist eine Zusammenfassung desjenigen, was man durch die Sinne unmittelbar erlanget“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 8, 1734, Sp. 1596-1597, hier Sp. 1596.
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unterstreicht Happel um 1685 in der Relation „Die Veränderung der FluthStunden und Zeit“612: „Wann einer die Gelegenheit hat / selbst eigene Observationes mit seinem Augenschein und Erfahrung von einem Dinge zu machen / so kan man einem solchen mit besserm Fundament Glauben machen; Dann was diejenigen / denen dieses Meer-Wunder nimmer vor die Augen kommen / schreiben / solches sind nur Muthmassungen / und hat keinen gewissen Grund“.613
Das Postulat vom „Augenschein und [der] Erfahrung“ entspricht nicht nur dem gelehrten, sondern auch dem außerakademischen Diskurs der Zeit – Bedenken gegen eine ,weltabgewandte’ Büchergelehrsamkeit waren durchaus verbreitet. Vergleichbar zu Happel heißt es etwa in der Sprichwortsammlung Florilegium politicum des Chronisten Christoph Lehmann (1568-1639) aus dem Jahre 1638: „Die Gelehrt seyn / vnd kein Vbung vnd kein Erfahrung haben / die wissen nicht / was sie wissen / dann jhr wissen steht auffm Sandt vnd nicht im Grund“.614 Ein positiver Bezug auf das Gewicht eigener Erfahrung unterhöhlt in der Konsequenz die Autorität traditioneller Textwelten. Gerade für die polyhistorischen Befürworter der frühneuzeitlichen Büchermassen (siehe Kapitel 4.1.) konnte das zumindest potentiell ein erhebliches Legitimationsproblem bedeuten. In den Relationes spielt Happel ,Erfahrungswissen’ daher auch nicht prinzipiell gegen ,Buchwissen’ aus. Die in Texten gespeicherten Erfahrungen werden vielmehr als komplementär zu Formen der ,Primärerfahrung’ gesehen. So heißt es im Artikel „Die wohlbestellete Bibliothek“:615 „Was wir wissen / daß haben wir entweder von unsern Lehrmeistern / oder aus guten Büchern / oder aus eigener Erfahrung erlernet. Diese bleibet einem jeden eigen und privat. Und woferne er seine Erfahrung einem andern offenbahret / fället er schon in das Ambt der Lehrmeister. Gleich wie aber ein guter Lehrmeister einen guten Unterricht geben kan / also haben hochgelahrte Leuthe / damit ihre Wissenschaft nicht [...] mit ihnen ersterben möchte / dieselbe zu Papier gebracht / und ihren Nachkommen in solcher unglaublichen Anzahl hinterlassen / daß daraus grosse Kammern und Zimmer voll Bücher erwachsen sind“.616
Hier werden drei mögliche Modi der Erfahrung reflektiert – die dialogische Unterrichtung, die direkte und eigene Erfahrung sowie die Lektüre –, ohne 612 613 614
615 616
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 59, S. 472. Ebd. Zitiert nach Münch: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): „Erfahrung“, S. 11-27, hier S. 20; siehe weiterhin: Ders.: Schule des Augenmaßes? Zur Problematik historischer Erfahrung, in: Essener Unikate, 16, 2001, S. 30-41. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 40, S. 313. Ebd.
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jedoch den einen dem anderen vorzuziehen. Damit einher geht die Einschätzung der Bibliotheken als segensreiche Orte ausgelagerter Erfahrung – sie werden zu „[...] Erfahrungsmagazinen des kollektiven Gedächtnisses“.617 Bei gewissenhafter Prüfung dessen, was in den Bibliotheken an Wissen eingelagert ist, kann die nur erlesene Erfahrung anderer im Grunde zur eigenen werden; dies gilt, weil das hier gespeicherte Wissen zudem relativ zeitenthoben ist, sogar für „Das Zeugnüß der Alten“:618 „[...] was glaubhaffte Leuthe aus persöhnlicher Erfahrung und Erzehlung anderer schreiben / daß verdient fast eben so guten Glauben / als hetten sie es selbst gesehen / bevorab / da es ihnen nicht nur einer / sondern viel Menschen für gewiß angezeiget“.619 Neben dem kollektiven Wissensspeicher der Bibliothek akzentuiert Happel an anderer Stelle gleichwohl noch einmal die Bedeutung des individuellen ,Erfahrungsgedächtnisses’: „Das Gedächtnüß ist die Mutter der Musen / die Schatzmeisterin unserer Wissenschafft / die Vermittelung unserer Klugheit / ohne welche wir beharlich Kinder bleiben müsten / die Beförderung aller Geschicklichkeit / das Werckzeug aller Belehrung / der Grund vieler Erfahrung / und die Schutzhalterin unseres Verstandes“.620
Nicht zuletzt wendet Happel den Erfahrungsbegriff – zumindest rhetorisch – als kritische Größe auch gegenüber dem eigenen Wissen an: durch die Einsicht, dass erst die Erfahrung ,Wissen’ zu einem Fortschrittsprozess macht, der davon lebt, dass neue Einsichten alte (Texte) korrigieren. In einem Artikel über die 1639 in Dänemark gefundenen Goldhörner (siehe Kapitel 7.2.2.) heißt es einleitend: „Je länger man lebet / je mehr man erfähret / je man lernet. Offt geschiehets / daß man einmahl diese Meynung von einem Dinge hat / biß so lange man durch die Erfahrung oder einen andern gründlichen Beweiß von solcher hernachmahls zu einer andern Meynung verwiesen wird. Daher siehet man nicht selten / daß ein Autor zweyerley / manchmal widrige Meynungen / in seinen Schrifften von einer Materie an den Tag giebet / davon die erste so lange gegolten / biß ihm dieselbe hernach anders dargethan worden / darumb wird man mich nicht verdencken / wann ich meine vorhin gesetzte Gedanken in folgenden Relationibus bißweilen reformire, damit der Leser nicht im Irthum bleibe“.621
Erkennt Happel hier die potentiell text- und traditionskritischen Tendenzen der Erfahrung an, zeigt ein Blick in die konkrete Pragmatik des Begriffs ein 617 618 619 620 621
Münch: Einleitung, S. 21. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 30, S. 235f. Ebd., S. 235. Ebd., Relation „Die Schrifften der Alten“, Nr. 23, S. 184. Ebd., Band 2.2, Relation „Das köstlich-seltsahme Tunderische Horn“, Nr. 63, S. 502.
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anderes Bild: In den Relationes nutzt Happel den häufigen Rekurs auf die Erfahrung gerade nicht als kritische Instanz gegenüber dem Wahrheitsgehalt seiner Quellen; er setzt ihn vielmehr zur Beglaubigung des ‚Unglaublichen’ ein. Anders gewendet: Happel beruft sich auf die Erfahrung, um das zu bestätigen, was der Alltagserfahrung zuwider läuft. So rücken etwa die meisten Naturwunder der Relationes in den Status einer ,Erfahrungstatsache’. Eine Erfahrungsqualität schreibt Happel beispielsweise populären mythologischen Mischwesen wie dem Basilisken zu, eine Kreuzung aus Hahn und Schlange. Bereits seit der Antike füllten Schilderungen von Basilisken die Naturgeschichten in der Folge von Plinius und trotz zunehmendem Zweifel an ihrer Existenz gehörten sie noch zum obligatorischen ,Inventar’ der Wissenskompendien des 17. Jahrhunderts. Im Artikel „Die traurige Exempel etlicher gifftiger Basilisken“622 hält Happel fest: „Es hats die Erfahrung bezeuget / daß / sobald sie [die Basilisken, F.S.] nur aus den Schalen gekrochen / ohne Zweiffel aus Antrieb der Natur, als unnatürliche Monstra / geheime und verborgene Schlupff-Winckel suchen“.623 Gerade die programmatische Erklärung, selbst all das glauben zu wollen, „[...] was nicht unglaublich ist“, zeigt, dass Fakt und Fiktion in der Kategorie der Erfahrung letztlich willkürlich verschwimmen: „Wir sehen auch / und haben es aus der Erfahrung / daß eine Mauß ihre Jungen gebührlich zur Welt träget / gleichwohl ist es auch nicht zu läugnen / daß selbige nicht solten von sich selber aus dieser oder jener Erde erwachsen können. Ein jeder glaube / was er will / ich glaube / was nicht unglaublich ist“.624
Diese demonstrative Leichtgläubigkeit hält Happel nicht davon ab andernorts exakt gegenteilige, aber ebenso grundsätzliche Prämissen seines Wissensanspruchs zu formulieren. In einem Themenkreis über „Die asiatische Wasser-Fälle“625 rechtfertigt er sich dem Leser gegenüber wie folgt: „Aber weil ich mich nicht mit Muthmassungen vergnüge / sondern gerne auff etwas gründliches fusse / so lass ich diesen [den Ganges, F.S.] und andere grosse Ströhme in Asien fahren / von denen ich biß dato nichts gewisses / daß hieher gehöret / erfahren habe“.626 Daneben beruft sich Happel auch auf die vermeintlich eigene Erfahrung, um sensationelle Phänomene abzusichern. Als er etwa um 1682 Berichte über diverse Wundheilungen anführt, fügt er bekräftigend hinzu, dass er
622 623 624 625 626
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 31, S. 245ff. Ebd., S. 246. Ebd., Band 2.2, Relation „Die Roth- oder Schottländische Baum-Ganß“, Nr. 2, S. 9. Ebd., Band 1.2, Nr. 53, S. 422. Ebd.
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Schlüsseldiskurse der Text-Kunstkammer
„[...] selber einen Studiosum Juris aus dem Herzogthumb Schleßwig auff Universitäten gekannt / welcher per Recontre einen Stich ins Hertz bekahm / und dannoch völlig curiret ward [...]. Hergegen habe ich auch einen gekandt / welcher an seinem Fuß die juckende Haut ein wenig abkratzete / und in zween Tagen daran sterben musste“.627
Auch in Hamburg will der Kompilator noch Jahre später ähnlich denkwürdige Erfahrungen gemacht haben. So führt er im Artikel „Das ungemeine Wachen“628 eine persönliche Bekanntschaft an: „Ich kenne hier in Hamburg selber eine wackere Dame, welche offtmahlen in 4 / 5 biß 6 Wochen kein Auge zuthut / welches unglaublich scheinen würde / wann der allerglaubwürdigste Zeuge / welcher die Erfahrung / und der Augenschein heisset / solches nicht bestättigte“.629 Nur selten hält Happel über den Erfahrungsbegriff auch kritische Distanz zu den Quellen und befördert den Autoritätsverlust der Texte – das allerdings erneut mit der charakteristischen Inkonsequenz. So kann sich die Kritik sogar gegen jene Autoren richten, die zu den Hauptquellen der Relationes gehören, etwa die Naturalis historia von Plinius. In einem längeren Themenabschnitt über den Wal streift Happel auch „Die Speise / und FortZielung des Wall-Fisches“:630 „Ob man aber Plinio glauben könne / wen er schreibet / man habe in einem auffgeschnittenen Wallfische einmahl 40 gantze frische Cabeljauen gefunden / weiß ich nicht“.631 An anderer Stelle wird die schon in mittelalterlichen Naturgeschichten behandelte Frage aufgeworfen, ob der Feuersalamander tatsächlich fähig sei, Feuer zu löschen oder selbst im Feuer zu überleben. Mit Rekurs auf die Erfahrung werden im Artikel „Der unverbrennliche Salamander“ um 1687 gleich drei gewichtige Autoritäten der Antike kritisiert, darunter erneut Plinius: „Aelianus [...] hat umbständlich davon geschrieben / gründet sich aber ohn allen Zweiffel in diesem Stücke nicht so sehr auff die Erfahrung als auf die Autoritaet des Aristotelis, welcher libr.5.Histor.Anim.c.19. statuirt, es gebe etliche Thiere / welche von dem Feuer nicht mögen verbrandt werden / als der Salamander [...]. Plinius [...] thut den Mund hievon noch weiter auff: Er spricht / der Molch sey so kalt / daß er das Feuer außlösche wie ein Stük gefrornen Eyses“.632
Das Abrücken von den Traditionsquellen dient Happel dazu, sich selbst als glaubwürdigen „Scribenten“ zu stilisieren. In programmatischen Statements 627 628 629 630 631 632
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die seltsame Wunde“, Nr. 14, S. 112. Ebd., Band 2.2, Nr. 15, S. 117f. Ebd., S. 118. Ebd., Nr. 25, S. 195f. Ebd., S. 195. Ebd., Band 3.2, Nr. 86, S. 686.
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über den Erfahrungsbegriff suggeriert er wiederholt, dass die ,kritische Gegenwart’ sich grundsätzlich vom leichtgläubigen ,Zeugnis der Alten’ abheben würde. In der Relation „Der vom Donner getroffene Lorbeer-Baum“633 heißt es dazu: „Sehen wir also / daß die gelehrtesten Leute der alten Welt viel dinges geschrieben / daß anitzo befunden wird / daß es mit der Erfahrung gar geringe / oder wohl gar keine Ubereinkunfft hat. Diese Scribenten haben dem Dicunt / dem Phasi dem sagt man / alzuviel geglaubet / und darüber so viel 1000 leicht gläubige nebst ihnen hinter das Liecht geführet. Experientia est optimus Veritatis Testis. Die Erfahrung beweiset die Wahrheit am besten“.634
Ähnlich erklärt Happel bereits früher im Bericht über den „haarichte[n] Mensch[en]“:635 „Doch müssen wir die Wahrheit von den Lügen / und die Erfahrung der heutigen Scribenten von dem Irrthum der alten gar genau unterscheiden“.636 Auch hier bleibt die kategorische Erklärung jedoch vor allem Rhetorik – mehr als nur kritischer Schein wäre für den unablässig schreibenden Kompilator bei weitem zu mühselig gewesen. So stehen in den Relationes ungeachtet der Instanz der Erfahrung antike und rezente Autoren im Regelfall unkommentiert und unproblematisch nebeneinander. Im Ganzen wird deutlich, dass Happel den Eindruck zu erwecken sucht, mit seinem Periodikum werde ein ,wöchentlicher Erfahrungsspeicher’ und damit verlässliches Wissen geliefert. Tatsächlich hat das omnipräsente Erfahrungspostulat für den Wissensbegriff der Relationes jedoch kaum Konsequenzen, das heißt der Bezug auf die Erfahrung entscheidet nur in Ansätzen darüber, ob und welche Wissensbestände für obsolet und ungültig erklärt und ob sie weiter tradiert werden.
633 634 635 636
Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 86, S. 688. Ebd. Ebd., Band 2.2, Nr. 37, S. 245. Ebd.
VIII. Schlussbetrachtung und Ausblick: Periodizität und wissenskultureller Wandel?
8.1. Semantiken und Kritik des Wunderbaren „Wie aber solches natürlicher Weise / ohne sonderbahres Wunderwerck zugehen könne / davon wird allhier geredet“. Happel: Relationes Curiosae, 1683
Entlang mehrerer Stationen haben die vorigen Kapitel gezeigt, dass die Relationes Curiosae ohne die im 17. Jahrhundert zusammenrückenden Schlüsselkonzepte1 von Wunder und Neugier nicht denkbar gewesen wären. Ein wesentlicher Reiz des Periodikums lag darin, dass Happel von der Verbindung beider Leidenschaften und vom Kult um ihre Objekte profitierte – „Curieuse“ Leser, gedacht als eine sozial wie intellektuell übergreifende Gemeinschaft, konsumierten „Curiositäten“; sie versorgten die Leser mit einem gigantischen Haushalt an Wundern, dessen ältere (Medien-)Traditionen von Happel aufgenommen und erstmals in den periodischen Presserhythmus eingespeist wurden. Die immer wieder reproduzierten alten und neuen Wunder ließen Mediengrenzen in beeindruckender Dichte hinter sich, zirkulierten zwischen Sensationspresse, Gelehrtenjournalen und Kompilationen, zwischen Jahrmarkt und Kunstkammer, zwischen konkretem Objekt und textlicher Repräsentation. Vor dem Hintergrund dieser vielfachen Traditionsabhängigkeit von Happels Wissenssammlung mag es zunächst paradox klingen, in der Zusammenfassung die Kritik des Wunderbaren zu untersuchen und danach zu fragen, ob die Relationes schon auf das ,kritische’ 18. Jahrhunderts vorausweisen. Schon begriffsgeschichtlich werfen sich Probleme auf: Bevor die ,Kritik’ zum Schlüsselbegriff der Aufklärung avancierte, war der Begriff im Deutschen noch überhaupt nicht geläufig – und bezog sich seit seinem ersten Auftauchen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst lediglich im engeren Sinn auf philologische Fragen der Textkritik.2 1 2
So die Einschätzung von Richard Marr. Ders.: Introduction, in: Evans / Marr (Hrsg.): Curiosity and Wonder, S. 1-20, besonders S. 2-6. „In Deutschland taucht das Wort ,Kritik’ in deutscher Sprache erstmals 1718 auf in G. Stolles ,Kurtze Anleitung zur Historie der Gelahrtheit’: ,Die Critic heist insgemein eine Kunst die alte Autores zu verstehen [...] was sie geschrieben, von dem, was man ihnen untergeschoben, oder verfälscht hat, zu unterscheiden, und das verdorbne auszubessern
Schlussbetrachtung
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Dennoch tritt das schon im 17. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnte Adjektiv ,critique’ in den Relationes an exponierter Stelle auf – wie eingangs erwähnt, werden auf dem Titelblatt des dritten Jahresbandes von 1687 critische Materien versprochen. Auffällig allerdings ist, dass Happel dieses Versprechen im Text expressis verbis nicht einlöst. De facto wird kein einziges Mal erklärt, worin diese critischen Materien bestehen und insofern fehlt auch jede theoretische Konzeptualisierung. Dennoch spiegelt sich gerade in Happels Kommentaren zur Kategorie des Wunderbaren der zeitgenössische (französische) Bedeutungsstrang des Adjektiv ,kritisch’ im Sinne von „[...] richten, beurteilen, entscheiden [...]“.3 Zunächst sprechen einige Kommentare jedoch gegen diese Kommunikationsleistung des Periodikums und für die Leichtgläubigkeit anstelle eines ,critischen’ Abwägens von Urteilen und Quellen; etwa: „Urtheile nicht alsobald / geneigter Leser / nach deinem Verstand; es sind noch viel Dinge / die wir nicht begreifen können“.4 Das Wunder setzt also dort ein, wo das Verstehen aufhört – Happel ist prinzipiell nicht daran gelegen, die Grenzen dieses alten Paradigmas zu verschieben. Damit erscheinen die Relationes eher als typisches Zeugnis einer ,vormodernen’ Verbindung von Glauben und Wunder und nicht der ,modernen’ Verbindung von Kritik und Vernunft. Wenn im Folgenden dennoch ein Bogen zu Aspekten der Frühaufklärung geschlagen werden soll, dann gerade, um noch einmal die Widersprüche zu akzentuieren, die das ,Schicksal’ der ungeordneten Kompilation sind: Gelesen vor dem Hintergrund der sich überlappenden Geschichten von Wunder und Rationalität, handelt es sich bei Happel, wie zu zeigen ist, zugleich um ein ,immer noch’ und ein ,noch nicht’. In einem ersten Schritt werden die Dimensionen und Semantiken des Wunderbegriffs in den Relationes gebündelt diskutiert. Davon ausgehend, wendet sich der zweite Schritt der Frage zu, ob sich aus Happels Argumentationsmustern populäre Wundervorbehalte oder gar ein ,critischer’ Wunderdiskurs entwickeln lassen. Der Großteil der kompilierten Wissensmasse in den Relationes dokumentiert, wie sehr das Wunder – oder die Suche danach – nicht zur Ausnahme, sondern zum Normalfall der frühneuzeitlichen Lebens- und Vorstellungswelt gehörte.5 Wie für die meisten seiner Zeitgenossen ist auch für Happel
3 4 5
oder zu ersetzen“. Röttgers, Kurt: Artikel Kritik, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache, 8 Bände, Stuttgart 1972-1997, Band 3, 1982, S. 651-675, hier S. 660. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. erw. Auflage, bearbeitet von Elmar Seebold, Berlin 1999, S. 488. Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Relation „Die wunderbahre Vorkommung der Sommer-Vögel“, Nr. 1, S. 4. Siehe: Maurer, Michael: Wunder und Aufklärung, in: Walz, Rainer / Nowosadtko, Jutta /
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Schlussbetrachtung
unzweifelhaft, „[...] daß wir itzo in einer recht miraculeusen Historischen Zeit leben [...]“.6 Zunächst ist das ganz unspezifisch gemeint: Happel kolportiert mit seiner Sammlung einen weiteren Wunderbegriff, der sich jedoch mit einem engeren, ,klassisch’-religiösen Diskurs über das Wunder vermengt (siehe unten). Den semantischen Kern des weiter gefassten Wunderbegriffs verdeutlicht eine Definition von Ulrich Nanko: „Das deutsche Wort Wunder bezeichnet allgemein ein Ereignis, das aus dem Bereich des Gewohnten heraus fällt“.7 In dieser allgemeinen Definition muss sich das Wunder noch nicht einmal notwendig der Erklärung widersetzen, um als solches verstanden zu werden. Ihr zufolge teilen die zahllosen „Denkwürdigkeiten“, „Seltsamkeiten“ und „Curiositäten“, mit denen Happel seine imaginäre Kunstkammer ausstaffiert, die gleichen wunderbaren Eigenschaften, da sie ähnliche Affekte wachrufen: Neugier und Staunen angesichts des Außergewöhnlichen in Natur und Kunst und den Kulturen fremder Welten, von denen sich das 17. Jahrhundert regelrecht besessen zeigte. Happel adaptiert den Tonfall seiner verschiedenen Quellen, was dazu führt, dass er quasi das gesamte Spektrum seiner Gegenstände – gleich ob konkretes Objekt oder Ereignis – nahezu unterschiedslos für wunderbar erklärt: Wunderbar erscheint etwa die Pracht des sagenhaften indischen Mogul-Herrschers, wunderbar nennt Happel die Ereignisse der jüngsten Revolutionen,8 wunderbar wirken die Nahrungsrituale der Brasilianer oder die ,künstlichen’ Chinesen und die ,künstlichen’ Erfindungen, an denen es ,den Alten’ schon nicht mangelte, von denen aber gerade die Gegenwart immer neue Beispiele liefert; wunderbar ist ein angeborener goldener Zahn, eine Kokosnuss oder ein Rettich in der Form einer Hand, wunderbar ist eine versteinerte Stadt und so fort. Da Happel keineswegs a priori an der Existenz all dieser Phänomene zweifelt, ist noch einmal der charakteristische Zusammenhang von Wunder und Wissen im 17. Jahrhundert zu betonen. Wunder wurden, insofern sie nur autoritär beglaubigt waren, als empirische Tatsache anerkannt, sowohl im gelehrten als auch im populären Diskurs. Dennoch: Angesichts eines von Happel theoretisch nicht näher bestimmten, vagen Verständnisses des Wunderbaren geht man mit der Einschätzung nicht zu weit, dass in den Relationes mit den klaren Konturen auch das heuristische Potential des Begriffs überwiegend verloren geht.
6 7 8
Küppers-Braun, Ute (Hrsg.): Anfechtungen der Vernunft. Wunder und Wunderglauben in der Frühen Neuzeit, Essen 2006, S. 209-223, hier S. 209. Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Einleitung, Nr. 1, S. 1. Nanko, Ulrich: Artikel Wunder, in: Cancik, Hubert (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band 5, Stuttgart 2001, S. 386-398, hier S. 386. Etwa: Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die ungarische Rebellion“, Nr. 37, S. 296.
Schlussbetrachtung
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Unabhängig vom Bedeutungsgehalt des einzelnen Wunders zeigt bereits die inflationäre Begriffsverwendung, dass Happel kaum daran gelegen ist, die zeitgenössische Wunderkultur zu diskreditieren. Mit der ,Rhetorik des Wunderbaren’ münden vielmehr sprachlich lang erprobte Muster aus disparaten Textgattungen wie Reisebeschreibungen, Chroniken, der naturgeschichtlichen Literatur, der Sensationspresse und Wunder-Kompilationen in die Relationes ein. Dabei geht es, so lässt sich ergänzen, Happel auch gar nicht darum, einen offensichtlichen Bedeutungsgehalt prinzipiell vorauszusetzen oder festzuschreiben. Eher schlägt er in funktionaler Hinsicht Kapital aus der ungebrochenen Anziehungskraft des Begriffs,9 nicht zuletzt, weil im Wunder als Medienereignis immer auch ein Versprechen auf eskapistische Lesestoffe lag. Als imaginärer Führer durch die berühmtesten Kunstkammern betätigt sich Happel etwa deswegen „[...] umb unsere Augen darinnen zu ergetzen / die wir aber bloßen Gedancken dahin schicken / damit unsere Verwunderung etwas zu tun habe“.10 Im sich allmählich intensivierenden Kampf periodischer Medien um die Aufmerksamkeit der Leser trägt der Wunderbegriff bei Happel damit weniger epistemologische Züge als die eines Inszenierungsmittels – ähnlich den „Curiositäten“ der Zeit. Dieses Etikett besaß jedoch auch das Potential einer sinnstiftenden Klammer, die Laien und Gelehrte in der Begeisterung für ähnliche Objekte zusammenhielt. Denn während sich die scientific community des 18. Jahrhunderts zunehmend von den ‚vulgären’ Wundern der Masse distanzierte,11 waren die in den Relationes gesammelten Wunder schon deswegen nicht anrüchig, weil sie zu großen Teilen aus den Gelehrtenjournalen der Zeit stammten. Die Objekte der Faszination waren identisch, nur interessierten sich die Gelehrten für die kausalen Aussagen über die Ursachen der Phänomene, während die wunderbegeisterten Laien vor allem deren Effekte schätzten. In den Relationes kreuzen sich beide Facetten. Angelegt findet sich bei Happel an einigen Stellen jedoch ein relativer Wunder-Begriff, der an das anknüpft, was schon Thomas von Aquin zu diesem Punkt bemerkt hatte: „[...] dass sich das Wort Wunder von Bewunderung ableite und dass die Wirkung einer Ursache dem einen bekannt, dem anderen aber unbekannt sei, so dass sie dem einen als wunderbar erscheine, dem anderen aber nicht“.12 Als eine ,Entzauberung des Wunderbaren’ findet 9 10 11 12
Walker Bynum, Caroline: Wonder, in: The American Historical Review, 102, 1997, S. 1-26, hier S. 3. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Relation „Die wunderbahre Kunst-Kammer“, Nr. 15, S. 118. Dazu vor allem: Daston / Park: Wunder, S. 387f. Aquin, Thomas von: Summa theologica, I1, q. 105, a.7; nach: Walz, Reiner: Einleitung, in: Ders. / Nowosadtko / Küppers-Braun (Hrsg.): Anfechtungen der Vernunft, S. 7-13, hier S. 8.
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Schlussbetrachtung
sich diese Differenzierung in den Relationes teilweise wieder. Weil Happel hier den Anspruch vermittelt, zunächst unergründliche Phänomene und Erfindungen in Wirkung und Ursache offen zu legen und erklären zu wollen, kann mit aller Vorsicht von ,frühaufklärerischen’ Ansätzen gesprochen werden. So berichtet Happel im Artikel „Das egyptische Bild Memnonis“13 von einem Automaten, der sich samt musikalischer Klangkulisse dem Sonnenaufgang zuwendet. Happel mokiert, dass die „künstliche Erfindung“14 allein für den „[...] Pöbel ein unerhörtes Wunderwerck [...]“15 sei. An anderer Stelle taucht die nur unentschlossen vorgebrachte Kritik einfältiger Wundersucht wieder auf (siehe unten). Den ,verständigen’ Leser hingegen – oder jenen, der es werden will – instruiert Happel, indem er den wunderbaren Schein des Automaten durch eine minutiöse ‚Sektion’ des Geräts dekonstruiert und eine Anleitung zu dessen Nachbau beigibt, ähnlich, wie er dies für die ,künstlichen’ Blumen von Athanasius Kircher leistet (siehe Kapitel 7.2.1.). Die Lektüre des Periodikums soll in diesen Passagen nicht nur dazu befähigen, Wunder zu ,naturalisieren’, sondern diese zum Erstaunen anderer auch selbst erzeugen zu können. Es ist jedoch bezeichnend, dass ein Erklärungsanspruch in der Auseinandersetzung mit dem Wunderbaren wieder beliebig außer Kraft gesetzt werden kann. So ist die schon im Titel der Relationes programmatisch genannte „Vernunfft“ zu großen Teilen nicht mehr als eine rhetorische Instanz, weil eine Beglaubigung wunderbarer Dinge keineswegs an ihr scheitert. Vielmehr setzt, wie oben angedeutet, das Wunder der Vernunft ihre Grenzen. So heißt es im Artikel „Die lang-fastende Frantzösische Dirne“16 grundsätzlich: „Darumb muß man nicht so gleich über alles den Kopf schütteln / was die Vernunfft nicht begreifen kan“.17 Die Paradoxie von Happels Auffassung der Vernunft liegt im Wunderdiskurs – aus heutiger Sicht – also darin, dass Interventionen Gottes in das Weltgeschehen von der Vernunft nicht bestritten, sondern, im Gegenteil, von ihr gerade erkannt werden. Um 1688 untermauert Happel diese Gewissheit als prinzipiell zeitlos: „Aber o lieber Mensch / meinstu / die Hand Gottes sey verkürtzt / daß sie nicht heute so wohl / als vormahlen zu Eliae Zeiten könne Wunder thun?“.18 Der fromme Kommentar knüpft die Verbindung zum engeren, religiösen Wunderbegriff auf der zweiten Ebene. Die theoretischen Implikationen des klassischen Wunderverständnisses entwickelt Happel in den Relationes an keiner 13 14 15 16 17 18
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 5, S. 30f. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., Band 4.2, Nr. 12, S. 91. Ebd. Ebd., Relation „Der Fastende Niederländer“, S. 90.
Schlussbetrachtung
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Stelle systematisch. Hier mangelt es wohl weniger an den intellektuellen Voraussetzungen als am Willen, die wertvolle Aufmerksamkeit des Lesers mit akademischen Detailerläuterungen zu strapazieren. Trotzdem lassen sich aus den Relationes wesentliche Aspekte des religiösen Wunderdiskurses ableiten. Zentral ist die Differenz von übernatürlichem Mirakel19 oder Wunderwerk, dem Wunder im ,eigentlichen’ Sinn, und dem ,nur’ außernatürlichen Prodigium oder Wunderzeichen.20 Diese Typologie des Wunderbaren führt zu einem späten Zeitpunkt im 18. Jahrhundert etwa der Artikel „WunderZeichen“ in Zedlers Universal-Lexicon aus: „Wunder-Zeichen, Lat. Prodigia, pfleget man die aussernatürlichen Begebenheiten in der Natur zu nennen. [...] Ein Wunder-Zeichen, ist eine Sache, welche nicht über die Natur, (so wäre es ein Wunder) auch nicht wider die Natur [...], doch welche praeter, ausser dem gewöhnlichen Lauff und Ordnung der Natur geschieht, [...] darum ist es, obgleich kein Wunder, doch was wunderbares [...]“.21
Per definitionem gehörte die Masse jener Phänomene, in denen die Natur aus ihrer gewohnten Ordnung tritt (siehe Kapitel 7.2.) zu den Prodigien – Monstren, Missgeburten und andere ,Spiele der Natur’ wurden eher außerdenn übernatürlichen Ursachen zugeschrieben. Die exakte Abgrenzung war jedoch überaus schwierig, weswegen Happel womöglich einen eigenen Exkurs zum Thema mied. Deutlicher als in den Ursachen ließen sich Wunder und Prodigium in der Zeichenqualität unterscheiden: Das eigentliche Wunder war als Beweis von Gottes helfender Hand zum größten Teil positiv besetzt und drehte sich – etwa in Form einer unerklärlichen Heilung –, überwiegend um die Topoi Trost, Hilfe und Erhaltung.22 Das Prodigium23 (Verb prodaio=vorhersagen) war dagegen primär negativ besetzt und zeigte sich häufig in Konsequenz von menschlichem Fehlverhalten als Zorneszeichen Gottes (in Form von Naturkatastrophen beispielsweise) oder vorausschauend als Warnzeichen noch drohenden Ungemachs (etwa dann, wenn Schiffsflotten als „Lufft-Gesichter“24 Schlachten im Himmel ausfochten und 19 20
21 22 23
24
Dazu etwa: Schneider, Ingo: Artikel Mirakel, in: Brednich (Hrsg.): Enzyklopädie des Märchens, Band 9, 1999, S. 682-691. Zu dieser Differenz siehe auch: Habermas, Rebekka: Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Zur Profanisierung eines Deutungsmusters in der Frühen Neuzeit, in: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt 1988, S. 38-66, hier S. 58. Zedler: Universal-Lexicon, Band 29, 1741, Sp. 750f. Habermas: Wunder, Wunderliches, Wunderbares, S. 63. Siehe etwa: Hammerl, Michaela: Artikel Prodigienliteratur, in: Gersmann / Moeller / Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung; http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/5523. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Relation „Die Bedeutung dieses Gesichtes“, S. 572.
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Schlussbetrachtung
noch bevorstehende Kriege ankündigten). Diese unmittelbare Verbindung der physischen mit der metaphysischen Welt durch Wunder und Wunderzeichen gehört zum festen Vorstellungshaushalt der Relationes.25 Denn ungeachtet aller protestantischen Kritik am katholischen Wunderglauben trägt Happel zum allgemein ungebrochenen Interesse an Wundern und Zeichen bei.26 Noch 1689 resümiert er kurz vor seinem Tod: „Wann wir erwegen alle die Visiones und andere Wunder / so wir im nechst verwichenen Jahr 1688 erlebet / so müssen wir bekennen / daß sie allemahl lauter Vorbotten desjenigen gewesen / die so manche hohe Personen bald hernach erlebet haben“.27 Waren die Grenzen zwischen Wunder und Prodigien in der Frühen Neuzeit fließend, so zeigen sie sich in den Relationes vollkommen verschwommen. Der Grund liegt wiederum in der chaotischen Organisation des Textes: Die Masse der entweder chronologisch oder thematisch nach Typen geordneten Prodigien28- und Wunderkompilationen (Blutregen, Himmelszeichen, Strafwunder, Heilungswunder, Fastenwunder etc.)29 wirft Happel in seiner zerfahrenen Rezeption unterschiedslos zusammen. Auf abstrakter Ebene lassen die Relationes dennoch ein unfertiges Bewusstsein für die Differenz von echten Wundern und anderen Phänomenen erkennen. „So ein Miracel geschiehet, mag es von Gott sein [...]“,30 notiert Happel etwa schon um 1681 im Bericht über die „Nachdenckliche Würckung des Sympathischen Pul25 26
27 28
29 30
Ausführlich: Schock: Zur Kommunikation von Wunderzeichen. Mit dieser Tendenz war Happel nicht alleine. Auch andere Polyhistoren sahen ihre Zeit regelrecht ,schwanger’ von Zeichen und Wundern, so schon im Titel eines Werks von Praetorius, Johannes: Die Letzte Wunder-schwangere Zeit. Hier zu verstehen gegeben an / gar neulichen und abscheulichen 1. Lufft-Gesichtern [...] 5. Missgeburten [...] Samt ihrer Deutung [...], Leipzig 1700. Happel: Relationes Curiosae, Band 5.2, Relation „Das Brandenburgische Lufft-Gesichte“, Nr. 9, S. 45. Mit seinen Hauptquellen knüpft Happel in den Relationes nur indirekt an die für die Prodigien so wichtigen Medien von Flugblatt und Flugschrift an. Vielmehr schreibt er die gewichtige Wirkungsgeschichte der Wunderzeichenbücher des 16. Jahrhunderts fort; zu den einflussreichsten zählen folgende: Fincel, Job: Warhafftige beschreibung vnd gründlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen vnd Geschichten / die von dem Jar an M. D. XVII. bis auff jtziges Jar M. D. LVI. geschehen vnd ergangen sind / nach der Jarzal, Band 1, Jena 1556; Goltwurm, Caspar: Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch, Frankfurt 1557; Lycosthenes, Conrad: Prodigiorvm ac ostentorvm chronicon, Basel 1557. Zu dieser Quellengrundlage Happels kommt aus dem 17. Jahrhundert beispielsweise die seit 1613 vorliegende Übersetzung der Wunderzeichen-Sammlung des Schweizer Theologen Simon Goulart: Schatzkammer, Uber Natürlicher, Wunderbarer vnd Waldenckwürdiger geschichten vnd fällen [...], Strassburg 1613. Die lange Rezeptions- und Traditionsgeschichte zeigt sich bei diesen Werken schon darin, dass sie zum Teil bereits antike Quellen ausschrieben. Daston / Park: Wunder, S. 226. Zur Typologie der Wunder etwa: Signori, Gabriela: Wunder, Frankfurt / New York 2007. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 4, S. 25.
Schlussbetrachtung
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vers“.31 Was die Unterscheidung zwischen Wunder und Wunderzeichen jedoch zusätzlich erschwerte, war die in diesem Zusammenhang nur schwer zu fassende Rolle des Teufels. Grundsätzlich gilt dessen Existenz auch in den Relationes unbezweifelt und ebenso seine Fähigkeit, scheinbar wunderbare Phänomene erzeugen zu können. Happel sieht den Teufel als „TausendKünstler“,32 dessen Fähigkeiten die ,Künstlichkeit’ des Menschen bei weitem übersteigen. In einer Artikelserie über denkwürdige Winde gibt Happel zu bedenken: „Zu verwundern ist es / daß dem Teuffel und seinem Anhange einige Gewalt vergönnet worden / die Winde nach ihrem Gefallen / und offtmahlen den Allerfrömbsten zur Plage / zu erregen und zu lencken“.33 So erscheint der Satan in den Relationes insgesamt zwar als „[...] ein Grund erfahrner Natur-Gelehrter [...]“,34 er vermag jedoch keine echten Wunder auf der Grundlage übernatürlicher Ursachen zu bewirken.35 Die letztlich erbauliche Botschaft lautet daher, dass seine Macht weit unter der Gottes bleibt. Dass auch diese Differenz jedoch nicht einfach zu durchschauen ist, diskutiert Happel an verschiedenen Stellen. Besonders deutlich heißt es dazu im Artikel „Die abscheuliche Zauberey“:36 „Der Satan und sein Werkzeug / die Zauber-Menschen können wohl keine Miracula oder eigentliche Wunderwercke thun / welche Gott seiner Allmacht allein hat für behalten / aber er kann wohl Wunderdinge thun / die man Mira oder Mirabilia nennet / nehmlich deren Ursache auch die Gelehrtesten nicht wissen noch begreiffen können“.37
Zur verwickelten Frage nach der Typologie und Epistemologie des Wunderbaren kommt die der Notwendigkeit echter Wunder – wenn sie denn zu erkennen sind. Für das Luthertum hatte sich dieses Problem insofern teilweise erledigt, als übernatürliche Wunder prinzipiell zwar für möglich, im Sinne eines Gottesbeweises jedoch für unnötig erklärt wurden.38 Dass Happel dagegen eher älteren Deutungsmustern nachhängt, zeigt sich etwa in der frühen Relation „Die Königliche Chur in Franckreich und Engeland“.39 31 32 33 34 35
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Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 4, S. 25. Ebd., Relation „Der indianische Gauckler“, Nr. 57, S. 450. Ebd., Relation „Der zauberische Wind-Meister“, Nr. 12, S. 96. Ebd., Band 4.2, Relation „Die vermeinte Wunder-Chur“, Nr. 36, S. 286. Zum Komplex ,Natürlich’ - ,Außernatürlich’ - ,Übernatürlich’ siehe auch: Daston, Lorraine: Marvelous Facts and Miraculous Evidence in Early Modern Europe, in: Critical Inquiry, 1991, S. 93-124, besonders S. 95ff. Happel: Relationes Curiosae, Band 3.2, Nr. 59, S. 465. Ebd. Dürr, Renate: Prophetie und Wunderglauben. Zu den kulturellen Folgen der Reformation, in: Historische Zeitschrift, 281, 2005, S. 3-32, hier S. 4. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 3, S. 17.
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Schlussbetrachtung
Thema ist die zeitgenössisch populäre Vorstellung der angeblichen Heilung von Kranken durch königliches Handauflegen. Happel stellt mit der fehlenden göttlichen Intervention auch die wunderbaren Qualitäten des Ereignisses gänzlich in Abrede: „So kan man es auch kein Wunderwerck nennen / dann die Curen geschehen nicht / den Glauben und die Göttliche Warheit zu erweisen / worauf die Wunderwercke gemeiniglich zu zielen pflegen“.40 An die ,Leerstelle’ der Deutung rückt jedoch keine dogmatische neue Erklärung. Happels Leistung besteht vielmehr darin, dass er die heterogenen Meinungen seines Quellenmaterials41 moderierend abwägt und ein vorsichtiges Resümee wagt. Demnach geben die ,okkulten’ Kräfte der Natur zusammen mit der starken Einbildungskraft der Heilungssuchenden den plausibelsten Deutungsrahmen vor: „Die beste Meynung ist deren / die behaupten / dass ein heimlicher Einfluß der Natur und einer unsichtbaren Krafft das meiste darbey thue / dann durch die starcke Einbildung der Patienten / und deren veste Zuversicht / werden ihre verschlossene Geister glencket gerühret / und auffgemuntert [...]“.42
In einem späteren Artikel des gleichen Jahres zeigt sich, dass Happel den Kanon klassisch-religiöser Wunder nicht grundsätzlich verneint. Der Bericht über die „Wunderbare Erhaltung etlicher Menschen ohne Speiß und Tranck“43 spielt auf die verbreiteten Berichte über Fastenwunder an, den die Relationes wiederholt aufgreifen. Im Auftaktkommentar der Relation macht Happel jedoch deutlich, dass die religiöse Interpretation vom langen Überleben ohne Nahrungsaufnahme für sein Periodikum kein Thema ist – und zeigt zugleich, dass die ,natürlichen’ Ursachen, um die es ihm geht, trotzdem nicht die einzig denkbaren sind: „Dass Gott der Allmächtige durch seine allwaltende Wunder-Hand / so lange es ihm gefällig / ohne eintzige Geniessung der Speisen jemand erhalten könne / daran gebühret keinem Menschen / vielweniger einem Christen zu zweiffeln: Wie aber solches natürlicher Weise / ohne sonderbahres Wunderwerck zugehen könne / davon wird allhier geredet“.44
Im Folgenden versucht Happel, die ,natürliche’ Erklärung aus der textlichen Überlieferung zu destillieren, deren lange Tradition (und gleichzeitig seine eigene Belesenheit) er durch die Auflistung von achtzehn Referenztiteln an40 41 42 43 44
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 3, S. 17. „Thuldenus Hist.Enn.II.1.3 Foraculus Clodovaeo Ludovila Vorgilius Camerarius Plinius Heinrich Stubbe Marcus d’Aviano Andreas Laurentius“. Ebd. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die Königliche Cur in Franckreich und Engeland“, Nr. 3, S. 17. Ebd., Nr. 10, S. 75. Ebd.
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deutet.45 Die methodischen Schritte seiner Textarbeit reflektiert er dabei weit deutlicher als in den meisten anderen Artikeln und eröffnet zugleich einen Alt-Neu-Diskurs bezüglich der Quellen, indem er ,den Alten’ „viele Fabeln“ zuschreibt: „Wir wollen zuforderst etliche Exempel aus den neuesten Autoribus / weil man doch den Alten viele Fabeln zuschreiben will / anführen / und als dann die Ursache solches langen Fastens / so viel unserm schwachen Verstande vergönnet ist / aus den berühmtesten Physicis hierbey fügen“.46 Es überrascht kaum, dass ,die Alten’ im unstimmigen Resümee letztlich doch wieder ihre autoritäre Rolle behaupten: Plinius habe elf Tage als die maximale Dauer angegeben, die ein Mensch auf natürlichem Wege ohne Nahrung überleben könne. Alle höheren Angaben hält Happel entweder nur im Rahmen eines echten Mirakels für glaubwürdig oder eben als Betrug des Teufels: „[...] diesem ist mehr zu glauben als den vorhergehenden [anderen Autoren, F.S.] / sonsten müste in vorangezogenen Historien ein sonderbahr Miracul Gottes / oder ein Betrug des Teufels (deren keines hier zu glauben stehet) vorgangen seyn“.47 Der auch hier obligatorische Rekurs auf Plinius zeigt, dass sich Happel nicht zwingend auf neuere Autoren stützen muss, um eine Kritik an wunderbaren Deutungsmustern zu formulieren. Neben der Naturgeschichte von Plinius ist es – kaum überraschend – Aristoteles’ Naturphilosophie, aus der an anderer Stelle Vorbehalte gegenüber dem Wunder abgeleitet werden. Happel kritisiert, dass man sich zu oft mit der emotionalen Reaktion der Verwunderung begnüge, während eine Erforschung des Gegenstandes schnell die natürlichen Ursachen der Dinge offen legen würde. So heißt es mit Bezug auf Aristoteles’ Theorie von der spontanen Genese des Lebens im Artikel „Der in lebendigem Leib gründende Zweig“:48 „Wann wir von dergleichen Dingen hören / so stehen wir und verwundern uns / lassen es aber dabey bewenden / und dencken diesem nicht weiter nach / sondern betrachten es / als etwas unnatürlichs / da uns doch Aristoteles [...] den Unterricht giebet / daß auch in den Exrementis der Leben Anfang stecken könne“.49
Eine ähnliche Überlegung über leichtfertige Formen der Verwunderung findet sich später wieder unter Rekurs auf Plinius. In der Relation über die Me45 46 47 48
49
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 10, S. 75f. Ebd., S. 75. Ebd. Als Quellen führt Happel Kirchers China Illustrata und die Miscellanea Curiosa an: „Kircher China illustrata part.2.5 [...] Vid.Cur.mis.Germ.Ann.3.Observ.109.p.17“. Ebd., Nr. 36, S. 287. Ebd. Aristoteles zitiert als „Aristoteles lib.3. De General.anim.cap.3“.
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tamorphose einer amerikanischen Raupe („Die veränderte Raupe“50) gibt Happel die Relativität des Wunderbaren zu bedenken – unabhängig von der Frage natürlicher und übernatürlicher Ursachen erscheine schon das potentiell wunderbar, von dem man das erste Mal liest oder hört: „Das mag wol heissen / was Plinius saget: Was für ein Ding ist doch wol in der Welt / das nicht vielen wie in Miracul vorkommet / wann es erstlich kund wird?“.51 Wie Happel immer wieder ein fehlendes Bewusstsein für die nur vorgetäuschten Wunder des Teufels beklagt, so kritisiert er verschiedentlich auch den ausufernden Kult um andere ,falsche’ Wunder. Dabei vermischen sich die Argumente mit einer wiederholt vorgebrachten, jedoch unspezifischen Kritik am ,Aberglauben’, wähnt Happel doch viele seiner Zeitgenossen regelrecht „[...] im Aberglauben ersoffen [...]“.52 Eine konfessionelle Polemik vermeidet er dabei, latent tauchen jedoch wiederholt Spitzen gegen katholische Formen der Volksfrömmigkeit auf. So etwa im Artikel „Das schwitzende Bild“,53 in dem Happel gegen den ,einfältigen’ „[...] grosse[n] Irrthumb des gemeinen Mannes [...]“54 wettert. Dass Bilder fähig seien, Flüssigkeiten abzusondern, will auch Happel nicht in Frage stellen; wohl aber eine Ausdeutung, die direkt auf ein Wunderwerk Gottes schließt. Schließlich seien beim genaueren Hinsehen doch ganz unspektakuläre und damit natürliche Ursachen zu erkennen: „Bey dem einfältigen Manne macht man an vielen Orthen ein grosses Werck davon / wann man irgend ein Bild / weinen / schwitzen / oder Milch geben siehet; Daß hierbey eine grosses Superstition und gewaltiger Betrug vorzugehen pflege [...] stehet keineswegs zu läugnen. Im übrigen darff man auch deßfalls nicht eben alles so genau widersprechen / sintemahl es wohl geschehen kan / daß ein todtes Bild natürlicher Weise eine Feuchtigkeit / so dieser oder jener vor Tränen / Schweiß etc. außdeuten kan / von sich giebet“.55
Eine punktuelle Kritik des Wunderbaren entwickelt sich in den Relationes nicht zuletzt auch aus dem Problem der Beglaubigung: Wiederholt stellt sich die Frage der Zuverlässigkeit von Wunderberichten, auch wenn dies selten mehr als eine Selbststilisierungsstrategie Happels ist. Eine exemplarische Äußerung in diesem Kontext findet sich um 1681 in der Relation „Die wunderwürdige Weynacht-Früchte“.56 Die Überschrift suggeriert zunächst den 50 51 52 53 54 55 56
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 1, S. 3. Ebd. Ebd., Band 4.2, Relation „Die abscheuliche Beschwärung“, Nr. 37, S. 291. Ebb., Band 2.2, Nr. 22, S. 176. Ebd., Band 1.2, Relation „Der flammende Brunne“, Nr. 11, S. 83. Ebd., Band 2.2, Nr. 22, S. 176. Ebd., Band 1.2, Nr. 28, S. 223f.
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Glauben an das berichtete Wunder. Gegenstand der Diskussion ist ein Apfelbaum, der allein jährlich zur Weihnachtszeit Früchte tragen soll.57 An den Berichtsteil schließt Happel seinen Kommentar an. Erneut ist charakteristisch, dass hier weniger an der Existenz des Naturwunders gezweifelt wird als an seiner verbreiteten Ausdeutung: „Der gemeine Mann stehet in dem Wahn / daß dieser Baum vor 1681 Jahren / als unser Heyland zu Bethlehem geboren worden / schon gestanden / geblühet und Früchte getragen / solchem nach durch ein sonderbahres Wunderwerck biß auff diese Stunde wäre erhalten worden“.58 In den folgenden Bemerkungen schließt Happel naiven Wunderglauben aus seinem Periodikum selbstbewusst aus – vermittelt würden nur echte Wunder, die einer kritischen Überprüfung der Quellen standhalten: „Dieses berichte ich gründlich / damit nicht jemand meyne / daß in unsern Relationen etwas gemeldet würde / welches gleichsam an den Haaren zu einem Wunder gezogen werde. Nein / gar nicht / ich bin vielmehr bemühet die gründliche Wahrheit dieses oder jenen angemerckten Wunders / oder Denckwürdigkeit / so / wie sie sich in der That befindet / ohnverfälscht dem günstigen Leser mitzutheilen“.59
Noch im gleichen Artikel zeigt sich allerdings, dass der demonstrativ formulierte Anspruch mit der praktischen Textarbeit erneut nichts zu tun hat: Listenartig führt Happel ein ganzes Spektrum erstaunlicher Äpfel an, ohne ein einziges Mal Stellung zur Glaubwürdigkeit der Berichte zu nehmen – stattdessen akzeptiert der Kompilator solche ,Wunderbäume’ im Rahmen des Denkmusters der ,spielenden Natur’ (siehe Kapitel 7.2.). Denn auch die Gelehrtenwelt vermutet, wie Happel in der anschließenden Relation ausführt, nur natürliche Ursachen für das Phänomen. Eine Spannung zwischen den Begriffen ,Wunder’ und ,Vernunft’ suggeriert Happel insofern, als der Artikel-Titel „Das Vernunfft-mäßige Urtheil eines Gelahrten Phyisci über vorgedachte Weynacht-Aepffel“60 im wirkungsvollen Kontrast zur vorangehenden ,Schlagzeile’ steht. Happel zieht hier den übersetzten Ausschnitt aus einem Beitrag in den Miscellanea Curiosa61 hinzu, den Sachs von Lewenhaimb 57
58 59 60 61
Der bibliographische Referenzapparat setzt sich zusammen aus: „Abraham Sauer StadtBuch Zeiler Itern.Germ. PartI.c.22 Joh. Olorinus Centur. Arbor.Mirac.C.I.p.2. Henricus Bolgnadius Unzer Catapro Liomode 1.I.c.21“. Ebd. Wahrscheinlich stützt sich Happel hier ausschließlich auf das seinerseits bereits kompilatorische Pflanzenbuch des Satirikers und Übersetzers Johann Sommer (1559-1622): Centuria Arborum Mirabilium Das ist: Hundert Wunderbäume auff dem Grundt und Bodem deß grossen Weltgartens [...], Magdeburg 1616. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 28, S. 223. Ebd. Ebd., Nr. 29, S. 225. Ebd.
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(1627-1672), Breslauer Stadtphysikus und Mitbegründer des Gelehrtenjournals, verfasst hatte. Auch hier läuft die Verbreitung natürlicher Deutungsangebote in den Relationes darauf hinaus, dass kein normativer oder monokausaler Erklärungsanspruch mehr vorgegeben wird. Vielmehr überlässt Happel seinen „verständigen“ Lesern die Entscheidungsfindung selbst: „Ich lasse zum Beschluß / einem jeden Verständigen sein freyes Urtheil hierüber“.62 Dass die Relationes im Hinblick auf die Kritik und den Bedeutungswandel des Wunderbaren als ein Medium des Übergangs – eines ,sowohl als auch’63 – zu werten sind, zeigen überdies Happels Kommentare im Diskurs über die Prodigien. In der Berichtsfülle über Himmelserscheinungen und Wunderregen, dem klassischen Kern der Prodigientradition, oszilliert Happel erneut auf charakteristische Weise zwischen religiösen und ,naturalisierenden’ Deutungsangeboten.64 Sie lassen das Zeichenpotential von auffallenden Naturerscheinungen allmählich schrumpfen oder stellen diese ganz in Frage. Der ,frühaufklärerischen’ Publizistik sind die Relationes hier insofern teilweise zuzuordnen, als sie die divergierenden Standpunkte des kompilierten Materials nicht verschweigen. Stattdessen sensibilisiert Happel den Leser für die Wahrnehmung, dass sich Wissen nicht mehr als eindimensionaler Prozess vollzieht, sondern in Reibungen, Brüchen und einem ständigen Dialog der Texte untereinander. Die Relationes versuchen daher auch nicht mehr, die Widersprüchlichkeiten der Quellen in das Korsett einer einheitlichen und normativen Deutung zu zwängen – das hätte auch dem Selbstbild Happels widersprochen, dem es weniger grundsätzlich um die Kritik als um die Wissenssicherung und -vermittlung ging. Das starke Schwanken zwischen der ,Entzauberung’ des Wunderbaren und seiner Beglaubigung mag Happel jedoch schon deswegen nicht bewusst gewesen sein, weil er nur die einzelne Wochenausgabe und nicht ,das Ganze’ des sukzessiv wachsenden Periodikums im Blick hatte. Zwei Punkte sind besonders signifikant: 1. Happel schreibt den kolportierten Kanon der (Natur-)Wunder noch nicht der Fiktion zu. Fraglicher als die Existenz solcher Phänomene war die Frage ihres Stellenwertes, und hier setzt die partiell kritische Dimension der Relationes ein, indem Happel mit Deutungsangeboten zurückhaltend umgeht. Der Wandel liegt hier nicht zuletzt darin, dass viele Wunder an religiöser Orientierungskraft verlieren und nur mehr Gegenstand von Unterhaltung sind, also in erster Linie auf sich selbst und nicht auf Gott verweisen. Selbst wenn sich das Wunderbare bei Happel den Kategorien des Verstehens noch nicht vollständig fügt, greift die 62 63 64
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 29, S. 225. So Wilhelm Kühlmann über die intellektuelle Signatur des 17. Jahrhunderts. Kühlmann: Lektüre für den Bürger, S. 923. Ausführlich: Schock: Zur Kommunikation von Wunderzeichen.
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Erklärung nicht mehr postwendend das religiöse Paradigma auf. Im Artikel „Das lauffende Blat“65 formuliert Happel diesen Anspruch am nachdrücklichsten: „Aber ob wir gleichbißweilen unsern Witz / bey einer Sache / die wir nicht begreiffen können / gefangen nehmen müssen / so sollen wir sie darumb nicht alsobald vor ein Portentum oder Monstrum [von zeigen, verweisen, F.S.] halten“.66 2. Die ganze Unstimmigkeit des Textes zeigt sich wiederum darin, dass religiöse Auffassungen trotz ,naturalisierender’ Töne nicht prinzipiell verabschiedet werden. Diese ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen’ lässt sich abschließend an zwei widersprüchlichen Stellungnahmen illustrieren, die sich im Abstand eines Jahres in den Relationes finden. Um 1686 bringt Happel mit seiner Kritik am verbreiteten Zauberglauben des ,Nestelknüpfens’67 einen der wenigen Artikel, deren Titel expressis verbis „Des Authoris Meynung“68 ankündigen. In Abgrenzung von der Wunderschwärmerei des ,gemeinen Mannes’ hält Happel hier einleitend und grundsätzlich fest: „Ich halte aber dafür / man müsse nicht dem gemeinen Mann gleich seyn / welcher fast alles übernatürlichen Ursachen zumisst / wann er ein Ungewitter oder ein Donner einschlagen sehe [...]“.69 Vielmehr müsse man, wie Happel fortfährt, „[...] den warhafften Philosophen nachfolgen / die nur in dem Fall zu verborgenen Eygenschafften [der Natur, F.S.] sich wenden / wann alle andern Ursachen ermangeln / und weniger müsse man auch etwas übernathürlichen Ursachen zueigen / wann man derer in der Natur finden kann / mögen sie auch so verborgen und heimlich seyn / wie sie wollen“.70
Etwa ein Jahr später gibt Happel seinen Lesern in einem Themenkreis über die Schäden diverser Unwetter gleichwohl Folgendes zu bedenken: „Kurtz davor zu reden: Ich schätze solche mancherley Weise und Würckungen der Donner-Streiche / ob sie gleich natürlich / dennoch vor einen kräfftigen Beweißthum der himmlischen Fürsehung / die zwar aus unzählig vielen Dingen / sonderlich und gar klar aber aus den herabfahrenden Donnerschlägen herfür leuchtet“.71
65 66 67 68 69 70 71
Happel: Relationes Curiosae, Band 2.2, Nr. 1, S. 9. Ebd. Ebd., Band 3.2, Nr. 62, S. 490f. Ebd., S. 491. Ebd. Ebd., S. 491f. Ebd., Relation „Der seltsam-würckende Donnerstrahl“, Nr. 8, S. 57.
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8.2. Medientypus des Barock – Medientypus der Moderne? Sind die Relationes trotz der Allgegenwart des Wunderbaren ein Medium der Neuzeit? Unlängst hat Holger Böning in einem programmatisch betitelten Aufsatz die Bedeutung der periodischen Presse als kulturelle Errungenschaft des 17. Jahrhunderts erneut unterstrichen – Zeitung und ,Zeitschrift’ seien Medientypen der Moderne und auch die Relationes Curiosae werden dazu gezählt.72 Zum Innovationscharakter gerade der Zeitung heißt es: „Die Zeitung, so eines der wichtigsten Charakteristika der Presseentwicklung des 17. Jahrhunderts, bahnt maßgebend den Weg zu jeder anderen weltlichen Lektüre. Sie schafft neben den Gelehrten ein Lesepublikum für nicht-religiöse Literatur in der Muttersprache und ist [...] hauptverantwortlich für die Entstehung weiterer Gattungen der periodischen und nichtperiodischen Literatur, die auf der Zeitungsberichterstattung aufbauen [...]“.73
De facto hätte es auch die Relationes ohne die Zeitung und die von ihr geschaffene technisch-institutionelle Seite der Medienentwicklung nicht gegeben. In einer historisch günstigen Situation war Thomas Wiering in Hamburg nicht nur Zeitungsdrucker und -verleger, sondern auch universeller und innovativer ,Medienmacher’, der die Relationes ab 1681 erstmals seinem Relations-Courier beilegte und sie im etablierten Rahmen auf Akzeptanz erprobte. Zeitungen und die von ihnen abhängigen Periodika bildeten daher im 17. Jahrhundert zweifellos einen „dichten Medienverbund“.74 Die Abhängigkeit „[...] weiterer Gattungen der periodischen und nichtperiodischen Literatur [...]“ von der Zeitung in formaler und teils auch in inhaltlicher Hinsicht ist damit unbestritten. Die vorliegende Arbeit über Happels Relationes Curiosae hat jedoch gezeigt, dass der alleinige Bezug auf die Wurzel der Zeitung ein historisch verkürztes Bild zeichnet. Neue Monats- oder Wochenschriften speisten sich in in ihrer Frühphase nicht allein aus den Inhalten der Zeitungen, sondern aus einer Vielzahl anderer Texttraditionen und medialer Kontexte – etwa aus dem enzyklopädischen Polyhistorismus, der Buntschriftstellerei und der Kunstkammer. Es wäre mit Blick auf die Medien- und Presseentwicklung des 17. Jahrhunderts insgesamt daher nur bezüglich der Zeitung richtig, einen „Sieg des Neuen über das Alte“75 geltend zu machen. In anderen Fällen ist stattdessen von Medienumbrüchen und Medienüberlagerungen zu sprechen, die sich nicht in das simple Schema der klaren Abfolge medienhistori72 73 74 75
Böning: Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, S. 113. Ebd., S. 121f. Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, S. XXI. Behringer: Reichspost und Kommunikationsrevolution, S. 303-412.
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scher Epochen pressen lassen. ,Neu’ war abgesehen vom periodischen Rahmen kaum einer der Kontexte und Diskurse, die Happel aufgreift und kommentiert – nicht das Modell der Kunstkammer, nicht die Tradition der Wunder, nicht die textlichen Konventionen, nicht die Ziele einer breiten Gelehrsamkeit, die angesichts einer periodischen Wissensproduktion zunehmend an ihre Grenzen stieß. Diese eher traditionellen Elemente speichern sich im Begriff der ,Wissenssammlung’ – es geht Happel mit den Relationes eher um das Fortschreiben und Überarbeiten des Bewährten als um die etwaige Aussonderung von ,unzeitgemäßem Wissen’. Vieles an diesem in seiner Publikationsform originellen Presseprodukt scheint daher zurückzublicken, zumal sich Happel an keiner Stelle als Erneuerer stilisiert und gar nicht vor hatte, mit jenen Kontexten zu brechen, auf die er sich bezog. ,Neu’ im Sinne des bislang Unbekannten waren die Wissensangebote der Relationes nur für jene, die zu den Bücherwelten der Epoche keinen Zugang finden wollten oder konnten. Happel setzt die Autorität dieser eher ‚zeitresistenten’ Bücher dem Aktualitäts- und Neuigkeitsparadigma der politisch dominierten Tagespresse entgegen. ,Moderne’ Züge lassen sich hier nur dann erkennen, wenn Modernität mit Publikums- und Zeitgeschmack gleichgesetzt wird, für die Happel ein hervorragendes Sensorium besaß. ,Modern’ im Sinne von Holger Böning waren die Relationes dann, wenn sie jene Stoffe im neuen Takt verfügbar machten, nach denen eine im weitesten Sinn ,weltliche Lektüre’ verlangte (und die damit in gewisser Weise ständig aktuell waren) – ob dies imaginäre Begegnungen mit außereuropäischen Welten betraf oder die Masse der „Curiositäten“ im eigenen Lebensumfeld. Gleichwohl erscheint es lohnenswert, in der zusammenfassenden Diskussion noch einmal zur Frage zurückzukehren, ob Happels Wissenssammlung in ihren Funktionen und Leistungen eher dem frühmodernen oder dem modernen Mediensystem angehört. Zunächst wurde gezeigt, dass das Gefüge von Stadt- und Mediengeschichte speziell in Hamburg die Entwicklung neuer ,journalistischer’ Berufsbilder im Grenzbereich vom literarischen und publizistischen Markt erheblich beförderte. ,Biographische Problemfälle’ wie Happel konnten sich ihre Nischen noch ohne größeren Konkurrenzdruck erarbeiten und es zu veritablem Erfolg bringen – angesichts der Undurchlässigkeit frühneuzeitlicher Gesellschaftsstrukturen eine durchaus neuzeitliche Entwicklung. Entscheidend für die Genese der Relationes, aber auch für das Profil von Happels Œuvre insgesamt ist, dass er im innovationsfreudigen Verlag Wierings unterkam, mit diesem eng kooperierte und auf neue Lektüre- und Wissensbedürfnisse spontan reagierte. Verortet im urbanen Zentrum der Hamburger Börse, produzierte Wiering neben seinem erfolgreichen Wochenblatt Relations-Courier ein funktional eng vernetztes Medienspektrum aus Flugschriften und Flugblättern, Zeitungen, Serienzeitungen, Gelegenheits-
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drucken, chronikalischem Material etc. Die Vielfalt der nicht-periodischen und periodischen Erzeugnisse lässt sich typologisch nur schwer trennen und ex post mit eindeutigen Etiketten versehen. Ohne Wierings Experimentierfreudigkeit bezüglich neuer Formate und die Aussicht, diese im hauseigenen Zeitungsladen an der Börse auch problemlos absetzen zu können, hätte es die Relationes in dieser Gestalt sicher nicht gegeben. Zudem konnte – weit deutlicher als dies bislang akzentuiert wurde –, entlang des wechselseitigen Recyclings von Wissensinhalten gezeigt werden, dass Happel im Publikationszeitraum der Relationes bei Wiering diverse andere Blätter redigierte und tendenziell ,multimedial’ tätig war. Auch seine Romane, obwohl in Ulm verlegt, entstanden an den Hamburger Arbeitsorten. Ob thematisch differenzierte Serienzeitung, Völkerkunde, historiographische Werke, Romane oder wöchentliche Wissensextrakte wie die Relationes Curiosae – was Happels vielfältiges Schaffen überwölbt und die Grenzen zwischen verschiedenen Genres überwindet, ist der im Sinne Eichendorffs ,toll gewordene’ Vorsatz, Wissenswertes jeglicher Provenienz zu versammeln und zu verbreiten. Zur Umsetzung dieser Prämisse machte Happel auch die poetologisch noch nicht streng fixierte Form des Romans als Wissensmedium nutzbar, die unbefangen zwischen narrativer und ,faktographischer’ Textanlage changierte. Dass die Romane Happels im meist vierteljährlichen Fortsetzungsrhythmus erschienen, in Serie also, zeigt zudem, dass zwischen der Serialität des Wissens und der engmaschigeren Periodizität nicht kategorial zu unterscheiden ist – Periodizität und/oder Serialität setzen sich als Textmerkmale im Zuge der neuen Medien des 17. Jahrhunderts durch und weisen dort ,moderne’ Züge auf, wo sie den klassischen Textbegriff der Buchwelten aufbrechen: Roman und Periodikum verweisen auf eine Offen- und Unabgeschlossenheit, auf ein ,Open End’-Prinzip von Wissen und Text. Dies setzt auf Seiten des Lesers eine komplementäre Lektürehaltung und den Willen voraus, die Dinge als etwas Vorläufiges zu betrachten. Deutlich ist allerdings die Differenz mit Blick auf die Quellengrundlage: Während Happels Romane ohne den Fundus der Zeitungsberichte nicht möglich gewesen wären, verzichten die Relationes fast gänzlich auf eine direkte Verarbeitung76 von Zeitungsextrakten. Gerade das war, wie ein Vergleich im Kontext der weiteren Presselandschaft gezeigt hat, auch ein Unterscheidungsmerkmal zu anderen Periodika jenseits der Zeitung: Frühe Hamburger ,Zeitschriften’ wie die Erbaulichen Ruh-Stunden oder der Nürnberger GötterBoth Mercurius, recycelten zunächst ungeachtet ihrer gänzlich anderen inhaltlichen Ausrichtung vor allem Zeitungsmaterial und erwiesen sich diesbezüg76
Aus ,zweiter Hand’ verarbeitet Happel, wie gezeigt, chronikalisch-historiographische Großunternehmen wie das Theatrum Europaeum; dieses fußte seinerseits zu großen Teilen bereits auf der Verwertung von Zeitungsnachrichten.
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lich wesentlich zeitnäher als die Relationes. Sie standen dafür aber auch in umso größerer Abhängigkeit zum ,Primärmedium’ Zeitung. Daneben war auch programmatisch-inhaltlich klar, dass die Relationes Curiosae zum historisch richtigen Zeitpunkt auf den noch kaum umkämpften Markt der periodischen Presse traten: Der Götter-Both Mercurius tendierte als historischpolitisches Blatt in eine erheblich andere Richtung. Denkbar ist demgegenüber ein Einfluss der auch von Happel zitierten Ruh-Stunden: Johann Frischs Periodikum ging neben moralisierend-erbaulichen Zielen bereits vom Unterhaltungsparadigma aus, allerdings in weit schwächerer Ausprägung und unter Aufbringung weit weniger Inhalte als in den Relationes. Ein periodisches Blatt, das auf den ersten Blick mit dem alleinigen Anspruch auftritt, dem Zeitvertreib über die Ausbreitung eines möglichst breiten Wissenspanoramas zu dienen, war in dieser Form genuin neu und konnte sich umso einfacher etablieren. Signifikant anders als die übrigen deutschsprachigen Periodika waren die Relationes überdies durch zwei formale Auffälligkeiten: zum einen durch die Präsenz eines gewichtigen bibliographischen Apparats, der zum Standard der gelehrten Literatur gehörte und die autoritäre Absicherung bzw. ,Vernetzung’ jedes Wissensdiskurses sichert. So legt schon das typographische Erscheinungsbild des Textes einen Ursprung weniger aus dem Kontext ,moderner’ periodischer Genres nahe denn aus dem gelehrter Praktiken – der flüchtigen Tagespresse wird die ‚langfristige Stabilität’ nichtperiodischer Druckerzeugnisse entgegen gesetzt. Augenfällig ist zum anderen Happels stilistische Entscheidung, die Wissensinhalte nicht im Modus des Dialogs zu präsentieren, wie er in anderen Periodika prominent bereits im Titel angelegt war (Monatsgespräche etc.); stattdessen wählt er – gleichwohl unerklärt – die ,objektive’ Textform des Berichts, die im periodischen Genre der Gelehrtenjournale bereits seit den 1660er Jahren gängig war. Die oben betonte stilistische Distanz zur periodischen Presse relativiert sich hier punktuell, denn Happel adaptiert neben den Inhalten der im engeren Sinn wissenschaftlichen Journale teils auch deren ‚Formatierung’. Daneben spiegeln sich noch weitere Grundzüge der gelehrten Periodika in den Relationes, die sie zu einem populären ,Teilderivat’ der großen Akademiejournale machen: So traten diese als energische Fürsprecher der Neugier auf und knüpften eine selbstbewusste Verbindung von Wissensdurst und neuen Medien, eine Konstellation, die sich auch bei Happel findet. Für Jahrhunderte als sündhafte Weltverfallenheit stigmatisiert, erlebte die moralische Bewertung der Neugier im 17. Jahrhundert einen erstaunlichen Umbruch. Obwohl Vorbehalte in verschiedenen Kontexten weiterhin ihre Deutungsmacht behaupten konnten, nahm das Lob der Neugier in mehreren Teilöffentlichkeiten der Zeit extrem zu. Die älteste deutsche Akademie, die Schweinfurter Academia Naturae Curiosorum (1652), trug die Neugier
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schon im Titel, ebenso ihr Periodikum, die Miscellanea Curiosa. Betont anders zeigte sich die Situation im Diskurs über das ältere periodische Medium Zeitung: Wie gezeigt, standen die Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts der Neugier als einem sich selbst genügendem Antrieb des Medienkonsums fast unisono ablehnend gegenüber. In teils heftig geführten Grabenkämpfen wurden nützliche von unnützen Formen der curiositas zu trennen versucht. Mit den Relationes Curiosae reagierte Happel auf diese das gesamte „curieuse Seculum“ durchziehende kulturelle Debatte und unterlief mit einem nahezu ausnahmslos positiven Bezug auf die Neugier die Haltung der Zeitungstheoretiker. Indem er seine Leser als „curiös“ adressiert, konstruiert er diese als solche erst und gibt implizit vor, das adäquate Medium für eine imaginierte wie modische (Werte-)Gemeinschaft zu liefern – in diesem Sinne war das Periodikum durchaus ‚modern’. Die selbstbewusste „Curiosität“ kannte kaum mehr Frageverbote und Arkanbereiche des Wissens – ebenso ein fortschrittliches Versprechen. Mit der Attitüde der „Curiosität“ entlehnt Happel den Gelehrtenjournalen zudem das Versprechen einer zumindest gefühlten Teilhabe an den exklusiven Gegenständen wissenschaftlicher Neugier, den „Curiositäten“ als Objekte. Da quasi alle Gelehrtenblätter überquollen von irregulären empirischen Erscheinungen und Beobachtungen vor allem der natürlichen Welt, konvergierten sie mit den Sensationsbedürfnissen eines breiteren Publikums. Wie die gelehrten Periodika strukturell als imaginäre Sammlung „curiöser“ Fakten funktionierten, so tritt auch Happel als Autor einer sammelnden Lektüre auf. Die emanzipierte Neugier und die kulturelle Praxis des Sammelns verhielten sich in elitären und populären Wissenszusammenhängen als komplementäre Prozesse. Über das Sammeln und die Neugier lassen sich die Bezüge zu zwei weiteren Signaturen des Zeitalters knüpfen, die strukturellen Einfluss auf Happels Periodikum haben: textuelle Formen des Enzyklopädischen und deren materielles Gegenstück in der Kunstkammer. Zunächst wurde gezeigt, dass die Relationes klar innerhalb der polyhistorisch-universalen Wissensansprüche des 17. Jahrhunderts zu verorten sind. Ausdrücklich stellt sich Happel in die polyhistorische Traditionslinie. Er reflektiert allerdings auch eine dringlicher werdende Schwellensituation der Zeit, die bereits auf ein ,modernes’ Problem voraus weist: Das Ideal der Gelehrten und Halb-Gelehrten, über möglichst universales Wissen zu verfügen und dieses als Einheit zu überschauen, provozierte immer intensivere Bücherklagen – die schiere Masse der rasant wachsenden Textwelten ließ die Umsetzung vielseitiger Wissensansprüche zunehmend utopisch erscheinen. War es besser, von allem etwas oder von einer Sache alles zu wissen? Happel tritt für Ersteres ein und sensibilisiert seine Leser unabhängig von den konkreten Einzelinhalten für die Bedeutung ,des’ Wissens als eigene Größe. Ob er von den Instrumenten, die der gelehr-
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te Diskurs zur Bewältigung des zeitgenössischen ,Information Overloads’ bereitstellte Gebrauch machte, lässt sich indessen nur noch indirekt erschließen – wahrscheinlicher und für die beschleunigten Arbeitszusammenhänge der periodischen Presse bezeichnend ist, dass Happel nicht auf der Grundlage eines organisierten Exzerptkastens kompilierte, sondern die Quellen in den meisten Fällen vermutlich wahllos quer las und ohne Zwischenspeicherung für die wöchentlichen Bogen der Relationes verarbeitete. Die äußeren Zwänge einer schnellen Produktion werden auch die wichtigste strukturelle Entscheidung von Happel beeinflusst haben: die ,systematische Unordnung’ des Wissens, die als Teil der publizistischen Konzeption der Relationes deutlich reflektiert und ebenso ambitioniert verteidigt wird. Der für die Gattungsfrage der Relationes wichtigste Referenzpunkt ist hier in dem bislang kaum beachteten Polyhistorismus jenseits der Systeme (Wilhelm Kühlmann) zu sehen – der Buntschriftstellerei. Sie markiert die außerakademische, ‚unkontrollierte’ Seite enzyklopädischer Wissensformen der Frühen Neuzeit. Dem bereits in der Antike wurzelnden, populären Literaturfeld ging es programmatisch um eine ,bunte’, also möglichst vielseitige und damit kurzweilig-zerstreuende Wissensdarbietung. In der Disposition des Materials wären Ordnungsprinzipien und Systemgedanken, wie sie die gelehrte Enzyklopädik der Zeit erschöpfend durchexerzierte, nur hinderlich gewesen. Die wiederholt in den Vordergrund gerückte ,angenehme Konfusion’ wird insofern zu einem zentralen Bestandteil von Happels textueller Strategie, die von der klassischen Ganztextlektüre der Buchkultur erheblich abweicht – die Desorganisation des Textes entspricht dem intendierten Zugriff. Das in diskontinuierliche, tausende Artikel fragmentierte Wissen musste und sollte sich der Leser nicht sequentiell-linear erschließen; vielmehr luden die Relationes wöchentlich dazu ein, an beliebigen Punkten einzusteigen, sich von Happels ,Schlagzeilen’ spontan leiten zu lassen, zu blättern und selektiv zu sein – ein Rezeptionsmodus, der der heutigen Navigation im Internet durchaus ähnelt und damit ,modern’ anmutet. Die Ordnungslosigkeit des Wissens erzeugt diesbezüglich noch ein zweites Moment: Sie adressiert einen Rezipienten mit verkürzter Aufmerksamkeitsspanne. Nur wenige Minuten erbittet Happel von den Käufern; der damit suggerierte praktische Zugriff ist der des Schmökerns77 und nicht der des zeitaufwändigen Studiums. Ein doppelter Status der Relationes zwischen kurzlebiger Presse und langlebigem Nachschlagewerk wird gleichwohl dadurch erreicht, dass das Chaos der Inhalte nachträglich in den gebundenen ‚Jahresbänden’ mit dem Lektüreschlüssel des alphabetischen Registers versehen wurde. Doch bricht Happel auch im Kompilieren nicht selten mit den Prämissen gefälliger Un77
http://elbanet.ethz.ch/wikifarm/karidol/index.php?n=Main.Buntschriftstellerei.
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ordnung, indem in monothematischen Artikelserien einzelne Stoffe in teil systematischer Fülle ausgebreitet und in assoziativ-rhetorischer Weise das zusammengebracht wird, was sachlich zusammengehört – alle Aspekte maritimen Lebens etwa, von einer kurzen ,Weltgeschichte’ des Schiffbaus bis hin zur Entwicklung des Heringsfangs und der Bedeutung des Salzes; inhaltlich zeigt sich hier das lokale Kolorit des Wochenblattes. Hinzu kommt, dass Happel häufig unbewusst den Strukturmustern jener Texte folgt, die er exzerpiert. Deutlich nachweisen lassen sich etwa die Parallelen zur kosmographischen Tradition; sie ,konfigurieren’ schon den Auftakt des Periodikums, indem Happel den Denkwürdigkeiten der Welt eine Beschreibung des Kosmos voranstellt. Thematisch orientiert er sich damit in den ersten Wochenausgaben an einem zeitgenössisch äußerst beliebten Lesestoff. Trotz der historisch neuen, periodischen Publikationsform überraschte der thematische Auftakt der Relationes die potentiellen Leser daher kaum mit neuen Inhalten, jedoch mit einem erstaunlichen Niveau. Umfangreiche Kalkulationen über Größenverhältnisse der Gestirne (die en passant von Happels großer Leidenschaft für die Mathematik zeugen) forderten einen wenn nicht gebildeten, so doch zumindest reflektierenden Leser. Wer im weitesten Sinne über Kosmographie und Astronomie schrieb, kam an Athanasius Kircher ebenso wenig vorbei wie auch in den meisten anderen Wissensbereichen. Es erstaunt daher kaum, dass Happel Kircher zu einem seiner „Knotenpunkte im Wissenskosmos“ macht und zu einem frühen volkssprachlichen Popularisator von dessen Werken wird. Kircher war für die Inhaltsschwerpunkte der Relationes aus dem gleichen Grund attraktiv wie die großen Gelehrtenjournale (Journal des Scavans, Philosophical Transactions, Miscellanea Curiosa – die Acta Eruditorum wertet Happel kaum aus) – aufgrund der ausgesprochenen Sensibilität für das Wunderbare in Natur und Kunst. War Happel in der zeitlich verzögerten Auswertung der gelehrten Periodika im populären Sektor ein Schrittmacher, so zeigt der Rest seines Quellenkorpus ein erwartungsgemäßes Profil: Die in den Relationes bibliographisch am häufigsten genannten und exzerpierten Bücher konvergieren mit dem, was im Handapparat öffentlicher und gelehrter Bibliotheken des späten 17. Jahrhunderts gängig war, unabhängig vom konkreten Alter des einzelnen Werks. Happel verlagert diesen Kanon in Ausschnitten in den publizistischen Diskurs und verändert so die mediale Präsenz des Wissens. Viele oder gar die meisten Inhalte des Hamburger Wochenblatts sind daher zweifellos ,second hand’ und ,Sekundärzitate’, da Happel nicht selten ganze bibliographische Kataloge von Vorläufern und Zeitgenossen (Erasmus Francisci, Johannes Praetorius) kopiert, ohne die Übernahme als solche kenntlich zu machen. Dem schier endlos geschichteten Bezug auf andere Autoren und der Abhängigkeit von mehr oder weniger exakt bibliographisch belegten Vorlagen
Schlussbetrachtung
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entspricht auch das auktoriale Selbstbild Happels – sein Verständnis von Autorenschaft und der daran geknüpfte Textbegriff tragen keine ,modernen’ Züge, sondern wurzeln einmal mehr im Dialog mit der Tradition und Formen traditioneller Gelehrsamkeit. Anders formuliert: Happel schreibt noch in einer text- und in keiner autorzentrierten Wissenskultur. Wie für die kompilatorische Praxis typisch, definiert er seine Leistung noch nicht über den Begriff der Originalität, sondern über die Menge der Anspielungen auf vorangehende Texte. Will Happel in den Relationes ,nichts neues setzen’, so betrachtet er sich selbst nicht als originärer, geistiger Urheber ,seines’ Textes – zumal das späte 17. Jahrhundert noch kein Urheberrecht und damit auch kein ,juristisches’ Modell der Autorenschaft im Sinne eines fixierten geistigen Eigentums kannte. Die Aufgabe eines Autors sieht Happel darin, nicht selbst die ,Erfindung’ neuen Wissens zu leisten (nicht zuletzt deswegen, weil ,das’ Neue noch nicht über genügende Autorität verfügte), sondern das Vorhandene zu überblicken, es zu reproduzieren, teils auch zu überarbeiten und am eigenen iudicium zu messen – und vor allem: in Auszügen zu selektieren, um Orientierung innerhalb der labyrinthischen Büchermassen zu stiften. Darin erkennt Happel auch die spezifische Leistung kompilatorischer Textformen. In diesem Zusammenhang sieht er die Notwendigkeit des bibliographischen Nachweises jedoch unverbindlicher als polyhistorische Zeitgenossen – Erasmus Francisci verwahrte sich ausdrücklich dagegen, die für die eigene Textproduktion kompilierten Werke nicht per Quellenbeleg kenntlich zu machen und sich so mit ,fremden Federn’ zu schmücken. ,Moderner’ als der Autor- und Textbegriff der Relationes erscheint ein zentrales Merkmal ihrer publizistischen Konzeption: das Moment der Wissenspopularisierung – zumindest verglichen mit der bisherigen Forschung zu Popularisierungsprozessen, die diese fast unisono erst als Phänomen des 18. Jahrhunderts beschreibt, unter Betonung der Schlüsselstellung des Mediums Zeitschrift. Richtig ist, dass die programmatische Wissenspopularisierung zweifellos erst im Jahrhundert der Aufklärung ihre gesellschaftliche Breitenwirkung entfaltet. Am Beispiel der Relationes konnte jedoch gezeigt werden, dass erste erfolgreiche und ambitioniert reflektierte Konzepte – nicht nur der Wissenschaftspopularisierung – schon in den Periodika des 17. Jahrhunderts erprobt wurden. Als veraltet haben sich zudem jene Paradigmen erwiesen, die Popularisierung als einen ausschließlich einseitigen Prozess verstehen, in dem das Wissensgefälle zwischen Produzenten und Rezipienten ,von oben’ oktroyiert wird. In den Relationes zeigt sich eine Popularisierung von Wissen idealiter vielmehr als wechselseitiges Phänomen, in dem Happel und Wiering vorgeben, mit der Herausgabe des Periodikums erst auf die Wissensbedürfnisse potentieller Leser reagiert zu haben. Jenseits dieser eher rhetorischen Einlassungen konkretisiert sich der wechselseitige Diffusionspro-
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Schlussbetrachtung
zess des Wissens darin, dass Happel einige seiner Artikel nicht auf der Grundlage von Buchexzerpten verfasst, sondern auf der Basis von Briefen, die den Herausgebern von Gelehrten mit der Bitte auf Publikation zugingen; so etwa vom bekannten Mediziner und Naturforscher Johann Daniel Major, Happels ehemaligem Lehrer an der Kieler Universität. Hier zeigt sich, dass die Gelehrtenwelt zumindest partiell von dem erfolgreichen Hamburger Wochenblatt Notiz nahm und Happels Funktion als Popularisator wissenschaftlicher „Curiositäten“ begrüßte. Über die dicht argumentierenden Paratexte konnten in diesem Kontext die intendierten Funktionen der Wissenspopularisierung deutlich gemacht werden. Sie schärfen das historische Profil der Relationes und zeigen, dass sich auch die periodische Presse im Zusammenhang einer entstehenden Freizeitkultur nicht von den gängigen Wirkungspostulaten der zeitgenössischen Literaturproduktion löst: Erstens macht Happel am nachdrücklichsten deutlich, dass sein Periodikum Wissen als und zur Unterhaltung verbreitet; im zweifachen Sinn des Wortes – ,Unterhaltung’ als Form der Zerstreuung und in der Bedeutung der Unterhaltung, des Gesprächs und ,Klatsches’ über Wissen. Zwar bedienen sich die Relationes dazu nicht des Dialogs, nichtsdestotrotz zielen ihre Inhalte darauf ab, die Bedürfnisse einer gesprächszentrierten Kultur zu befriedigen. Die tausenden Relationen liefern einen perfekt formatieren Vorrat für das „curiöse“ Gespräch der Zeit. Zweitens sieht Happel die Verbreitung von Wissen durch die unterhaltende Dimension allein jedoch nicht ausreichend legitimiert – in der nicht weniger konstitutiven allgemein belehrenden und nützlichen Funktion des Wissens folgt er der klassischen Horaz-Formel des ,prodesse et delectare’, die im 17. Jahrhundert ihre Gültigkeit insofern auch im Kontext neuer Medien unter Beweis stellte. So sehr gerade das Gebot der Nützlichkeit an aufgeklärte Grundmaximen erinnert, wird es von Happel gleichwohl in der Vermittlung der Inhalte selbst nicht konkretisiert. Neben dieser Anlehnung an herkömmliche Wirkungskonzepte des Schreibens drückt sich auch in der dritten Funktion der Popularisierung, der theozentrisch-erbaulichen Funktion des Wissens, das Zeitspezifische des Periodikums aus: Trotz aller unterhaltenden Elemente soll es sich nach Happels Vorstellung definitiv um keinen rein ,säkularen’ Lesestoff handeln; vielmehr steht er im Zeichen eines religiösen Weltbildes, in dem die Wissenssammlung an die ,höhere’ Funktion des Schöpferlobs rückgebunden bleibt. Das Schreiben auf Autorenseite und die Lektüre auf Rezipientenseite sollen erbaulichen Zwecken untergeordnet werden. Mit Blick auf die Inhalte ist dieses Postulat so zu verstehen, dass Happel gerade über die Masse der kompilierten Naturwunder beim Leser nicht nur Vergnügen und Neugier auslösen möchte, sondern auch andächtiges und demütiges Staunen angesichts der Wunder Gottes. Die Aufgabe der „Vernunfft“ liegt hier gerade darin, über
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die Bewunderung exzentrischer Naturbildungen die Macht Gottes zu erkennen. Mit diesem doppelten ,kommunikativen Grundzug’ – einerseits die Aufmerksamkeit für die Natur als solche und andererseits die Annahme einer sich aus ihren Wundern erweisenden Existenz Gottes – weisen die Relationes bereits auf die physikotheologischen Strömungen des 18. Jahrhunderts voraus. Gesammeltes Wissen im Rahmen des gängigen Analogiemusters von Makro- und Mikrokosmos auf Gott hin auszurichten, ist auch ein signifikanter Zug der barocken Kunst- und Wunderkammer. Auch wenn die frühneuzeitlichen Sammlungsräume aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gründe eingerichtet wurden, standen – zumindest dem Ideal nach – die meisten Exponate nicht für sich selbst, sondern spiegelten exemplarisch Gottes Schöpfung ,in der Stube’. Kunstkammer und Periodikum konvergierten in diesem ,religiösen Überbau’ und auch darüber hinaus. Ein vorrangiges Ziel dieser Arbeit war es daher, die Charakteristik der Relationes über die Verwandtschaft von materieller Sammlungspraxis und Literatur in der Frühen Neuzeit zu beschreiben. Zwar bildeten die Kunstkammern durch ihre (relative) Exklusivität zunächst das Gegenbild der prinzipiellen Öffentlichkeit des Wissens im publizistischen Diskurs. Wie skizziert, erhöhte das Kunstkammer-Modell im 17. Jahrhundert seine kulturelle Reichweite jedoch erheblich, indem es über seine rein materielle Manifestation in verschiedenen Medien, in Text und Bild ,multipliziert’ wurde. Viele textuelle Sammlungen der Zeit begriffen sich implizit oder explizit als Kunstkammern, verschrieben sich also der gleichen Ästhetik und Inszenierung des Wunderbaren aus Natur und Kunst. Diese prinzipielle Nähe von Text- und Objektwelten zeigte sich bereits äußerlich in der konkret räumlichen Einheit von Kunstkammer und Bibliothek, die auch für die Bibliothek des Johanneum-Gymnasiums in Hamburg galt, Happels Arbeitsort. Dass er sein Periodikum der Kunstkammer annäherte, wird jenseits literarischer Traditionen insofern auch zu guten Teilen der örtlichen Atmosphäre und dem allgemein ,sammlungsaffinen’ Klima Hamburgs geschuldet gewesen sein – schon über seine Nachbarn kam Happel mit der ,Kultur der Kuriositäten’ in Kontakt. Dinge und Texte standen jedoch nicht nur äußerlich in enger Beziehung; auch inhaltlich war ein komplementärer Bezug gegeben, da die gesammelten Mirabilien die Wundergeschichten antiker Autoren, die auch die Relationes noch en masse durchsetzen, aufs Neue zu bestätigen und illustrieren schienen.78 Im Text des Periodikums beschreibt Happel immer wieder auf Basis von Reiseberichten und gedruckten Sammlungsinventaren Objekte aus den berühmtesten Kunstkammern der Zeit. Weit deutlicher wird die Analogie von 78
Collet: Die Welt in der Stube, S. 332.
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Kunstkammer und Text-Kunstkammer jedoch auf abstrakter Ebene. So gibt sich Happel wiederholt als metaphorischer Führer durch seine textuellen „Curiositäten“ und erweckt den Eindruck, das Surrogat einer Kunstkammer in wöchentlichem Druck zu liefern. Auch sieht er die gesamte natürliche Welt als „Welt-Kunstkammer“, die sich in den Relationes spiegelt. Enzyklopädische Züge sind in beiden Fällen nur im Sinne einer ,Enzyklopädie des Außerordentlichen’ zu erkennen, da die Aufmerksamkeit nahezu ausnahmslos dem Außergewöhnlichen aus Kunst und Natur gilt. Vergleichen lassen sich beide Medien auch in ihrer Struktur und der Aneignung der „Curiositäten“: Kunstkammer und Text-Kunstkammer versammeln Wissensfragmente aus fremden Welten – und fremden Texten. Im materiellen wie imaginären Sammlungsraum vollzieht sich eine Dekontextualisierung des Wissens: Außereuropäische Natur- oder Alltagsobjekte wirken erst dadurch wunderbar, dass sie aus ihrem originären (Bedeutungs-)Zusammenhang gelöst und als fremde, isolierte Dinge in das Gefüge der Sammlung eingebracht und hier erneut mit Bedeutung ,aufgeladen’ werden. Ähnliches vollzieht sich in den Relationes auf der Ebene des beschreibenden Textes – bedingt durch die Unordnung des Wissen stehen im Periodikum wie in den Kunstkammern die einzelnen Gegenstände des Wissens weitgehend unverbunden nebeneinander. Im Diskurs über die Disposition der Dinge zeigen sich jedoch auch Differenzen zwischen Kunst- und Text-Kunstkammer: Während Happel eine angenehme Konfusion postulierte, folgten die Kunstkammern zumindest theoretisch einer elaborierten Ordnung ihrer Exponate. Allerdings wurde und wird in der Forschung kaum betont, dass Anspruch und Wirklichkeit der Sammlungen eher selten deckungsgleich waren – im späten 17. Jahrhundert mehrten sich die Klagen über eine tatsächlich vorherrschende Unordnung vieler Kunstkammern. Um die chaotische Vielfalt der Relationes Curiosae überhaupt einem größeren Analyserahmen unterstellen und zugleich die Konstruktionsprinzipien des Textes und die Quellenverarbeitung beschreiben zu können, wurde das Modell der Kunstkammer konsequent auf den Text übertragen. So konnten zwar nur Segmente der Wissensmasse analysiert werden, jedoch strukturieren die Kunstkammer-Kategorien der Wunder aus anderen Welten, aus Natur, Kunst und Wissenschaft zum großen Teil auch die Wahrnehmungsschwerpunkte von Happels Periodikum – und damit auch seine kommunikative und kulturelle Dimension. Der erste Schlüsseldiskurs hat verdeutlicht, dass die sowohl im Text als auch im materiellen Sammlungsraum gespiegelte „Welt-Kunstkammer“ vor allem durch das Interesse an außereuropäischen Welten konfiguriert wurde. Beide Medien repräsentieren Orte ,exotischer Erfahrung’, die im 17. Jahrhundert auch von den Zuhause Gebliebenen in explizit weltlichen Lesestof-
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fen und in Kunstkammer-Objekten immer nachdrücklicher gesucht wurden. Wie die Kategorie der ,ethnographica’ das sichtbare Hier mit dem unsichtbaren Dort verknüpfte, so führt auch Happel seine Leser immer wieder auf imaginäre Reisen in fremde Weltgegenden, die einen Möglichkeitsraum des Wunderbaren verkörperten. Im Blick auf diese Welten behauptete sich in beiden Kunstkammer-Typen der „curiöse“ Blick einer wilden Völkerkunde (Michael Harbsmeier), die auf kein systematisch-vollständiges Bild anderer Kulturen zielte. Fragmentarisch ging es vielmehr darum, fremde Welten auf deren enorme Andersartigkeit zu reduzieren, die beim Leser eine möglichst deutliche Differenzerfahrung und Affekte wie Vergnügen und Abwehr, aber auch Verlangen erzeugen sollte. Oberflächliche Neugier, ‚wissenschaftliches’ Interesse und schlichte Sensationsbedürfnisse überlagerten sich hier noch weitgehend. Angesichts dieser Parameter wundert es nicht, das Happel seine Quellen – ein repräsentatives Korpus aus Reiseberichten, Reiseberichtskompilationen, Kosmographien und geographischen Werken – lediglich selektiv auf die versprochenen „Seltsamkeiten fremder Nationen“ hin auswertet und sie in den günstigeren Rahmen der periodischen Presse einspeist. Das im Hintergrund stehende kommerzielle Argument der Verfügbarmachung teurer Bücher wird dabei wiederholt betont. Die Mechanismen dieser ,Lehnstuhlethnographie’ Happels reproduzieren zeitlose Wahrnehmungsmuster und -klischees vor allem der Reiseberichte, die durch einen nur schwach ausgeprägten Anteil im Eigenkommentar noch verstärkt und nur selten relativiert werden: Immer wieder leitend sind die binären Gegenfiguren von Christen und Heiden; über sie wird ein ethno- und eurozentrischer Zugang zu fremden Welten deutlich und ihre unbefangene Beurteilung in den meisten Fällen unmöglich. Die Konstruktion ,des’ Anderen im Rahmen der Relationes funktioniert demnach größtenteils über eine negative Erfahrung von Alterität, die zugleich das Gefühl einer europäischen Überlegenheit vermittelt. Besonders deutlich wird diese zivilisatorische Demarkationslinie in der gängigen Aversion gegenüber den ,barbarischen’ Hottentotten sowie der in allen Details entfalteten Typologie vor allem außereuropäischer Hinrichtungsarten. Gerade in diesem letzten Diskurs steht Happels Periodikum in einer langen, bereits in der nicht-periodischen Presse etablierten Traditionslinie sensationeller Stoffe, die sich bis zu heutigen Massenmedien verfolgen lässt.79 Eine charakteristische Spannung im Bild fremder Welten entsteht jedoch dadurch, dass die Relationes auch ein Medium des populären Exotismus ihrer Zeit sind – neben Abwehr tritt das Verlangen, eine Form positiver Alterität, die zur Bewunderung einlädt und das Denkschema vom überlegenen Hier 79
Etwa als ständige Rubrik von Spiegel Online: http://www.spiegel.de/thema/todesstrafe/.
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und unterlegenen Dort teilweise aushebelt. In diesen Passagen ersetzt Happels Periodikum ein geschlossenes Weltbild durch die Gleichwertigkeit vieler Weltbilder. Deutlich zeigt sich dies im Diskurs über das ,künstliche’ China; ein ganzes Land erschien hier der europäischen Wahrnehmung wie eine ,Open-Air-Wunderkammer’. Auch in dieser relativen Sinophilie zeigt sich die Fähigkeit Happels, die für den einzelnen Wissensbereich jeweils autoritative Literatur zu sichten und als ,kompaktes Patchwork’ für populäre Bedürfnisse neu zu kombinieren, so etwa die einflussreichen Chinaberichte der Jesuiten. Insgesamt kommt es trotz eigenständiger Kommentare von Happel jedoch nur zu einer vagen Weiterentwicklung des Wissenshorizontes. Deutlicher als inhaltliche Umakzentuierungen sind dagegen die Veränderungen in struktureller Hinsicht beim Transfer der Inhalte von den Buchvorlagen ins fragmentierte, offene Periodikum. Happel dekontextualisiert insbesondere die Auszüge aus Reisebeschreibungen, indem er sie aus ihrem linearnarrativen Gesamtzusammenhang herauslöst, Kontexte wie Zeit und Situation des Beobachters tendenziell löscht, und derart suggeriert, objektive ,Reportagen’ über Außereuropa zu liefern – ein stilistisches Merkmal, das die Relationes, wie erwähnt, von anderen polyhistorischen Kompilationen abhebt, die ihre Stoffe in dialogischer Form darbieten. In der Analyse des zweiten Schlüsseldiskurses wurden die Wahrnehmung und die charakteristische Überschneidung der Bereiche von Natur und Kunst zusammengezogen; sie verhalten sich analog zu den ,naturalia’ und ,artificialia’ der Kunstkammern. Obwohl Happel – wie auch im Fall der ,ethnographica’ – nie explizit vorgibt, den Kriterien dieser beiden Sammlungskategorien zu folgen, strukturieren sie doch einen Großteil des Periodikums in seiner Suche nach allen Natur- und Kunstwundern. Der Repräsentation dieser beiden großen Sphären in den Relationes nachzugehen, hat, wie gezeigt, eine pragmatische wie gleichermaßen methodische Berechtigung: Ein großer Teil des Wissensbestandes konnte einer abstrakteren Ebene subsumiert werden, die nachvollziehbar macht, ob Leitgedanken des (elitären) Natur- und Kunstbegriffs im 17. Jahrhundert auch im populären Rahmen verarbeitet wurden. So folgt Happel vor allem über die gelehrten Periodika als Quellen den Paradigmen einer ,abweichenden’, ,spielenden’ und ,künstlichen’ Natur, die die Grenzen zwischen Kunst und Natur spielerisch aufhebt. Im Topos der charakteristischen Überschneidung beider Sphären wird die kommunikative Analogie zu den Kunstkammern besonders deutlich. Das Motiv der ,abweichenden Natur’ markiert zunächst in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht die Differenz zum Bild der Natur im 18. Jahrhundert: Einem Teil der Naturphilosophie des späten 17. Jahrhunderts – zumindest die der wissenschaftlichen Akademien – war vor allem an der Untersuchung und Dokumentation jener Phänomene gelegen, in denen die Na-
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tur auf möglichst auffällig von ihrem ,normalen’ Lauf abwich, also Unordnung erzeugte; mit der Folge, dass beispielsweise Monstren und Missgeburten für kurze Zeit nicht mehr nur ein Thema populärer Sensationspublizistik waren. Gelehrte und Laien konnten sich in einer historisch einmaligen Situation für die gleichen Objekte begeistern, wenn auch mit unterschiedlichen Motivationen. Happel popularisiert das Denkmuster der ,abweichenden Natur’ aus dem wissenschaftlichen Kontext in derartiger Breite, dass beim Leser förmlich der Eindruck entstehen konnte, irreguläre Naturphänomene seien das eigentlich Reguläre. Dass die Natur damit Regelmäßigkeit selbst im Unregelmäßigen wahrt, war eine zentrale Facette im Bild der ,spielenden’ und ,bildenden’ Natur’. Spiele und Scherze der Natur – wie beschrieben, liegt der antike, im 17. Jahrhundert aktualisierte Topos des ,lusus naturae’ auch vielen Artikeln der Relationes zugrunde. Ob die beschriebenen Phänomene dabei im Einzelnen tatsächlich empirisch waren, interessiert Happel weniger. Wichtiger ist ihm die Sensibilisierung für ein dynamisch-belebtes Bild der Natur, die sich kreativ in alle Richtungen verwandelt und die Grenzen zwischen dem mineralischen, pflanzlichen und tierischen Reich überwindet. Das Thema war mit Blick auf die Wirkintentionen und publizistische Konzeption des Periodikums nicht nur willkommen, weil die ,spielende Natur’ als „Curiosität“ besonders unterhaltsam war. Vielmehr verwies jede einzelne Irregularität der Natur implizit auch auf Gott und dessen Schöpfungspotential – insofern war hier auch die postulierte Erbauungsfunktion des Wissens beispielhaft umgesetzt. Bezüglich der inhaltlichen und ästhetischen Analogien zur Kunstkammer ist besonders hervorzuheben, dass sich sowohl in den materiellen Sammlungsräumen als auch in Happels Text-Kunstkammer die Semantik der göttlichen, ,spielenden Natur’ mit jener der ,künstlichen Natur’ vermengt: Erstaunliche Naturanomalien zeigen sich, wie gesehen, als Manifestationen der „[...] kunstreichen Hand dieses allmächtigen Mahlers“.80 In diesem Punkt spiegeln die Relationes einen erheblichen wissensgeschichtlichen Wandel: Während Natur und Kunst in der über Jahrhunderte gültigen aristotelischen Auffassung einen fundamentalen Gegensatz bildeten, brach dieser in den Objektwelten der Kunstkammer und der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts zusammen. Die Kunst war der Natur nicht länger untergeordnet, vor allem schien aber die Natur Gefallen daran zu finden, auf ,künstlichem’ Weg sich selbst und von Menschen geschaffene Formen spielerisch zu imitieren – so finden sich in den Kunstkammern der Zeit ,natürlich’ gewachsene Holzkreuze, so berichtet Happel unter anderem über „Das von Natur gebildete 80
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die seltsam bildende Natur“, Nr. 64, S. 505.
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Oestreichische Wapen“81 und von zahllosen, ,künstlich’ versteinerten Tieren. Analog schien es der selbstbewusst auftretenden menschlichen Kunst auf immer verblüffendere Weise zu gelingen, die Natur ihrerseits zu imitieren. Der daraus resultierende Wettstreit von Kunst und Naturdingen als kommunikativer Kern der Kunstkammern ‚formen’ auch die Relationes Curiosae: In unzähligen Artikeln berichtet Happel über Wunder der künstlichen Natur und der natürlichen Kunst, über wundervolle ,Kunstfelsen’ in China oder die künstlichen Pflanzen von Athanasius Kircher. Zudem bleibt Kunstkammer-genuine Reiz der Objekte erhalten, da auch Happel immer wieder darauf abhebt, wie irritierend es sei, Kunst und Natur überhaupt noch klar trennen zu wollen – welcher Sphäre was zuzuschreiben sei, hatte in der realen wie der imaginären Sammlung letztlich die Einbildungskraft des Betrachters bzw. Lesers zu entscheiden. Die auf allgemeiner Ebene gemachten Befunde über die Diskurse von Kunst und Natur im Spiegel des Periodikums wurden anschließend an der Vermittlung zweier prominenter Kunstkammerobjekte exemplifiziert – am ,artificialia’ des ,Oldenburger Wunderhorns’ und am ,naturalia’ der Alraune, einer menschlich geformten Wurzel. In beiden Fällen wurde die Position der Relationes im Hinblick auf die (populäre) Wissensgeschichte einzelner Objekte rekonstruiert, indem die Quellenrezeption untersucht und der etwaigen Transformation des Wissens nachgegangen wurde. Im Kunstwunder des Oldenburger Horns konnte zudem gezeigt werden, dass die Relationes in der langen Verwertungskette des Wissens nicht in jedem Fall einen der ,hinteren Ränge’ belegten. Vielmehr regte Happels Periodikum andere Autoren teilweise selbst zur Produktion neuer Texte an. Während das Oldenburger Horn und die Alraune Gelehrte und Laien schon seit Jahrhunderten fesselten und zum Kanon der alten Wunder gehörten, hat die Analyse des dritten Schlüsseldiskurses ein gänzlich anderes, jüngeres Wissensfeld herausgestellt: In der Vermittlung der ,neuen’ Wissenschaften zeigen sich die Relationes nicht nur als Medium der Wissens-, sondern auch der Wissenschaftspopularisierung. Da Happel in erstaunlicher Intensität die revolutionären technischen Medien des 17. Jahrhunderts – Teleskop und Mikroskop – popularisiert und so das Gefühl einer Zeitenwende vermittelt, zeigen die Relationes hier durchaus ,moderne’ Züge. Das Pathos, mit dem Happel die epistemologische Qualität der neuen optischen Medien 81
„Auf was seltsam und höchst verwunderliche Weise die Natur in Abbild- und Darstellung mancher schöner Figuren jedesmahl geschäfftig gewesen / und darin auch den aller besten Künstlern weit für zu ziehen sey / solches erhellet zur Gnüge aus dem / was wir in dem I Theil unserer Relationen dem curieusen Leser umbständlich und in verschiedenen Kupfern und andern Figuren abgebildet und beschrieben haben“. Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 54, S. 427.
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hervor hebt, verrät aber auch ein Dilemma des Kompilators: Happel macht über den rhetorischen Bezug auf die ,Erfahrung’ (der ,neuen’ Wissenschaften) klar, dass das in Texten konservierte Wissen nicht mehr die alte Autorität genießt und empirischen Maßstäben standhalten muss. Seine eigene ,Erfahrung’ verlässt jedoch nie die vertrauten Buchwelten und berichtet auch von empirischen Beobachtungsergebnissen nur über die ,sekundäre’ Ebene des Textes. Hinzu kommt, dass beide Medien – Teleskop und Mikroskop – nicht nur ein neues Bild der Welt und des Kosmos symbolisieren. Neben den Aspekt des Wissens tritt im Kontext der breiten zeitgenössischen Begeisterung für optische Phänomene auch der Aspekt des Zeitvertreibs. Beide Instrumente wurden auf diese Weise zu exemplarischen Gegenständen einer frühen ,Wissenschaftsunterhaltung’. Die Analyse des astronomischen Themenkomplexes hat gezeigt, dass die Relationes ungeachtet ihres detaillierten ,kosmologischen’ Auftakts kaum mit nicht-periodisch publizierten Alternativen konkurrieren konnten. So trug etwa der polyhistorische Konkurrent Erasmus Francisci das astronomische Wissen der Zeit in einer knapp zweitausendseitigen Kompilation zusammen. Wer sich nicht in erschöpfender Breite auf die „Himmels-Wissenschaften“ einlassen, aber im Gespräch über Wissen dennoch mithalten wollte, fand in den Relationes jedoch eine günstige Alternative zu teuren Kosmographien. Zwar bietet das Ergebnis auch in diesem Fall nur eine spärlich kommentierte Montage nicht einmal der neuesten Quellen; diese beweist jedoch gerade bezüglich des Rezeptionskontextes eine erstaunliche synoptische Qualität, deutlich vor allem in der Fähigkeit zur Reduktion und sprachlich klaren Darstellung. Verglichen mit anderen popularisierenden Astronomiedarstellungen zeigt sich bei Happel überdies ein stärkeres Bewusstsein für den epochalen Stellenwert des Teleskops; seine Einsichten sind jedoch – auch hier wieder die charakteristische Vor- und Rückwärtsgewandtheit – nicht uneingeschränkt ,modern’: Wie gezeigt, befreit sich das Weltbild mit der Begeisterung für die neuen Beobachtungsverfahren nicht schlagartig von traditionellen Elementen. So vermittelt Happel zwar im Großen die Dominanz des heliozentrischen Kosmos, jedoch zitiert er unbekümmert auch antike Astronomen und diskreditiert das geozentrische Modell nicht grundsätzlich. Angesichts des theozentrischen Überbaus der Text-Kunstkammer wundert es aber nicht, dass die ,neuen’ Wissenschaften in der Vermittlung der Relationes vor allem eines zu leisten haben: Gottes Wunder in neuer Unmittelbarkeit vorzuführen; auch in diesem Aspekt fallen Glauben und Wissen in eins. Für die Vermittlung des Mikroskopie-Themas gilt Ähnliches, in dem Happel zum bis dato gründlichsten deutschen Popularisator Robert Hookes wird. Noch deutlicher als das Teleskop erscheint das Mikroskop als eigentliches Symbol der ,neuen’ Wissenschaft – und als geeigneter Gegenstand des Ge-
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schäftes über den Text hinaus. So versuchten Happel und Wiering aus dem Verkauf eines eigens hergestellten ,Taschenmikroskops’ Kapital zu schlagen. Spielerisch sollte es die sonst nur passive Leserschaft in die Lage versetzen, die Wunder der ,neuen’ Wissenschaften in den eigenen vier Wänden zu reproduzieren. Es bleibt die abschließende Frage nach dem medien- und kulturgeschichtlichen Ort der Relationes Curiosae, nach ihren Leistungen und Grenzen. Die textuellen und materiellen (Wissens-)Hintergründe (Polyhistorismus, Enzyklopädik, Buntschriftstellerei, Kunstkammer) einerseits sowie die verschiedenen Traditionen des Wunderbaren andererseits haben deutlich gemacht, dass Happels Text-Kunstkammer mitnichten die Charakteristik eines ,modernen’ Medientypus aufweist – vor allem dann nicht, wenn ,Modernität’ mit der Rationalisierung und Säkularisierung aller Lebens- und Wissensbereiche und dem zunehmenden Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen gleichgesetzt wird. Die „Vernunfft“ der Relationes emanzipiert das Gewusste nicht von traditionellen, das heißt vor allem theozentrischen Deutungsangebote. Das vielleicht stärkste Argument gegen eine ,moderne’ Signatur ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach den Konsequenzen der Periodizität der Wissenssammlung: Sie sind kaum vorhanden. Gemessen an dem, was in der Buntschriftstellerei bezüglich formaler Elemente der Wissensrepräsentation bereits lange üblich war (Kürze des Wissens, heterogene Präsentation), nehmen sich die Neuerungen der Relationes vernachlässigungswert aus. Es ist vielmehr so, dass Happel die strukturellen Muster der Buntschriftstellerei mit nur kleinen Variationen für das periodische Format adaptiert. Zwar hat das Periodikum ein distinktives Erscheinungsbild im Vergleich zu Kompilationen von Francisci, Praetorius, Harsdörffer, Zeiller und anderen Autoren. Die Änderungen sind jedoch eher ,kosmetischer’ denn grundsätzlicher Natur. Anders formuliert: Eine spezifische, auf die Bedingtheiten der Periodizität hin gedachte Formatierung des Wissens findet sich in den Relationes Curiosae nicht. Dieser Befund spiegelt sich auch im Fehlen eines eigenen ‚Medienbewusstseins’ – allenfalls die inhaltliche Diskrepanz zur Zeitung wird in Ansätzen reflektiert. Wenn die periodische Wissensvermittlung Konsequenzen für die innere Struktur der Relationes hat, dann nur, weil Happel durch die Beschränkung auf einen Bogen Umfang pro Woche wiederholt gezwungen war, gerade behandelte Themen zu unterbrechen. Hier erscheint die Periodizität eher als ein hinderliches denn produktiv genutztes Merkmal. Dennoch bildete sie im Verlag Wiering keinen historischen Zufall, nur folgte sie lediglich einer bereits erprobten Logik von Produktion und Distribution im städtisch-publizistischen Umfeld. Im Rahmen nicht nur der Presse-, sondern einer erweiterten Mediengeschichte sind die Relationes Curiosae damit repräsentativ für die Übergangssi-
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tuation im 17. Jahrhundert insgesamt; in ihr zeigen sich viele Aspekte noch offen und unentschieden, die sich erst seit dem 18. Jahrhundert zunehmend klar voneinander trennten – das betrifft, wie gezeigt, erstens das Verhältnis der Medien und Gattungen untereinander: Neue, noch experimentell erprobte Periodika standen fast immer in publizistischer Nähe zur Zeitung. Und nicht nur Zeitung, ,Zeitschrift’ und periodische Wissenssammlung, sondern auch Kunstkammer und Bibliothek korrelierten miteinander und ergänzten sich zu einem Medien- und Wissensverbund. Von einer ausgeprägten Medienkonkurrenz ist in dieser Hinsicht im 17. Jahrhundert demnach wenig spürbar. Zweitens waren die ,journalistischen’ Funktionsbereiche der Presse und das Spektrum der intendierten Wirkungen (Unterhaltung, Information, Belehrung) im 17. Jahrhundert noch ebenso wenig klar differenziert wie die Vielfalt der Textformen. So dienten auch die ,seriösen’ Zeitungen nicht nur der puren Information, sondern unbestritten immer auch der Unterhaltung. Wie gezeigt, wird das Vergnügen am Wissen mit den Relationes in einem Periodikum erstmals nachdrücklich verteidigt. Was Happels Sammlung darüber hinaus so heterogen und schwer klassifizierbar macht, ist die Vermengung verschiedener Darstellungsansprüche: Mit den Relationes zeigen sich die Topoi der klassischen Sensationspresse (Katastrophen, Monstren, Missgeburten etc.), vermengt mit der Ästhetik der Kunstkammer, erstmals in ,moderner’ periodischer Form, aber nicht nur: In heutigen Termini gewendet, repräsentiert Happel neben dem frühen Sensationsjournalismus zu fast gleichen Teilen auch den Informations-, Wissens- und Wissenschaftsjournalismus – ,Ressorts’, die in den Kategorien des 17. Jahrhunderts noch zusammengedacht wurden und als Wissenschaftsunterhaltung oder ,Edutainment’ derzeit erneut Konjunktur haben. So wahllos Happels Kompilation auch scheint, oft begnügt sie sich nicht mit der Kolportage mehr oder weniger aktueller Wundergeschichten, verlässlich aufregender Themen und Mirabilien; zumindest dem Anspruch nach macht der Kommentarteil des Periodikums deutlich, dass ,Popularisierung’ für Happel nicht nur Vermittlung, sondern auch Erklärung bedeutet – auch wenn sich dieser Anspruch zu großen Teilen auf eine Reproduktion bereits vorgefertigter Urteile und Kommentare im Rahmen lediglich (neu) montierter Textbausteine beschränkt. Damit zusammenhängend zeigt sich drittens eine Schwellencharakteristik auch im Umgang des Kompilators mit seinen Quellen. Obwohl Happel nicht müde wird, den Standards der Zeit zu entsprechen, indem er sich immer auf die Glaubwürdigkeit seiner Quellen – auf den „[...] Schutz der warhafftigen Warheit [...]“82 – beruft, folgt die praktische Komposition des 82
Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Relation „Die [...] Leibes-Frucht“, Nr. 62, S. 489.
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Textes überwiegend anderen Prinzipien: Zwar zitiert (oder kopiert) und übersetzt Happel seine Referenztexte weitgehend wortgetreu. Jedoch trennen die Relationes noch nicht rigoros zwischen Fakt und Fiktion, zwischen altem und neuem Wissen sowie zwischen Allgemein- und Spezialwissen. Den Großteil seiner Wissenssegmente häuft Happel vielmehr ungeprüft an. ,Quellenkritische’ Standards entstehen dabei weder explizit noch implizit, stattdessen dominiert auch hier das Bild der Beliebigkeit: Willkürlich distanziert sich Happel etwa von der Glaubwürdigkeit exakt jener Quellen, deren Verlässlichkeit er in anderen Kontexten herausstellt und verteidigt. Das gilt nicht nur für Plinius und andere ,alte Scribenten’, sondern ebenso für erfolgreiche zeitgenössische Reiseberichtsautoren wie Joan Nieuhof. Trotz dieser charakteristischen Inkonsistenz sensibilisiert Happel für die Instabilität des Wissens, indem er Widersprüche in der Textüberlieferung zur Sprache bringt. Dadurch, dass er vorgibt, nur die Standpunkte (vermeintlich) verlässlicher Quellen in repräsentativen Ausschnitten zu kompilieren und klar verständlich zu vermitteln, rücken die Relationes Curiosae in die Rolle eines der „Orientierungsmedien um 1700“.83 Die Orientierungsleistung ist eine umfassende: Einer kommentierten Universalbibliographie nicht unähnlich, liefert Happel einen Wegweiser zum Wissenswertesten aus den Bücherbergen der Zeit und passt diese ,Highlights’ an den Takt der periodischen Presse an. Im neuen Kommunikations- und Rezeptionszusammenhang ging es nicht nur darum, über die neuesten Nachrichten der Zeitungen zu verfügen, also über das mitreden zu können, was jüngst passiert ist, sondern auch über das, was allgemein „curiös“ erschien. In dieser Hinsicht stehen die Relationes zwischen Tages- und ,Epochenmedium’. Neben die Orientierung über das Wissen tritt schließlich nicht zuletzt die kulturelle Orientierung durch das Wissen der Zeit. Damit sind die erbaulichen und belehrenden Intentionen Happels gemeint. Sie machen die Relationes zu einem Medium der „Weltorientierung“84 – die Masse des kompilierten Stoffes vermittelt und stabilisiert Erfahrungen, kollektive Einstellungen, übergreifende Deutungsmuster und eurozentrische Weltbilder. In Ansätzen leistet sie jedoch auch einen bereits erstaunlichen Grad kultureller Weltoffenheit. Doch setzt Happels facettenreiches Periodikum einen ,modernen’ oder wie auch immer ,aufgeklärten’ Leser nicht voraus; wenn überhaupt, gehört es in die Vorgeschichte dieses Lesertypus. Es ist deutlich geworden, dass die Relationes Curiosae sowohl in medienals auch in wissensgeschichtlicher Hinsicht ein Periodikum des Umbruchs und des Übergangs repräsentieren; es zeigt den insgesamt ,suchenden’ und 83 84
Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700, S. 21. Kühlmann: Artikel Eberhard Werner Happel, in: Killy (Hrsg.): Literaturlexikon, S. 512.
Schlussbetrachtung
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„experimentellen Charakter“85 der zweitältesten periodischen Gattung neben der Zeitung. In Happels Sammelwerk überlagern sich noch einmal verschiedene Traditionslinien, Medien und Medienfunktionen, die sich im folgenden 18. Jahrhundert entweder verlieren (das Modell der Kunstkammer, das Ideal des universalen Wissens) oder mit eigenem Profil institutionalisieren und ausdifferenzieren (,die’ Zeitschrift als distinktiver Typus). Trotz einiger innovativer Elemente gehören die Relationes im Ganzen weit mehr ins 17. als ins 18. Jahrhundert. Zu deutlich wurzeln sie in den Mechanismen polyhistorischer Wissensproduktion, um an den Anfang ,neuzeitlich-moderner’ Formen des Journalismus gesetzt zu werden. Gleichwohl hinterließ Happels Text-Kunstkammer ihre Spuren in den Medien der folgenden Zeit, auch in den Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Obgleich die sich allmählich spezialisierende Wissenskultur der Folgezeit mit dem umfassenden und vernetzten Denken des 17. Jahrhunderts immer weniger anfangen konnte, brachten es die Welten der Polyhistoren noch zu einem erstaunlichen Nachleben (siehe unten). Für zukünftige Forschungsperspektiven lässt sich noch einmal akzentuieren: Der konzeptionellen Eigenart und Vielfalt der (periodischen) Wissensformen des 17. Jahrhunderts sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, gerade auch im Hinblick auf die Frage ihrer Entstehung aus den jeweils spezifischen (wissens-)kulturellen Voraussetzungen. Für eine kulturgeschichtlich ausgerichtete Mediengeschichte des 17. Jahrhunderts konnte die vorliegende Arbeit nur einen Baustein liefern. Studien zu Happel vergleichbaren Weltbild- und Wissensvermittlern könnten das weiterhin einseitige, durch den Blick auf die ,Hochliteratur’ dominierte Bild des Barock um wichtige Facetten ergänzen.
8.3. Epilog: Skizze zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Relationes Curiosae Abschließend soll in einigen Schlaglichtern dem Nachleben der Relationes nachgegangen werden. Wie erfolgreich war das neue Medium wirklich? Exakte quantitative Aussagen zum Medienkonsum des 17. Jahrhunderts (und damit auch zum sozialen wie intellektuellen Profil der Leserschaft) sind wegen mangelnder Daten zu Absatzzahlen und fehlender Abonnentenlisten nur schwer möglich. Eine Verbindung zu den geschätzten Auflagenzahlen der Zeitungen des späten 17. Jahrhunderts zu konstruieren – für Wierings Relations-Courier nimmt Holger Böning eine Auflage von rund 1000 Exem85
Jaumann: Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, S. 108.
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Schlussbetrachtung
plaren an86 – ist legitim, aber auch problematisch: Denn unklar bleibt, welchen Publikationsmodus die Relationes in ihrer periodischen Form konkret aufwiesen – ob sie wöchentlich separat verkauft wurden und damit relative Autonomie gegenüber der Zeitung wahrten, oder, wie es bislang überwiegend vermutet wurde, ausschließlich als Supplement zum Relations-Courier.87 Auch ist es im Nachhinein nicht möglich, die beiden Veröffentlichungsschienen – zunächst periodisch und dann zu ‚Jahresbänden’ gebunden – hinsichtlich ihrer Akzeptanz beim Publikum zu unterscheiden. De facto ist noch nicht einmal gesichert, dass die Relationes über den gesamten zehnjährigen Erscheinungszeitraum durchgängig auch periodisch veröffentlicht wurden. Auf längere wöchentliche Lieferungen lassen zumindest wiederholt Elemente des Textes schließen (siehe unten). Dessen ungeachtet teilt die jüngere Forschung ohne konkreten Nachweis die Einschätzung, die Relationes seien als „[...] populärwissenschaftliche Zeitschrift zu einem der größten publizistischen Erfolge des 17. Jahrhunderts“88 avanciert. Das unterstrich jüngst noch Dirk Niefanger, allerdings unter Verschweigen der ursprünglich periodischen Publikationsform; so seien die Relationes eines der „[...] meist gelesenen Bücher des frühen 18. Jahrhunderts [...]“.89 Die einseitige Wahrnehmung von Happels Wochenblatt als ,Buch’ ist Ergebnis der Überlieferungssituation: Wiering setzte die Relationes auf der Frankfurter und Leipziger Buchmesse ab, wo sie durchweg unter der summarischen Kategorie „Teutsche Historische / Politische / Geographische / Philosophische und Kunst-Bücher“90 rubriziert wurden. Wie etabliert die Relationes als Periodikum waren und ab wann und ob sich Wiering überhaupt für eine alleinige Fortsetzung als Buch entschied, lässt sich also schlechthin nicht mehr sicher rekonstruieren. Es sprechen jedoch zwei strukturelle Faktoren des Textes gegen die These einer frühzeitig eingestellten Periodizität: 1. Jede acht Seiten in Quart umfassende ,Ausgabe’ der Relationes wurde nummeriert – zweiundfünfzig Nummern pro Jahr bis zum Ende des Erscheinens mit dem fünften Band im Jahr 1691. Wäre die periodische Erscheinungsweise vorzeitig abgebrochen worden, hätte es für Wiering kaum einen Grund gegeben, auch die sequenzielle Durchnummerierung beizubehalten. 2. Der eine Bogen Umfang 86 87
88 89 90
Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 130. Tatsächlich existieren keinerlei klaren Äußerungen über das ,Wie’ der Erscheinungsweise; lediglich in der Vorrede heißt es, dass geplant sei „[...] nebst meinem ordinairen Courier [Relations-Courier, F.S.], wochentlich eine so-genandte Curieuse Relation außzugeben [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Vorrede, Bl. 1v. Böning: Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, S. 123. Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700, S. 18. Etwa im Katalog der Ostermesse von 1686: Catalogus universalis hoc est designatio omnium librorum, qvi hisce nundinis vernalibus Francofurtensibus et Lipsiensibus [...], Leipzig 1686, Bl. D4v.
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pro Woche hatte, wie erwähnt, Konsequenzen für das Schreiben insofern, als Happel einzelne Diskurse immer wieder unterbrechen musste. Die portionsweise Aufbereitung des Wissens, deutlich in Artikel-Titel wie „Die Continuation dieser Materie“, findet sich jedoch nicht nur in den ersten Jahren des Erscheinens, sondern bis wenigstens 1688.91 Auch hier gilt: Wäre das wöchentliche Erscheinen jäh eingestellt worden, hätte es kaum Anlass gegeben, die durch den Publikationsrhythmus bedingte Unterbrechung der Materien nur aus purer Konvention beizubehalten. Jedoch gibt es auch ein Argument, das die Annahme einer früh eingestellten wöchentliche Veröffentlichung stützt: In Wierings Relations-Courier finden sich nur bis 1684 werbende Anzeigen für die Relationes Curiosae. Zwei Schlüsse sind möglich: erstens, dass das periodisch-fortlaufende Erscheinen zu diesem Zeitpunkt tatsächlich beendet wurde; und zweitens – wenngleich unwahrscheinlicher –, dass die Relationes von diesem Moment an gerade wegen ihres Erfolges nicht mehr als Beilage, sondern als autonomes Projekt fortgesetzt wurden. In jedem Fall ist aber nur ein begründeter Verdacht möglich, da Selbstäußerungen nicht überliefert sind. Als Buch zumindest – obgleich auch hier konkrete Zahlen fehlen – dürfte der direkte verlegerische Erfolg der Relationes als gesichert gelten. Er konkretisiert sich auf drei Ebenen: zunächst durch den beachtlichen Grad der Verbreitung. Gerd Meyer hat für Happels Werke Standorte in allen wichtigen deutschen und internationalen Bibliotheken ermittelt.92 Auch werden die Relationes permanent im Antiquariatsbuchhandel (www.zvab.com) angeboten. Die hohe Verbreitung korrespondiert mit dem Befund auf der zweiten Ebene: Den kommerziellen Erfolg Happels hat Peter Ukena durch die Auswertung von Buchanzeigen in Zeitungen des 17. Jahrhundert unterstrichen. Nicht nur in Hamburg, sondern auch in Städten wie Hanau oder Zürich wurde für dessen Werke geworben;93 Ukena resümiert: „Würde man auf der Grundlage der Buchanzeigen den erfolgreichsten Schriftsteller des 17. Jahrhunderts ermitteln wollen, so müsste man Eberhard Werner Happel die Palme zu erkennen. Kein anderer Autor erreichte auch nur annähernd die Zeitungspublizität Happels“.94 Auf der dritten Ebene zeigt sich dieser Erfolg in zeitgenössischen Übersetzungen und späteren Fortsetzungen der Relationes: Bedingt durch den guten Kommunikationsfluss im Zuge der Handelsverbindungen nach Schweden kam es noch 1682 zu einer Übersetzung des ersten, nur aus siebenunddreißig Bögen bestehenden Jahresbandes: Denna 91 92 93 94
Etwa: Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 39, S. 305. Zu finden bei Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 78f. Ukena, Peter: Buchanzeigen in den deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts, in: Schöne, Albrecht (Hrsg.): Stadt – Schule – Universität, S. 506-522, hier S. 510. Ebd.
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Schlussbetrachtung
werldennes största tänckwärdigheeter eller dhe så kallade Relationes curiosæ.95 Der Nachdruck übernahm auch den von Wiering gewählten Vertriebsweg: Wöchentlich lag der ältesten Zeitung Schwedens, dem 1645 gegründeten Ordinari Post Tijdender, ein Bogen der tänckwärdigheeter bei. Dabei dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass die Übersetzung der Relationes in Stockholm erschien: Wie Paul Ries gezeigt hat, griff die frühe skandinavische Presse häufig auf die Inhalte deutscher Zeitungen zurück und ließ diese nachdrucken.96 Gerade die Zeitungsdrucker Stockholms orientierten sich häufig an den (erfolgreichen) Blättern aus Hamburg. Ebendort ließ ein direkter Nachfolger der Relationes bis 1705 auf sich warten. Zunächst wurde der zweifellos absatzfördernde Titel des Wochenblattes in Bayern plagiiert, was einmal mehr auf seine geographische Verbreitung schließen lässt: 1685 brachte der Hofrichter Anton Wilhelm Ertl (1654-1715) in Augsburg die Relationes Curiosae Bavaricae97 heraus. Allerdings teilt Ertls Werk mit den Relationes kaum mehr als den Titel: Es geht ihm nicht um das universelle Themenspektrum Happels, sondern um eine monothematische Sammlung lediglich historischer Merkwürdigkeiten landespatriotischen Zuschnitts.98 Eine Anlehnung an die Themenvielfalt der Relationes Curiosae findet sich erst in der einzig expliziten Fortsetzung, die in Hamburg ebenso wöchentlich-periodisch veröffentlicht wurde. Der Dichter, Publizist und Schriftsteller Barthold Feind (1678-1721) brachte ab 1705 im Verlag Reumann die Relationes Curiosae, Oder Denckwürdigkeiten der Welt99 heraus. Wie Happel will Feind vor allem jene Leser ansprechen, 95
96
97
98
99
Denna werldennes största tänckwärdigheeter eller dhe så kallade Relationes curiosæ: i hwilka framstelles och effter förståndet som dhen rätta probeer stenen examineres alle så wäll physicaliske, som mathematiske och historiske sällsamheeter [...], Stockholm 1682; siehe auch Böning / Moepps: Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 77. Leider findet sich in den Stockholmer Relationes kein Kommentar, der auf die Gründe für die Übersetzung Bezug nimmt. Für diese Hinweise danke ich herzlich Prof. Dr. Elisabeth Wåghäll Nivre, Stockholm. Ries, Paul: The politics of information in seventeenth-century Scandinavia, in: Dooley, Brendan / Baron, Sabrina (Hrsg.): The Politics of Information in Early Modern Europe, London / New York 2001, S. 237-273, hier S. 240ff. Ertl, Anton Wilhelm: Relationes Curiosae Bavaricae: Das ist Gröste Denckwürdigkeiten Deß Durchleuchtigsten / Chur-Hertzogthums Bayrn: Worinnen besagten Lands-Eigenschafften / HeldenThaten dero Regenten / Eroberung ansehlicher Victorien / Ursprung viler renomirten Historischen Seltzamkeiten entworffen und abgebildet werden [...], Augsburg 1685. So beginnt Ertl seine Sammlung mit einer historisch-etymologischen Diskussion: „Relatio Curiosa I. Woher fliesset der Ursprung des Namens Bojorum und Bavarorum?“. Ebd., S. 1. Feind, Barthold: Relationes Curiosae, Oder Denckwürdigkeiten der Welt / Worinnen Allerhand remarquable Seltenheiten / merckwürdige und bißher unbekannte Geschichte / Lebens-Beschreibungen berühmter / insonderheit um die Hamburgische Republique und Kirche verdienter Männer / [...]; Daß also diese Arbeit gar füglich E.G. Happelii Continuation seiner hiebevor gedruckten curieusen Relationen genannt werden könne, Hamburg 1705f.; dazu auch: Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum, S. 207f.
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„[...] deren Curieusité wir auf einige Art allhier durch eine wöchentliche denckwürdige Relation zu vergnügen bemühet seyn werden / wenn wir uns fürgenommen / sie so wohl auf die Betrachtung der wunderbahren Werke der Natur / als die Begebenheiten und mancherley Zufälle der menschlichen Händel zu führen“.100
Gerade Feinds ausdrücklicher Bezug auf Happel ist aufschlussreich und spricht für dessen posthume Popularität und Autorität. Feind zielt darauf ab, aus Happels Nachruhm noch Kapital zu schlagen und stilisiert sich selbstbewusst als dessen Nachfolger. So solle man jährlich sein Werk in der eigenen Büchersammlung am besten neben dem von Happel einreihen: „Will jemand aus Respect, wenn das Jahr fürüber / den Tractat den Happelschen Relationibus Curiosis großgünstig beyfügen / und in Frantzösischen Bande / vergüldt auf dem Schnitte / unter seinen andern Historischen Büchern eine solenne Parade machen lassen / dem werden wir in tieffster Ehrerbietung dafür Danck sagen / und es uns am glücklichsten schätzen / wenn wir etwas zu der Zufriedenheit seines Gemüths beytragen können“.101
Allerdings zeigt die Konzeption von Feinds Relationes Curiosae als primär zeitgeschichtliches Periodikum signifikante Unterschiede zu Happels Vorbild. Während Format und Layout weitgehend identisch sind, spielen bei Feind die angekündigten „[...] wunderbahren Werke der Natur [...]“102 nur eine untergeordnete Rolle. Zudem verabschiedet er sich vom enzyklopädischen Duktus Happels und dessen bibliographischen Apparat – Literaturnachweise finden sich nur spärlich. Die augenfälligste Abweichung ist jedoch die lokalspezifische Färbung von Feinds Werk, den Relationes von Ertl nicht unähnlich: Feind integriert Lebensbeschreibungen von insonderheit um die Hamburgische Republique und Kirche verdienter Männer und konzipiert damit zu weiten Teilen ein biographisches Nachschlagewerk. Trotz Anleihen bei Happel ist sein Periodikum damit zwar kein eigenständiges Werk, aber weit mehr als ein bloßes Plagiat. Noch im gleichen Jahr folgte in Hamburg eine weitere Publikation dem Muster von Happels Relationes – Thomas Kimayers imaginäre Kunstkammer Neu-eröffnetes Raritäten-Cabinet ost-westindianischer und ausländischer Sachen (siehe Kapitel 6.1.). Genau wie Happel bewirbt auch Kimayer die Wissenskompilation als wirtschaftlichen Weg, teure Quellen in kostengünstigen Ausschnitten für ein größeres Publikum verfügbar zu machen. Bemerkenswerterweise wird Happel selbst hier bereits im Jahre 1705 zu jenen wertvollen Werken gezählt. In der Vorrede heißt es:
100 101 102
Feind: Relationes Curiosae, S. 2. Ebd. Ebd.
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„Es werden demnselben die etliche wenige Bogen dargereichet [...] aus den besten Reise-Beschreibungen und raresten Büchern zusammen getragen. Nicht darum / als wenn es etwa an solchen Büchern mangelte. Nein gar nicht; denn man sehe an die vortrefflichen Wercke / welche der nunmehro in Gott selige Herr Erasmus Francisci geschrieben / als den Ost- und West-Indischen Staatsund Lust-Garten. [...] Imgleichen des nunmehro auch sel. Hn. Happelii Relationes Curiosas an / so wird man diesen und vieler anderer berühmten Männer herrlichen Schriffen / ein Uberfluß von dergleichen aus den berühmtesten Reise-Beschreibungen gesammelten Sachen antreffen. Weil aber solche Werke nicht in allen Händen / übel wegen ihres Abgangs zu bekommen / auch nicht jedermanns Preiß sind. Als hoffe / ich werde nicht übel gehandelt werden / wenn ich denen / so sich eben solche grosse und theure Volumina nicht anschaffen können / [...] / mit diesen wenigen Bogen an die Hand gehe“.103
Im Folgenden werden chronologisch einige weitere rezeptionsgeschichtliche Stationen der Relationes entwickelt. Sie dokumentieren nicht nur die andauernde Popularität von Happels Werk, sondern auch, wie es verdrängt und gezielt marginalisiert wurde. Zunächst ist eine Rezeption der Relationes quer durch die Medien und Genres des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu beobachten. Die ohnehin fließenden Gattungsgrenzen wurden etwa dadurch überwunden, dass einer der erfolgreichsten Romane an der Wende zum 18. Jahrhundert104 sich unter vielen anderen Quellen auch auf die Relationes stützt: Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausens (1663-1697) Asiatische Banise105 (1689). Den Romanen Happels folgt Kliphausen schon durch die Wahl der exotischen Szenerie, die Happel 1673 mit seinem Asiatischen Onogambo (siehe Kapitel 2.4.) vorgegeben hatte. Vor allem aber mit Blick auf die innere Komposition steht die Banise in der Tradition des Hamburger Kompilators. Denn auch Kliphausen montiert seinen Roman aus historischen Quellen und Reiseberichten, die bereits Happel für sein gesamtes Œuvre nutzte,106 und integriert Versatzstücke aus den Relationes in die Romanhandlung.107 103 104 105
106
107
Kimayer: Neu-eröffnetes Raritäten-Cabinet, Vorrede, Bl. 1r. Martin, Dieter: Barock um 1800: Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830, Frankfurt 2000, S. 402. Ziegler-Kliphausen, Heinrich Anselm von: Die Asiatische Banise / Oder Das blutig- doch muthige Pegu / [...] Alles in Historischer / und mit dem Mantel einer [...] Helden- und LiebesGeschichte bedeckten Warheit beruhende [...], Leipzig 1689f. „[...] mit Fleiß aus denen gelehrten Schriften des nie genung gepriesenen Francisci, Saarens, Schultzens und Balby Reisebeschreibungen, Rogeri Heidentum, Rossens Religionen und andern curieusen Schriften colligieret, verhoffentlich nicht sonder Anmut bemerken wird“. Ziegler-Kliphausen: Die Asiatische Banise, Leipzig 1700, „Nach Standes-Gebühr Geehrter Leser!“, Bl. 2r. Etwa: „Ist bei den Japonern eine Art der Lebensstrafe, welche sich es vor eine große Gnade und Ehre halten, wann sie sich selbst mit einem Messer den Bauch kreuzweise
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Auf einem anderen Feld zeigte sich die Reichweite von Happels Periodikum im frühen 18. Jahrhundert darin, dass die sonst nur einseitig verlaufende Wahrnehmungsrichtung zwischen den Medien des Eliten- und Laiendiskurses punktuell wechselseitige Züge annahm. So tauchten die Relationes in jenem Journal wieder auf, aus dem Happel etliche seiner eigenen Artikel entlehnt hatte: Hans Sloane (1660-1753), leidenschaftlicher Sammler und für zwei Jahrzehnte Herausgeber der Philosophical Trancactions, bezog sich in diesen gegen 1730 in einem Beitrag über erstaunlich große Zahnfunde unter anderem auf die Relationes Curiosae.108 Gerade in England verlief die Rezeption der Relationes über das obige Beispiel hinaus auf beeindruckend breiter Grundlage in einem Teilplagiat: Die Herausgeber der ab 1738 in drei Bänden veröffentlichten Curious Relations: or, the Entertaining Correspondent109 unterzogen sich nicht einmal der Mühe, einen vollständig neuen Titel zu finden; der komplette Titel der Curious Relations verspricht ein ähnlich enzyklopädisches Programm wie Happels Vorlage. Der umfassenden publizistischen Programmatik aus den Paratexten der Relationes stehen in den Curious Relations hingegen nur wenige Seiten gegenüber. Hier wird nicht nur Happel als Quelle unterschlagen, vielmehr nennt der Herausgeber G. Smith überhaupt keine Literatur und gibt vor, dass das Werk „[...] entirely depends on its own merits“.110 Zwar wird Smith auch andere Quellen hinzugezogen haben. Dass jedoch ganze Abschnitte der Relationes kopiert wurden, verdeutlicht bereits aufschneiden dürfen. Je beherzter sich nun einer hierinnen bezeiget, je größeren Ruhm hat er davon. Happel, Rel. Cur. Tom. I, p. 118“. Ziegler-Kliphausen: Die Asiatische Banise, S. 441. 108 „One of the Grinders, weighing five Pounds, was given to the Jesuits at Krembs: Another is figured by Happelius (in his Relationes Curiosae. Tom. IV. pag. 47, 48.) to whom I am indebted fort his Acount [...]“. The philosophical transactions (from the year 1719, to the year 1733) abridged, and disposed under general heads. In two volumes [...], London, 1734. 963pp. Vol. 6 of 6, S. 216. 109 Curious Relations: or, The Entertaining Correspondent. Digested into Familiar Letters; wherein is given an Exact and Particular Relation of the most remarkable Occurrences during his Travels: Interspers’d with Observations made by others on several Passages within the Circle of their own Intelligence. Being A Choice and Valuable Collection of surprizing Histories, from the most approved Authors, both Ancient and Modern, with regard to Travels, Voyages, Government, Revolutions, Geography, Arts and Sciences; the Religious, Civil and Military Customs of the different Nations in the known World; the various Productions in the Animal, Mineral, and Vegetable Kingdoms, and whatever else may be useful and entertaining. Illustrated with Curious Copper Plates, Volume 1, London 1738f. 110 Curious Relations, Volume 1, 1738, To the Reader, S. VI. Jedoch sind schon diverse Topoi des Vorworts aus den Relationes entlehnt, etwa das verbreitete Motiv der Vermittlung teurer Bücher: „These Curious Relations, or Entertaining Correspondent, I have published, not only with a View of Self-Interest, but also for the Entertaining of the Publick, and the Benefit of such as are desirous and willing to acquaint themselves with Curious Matters, without frequenting Libraries, or being at the Expence of purchasing scarce and valuable Books“. Ebd.
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Schlussbetrachtung
ein flüchtiger Blick auf einige Illustrationen – etwa zum Artikel „Der umbschweiffende Lappe“111 (Abb. 32 und 33). Durch eine Reproduktion des Stiches trug Smith auch zur weiteren Zirkulation jener Bilder bei, die Happel seinerzeit bereits aus diversen Vorlagen kopiert hatte. Noch deutlicher zeigt sich die Abhängigkeit im direkten Textvergleich: Spricht Happel etwa im Kontext eines längeren Themenkreises zum Walfang über „Die Gestalt und Natur des Wallfisches“,112 so machen die Curious Reports daraus den Artikel „The Shape and Nature of a Whale“.113 Ebenfalls noch in den 1740er Jahren erschien eine der erfolgreichsten ,Publikumszeitschriften’ der deutschen Aufklärung: Das Hamburgische Magazin,114 das unter dem Titel Neues Hamburgisches Magazin oder Fortsetzung gesammelter Schriften noch bis 1781 veröffentlicht wurde. Zum letzten Mal zeigt sich hier noch einmal ein universales Themenspektrum, bevor sich die ,Zeitschriften’ zunehmend ausdifferenzierten und spezialisierten.115 Selbst wenn nicht sicher ist, dass sich auch das Hamburgische Magazin an den Relationes orientierte, spricht einiges dafür, dass den Herausgebern Happels Erfolg geläufig war: Denn auch hier stehen die Wunder der Natur im Mittelpunkt, auch hier wird leicht fassbares Wissen in kurzen Artikeln verbreitet, auch hier werden Auszüge aus Reiseberichten und Gelehrtenjournalen gegeben. So zeigen sich neben den inhaltlichen Parallelen auch Übereinstimmungen in der Quellengrundlage: Zahllose Male beruft sich auch das Hamburgische Magazin auf die Philosophical Transactions.116 Überdies sind noch sechzig Jahre nach Happel in den Artikeln des Periodikums die gleichen Themen zu finden, so etwa der Bericht über „Die wunder-prächtige Stein-Grube bey Mastricht“,117 den Happel samt Illustration 111 112 113
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Happel: Relationes Curiosae, Band 4.2, Nr. 75, S. 594f. Ebd., Band 1.2, Nr. 24, S. 193. Curious Relations, Volume 2, London 1739, S. 2. Schon der Beginn der Textfragmente zeigt die nahezu wortwörtlichen Übereinstimmungen: Happel: „Gleich wie die Lateiner einen Unterscheid machen unter Baleana und Cete [...]“. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 23, S. 243; in den Curious Reports: „The Latins, to make a Distinction between a Whale, and other monstrous large Sea-Fishes, call the first Baleana, and the other, Cetae [...]“. Ebd., Volume 2, S. 2. Hamburgisches Magazin, oder gesammelte Schriften, zum Unterricht und Vergnügen, aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt, Hamburg 1748ff.; dazu: Böning / Moepps (Hrsg.): Deutsche Presse, Band 1.1, Sp. 532-538. Wenig später wurden die Relationes in einem spezialisierten Periodikum zitiert, in Johann David Köhlers Wöchentliche historische Münz-Belustigung [...]: darinnen allerhand merckwürdige und rare Thaler, Ducaten, Schaustücken, andere sonderbahre Gold- und Silber-Münzen, Nürnberg 17291750, hier Ausgabe 1744, S. 330. Etwa im Artikel „Anmerkungen über einen Vorfall, in dem edimburgischen Versuchen, von einem Menschen, der dem Ansehen nach todt gewesen [...], aus den Philosophical Transactions. Num. 475“. Hamburgisches Magazin, 1747, 1. St., S. 135-143. Happel: Relationes Curiosae, Band 1.2, Nr. 30, S. 233.
Schlussbetrachtung
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aus dem Reisebericht von Edward Brown übernommen hatte. Im Hamburgischen Magazin findet sich gegen 1748 der Artikel „Beschreibung des Steinbruchs bey Mastricht, von einem, der daselbst wohnhaft, mitgetheilt“.118 Dass die Relationes noch gegen Mitte des 18. Jahrhunderts selbst über den deutschen Sprachraum hinaus ein gerne zitiertes Werk blieben, zeigt nach der Rezeption in Schweden und England – die sich sogar bis ins 19. Jahrhundert zieht119 – auch eine dänische Übersetzung von 1756: Relationes Curiosae Eller Samling Af Physiske-Historiske- og Moraliske Materier, oversatte og u dragne af Happelio og andre Skribentere.120 Neben Plagiaten, Übersetzungen und Nachfolgern lässt sich die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Relationes durch die Häufigkeit ihres Auftauchens in anderen Texten ermessen. Hier spielt die ,intertextuelle Präsenz’ von Happels Sammlung in enzyklopädischen Formaten eine vorrangige Rolle, da ihre Inhalte und Quellen wiederum zur Grundlage zahlloser anderer Werke wurden: Happel selbst ist der größten Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, Zedlers Universal-Lexicon, einerseits lediglich einen knappen biographischen Eintrag wert, der die barocke Schaffenskraft des Autors hervorhebt: „Er hat viele Teutsche Bücher, meist unter lateinischen Titeln geschrieben“,121 wobei sich dieser zunächst wertfreie Befund noch wesentlich von den Verdikten des 19. Jahrhunderts abhebt (siehe unten). Andererseits wird jedoch bereits bei der nur flüchtigen Durchsicht der anonym verfassten Artikel im ,Zedler’ deutlich, dass Happel auch noch eine geschätzten Quelle der Lexikographie des 18. Jahrhunderts war.122 Viele Artikel berufen sich auf die Relationes, ohne die Glaubwürdigkeit von Happels Periodikum oder die seiner Quellen zu reflektieren.123 Sobald die Relationes erst einmal in Buchform vorlagen, bieten auch die Ausleihverzeichnisse von Bibliotheken – insofern vorhanden – Anhaltspunkte für den zeitgenössischen und späteren Erfolg. Dank der Studien von Alberto Martino und Mechthild Raabe124 liegen zumindest für die Herzog 118 119 120 121 122 123
124
Hamburgisches Magazin, 1748, 1 St., S. 680-683. So etwa 1824 im Knight’s Quarterly Magazine: „[...] upon those days when he read Happelius upon Basilisks [...]“. Knight’s Quarterly Magazine, Vol. III, London 1824, S. 447. Relationes Curiosae Eller Samling Af Physiske-Historiske- og Moraliske Materier, oversatte og u dragne af Happelio og andre Skribentere [...], Kopenhagen 1756. Zedler: Universal-Lexicon, Band 12, 1735, Sp. 500. Ein anderes Bild zeigt sich für die Oekonomische Encyklopädie von J.G. Krünitz. Eine Volltextsuche (http://www.kruenitz1.uni-trier.de) ergibt etwa ein halbes Dutzend Treffer. Im Artikel „Verschwender“ heißt es beispielsweise: „Bey dieser Materie fället uns nicht uneben bey die Auschweiffung, welche einige grosse Potentaten in übermäßigem Hofstaate [...] haben [...] wie Happel in seinen Relationibus curiosis [...] erzehlet“. Zedler: Universal-Lexicon, Band 47, 1746, Sp. 1730. Martino, Alberto: Lektüre und Leser in Norddeutschland im 18. Jahrhundert: zu der Veröffentli-
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August Bibliothek Wolfenbüttel einige Angaben vor, die sich mit aller Vorsicht generalisieren lassen. So stellte Martino nach Auswertung der Ausleihbücher des 18. Jahrhunderts fest, dass das Interesse an der Barockliteratur in dieser Zeit keinesfalls nachgelassen habe; das Gegenteil sei vielmehr der Fall gewesen.125 Besonders klar stützt das Ergebnis den genannten Befund von Peter Ukena bezüglich der Werbeanzeigen des 17. Jahrhunderts: Die Werke Happels wurden zwischen 1716 und 1790 in Wolfenbüttel 122 Mal entliehen, womit sie den zweiten Rang der am häufigsten ausgeliehenen Werke belegen – überboten nur von den Werken Anton Ulrichs, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633-1714), der zweifellos über einen Lokalbonus verfügte.126 Aufschlussreich ist auch der Vergleich mit anderen populären Polyhistoren: Erasmus Francisci etwa war mit ,nur’ 40 Ausleihungen in Wolfenbüttel weit weniger gefragt als Happel. Die weitere Rezeption der Relationes im späten 18. und 19. Jahrhundert lässt sich idealtypisch in zwei parallel verlaufende, gegensätzliche Entwicklungsstränge spalten; der erste zeigt die in gewandelter Form andauernde Beliebtheit von Happels Wissenssammlung, der zweite, eher normative den allmählichen Ausschluss der Relationes aus dem Kanon durch die Literaturgeschichtsschreibung. Der erste Strang könnte als die Wiederentdeckung der barocken Wissenssammlung am Beginn der deutschen Philologie bezeichnet werden: Für die Gebrüder Grimm gehörte das Sammeln von Texten zu den primär philologischen Techniken, die aber auch aus der ,bewahrenden’ Programmatik der Romantik heraus motiviert waren.127 Die Stofffülle der Polyhistoren bot einen schier unerschöpflichen Steinbruch für die eigenen Sammlungen von Märchen- und Sagen, die als Deutsche Sagen (1818) einen beispiellosen Erfolg erlebten.128 Daneben sind die Relationes auch im monumentalen Deutschen Wörterbuch (ab 1852) zahllose Male referenziert.129 Be-
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126 127 128
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chung der Ausleihbücher der Herzog-August-Bibliothek, Amsterdam 1993; Raabe, Mechthild: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert: die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; 1714 – 1799, München 1989. „Im Gegensatz zu den [...] Ansichten der Literaturgeschichte und -soziologie über das Ende der Barockliteratur [...] wurden die Autoren des Barock das ganze 18. Jahrhundert hindurch sehr intensiv gelesen. Sie stellten sogar vier der ersten zehn absoluten Spitzenreiter“. Martino: Lektüre und Leser, S. 480. Ebd. Bluhm, Lothar: Die Brüder Grimm und der Beginn der deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim 1997, S. 282. Unter Erwähnung von Happel, Francisci und Praetorius dazu auch: Martin: Barock um 1800, S. 113; für die Rezeption der Relationes durch die Grimms siehe Egenhoff: Berufschriftstellertum und Journalismus, S. 329f. Aufgrund seiner herausragenden Produktivität nicht überraschend, ist Erasmus Francisci mit mehr als 800 bibliographischen Verweisen am häufigsten genannt, dicht gefolgt von Philipp von Zesen mit rund 770 Referenzen; Praetorius folgt mit über 700. Happel steht
Schlussbetrachtung
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zeichnend für die Adaption Happels und anderer Buntschriftsteller durch die Grimms ist die Transformation des Wissens: Was von Happel etwa noch als empirisch gegebenes Natur- oder Kunstwunder aufgefasst wurde, griffen die Sammler des 19. Jahrhunderts zwar wieder auf, wiesen es jetzt aber eindeutig dem fiktionalen Rahmen zu – etwa die Sage vom ,Oldenburger Wunderhorn’.130 Aber auch zentrale Argumentationstopoi der Polyhistoren bewiesen dabei noch erstaunliche Kontinuität: Wie diese sehen auch die Grimms im Vorwort der Deutschen Sagen ihre Sammeltätigkeit dadurch legitimiert, unzugängliche, ,rare’ Bücher in Auszügen verfügbar zu machen. So seien die Deutschen Sagen zusammengestellt worden, „[...] um [...] schriftliche Quellen in manchen allmählich selten werdenden Büchern des 16. und 17. Jahrhunderts fleißig zu nutzen und auszuziehen [...]“.131 Da die Deutschen Sagen Einfluss auf eine nicht zu überblickende Menge an Folgetexten ausübten, erlebten die Polyhistoren über diese Schiene im 19. Jahrhundert indirekt eine letzte Phase der Popularität. Ein weiterer denkbarer Einfluss der Relationes im 19. Jahrhundert wurde bislang nur in einer zeitgenössischen Literaturgeschichte erwähnt (siehe unten), aber nicht weiter verfolgt: die Einschätzung, dass Happels Periodikum als Vorläufer der erfolgreichen ,Pfennigmagazine’ gelten kann. Trifft diese Vorbildfunktion zu, ließe sich das mediengeschichtliche Gewicht der Relationes jenseits der zeitnahen Plagiate und Nachfolger auch mit beeindruckenden Zahlen untermauern: Denn erst mit den seit den 1830er Jahren in ganz Europa auftauchendem Publikumszeitschriften entwickelte sich die Presse zum Massenmedium im heutigen Sinn.132 Die Pfennigmagazine, ihrerseits Vorläufer der heutigen Illustrierten und ,Edutainment’-Formate, erreichten zum Teil Auflagenhöhen von bis zu 100.000 Exemplaren. Wie die Relationes schon im 17. Jahrhundert, waren sie kostengünstig und schon dadurch attraktiv für großes Publikum. Das erste deutsche Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse133 erschien 1833 in Leipzig. Be-
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133
unter den deutschsprachigen Polyhistoren mit 400 Verweisen an vierter Stelle, wobei die Grimms neben den Relationes auch aus dem Academischen Roman, den verschiedenen Kriegs-Romanen und der Historia Moderna Europae schöpften. Martin Zeiller bringt es nur auf 64 Nennungen. Von Happels eigenen Quellen unter den deutschsprachigen Polyhistoren ist noch Peter Lauremberg mit ca. 260 Referenzen in hoher Dichte vertreten; siehe http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB. Grimm, Jacob / Grimm, Wilhelm: Deutsche Sagen, Zweiter Theil, Berlin 1818, S. 317-320. Zitiert nach: Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus, S. 329. Siehe: Christine Haug: Popularisierung der Wissensvermittlung und Revolutionierung der Wahrnehmung. Essay anlässlich zweier Neuerscheinungen zum Thema Illustration und Massenmedien im 19. Jahrhundert; IASLonline; http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=2121. Weber, Johann Jakob (Hrsg.): Das Pfennig-Magazin für Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse, Leipzig 1833-1842.
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reits das Konzept der unterhaltsamen Wissenspopularisierung ähnelt dem der Relationes frappierend: Es ging wesentlich um die unterhaltsame Vermittlung von vermischtem Wissen „[a]n Jeden“.134 Jenseits beachtlicher formaler Parallelen – auch das deutsche Pfennig-Magazin setzte auf reiche Illustration, erschien im Oktav-Format und umfasste acht Seiten pro Ausgabe – lässt auch ein Blick auf die Inhalte denkbar erscheinen, dass die Herausgeber die Relationes kannten: So findet sich wie bei Happel ein längerer Themenkreis über den Heringsfang, es finden sich zahllose Artikel über Höhlen und Wunder der Natur, die gleichwohl nicht mehr mythologische Wesen wie den Basilisken betreffen, sondern die nicht-europäische Tier- und Pflanzenwelt. Auch bringt das Pfennig-Magazin Artikel ,populärer Astronomie’ und greift dabei noch auf die gleichen Illustrationen wie die Relationes zurück – beispielsweise auf die Abbildung der Mondoberfläche aus Johann Hevelius’ seinerzeit revolutionärem Mondatlas Selenographia (1647). Zwar ist aufgrund der enormen Popularität von Hevelius’ Mondkartographie bis ins 19. Jahrhundert keinesfalls sicher, dass das Pfennig-Magazin erst durch Vermittlung der Relationes auf diese noch immer sensationellen Bilder aufmerksam wurde. Jedoch taucht die Abbildung bereits in der dritten Ausgabe des Leipziger Erfolgsblattes auf, etwa an der gleichen Stelle, an der schon Happel um 1682 seinen Artikel über den Mond gebracht hatte. Über den zweiten der erwähnten Rezeptionsstränge setzte jedoch schon seit dem späten 18. Jahrhundert ebenso eine Geringschätzung und Marginalisierung der Relationes ein. Auch dieser Prozess lässt sich auf zwei sich überschneidenden Ebenen fassen: die erste hängt mit dem Wissensideal der akademischen Eliten zusammen; die zweite entwickelte sich aus den Ausgrenzungsmechanismen einer ,nationalen’ Literaturgeschichtsschreibung. Zunächst zur ersten Ursache: Das polyhistorische Ideal einer universalen Wissensgrundlage war vor dem Hintergrund sich spezialisierender Fachdisziplinen im 18. Jahrhundert anachronistisch geworden. Auch spielte das Po134
„An Jeden. Und das eben ist der Zweck unserer Gesellschaft und dieser von ihr besorgten Zeitschrift. Die Verbreitung nützlicher Kenntnisse ist das schönste Geschenk, das man seinem Jahrhunderte machen kann. Wir wollen, nach unseren besten Kräften, mit prüfender Besonnenheit, mit redlichem Willen dafür das Unsere thun. Unermeßlich ist das Reich des Wissens; es umfaßt die ganze Welt; Vergangenheit und Gegenwart, Himmel und Erde, Land und Meer. Unser Streben soll dahin gehen, aus allen diesen Regionen, aus allen diesen Zweigen das Nützlichste und Neueste auszulesen und es auf eine möglichst gefällige Weise, welche Verstand und Phantasie zugleich angenehm beschäftigt, dem freundlichen Leser vorzuführen. Die wichtigsten Entdeckungen und Erfindungen, merkwürdige Naturerscheinungen, große Begebenheiten, interessante Ereignisse, Lebensbeschreibungen berühmter Männer, [...] sollen wechselsweise unsere Aufmerksamkeit beschäftigen, und dem Leser wie in einer freundlichen, würdigen Unterhaltung vorgetragen werden“. Weber (Hrsg.): Das Pfennig-Magazin, 4. Mai 1833 - Nr. 1.
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stulat eines empirischen ,Lebensbezugs’ aller Wissenschaften und die damit einhergehende Missachtung ‚toten’ wie pedantischen Buchwissens eine wesentliche Rolle. Die Gelehrtensatire der Aufklärung machte den Polyhistor zum blasierten ,Büchernarr’,135 der alles anhäuft, aber nichts versteht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts spottete Georg Christoph Lichtenberg (17421799) über die Vielschreiberei der Barockautoren als eine „[...] unglückliche Verbindung des Autortriebs mit dem Trieb der Fortpflanzung“.136 Ähnlich resümierte auch Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1806) 1774 in seiner Deutschen Gelehrtenrepublik, dass „[...] die Polyhistorey völlig abgekommen ist“.137 Und für Immanuel Kant (1724-1806) konnten Autoren wie Happel nur noch in ironischer Brechung interessant sein, als Schlafmittel etwa. So erinnert sich Johann Georg Hamann (1730-1788): „Wie Kant noch Magister war, pflegte er oft im Scherz zu erzählen, dass er immer Happelii relationes curiosas lesen müssen vorm Schlafengehen“.138 Die Kritik am gestrigen Polyhistorismus überlagerte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert mit der Verdrängung ,zweitklassiger’ Barockautoren aus dem literaturhistorischen Horizont. Die Wurzeln der bis heute andauernden Forschungsvorbehalte liegen in der verkürzten Perspektive ,nationaler’ Literaturgeschichtsschreibung des vorletzten Jahrhunderts. Diese würdigte nur noch jene Namen der kanonfähigen Spitzenliteratur, die das Bild der barocken Literatur bis heute dominieren: Martin Opitz (1597-1639), Paul Fleming (1609-1640), Andreas Gryphius (1616-1664), Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679), Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen (1622-1676), Christian Thomasius und einige andere. Neben dieser literarischen Elite hatte das 19. Jahrhundert für die hohe Zahl jener Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, die darauf angewiesen waren, ihre Erzeugnisse aus existentiellen Gründen nach dem Markt zu richten, fast einstimmig nur Verachtung übrig. Insofern sie in den Literaturgeschichten überhaupt Erwähnung fanden, dann meist nur als Folie für nachgerade pejorative, pauschale Werturteile, die in erster Linie die ästhetische Minderwertigkeit brandmarken. Über Happel heißt es 1831 noch relativ milde in Karl Gudens 135 136
137 138
Siehe dazu: Ko!enina, Alexander: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung, Göttingen 2003. Zitiert nach: Grimm, Gunter E.: Pedanten, Kalmäuser und Scharlatane. Die Gelehrtensatire der Aufklärung; http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=5359, S. 4. Noch um 1836 klagte Wolfgang Menzel: „Die Vielschreiberei ist eine allgemeine Krankheit der Deutschen [...]“. Ders.: Die deutsche Literatur, Erster Theil, Stuttgart 1836, S. 5. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Die Deutsche Gelehrtenrepublik, 2 Bände, hrsg. v. Horst Gronemeyer, Berlin 1975, hier Band 1, S. 51. Roth, Friedrich (Hrsg.): J.G. Hamanns Briefwechsel mit F.H. Jacobi, 4 Bände, Leipzig 1819, hier Band 3, S. 100.
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Schlussbetrachtung
Chronologischen Tabellen zur Geschichte der deutschen Sprache und NationalLiteratur:139 „S. polit. u. galanten Romane wurden mit Beifall aufgenommen. An Erfindungsgabe fehlts ihm nicht, aber s. Phantasie gefällt sich im Buntscheckigen u. Uebertriebenen, s. Darstellung ist matt u. Haltlos“.140 Und noch 1857 verurteilt August Vilmars Geschichte der Deutschen National-Literatur die Qualität von Happels Werken auf der Grundlage der im 17. Jahrhundert noch untypischen Berufsautorenschaft und ihrer biographischen Unsicherheit: „Es folgte [...] Eberhard Werner Happel [...], der sich in verschiedenen Städten herumtrieb und das heutige gepriesene Literaten-Leben führte; d.h. sich durch das Schreiben schlechter Bücher sein Brod erwarb“.141 Das Verdikt vom „elenden Scribenten“142 hielt sich bis in die biographischen Nachschlagewerke des 20. Jahrhunderts hartnäckig. Die negative Einschätzung gerade von Happels Romanen bildete einen festen Textbaustein in enzyklopädischen Werken schon des 19. Jahrhunderts und vermengte sich einmal mehr mit dem Spott über den Polyhistorismus. 1885 heißt es in Meyers Konversations-Lexikon, dass Happel „[...] Plattheit, Schwulst und die gespreizte Vielwisserei der Zeit wie kein anderer vereinigte [...]“.143 Während sich das Gros der missachtenden Urteile im 19. Jahrhundert auf die Romane bezieht, ist mit Blick auf die Relationes Curiosae zweierlei bemerkenswert: Zum einen, dass sie seltener genannt werden als Happels Romane – vermutlich schon deswegen, weil sie sich gegen eine Zuordnung in starre Gattungssystematiken sperrten; zum anderen, dass sie weniger abfällig beurteilt wurden. So zeigt sich bei gleichzeitiger Erwähnung mit den Romanen nicht selten ein ambivalentes Bild zwischen Ablehnung und Anerkennung. Deutlich wird dies etwa in Wolfgang Menzels Deutsche Dichtung aus dem Jahre 1859. Happel erscheint hier zwar als Epigone von Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) und dessen dreitausend Seiten-Roman Arminius144 139 140 141 142
143
144
Guden, Karl Friedrich Arnim: Chronologische Tabellen zur Geschichte der deutschen Sprache und National-Literatur, In drei Theilen, Band 1, Leipzig 1831. Ebd., S. 51. Vilmar, August Friedrich Christian: Geschichte der Deutschen National-Literatur, Berlin 1857, S. 62. Singer, Herbert: Artikel Eberhard Werner Happel, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. v. der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 7, Berlin 1966, S. 644f., hier S. 645. Artikel Deutsche Litteratur, in: Meyers großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 4., gänzlich umgearbeitete Auflage, 16 Bände, Leipzig 1885-1890, hier Band 4, 1885, S. 733-765, hier S. 743. Lohenstein, Daniel Casper von: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrman: Als Ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit / Nebst seiner Durchlauchtigen Thußnelda In einer sinnreichen Staats- Liebes- und Helden-Geschichte Dem Vaterlande zu Liebe Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge In Zwei Theilen vorgestellet [...], Leipzig 1689-90.
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(1689). Beim Urteil über die Relationes zögert Menzel jedoch und liegt in deren Charakterisierung zudem nicht grundsätzlich daneben: „Die Hamburger waren fleißig im Sammeln aller ähnlich interessanten Stoffe, wenn sie dieselben auch nicht zu verarbeiten verstanden. Wie es scheint, übte Lohensteins gelehrter Arminius desfalls den größten Einfluß auf sie. Der Hamburger Polyhistor Happel folgte ganz seiner Richtung. Nichts Jämmerliches als die Prosa dieses Vielschreibers, auch in der Auswahl seiner Stoffe hat er wenig Geschmack gezeigt, allein er ist gar nicht zu verachten, da seine bändereichen Werke, sonderliche die relationes curiosae einen reichen Schatz von interessanten Materialien enthalten. Die eigenen Erfindungen Happels sind mager und bilden nur Rahmen um seine gelehrten Auskramungen“.145
Menzel machte von seiner Wertschätzung der Relationes noch im gleichen Text an anderer Stelle Gebrauch, indem er direkt nach einer Episode aus den Deutschen Sagen der Grimms auch aus den Relationes zitiert.146 Nachsichtig ist die Kritik an den Relationes auch in der Allgemeinen Deutschen Biographie. Zwar werden die Werke von Happel, Praetorius,147 Francisci oder des älteren Martin Zeiller auch hier vor allem als unschöne Beispiele der „[...] öde[n] polyhistorische[n] Richtung [...]“,148 diskreditiert, die im „todten Compiliren“149 aufgegangen sei. Anders als die zeitgenössischen Literaturgeschichten billigt die ADB jedoch zunächst ein gewisses Maß der Anerkennung angesichts des Erfolges zu, den die Autoren bei dem Versuch erzielten, als erste allein „von Profession“150 zu schreiben und zu leben. So gilt Happel als einer der „[...] fruchtbarsten Romanschreiber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts [...]“.151 Beachtlich ist, dass sich unter dem Hauptartikel ein Supplement eines anderen Autors findet, in dem das Urteil über Happels „historische Werke“ – zu denen auch die Relationes gezählt werden – erstaunlich milde ausfällt. Zudem deutet der Artikel den immer noch anhaltenden Erfolg von Happels Werk im 19. Jahrhundert an: „Viel länger als seine Romane haben sich seine historischen Werke in der Achtung der Historiker erhalten, z.B. seine ,Straf- und Unglücks-Chronica’, sein ,Histor. Kern der Weltgeschichte’ und besonders seine ,Relationes curiosae’, ein 145 146 147 148 149 150 151
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Dichtung von der ältesten Zeit bis auf die neueste Zeit, Band 2, Stuttgart 1859, S. 431. Ebd., S. 183; zitiert als „Happel, rel. cur. I. 450“. Praetorius widmet die ADB jedoch einen bemerkenswert langen Artikel. Zarncke, Friedrich: Artikel Johannes Praetorius, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 26, 1888, S. 520-529. Waldberg, Max von: Artikel Martin Zeiller, in: Ebd., Band 44, 1898, S. 782-784, hier S. 783. Ebd. Franck, Jakob: Artikel Erasmus Francisci, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 7, 1878, S. 207. Ders.: Artikel Eberhard Werner Happel, in: Ebd., Band 10, S. 551-552, hier S. 551.
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in Wochenlieferungen erscheinendes die größten Denkwürdigkeiten dieser Welt’ beschreibendes fünfbändiges Werk, später von Anderen fortgesetzt, welches noch immer ein gangbarer Antiquariatartikel ist“.152
Weniger nüchtern, aber aufschlussreich als einer der ersten Versuche, den Relationes ihren mediengeschichtlichen Ort zuzuweisen, ist der 1853 veröffentlichte Kommentar im bereits zitierten Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte des Bibliothekars Johann Theodor Grässe (1814-1885). Bereits hier wirft die Typologie des Mediums allerdings Probleme auf: Denn in Grässes Kapitel zur „gelehrten Journalistik“153 werden die gängigen wissenschaftlichen Journale (Philosophical Transactions etc.) ebenso subsumiert wie die Monatsgespräche154 von Thomasius, nicht aber die Relationes. Sie tauchen stattdessen im Kapitel „Encyclopädie“155 auf, jedoch eher als Anhang, da auch Grässe die Klassifikation des Werkes offenbar Probleme bereitete. An späterer Stelle behilft er sich mit einer Herleitung aus dem Medienspektrum des 19. Jahrhunderts – und charakterisiert die Relationes als eine Art Vorläufer des genannten Pfennig-Magazins: „Gewissermassen gehören hierher auch die Illustrierten Zeitschriften, wenigstens in so weit als sie Nachbildungen der Mutter der gesammten PfennigLiteratur sind, welche bekanntlich in Deutschland zuerst durch Martin Bassange’s (aus Bordeaux 1766) und Hector Bossange’s (aus Paris 1793) Pfennigmagazin (Lpz. 1833), eine Nachahmung der englischen Penny-Magazines (seit 1832, die Penny Post schon seit 1701), Mode wurden, obgleich schon des bekannten Romanschreibers Happel Relationes curiosae etwas Aehnliches vorstellten, abgesehen davon, daß ihnen der eigentliche wissenschaftliche Werth abgeht, da sie eigentlich nur angenehm unterhalten und das lesende Publikum mit allen Neuigkeiten aus dem Gebiete der Wissenschaften und Künste, wie der Politik und Tagesgeschichte bekannt machen wollen“.156
Trotz dieser gehäuft pejorativen Urteile zeigt diese Skizze zur Rezeptionsgeschichte der Relationes, dass sie die Zeit nicht nur überdauerten, sondern kopiert wurden, direkte und indirekte Nachfolger anregten und generell viele Spuren in der Wissensproduktion bis ins 19. Jahrhundert hinterließen. Wie Happel sich aus der älteren Texttradition bediente, so wurden die Relationes ihrerseits zu einem ,Steinbruch’ für viele Folgetexte, auch wenn die Inhalte des Sammelwerks zunehmend als ,kurios’ im heutigen Wortsinn galten – als skurril und abseitig, als Dokumente einer naiv-wunderlichen Epoche und 152 153 154 155 156
Beneke: Artikel Eberhard Werner Happel, S. 552. Grässe: Lehrbuch einer allgemeinen Literärgeschichte, Band 3, Dresden 1852, S. 39-54. Ebd., S. 43. Ebd., S. 739-741, hier S. 740. Ebd., Band 2, S. 1486.
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nicht mehr als wissenswert. Trotzdem oder gerade deswegen ist ihr Quellenwert für eine Kultur- und Wahrnehmungsgeschichte populärer Wissensformen der Frühen Neuzeit noch einmal zu betonen.
Literaturverzeichnis
Hauptquelle Happel, Eberhard Werner: E.G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae: Worinnen dargestellet / und Nach dem Probier-Stein der Vernunfft examiniret werden / die vornehmsten Physicalische / Mathematische / Historische und andere Merckwürdige Seltzahmkeiten / Welche an unserm sichtbahren Himmel / in und unter der Erden / und im Meer jemahlen zu finden oder zu sehen gewesen / und sich begeben haben [...], Hamburg 1683. Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae: Worinnen dargestellet / außgeführet und erklähret werden Die Denckwürdigste Seltzamkeiten / So da in Historien/ natürlichen Wundern / am Himmel / auff und in der Erden / wie auch in und unter dem Meer zu finden seyn [...], Hamburg 1685. Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii gröseste Denkwürdigkeiten der Welt oder so genandte Relationes Curiosae: Worinnen fürgestellet / und auß dem Grund der gesunden Vernunfft examiniret werden / allerhand Antiquitäten / Curiositäten / Critische / Historische / Physicalische / Mathematische / Künstliche und andere Merckwürdige Seltzamkeiten [...], Hamburg 1687. Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii Grösteste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genandte Relationes Curiosae: In welchen eingeführt / erwogen und abgehandelt werden / allerhand Historische / Physicalische / Mathematische auch andere Merckwürdige Seltzamkeiten / Welche in der Menschen Lebens-Lauff / am Himmel / in der Lufft / im Meer und hin und wieder auff Erden sich jemahlen begeben und eräugnet haben [...], Hamburg 1689. Happel, Eberhard Werner: E. G. Happelii Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae: Worinn fürgestellet und aus den bewehrtesten Scribenten angeführet werden Die Merckwürdigsten Geschichte Der vorigen und jetzigen Zeiten [...], Hamburg 1691.
Weitere Werke Happels (chronologisch) Happel, Eberhard Werner: Der Asiatische Onogambo: Darin Der jetzt-regierende grosse Sinesische Käyser Xunchius. Als ein umbschweiffender Ritter vorgestellet / nächst dessen und anderer Asiatischer Printzen Liebes-Geschichten und ritterlichen Thaten / auch alle in Asien gelegene Königreiche und Länder [...] kürtzlich mit eingeführt werden, Hamburg 1673. Happel, Eberhard Werner: Der Insulanische Mandorell, Ist eine Geograpische Historische und Politische Beschreibung Allen und jeder Insulen Auff dem gantzen Erd-Boden: Vorgestellet In einer anmühtigen und wohlerfundenen Liebes- und Helden-Geschichte [...], Hamburg 1682.
Literaturverzeichnis
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Happel, Eberhard Werner: Der Ungarische Kriegs-Roman, Oder Außführliche Beschreibung / Deß jüngsten Türcken-Kriegs: Wobey Aller darinnen verwickelter Hoher Potentaten Länder / Macht / und Herrschafft / absonderlich aber eine curieuse Beschreibung von Ungarn / Persien / und Türckey / zusamt denen denckwürdigsten Belagerungen und blutigsten FeldSchlachten so die Türcken Zeit ihrer Herrschafft [...] vorgenommen und erhalten haben / Unter einer anmuthigen Liebes- und Helden-Geschichte [...] verfasset [...], Ulm 1685. Happel, Eberhard Werner: Der Italiänische Spinelli, Oder So genanter Europaeischer Geschicht-Roman, Auff Das 1685. Jahr: Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten / von Wundern / Krieg / Estats-Sachen [...] und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1685. Jahr passiret [...] in einer [...] Liebes- und HeldenGeschichte anmüthig fürgestelt [...], Ulm 1685. Happel, Eberhard Werner: Der Spanische Quintana, Oder So genannter Europaeischer Geschicht-Roman, Auf Das 1686. Jahr: Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten / von Wundern / Krieg / Estats-Sachen [...] und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1686. Jahr passiret [...] in einer [...] Liebes- und HeldenGeschichte leß-würdig fürgestellet [...], Ulm 1687. Happel, Eberhard Werner: Everhardi Gverneri Happelii Mundus Mirabilis Tripartitus, Oder Wunderbare Welt / in einer kurtzen Cosmographia fürgestellet: Also / daß Der Erste Theil handelt Von dem Himmel / beweg- und unbeweglichen Sternen / samt ihrem Lauff und Gestalt / Cometen / Jahrs-Eintheilung / Lufft / Meteoris, Meer / und dessen Beschaffenheit / Seen / Insuln / Ebb und Fluth / Strudeln / Schiffen und Schiff-Fahrt / [...]: Ein Werck / so Jedermann höchst nutzlich / und von vielen lange Zeit gesuchet worden / allenthalben mit vielen Kupffern [...] außgezieret / und [...] erläutert, 3 Bände, Ulm 1687-1689. Happel, Eberhard Werner: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer: Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / [...] Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: Der Türcken Ankunfft; aller Sultanen LebensLauff und Bildnüß; [...] Wie auch ihres Propheten Mahomets Lebens-Beschreibung / und sein Verfluchtes Gesetz-Buch oder Alkoran [...] / Alles mit grosser Mühe und Fleiß aus den brühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten [...] außgezieret [...], Hamburg 1688. Happel, Eberhard Werner: Everhardi Ge. Happelii Historia Moderna Europae Oder Eine Historische Beschreibung Europae: Darinnen dieses letztere Seculum Mirabile Oder Die mehr als denckwürdige Viertzig-jährige Zeit, Fürnehmlich was unter des Großmächtigsten Käysers Leopoldi Glorwürdigsten Regierung So wohl in- als ausserhalb Europae zu Wasser und Land sich zugetragen; Aus den berühmtesten [...] Scribenten [...] zusammen getragen, Und denen Liebhabern der Krieg- und Friedens-Geschicht ausgefertiget worden [...], Ulm 1692.
Weitere Quellen Anonym: Unpartheyische Beschreibung und Abriß der sehr scharffen Bataille Welche am 11 April des 1677 Jahrs in Flandern zwischen Königs von Franckreichs Herrn Bruder Duc de Orleans, und Seiner Hoheit dem Herrn Printzen von Oranien fürgangen, Hamburg 1677.
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Literaturverzeichnis
Anonym: Abriß und Beschreibung / Des in diesem noch lauffenden Jahre 1680. in Novemb. und Decemb. erschienenen sehr langen und erschrecklichen Cometen, Hamburg 1680. Anonym: Abriß Eines Kopffs / von einem Einhorn / Der dem gemeinen Lauff der Natur zugegen / mit zwey Hörner versehen / und Anno 1684. in Grönland gefangen worden, Hamburg 1684. Anonym: Caffe- und The-Logia. oder Kurtze Anzeigung und Beschreibung dieser Geträncke: Worinnen enthalten / wie die Liebhaber des Caffe- und The-Trinckens sich auffführen / und ihre Wasser-Debauchen auff den Caffe-Häusern verrichten / Auffgesetzt von Einem zimlich erfahrnen Caffe-Schlucker, Hamburg 1690. Anonym: Catalogus Universalis, Hoc est: Designatio omnium Librorum, qui hisce Nundinis Vernalibus Francofurtensibus & Lipsiensibus Anni 1686. vel novi, vel emendatiores & auctiores prodierunt. Das ist: Verzeichnis aller Bücher / so zu Franckfurt in der Fasten-Messe / auch Leipzigischer Oster-Messe / des jetzigen 1686sten Jahres / entweder gantz neu / oder sonsten verbessert / oder auffs neue wieder aufgeleget und gedrucket worden sind [...], Leipzig 1686. Anonym: Curieuse Bibliothec, oder Fortsetzung der Monatlichen Unterredungen einiger guten Freunde von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten: allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergötzlichkeit und Nachsinnen herausgegeben, Leipzig 1704. Anonym: Specificatio, Was Johann Frantz Griendl von Ach auf Wanckhausen / Matthematicus und Opticus in Nürnberg / Von Optischen Raritäten pfleget zu machen [...], Nürnberg 1685. Abelinus, Johann Philipp: Theatrum Europaeum, Oder Außführliche / und Wahrhaftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten: so sich hin und wider in der Welt / fürnämlich aber in Europa / und Teutschen Landen / so wohl im Religion- als ProphanWesen / vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr Jahr 1629 [...] verlegt durch Matthaeum Marian [...], Frankfurt 1635. Arnim, Achim von / Brentano, Clemens: Des Knaben Wunderhorn: alte deutsche Lieder, hrsg. und kommentiert von Heinz Rölleke. kommentierte Gesamtausg., Nachdr. der Ausg. Heidelberg, 1806, Stuttgart 1987. Arnkiel, Troels: Gülden-Horn / 1639. bey Tundern gefunden: Aus dem darunter verborgnem Heidenthumb Unsrer Vorfahren Cimbrischer Nation / Als eine denckwürdige Antiquität / und [...] Monument ihrer Heidnischen Abgöttereien erklärt [...] / Allen Antiquität-liebenden zur Nachricht / von M. Trogillo Arnkiel / Probsten und Pastoren zu Apenrade, Kiel 1683. Beneke, Otto Adalbert: Hamburgische Geschichten und Denkwürdigkeiten, zum Theil nach ungedruckten Quellen erzählt, Hamburg 1856. Bernhard, Johann Adam: Kurtzgefaste Curieuse Historie derer Gelehrten, darinnen von der Geburth, Erziehung, Sitten, Fatis, Schrifften [...], Frankfurt 1718. Brown, Edward: An account of several travels through a great part of Germany, in four journeys, London 1677. Browne, Thomas: Des vortrefflichen Engelländers Thomae Brown, der Artzney Dr. Pseudodoxia Epidemica, Das ist: Untersuchung derer Irrthümer / so bey dem gemeinen Mann / und sonst hin und wieder im Schwange gehen: In Sieben Büchern also und dergestalt abgefasset / [...] Und dann ferner in denen übrigen Sechs Büchern von den Irrthümern / die Mineralien / Gewächse / Thiere / Menschen / Bilder und Gemählde / Welt- und Geschicht-
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Abbildungsnachweise
Abb. 1: Paul Christian Zincke: Portrait von Eberhard Werner Happel, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. P 22: H 36. Abb. 2: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 3: Kupferstich der Hamburger Börse (um 1700), nach: Klein, Gottfried: 400 Jahre Hamburger Börse. Eine geschichtliche Darstellung, Hamburg 1958, S. 7. Abb. 4: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 431, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 5: Relationes Curiosae, Band 4.2, Hamburg 1689, S. 619, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 4. Abb. 6: Emblemata Nova, Ausgabe Frankfurt 1644, S. 31, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. A: 19.3 Eth. (4) [http://diglib.hab.de/drucke/19-3-eth-4/start.htm]. Abb. 7: Nova Iconologia, Padova 1618, S. 118, nach: Krüger, Klaus: Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugier, Göttingen 2002, S. 13. Abb. 8: Curious Relations, London 1738, British Library, Sign. RB.23.a.10311. Abb. 9: Le Diverse et Artificiose Machine, Paris 1588, S. 317, nach: Smith, Pamela / Schmidt, Benjamin (Hrsg.): Making Knowledge in Early Modern Europe: Practices, Objects and Texts, 1400-1800, Chicago 2007, S. 3. Abb. 10: Kunsthistorisches Museum, Wien. Abb. 11: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, S. 281, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 12: Relationes Curiosae, Band 2.2, Hamburg 1685, Abb. vor S. 325, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 2. Abb. 13: Relationes Curiosae, Band 3.2, Hamburg 1687, Abb. vor S. 117, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 3. Abb. 14: Relationes Curiosae, Band 2.2, Hamburg 1685, Abb. vor S. 15, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 2. Abb. 15: Physica Curiosa, Band 1, Nürnberg 1662, S. 401, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. A: 33.5 Phys. [http://diglib.hab.de/drucke/33-5-phys/start.htm?image=00465]. Abb. 16: Christliche Betrachtungen deß Gläntzenden Himels [...], Nürnberg 1657, S. 252, nach: Egenhoff, Uta: Berufschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 33), Bremen 2008, S. 257. Abb. 17: Relationes Curiosae, Band 2.2, Hamburg 1685, S. 85, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 2. Abb. 18: Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa, Amsterdam 1671, S. 621, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. Cd 4° 17 [http://diglib.hab.de/drucke/cd-4f-17-1s/start.htm?image=00761].
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Abbildungsnachweise
Abb. 19: Relationes Curiosae, Band 3.2, Hamburg 1687, Abb. vor S. 93, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 3. Abb. 20: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 597, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 21: Relationes Curiosae, Band 4.2, Hamburg 1689, Abb. vor S. 491, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 4. Abb. 22: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 445, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin. A/1519: 1. Abb. 23: Relationes Curiosae, Band 4.2, Hamburg 1689, Abb. vor S. 373, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 4. Abb. 24: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 677, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 25: Rosenborg Slot, København. Abb. 26: Oldenburgisch Chronicon [...], Oldenburg 1599, S. 20, Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Sign. 2 Gs 362. Abb. 27: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 33, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin. A/1519: 1. Abb. 28: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 1, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 29: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 5, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 30: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, Abb. vor S. 69, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 31: Relationes Curiosae, Band 1.2, Hamburg 1683, S. 97, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 1. Abb. 32: Curious Relations, London 1738, British Library, Sign. RB.23.a.10311. Abb. 33: Relationes Curiosae, Band 4.2, Hamburg 1689, Abb. vor S. 595, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sign. Scrin A/1519: 4.
Personenregister
Aldrovandi, Ulisse 149, 262, 270, 290 Alsted, Johann Heinrich 119f. Arniel, Troels 280ff., 284, 286 Augustinus 85ff., 89, 99 Bacon, Francis 175, 259, 266, 297 Boyle, Robert 8, 175, 312 Brown, Edward 35, 175, 201, 373 Browne, Thomas 288ff., 294 Dapper, Olfert 153f., 159, 161, 175, 219, 237f., 256, 259 Della Valle, Pietro 73, 75, 153, 175, 227, 229, 270 Dilherr, Michael 211f. Feind, Barhold Hinrich 44, 368f. Francisci, Erasmus 12f., 15, 121f., 128f., 134, 140, 154, 157-166, 211, 219, 222, 234, 258, 274, 310f., 352f., 361f., 370, 374, 379 Frisch, Johann 22, 78ff., 349 Fritsch, Ahasver 96f. Gessner, Conrad 116, 262 Greflinger, Georg 41, 48, 50f., 53 Guericke, Otto von 8, 300ff., 306, 310 Hamelmann, Hermann 278ff., 283, 285, 287 Harsdörffer, Georg Philipp 9, 12, 15, 118, 128, 140, 156ff., 175, 239, 275f., 278, 293ff., 298, 308, 311, 314, 362 Hartmann, Johann Ludwig 96f. Hartnack, Daniel 97 Hevelius, Jan 304ff., 308ff., 376 Hooke, Robert 297f., 309, 315ff., 320, 322, 325, 361 Huet, Pierre Daniel 14, 65 Imperato, Ferrante 101, 192, 268, 290 Jungius, Joachim 37, 43, 116f. Kircher, Athanasius 9, 56, 66, 113, 136, 144ff., 150, 152, 154, 157, 160f., 174, 252, 262f., 268ff., 270f., 274ff., 288, 295, 299f., 304, 306, 310f., 313, 315,
336, 341, 352, 360 Lauremberg, Peter 127f., 154ff., 294, 375 Leibniz, Gottfried Wilhelm 116, 121f., 197, 209, 249f., 266, 289 Leeuwenhoek, Antonie van 319ff. Linschoten, Jan Huygen van 226 Major, Johann Daniel 113f., 118, 183ff., 188, 193f., 198, 202, 204, 208f., 213ff., 234, 276, 354 Mandelslo, Johann Albrecht 229 Marggraf, Georg 151 Morhof, Daniel Georg 112, 118 Naudé, Gabriel 200 Neickel, Caspar Friedrich 201ff., 213f. Nieremberg, Juan Eusebio 151 Nieuhof, Joan 65, 136, 153, 243, 251ff., 265ff., 364 Olearius, Adam 60, 75, 153, 161, 185, 195f., 198, 207f., 218, 225, 229, 244f., 270 Pies, Willem 151 Plinius 150ff., 228, 262, 329f., 340f., 364 Praetorius, Johannes 12f., 118, 158, 211f., 270, 278, 289, 292, 294, 338, 352, 362, 374, 379 Ripa, Cesare 88, 93 Rist, Johann 36f., 44, 50ff., 71, 79, 292, 294 Quiccheberg, Samuel 183, 208 Schellhammer, David 183, 202, 204 Schott, Caspar 56, 145f., 149f., 154, 159, 161, 211f., 262 Schütz, Philipp Balthasar Sinold von 98 Schwenter, Daniel 157 Seyfried, Johann Heinrich 160ff., 314ff. Stieler, Kaspar 51, 84, 97, 129
410 Sturm, Leonhard Christoph 175, 198f., 213 Surland, Julius 45 Tavernier, Jean-Baptiste 90, 153, 175, 235, 245 Tentzel, Wilhelm Ernst 2ff., 81, 92, 198, 285 Thévenot, Jean de 75, 175, 218, 220 Thomasius, Christian 18, 21, 23, 27, 71, 81f., 92, 165f., 377, 380 Valentini, Bernhard Michael 198f.
Register
Weber, Johann Adam 88ff., 99 Weise, Christian 95ff. Wiering, Thomas von 7, 31, 35, 40ff., 45, 52-63, 69, 74, 76f., 80f., 130, 167, 171ff., 178, 182, 184, 210, 281, 312, 323f., 346ff., 353, 362, 365f., 368 Winckelmann, Johann Just 282ff. Zeiller, Martin 54, 60, 125, 155f., 270, 278, 308, 362, 375, 379 Zesen, Philipp von 49ff., 91, 374
THOMAS NUTZ
»VARIETÄTEN DES MENSCHENGESCHLECHTS« DIE WISSENSCHAFTEN VOM MENSCHEN IN DER ZEIT DER AUFKL ÄRUNG
Eine um 1750 einsetzende zweite Welle der Entdeckungsreisen brachte eine Flut von Informationen über bislang nicht oder nur wenig bekannte Kulturen nach Europa und sprengte so das Paradigma des überkommenen Menschenbildes. Im Rahmen eines neu entstehenden Themenfeldes der so genannten »Varietäten des Menschengeschlechts« bildeten sich in Folge zwei Wissensgebiete aus, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen: die »Naturgeschichte des Menschen« sowie die »Geschichte der Menschheit«. In den Blick genommen werden nicht nur die jeweiligen Wissenssysteme, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Verfahren der Wissensproduktion vom Sammeln der Daten, Objekte und Artefakte vor Ort über ihre Verarbeitung bis hin zu den daraus resultierenden Publikationen. 2009. 397 S. 11 S/W-ABB. AUF 8 TAF. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20301-6
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Markus Späth (Hg.)
DIE BILDLICHKEIT KORPORATIVER SIEGEL IM MITTELALTER KUNSTGESCHICHTE UND GESCHICHTE IM GESPRÄCH
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2006. IX, 443 S. Gb. ISBN 978-3-412-31505-4
Band 63:
Christian Mathieu
INSELSTADT VENEDIG UMWELTGESCHICHTE EINES MYTHOS IN DER FRÜHEN NEUZEIT
2007. 292 S. 14 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-16806-3
Band 64:
Waltraud Pulz
NÜCHTERNES KALKÜL – VERZEHRENDE LEIDENSCHAFT NAHRUNGSABSTINENZ IM 16. JAHRHUNDERT
RB034
2007. X, 245 S. 25 s/w-Abb. auf 24 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-18406-3
DAS BILD DES KAISERS IM WANDEL DER ZEITEN
2008. VIII, 315 S. 22 s/w-Abb. und 1 farb. Abb. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-20192-0
Band 67: Anna Margarete Schlegelmilch DIE JUGENDJAHRE KARLS V. LEBENSWELT UND ERZIEHUNG DES BURGUNDISCHEN PRINZEN
2011. X, 654 S. 12 farb. Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20525-6
Band 68:
Flemming Schock
DIE TEXT-KUNSTKAMMER POPULÄRE WISSENSSAMMLUNGEN DES BAROCK AM BEISPIEL DER »RELATIONES CURIOSAE« VON E. W. HAPPEL
2011. X, 410 S. 33 s/w-Abb. auf 24 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20615-4
Band 69: Hanns Christof Brennecke, Dirk Niefanger, Werner Wilhelm Schnabel (Hg.) AKADEMIE UND UNIVERSITÄT ALTDORF STUDIEN ZUR HOCHSCHULGESCHICHTE NÜRNBERGS
2011. Ca. 320 S. Ca. 16 s/w-Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20640-6
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